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Zeitpunkt 34 BernBabyBurn Samstag 12. Mai 2012 Steiniger Aufbruch am Nil Bern down under D ie schlechtesten Kolumnen der Welt handeln von den Umständen ihrer Entstehung. Trotzdem muss jetzt dieser Satz kommen: Währenddem ich das schreibe, bin ich in Australien. Und obwohl die Australier wahnsinnig nett und locker sind, erinnern sie mich ein bisschen an die Berner. Das liegt an der Sprache. Was dem Berner das «-li», ist dem Australier das «-ie». Alles wird verniedlicht: «Breakfast» wird zu «breakie», «barbeque» zu «barbie», «mosquitos» zu «mosies». Ich fand das sehr hübsch und herzig, bis mich ein Australier aufklärte: Das habe nichts mit Verniedlichung zu tun. Sondern mit Faulheit. «Bar-be-que» oder «mo-squi-to», das seien viel zu lange Wörter. Bern ist trotzdem gar nicht so weit weg, zumindest sprachlich. Ich habe hier sogar das schönere Berndeutsch gehört als in Bern. Mein Onkel ist vor mehr als dreissig Jahren nach Australien ausgewandert – und er hat sich den Dialekt von damals erhalten. Er sagt schöne Dinge wie «stiu ha» für anhalten oder «ä Tube» für eine aufgedonnerte Frau oder rechnet mit dem Flächenmass der «Jucharte». Lange Zeit hatte er noch die Fernausgabe einer Schweizer Zeitung abonniert, aber das Abo hat er inzwischen aufgegeben. Seine Begründung gab mir zu denken: Es hatte ihm zu viele Englische Ausdrücke drin. Crazy. Sarah Pfäffli (29, bernbaby- [email protected]) und Fabian Sommer schreiben hier abwechslungsweise, wos in ihrer Stadt echt brennt. Sie aus Bern, er aus Biel. SCHACH Problem Nr. 671 H.V. Tuxen (1962) 8 7 6�� 5 � 4� 3� 2� � 1 a b c d e f g h Weiss zieht und setzt in 2 Zügen matt Fragen an: Thomas Wälti, Berner Zeitung BZ, Schach, Postfach 5434, 3001 Bern; Fax 031 330 36 31; E-Mail: thomas.waelti@ bernerzeitung.ch Die Lösung des Problems erscheint in der nächsten Ausgabe. Lösung Problem Nr. 670 8 7 6 5 4 3 2 1 � � ��� �� a b c d e f g h 1. Dg3! und Schwarz kann das Matt nicht verhindern. Z.B.: 1. ... Kxd4 2. Dé3 matt; 1. ... Springer beliebig 2. D(x)d3 matt; 1. ... Turm beliebig 2. Dé5 matt; 1. ... Tf5 2. Dé3 matt. Verschmierte Kandidatenplakate vor den Präsidentschaftswahlen vom 23. Mai. Misstrauisch beäugen die Ägypter jene, die den Gang des Landes in die Zukunft lenken wollen. ÄGYPTEN Erstmals in seiner Geschichte steht das Land vor einer echten Präsidentschaftswahl. Die Angst vor einer Wiederauferstehung des alten Regimes ist dabei so gross wie die vor den Islamisten. Kairo gleicht in diesen Tagen einer politischen Debattierbühne, die auch neue, junge Kräfte betreten. Die Revolution geht weiter: Kundgebung auf dem Tahrir-Platz. Susanne Schanda Der Tahrir-Platz, seit dem 25. Januar 2011 ein Symbol der ägyptischen Revolution, wird gerade von Islamisten besetzt: Männer mit gehäkelten weissen Käppis, rötlich gefärbten struppigen Bärten und wadenlangen Hemden über weiten, etwas zu kurzen Hosen, die nackten Füsse stecken in staubigen Sandalen. Viele sitzen auf Matten vor ihren Zelten, trinken Tee, beten, predigen oder diskutieren – im Zentrum des Platzes und vor der Mugamma, dem bürokratischen Zentrum Ägyptens. Das mächtige Verwaltungsgebäude steht wie ein Fels in der Brandung der turbulenten Geschichte – unberührt. wieder säkulare und liberale Kultur- und Medienschaffende von islamistischen Anklägern der Verunglimpfung des Islams beschuldigt. Das prominenteste Opfer ist der 70-jährige Schauspieler Adel Imam, eine Ikone des ägyptischen Films, der seiner Gesellschaft in unzähligen Komödien den Spiegel vorgehalten hat. Nun soll er ins Gefängnis für Filme, die in den 1990er-Jahren von den Zensurbehörden bewilligt wurden und grosse Kinoerfolge waren, wie «Terrorismus und Kebab». Auch in der Verfilmung des Bestsellers «Der Jakubijân-Bau» von al-Aswani spielte Imam eine wichtige Rolle. Alte Diktatur lebt weiter Wer dort drinnen seinen Fahrausweis oder die Aufenthaltsgenehmigung verlängern will, sieht sich dem gleichen kafkaesken Chaos gegenüber wie vor der Revolution. Die Zeit steht hier seit Jahrzehnten still. Menschen mit ungeduldigen oder bereits resignierten Gesichtern drängeln sich in Warteschlangen vor den Schaltern, hinter denen Angestellte in aller Ruhe plaudern, Berge von Formularen herumschieben und Daten davon in dicke Bücher übertragen. «Kommen Sie morgen wieder», befiehlt mir die Frau, heftet meinen Pass an ein Formular und legt beides auf einen Stapel. Auf der anderen Seite des Platzes steht die Amerikanische Universität. Die Mauer davor ist mit revolutionären Graffiti übermalt. An der Ecke prangt riesig das Doppelgesicht von Ex-Autokrat Mubarak und seinem General Tantawi, der den Militärrat und das Land bis zur Machtübergabe an den neuen Präsidenten Ende Juni dirigiert. Über den zwei Gesichtshälften steht: «Die Revolution geht weiter.» Das sieht auch der prominente Schriftsteller und Aktivist Alaa al-Aswani so: «Wir leben nach wie vor in einer Diktatur, denn der Militärrat, der vorgab, die Revolution zu unterstützen, hat sie in Wirklichkeit in einen Militärcoup transformiert, um das alte System zu erhalten.» In seiner Zahnarztpraxis in Garden City, südlich des Tahrir-Platzes, empfängt mich der Bestsellerautor abends um halb zehn zum Interview. Er kommt gerade vom Tahrir, wo er mit dem Sender al-Jazeera über den Streit um die neue Verfassung gesprochen hat. Machthungrige Islamisten Die Islamisten, denen der Erfolg bei den Parlamentswahlen zu Kopf gestiegen ist, beanspruchen im 100-köpfigen verfassungsgebenden Komitee drei Viertel der Sitze, um die Verfassung nach ihren Geschmack zu gestalten. «Wir, einige Personen aus dem Umfeld der Revolution, haben die Islamisten nun vor Gericht angeklagt, denn nur ein Richter kann sie jetzt noch stoppen», sagt al-Aswani. Dies ist inzwischen geschehen. Das Komitee, das nun die Verfassung entwirft, widerspiegelt das breite Spektrum der ägyptischen Gesellschaft. Die Islamisten vergiften das Klima auf verschiedenen Ebenen. Seit Monaten werden immer Aswani for President! Gegen das Urteil hat al-Aswani zusammen mit der Egyptian Creativity Front, einer Gruppe Kulturschaffender, die für die Freiheit in der künstlerischen Arbeit kämpft, protestiert. Doch er steht auch selbst unter Beschuss der Salafisten, wie die erzkonservativen Islamisten heissen. Nach dem Tod des ägyptischen Papstes Schenuda im März schrieb er für eine unabhängige Tageszeitung eine kleine Geschichte, in der der Papst nach seinem Tod ins Paradies kommt und dort vier Märtyrer der Revolution trifft, zwei Christen und zwei Muslime. «Von einem Salafisten wurde ich darauf angeklagt, den Islam verraten zu haben, weil ich in diesem Paradies Christen habe auftreten lassen. Im Paradies der Salafisten gelten Christen als Ungläubige und haben dort nichts zu suchen», sagt al-Aswani. Kein anderer Intellektueller ist in der öffentlichen Diskussion um die Zukunft Ägyptens so präsent wie er. Es gibt sogar eine FacebookGruppe «Aswani for President». Khaled Ali: Jurist und Kandidat der Jugend. Susanne Schanda Alaa al-Aswani: Schriftsteller und Stimme des neuen Ägyptens. Keystone Ich frage ihn, ob er sich nach dem Vorbild des früheren tschechischen Schriftstellers und Präsidenten Václav Havel für ein politisches Amt bewerben will, sei es als Präsident oder zumindest als Kulturminister. «Niemals», sagt er bestimmt. «Ich nütze den Menschen und meinem Land als Schriftsteller viel mehr als in einem politischen Amt.» Hundertprozentig ägyptisch Inzwischen hat es im Kampf um die Präsidentschaft bereits Tote gegeben. Weil die Wahlkommission den Kandidaten der Salafisten, Hazem Abu Ismail, disqualifiziert hat, gehen seine Anhänger Tag für Tag protestierend auf die Strasse. Laut ägyptischer Verfassung muss ein potenzieller Präsident hundertprozentig ägyptisch sein. Er darf weder einen ausländischen Elternteil haben noch mit einer Ausländerin oder einem Ausländer verheiratet sein. Die Wahlkommission behauptet, sie habe vom US-Aussenministerium Papiere erhalten, die zeigen, dass Abu Ismails Mutter die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen habe. Den Beweis dafür hat sie allerdings nie erbracht, was auch bei neutralen Beobachtern den Verdacht weckt, dass hier getrickst wird, mit dem Ziel, einem Kandidaten Vorteile zu verschaffen, der dem Militärrat genehm ist. Amr Mussa, einstiger Aussenminister unter Mubarak und die letzten zehn Jahre Chef der Arabischen Liga, hat sich in Position gebracht. Fortsetzung auf SEITE 35 Zeitpunkt Samstag 12. Mai 2012 Fortsetzung von SEITE 34 Indische Eisenbahn Steiniger Aufbruch am Nil Hieb und Stich Doch die Revolutionäre schlafen nicht. Der Kandidat der Arbeiter Sternförmig führen die Strassen vom Tahrir in alle Richtungen. Die Talatharb-Strasse geht direkt durchs Herz der Stadt. Hier drängen sich Menschen in Massen an den Strassenverkäufern vorbei und drücken ihre Nasen an den Schaufenstern der Schuhgeschäfte platt. Bei der Patisserie El-Abd zweigt eine kleine Seitenstrasse nach rechts ab und lässt das lärmige Gewusel hinter sich. Im dritten Stock eines Gebäudes im europäischen Kolonialstil befindet sich das Büro von Khaled Ali. Mit 40 Jahren ist er der jüngste Kandidat in diesem Präsidentschaftswahlkampf und derjenige, der der revolutionären Jugend am nächsten steht. Khaled Ali ist Anwalt, der sich im Kampf für die Rechte der Arbeiter einen Namen gemacht hat. In einer Kollektivklage hat er vor zwei Jahren Mindestlöhne für Arbeiter in staatlichen Betrieben durchgesetzt. Bei Privatisierungen von Staatsbetrieben, die von Funktionären des MubarakRegimes zu Schleuderpreisen an befreundete Geschäftsleute verkauft wurden, hat er auf Korruption geklagt und verlangt, dass die Betriebe in Staatsbesitz zurückgeführt werden sollen. Die grossen Arbeiterstreiks der letzten Jahre hat Khaled Ali hautnah miterlebt. Als seit 2008 immer wieder Hunderttausende Arbeiter auf die Strasse gingen, um für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, merkte Khaled Ali, dass die Zeit reif war für eine Revolution. Er ist erst spät ins Rennen um die Präsidentschaft eingestiegen und steht noch am Anfang seines Wahlkampfes. Im weissen Hemd mit offenem Kragen, ohne Krawatte, sitzt er an seinem Schreibtisch vor einer riesigen, in kämpferisches Rot verfremdeten Fotografie einer Millioneya, wie die Millionendemonstrationen der ersten Tage der Revolution genannt werden. Der Spagat zwischen Demonstrieren und Regieren ist gewaltig, das weiss auch Khaled Ali. «Die miserable ökonomische Situation eines grossen Teils der Be- 35 D a mein Vergleich des Korans mit «Mein Kampf» letzte Woche nicht auf einhellige Zustimmung stiess, vergleichen wir heute den Koran mit «Harry Potter» und «Mein Kampf» mit dem Telefonbuch. Doppelgesicht der korrupten Macht: Rechts der gestürzte Präsident Mubarak, links sein Ex-Gefolgsmann und aktueller Machthaber Tantawi. Susanne Schanda völkerung war die Ursache dieser Revolution. Da sich an dieser Situation bisher nichts geändert hat, erwarte ich eine zweite Welle der Revolution, wenn die Erwartungen der Menschen nach einer Verbesserung ihrer ökonomischen Lage und sozialer Gerechtigkeit nicht bald erfüllt werden», sagt er. Hier sei der neue Präsident gefragt. David gegen Goliath Der linke Anwalt und Menschenrechtsaktivist verkörpert in diesem Wahlkampf David, der gleich gegen zwei Goliath-Gestalten antritt, die Islamisten und die vom Militär unterstützten Vertreter des alten Regimes. Das schreckt ihn nicht, im Gegenteil. Als einige der disqualifizierten Präsidentschaftskandidaten eine Klage gegen die Wahlkommission anstrengten, schloss sich der Anwalt Khaled Ali dem Verteidigungsteam seiner Rivalen an. «Unabhängig von meinen Differenzen, die ich auf einer intellektuellen und politischen Ebene mit ihnen habe, ist es meine Pflicht als Anwalt, ihre Rechte auf einen fairen Wahlkampf zu verteidigen», erklärt er. «Im Fall des Salafisten Abu Ismail geht es um sein Recht, die Papiere zu be- renommierte Diplomat und ehemalige Aussenminister Amr Mussa, der vom Militärrat gestützt wird, und der Islamist Abdelmoneim Abu al-Futuh, ehemaliges Mitglied der Muslimbrüder, der sich heute als moderat präsentiert. Bringt sich in Kairos Strassen in Position: Bei den Präsidentschaftswahlen ist Ex-Diplomat Amr Mussa der Mann des Militärrats. Keystone kommen, die seine Verteidigung unterstützen, was immer sie sind und wer immer sie ihm geben kann.» Seine linken Freunde waren wütend darüber, dass Khaled Ali einen Salafisten verteidigte. Nur eine Woche zuvor hatte er die Islamisten erzürnt, als er ihren Plan verhinderte, die Verfassung mehr oder weniger unter sich auszuhandeln. Khaled Ali geht seinen Weg geradlinig und undogmatisch. Ernsthafte Chancen auf die Präsidentschaft hat er kaum. Doch mit ihm hat erstmals ein Vertreter der revolutionären Bewegung die politische Bühne betreten. Dreizehn Kandidaten stehen am 23. und 24. Mai zur Wahl. Es ist die erste echte Präsidentschaftswahl in der Geschichte Ägyptens. Frauen sind keine im Rennen, nachdem die prominente Fernsehmoderatorin Buthaina Kamel die für eine Kandidatur benötigten Stimmen nicht erreichte und aufgeben musste. Favoriten sind der international Im Abseits Im Café Bursa, einem beliebten Strassencafé nicht weit von Khaled Alis Büro, ist von Wahlkampf keine Spur. Hier vertreibe ich mir die verbleibende Zeit, bis ich in der Mugamma meinen Pass abholen kann, so Gott will. Es ist ein ruhiger Vormittag, die Kellner unterhalten sich mit den spärlichen Gästen. Eine üppige junge Frau stakst auf hochhackigen Schuhen daher, die Beine in silbrig glitzernden Leggings. Ein Pullover mit Leopardenmuster spannt über den dicken Bauch. Das Gesicht unter dem eleganten schwarzen Kopftuch ist stark geschminkt. Irritierte Blicke folgen ihr. Eine Frau auf der anderen Seite der Gasse lacht zu mir herüber, hebt den Daumen zustimmend und ruft: «Das ist Ägypten!» Susanne Schanda Auch Harry Potter hörte Stimmen, welche ihm einflüsterten, er müsse andere töten. Harry Potter merkte dann allerdings, dass es sich dabei um die Stimme einer Schlange handelte. Das Telefonbuch wiederum ist heute ungefähr gleich weit verbreitet wie damals «Mein Kampf». Im Gegensatz zu «Mein Kampf», wo sich der Autor damit begnügt, die Juden pauschal als Juden zu bezeichnen, sind sie im Telefonbuch namentlich aufgeführt, und zwar in alphabetischer Reihenfolge. Allerdings enthält sich das Telefonbuch eines Urteils, im Gegenteil, es listet sogar von allen verzeichneten Juden Adresse und Telefonnummer auf, sodass jeder anrufen oder vorbeigehen und sich selbst ein Urteil bilden kann. Würde man wiederum die Worte in «Mein Kampf» alphabetisch ordnen, bedeutete dies einen erheblichen Eingriff in den Text, was aber nicht heisst, dass dessen Qualität darunter leiden würde. Vergleicht man das Alte Testament mit «Pinocchio», sticht ins Auge, dass in beiden Werken jemand von einem Wal verschluckt wird. Da sind die Parallelen zwischen Karl May und dem Kirchengesangbuch schon weniger auffällig. Sowohl Karl May wie auch Johann Sebastian Bach haben über etwas geschrieben, was sie selbst nicht gesehen haben. Sie sehen, es gibt immer Parallelen. Andreas Thiel Andreas Thiel ([email protected]) ist Satiriker in Südindien. [email protected] ANZEIGE