Tod auf den Schienen
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Tod auf den Schienen
Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. Bildnachweis: Marco Schaack / Fotolia (Symbolbild) Tod auf den Schienen Als Notarzt lernt man, eigenständig zu entscheiden und dann konzentriert zu handeln. Jeder Handgriff muss sitzen. Aber was, wenn der Verunglückte bereits tot ist – und stattdessen die Umstehenden zum Problem werden? Eine Notärztin berichtet von einem Einsatz, bei dem sie eher als Psychologin gefragt war. Schlüsselerlebnis Einsatz am Bahnhof Als an jenem Mittag ihr Piepser losgeht, sitzt sie gerade in der Kantine. Mal wieder bleibt die Mahlzeit halb aufgegessen stehen. Hamp läuft hinüber zur Garage und trifft gleichzeitig mit ihrem Fahrer am Wagen ein. Auf die Rückbank zwängt sich noch ein Kollege, der gerade seine Notarzt-Ausbildung macht und froh ist über jede Fahrt, die er in seinem Logbuch ergänzen kann. Die Leitstelle meldet: Zugunglück am Bahnhof, eine Person wurde erfasst. Nora Hamp ist klar: Da ist wohl nicht mehr zu helfen. „Wer von einem Zug überfahren wird, hat keine Chance. Fast immer kann man nur noch den Tod feststellen.“ In den allermeisten Fällen wollte sich der Betreffende umbringen. Aber das ist hier fraglich: Bahn-Suizide werden meist auf offener Strecke begangen. Dieses Mal ist es am Bahnhof passiert, mitten in der Stadt. Die Ärztin spürt, wie ihr Adrenalin-Spiegel steigt – trotz aller Routine. 16-Jährige überfahren Die Fahrt dauert nur wenige Minuten. Bei ihrer Ankunft sind auch schon Rettungswagen und der technische Dienst der Bahn vor Ort. „Nach denen schaue ich immer als erstes“, sagt Hamp. „Bevor die Bahn die Oberleitung nicht abgeklemmt hat, gehe ich nicht auf die Gleise.“ Der Notarztwagen hält auf dem Bahnhofsvorplatz. Nora Hamp greift nach ihrem Koffer, den sie vermutlich nicht brauchen wird, und steigt aus. Man zeigt ihnen den Weg: Am Bahnhofsgebäude vorbei, dann durch die Unterführung zum nächsten Bahnsteig. Dort drängen sich Leute. Die Bahnmitarbeiter haben rot-weiße Absperrbänder gespannt, zwischen denen sie die Notärzte hindurchlotsen. Dabei berichten sie schnell das Nötigste: Ein 16-jähriges Mädchen ist auf das Gleis gerannt, der Lokführer konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen. Am Gleis steht ein Güterzug, zwischen Zug und Bahnsteigkante schauen die Ärzte hinunter auf einen menschlichen Körper: „Sie war nicht mehr zu identifizieren“, sagt Nora Hamp. „Es war klar, dass sie tot war.“ Ungewöhnlich ist, dass der Zug noch über ihr zum Stehen gekommen ist: Da er sehr lang ist, stehen die Wagen noch im Bahnhof, während die Lok schon viel weiter gefahren ist. Hysterische Schulklasse Dem Mädchen können die Ärzte nicht mehr helfen, und die Bergung der Leiche ist nicht ihre Aufgabe. Unter normalen Umständen wäre ihr Einsatz jetzt vorbei, sie würden zurückfahren und sich wieder abkömmlich melden. Aber an diesem Tag geht das nicht: „Rundherum herrschte das absolute Chaos!“, erzählt Hamp. „Eine ganze Gruppe Jugendlicher stand am Bahnsteig, die alles mit angesehen hatten.“ Das Mädchen war vom Bahnsteig auf das Gleis gesprungen. Die Warnungen der anderen kamen zu spät. Und deren Reaktion überrascht die Ärzte: Sie sind nicht in Tränen aufgelöst oder stumm vor Schreck. „Statt dessen beschimpften sie uns“, so Hamp. „Sie schrieen uns an: ‚Was willst du denn hier, du blöde Fotze!‘ und ähnliches.“ Sie versucht zu erklären: „Ich bin hier die Notärztin!“ Aber sie hat den Eindruck, das dringt gar nicht bis zu den Jugendlichen vor. „Die waren so unverschämt und keiner Hilfe zugänglich – ein Albtraum!“ Unfall oder Suizid? Später erfährt sie, dass sie die Klassenkameraden des toten Mädchens sind, etwa 15–16 Jahre alt, fast nur Mädchen – und fast alle mit Migrationshintergrund. Weil an diesem Tag Opferfest ist, eins der höchsten islami schen Feste, haben sie schon mittags frei und sind gemeinsam zum Bahnhof gegangen. „Es hatte wohl Streit gegeben, kurz bevor das Unglück passierte“, sagt Dr. Hamp. Worum es ging, hat sie nie erfahren. Fest steht: Das Mädchen ist vom Bahnsteig auf das Gleis gesprungen, die Warnungen der anderen kamen zu spät – dann war der Zug schon da. Nicht nur Dr. Hamp fragt sich, ob sie den Güterzug nicht rechtzeitig gehört hat. „Ob das Mädchen aus Versehen oder absichtlich vor den Zug gelaufen ist, konnte meines Wissens nach nicht geklärt werden. Für ihre Mitschüler stand – zumindest an dem Tag – wohl fest, dass sie sich umbringen wollte.“ Helfer versuchen, die Kinder zu bändigen Zur Erleichterung der Ärztin heißt es bald, dass sie mit der Gruppe in das Bahnhofsgebäude können, in einen ungenutzten Nebenraum. Gemeinsam mit den Rettungssanitätern und einigen Mitarbeitern der Bahn lotsen sie die hysterischen Jugendlichen die Treppe runter, durch die Unterführung, auf der anderen Seite wieder hoch und rein ins Haus. „Normalerweise ist das ja nicht mehr unsere Aufgabe“, so Hamp. Aber sie denkt keine Sekunde daran zu gehen: „Da brauchte man jeden, der klar bei Verstand war – auch, um die Kinder davon abzu halten, sich was anzutun. Die waren außer Rand und Band, ich hatte das Gefühl, denen ist jetzt alles zuzutrauen.“ Auch die Polizei interessiert sich für das Geschehen Im Gebäude warten bereits einige Polizisten auf die Gruppe. Sie nehmen die Personalien der Schüler auf. „Dabei stellte sich heraus, dass viele polizeilich bekannt waren“, sagt die Ärztin. „Manche hatten schon Jugendstrafen hinter sich.“ Die Polizisten lassen keinen der Schüler gehen, bevor sie sie befragt haben. Außerdem versuchen sie, die Eltern anzurufen, damit sie ihre Kinder abholen. Auch das ist schwieriger als gedacht: „Manche waren gar nicht erreichbar, und einige Schüler wollten nicht, dass ihre Eltern kommen.“ Vielleicht eine Handvoll werden schließlich abgeholt, die übrigen bleiben vorerst. Aggressionen gegen sich selbst und andere Der Beruhigung der Lage dient das nicht: „Einige sind völlig durchgedreht“, so Dr. Hamp. „Die riefen ‚Ich bringe mich auch um‘, stießen ihren Kopf an die Wände und ritzten sich mit irgendwelchen Sachen an den Armen herum. Es war absurd, schrecklich!“ Zum Glück ist der Raum vollständig leer und nicht möbliert. „Wer weiß, was die sonst noch angestellt hätten! Vielleicht spielte auch der Streit eine Rolle, den es auf dem Bahnsteig gegeben hatte.“ *Name geändert Rojahn J. Tod auf den Schienen. Lege artis 2013; 3: 190–193 Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. M anchmal sieht Nora Hamp* die Bilder noch vor sich, wenn sie von irgendwoher mit der Bahn ankommt und an Gleis 2 aussteigt: Den langen Güterzug am Bahnsteig, unter ihm das tote Mädchen – und rings herum eine hysterische Schulklasse, kaum zu bändigen. „Das hatte ich noch nie erlebt“, sagt Dr. Hamp. „So eine Aggression, soviel Wut. Mir ist das immer noch unerklärlich.“ Dabei ist sie damals schon eine erfahrene Notärztin: „Ich fuhr seit eineinhalb Jahren regelmäßig Einsätze, 7 bis 8 Dienste im Monat. Ich hatte also viel Routine.“ 191 Schlüsselerlebnis Nora Hamp hat zwar schon viele Unfälle gesehen, auch mehrere Selbstmorde, aber noch nie so ein Verhalten: „Normalerweise sind die Angehörigen traurig, apathisch oder weinen still vor sich hin.“ Das tun hier nur wenige. „Und für die hatte keiner von uns Zeit, weil wir uns vor allem um die auffälligen kümmern mussten.“ Verstärkung bekommen die Helfer durch einige Notfallseelsorger, die bald im Bahnhof eintreffen. „Im Wesentlichen haben wir versucht, mit den Kindern zu sprechen, sie irgendwie zu beruhigen“, so Hamp. „Aber ein paar Mädchen waren keinem Gespräch zugänglich – mit ihrer Hysterie steckten sie die anderen immer wieder an.“ Einweisung in die Psychiatrie Der Notärztin wird klar: Mit Reden kommt man hier nicht weiter, die Situation kann immer noch eskalieren. Allein gehen lassen können sie die völlig aufgelösten Mädchen aber auch nicht. Nora Hamp fragt ihren Kollegen, was er davon hält, die schlimmsten in die Psychiatrie zu schicken. Er ist sofort einverstanden. Dr. Hamp ruft in der nächsten psychiatrischen Klinik an und schildert kurz die Lage. Als sie das Okay bekommen, nimmt sie ihre ganze Autorität zusammen: „Du, Du, Du, Du und Du – ihr geht jetzt raus zu den Rettungswagen und fahrt mit ins Krankenhaus.“ Das wirkt: Alle 5 folgen den Sanitätern nach draußen. Was die Kollegen in der Psychiatrie genau mit ihnen gemacht haben, weiß Dr. Hamp nicht – nur, dass sie alle im Lauf des Tages wieder entlassen wurden. Schulpsychologen übernehmen Als die „Problemfälle“ weg sind, wird es etwas ruhiger im Raum. Trotzdem kommt Nora Hamp die gute Stunde, die sie dort insgesamt verbringen, wie eine Ewigkeit vor. „Es war das reinste Irrenhaus! Bis schließlich die Schulpsychologen kamen, die konnten mit der Gruppendynamik besser umgehen.“ Die Psychologen teilen die Schüler unter sich auf: Jeder geht mit 5 von ihnen in einen separaten Raum. „Dann habe ich nichts mehr von ihnen gehört“, so Hamp. „Offensichtlich hatten sie die Lage endlich unter Kontrolle, sodass wir gehen konnten.“ Vorher fragt sie aber noch die Notfallseelsorger nach ihrem Eindruck: „Sie waren auch schockiert – über die Hysterie in der Gruppe und die Reaktion der K inder auf uns.“ „Ich konnte kaum Mitgefühl mit ihnen haben. Selbst in so einer Extremsituation waren sie nicht zugänglich.“ Anstrengender als so manche Reanimation Dr. Hamp ist beruhigt, dass sie zumindest nicht allein ist mit ihrer Bestürzung an diesem Nachmittag. Sie ist ja sonst nie so lange vor Ort, wenn der Verunglückte schon tot ist. Und wenn sie Verletzte versorgt, ist sie derart auf die Behandlung konzentriert, dass sie nichts von der Umgebung mitbekommt. „Ob die Umstehenden seltsam reagieren oder sich ein Stau von Schaulustigen bildet – das sehe ich gar nicht, solange ich damit beschäftigt bin, Zugänge zu legen und die Atmung zu prüfen.“ Nichts davon war hier gefragt. Trotzdem fühlt sie sich geschlaucht, als sie schließlich wieder im Auto sitzen: „Mein Kollege, der Fahrer und ich waren völlig platt. Ich weiß gar nicht mehr, ob wir an dem Tag noch weitere Einsätze hatten.“ Am nächsten Tag: gleich noch einmal Woran sie sich aber erinnert, ist der nächste Morgen: „Es war noch vor 8 Uhr. Ich hatte gerade meinen Piepser geholt, da ging er auch schon los.“ Als sie ins Auto steigt, sagt der Fahrer: „Stell dir vor, wir müssen schon wieder zu einem Bahn suizid!“ Im ersten Moment kann Dr. Hamp es nicht glauben. „Ist das ein Witz? Dann ist es kein guter.“ Aber es ist ernst: Dieses Mal ist es ein 65-jähriger Mann, auf offener Strecke. „Sozusagen der Normalfall“, sagt Nora Hamp im Rückblick. „Aber an dem Tag kam mir das alles absurd vor, zwei Mal direkt hintereinander!“ Als sie ankommen, zeigt ihnen wieder ein Bahnmitarbeiter, wo der Tote in etwa liegt. Die Ärztin und der Fahrer steigen auf den Bahndamm und gehen in der Winterkälte die Schienen entlang, bis sie die Körperteile sehen können. Dr. Hamp stellt den Tod fest, nach 10 Minuten sitzen sie wieder im warmen Auto. Sie verabschieden sich von den Bahnangestellten, die noch auf den Leichenwagen warten. „Ich kam mir vor wie in einem schlechten Traum“, sagt die Ärztin. „Den ganzen Tag stand ich irgendwie neben mir.“ Mitgefühl? Schwierig! Das Erlebnis am Bahnhof beschäftigt sie noch wochenlang. Auch, weil sie auf dem Weg zur Klinik täglich am gleichen Gleis aussteigt: An der Stelle, wo das Mädchen überfahren wurde, stehen noch lange Kerzen und Blumen. Auch die Jugendlichen sieht sie ab und zu in der Gegend wieder. Oft muss sie dann an den Einsatz denken. „Es hat mich so schockiert, dass die Jugendlichen selbst in einer Extremsituation wie dieser nicht zugänglich waren. Mitgefühl war deshalb kaum möglich.“ Julia Rojahn Schreiben Sie uns! Bildn achw eis: Taty ana Savc hen ko / F otoli a Rojahn J. Tod auf den Schienen. Lege artis 2013; 3: 190–193 (Sym b olbil d) Hatten auch Sie ein persönliches Schlüssel erlebnis? Ob positiv oder negativ – in Lege artis können Sie davon erzählen und Ihre Kollegen am konkreten Beispiel lernen lassen. Sie erreichen die Redaktion unter Tel. 0711/8931- 677 oder per E-Mail: [email protected]. Gemeinsam prüfen wir, ob sich Ihre Geschichte für eine Publi kation eignet – und natürlich garantieren wir absolute Vertraulichkeit. Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. 192 Schlüsselerlebnis Bildnachweis: AEON Verlag & Studio von Prof. Dr. Frank-Gerald B. Pajonk Beitrag online zu finden unter http://dx.doi.org/10.1055/s-0033-1349305 Akute Belastungsreaktion am eigenen Leib erlebt Suizide: Aktuelle Daten Nach vielen Jahren des Rückgangs hat die Zahl der Suizide in den letzten 4 Jahren wieder zugenommen. Im Jahr 2011 registrierte das Statistische Bundesamt 10 144 Suizide. 21 davon entfielen auf die Altersgruppe der 10- bis 15-Jährigen, 172 auf die der 15- bis 20-Jährigen. Die gute Nachricht: Die Zahlen für diese Altersgruppen haben nicht zugenommen und sind in den letzten Jahren sogar leicht rückläufig. Trotzdem bleiben Suizide (nach Verkehrsunfällen) die zweithäufigste Ursache für tödliche Verletzungen bei 15- bis 20-Jährigen: Im Jahr 2010 waren es 28,8 %, das sind 189 Sterbefälle. Die Suizidrate lag damit bei 4,5/100 000, das ist 2,5-fach höher als die Rate tödlicher Heim- und Freizeitunfälle. Jungen sind in dieser Altersgruppe etwa 3-mal häufiger betroffen als Mädchen. Nach Studienergebnissen sind zudem türkische Mädchen unter 18 Jahren besonders gefährdet: Ihre Suizidrate ist doppelt so hoch wie die ihrer deutschen Alters genossinnen [1]. Gruppenreaktion auf Suizid Diese Fakten erklären allerdings weder das wütende, feindselige und beleidigende Verhalten der Mädchen in der hier beschriebenen Situation noch das Entsetzen und die Fassungslosigkeit der Notärztin. Die psychische Reaktion einer Menschengruppe, die einen solch gewaltsamen Suizid beobachtet, ist nicht vorhersehbar. Dazu müsste man eine Vielzahl von Einflussfaktoren mit einbeziehen, die in der Notfallsituation nicht verfügbar sind bzw. nicht überblickt werden können: ▶▶Hat es vorher Streit gegeben? ▶▶War das Mädchen möglicherweise Opfer von vorherigen Anfeindungen? ▶▶Wie bewerten verschiedene Kulturen und Religionen einen Suizid, und wie äußert sich in ihnen Trauer? ▶▶In welcher sozialen Struktur bewegen sich die Zeugen? Kinder und Jugendliche reagieren auf traumatische Ereignisse oft sehr anders als Erwachsene, direkte Zeugen anders als Angehörige, die nicht unmittelbar anwesend waren. Letztlich bleibt hier aber ungeklärt, ob es sich wirklich um einen Suizid handelte, um einen Unfall, oder ob das Mädchen evtl. vor den Zug gestoßen wurde. Mit Gewalttätigkeit muss man rechnen Aggressionen einzelner Personen gegen sich selbst oder andere sind keine seltene Reaktion auf ein akutes traumatisches Ereignis. Weniger häufig sind aber kollektive Aggressionen. Die Beobachtung, dass einige der Zeugen polizeibekannt waren und bereits Jugendstrafen hinter sich hatten, weist auf ein erhöhtes kriminelles Verhalten und höhere Aggressionsbereitschaft hin. Auch Alkohol und andere Drogen können aggressives Verhalten nach einem traumatischen Erlebnis begünstigen. Dr. Hamps verständliche Fassungslosigkeit resultiert genau aus dem unerwarteten, feindseligen Verhalten der Mädchen ihr gegenüber. Und dies vor dem Hintergrund ihrer eigenen Bestürzung über den tragischen Tod einer 16-Jährigen – trotz aller Professionalität und Erfahrung. Dabei hat sie völlig richtig gehandelt. Alle ärztlichen Fähigkeiten sind plötzlich nutzlos. Empfohlenes Vorgehen In einem Fall wie hier bringt man die Beteiligten am besten rasch vom Ort des Geschehens weg. Wenn kein gemeinsames Trauern möglich ist, sondern eher eine aggressive und feindselige Stimmung herrscht, sollte man die Gruppe trennen. Insbesondere die Hochauffälligen sollten identifiziert und separiert werden. Außerdem benachrichtigt man möglichst unverzüglich die Angehörigen. Wenn auch das Kriseninterventionsteam, Notfallseelsorger oder – wie in diesem Fall – Schulpsychologen die Lage nicht beruhigen können, sollte man eine psychiatrische Klinik einschalten. Dabei ist es nicht ungewöhnlich, wenn die Betroffenen dort nur ambulant behandelt werden: Die Entfernung vom Unfallort, das Wiedergewinnen eines Realitätsbezugs durch eine straff organisierte Untersuchung und Behandlung durch Menschen, die eine Distanz zum Suizid- oder Unfallgeschehen haben und die Einschaltung von Bezugspersonen, zu denen eine emotionale Öffnung möglich ist, führen in der Regel rasch zu einer Beruhigung hoch emotionaler Reaktionen. Ärztliche Kompetenzen sind plötzlich nutzlos Für Notärzte sind solche Erlebnisse meist sehr viel belastender als ein „Routineeinsatz“ – selbst wenn dieser eine frustrane Reanimation einschließt. Auch dies beschreibt Dr. Hamp vorzüglich. Alle Fähigkeiten, die üblicherweise gefordert sind, waren in diesem Fall sinnlos: die volle Konzentration auf den Patienten, die Prüfung der Vitalfunktionen, das Legen von Zugängen etc. Die Notärztin erfuhr am eigenen Leib die Nutzlosigkeit aller eigenen Kompetenzen – und damit massive Hilflosigkeit. Nachwirkungen Anschließend erlebte sie Symptome einer akuten Belastungs reaktion: ▶▶ein Gefühl der Unwirklichkeit und Entfremdung von sich und der Welt ▶▶emotionale „Betäubung“ ▶▶Bewusstseinseinengung mit reduzierter Aufmerksamkeit ▶▶dissoziatives Erleben mit partieller Amnesie In aller Regel klingen diese Symptome nach einigen Tagen wieder ab. Bei weniger resilienten Personen können sich daraus aber Anpassungsstörungen oder eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Ob ein systematisches Debriefing solcher Einsätze sinnvoll ist, wird derzeit zurückhaltend beurteilt. Empfehlenswert ist dagegen eine Nachbesprechung im Kollegenkreis oder eine psychotherapeutische Kurzintervention: So kann man die Erfahrung in den Kontext des eigenen Erlebens einordnen. 1Razum O, Zeeb H. Suizidsterblichkeit unter Türkinnen und Türken in Deutschland. Der Nervenarzt 2004; 75: 1092–1098 Prof. Dr. med. Frank-Gerald B. Pajonk ist Professor für Psychiatrie an der Georg-August- Universität Göttingen, Lehrbeauftragter für Psychiatrie und Psychosomatik an der Ludwig- Maximilians-Universität München und Leiter der Praxis Isartal für Erkrankungen der Psyche, Schäftlarn. Er gehört zum Herausgebergremium von Lege artis. E-Mail: [email protected] Rojahn J. Tod auf den Schienen. Lege artis 2013; 3: 190–193 Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. Kommentar 193