Archäologie als Wissenschaft
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Archäologie als Wissenschaft
Archäologie Februar 2012 55 Archäologie als Wissenschaft Zur aktuellen Ausstellung im Nationalmuseum Noch bis zum 2. September 2012 ist im Nationalmuseum für Geschichte und Kunst am Fischmarkt die Ausstellung „Unter unseren Füßen/Sous nos pieds“ zu sehen, die laut Untertitel den archäologischen Grabungen und Funden der letzten 15 Jahre gewidmet ist. Den beiden Kommissaren Franziska Dövener und François Valotteau zufolge will die Ausstellung zunächst Einblick geben in die Vorgehensweise von Archäologen und Restauratoren, um anschließend anhand ausgewählter Beispiele archäologischer Entdeckungen der letzten 15 Jahre Grundthemen der menschlichen Existenz zu behandeln: Wohnen, Arbeit, Not, Religion und Grabkult (sic). (Die Zuordnung etlicher Beiträge zu diesem oder jenem Kapitel darf aber durchaus in Frage gestellt werden.) Die Ausstellung hat also eine eindeutig pädagogische Zielsetzung, was ohne Frage zu begrüßen ist. (Ausstellungen können nämlich auch vorrangig Forschungszielen dienen, wie etwa die Mansfeld-Ausstellung vor vier Jahren im selben Museum.) Dazu trägt zweifellos die didaktische und doch ansprechende Inszenierung durch die Kölner Museografin Claudia Gornik wesentlich bei. Dadurch, dass sie nicht vor Texttafeln zurückscheute und die ausgestellten Objekte auch eher unspektakulär sind, überwiegt eindeutig der informative Charakter der Ausstellung, wenn man mal vom etwas reißerischen Zwischentitel „Mord in Dalheim“ absieht. Die nicht mit Objekt und Kurztext vermittelbaren Einblicke in die archäologische Arbeit werden stellenweise durch Filme ergänzt. Die „Grabsitten im Mittelalter“ werden in der Ausstellung (jedoch nicht im parallel dazu erscheinenden Buch) anhand von kommentierten Fotos in einem ausgelegten Ordner genauer erklärt. Im Buch, dessen nüchternes Layout ebenenfalls von C. Gornik stammt, werden aus demselben Grund im ersten Teil – wenn auch in etwas wirrer Reihenfolge – auf je einer, höchstens zwei Seiten die Vorgehensweise der Archäologen bzw. der ihnen benachbarten Wissenschaften erklärt, von der Prospektion über die Stratigraphie, Datierungstechniken, Epigrafik und Numismatik bis zu Archäobotanik, Archäozoologie und Anthropologie, bevor schließlich die unterschiedlichen Techniken der Restauratoren dargestellt werden, je nachdem, ob es sich um Eisen, Glas, Keramik, Holz oder Leder handelt, während am Schluss die Rolle des Depots bzw. der Fundstellendatenbank beleuchtet werden. Zwischengeschoben sind Beiträge über die Archäologie des Eisenhüttenwesens, die Bedeutung des archäologischen Inventars für die Landesplanung, die von den Metalldetektoren ausgehenden Schäden sowie eine halbe Seite zum Thema „Archäologischer Rundgang durch Luxemburg“, deren Sinn nicht ganz einleuchtet (und die in der Ausstellung fehlt). In diesen ersten Teil hätte eigentlich auch der Kurzbericht über die mittels Laserscanner erfolgte dreidimensionale Rekonstruktion des Doppelgrabs von Altwies mit den Mutter-und-Kind-Skeletten aus der Glockenbecherkultur gehört; sie war notwendig, da ein Gipsabdruck wegen der Fragilität der Knochenreste nicht in Frage kam. Auch im Verlauf der folgenden thematischen Sektionen bzw. Buchkapitel gilt stets ein besonderes Augenmerk der archäologischen Methode bzw. Terminologie. Der Begriff „Romanisierung“ wird z. B. in der Ausstellung (nicht im Buch) anhand der Töpferei veranschaulicht. (Gerade in Bezug auf diesen Begriff erheben sich m. E. allerdings ernst zu neh- Michel Pauly Ziel der Ausstellungsmacher war offenbar nicht, den „Zauber der Archäologie“ zu wecken, sondern für Verständnis gegenüber archäologischen Grabungen zu werben. 56 forum 315 Archäologie Inhumation double en fosse, culture campaniforme, Altwies, 2380-2200 avant J.-C. mende Einwände: die ausgestellten Töpfe belegen doch eher, dass es nicht zu einer einseitigen Vereinnahmung bzw. Verdrängung der keltischen durch die römischen Kultur kam, sondern eher zu einer gallo-römischen Symbiose, wurden doch weiterhin keltische Topfformen mit römischen Materialien gebrannt.) Ein anderes Beispiel ist die Verwertung von DNA-Analysen für ethnische Rekonstruktionen auf einer Schautafel in der Sektion über den Totenkult (im Buch in das Kapitel über den Toten vom Loschbur integriert): eine politisch nicht ungefährliche Interpretation genetischer Analysen. Für NichtFachleute gehen die methodologischen Details sicher gelegentlich zu weit. Einige Autoren haben auch Schwierigkeiten, sich ihrer Fachsprache zu entledigen. Insofern könnten etliche Besucher der Ausstellung enttäuscht sein, denn außer dem Titelberg ist keine Sektion in extenso einer der bedeutenden Fundstellen der letzten Jahre im Lande gewidmet (und auch der Titelberg kommt erst in der letzten Sektion vor). Die Ergebnisse der zahlreichen Not- und wenigen Forschungsgrabungen – letztere gab es nur auf dem Titelberg, in Dalheim und unter zwei Felsüberhängen des Müllerthals – sind daher auf die einzelnen thematischen Sektionen verteilt. So wartet man z. B. vergeblich sowohl in der Ausstellung als auch im Buch auf eine Darstellung bzw. Kommentierung des im Foto gezeigten Sarkophags in der Fentinger Kirche. Ziel der Ausstellungsmacher war offenbar nicht, den „Zauber der Archäologie“ zu wecken, sondern für Verständnis gegenüber archäologischen Grabungen zu werben, die ja mitunter Bauvorhaben verzögern können. Ob dieses Ziel restlos erreicht wurde, darf allerdings stellenweise bezweifelt werden. Für Nicht-Fachleute gehen die methodologischen Details, z. B. bezüglich der Radiocarbon-Datierung der Nussschalen von Hersberg, sicher gelegentlich zu weit. Einige Autoren haben auch Schwierigkeiten, sich ihrer Fachsprache zu entledigen, etwa wenn es heißt: „Quelques produits bruts de débitage, certains corticaux, témoignent du débitage sur place des matières premières… Les quelques fragments proximaux de lamelles observables et l’aspect rectiligne de certains supports pourrait plaider en faveur d’un débitage à la pierre tendre (grès?).“ oder auch wenn Begriffe wie Gräfte, Grubenhaus, La Tène, „os trabéculaire ou ostéon“ undefiniert bleiben. Demgegenüber wird „L’Europe campaniforme“ sehr einleuchtend erklärt. Während die Zeichnungen vom Felsüberhang in Hersberg und vom Sandsteinplateau bei Waldbillig zurecht als „vue d’artiste“ gekennzeichnet werden und damit ein unaufgeklärtes Publikum vor falscher Wissenssicherheit bewahrt wird, wird eine ähnliche Vorsicht bei den als „Rekonstruktion“ betitelten Zeichnungen der Heilig-Geist-Kirche leider fallen gelassen. Irreführend ist auch das überdimensionierte Foto eines Hahns (S. 111), denn der Hahn misst in der Vitrine knappe 5 cm. Neufunde und neue Fragen Wissenschaftliche Grabungsberichte sind die in der Ausstellung bzw. im Textbuch gebotenen Darstellungen selbstverständlich nicht. Das sagt Christiane Bis-Worch auch ausdrücklich. Nichtsdestoweniger bieten sie auch Fachleuten erste Informationen zu etlichen Grabungen, auf deren Publikation die Fachwelt zum Teil seit fast 15 Jahren wartet. So bieten Catherine Gaeng und Jeannot Metzler eine Übersicht über die jüngsten Erkenntnisse betreffend den öffentlichen Sektor im Osten (vier Modelle illustrieren die erstaunliche Entwicklung des Tempelbezirks) und den römischen Militärbereich im Westen des Titelberg-Oppidums, wo der Handel weiter blühte, sowie über das dem Titelberg östlich vorgelagerte Gräberfeld, das mit 200 Grabstellen aus spätkeltischer und frührömischer Zeit nicht nur die Entwicklung der Grabsitten in einer Übergangsphase schön dokumentiert, sondern auch die schon in Buchform vorliegende Nekropole von Lamadeleine am westlichen Fuß des Höhenzugs übertrifft. Neu ist auch die Auswertung der im Museum wiedergefundenen menschlichen Reste aus einem zweiten (Brand)grab in Reuland-Loschbur, die rund 1000 Jahre älter sind als die seit 1935 als „ältester Luxemburger“ bezeichnete Leiche, die nur wenige Meter daneben gefunden worden war; von europäischer Bedeutung sind die Indizien, die auf eine Zerlegung der Leiche mittels Silex-Messer vor dem Brand hindeuten: da Archäologie Februar 2012 diese Informationen nur auf zwei Texttafeln stehen und ohne Fundobjekt auskommen müssen, könnten sie leicht übersehen werden. Unveröffentlicht war bisher auch der in den 1920-30er Jahren gemachte Fund eines Hundegrabs in Immendelt, das auf 2450 bis 2140 v. Chr. datiert werden kann. Dasselbe gilt für drei gallo-römische Säuglingsgräber in Dalheim. Sehenswert ist auch der frühchristliche Ziegelstempel aus einer Notgrabung in Sartdorf bei Moersdorf, den Jean Krier zwar vor kurzem in dem vorzüglich aufgemachten Museumsjahrbuch Empreintes (Nr. 3/2010, S. 80-93) ausführlich mit dem gesamten Fundzusammenhang publiziert hat, der aber noch nie öffentlich zu sehen war. Mittlerweile schon besser bekannt aber noch kaum gezeigt ist die Windform einer Schmelzanlage aus dem Genoeserbusch bei Peppingen, die bei ihrem Fund eine regelrechte Sensation in Europa darstellte, weil der damit angeheizte Schmelzofen den Übergang vom Rennofen zum Hochofen dokumentiert. Der merowingische Friedhof von Altwies hingegen harrt seiner ausführlicheren Publikation, wie die Dame von Bartringen aus derselben Epoche. Völlig berechtigt ist die Forderung von Christiane Bis-Worch nach einer systematischeren Erforschung von Kleinadelssitzen, von denen sie zwei vorstellt: Niedercolpach und Bettemburg. Große Erwartungen darf man auch an die Grabungsberichte derselben Mittelalterarchäologin betr. die Franziskanerkirche auf dem Knuedler und die Heilig-Geist-Kirche auf dem gleichnamigen Plateau knüpfen, denn die wenigen Informationen, die hier geliefert werden, wecken den Appetit auf viel mehr. (Wie steht es übrigens mit der unter der Cité judiciaire geplanten archäologischen Krypta? Der Publikumserfolg der Ausstellung müsste der Forderung nach Realisierung dieses ministeriellen Versprechens neuen Aufwind verschaffen.) Einige Aussagen der Archäologen werfen allerdings Fragen auf, die nicht nur den Historiker stutzig machen dürften. So wollen sie herausgefunden haben, dass „der Stadtgraben der Luxemburger Altstadt erst nach den Bränden von 1509 und 1554 zugeschüttet und neu bebaut wurde, wobei die neuen Parzellen zurückspringen, um eine breitere Gasse frei zu lassen.“ Die Datierung bereitet mir keine Schwierigkeiten, wohl aber die Behauptung, es sei nach der Zuschüttung des Grabens „eine breitere Gasse“ angelegt worden: hat es denn etwa schon vorher eine (schmalere) Gasse im Graben gegeben? Der archäologische Nachweis, dass die Seilerspforte (die Schreibung Seyler ist ungerechtfertigt) im Pfaffenthalerberg keine Doppeltoranlage war, widerlegt auch nicht den allgemein als erstaunlich exakt angesehenen Deventer-Plan: der angebliche Widerspruch ist wohl auf die Benutzung einer schlechten Kopie dieses Planes zurückzuführen. Die Schreibung „Kahlfelspforte“ beinhaltet eine Interpretation, der man nicht unbedingt folgen muss, denn der Quellenbegriff „kalfels“ kann auch als „Kal(t)fels“ gedeutet werden. Die Zugehörigkeit des Heilig-Geist-Klosters zur St.-Michels-Pfarrei ist mir auch neu; bis zum Beweis des Gegenteils gehe ich davon aus, dass es zur St.-Nikolaus-Pfarrei gehörte (vgl. Stadtplan Jaillot 1790). Auf dem Weg zu einem neuen Kulturinstitut? Als die Planungen zur aktuellen Ausstellung, die noch bis zum 2. September 2012 zu sehen ist, anliefen, ahnte der Direktor des Nationalmuseums wohl nicht, dass sie ein Abschiedsgeschenk der Archäologen sein würde. Mit großherzoglicher Verordnung vom 24. Juli 2011 wurde nämlich das Centre national de recherche archéologique (CNRA) vom Museum getrennt, wie forum schon im Mai 2004 (Nr. 236), als der heutige Direktor noch gar nicht im Amt war, gefordert hatte. Auf konfliktfreierem Weg war auf die Weise schon das Literaturarchiv geschaffen worden, das ursprünglich eine Dienststelle des Nationalarchivs gewesen war, bevor es in Mersch selbständig wurde. Dass die Verantwortlichen des CNRA auf dem richtigen Weg sind, zeigen auch zwei wissenschaftsstrategische Details, die im Textbuch deutlich werden: 1. Neue Erkenntnisse werden nicht nur aus neuen Grabungen gewonnen, sondern, wie Museumsdirektor Michel Polfer zu Recht hervorhebt, auch aus der Neuinterpretation alter Museumsbestände. Beispiele dafür bieten der Leichenbrand von Loschbur, das Hundegrab von Immendelt, die Goldscheibenfibel von Altwies,… 2. Immer häufiger werden Teilaspekte bedeutender Grabungen von Studierenden im Rahmen einer Doktorarbeit untersucht: angesichts des Zeit- und Personalmangels beim CNRA sicher eine begrüßenswerte Win-winInitiative. Da die Uni Luxemburg keine archäologische Ausbildung anbietet, sind das allerdings ausschließlich angehende Archäologen von ausländischen Universitäten. Schön wäre es, wenn die Ausstellung auch den archäologiebegeisterten Hochschulminister und die Universitätsverantwortlichen dazu bewegen könnte, einen Lehrgang GeschichteArchäologie anzubieten, denn diese Kombination ist auch im Ausland noch eher selten, da viel häufiger Archäologie mit Kunstgeschichte kombiniert werden muss. Der Ausstellung ist zu wünschen, dass sie zahlreiche Besucher anziehen wird, denen sie klar macht, dass Archäologie eine eigenständige Wissenschaft ist. Dank eines verbesserten Verständnisses für die Belange und für die Arbeitsweise der Archäologen werden sie dann bestimmt die Lobby derer verstär- 57 Schön wäre es, wenn die Ausstellung auch den archäologiebegeisterten Hochschulminister dazu bewegen könnte, einen Lehrgang GeschichteArchäologie anzubieten. 58 forum 314 Archäologie ken, die wie forum seit Jahrzehnten für eine Aufstockung des Personals im Hinblick auf systematischere Grabungspublikationen und für die frühzeitige Berücksichtigung archäologischer Erfordernisse bei der Landesplanung eintreten. u forum Für Politik, Gesellschaft und Kultur Gegründet: 1976 Herausgeber: forum ASBL Durchschnittliche Auflage: 1 900 Exemplare 11 Ausgaben im Jahr ISSN 1680-2322 Ständige Mitarbeiter Jean-Paul Barthel, Olivier John, Thomas Köhl, Michel Pauly, Christina Schürr, Jürgen Stoldt, Viviane Thill, Jean-Marie Wagner Koordination Lynn Herr, Bernard Thomas Autoren dieser Ausgabe Anne Christophe, Claude Javeau, Jeff Kintzelé, Véronique Medinger, Dietmar Mirkes, Thierry Nothum, Michel Pauly, Dominique Pierret, Tiffany Riegert, Klaus Schneider, SCRIPT, Murray Smith, Arndt Weinrich, Frank Wilhelm, Christian Wille Interviewpartner dieser Ausgabe François Biltgen, Anne Jacquemart, Gabriel Zucman Originalillustrationen Olivier John, Carlo Schmitz Foto Cover Jean-Léon Gérôme, Pollice Verso (1872) Druck c.a.press, Esch/Alzette Namentlich gezeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. 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