Gegen den Trend 2001 - Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen

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Gegen den Trend 2001 - Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen
GEGEN DEN TREND
ZWISCHEN BEGEISTERUNG
UND GEWALT …
AEJN • Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Niedersachsen
Postfach 265 • 30002 Hannover • Telefon: 05 11 / 12 41 - 572 / - 571 • Fax: 05 11 / 12 41 - 492
[email protected] • http://www.ejh.de/aejn.htm
Redaktion:
Ralph-Ruprecht Bartels, Christian Ceconi-Solle, Daniela Jeksties, Gottfried Labuhn, Manfred Neubauer, Daniel Petzold
Autoren:
Ralph-Ruprecht Bartels, Pastor im Landesjugendpfarramt Hannover
Martin Bauer, Dipl. Religionspädagoge, Kirchenkreisjugendwart Nienburg
Christian Ceconi-Solle,Vikar, Ehrenamtlicher der Christlichen Pfadfinderschaft Deutschland
Daniela Jeksties, Dipl. Sozialwirtin, Referentin für Mädchenarbeit, Landesjugendpfarramt Hannover
Gottfried Labuhn, Dipl.Sozialarbeiter, Propsteijugenddiakon, Ev.-Luth. Landeskirche Braunschweig
André Medeke, Dipl. Religionspädagoge, Regionaljugenddiakon f. d. Kirchenkreis Vechta, Ev.Luth. Kirche in Oldenburg
Roger Moch, Berufsschulpastor, Rotenburg/Wümme
Manfred Neubauer, Dipl.Religionspädagoge, Jugendbildungsreferent im Landesjugendpfarramt Hannover
Daniel Petzold,Vikar und Mitglied der Altpapiergruppe Loccum
Siegfried Rupnow, Dipl. Religionspädagoge, Landesjugendwart im Landesjugendpfarramt Hannover
Eva Viedt, Diakonin, Arbeitsgebiet Mädchenarbeit, Evangelischer Stadtjugenddienst Braunschweig
Dr. Klaus Zastrow, Berufsschulpastor in Bückeburg
Titelseite:
Kolja Schwab - s•form
Satzerfassung:
Doris Koch, Manfred Neubauer
Layout:
Kolja Schwab - s•form
Druck:
Buchdruckwerkstätten GmbH, Hannover
Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier, Recycling
Hannover, im Januar 2001
Inhaltsverzeichnis
5_ Vorwort der Nds. Ministerin für Frauen,
Arbeit und Soziales
6_ Vorwort der Redaktion
Die Aktion
8_ Die Aktion und ihr Thema
8_ Zur Arbeit der Projektgruppe und der Zielsetzung
9_ Fasten, warum?
9_ Die Arbeitshilfe (Broschüre) und ihre Zielgruppen
10_ Die Themen
Jugendgewalt - Wie, wo, warum?
- Überblick über die Ergebnisse der
neuesten soziologischen Studien
12_ Einleitung
12_ Gewalt in der Schule
12_ Gewalt findet (meistens) draußen statt
13_ Bangemachen bringt nix – die Rolle der
Lehrer/innen
13_ Gewalt und soziales Milieu
13_ Gewalterlebnisse bestimmen das Gewaltverhalten
14_ Je schlechter die soziale Lage, desto häufiger Gewalt
14_ Normen werden zu Hause gemacht
15_ Jugendgewalt ist ein Männlichkeitsproblem
15_ Sind es also immer die Ausländer?
16_ Welchen Stellenwert hat das Thema Gewalt
für die Jugendlichen selbst?
16_ Das Gewaltproblem realistisch einschätzen
und gezielt daran arbeiten
GEGEN DEN TREND ’2001
Faszinosum Gewalt
20_ Das Ende der Vernunft?
20_ Kein Leben ohne Beziehung
21_ Wie der Mensch sich selbst gewinnt
22_ 3 x 1 = 1: Der dreieinige Gott
23_ Gewalt und die Suche nach Beziehung
2_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
23_ Nächstenliebe – Deine Sache!?
24_ Vom Fremden zum Eigenen
26_ Pädagogik der Grenzen
26_ Der Grund des Seins – Kick oder Exstase
28_ Verstehen oder Abschrecken?
28_ Nachsicht oder Verantwortung?
Wie wirkt Musik?
34_ Die Affekte, Begriffsbestimmungen
35_ Aggression beim Menschen Aggressionstheorien
37_ Praxisbaustein: Ablauf eines Schulgottesdienstes an der BBS zum Thema Gewalt/
Menschlichkeit
40_ Gewalt in den Medien/Musik
40_ Begegnung mit einem (typischen?) Nazimusik-Konsumenten
44_ Musik und ihre Funktionen
Die Welt zertrümmern?!
Musikkonsum und aggressives Verhalten
48_ Vorbemerkung
48_ Einleitung
50_ Inhalt der Studie, Fragestellungen und
Hypothesen der Studie von C. Stöver
50_ Hypothesenbildung
51_ Der Fragebogen
53_ Fragebogen zum Zusammenhang von
Persönlichkeit und Musikkonsum
58_ Analyse und Untersuchungsergebnisse
61_ Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse
63_ Fazit
Gewaltbereite Mädchen
68_ Das Projekt „Starke Mädchen gegen Rechts“
68_ Hintergrundwissen über gewaltbereite
Mädchen
69_ Warum sind Mädchen und Frauen in der
rechtsextremen Szene zu finden?
Inhaltsverzeichnis
70_ Ziel des Projektes
71_ Umsetzung
71_ Vorstellung vom Teilprojekt „Straßenbefragung“
72_ Ergebnisse des Gesamtprojektes
Sexuelle Gewalt gegen Mädchen
und Frauen
74_ Wege des Ausbruchs
75_ Überlebensstrategien
76_ Gefühl zeigen über Kreativität
76_ Freies und experimentelles Malen
76_ Mädchenarbeit ist Präventionsarbeit
77_ Wen Do - Weg der Frauen
77_ Ausgangssituation
78_ Geschichte und Prinzipien
78_ Das Besondere am Wen Do
79_ Wen Do als Bildungsschwerpunkt in der
Mädchenarbeit
Gewalt und Jungen (Jungen treten Mädchen ziehen an den Haaren)
82_ Einleitung
83_ Beschreibung von aktiver Gewalt bei Kindern und Jugendlichen
83_ Gewalt in der Familie
83_ Jungen und Gewalt
84_ Jugendgewalt
84_ Gewalt als Mittel der Identitätsfindung
84_ Gewalt als Erlebnis
85_ Gewalt als Angstabwehr
85_ Konsequenzen für die Gewaltprävention
Der Herr der Heerscharen
Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt
Dekade zur Überwindung von
Gewalt 2001-2010 - Ein Programm
des Ökumenischen Rates der Kirchen
100_ Ein Programm zur Überwindung der Gewalt
101_ Die Geschichte der ÖRK - Dekade
103_ Das Programm der Dekade
104_ ÖRK - Dekade und evangelische Jugendarbeit
Praxisbeispiele
Für die Arbeit mit Mädchen (jungen Frauen)
108_ Ich brauche Platz
108_ Ich breche aus
109_ Rück‘ mir nicht auf die Pelle
Für die Arbeit mit Jungen (jungen Männern)
112_ Elektrischer Draht
113_ Säureteich
114_ Das Spinnennetz
115_ Konkurrenz unter Jungen
Für die Arbeit mit Mädchen und Jungen/
Männern und Frauen
118_ Lebenskurve: Erfahrungen von Gewalt
119_ Grenzen wahrnehmen
119_ Burgspiel
120_ Burgspiel (Variante)
121_ Manchmal haben Frauen …
122_ Begeisterung kennt keine Grenzen
123_ Gruppenarbeit zum Thema Begeisterung
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_3
GEGEN DEN TREND ’2001
88_ Von Pazifismus keine Spur
88_ Ein starker Gott hilft einem schwachen
Volk: Showdown am Schilfmeer
89_ Eine betende Terminatorin: Judit
90_ Begeisterung macht stark: Simson
90_ Die jugendliche Geheimwaffe: David
91_ Größe und Größenwahn
92_ Rohrstockpädagogik im Kleinen ...
93_ ...und im Großen
93_ Der andere Gott
95_ Runter mit der Hasskappe – rauf mit dem
Helm des Heils!
96_ Kreativität für das Evangelium des Friedens
97_ Praxisbeispiel
Inhaltsverzeichnis
Gewaltorientierte Spiele mit der
Playstation - ein Selbstversuch
125_ Die Idee
125_ Der Versuchsaufbau
125_ Durchführung
127_ Unsere Erfahrungen und Tipps zur Durchführung des Versuchs in Schulklassen und
Jugendgruppen
127_ Kleine Quellenkunde zu geeigneten (aktuellen) Spielen
128_ Und was bringt‘s?
Das Bauwagenprojekt „Paule“ zur
Überwindung von Gewalt
129_ Entstehung des Projektes
129_ Ziel: Overcome violence – die Gewalt überwinden
129_ Der Ausbau des Bauwagens
130_ Die Arbeit mit „Paule“
131_ 10 Artikel zur Gewaltvermeidung
131_ Mobilität
132_ Teamarbeit
132_ Ausblick
Gewalt in unseren Straßen
133_ Erlebnisse eines 16jährigen
134_ Vaterland
135_ Schritte gegen Tritte
138_ 10 Regeln zur Deeskalation
GEGEN DEN TREND ’2001
142_ Literaturliste und Deeskalationsseminare
146_ Informationen über die AEJN
148_ Veröffentlichungen der AEJN zur Aktion
„Gegen den Trend“
4_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Vorwort der Nds. Ministerin für Frauen, Arbeit und Soziales
Mit ihrem Motto „Gegen den Trend 2001 - Zwischen Begeisterung und Gewalt“ ruft die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend zu ihrer
diesjährigen Fastenaktion auf. Gewalt scheint „im
Trend“ zu liegen. Medienmeldungen über Gewalt
an Ausländern und fremdländisch Aussehenden,
an Behinderten, Obdachlosen, Wehrlosen häufen
sich. Gewalt, die weniger nach außen dringt,
herrscht in vielen Familien. Subtile Formen der
Gewalt finden sich in der Arbeitswelt. Gewalt
richtet sich immer gegen Schwächere. Gewalt
widerspricht den zentralen Grundsätzen unseres
Zusammenlebens, der Freiheit, der Solidarität und
der gegenseitigen Achtung. Ansätze, die „gegen
den Trend“ der Gewalt wirken, sind daher notwendig. Dazu gehört es, auf die unterschiedlichen
Formen von Gewalt und ihre Ursachen hinzuweisen, Wege zur Prävention aufzuzeigen, Beispiele
und Anregungen zu benennen, die jungen Menschen und ihren Familien, Pädagogen in der Jugendhilfe und der Schule helfen und Mut machen,
Gewalt vorzubeugen und abzubauen. Die diesjährige Aktion der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend leistet dazu einen guten Beitrag.
beispielgebend sind. Besonders Familien brauchen unsere Unterstützung. Wir haben gemeinsam
die Aufgabe, junge Menschen mit ihren Erwartungen, Ängsten und Wünschen ernstzunehmen, sie
an Entscheidungen, die ihre Angelegenheiten
betreffen, zu beteiligen, ihnen lebenswerte Perspektiven zu geben und verantwortlich mit den
Ressourcen ihrer Zukunft umzugehen. In dieser
Aufgabe liegt ein Schlüssel zur Gewaltvermeidung.
Ich würde mich sehr freuen, wenn die vorliegende
Arbeitshilfe für Jugendhilfe und Schule zu konstruktiven und hilfreichen Auseinandersetzungen
mit dem Thema „Gewalt” beitragen kann.
Dr. Gitta Trauernicht
Niedersächsische Ministerin
für Frauen, Arbeit und Soziales
GEGEN DEN TREND ’2001
Mit dem „Präventions- und Integrationsprogramm”,
das auf einer Intensivierung der Zusammenarbeit
zwischen Jugendhilfe und Schule aufbaut, verstärkt Niedersachsen in diesem Jahr die Maßnahmen des Landes zur Gewaltbekämpfung. Aber um
der Gewalt in ihren verschiedenen Formen wirksam zu begegnen, bedarf es darüber hinaus der
gemeinsamen Verantwortung und Bereitschaft zur
Zusammenarbeit vieler gesellschaftlicher Gruppen
und Institutionen und auch vieler Einzelner, die
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_5
Vorwort der Redaktion
gibt. Unsere Gesellschaft baut ja
bekanntlich auf einem geregelten
Rechtssystem auf, der Staat hat das
Gewaltmonopol und körperliche Stärken sind zum Überleben nicht mehr
notwendig, außer in Godzillafilmen,
oder Bartels?
Bartels:
Ja, da sind wir doch auf einen fahrenden
Zug aufgesprungen, oder, Neubauer?
Bartels:
Neubauer: Die Idee des Themas war schon länger
vorhanden, wie du dich erinnerst. Im
Rahmen der Reihe „Gegen den Trend”
haben wir 1993 schon einmal das
Thema „Gewalt” behandelt.
Bartels:
...und, hat sich seitdem etwas verändert? Gibt es neue Erkenntnisse, die
eine weitere Arbeitshilfe zu dem Themenkomplex begründen?
Neubauer: Acht Jahre sind verstrichen, die Aktualität des Themas ist ungebrochen. Hinzu
kommt, dass für das Jahr 2001 die
ÖRK1-Dekade zur Überwindung von
Gewalt ausgerufen wurde. Das hat auf
verschiedenen Ebenen Bewegung
gebracht. Im Bereich der evangelischen
Jugendarbeit der Landeskirche Hannovers hat beispielsweise die Landesjugendkammer beschlossen, sich an
der Umsetzung der Dekade zu beteiligen.
GEGEN DEN TREND ’2001
Bartels:
Richtig, die Synode der Landeskirche
hat in ihrer Novembersitzung ebenfalls
einen entsprechenden Beschluss
gefasst.
Neubauer: Außerdem: Wir haben scheinbar friedliche Zeiten. Wie leben in einem Land, in
dem es keine Bombennächte mehr
6_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Ja, es findet zur Zeit der virtuelle Overkill statt, in PC´s, auf Spielkonsolen in
Action-Filmen und Serien. Dort werden
Fähigkeiten idealisiert, die Mann oder
Frau im normalen Leben eigentlich
nicht mehr braucht. Wo kann man sich
heute noch austesten? Da bleibt nur
die Randale auf Straßen oder in Stadien, ist doch so oder, Neubauer?
Neubauer: Richtig, Bartels. Deshalb haben wir ja
auch lange den Spagat diskutiert:
„Zwischen Begeisterung und Gewalt”.
Uns war und ist klar, dass Begeisterung
kreativ positiv umgesetzt werden kann.
Aber auch negativ gewendet in Gewalt
umschlagen kann. Oder anders ausgedrückt: Begeisterung ist eine Kraft, die
unglaublich viel Kreativität freisetzen
kann. Andererseits kann sie uns auch
zu Dingen hinreißen, die Unheil bewirken.
Bartels:
Stimmt, aus Begeisterung kann auch
Gewalt werden. Aber Jugendliche teilen
nicht nur Gewalt aus, sondern sie sind
auch im hohen Maße Opfer von Brutalität, Erpressung und dem sogenannten
„Abziehen”. Erwachsene beklagen die
vermeintliche Zunahme von Gewalt,
aber sehen sie auch inwieweit sie selbst
dafür die Ursache sind, Neubauer?
Neubauer: Ist doch klar, Bartels. Diejenigen, die
selbst Gewalt erlitten haben, werden
Vorwort der Redaktion
eher gewalttätig, das zeigen einschlägige wissenschaftliche Untersuchungen.
Bartels:
Das sagt auch schon das Alte Testament: „Die Sünde der Väter will ich
heimzahlen bis ins dritte und vierte
Glied”.
Neubauer: Erwachsene leben nicht unbedingt
gewaltfreies Handeln vor. Schläge sind
in der Kindererziehung weiterhin an der
Tagesordnung, Gewalt zwischen Frauen
und Männern wird üblich und verniedlicht. Jungen und Mädchen lernen
davon.
des Verstandes bewältigen, sondern
greifen tief in unseren Gefühlshaushalt
hinein. Aber vielleicht ist es darum um
so wichtiger, klare Orientierungen zu
gewinnen über das, was sein soll und
was nicht sein darf.
Neubauer: Dann darf das ganze Thema nicht nur
über die theoretische Auseinandersetzung angegangen werden, sondern wir
müssen vielleicht alte und neue Techniken anwenden, bzw. entwickeln, die
zur Gewaltüberwindung führen und
gewaltfreieren Umgang zwischen uns
ermöglichen.
Bartels:
Bartels:
Ach du meinst, „manchmal haben
Frauen ein bisschen Haue gern”, wie es
„Die Ärzte” singen. Aber das kann doch
nicht ernst gemeint sein, oder, Neubauer?
Neubauer: Natürlich nicht, Bartels. Da wird uns
doch ein Spiegel vorgehalten, das ist
doch eher eine Persiflage. Aber es
zeigt, dass das Thema allgegenwärtig
ist und auf Gewalt mit Gewalt reagiert
wird, selbst von Frauen.
Bartels:
Also, ähnlich wie ich auch das Lieben
lernen muss, Neubauer?
Neubauer: Ja klar, Bartels, auch du.
Bartels:
1
Wir alle sind hoffentlich lernfähig,
Neubauer!
Ökumenischer Rat der Kirchen
Gibt es so etwas wie ein Bedürfnis nach
Gewalt? Ein letzter Kick nachdem alle
anderen täglichen Höhepunkte ausgereizt sind?
Bartels:
GEGEN DEN TREND ’2001
Neubauer: Ich glaube schon. Es gibt eine voyeuristische- und eine Opfer-Perspektive.
Ganz abgesehen von der Täter-Sicht,
oder Bartels?
Liebe und Gewalt rühren an die tiefsten
Schichten unserer Existenz. Sie lassen
sich beide nicht allein auf der Ebene
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_7
Die Aktion
Die Aktion und ihr Thema
Fasten ist mehr als nur Verzichten. Mit dem Fasten
steigen Menschen aus gewohnten Verhaltens- und
Konsumweisen aus und es eröffnen sich ihnen
neue Reflexionsmöglichkeiten. Es ist eine Zeit des
Innehaltens und der Besinnung auf das eigene
Verhältnis zu Gott und zur Welt. Eine heilsame
Leere tut sich auf und will mit weiterführenden
Anregungen gefüllt werden. In der diesjährigen
Fastenzeit will die Aktion „Gegen den Trend” der
Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in
Niedersachsen (AEJN) das Thema „Zwischen
Begeisterung und Gewalt” in den Mittelpunkt des
Nachdenkens stellen.
GEGEN DEN TREND ’2001
Begeisterung - ein Hochgefühl, dass dem Geist
Flügel verleiht. Es gibt ganz unterschiedliche
Ursachen und ganz unterschiedliche Wirkungen
von Begeisterung. Begeisterung kann Kreativität
zur Überwindung von Gewalt freisetzen. Begeisterung kann aber auch Grenzen sprengen, eigenes
Verhalten entgrenzen und somit in Gewalt umschlagen. „Das ist eben so bei mir, wenn ich erst
mal dabei bin, kann ich nicht einfach aufhören”
sagte ein 23 Jähriger vor Gericht, der einen Obdachlosen fast zu Tode geprügelt hatte. Gewalt
schreckt ab und macht Angst, Gewalt wird (zu
recht) moralisch verurteilt. Gewalt kann aber auch
zum „Trip” werden, zum faszinierenden Rausch, in
dem alle Hemmungen verloren gehen. Begeisterung und Gewalt sind beides ambivalente Phänomene, die oftmals miteinander in einer engen
Beziehung stehen.
Zur Arbeit der Projektgruppe
und die Zielsetzung
Insgesamt hatte die Projektgruppe die Schwierigkeit, dass der Fokus bei der Behandlung des
Themas stärker auf dem Stichwort „Gewalt˝ lag.
Der Bereich „Begeisterung˝ musste immer wieder
neu in den Blickpunkt gerückt werden. Doch ist es
8_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
in manchen Beiträgen gelungen, die jeweiligen
Pole zu Wort kommen zu lassen. Bei der Behandlung eines Themenkomplexes war folgender 3-er
Schritt leitend: 1.) Beschreibung, 2.) Zuspitzung
und 3.) Material zur Umsetzung, um dadurch den
Praxisbezug sicher zu stellen. Für die Projektgruppenmitglieder galt für die Artikel folgende
Gliederung:
• Einordnung des Themas: Begeisterung und
Gewalt
• Wie wird Begeisterung thematisiert und wie
lässt sie sich dokumentieren?
• Wie wird Gewalt thematisiert und wie lässt sie
sich dokumentieren?
• Ausblicke zum Umgang mit Begeisterung und
Gewalt
• Ausblicke zur Überwindung
Als inhaltliche Zielsetzung für diese Arbeitshilfe
wurde formuliert:
• dass eine weitere Sensibilisierung für gesellschaftliche Phänomene zwischen Begeisterung
und Gewalt erfolgen soll
• dass dabei auch der eigene Umgang mit Gewalt
in den Blick genommen werden soll
• dass Möglichkeiten erkundet werden sollen,
wie die zweifelsohne bei Jugendlichen vorhandene Begeisterungsbereitschaft auf gute Wege
geleitet werden kann.
• dass das Thema 1993 zwar schon einmal behandelt wurde, aber nach acht Jahren sich
eine „Neubearbeitung” lohnt, da das Thema
weiterhin virulent ist und die Dekade zur
Überwindung von Gewalt 2001 – 2010 – ein
Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen - aufgenommen und unterstützt werden
soll.
Über die 40 Tage der Passionszeit hinaus erhoffen
wir uns gute Diskussionen in Schulklassen und
Jugendgruppen, in denen Jugendliche angeregt
werden, ihre persönlichen Vorstellungen zu Gewalt
und ihrer Überwindung weiterzuentwickeln.
Die Aktion
Fasten, warum?
Neben der inhaltlichen Auseinandersetzung mit
dem Thema: „Gegen den Trend – Zwischen Begeisterung und Gewalt” bietet die Fastenzeit selbst
Gelegenheit innezuhalten. Der Anstoß dafür liegt
in der Bereitschaft, vorhandene Verhaltensmuster
und Einstellungen, gewohnte und vielleicht sogar beliebte Gewohnheiten auf ihre Bedeutung
für die eigene Lebensgestaltung zu überprüfen.
Und zwar durch Verzicht, freiwillig, einzeln oder
gemeinsam. Die im biologischen Vollzug oft genug praktizierte und der körperlichen Verfassung
zu Nutze kommende Praxis des Fastens hat ihr
Pendant im geistig-seelischen Bereich gefunden.
Selbst religiös nicht engagierte Menschen können für sich einen Sinn darin sehen, die Orientierung nach anderen Maßstäben zu finden als
nur nach dem Schema „Nehmen ist seliger als Geben” (in Umkehr zu einer christlich verwurzelten
Einstellung). Eine befriedigende Lebensgestaltung kann eben nicht durch Egoismus und Kosten-Nutzen-Denken gefunden werden. In der
(Evangelischen) Jugend liegt das Potential zur
Veränderung, zum Ausprobieren, zum Protest.
Dies lässt sich auch für solch eine Fastenaktion
nutzbar machen.
Die Arbeitshilfe (Broschüre) und
ihre Zielgruppen
Die Arbeitshilfe versucht die weit gestreute Bezugsgruppe „Jugendliche” in den Blick zu nehmen,
für OrientierungsstufenschülerInnen bis hin zu
AbiturientInnen sollen die Unterthemen aufgenommen, aufgegriffen, weiterentwickelt und
weitergegeben werden. Die Entfaltung der Einzelthemen geschieht jedoch nicht schematisch, so
dass nacheinander alle Schul- und Altersstufen
gleichmäßig angesprochen werden. Zum Teil ist
es auch von den zugänglichen Materialien abhängig, was hier dargeboten wird. Außerdem
spielt eine Rolle, aus welchem Bereich der Jugendarbeit bzw. Schule der/die jeweilige Redakteur/in kommt. Das wiederum macht (hoffentlich)
den Reiz dieser Arbeitshilfe aus, dass sie von
verschiedenen Seiten her einen Zugang anbietet,
dass sie in der Auswahl des Stoffes und der Methoden dementsprechend vielfältig ist. Einen
Anspruch auf Vollständigkeit der Themen wie der
Materialien kann und will die Broschüre nicht
erheben.
Die Leserschaft wird auch feststellen, dass es
den einzelnen Redakteuren nicht nur um eine
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_9
GEGEN DEN TREND ’2001
Der biblische Anknüpfungspunkt kann z. B. mit
einem Text nach dem Jesaja-Buch benannt werden,
in dem Fasten und Teilen anschaulich aufeinander
bezogen werden: „Während du fastest, singst,
betest und dich ausruhst, arbeiten zur gleichen
Zeit andere für einen Hungerlohn dafür, dass es dir
gut geht. Vielleicht unterdrückst du nicht selbst
andere Mitmenschen: aber du lässt zu, dass es
geschieht. Du selbst achtest die Menschenrechte,
aber du lässt zu, dass andere sie missachten. Zwar
bist du auch dafür, dass es den Armen in den
Entwicklungsländern besser geht, aber du nimmst
in Kauf, dass sie arm sind, weil du hier billige
Produkte einkaufen kannst. Fasten heißt: verzichten und teilen. Du kannst nicht fasten und es
zulassen, dass die Armen der Welt mit vielen
schönen Worten abgespeist werden und weiter
hungern müssen. Wenn du fastest, dann sollst du
demjenigen Obdach und Wohnung gewähren, der
keine Wohnung hat … Wenn du fastest, dann gib
das ab, worauf du verzichtest: gib dem Hungrigen
von deinem Brot, dem Nackten von deiner Kleidung, dem Obdachlosen von deiner Wohnung,
dem Verfolgten Asyl. Wenn du so fastest, dann
wirst du etwas von Gottes Licht der Liebe in dieser
Welt zum Leuchten bringen” (weiterentwickelte
Fassung der Verse 3-9 des Kapitels 58 des Propheten Jesajas). Teilen kann - ebenso wie fasten - nur
gelingen, wenn der andere, der Mitmensch, die
Familie, die Gesellschaft im Blick bleiben.
GEGEN DEN TREND ’2001
Die Aktion
sachgemäße Wiedergabe der Problematik und
eine saubere Exegese der Texte geht, sondern
auch darum, eigene Ansichten zur Diskussion zu
stellen. Hier und da wird es gewiss Widerspruch
geben - dies ist bewusst einkalkuliert und kann
sicher auch zu weiterführender Bearbeitung bzw.
zu Diskussionen innerhalb der jeweiligen Zielgruppe führen.
Die Themen
Natürlich ist es die Absicht, sowohl Jugendliche in
verschiedenen Jugendgruppen und Verbänden, als
auch Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher
Schulstufen zu berücksichtigen. Allerdings konnte
bei der jeweiligen Auswahl nicht nach Proportionen und Quantitäten entschieden werden (also
keine gleiche Menge für jede Alters- und Zielgruppe). Vielmehr wird mit dem Dargebotenen die
Hoffnung verbunden, dass es einen größeren
Entscheidungs- und Spielraum der Verwendbarkeit
zulässt; zum Beispiel mag, was zunächst für 13 bis
14-Jährige entworfen ist, hier auch für 11 bis 12Jährige in Frage kommen usw.
Die Einzel- oder Unterthemen wollen jedes auf
seine Weise das Hauptthema entfalten. Dabei sind
sie jeweils in sich abgeschlossene Arbeiten, die
den Leser/die Leserin selektiv vorgehen lassen.
Wer sich beispielsweise mit dem Einzelthema „Die
Welt zertrümmern?! Musikkonsum und aggressives Verhalten” befassen will, ist nicht zugleich auf
die Texte von „Faszinosum Gewalt” angewiesen.
Diese Arbeitshilfe selbst ist vorrangig für die Hand
des Gruppenleiters/der Gruppenleiterin, des
Lehrers/der Lehrerin bestimmt. Natürlich werden
auch interessierte Jugendliche Anregendes und
Interessantes finden - hofft die Redaktion - aber
die Lektüre und Bearbeitung der jeweiligen Themen und ihrer Materialien erfordert, bei aller
Sorgfalt der Bearbeitung und der Darbietung auf
Seiten der Redaktion, doch noch eine Menge an
Eigenarbeit, an Reflexion und an eigener Entscheidung darüber, was mit welchem Material gemacht
wird. Die Erfahrungen der Vergangenheit mit der
Reihe „Gegen den Trend” zeigen jedoch, dass die
jeweils entwickelten Anregungen zur Behandlung
von Themen z.B. für Schreibwerkstätten, (Jugend- )
Gottesdiensten, Gruppenstunden, Schulprojektwochen oder inhaltlichen Ausrichtungen bei Freizeiten oder Seminaren genutzt, in der schulischen
oder außerschulischen Praxis weiterentwickelt
und umgesetzt wurden.
10_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Die Anzahl der Einzelthemen ist gegenüber der
letzten Ausgabe auf gleich hohem Niveau - das
hängt mit dem weitgefächerten Feld zusammen, in
dem die Themen entfaltet werden und dem Versuch, die Spannungspole „Begeisterung” und
„Gewalt” zu bearbeiten.
Jedes Einzelthema entfaltet mehr oder weniger
umfangreich die Grundfragen, das Umfeld, den
Kontext, bevor es auf die Konkretionen zugeht.
Nicht jedes Medium oder Material kann detailliert
dargelegt und aufbereitet werden. Dies kann nur
exemplarisch geschehen, anderenfalls hätte die
Broschüre einen zu großen Umfang bekommen.
Manfred Neubauer
›› Jugendgewalt Wie, wo, warum?
Jugendgewalt - Wie, wo, warum? - Überblick über die Ergebnisse der neuesten soziologischen Studien
Einleitung
„Jochen F. aus S. hat schon lange aufgehört Konflikte mit ,Rumgequatsche‘ auszutragen. Mit
14 Jahren hat er sich eine Gaspistole besorgt und
den Lauf aufgebohrt. „Jetzt kann mir keiner mehr
was“, sagt Jochen. Im Gegenteil, nun tanzen die
Mitschüler nach seiner Pfeife. „Was soll ich da
machen?“, berichtet hilflos Monika A., Grundschullehrerin, seit zwei Monaten an die Hauptschule versetzt. Werden unsere Kinder immer
gewalttätiger? Brauchen wir nicht endlich wieder
klare Regeln?“
So ähnlich klingen viele Meldungen und Artikel,
die sich populistisch mit dem Thema Jugendgewalt
auseinandersetzen. Einzelschicksale werden im
Reportagestil dargestellt, um schließlich in gesellschaftliche Anfragen zu münden, die einerseits Hilflosigkeit thematisieren und andererseits
nach schnellen und wirkungsvollen Lösungen
fragen.
GEGEN DEN TREND ’2001
Beides scheint mir falsch. Einzelschicksale taugen
nicht zur Verallgemeinerung und sagen – außer
für diesen Einzelfall – wenig über das Gewaltverhalten der Jugendlichen aus1. Schnelle, wirkungsvolle Lösungen gibt es darüber hinaus nicht,
weil Jugendgewalt viel mit Beziehungen zu tun
hat. Und Beziehungen aufzubauen und zu verändern braucht Zeit.
Im Januar 1999 haben Peter Wetzels, Dirk Enzmann
und Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) die Ergebnisse der Studie „Jugendgewalt in Hannover“
veröffentlicht, die sich mit den Opfererfahrungen
und dem Gewalthandeln junger Menschen in
der Großstadt befasst. Zum Vergleich gingen in
diese Studie auch Zahlen aus Kleinstädten wie
Wunstorf oder Schwäbisch Gemünd ein. Im Mittelpunkt stehen Gewaltdelikte, aber es wurden
auch Daten ermittelt, die Aussagen beispiels-
12_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
weise über verbale Gewalt in der Schule erlauben.
Im Februar und März 1998 wurden 2268 Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen 14 und
18 Jahren aus den 9. Klassen bzw. dem BVJ von
55 verschiedenen Schulen bzw. Schulzentren
befragt. Schlaglichtartig sollen einige Ergebnisse
hier vorgestellt und mit anderen Veröffentlichungen neueren Datums ins Gespräch gebracht werden.
Gewalt2 in der Schule3
In den vergangenen Jahren war Gewalt in der
Schule ein großes Thema in den Medien. Schulen
schienen zeitweise der Brennpunkt jugendlicher
Gewalt zu sein. Stimmt das wirklich?
Gewalt findet (meistens)
draußen statt
Ein nicht zu vernachlässigender Teil krimineller
Gewaltdelikte findet in der Schule statt. Verglichen
mit anderen Tatorten ist aber festzustellen, dass
der Großteil der Delikte – insbesondere Raub und
Delikte mit Waffenanwendung – außerhalb der
Schule stattfindet. „Für die Schule typisch sind
eher weniger gravierende Gewaltformen, die von
verbalem Ausgrenzen und Hänseln bis zur einfachen Körperverletzung reichen.“4 Opfer und Täter
sind dabei vor allem die Jungen. Außerdem zeigt
sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen
Bildungsniveau und Anzahl der Gewalttaten im
Blick auf physische Gewalt. Gymnasien sind hier
wesentlich weniger betroffen als beispielsweise
Hauptschulen. Gewalt ist aber gleichwohl - wenn
auch häufig „nur“ verbal - auch an Gymnasien
präsent.
Die Schule ist also offenbar weitaus sicherer, als
manch reißerischer Medienbericht der Vergangenheit das glauben machen wollte. Auch S. Lamnek
kommt zu dem Ergebnis, dass sich in dem von ihm
untersuchten Zeitraum 1994-1999 das Ausmaß der
Jugendgewalt - Wie, wo, warum? - Überblick über die Ergebnisse der neuesten soziologischen Studien
Jugendgewalt nicht wesentlich verändert hat
(allenfalls im verbalen Bereich).5
Trotzdem muss im Blick behalten werden, dass in
etwa jeder zehnte Schüler in Hannover „von massiver verbaler oder physischer Gewalt und/oder
Bedrohung“6 betroffen ist.
Jugendlichen festzustellen sind, die wahrnehmen,
dass ihre Lehrer sich nicht aktiv mit Jugendgewalt
auseinandersetzen. Bedenkt man außerdem, dass
im familiären Bereich die häufige Konfrontation
mit Gewalt gewalttätiges Handeln Jugendlicher begünstigt, wird deutlich, dass das Lehrerverhalten
ein wichtiger Faktor der Gewaltprävention ist7.
Jugendliche nehmen sehr differenziert wahr, wie
Erwachsene auf Gewalt reagieren. Umso wichtiger
ist es, dass Erwachsene bewusst reagieren.
Gewalt und soziales Milieu
Als wesentliche Faktoren für das Gewaltverhalten
wurden bei der hannoverschen Studie die soziale
Lage der Familie, Gewalterleben in der Familie und
auch die orientierende Rolle der Eltern ausgemacht.
Gewalterlebnisse bestimmen
das Gewaltverhalten
Statistisch gesehen am häufigsten erleben Jugendliche Gewalt in der eigenen Familie.
Bangemachen bringt nix –
die Rolle der LehrerInnen
Die Studie von Wetzels u.a. zeigt hier, dass erhöhte Opfer- und Täterraten in derjenigen Gruppe von
Die Untersuchungen ergaben, dass nur 47,3%
ganz ohne elterliche Gewalt aufgewachsen sind,
hingegen haben 26,4% leichte elterliche Züchtigung erlebt und 15,8% wurden sogar schwer
gezüchtigt (in der Befragung die Items „Mein
Vater/Mutter hat mich geprügelt, zusammengeschlagen„ bzw. „...hat mich mit der Faust geschlagen oder mich getreten.“).
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_13
GEGEN DEN TREND ’2001
Sollen Lehrer und alle, die mit Jugendlichen zusammenarbeiten, bei wahrgenommener Gewalt
intervenieren, oder von Zeit zu Zeit auch nach der
Devise verfahren „Pack schlägt sich, Pack verträgt
sich“? In verschiedenen Veröffentlichungen wurde
die Theorie aufgestellt, dass die von Schülern
wahrgenommene Reaktion der Lehrer eine wesentliche Rolle beim Thema Schulgewalt spielt.
Jugendgewalt - Wie, wo, warum? - Überblick über die Ergebnisse der neuesten soziologischen Studien
Diese Formen von Gewalt gegenüber Jugendlichen
werden in der öffentlichen Diskussion weit weniger thematisiert als Gewalt, die von Jugendlichen selbst ausgeht. Auch die Opfer reden kaum
über diese Vorfälle. Der Anteil, der zur Anzeige
gebracht wird, ist verschwindend gering, noch
seltener ist das Aufsuchen von Beratungsangeboten oder etwa der Kinderhilfe (nur fünf Prozent
der Fälle gelangen allen damit beschäftigten
Institutionen zur Kenntnis!). Die Bundesregierung
hat zu diesem Problembereich im Dezember 2000
eine Anzeigenkampagne unter dem Motto „Wer
Schläge einsteckt, wird Schläge austeilen“ gestartet8.
macht. Möglicherweise spielen aber auch „kulturspezifische Normen der verschiedenen Ethnien im
Blick auf Gewalt“9 eine wichtige Rolle. Vergleichsstudien in Großstädten wie Istanbul werden hier
Aufschluß bringen.
Je schlechter die soziale Lage,
desto häufiger Gewalt
Sicher ist, dass in Milieus mit hoher Elterngewalt
auch die Zahl der Jugendlichen, die Gewalt ausüben deutlich höher ist. „Die soziale Lage von
Familien hat einen bedeutsamen Einfluss auf die
Wahrscheinlichkeit des Auftretens von elterlicher
Gewalt: In Fällen von Arbeitslosigkeit sowie Sozialhilfeabhängigkeit ist das Risiko innerfamiliärer
Gewalt deutlich erhöht.“10 Dabei sind die verschiedenen ethnischen Gruppen nicht in gleicher Weise
betroffen. Nichtdeutsche Jugendliche sind erheblich öfter durch soziale Schwierigkeiten der Familie
mitbetroffen als deutsche Jugendliche.
Normen werden zu Hause
gemacht
GEGEN DEN TREND ’2001
Auffällig war außerdem, dass in einigen ethnischen Gruppen (v.a. in türkischen und südeuropäischen Familien) in besonderem Maße elterliche
Gewalt ausgeübt wird.
Unklar ist, inwieweit sich neben wirtschaftlichem
Druck hier ein Druck durch Integrationsanforderungen bzw. soziale Ausgrenzung bemerkbar
14_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Erleben Kinder und Jugendliche in der Familie
Gewalt, sei es als Opfer oder als Beobachter,
beeinflusst dies natürlich ihre Wahrnehmung und
Bewertung von Gewalt. Die Gruppe derer, die in
Kindheit oder Jugend mit Gewalt im Elternhaus
konfrontiert wurde, ist bei jugendlichen Gewalttätern besonders stark vertreten.
Jugendgewalt - Wie, wo, warum? - Überblick über die Ergebnisse der neuesten soziologischen Studien
In der individuellen Bewertung von Gewalt spielt
außerdem das Erziehungsverhalten der Eltern eine
Rolle. Inkonsistenz, d.h. nicht erwartbare Reaktionen, die keinen offensichtlichen Regeln folgen,
wirkt sich dabei negativ aus. Noch mehr als den
Lehrern kommt also den Eltern eine wichtige
orientierende Rolle zu. Wetzels u.a. kommen zu
dem Ergebnis: „(1) Die Neigung zu Feindseligkeitszuschreibungen der Jugendlichen steigt
systematisch mit der Häufigkeit und Intensität
elterlicher Gewalt in der Kindheit. (2) Je häufiger
bzw. intensiver die Befragten in ihrer Kindheit der
Gewalt seitens ihrer Eltern ausgesetzt waren,
desto positiver bewerten sie selbst die Anwendung von Gewalt. (3) Die Konfliktkompetenz ist
um so niedriger, je stärker ausgeprägt elterliche
Gewalterfahrungen in der Kindheit waren. ... (4) Je
geringer die Konfliktkompetenz, je höher die
Feindseligkeitszuschreibung und je ausgeprägter
gewaltbefürwortende Einstellungen, desto häufiger kommt es auch tatsächlich zu Gewalthandlungen.“11
Jugendgewalt ist ein
Männlichkeitsproblem
Die weit überwiegende Zahl der jugendlichen
Gewalttäter sind Jungen. Aber nicht nur auf der
Täterseite sind Jungen stärker repräsentiert. Sie
bilden auch die Mehrzahl der Opfer.
gendlichen die der weiblichen um das Doppelte
bis Vierfache. Daraus abgeleitet stellt sich gerade
für die Arbeit mit Jungen die Frage, ob in der geschlechtsspezifischen Arbeit neben der Thematisierung eigener Aggressivität und Gewalt nicht
noch stärker auf Gewalterfahrung in der Opferrolle
eingegangen werden muss.
Im Hinblick auf kriminelle Gewalttaten wurde
außerdem ermittelt, dass eine kleine Gruppe von
etwa 5% für mehr als 2/3 der Gewalttaten verantwortlich ist. Es handelt sich hier um Mehrfachtäter,
die überwiegend dem männlichen Geschlecht
angehören und in der die jugendlichen Nichtdeutschen überrepräsentiert sind.
Sind es also immer die
Ausländer?
Die Antwort lautet hier nicht immer, aber sicher
verhältnismäßig öfter. Nur ist das, wie sich oben
bereits zeigte, weniger eine Frage der Nationalität, als vielmehr der sozioökonomischen Bedingungen der jeweiligen Familie, der jeweiligen
Bildungschancen und der Beziehungsangebote,
die es Jugendlichen ermöglichen, ein bestimmtes
Sozialverhalten zu entwickeln. Nichtdeutsche
Jugendliche haben wesentlich häufiger mit sozialen Problemen zu kämpfen als deutsche Jugendliche.
In absoluten Zahlen ausgedrückt, werden die
meisten Gewalttaten noch immer von deutschen
Jugendlichen verübt.
GEGEN DEN TREND ’2001
Mit Ausnahme des Bereichs „sexuelle Gewalt“
übersteigen die Opferraten der männlichen JuZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_15
Jugendgewalt - Wie, wo, warum? - Überblick über die Ergebnisse der neuesten soziologischen Studien
Welchen Stellenwert hat das
Thema Gewalt für die Jugendlichen selbst? – Opferängste und
tatsächliche Bedrohung
Die hannoversche Studie kommt zum Ergebnis:
„Die weit überwiegende Mehrheit der Hannoveraner Jugendlichen hat eher selten Angst vor Gewalt
und schätzt auch das Risiko einer eigenen Viktimisierung eher gering ein.“ Tatsächlich ergab die
Befragung, dass im Vergleich mit anderen Lebensrisiken und Problemen, Gewalt eine eher nachgeordnete Rolle spielt. Im Vordergrund stehen Umweltverschmutzung, Tod von Familienangehörigen
oder auch die Sorge um einen Ausbildungsplatz.
Jahren 38% der befragten Jugendlichen selbst
Opfer von Gewalt, bezogen auf einen Einjahreszeitraum 28%. Gewalt geht also (fast) alle an.
Es wurde deutlich, dass es die sozialen Rahmenbedingungen, die Bildungschancen und das bei
Erwachsenen erlebte Verhalten insbesondere in
der eigenen Familie wesentliche Faktoren sind, die
das Gewaltverhalten von Jugendlichen mitbestimmen. Wetzels u.a. weisen ausdrücklich darauf hin,
dass „Personen als Träger von Beziehungsangeboten“ gefragt sind. Angesichts der vielfältigen
Probleme auf dem Weg zum Erwachsensein sind
Jugendliche auf Menschen angewiesen, die ihnen
aktiv Beziehungsangebote machen und unterstützend wirken, wenn junge Menschen ihren Platz in
der Gesellschaft suchen. Hier steckt das kleine
Körnchen Wahrheit, wenn über Einzelschicksale im
Zusammenhang mit Jugendgewalt berichtet wird:
An den Chancen für und dem Umgang mit dem
Einzelnen entscheidet sich, ob Jugendliche lernen
mit Gewalt umzugehen.
Christian Ceconi-Solle
GEGEN DEN TREND ’2001
Die Einschätzung des Gewaltproblems durch die
Jugendlichen selbst hängt darüber hinaus anscheinend stark damit zusammen, wie sehr sie mit
dem jeweiligen Ort vertraut sind. Während beispielsweise Klassenraum und eigener Stadtteil
(tagsüber) als relativ sicher eingestuft werden,
schneiden andere Stadtteile oder Städte deutlich
schlechter ab. Für weiter entfernte Orte wird auch
die Zunahme der Kriminalität in den letzten zwei
Jahren wesentlich höher eingeschätzt.
1
Vgl. auch F. J. Krafeld, Immer mehr, immer jünger, immer gewalttätiger...? Überlegungen zur
Diskussion über Jugendgewalt und -kriminalität, in: Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen (Hg.), Jugendgewalt – und kein Ende?,
Hannover 1999, 6-16.
2
Der Gewaltbegriff der vorgestellten Studie
orientiert sich an kriminellen Delikten. Sicher
muss im Gespräch mit Jugendlichen die Definition dessen, was Gewalt ist, an erster Stelle
stehen. Andere Artikel dieser Arbeitshilfe bieten
dazu Ansatzpunkte.
3
Eine grundlegende Orientierung zum Bereich
Schule bietet auch: S. Lamnek, Gewalttätige
Schüler 1994-1999, in: Landesstelle Jugend-
Das Gewaltproblem realistisch
einschätzen und gezielt daran
arbeiten
Gewalt gehört zum Alltag der Jugendlichen, in der
Schule v.a. in Form verbaler Gewalt. Nach eigenen
Angaben wurden in einem Zeitraum von zwei
16_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Jugendgewalt - Wie, wo, warum? - Überblick über die Ergebnisse der neuesten soziologischen Studien
schutz Niedersachsen (Hg.), Jugendgewalt - und
kein Ende?, Hannover 1999, 17-46.
4
Wetzels u.a. (1999), 197.
5
Vgl. Lamnek (1999), 44f.
6
Wetzels u.a. (1999), 130.
7
Vgl. auch Lamnek (1999), 32ff zu Normorientierungen und Gewalt an Schulen.
8
Diese Kampagne soll die BGB-Gesetzesänderung vom 06.07.2000 bekannt machen. In
§ 1631 Abs 2 BGB heißt es: „Kinder haben ein
Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche
Bestrafungen, seelische Verletzungen und
andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Weitere Infos unter: www.mehr-respektvor-kindern.de; eine Infobroschüre kann dort
ebenfalls angefordert werden.
9
Wetzels u.a. (1999), 170.
10
Wetzels u.a. (1999), 198.
11
Wetzels u.a. (1999), 187.
Literatur:
P. Wetzels/D. Enzmann/C. Pfeiffer:
Jugendgewalt in Hannover. Eine repräsentative
kriminologische Studie über Opfererfahrungen
und Gewalthandeln junger Menschen in einer
Großstadt, Hannover 1999. (mit Vergleichsstudien
in anderen großen Städten)
GEGEN DEN TREND ’2001
Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen (Hg.):
Jugendgewalt – und kein Ende?, Hannover 1999.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend:
www.mehr-respekt-vor-kindern.de.
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_17
GEGEN DEN TREND ’2001
Jugendgewalt - Wie, wo, warum? - Überblick über die Ergebnisse der neuesten soziologischen Studien
18_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
›› Faszinosum
Gewalt
Faszinosum Gewalt
Das Ende der Vernunft?
Nicht nur auf Grund der Ereignisse der ersten
Hälfte des letzten Jahrhunderts empfinden viele
die neuaufkommenden rechtsextremistischen und
ausländerfeindlichen Aktionen als Skandal. Hirnloser Hass und Gewalt machen auch das alte
Aufklärungsmodell fraglich, nach dem vernünftige
Einsicht die Grundlage von gesellschaftlicher
Entwicklung ist.
zugänglich sein kann. Präventionen gegen Gewalt
können daher nicht länger auf Aufklärungsmodelle
setzen, sondern müssen auf Gemeinschaft und
Erleben setzen. Dabei kann das „Erleben“ nicht
auf Aufklärung zielen und die Gemeinschaft nicht
als eine Zusammenfassung von Randgruppierungen meinen. Gesellschaftliche Gegenentwürfe
müssen lebbar sein und nicht in der gesellschaftlichen Verweigerung enden, die schnell in Gewalt
umschlagen kann. Deshalb plädiert dieser Artikel
für eine Gesellschaft, die aus vielen, verschiedenen Gemeinschaften besteht, die alle ihr Recht
zum Leben haben, weil sie sich alle um die große
Gemeinschaft, die der Gesellschaft, bemühen. Und
das nicht aus Vernunftgründen, sondern auf Grund
von Erfahrung.
GEGEN DEN TREND ’2001
Kein Leben ohne Beziehung
Ist es denn so, dass alle Gruppierungen einer
Gesellschaft „Einsicht“ haben und haben wollen?
Oder gibt es Gruppen, die sich aller „vernünftigen
Einsicht“ versperren? Hat vielleicht die Gewalt ihre
eigenen Strukturen und Einsichten, die sich der
Vernunft entziehen? Und, wenn dem so ist, wie
können solche Strukturen entstehen und aus
welchem Grunde? Dieser Beitrag behauptet, dass
von der Gewalt eine Faszination ausgeht, die den
Menschen existentieller ergreift als die Vernunft
und sich deshalb auch den Gründen der Vernunft
verschließt. Eine solche gewalttätige, faszinierende Lebenshaltung entsteht, wenn die eigene
Existenz nicht mehr gespürt wird und die Ausübung von Gewalt in dem Täter eine Ekstase auslöst, die ihm sagt: Du lebst. Eine solche Haltung ist
aber keine „echte“ Teilhabe am Sein, sondern
impliziert eine Suchtstruktur des Täters. D.h. der
Täter wird immer wieder Gewalt anwenden, um
sich am Leben zu spüren. Die Suchtstruktur verhindert wiederum, dass der Täter Vernunftgründen
20_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Das Schlagwort unserer Zeit ist „Subjekt“. Ein
Subjekt setzt gegenüber der restlichen Welt einen
eigenen Standort. Welches sind die Bedingungen
für die Selbstsetzung des Subjektes? Zu keinem
Zeitpunkt unseres Lebens sind wir allein. Selbst in
der Psychoanalyse, die ein Subjekt im Sinne von
Gegenüber behauptet, integriert das Ich sich in ein
Geschehen, das Ich und Anderes umgreift. Durch
diesen glücklichen Widerspruch wird das Ich zu
einem Teilaspekt einer Atmosphäre, die viele
umgreift. Jacques Lacan behauptet, das jedes
menschliche Leben bei seiner Geburt ohnmächtig
und verraten ins Dasein stürzt.1 Erst wenn es sich
in einem Spiegel als Mensch begreife, setze die
Erlösung ein. Wer aber ist dieser Spiegel, wenn
Faszinosum Gewalt
nicht die Mutter; wenn nicht das andere Ich? Das
eigene Ich kann ja gerade nicht zum Spiegel werden. Der Mensch ist demnach auf die Beziehung
zu anderen festgelegt. Beziehungen sind keine
freie Wahl, die durch Zuneigung gewonnen werden. Beziehungsfähigkeit wird auch nicht a posteriori erworben, sondern ist eine angeborene. Im
Ich ist die Beziehungsfähigkeit das Wesentliche.
Damit ist das Fremde bereits in meiner Subjektivität enthalten und ermöglicht erst das Erkennen
meiner selbst. Es ist müßig zu fragen, was eher
war: das Andere oder Ich. Die Gleichzeitigkeit ist
grundlegend für Beziehungsfähigkeit.
Wie der Mensch sich selbst
gewinnt
Intimverhältnisse, die kommunikativ (medial) sind,
trennen das Subjekt nie von dem Umfeld. Sie
konfrontieren nicht, sie integrieren. Das SubjektObjekt-Schema trennt, während die reflexive
Subjektivität Trennung verhindert. Im SubjektObjekt-Schema begreift sich das anschauende
Subjekt außerhalb des Geschehens. Im Schema
der reflexiven Subjektivität begreift sich das betrachtende Subjekt
sich selbst als ein
Teil des Betrachtens. Das Subjekt
bildet lediglich
einen Pol des Verhältnisses. Wir sind
sowenig in uns
selbst, wie wir im
Irgendwo sind,
sondern wir durchdringen alles. Fragt
man nach dem Band
zwischen mir und
anderen, tut sich
eine Verbindung auf, die tiefer reicht als alles
rationales Bedenken. Das Band reicht bis vor
unsere Geburt. Und so wie die Liebe nicht existiert, bevor sie sich nicht ereignet, beginnt das
gemeinsame Band mit unserer fötalen Entwicklung
zu existieren. Begegnen sich zwei Menschen,
so geschieht es nicht aus dem eigenen Willen
zweier, autonomer Persönlichkeiten heraus und
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_21
GEGEN DEN TREND ’2001
Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der
Mensch allein sei. Ich will ihm eine Hilfe schaffen
als sein Gegenüber, die zu ihm passt (Gen 2,18).
Martin Heidegger hat das Sein als ein
Einwohnen in der Welt beschreiben.2 Der
Welt wohnt man nicht ein, wie man
einem Haus einwohnt, sondern indem
ich in der Welt wohne, wohnt sie in mir.
Im Sein ist auch keine Eigenschaft, die
man manchmal hat oder nicht, sondern
ohne Sein könnte der Mensch nicht
existieren.3 Damit aber ist die Welt nicht
nur Objekt für den Menschen, sondern
zugleich auch Subjekt. Welt und Mensch
sind ein Ganzes und neben diesen Teilen
(Mensch, Welt) gibt es kein Ganzes. Es
ist nicht so, dass das Subjekt je nach
Laune eine Beziehung zur Welt aufnimmt
oder nicht. Indem der Mensch die Welt draußen
betrachtet, ist er bereits in ihr enthalten. Der Welt
Äußeres ist zugleich des Menschen Inneres.4 Dem
Sein wesenhaft ist die Nähe. Entfernen bedeutet
zunächst, dass eine Ferne zum Verschwinden
gebracht werden soll. Die Ferne soll entfernt
werden. Solches Entfernen ist zugleich eine Näherung. Der Mensch kommt immer von einer Nähe
(Vergangenheit) her zu
einer Ferne (Gegenwart)
hin, die er zu seiner Nähe
machen will. Dasein ist
Annäherung, ist Nähe.5
Zur Klärung seines Weges, seiner Herkunft und seines Zieles, nistet der
Mensch sich in der Sprache ein. Durch sie weiß
er von der vorangehenden Nähe und von der Annäherung an das Ziel. Kommunikation ist seine
Daseinsweise.
Faszinosum Gewalt
(vielleicht) durch den Zufall bestimmt, sondern
unser Sein führt die Begegnung selbst herbei, um
sich zu begreifen. In jeder Begegnung geschieht
im Grunde die Wiederholung des fötalen Erlebnisses, um den Menschen als Person zu konstituieren. Mit der leiblichen Geburt inszeniert das Sein
selbst die Begegnungen, um einstige Gemeinsamkeit wiederzugewinnen. Die Lücke, die nun klafft,
könnte man auch als den Weg zum Heilsein bezeichnen.
GEGEN DEN TREND ’2001
Von wann an erinnert sich der Mensch? Nikolaus
von Kues antwortet: Von dem Tage an, wo Gott
sich mit der Seele6 verschränkte (contractio). Die
Seele wird damit zum Statthalter, zum Beamten
Gottes in jedem Menschen, ohne selbst Gott zu
sein. „Und was ist, Herr, mein Leben, wenn nicht
jene Umarmung (amplexus), in der die süße Freude deiner Liebe mich so liebevoll umschließt?7“
Wie kann der Mensch in dieser unio mystica, die
den Grund des Lebens und seiner Person legt,
unverwechselbare Person sein? Wie kann er eine
gewisse Eigenmacht entfalten? Und kann der
Mensch durch die Selbstwerdung überhaupt die
Revolte gegen Gott verhindern? Nach Nikolaus von
Kues herrscht die von Gott erschaffene Seele über
den Körper wie der König über sein Reich, weil
durch die Seele das Maximum (Gott) im Minimum
(Mensch) ist. So gesehen ist er frei und die Begegnung mit anderen Menschen wird zu einer Begegnung von Freien. Cusanus denkt hier die Urform
der Demokratie. Eigenmacht erhält der einzelne
nur indem er anderen dient, bzw. der Gemeinschaft dient. Ja, er muss aktiv werden, seiner Seele
wegen. Herrschen wird zu einem Synonym für
Dienen8. Entfällt das Dienen, dann entfällt auch die
Persönlichkeit des Menschen. Hier sind die Anfänge der Menschenrechte mit Händen zu greifen.
Heute wird der Bezug zu Gott als Bezug zur Natur
oder zur Gesellschaft hin gewandelt. Aber die
Frage, wie die Natur oder die Gesellschaft außerhalb unser selbst, zugleich in uns sein kann, wird
22_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
nicht mehr wie in der Theologie gelöst, so dass
aus der Verschränkung von Außen und Innen das
Auseinandertreten von Subjekt und Objekt wurde.
Eine Vereinzelung machte sich breit.
3 x 1 = 1: Der dreieinige Gott
Wie soll man die unio mystica überhaupt denken? Im
Modell der Trinität verdeutlicht sich der Sachverhalt.
Das Johannes-Evangelium
beginnt mit den Worten:
„Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott,
und Gott war das Wort.“(1,1)
Dieser Vers kennzeichnet
den Vater. Vom Sohn sagt
das Johannes-Evangelium:
„Und das Wort ward Fleisch
und wohnte unter uns, und
wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als
des eingeborenen Sohnes
vom Vater, voller Gnade und
Wahrheit.“(1,14)9 Damit
wird die Frage aufgeworfen,
wie mehrere Personen in
eins sein können, so dass
sie ungeschieden, ungewandelt, ungetrennt gedacht werden können. Das
Anderssein soll im Vereintsein gedacht werden. Die Kirchenväter nahmen
ein Ausdrucksgeschehen innerhalb der einzelnen
Personen an (Perichorese/Intercessio). Damit
wurde ein physischer Raum aufgegeben und eine
Liebessphäre angenommen, die das Verschiedensein eint. Innerhalb dieser Verbundenheit kann
es keine Zeit geben, weil sie ein Nacheinander
konstituieren würde. Es ist im Grunde die gleiche
Redeweise, wie sie Cusanus mit seinem „maximum in minimum est unum“ meinte. Es entsteht
Faszinosum Gewalt
ein Personenraum, der keine Lokalisierung mehr
braucht. Die Beziehung selbst wird der Ort der
Einheit. Die Beziehungen konstituieren Gott als
Vater, als Sohn und als Heiligen Geist. Anders:
Subjekt und Objekt sind relational und keine Orte.
Gewalt und die Suche nach
Beziehung
Nächstenliebe – Deine Sache!?
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst,
gebietet das Matthäus-Evangelium (Mt 22,39). Im
modernen Irrtum des Subjekt-Objekt-Schemas
wird dieser Satz oft missverstanden und umformuliert: Erst muss ich mich selbst lieben lernen,
bevor ich andere wie mich lieben kann. Der Irrtum
beschreitet einen doppelten Weg. Einmal glaubt
der moderne Mensch, sich selbst lieben lernen zu
können, bevor er andere lieben kann, was ein
lebenslanger Weg ist und keine Lebensetappe.
Immer wird es Momente geben, in denen man sich
nicht ausstehen kann. Das ist die Form der Selbstliebe, mit der der Mensch kein Ende findet: Der
andere Mensch wird zum Objekt unter anderen
Objekten. Zum anderen wird eingewandt, wenn ich
den anderen liebe und mich nicht, liebe ich den
anderen nicht. Das ist nur eine Spielart des ersten
Satzes. Auch hier herrscht das Subjekt-ObjektSchema vor. Dass Mt. 22, 39 meinen könnte, dass
durch den anderen ich mich selbst konstituiere,
kommt nicht in den Blick. Nachzeitigkeit ist nicht
gemeint, sondern Gleichzeitigkeit. Das MatthäusEvangelium meint keinen lokalen, sondern einen
mentalen Ort. Wäre ein lokaler Ort gemeint, wäre
auch eine Nachzeitigkeit angesprochen. Doch das
Subjekt-Objekt-Schema kann nur räumlich denken
und daher nur in der Nachzeitigkeit. Dann wird das
vorangehende Lieben von sich selbst oder anderen
immer zum Verlust des eigenen Ichs führen. Das
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_23
GEGEN DEN TREND ’2001
Zwischen dem theologischen Denken und den
heutigen Anforderungen, offenbart sich eine
überraschende Kongruenz. Kommunikation ist die
Seinsweise des Menschen.10 Existiert der Mensch
als Person nur durch den kommunikativen Ort,
der kein lokaler sein kann, dann ist für die Idee
des sich selbst bestimmenden Individuums kein
Platz.11 Die verschiedenen Sozialformen von Völkern innerhalb einer Gesellschaft, wie es heute
vielfach in den westlichen Ländern gegeben ist,
durchdringen sich (Perichorese) zu einer Einheit.
Das eigene Sein wird zum Mitsein mit Anderem.
Gelingt die Perichorese aber nicht, dann stolpern
wir über Heideggers Satz: „Jeder ist der Andere
und Keiner er selbst.“12 Dann verschwimmt alles:
das Fremde und die eigene Identität. Dann wird
der Mensch sich selbst oder den anderen zur
Hölle, wie es Sartre und Beckett beschrieben. Die
verabsolutierte Seinsweise, die zu keiner Durchlässigkeit (Perichorese) mehr fähig ist, führt faktisch zur Abwertung des Menschseins – führt zur
Hölle. Aber selbst in der Hölle bleibt ein Rest: Die
Sehnsucht, in der sich der Rest begreift, irgendeinmal irgendjemandem nahe zu sein. Selbst in der
rohesten Gemeinschaft ist die vorrationale Grundlegung für das Personensein, das Außen möge
Innen sein, lebendig. Nur im dumpfen Kollektiv
ahnt das eigene, dumpfe Ich sich größer, realer als
es ist. Der Sog der Sehnsucht nach Verschmelzung
führt zu einer allgemeinen Innenweltentleerung.13
Die Seele gibt sich ans Außen ab, an das dumpfe
Kollektiv. Begegnet man aber einer einzelnen
Seele, zeigt sie sich zwar verschlossen und nicht
kommunikativ, jedoch auch nicht unbedingt
entschlossen, sich mit Gewalt des Fremden zu
bemächtigen. In der Gruppe jedoch tritt die
einzelne Seele durch ihre Sehnsucht nach Geistesgemeinschaft in eine ekstatische Vorläufigkeit ein
und prügelt sich oft durch das Fremde, um durch
die Aggressivität seine Seele in einem ekstatischen Akt eine dumpfen Gemeinschaft zu erleben,
die dann zu einer verschworen (unio mystica) wird.
Die Clique richtet sich im ortlosen Ungeheurem ein
und ist durch rationale Argumente nicht erreichbar, weil sie dann ihre Identität verlöre.
Faszinosum Gewalt
ekstatische Element des Ichs, das das Ich begründet, tritt in den Hintergrund und verbeißt sich in
eine sprachlichen Binnenwelt, die sich keiner
sprachlichen Argumentation mehr zugänglich
erweist. Doch das biblische Zitat weist gerade auf
die Gleichzeitigkeit hin. „Wie dich selbst“ meint
die Fähigkeit zur Antwort auf eine Aufforderung
des Außen. Das Innen will ja gerade nicht antworten. Aber im Nichtantworten würde es sich
selbst verfehlen. Der bipolare Aspekt des Daseins
würde verfehlt, würde man einer Seite der zweiteiligen Sphäre das Übergewicht zuerkennen. Der
Mensch ist kein Wesen, das sich aus sich selbst
erschafft.
GEGEN DEN TREND ’2001
Jeder wird zu einer unverwechselbaren Persönlichkeit durch andere. Den anderen geht es nicht
anders. Dann sind wir alle einander Spiegel und
Hilfe zur Persönlichkeitswerdung. Dies drückt Mt
22,39 aus: Liebe den anderen (zur gleichen Zeit)
wie dich selbst. Wer liebt, nimmt an. Wer annimmt,
muss Person sein. Ein verwaschenes, dumpfes Ich
Gaby ist unglücklich. Gaby hat stets an sich selbst
zuletzt gedacht. Nie hat sie sich in den Vordergrund gestellt, geschweige denn gedrängelt. Hieß
es: wer will in diesem Theaterstück die Hauptrolle
übernehmen, schlug sie andere statt sich vor.
Hieß es: Wer hilft bei diesem Projekt? Oder: Wer
kann jene Aufgabe übernehmen? Tat sie es. Sie
wurde rot, wenn sie gelobt wurde. Und wurde sie
einmal selbst vorgeschlagen, in vorderster Reihe
zu stehen, wehrte sie verlegen, ja fast ängstlich
ab. Einige Jungen hänselten sie wegen ihrer Bescheidenheit. Dann weinte sie schnell. Und ihre
Freundin beschwerte sich dann lauthals beim
Lehrer über die Jungen. Aber auch da wehrte Gaby
verlegen ab. Und dann kümmerte sich plötzlich
Jens um sie. Ausgerechnet Jens. Er war nicht aufdringlich. Gewiss nicht. Aber zuversichtlich. Und
ihrer Freundin vertraute sie an, sie sei überglücklich, dass Jens sich um ihre Zuneigung bemühe.
Doch wisse sie gar nicht, was Jens eigentlich an ihr
24_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
kann niemanden annehmen. Höchstens kann es
bewundern. Wer sich nicht selbst zu würdigen
weiß, wie sollte er andere würdigen können?
Hinter Bewunderung versteckt sich die Aufgabe,
sich zu gestalten und gleichzeitig Spiegel für
andere zu sein.
Vom Fremden zum Eigenen
„Die Seele gibt dem Druck der ersten Überzeugung um so leichter nach, je weniger sie über
einen eigenen Inhalt und ein inneres Gleichgewicht verfügt.“14 Dieser Satz aus Montaignes Essay
über die Torheit, spricht sich gegen die Suggestion
aus, dass unser Geist beurteilen könne, was
wahr und falsch ist. Mit diesem Glauben nähert
man sich oft rechtsradikalen Jugendlichen. Man
traut der Vernunft zu, sie könne irrige Vorstellungen korrigieren und dann würden mehr und mehr
die Gewaltentäußerungen schwinden. Thomas
Assheuer betont in seinem Zeit-Artikel15, dass
gewaltwillige Gedanken in Jugendlichen sehr früh
finde. Er, der so geliebt würde von allen, der so im
Mittelpunkt des Interesses aller stände, könne sie
doch gar nicht attraktiv finden. Sie, so sagte später ihre Freundin, sei ganz hilflos. Sie glaube, Jens
wolle sich im Grunde nur über sie lustig machen.
Und als Jens merkte, dass Gaby weiterhin, trotz
aller seiner Bemühungen, scheu und zurückgezogen blieb, ließ er von ihr ab. Nun ist Gaby unglücklich. Und, so sagte sie zu ihrer Freundin, sie fände
das gar nicht gerecht, weil sie doch an sich selbst
immer zuletzt denke.
Fragen zur Geschichte:
Anscheinend liebt Gaby andere mehr als sich
selbst. Oder liebt sie andere gar nicht mehr als
sich? Was hindert sie denn, sich selbst zu lieben?
Mt. 22,39 meint, wenn man andere liebt, liebt man
sich auch selbst und umgekehrt. Was meint ihr?
Faszinosum Gewalt
entstehen und sich gegenüber einer argumentativen Gegendarstellung
als resistent erweisen.
Peter Schneider16 meint,
die Gewalt der Rechtsradikalen sei weder ein
akademisches noch ein
vorübergehendes Problem. Was hilft dann,
rechtsradikale Jugendliche zu verstehen? Offensichtlich nicht unsere vernünftigen Weltentwürfe.
Sie scheinen diesen Jugendlichen nicht einsichtig. Und eine definitorische Einordnung dieser
Jugendlichen, die auf Abwarten setzt, weil sich
solche „Jugendsünden„ leicht erledigen lassen,
scheitert ebenso. Der Gedanke von Wilhelm Heitmeyer aus Bielefeld, dass sich rechtsradikales
Gedankengut viel früher bilde als es naive Politiker annehmen, spricht die Erziehung an. Und
Peter Schneider fragt nach dem „Wie“ der Erziehung. Offensichtlich ist das Insistieren auf Einsicht nicht ausreichend. Die Methode der offenen
Diskussion scheint keinen sonderlichen Einfluss
auf rechtsradikale Jugendliche zu haben. Sie
scheint allgemeine Werte eher ins Beliebige zu
rücken als Maximen für eine ethische Lebensführung vermitteln zu können. Im Eingangs erwähnten
Zitat von Montaigne meldet sich der Widerspruch
von Meinung und Wissen an, und darüber hinaus
spricht Montaigne von der gefestigten Seele, die
falschen Einschätzungen widerstehen kann. Ab
wann ist denn die Seele in der Lage zu widerstehen? Und muss sie von Wissen unterstützt werden?
Johannes Schwarte18, so berichtet die FAZ, führt
die zunehmende Verrohung von Kindern und
Jugendlichen, wie auch die Infantilisierung der
Erwachsenen auf den rapiden Verlust von nacheifernswerten Vorbildern zurück. Die Gesellschaft
mit ihrer wirtschaftlichen Rücksichtslosigkeit habe
erst die Autorität des Vaters und nun auch die der
Mutter zerrüttet. Wo aber Vorbilder fehlen, da
zieht die Gewalt ein. Ähnliches stellt Susanne
Gaschke19 fest. Kinder werden zu Erwachsenen,
was ihr Konsumverhalten betrifft, während die
Erwachsenen infantilisieren. Andererseits können
Eltern dem Druck des Konsums nicht mehr standhalten und verlangen ihrerseits, dass die Schule
das leisten soll, was sie selbst nicht mehr leisten
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_25
GEGEN DEN TREND ’2001
Joachim Camerarius ist heut genauso unbekannt
wie der große Pädagoge Christofero Landino. Der
pädagogische Streit der Renaissance entzündete
sich am Maß der Nachahmung. Geht durch das
Nacheifern von Vorbildern das Eigene verloren?
Wie weit darf die Nachahmung gehen? Wird durch
Nachahmung Neues verhindert? Diese Fragen
wurden von Erasmus von Rotterdam aufgeworfen.
Camerarius nimmt dazu Stellung und stellt fest:
zur Nachahmung gibt es keine Alternative, sie
liegt in der Natur des Menschen.17 Denn der gesellschaftliche Mensch wird gemacht, nicht als solcher
geboren. Das zeigt sich besonders bei der Frage
nach der Toleranz. Lernen, Üben und Orientierung
verlangen nach Vorbildern. Dadurch kommt man
zu einer Unterscheidung. Da der Mensch von
Natur aus kein Maß zum Nächsten besitzt, dem er
entgegen wächst, ist Nachahmung ein unentbehrliches Gegenstück zur Beliebigkeit, die schnell
als Freiheit missverstanden werden kann. Nachahmung ist das Überführen von Meinen in die
Praxis. Dabei kommt der Sprache eine große
Bedeutung zu. Sie vermittelt erprobte Denkweisen, auf die gerade Jugendliche zurückgreifen
können. Die Nachahmung prägt sich vornehmlich
durch Sprachfiguren ein. Doch sind Schlagworte
noch keine zusammenhängende Rede, und damit
auch keine Welterklärung. Vorbilder vermitteln
eine zusammenhängende Rede für eine bestimmte
Weltsicht. Wie Kinder von den Eltern das Leben
empfangen, erlangen Jugendliche durch Vorbilder
Sprachfähigkeit. Durch solches Reden erschließt
sich Zukunft, die auf die Herausforderung der
Gegenwart antwortet.
Faszinosum Gewalt
können oder wollen. Dieser Trend beginne bereits
im Kindergarten.20 Schon hier zeigen sich Konzentrationsschwierigkeiten und Unangepasstheit.
Ulrich Greiner21 beschreibt anhand von Analysen
von Norbert Elias, Richard Sennett und Erving
Goffman, wie dem heutigen Individuum die Orientierung fehlt, die frühere Generationen durch
Vorbilder erhalten haben. Welche Vorbilder präsentieren Schulen, die aus Geldnot ihre Tore für
die Werbung öffnen? Deutlicher kann den Schülern
nicht vor Augen geführt werden, welche Autorität
heute noch zählt und wem sie nacheifern müssen,
um erfolgreich zu sein.
Pädagogik der Grenzen
GEGEN DEN TREND ’2001
Der nach Lebenssinn Suchende ist in der Zeit der
Globalisierung allein gelassen. Gemeinschaft, die
durchs Leben trägt, kollidiert mit den Alltagserfahrungen. Allgemein gilt: Die Familie hält zusammen gegen äußere Einflüsse. Das Vorbild
des Zusammenhalts gegenüber einer feindlichen
Umwelt führt zur Cliquen-Bildung, zu mafiosen
Strukturen und zur Auflösung der Demokratie.
Und da die Demokratie mehr und mehr zum
Sprungbrett der Selbstdarstellung wird, führt sie
schließlich zur Fragmentarisierung des Ich’s. Mit
anderen Worten: Die höchste Entwicklung des
Subjekts ist gleichzeitig seine Auflösung und
Vermassung.
Verurteilung und Ausgrenzung weichen dem Problem aus. Erklärungsmuster auf dem Boden der
Aufklärung verfehlen das Anliegen, die Gewalttätigen in eine zivile Gesellschaft zurückzuführen.
Wer grundsätzlich eine andere Weltsicht hat, hat
auch ein anderes Vokabular. Wer ein anderes
Vokabular hat, kann nicht durch Argumente überzeugt werden, sondern erfährt Fundamentalismus
als einzige Antwort auf eine global expandierende
technische Konsumwelt. Denn die Globalisierung
antwortet auf die Begierden des Menschen, nicht
aber auf die Frage nach dem Warum des Lebens.
26_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Der Grund des Seins –Kick oder
Ekstase
„Glaube“, schreibt Paul Tillich „ist das Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht.“22 Alles,
was uns angeht ist demnach Glaube. Was uns
angeht, sind in der Regel Dinge, die unser persönliches Leben betreffen. Werden diese Anliegen
cliquenhaft ausgeweitet, bekommt der Glaube
dämonische Züge und die Verheißungen werden
diffus. Helfen Verheißungen nicht weiter, sollen
Drohungen die Wünsche befördern. Glaube ist
keine Erkenntnis, kein für wahr halten, sondern
besitzt eine logische Evidenz.23 Ein Willensakt, zu
dem man jemanden aufruft, kann Glaube nicht
sein, denn der Mensch ist nicht in der Lage, sich
durch Willen, Gewissheit zu verschaffen.24 Ebenso
wenig ist der Glaube eine subjektive Gemütsbewegung, ein Gefühl. Werde ich von dem ergriffen, was
mich unbedingt angeht, so ist alles von mir davon
ergriffen: Gefühl, Wille und Verstand. Das aber
kann nicht auf eine Ergriffenheit des Subjekts
beschränkt werden.25 Vielmehr übersteigt Glaube
das Subjekt und weist auf eine menschliche Befindlichkeit, die alle angeht.
Folgt man dieser Auffassung von Glauben, so wird
rasch klar, dass aufklärerische Konzepte, die sich
Erfolg durch vernünftige Argumente erhoffen,
existentiale Änderungen nicht herbeiführen können. Herzinger betont, dass der Rechtsradikalismus eine Gegenwelt zur demokratischen ist.
Wären Rechtsradikale vernünftigen Argumenten
zugänglich, stünden sie zumindest partiell auf
dem gleichen Grund wie die aufgeklärten Demokraten.26 Aber sie haben sich hermetisch in ihrem
ahistorischen Glauben eingeigelt.
Wie soll die Gesellschaft darauf reagieren? Sie
schwankt zwischen hartem Durchgreifen und
Verstehen. Das Verstehen wird jedoch immer mehr
erschwert, je mehr Kinder kriminell werden. Das
allgemeine Bild von der Unschuldigkeit der Kinder
Faszinosum Gewalt
driftet.27 Die jahrelange Aufforderung an die nachwachsende Jugend, ihre Selbstverwirklichung
selbst in die Hand zu nehmen, trägt Früchte, die
die Ermunterer nicht beabsichtigten.
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_27
GEGEN DEN TREND ’2001
Eine Frucht ist sicherlich die Langeweile, die
allenthalben empfunden wird, weil man sich vom
Quell des Seins ausgeschlossen fühlt. Sie erzeugt
einen so großen Leidensdruck, dass das Risiko
bewusst gesucht wird, um sich dem Sein näher zu
fühlen. Der begehrte„Kick„ geistert durch alle
Schichten des Volkes und hat sich in allen Überzeugungen eingenistet. Da suchen die besser
betuchten Jugendlichen den „Kick“ in den sogenannten Risiko-Sportarten28, da springen zwei
jugendliche Mädchen in Berlin-Marzahn bewusst
in den Tod, um der Langeweile zu entrinnen; Politiker bauen mitten in der Demokratie ein personales Imperium auf; Konzerne fusionieren zu
gigantischen Unternehmen; Zlatko wird durch Big
Brother seiner dumpfen Anonymität entrissen;
Touristen fahren vermehrt in Spannungsgebiete.
Von den Grenzen des Möglichen her will sich jeder
begreifen. Der „Kick“ ist kein Phänomen, das sich
nur auf Hooligans oder die rechte Gewaltszene
beschränkt. Horst W. Opaschowski, der Leiter des
B.A.T. (British American Tobacco) kann der Langenweile, die selbst das größte Risiko nicht scheut,
sogar eine positive Seite abgewinnen, wenn er
meint, dass die Langeweile und ihr Hang zur
Risikobereitschaft in manchen Fällen Gewalt
abbaue,29 weil sie sich in Risikosportarten entlade.
Leider verfügen Jugendliche aus weniger bemittelten Elternhäuser nicht über die nötigen Mittel,
ihre Aggressionen auf diese Weise abzubauen.
Vielleicht wäre es nach Opaschowski ein probates
Mittel, wenn der Staat allen Jugendlichen die
nötigen Mittel bereitstellte, um so die Gewalt zu
verhindern. Leider greifen aber auch Jugendliche
aus dem „besseren Milieu“ zum Mittel Gewalt.
Und Opaschowski räumt selbst ein, dass der
„Kick“ nur manchmal Gewalt verhindere. Dieses
„Manchmal“ ist zu vage. Vielmehr verbirgt sich
hinter der Langenweile eine Seinsverlorenheit, zu
der die B.A.T.-Studie nicht vordringt, weil sie sich
mit der vordergründigen Langenweile zufrieden
gibt. Die Frage, wo der Mensch gründet, lässt ihn
bis an die Grenzen gehen. Sich zu spüren, ist das
Ziel; nicht, sich zu zerstreuen. Nicht die Fragmentarisierung, sondern die Identität wird angestrebt. Gefunden wird in der Zerstreuung jedoch
nur das Fragmentarische. Solange wir diesen
Sachverhalt nur bei den Jugendlichen suchen und
Erwachsene aus dem Blick lassen, werden wir
kaum die Sehnsucht der Jugendlichen erkennen.
Sie wachsen ja nicht in einem traditionsleeren
Raum auf. Sie lösen sich nicht von der älteren
Generation, ohne zu überdenken, wie dies geschehen kann. Es ist ein Band vorhanden zwischen den
Generationen. Entwurzelt aber die ältere Generation, dann entwurzelt auch die jüngere. Denn ihr
Suchen nach Eigenem richtet sich vielfach nach
dem Gefundensein der Älteren. Gebärden sich
aber gerade die Älteren als die Lebendigern,
sprich: exzesshafteren, dann entwickelt sich ein
konkurrenter Lauf und die Alten lassen die Jungen
nicht jung sein, weil sie es selbst sein wollen, und
die Jungen wollen die Alten im Jungsein übertreffen. Die Leugnung des Lebensalters äußert sich als
Seinsverlorenheit. Der Tod stellt sich als Unfall und
Selbstverschuldung dar. Wer stirbt hat entweder
zu viel geraucht, zu viel gegessen oder überhaupt
ungesund gelebt. Wenn biologische Grenzen
geleugnet und permanent überschritte werden,
muss man sich dann nicht wundern, wenn Jugendliche moralische Grenzen überschreiten? Setzt die
Natur uns nicht Verhaltensgrenzen, aus denen
moralische Regeln folgen? Die Leugnung der
Endlichkeit des Seins führt zur Seinsverlorenheit.
Alle Möglichkeiten sollen jederzeit allen offen
stehen, unabhängig vom Alter. Wir vergessen, dass
der Tod, unserem Leben Sinn verleiht, weil er uns
zu Entscheidungen zwingt, indem er uns begrenzt.
Je mehr uns ein Jenseits entschwindet, desto
weniger können wir dem Diesseits folgen. Wir
verriegeln uns in einem optimalen, erträumten
Faszinosum Gewalt
Der Prediger schreibt (Prediger 3,16-22): Weiter
sah ich unter der Sonne: An der Stätte des Rechts
war Gottlosigkeit, und an der Stätte der Gerechtigkeit war Frevel. Da sprach ich in meinem Herzen:
Gott wird richten den Gerechten und den Gottlosen; denn alles Vorhaben und alles Tun hat seine
Zeit. Ich sprach in meinem Herzen: Es geschieht
wegen der Menschenkinder, damit Gott sie prüfe
und sie sehen, dass sie selber sind wie das Vieh.
Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie
dies stirbt, so stirbt auch er, und sie haben alle
einen Odem, und der Mensch hat nichts voraus vor
dem Viel; denn alles ist eitel. Es fährt alles an
einen Ort. Es ist alles aus Staub geworden und
wird wieder zu Staub. Wer weiß, ob der Odem der
Menschen aufwärts fahre und der Odem des Viehs
hinab unter die Erde fahre. Und der Prediger fährt
fort (Prediger 4,8-12): Da ist einer, der steht allein
und hat weder Kind noch Bruder, doch ist seiner
Mühe kein Ende, und seine Augen können nicht
genug Reichtum sehen. Für wen mühe ich mich
denn und gönne mir selber nichts Gutes? Das ist
auch eitel und eine böse Mühe. So ist’s ja besser
zu zweien als allein; denn sie haben guten Lohn
für ihre Mühe. Fällt einer, so hilft ihm sein Gefährte
auf. Weh dem, der allein ist, wenn er fällt. Dann
ist keiner da, der ihm aufhilft. Auch wenn zwei
beieinander liegen, wärmen sie sich; wie aber
kann einem Einzelnen warm werden? Einer mag
überwältig werden, aber zwei können widerstehen, und eine dreifache Schnur reißt nicht leicht
entzwei.
Zustand und meinen, darauf ein verbrieftes Recht
zu haben. Doch das Jenseits wird deshalb nicht
obsolet, sondern unser Feind. Wir müssen es
bekämpfen, um unser vermeintlich diesseitiges
Leben zu retten. Der Tod wird zur persönlichen
Niederlage. Und das hartnäckige Leugnen der
Transzendenz zur Hoffnungslosigkeit. Das irdische
Leben ist tragisch vorgezeichnet. Ein gigantischer
Kampf entwickelt sich. Der Kampf gegen das Sein.
Wir wollen mehr als das Sein sein und müssen es
gerade deswegen verfehlen.
Maßnahmen können nicht dem Schutz der Gesellschaft dienen. Sie bringen kurzfristig Lösungen,
weil sie die Probleme amputieren. Veränderungen
gründen in der Übernahme von Verantwortung.
Geschieht sie, ergäben sich andere Methoden.
Statt Rache und gesellschaftliche Sicherheit stünde die Einübung in einen existentiellen Habitus im
Vordergrund. Kurz: statt Ausgrenzung Eingliederung, die dann gelingt, wenn gelernt wird, Pflichten zu übernehmen.
GEGEN DEN TREND ’2001
Verstehen oder Abschrecken?
Was ist zu tun? Konzepte, die in der frühen Sozialisation (Kindheit) die Ursachen für den heutigen
Zustand suchen, finden immer weniger Berücksichtigung, weil sie keine Erklärung geben, warum
auch im Jugendalter zukunftsweisende Erlebnisse
eintreten. Der Schrei nach härteren Maßnahmen
übersieht, dass weder die Fixierung auf die frühe
Kindheit noch eine Verantwortung ohne Einübung
eine Änderung der Verhältnisse bringen. Härtere
28_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Der erste Text warnt vor menschlichen Hochmut
und der zweite tröstet den, der hochmütig war
und weist ihm die Gemeinschaft an als Rettung
aus seiner Vereinsamung, wo der Hochmut hineinführt.
Nachsicht oder Verantwortung?
Wie immer, wenn ein Thema im Vordergrund steht,
scheint sich alles auf dieses Thema zu reduzieren
und düstere Aussichten gewinnen die Oberhand.
So geschieht es auch beim Thema Gewalt. Die
Konzentrierung auf dieses Thema lässt den Blick
auf andere ruhen. Aber es gibt auch andere Gruppen als nur solche, die Gewalt als Lebensinhalt
begreifen. Die Ausdifferenzierung der Jugendgruppen könnte auch als Sehnsucht nach Geborgenheit, nach einem gemeinsamen, geschützten
Faszinosum Gewalt
Raum verstanden werden, in dem eine neue Form
von Solidarität und Gemeinschaft heranwächst. In
den Berichterstattungen stehen viel zu oft die
Gewaltgruppen im Vordergrund. Andererseits
dürfen gewaltbereite Gruppen nicht verharmlost
werden. Gewalt ist niemals marginal für eine
Gesellschaft. Und wer Nachsicht übt, in dem
er rechtsradikale Gruppierungen als Randerscheinungen ausgibt, denunziert die anderen
Jugendgruppen. Gewalt verlangt per se eine
Stellungsnahme. Nachsicht schiebt die Übernahme von Verantwortung fort. Modelle, die begreifen
wollen, wie es zur Gewaltentäußerung kommt,
sollen den Täter begreifen, jedoch mit der Tat
keine Nachsicht üben. Daher ist es nötig auf die
Tat eine Nach-Sicht zu werfen, um weiterem gewalttätigem Handeln zu wehren. Der Glaube macht
den Menschen, nicht seine Taten, formulierte
bereits Martin Luther. Solchen Glauben gilt es zu
erkennen. Nur wenn man die Taten verurteilt, kann
man den Täter retten. Je mehr Nach-Sichten wir
üben, desto mehr nachwachsende Täter können
wir aus dem dumpfen Dunst einer Gewaltatmosphäre, die Geborgenheit vorspiegelt retten.
Die von mehreren erzeugten Räume sind ungegenständlich und unbeherrschbar. Die Mittel, um
solche Räume zu erweitern sind verschieden.
Einmal kann man das Äußere ins Innere integrieren. Diesen Weg beschritt das Christentum. Das
Fremde wurde als Eigenes erkannt. Die Hingabe an
das größere Ganze ermöglichte die Anerkennung
des Fremden. Das „Böse“ (Fremde) wird verwandelt. Der andere Weg der Atmosphärenerweiterung
benötigt einen Sündenbock. Es entsteht ein Gefälle vom Guten (Innen) zum Bösen (Außen). Der
Sündenbock wird ritualisiert, um eine Gruppensphäre zu erzeugen. In dieser Opferatmosphäre
bildet sich aus Erregung und Einredung das Heilige einer Gruppe. In diesem Klima wachsen Ehrfurcht, Opferbereitschaft und Schuldgefühle
gegenüber der Gruppe. Es entwickelt sich ein
Täterkollektiv um ein Opfer, das die Gruppe zusammenhält. Daher braucht die Gruppe, um eine
homogene Einheit zu bleiben, immer wieder neue
Opfer, die der Gruppe zugleich numinos, unheimlich und verachtenswert erscheinen. Gerade weil
der Sündenbock zu einem unheimlichen Gegner
wird, der die Gruppe bedroht wie erhält, gewinnt
die Sprache der Gruppe über ihren Sündenbock
zugleich abwertenden wie beschwörenden Charakter.33
Gewaltgruppen können Frieden immer nur als
Durchsetzung der eigenen Machtvorstellungen
denken. Dagegen wollen Gruppen, die integrieren
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_29
GEGEN DEN TREND ’2001
Früher, so führt Peter Sloterdijk30 aus, umschloss
Gott alles. Und alles war in ihm. Doch mit der
Dimension der Unendlichkeit, mit der Gott näher
konkretisiert werden sollte, verlor sich das Bergende. Nun waren alle Menschen irgendwo im
Unendlichen verstreut. Gott wurde unanschaulich.
Er mutierte zu einem „Monstrum“ für menschliche Versuche, Unendliches zu fassen. Die Postmoderne wandte sich von der metaphysischen
Kategorie des Unendlichen ab und versuchte
keine Einheit der Anschauungen mehr zu entwickeln. Sie näherte sich den Sprachspielen,
Handlungsmustern, und „Ereignissen“, die Sinn
liefern sollten.31 Doch warum der Mensch nicht
mehr durch sein Wesen, sondern durch Ereignisse
konstituiert werden soll, wurde nicht einsichtig.
Wo ist denn der Ort des Menschen, wenn er im
Ungeheuerlichen wohnt und nicht mehr im Ber-
genden? Sloterdijks Antwort ist: Im Egoismus. Das
Drehen um das Selbst und nur für sich zu sorgen,
ist die Konstante, die Individuum, Staat, Familie
und Wirtschaft eint. Doch näher kommen sich die
Menschen nicht. Unterschlagen wird, dass Atmosphären sind, die alle Kommunizierenden
einschließen und sie gegenseitig werden lässt.
Atmosphären es sind weder Worte noch Dinge.
Atmosphären sind auch nie Sache eines einzelnen.32 Atmosphären bilden sich durch viele. Sie
eröffnen für einander einen Raum.
Faszinosum Gewalt
Frieden durch Geist und Einsicht erreichen. Wo
der Staat versagt und versagen muss, sollte die
Kirche helfen. Individualität setzt einen überschaubaren Lebensraum voraus. Wer kann Lebensräume schaffen, wenn der Staat dem Druck der
Wirtschaft folgt? Der Staat kann das Miteinander
der Menschen regeln, aber nicht Sinn im Leben
des Einzelnen stiften. Die Abschaffung des Religionsunterrichts und anderer geisteswissenschaftlicher Fächer in den Ausbildungsinstitutionen
erklärt die Sinnfrage des Lebens zur Randfrage
und macht das Leben des Einzelnen zur Bagatelle. Je mehr die Wirtschaft dem irdischen Leben
Glückseligkeit verspricht und nicht einhalten
kann, desto mehr wächst das Verlangen danach
und die Vorstellung, ein einklagbares Recht darauf zu besitzen. Und dann wird es spannend,
welche Strategien einem zur Verfügung stehen,
um auch an sein (vermeintliches) Recht zu kommen.
8
Nikolaus von Kues: a.a.O. S. 263, (Dialogus de
ludo globoli, Liber primus von 1462).
9
Vgl. auch Joh 14,9.11.26.
10
Es sei nebenbei an das Experiment Friedrich II.
von Staufen erinnert, der erfahren wollte, welche Sprache Kinder von Natur aus sprechen,
wenn sie keine Sprache erlernen. Vgl. Umberto
Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, Frankfurt 1994, S. 13.
11
Peter Sloterdijk: a.a.O. S. 639.
12
Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1967,
S. 128.
13
Peter Sloterdijk: a.a.O. S. 643.
14
Michel de Montaigne: Die Essais, 1. Buch, 25.
Kapitel, Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8308,
Stuttgart 1969, S. 97.
15
Thomas Assheuer: Rechte Gewalt und Neue
Mitte, „Die Zeit“ Nr. 36 vom 31. 8. 2000.
16
Peter Schneider: Der Zerfall des Zivilen, „Die
Zeit“ Nr. 32 vom 3. 8. 2000.
17
Hanna-Barbara Gerl-Falkowitz: Wie wird der
Mensch zum Menschen? Die Wichtigkeit
der Nachahmung bei Joachim Camerarius,
in: Hanna-Barbara Gerl-Falkowitz: Die zweite
Schöpfung der Welt, Mainz 1994, S. 164f.
18
Arnulf Baring: Erziehungssabotage, von Arnulf
Baring, FAZ, Nr. 136, Mittwoch 14.6.00.
19
Susanne Gaschke: Ende der Kindheit. in: Die
Zeit, Nr. 17, 19. April 00
20
Susanne Gaschke: Prima für Kevin, in: Die Zeit
Nr. 25 vom 15. Juni 2000.
Klaus Zastrow
1
2
Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1967,
S. 53-54.
3
Martin Heidegger: a.a.O. S. 57.
4
Martin Heidegger: a.a.O. S. 62.
5
Martin Heidegger: a.a.O. S. 107.
6
GEGEN DEN TREND ’2001
Jacques Lacan: Schriften I, Frankfurt 1975, S. 6370.
7
Nikolaus von Kues: Die philosophisch-theologischen Schriften, Lateinisch-Deutsch, Wien 1989,
Bd.3, S. 97-99, („De visione Die sive de icona“
von 1453).
Nikolaus von Kues: ebenda, S. 107. Vgl. auch
Röm 5,5.
30_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Faszinosum Gewalt
21
Ulrich Greiner: Versuch über die Intimität.
Von Ballermann bis zu ,,Big Brother”, vom
Internet bis zur Talkshow, in: Die Zeit, Nr. 18
vom 27.4.2000.
22
Paul Tillich: Wesen und Wandel des Glaubens,
Ullstein Buch 318, 1961, S. 9.
23
Paul Tillich: a.a.O. S. 41ff.
24
Paul Tillich: a.a.O. S. 49.
25
Paul Tillich: a.a.O. S. 51.
26
Richard Herzinger: Der Hass zum Tode. Liberale
Diskursgesellschaft und rechte Gewalt, „Die
Zeit“ Nr. 33 vom 10. August 2000.
27
Thomas Darnstädt: Angriff auf die bösen Jungs,
„Der Spiegel“ Nr. 12/ 1999.
28
Vgl. „Schaumburger Nachrichten“: Risikosport
gegen Öde im Alltag, vom 20. September 2000.
29
„Schaumburger Nachrichten“: a.a.O.
30
Peter Sloterdijk: Sphären, Bd. 2, Frankfurt 1999,
S. 131ff.
31
Hans Joachim Türk: Postmoderne, Stuttgart
1990, S. 64f.
32
Vgl. hierzu: Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays
zur neuen Ästhetik, Frankfurt 1995.
33
Peter Sloterdijk: Sphären, Bd. 2, S. 159 – 195.
GEGEN DEN TREND ’2001
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_31
GEGEN DEN TREND ’2001
Faszinosum Gewalt
32_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
›› Wie wirkt
Musik?
Wie wirkt Musik?
Die Affekte,
Begriffsbestimmungen
ßerster Erregung.
(s.o.: Duden „Bedeutungswörterbuch”,S.765.)
1) außerwissenschaftliche
Definitionen:
heftiger, unbeherrschter, durch Ärger o.ä. hervorgerufener Gefühlsausbruch, der sich in Miene,
Wort und Tat zeigt.
(s.o.: Duden „Deutsches Universalwörterbuch”,
S.1458. )
Ärger
durch Mißfallen an etwas, durch Unzufriedenheit,
Enttäuschung o.ä. hervorgerufenes Gefühl des
Unwillens.
(Duden „Bedeutungswörterbuch”/ hrsg. u. bearb.
Von Wolfgang Müller. Unter Mitarb.. d. Dudenred.:
Wolfgang Eckey ...-2. völlig neu bearb.. u. erw..
Aufl.-Mannheim; Wien; Zürich: Bibliographisches
Institut, 1985, S.69. )
GEGEN DEN TREND ’2001
bewußtes, von starker Unlust u. [aggressiver]
innerer Auflehnung geprägtes [erregtes] Erleben
[vermeintlicher] persönlicher Beeinträchtigung,
insbesondere dadurch, daß etwas, nicht ungeschehen zu machen, zu ändern ist; Aufgebrachtsein, heftige Unzufriedenheit, [heftiger] Unmut,
Unwille, heftige Verstimmung, Mißstimmung.
(Duden „Deutsches Universalwörterbuch”/ hrsg.
u. bearb. vom Wiss. Rat u. d. Mitarb.. d. Duden-red.
unter Leitung von Günther Drosdowski. [Un-ter
Mitw. von Brigitte Alsleben ...]. - Mannheim; Wien;
Zürich: Bibliographisches Institut, 1983, S.99.)
ärgern: „erzürnen, reizen”: Das Verb mhd. ergern,
argern, ahd. argorôn, ergirôn ist von … abgeleitet
und bedeutet demnach eigentlich „schlimmer,
böser, schlechter machen” . Abl.: Ärger (18.Jh.).
(Duden „Etymologie”: Herkunftswörterbuch der
deutschen Sprache. 2., völlig neu bearb.. u. erw..
Aufl./ von Günther Drosdowski. Mannheim; Wien;
Zürich: Dudenverl., 1989, S.44.)
Wut
[sich in heftigen, zornigen Worten und/oder unbeherrschten Handlungen äußernder] Zustand äu-
34_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
das Substantiv mhd., ahd. wuot ist eine Bildung zu
dem gemeingerm. Adjektiv ahd. wuot „unsinnig”,
got. Wôds „wütend, besessen”, aengl. wôd, aisl.
ôdr „rasend”.
Daneben steht das andersgebildete Substantiv
aengl. Wôd „Ton Stimme, Dichtung”, aisl. ôdr
„Dichtung, Dichtkunst”. Damit ist wohl der Göttername ahd. Wuotan, aengl. Wôden, aisl. Odinn
verwandt, der wahrscheinlich eigentlich „rasender
Gott, Dämon” bedeutet. Die germ. Wörter sind
wohl verwandt mit lat. vates „Wahrsager, Seher”
und air. fâith „Seher, Prophet”.
(s.o.: Duden „Etymologie”:Herkunftswörterbuch
der deutschen Sprache,S.821.)
Unmut
durch das Verhalten anderer ausgelöstes starkes
Gefühl der Unzufriedenheit, des Mißfallens, des
Verdrusses.
(s.o.: Duden „Deutsches Universalwörterbuch”,
S.1330.)
2) Wissenschaftliche Definition
Ärger
Ärger in den Emotionstheorien: Ärger entsteht
infolge einer Störung, eines Hindernisses, eines
missfälligen Ereignisses; Ärger aktiviert, mit welchen Mitteln auch immer. Der Ausdruck des Ärgers
mag ursprünglich andere davor gewarnt haben,
dass Widerstand droht das kann er natürlich auch
heute noch tun. Ein weiteres Element einbringt,
Wie wirkt Musik?
sind die kognitiven Theorien, die davon ausgehen,
dass Ärger dann einsetzt, wenn ein andere Mensch
sich nicht an soziale Normen bzw. persönlich bedeutsame Standards hält.
Begeisterung/Besessenheit
Veränderter Bewusstseinszustand, in dem sich
der Erlebende von einer fremden Macht „in Besitz genommen” fühlt. B.-Zustände werden in
Trancekulten, die auf schamanische Wurzeln
zurückzuführen sind, vor allem durch frenetische
Bewegungen, monotone Musik, Tanz und heftiges
Atmen hervorgerufen. Während der B.-Trance
verliert der Erlebende sein gewöhnliches Verhältnis zu seinem psychischen Bezugsmittelpunkt,
seinem Ich. Wesentliches Element der B. ist ihr
religiöser Charakter (Ekstase). Insofern ist die B.
die phänomenologisch folgerichtigste Form der
enthusiastischen Ergriffenheit. Die B. zählt zu
einem in allen Teilen der Welt von alters her verbreiteten Phänomen, das als Hinweis für den dem
Menschen innewohnenden Wunsch gesehen
werden kann, die transzendente Wirklichkeit oder
die göttliche Sphäre zu erfahren und zu erleben
(mystische Erfahrung). In der christlichen Religionsgeschichte begegnet uns das Phänomen der
B. als B. von Dämonen und Teufeln. Dem Rituale
Romanum zufolge erkennt man Besessene nicht
nur an blasphemischen, obszönen Äußerungen
und Handlungen, sondern vor allem an ihren
paranormalen Fähigkeiten, einschließlich des
Sprechens und Verstehens fremder Sprachen.
Ekstase
Aggression beim Menschen
Aggressionstheorien
In der Psychologie:
• das Austeilen schädigender Reize gegen Lebewesen (auch gegen die eigene Person › AutoAggression), Institutionen und Sachen
• kann offen (körperlich, verbal) oder versteckt
(phantasiert) sein
• kann negativ (missbilligt) oder positiv (von der
Kultur gebilligt) sein
• Psychoanalyse sieht als Ursache den Aggressionstrieb, der seine Quelle im Todestrieb (S.
Freud) hat
Verhaltensforschung:
• der tatsächliche physische Akt oder eine Drohhandlung mit dem Ziel die Lebensfähigkeit
eines anderen Individuums oder einer anderen
Gruppe von Individuen einzuschränken
• Bereitschaft, solche Handlung auszuführen,
als Aggressionstrieb (Triebstauhypothese) oder
Aggressivität bezeichnet
• Aggressivität: [lat.: „Angriffslust”], die Bereitschaft eines oder mehrerer Individuen, andere
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_35
GEGEN DEN TREND ’2001
[von griech. Ekstasis „Aus-sich-Heraustreten”]
Bewusstseinszustand, in dem ein Individuum sich
selbst nicht mehr allein mit seinem eigenen Körper
identifiziert. Dieser Zustand des „Außer-SichSeins” (Entrückung, Verzückung) erreicht in seiner
extremsten Form die mystische Vereinigung mit
Gott bzw. dem höchsten Wesen (unio mystica).
Ekstase ist aus dem Schamanismus, aus den
dionysischen Kulten, sowie zahlreichen religiösen
Systemen und im Bereich der christlichen Mystik
seit dem älteren Prophetentum bekannt. Thomas
von Aquin deutete die Ekstase als eine Wirkung
der Liebe, die den Liebenden außer sich setzt, so
dass er nicht mehr in sich selbst lebt, sondern in
der geliebten Sache. Die Ekstase sei ihm zufolge
ein Durchgangsschritt zum eigentlichen Ziel der
Mystik, der Vereinigung mit Gott.
Wie wirkt Musik?
Organismen durch bestimmte Verhaltensweisen so einzuschränken, dass ihre Umweltbeziehungen entgegen der eigenen Motivation verändert oder ganz aufgehoben werden;
hierzu zählen verschiedene Klassen des Angriffsverhaltens (Inner- und Zwischengruppenaggressionen).
• Frustration führt stets zu einer Form der Aggression
• Stärke der Bereitschaft zur Aggression ist abhängig von:
• der Stärke der gestörten Aktivität,
• der Stärke der Störung und
• Trieb (Antrieb, Motivation): Bereitschaft, eine
bestimmte Handlung (insbesondere eine Instinkthandlung) ablaufen zu lassen; innere Erregung wird zentralnervös produziert und staut
sich auf (Triebstau); bei starkem Triebstau reicht
schon schwacher spezifischer Reiz (Auslöser,
Schlüsselreiz) aus, der die innere Sperre über
einen angeborenen Auslösemechanismus
beseitigt, um Handlung ablaufen zu lassen
(Triebbefriedigung); bleibt Reiz aus, wird die
angestaute Erregung in einer Leerlaufhandlung
aufgebraucht (Abreaktion an Ersatzobjekt)
Aggressionstheorien
• der Anzahl der Frustrationen
Lerntheorie:
• aggressives Verhalten basiert auf Lernen
• aggressives Verhalten befriedigt Bedürfnisse
und führt zum Erreichen von Zielen
• es entwickelt sich die Erwartung, auch zukünftig
durch Aggression Erfolg zu haben
• Lob und Belohnung verstärken aggressives
Verhalten
Triebtheorie:
• kann durch Lernen verändert werden
• Aggression kann auch am Modell gelernt werden,
d.h. wenn aggressives Verhalten anderer erfolgreich ist, unbestraft bleibt, gerechtfertigt oder
verherrlicht wird, erhöht sich Erwartung, dass
eigenes aggressives Verhalten zu Zielen verhilft
• Frustration kann zu aggressiven Handlungen führen
Gemeinsamkeit:
Frustrations-Aggressionstheorie:
in 5 Bereichen gesteuert und unmittelbar beeinflusst:
• Aggressionsverhalten = echter Instinkt mit
eigener endogener Antriebserzeugung
GEGEN DEN TREND ’2001
• Frustration ist Störung einer zielgerichteten
Aktivität
• Aggression ist jedes Verhalten, dass auf die
Verletzung eines Organismus abzielt
• Aggression ist immer Folge einer Frustration,
d.h. die Versagung von Bedürfnissen oder Wünschen führt zur Angriffslust
36_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
• im Bereich der Gene
• in der Physiologie (z.B. Hormonstörungen
bewirken auffällige Aggressivität oder völliges
Fehlen aggressiven Verhaltens)
• im Gesamtorganismus (psychische Zustände,
Empfindungen, Motive, ...)
Wie wirkt Musik?
• im sozialen Verband (Aggression bei Ausbildung
einer Rangordnung, weniger bei gefestigten
Hierarchien)
• stabile Familienverhältnisse (feste Bezugsperson) Aggressionsbereitschaft wird gesenkt
durch: Lächeln, Höflichkeit, Grüßen
• im ökologischen Zusammenhang (Gruppendichte oder Nahrungsknappheit beeinflussen
aggressives Verhalten)
• Anerkennung, Geschenke
Strategien zur Vermeidung von Aggressionen beim Menschen
• Aggression abreagieren, z.B. durch körperliche Anstrengung › Abbau von Energieüberschüssen
• nicht zu Handlung verleiten lassen, die man von
selbst nie tun würde
• bei ungerechten Forderungen nicht nachgeben,
weil sonst Lernen am Erfolg
• Menschen sollten sich selbst kennenlernen, sich
beobachten und Selbstbeherrschung üben
Praxisbaustein: Ablauf eines Schulgottesdienstes an der BBS
zum Thema Gewalt/Menschlichkeit
„Du mußt ein Schwein sein in dieser Welt“
Aktualisiert: „Es ist geil, ein Arschloch zu sein“ (Christian)
Musik zur Einstimmung
• Meditative Musik (Schulband)
Beginn
• Sketch: „Nicht alles gefallen lassen“
nach Gerhard Zwerenz (SchülerInnen)
siehe Text 1
• Lied: Alex (Schulband, nach Tote Hosen)
• Gedanken zum Text (SchülerInnen )
• Gebet, Meditative Musik (Schulband)
• Video Grasshoppers (Erklärungen als Grundlage
zur Erarbeitung siehe Text 2)
• Gedanken zum Video (SchülerInnen)
• Lied: „Du mußt ein Schwein sein“ (nach Prinzen)
bzw. „Es ist geil, ein Arschloch zu sein“ (Christian)
Abschlußsegen
• Gedanken zum Liedtext (SchülerInnen)
Gebet
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_37
GEGEN DEN TREND ’2001
- Begrüßung, Einführung
- (Biblische Relevanz) Exemplarische biblische
Texte zum Themenkomplex »Gewaltanwendung/
Frieden»: Ex 20,13: Ps 34,15; Spr 20.22; Jes 2,4b;
Jes 32,17; Mt 5,9; Mt 10,.34 (Kontrast): Mt 26,52;
Röm 12,17; 1 Kor 14,33; 1 Petr 3,9; SchülerInnen lesen die Texte mit Erklärungen zum Thema
Wie wirkt Musik?
Auf dem Weg des Friedens
Herr, unser Gott
und Gott unserer Väter, möge es dein Wille sein,
uns in Frieden zu leiten,
unsere Schritte
auf den Weg des Friedens zu richten,
und uns wohlbehalten
zum Ziel unserer Reise zu führen.
Behüte uns vor aller Gefahr, die uns auf dem Weg
bedroht.
Bewahre uns vor Unfall und vor Unglück,
das über die Welt Unruhe bringt.
Segne die Arbeit unserer Hände.
Laß uns Gnade und Barmherzigkeit vor deinen
Augen finden;
Verständnis und Freundlichkeit bei allen, die uns
begegnen.
Höre auf die Stimme unseres Gebetes. Gepriesen
seist du, O Gott,
der du unser Gebet erhörst.
Amen.
(Altes jüdisches Reisegebet)
Als meine Mutter dreimal vergeblich gemahnt
hatte, riss ihr eines Tages die Geduld, und sie
sagte auf der Treppe zu Frau Muschg, die im vierten Stock wohnt, Frau Doerfelt sei eine Schlampe.
Irgendwer muss das den Doerfelts hinterbracht
haben, denn am nächsten Tag überfielen Klaus
und Achim unseren Jüngsten, den Hans, und
prügelten ihn windelweich.
Ich stand grad im Hausflur, als Hans ankam und
heulte. In diesem Moment trat Frau Doerfelt drüben aus der Haustür, ich lief über die Strasse,
packte ihre Einkaufstasche und stülpte sie ihr über
den Kopf. Sie schrie aufgeregt um Hilfe, als sei
sonst was los, dabei drückten sie nur die Glasscherben etwas auf den Kopf, weil sie ein paar
Milchflaschen in der Tasche gehabt hatte.
Mittagszeit, und da kam Herr Doerfelt mit dem
Wagen angefahren. Ich zog mich sofort zurück,
doch Elli, meine Schwester, die mittags zum Essen
heimkommt, fiel Herrn Doerfelt in die Hände. Er
schlug ihr ins Gesicht und zerriss dabei ihren Rock.
Das Geschrei lockte unsere Mutter ans Fenster,
und als sie sah, wie Herr Doerfelt mit Elli umging,
warf unsere Mutter mit Blumentöpfen nach ihm.
Von Stund an herrschte erbitterte Feindschaft
zwischen den Familien.
• Musik: Sounds of silence (Schulband)
Anhang Texte 1 und 2
Material z. Gottesdienst
GEGEN DEN TREND ’2001
Text 1: Nicht alles gefallen lassen...
(von Gerhard Zwerenz)
Wir wohnten im dritten Stock mitten in der Stadt
und haben uns nie etwas zuschulden kommen
lassen, auch mit Doerfelts von gegenüber verband
uns eine jahrelange Freundschaft, bis die Frau sich
kurz vor dem Fest unsere Bratpfanne auslieh und
nicht zurückbrachte.
38_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Weil wir nun Doerfelts nicht über den Weg trauen,
installierte Herbert, mein ältester Bruder, der bei
einem Optiker in die Lehre geht, ein Scherenfernrohr am Küchenfenster. Da konnte unsere Mutter,
waren wir anderen alle unterwegs, die Doerfelts
beobachten. Augenscheinlich verfügte diese über
ein ähnliches Instrument, denn eines Tages schossen sie von drüben mit einem Luftgewehr herüber.
Ich erledigte das feindliche Fernrohr dafür mit
einer Kleinkaliberbüchse, an diesem Abend ging
unser Volkswagen unten im Hof in die Luft.
Unser Vater, der als Oberkellner im hochrenommierten Café Imperial arbeitete, nicht schlecht
Wie wirkt Musik?
verdiente und immer für den Ausleich eintrat,
meinte, wir sollten uns jetzt an die Polizei wenden.
Aber unserer Mutter passte das nicht, denn Frau
Doerfelt verbreitete in der ganzen Strasse, wir,
das heißt, unsere gesamte Familie, seien derart
schmutzig, dass wir mindestens zweimal jede
Woche badeten und für das hohe Wassergeld, das
die Mieter zu gleichen Teilen zahlen müssen,
verantwortlich wären. Wir beschlossen also, den
Kampf aus eigener Kraft in aller Härte aufzunehmen, auch konnten wir nicht mehr zurück, verfolgte doch die gesamte Nachbarschaft gebannt den
Fortgang des Streites.
Am nächsten Morgen schon wurde die Strasse
durch ein mörderisches Geschrei geweckt. Wir
lachten uns halbtot, Herr Doerfelt, der früh als
erster das Haus verliess, war in eine tiefe Grube
gefallen, die sich vor der Haustür erstreckte. Er
zappelte ganz schön in dem Stacheldraht, den wir
gezogen hatten, nur mit dem linken Bein zappelte
er nicht, das hielt er fein still, das hatte er sich
gebrochen. Bei alledem konnte der Mann noch von
Glück sagen - für den Fall, dass er die Grube bemerkt und umgangen hätte, war der Zünder einer
Plastikbombe mit dem Anlasser seines Wagens
verbunden. Damit ging kurze Zeit später KlunkerPaul, ein Untermieter von Doerfelts, hoch, der den
Arzt holen wollte.
Als wir das Rohr genau auf Doerfelts Küche eingestellt hatten, sah ich drüben gegenüber im
Bodenfenster ein gleiches Rohr blinzeln, das
hatte freilich keine Chance mehr, Elli, unsere
Schwester, die den Verlust ihres Rockes nicht
verschmerzen konnte, hatte zornroten Gesichts
das Kommando „Feuer!“ erteilt. Mit einem unvergesslichem Fauchen verliess die Atomgranate das
Rohr, zugleich fauchte es auch auf der Gegenseite.
Die beiden Geschosse trafen sich genau in der
Strassenmitte.
Natürlich sind wir nun alle tot, die Strasse ist hin,
und wo unsere Stadt früher stand, breitet sich
jetzt ein graubrauner Fleck aus. Aber eins
muss man sagen, wir haben das Unsere getan,
schließlich kann man sich nicht alles gefallen
lassen. Die Nachbarn tanzen einem sonst auf der
Nase herum.
Text 2: Erklärungen zum Film Grasshoppers
Bozetto kontrastiert eine von Kriegen gezeichnete
Menschheitsgeschichte mit einer friedvollen und
fröhlichen Natur, die unverändert bleibt und sich
selbst immer wieder hervorbringt (vgl. die Fortpflanzung der beiden Heuschrecken im letzten
Bild). Das ist ein Kunstgriff: Weder ist Natur friedvoll noch bleibt sie unverändert. Im Vergleich zur
Geschichte der Menschheit vollziehen sich natürliche Änderungen allerdings in großen Zeiträumen.
Auch gibt es keine Vernichtung einzelner Gattungen untereinander. Bozettos Kontrastierung wirft
ein kritisches Licht auf die Vorstellung von der
Überlegenheit des Menschen über die Natur.
Nimmt man das filmisch konstruierte Nebeneinander von Menschheitsgeschichte und natürlichem
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_39
GEGEN DEN TREND ’2001
Es ist bekannt, dass die Doerfelts leicht übelnehmen. So gegen zehn Uhr begannen sie unsere
Hausfront mit einem Flakgeschütz zu bestreichen.
Sie mussten sich erst einschiessen, und die Einschläge befanden sich nicht alle in der Nähe unserer Fenster. Das konnte uns nur recht sein, denn
jetzt fühlten sich auch die anderen Hausbewohner
geärgert, und Herr Lehmann, der Hausbesitzer,
begann um den Putz zu fürchten. Eine Weile sah er
sich die Sache noch an, als aber zwei Granaten in
seiner guten Stube krepierten, wurde er nervös
und gab uns den Schlüssel zum Boden. Wir robbten sofort hinauf und rissen die Tarnung von der
Atomkanone. Es lief alles wie am Schnürchen, wir
hatten den Einsatz oft genug geübt, die werden
sich jetzt ganz schön wundern, triumphierte unsere Mutter und kniff als Richtkanonier das rechte
Auge fachmännisch zusammen.
Wie wirkt Musik?
Leben allerdings als Gleichsetzung - das eine ist
wie das andere - dann ergibt sich eine andere
Deutungsperspektive: Der Film wird zur Satire, die
lakonisch-überzeichnet den Menschen vor Augen
führt, wie lächerlich ihre erbitterten Gefechte
neben dem natürlichen Fortgang des Lebens
wirken. Geht man nach dem Titel des Films, Grasshoppers, dann ist klar, wer die Hauptpersonen
sind: Die Heuschrecken, nicht die Menschen.
Unberührt von dem Gemetzel, das um sie immer
wieder ausbricht, gehen sie ihren Verrichtungen
nach.
Insgesamt kennt der Handlungsverlauf des Films
kein Ende. Die collagenhafte Aneinanderreihung
der Szenen hat exemplarischen Charakter und
betont das Fragmentarische der Darstellung.
Gewalt in den Medien/Musik
Begegnung mit einem (typischen?)
Nazimusik-Konsumenten
dient als Einstiegsdroge und schürt die Gewaltbereitschaft. Und nicht selten folgen auf Parolen
auch Taten, wie Daniel bestätigt … „Wie gesagt:
Tritt einfach rein in die dumme Sau, ganz einfach!”
Daniel, 29 Jahre, arbeitslos. Ich treffe ihn in Bernau, in Brandenburg. Stolz führt er uns seine
Musik vor. Eines der szene-üblichen Lieder mit
rassistischen und gewaltverherrlichenden Texten.
Schmierstoff für Aggression und Gewalt …
GEGEN DEN TREND ’2001
„Das ist mein Lieblingssong. Den habe ich von
einem Kumpel gekriegt!”, sagt er und legt die
Kassette in den Autorecorder ein: „Ich brauch’
keinen Griechen, um gut essen zu gehen/Keinen
Nigger, um ein Fußballtor zu sehen/Ich will auch
kein Arbeiter bei den Türken sein/Ich will, daß wir
uns vom fremden Pack befrei’n/Tritt einfach rein in
das dumme Schwein...!”
“Solche Lieder von Skinhead-Bands ohne Namen
werden in der Szene
weitergereicht”, erzählt
mir Daniel. Konzerte der
entsprechenden Gruppen, meist als Privatparties getarnt, finden
regelmäßig statt. Vor allem in den neuen Bundesländern. Das Publikum aber kommt von überall
her, auch aus Nordrhein-Westfalen. Die Musik
40_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
• Exemplarische biblische Texte zum Themenkomplex »Gewaltanwendung/Frieden»: Ex
20,13: Ps 34,15; Spr 20.22; Jes 2,4b; Jes 32,17;
Mt 5,9; Mt 10,.34 (Kontrast): Mt 26,52; Röm
12,17; 1 Kor 14,33; 1 Petr 3
Ende
„Bist Du auch schon einmal gewalttätig geworden?”, frage ich ihn. „Ja, mehrmals! Du bist mit der
Gruppe unterwegs und da langst du hin, wenn
irgend so ein Idiot kommt, ob es irgend so ein
dreckiger Punk ist oder eine Zecke, da wird einfach
reingehämmert, mit den Springerstiefeln noch mal
nachgetreten und dann ist gut!”
Ortswechsel: Düsseldorf. Der Handel mit verbotener rechter Musik ist inzwischen ein einträgliches Geschäft, bedeutendste Geldquelle der
rechten Szenen, die deutschlandweit eng vernetzt
sind. Ganz wichtig dabei: Die Rolle NordrheinWestfalens. Einer der Drahtzieher hier: Torsten
Lemmer. Bereits 1993 gründete der Musterjunge
der neuen Rechten in Düsseldorf die beiden Musikverlage „Creative Zeiten” und „Funny Sounds”,
die nach eigenen Angaben etwa 40 Prozent des
gesamtdeutschen Rechtsrock-Marktes halten. Alle
Musikrichtungen - auch Techno oder Schlager werden hier mit faschistoiden Texten und Inhalten
besetzt.
Von Köln aus vertreibt der Musikverlag „Rock-oRama” seit 1997 rechtsradikale Musik und ist
Wie wirkt Musik?
mittlerweile zu Europas größtem Unternehmen
dieser Art aufgestiegen. Die hier verlegte Musik ist
nicht verboten oder indiziert. Gerichtsverfahren
gegen den Verlag wegen Volksverhetzung waren
meist erfolglos. Demonstrationen in Köln und
Polizei-Razzien bei dem Hintermann Herbert
Egoldt aus Brühl haben das einträgliche Geschäft
bisher nicht gestört. Doch die Demonstranten
bleiben dabei: “Wer Leute dazu anleitet, Asylbewerberwohnheime anzuzünden, ist und bleibt
ein mieser Rassist!”, ruft einer von ihnen.
Der Journalist Burkhard Schröder untersucht seit
langem die Vernetzungen innerhalb der deutschen
rechtsradikalen Szene. Immer wieder weist er auf
die Bedeutung der neuen Medien bei der Verbreitung rechtsextremer Musik hin. „Wenn man sich
das mal anguckt auf den Internet-Portalen, die
sich mit Musik beschäftigen, ist Deutschland das
einzige Land, das mit Neonazis vermehrt präsent ist. In allen anderen Ländern ist das anders.
Das sagt etwas über die deutsche Kultur aus.”
„Was?”, möchte ich wissen. „Dass Rassismus
gesellschaftsfähig ist in Deutschland und von
vielen Leuten konsumiert wird und das Gefühl
vieler Leute anspricht - vor allem in den neuen
Bundesländern. Es ist eben nicht nur ein Problem
der Jugendlichen. Die Jugendlichen - das weiß
jeder Sozialwissenschafter - sagen das, was die
Erwachsenen auch denken, nur etwas radikaler.”
Ortswechsel. Ich besuche das Landeskriminalamt
von Sachsen-Anhalt in Magdeburg. Hier gibt es
Fazit für mich, nach tagelanger
Recherche in Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und SachsenAnhalt: Rechtsextreme Bands
haben ihre Proberäume verlassen. Es besteht zumindest die Gefahr, daß Nazimusik in den Jugendkultur-Mainstream eindringt.
Die Drahtzieher und Profiteure sitzen auch in
Nordrhein-Westfalen. Ihre Musik erreicht immer
mehr Leute. Leute wie Daniel, der seine ausländerfeindlichen Anschauungen in der braunen Musik
wiederfindet. Eigentlich sollte man ihn in die
faszinierende Welt der bunten Musik entführen.
“Bunt statt braun” - eigentlich müsste Daniel
einleuchten, daß bunte Musik attraktiver ist als
“braune”, die er - in Abwandlungen - immer wieder
hört. Oder ist für ihn alles schon zu spät?
Dieser Beitrag des WDR-Autors Antonio Cascais
wurde in leicht veränderter Fassung in der Sondersendung des WDR-Fernsehens “Gewalt von
rechts - Was tun?” ausgestrahlt: Antonio Cascais
wurde in Portugal geboren, studierte in Dortmund
Journalistik und Geschichte, und arbeitet als
freier Autor für den WDR, u. a. für das ARD-Magazin Monitor.
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_41
GEGEN DEN TREND ’2001
Bestätigt wird diese These, wenn man sich bei den
Skinheads, den Fans von Neonazi-Musik, umhört.
Ich frage Daniel, wie seine Mutter die Nazimusik
findet. Die Mutter, sie steht neben ihm auf der
Straße, mitten in Bernau … „Meine Mutti, die hört
die Mucke auch ganz gern!”, sagt Daniel. Die
“Mutti” nickt zustimmend. „Und die anderen
Verwandten?“ „Die auch, die sind alle ganz easy
drauf und haben auch keine Probleme damit!”
eine spezielle “Koordinierungs- und Ermittlungsgruppe Rechts”. Immer wieder werden hier CDs
sichergestellt. Es ist nicht leicht, die Tatbestände
der Volksverhetzung und Gewaltverherrlichung zu
verfolgen, vor allem dann nicht, wenn die Verlage
ihren Sitz im Ausland haben. Die Musik - aus dem
Internet in den PC geladen - kann leicht vervielfältigt werden. „Die CDs werden zum Selbstbrennen
immer günstiger. Mittlerweile kostet die Herstellung einer CD 1,40 Mark. Verkauft werden sie für
zwischen 15 und 40 Mark. Wir haben bei Ermittlungsverfahren festgestellt, dass derjenige, der
vertreibt, Umsätze zwischen 10.000 und 40.000
Mark im Monat macht. Steuerfrei, versteht sich denn die Vertreiber melden natürlich kein Gewerbe
an.”
Wie wirkt Musik?
Songbeispiele für rassistische,
menschenverachtende Texte
Musik wird vor allem über den Versandhandel an
die interessierte Klientel weitergegeben…“
Im harten Skin-Rock'n'Roll wird der Nationalsozialismus verherrlicht und gegen Ausländer gehetzt.
Beschreiben Sie die Musik und ihre Inhalte:
„Das ist sehr
schwer, weil es alle
Segmente des
rechten Millieus
gibt. Es gibt Skinheadmusik, die
sich eher an die
harten Rhythmen
des Punks annähert. Die eigentlichen Wurzeln
dieser Musik kommen ja ursprünglich aus den
Wurzeln des Ska in Jamaica, was die heutige Szene
kaum noch weiß. Einfache, schnelle Rhythmen,
sehr laut, ab 120 Phon aufwärts. Es gibt auch
melancholische Gruftie-Musik, die mit rechten
Texten arbeitet, es gibt auch rechte Techno-Musik,
das wird nicht im Text klar, sondern durch das
Arrangement(...). Es gibt auch die klassische
Gitarrenmusik
der sogenannten Barden, das
ist wahrscheinlich das größte
Segment.“
Zitat aus einem z.Zt. vor allem in den neuen
Bundesländern kursierenden Song:
„Ich brauch' keinen
Griechen, um gut essen
zu geh'n
keinen Nigger, um ein
Fußball-Tor zu seh'n
ich will auch kein Arbeiter bei den Türken sein
ich will nur, daß wir uns vom fremden Pack befrei'n
Tritt einfach rein in das fiese Schwein…“
Auszüge aus anderen "Liedern" mit rechtsextremem Inhalt:
(…) lasst die Messer flutschen in den Judenleib
(…) schmiert die Guillotine mit dem Judenfett (…)
(Quelle: Sampler „Northeim Live“)
GEGEN DEN TREND ’2001
(…) Adolf Hitler unser Führer
Adolf Hitler unser Held (…)
(Interpreten: „Weisser Arischer Widerstand“)
(…) alle Juden sind mir
gleich,
ich mag Skinheads und SA,
Türken klatschen, ist doch
klar
Ich mag Fußball auf dem
Rasen,
die SS, wenn sie gasen.
All das mag ich, und ganz
doll NSDAP (…)
Die rechte Musikszene ist keine bloße Randerscheinung
„Es gibt circa 100 Faschobands, deren Produkte
von Hand zu Hand weitergereicht werden. Ihre
42_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
„Die zentralen Themen sind natürlich Rassismus also Türken abstechen, Frauen schänden, das
kann man sich gar nicht brutal genug vorstellen.
Das zweite Element: antisemitische Grundstimmung: Es gibt Bands, die dezidiert dazu aufrufen, Juden abzustechen. Es ist so, dass die Texte,
wenn sie indiziert sind, von den Musikern auf der
Bühne gar nicht selber gesungen werden, sondern
- da das Publikum das vorher schon weiß - die
Bands nur den Anstoß geben müssen, und das
Publikum das dann im Chor singt - so daß juristisch schwer etwas zu machen ist gegen diese
Bands.“
Wie wirkt Musik?
Rechtsextremistische Musik ist dann gegeben,
wenn - zumindest in Teilpassagen - gegen § 86
und 86 a oder §130 verstoßen wird, also wenn das
Verwenden von verbotenen Kennzeichen, Gewaltverherrlichung Volksverhetzung eine Rolle spielt.
Es gibt aber auch Texte, wo lediglich umschrieben
Passagen dargestellt werden, die zwar einen
gewissen fremdenfeindlichen Eindruck hinterlassen, aber nicht strafrechtlich relevant sind. Die
Abgrenzung ist sehr fließend, weil man nicht zu
jedem Text sagen kann: Er ist rechtsextremistisch.
Vielfach ist bloß ein fremdenfeindlicher Inhalt
gegeben, der an sich - wie der rechtsextremistische - nicht strafbar ist. Strafbar wird es erst, wenn
Gesetze verletzt werden, wie §86, 86a, Verwendung von verbotenen Kennzeichen, oder Volksverhetzung oder Gewaltverherrlichung.“
Die Strafverfolgungsbehörden müssen den Vertreibern rechtsextremer Medien nachweisen, daß
sie zum Zeitpunkt des Vertriebs indizierter Musik
informiert waren, dass das Verbreiten verboten
wurde. Dieses ist oft so gut wie unmöglich. Überdies wird ein Großteil verbotener Skin-Musik und
NS-Propagandamaterial in Skandinavien, Belgien/
Holland und vor allem USA produziert. Da im
Ausland aber die Herstellung und Verbeitung von
Nazisymbolen erlaubt ist, sehen die Behörden in
diesen Ländern keinen Anlaß, den deutschen
Behörden bei Rechtshilfeersuchen zu helfen.
strafrechtlich relevanten Texte wieder im Kommen
sind, jetzt aber in einer anderen Art. Sie werden
also nicht mehr in Deutschland hergestellt, sondern vielfach im Ausland, und damit wurde dann
ab 1996/97 der deutsche Markt überschwemmt.”
„Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende
Schriften ist die Instanz, die das Gütesiegel vergibt. Jede Naziband ist stolz, wenn sie dieses
Gütesiegel hat, weil es den Erfolg in der rechten
Szene garantiert. Die Indexliste, die ja frei erhältlich ist, ist in ihrer Wirkung ungefähr das, was die
Prohibition in den USA für den Alkoholkonsum
war. Das ist bei der Prohibition so gewesen und so
ist es auch bei der Nazimusik. Aber wir Deutschen
haben leider die Tradition des Obrigkeitsstaates
und der Erziehungsdiktatur, und deswegen tun wir
alles dafür, daß es auch so bleibt.”
Hilft ein Verbot? „Ich glaube, ein Verbot und der
Gedanke daran ist zwar typisch deutsch aber
immer ein Zeichen völliger Hilfslosigkeit. Da wir in
Deutschland keinen Konsens darüber haben, was
eigentlich das Problem ist, auch keine Idee, wie
der Rassismus in die Köpfe hineinkommt, sehe ich
auch schwarz, was die Bekämpfung dieses Problems angeht.”
GEGEN DEN TREND ’2001
Jörg Bunk, LKA Sachsen-Anhalt: „Die rechtsextremistische Musikszene - und hier insbesondere
die Skinheadszene - war bereits 1992/93 schon
einmal im Kommen gewesen und da haben wir
bundesweit, in Zusammenarbeit mit der Informationsgruppe gegen fremdenfeindliche und
rechtsextremistische Straftaten, 1993 Aktionen
durchgeführt. Wir konnten dann die rechtsextremistische Musikszene und auch die Verlage
zumindest für zwei Jahre zurückdrängen. Es hat
sich dann herausgestellt, - so ab 1995/96 - daß
diese rechtsextremistische Szene, vor allem die
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_43
Wie wirkt Musik?
Musik und ihre Funktionen
(nach Musikpsychologie S.77ff)
Der Soziologe Max Weber unterschied in seinen
Ausführungen zur Musik zwischen vier grundlegenden, als idealtypisch bezeichneten´ Funktionen: zweckrationalen Funktionen (politisch,
wirtschaftlich oder erzieherisch ausgerichtet),
traditionalen Funktionen (rituell, geschichtsbezogen, überliefernd), wertrationalen Funktionen
(gute - schlechte, schöne - unschöne Musik) und
affektbestimmten bzw. emotionalen Funktionen
Resonanz, Projektion oder Abreaktion von Stimmungen und Gefühlen; (Weber, 1992). Natürlich
greifen diese Funktionen ineinander über und
ergänzen sich, und zwar um so mehr, je weniger
arbeitsteilig eine Gesellschaft strukturiert ist.
GEGEN DEN TREND ’2001
Ein idealtypisch strukturierter Überblick aus heutiger Sicht, ohne explizite Berücksichtigung der
historischen Dimension und der unterschiedlichen
Genres abendländischer Musik (z.B. Feldmusik,
44_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Volksmusik, Kunstmusik), legt die Trennung in
zwei Hauptbereiche nahe: den gesellschaftlichkommunikativen und den individuell-psychischen
Bereich (Rösing, 1992).
Zum gesellschaftlich-kommunikativen Funktionsbereich zählen:
• sakrale Funktionen: Sie haben die Musik des
Abendlandes zumindest bis zum Beginn der
Säkularisierung entscheidend mitgeprägt;
• Repräsentations- bzw. Glorifizierungsfunktionen: Musik als Statussymbol, als klingender
Ausdruck von wirtschaftlicher, politischer und/
oder kultureller Potenz;
• Festlichkeitsfunktionen: Musik als Rahmen für
das Besondere, Außeralltägliche. Das betrifft
das Leben des einzelnen (Geburt, Geburtstage,
Volljährigkeit, Hochzeit usw.) ebenso wie das
gemeinschaftliche Leben (Festtage, Feierstunden, Staatsakte und Funktionen der Bewegungsaktivierung und -koordination: beim
Volks- und Gesellschaftstanz (auch in der Disco), bei Musik zur Gruppenarbeit, bei Marsch
und Parademusik mit jeweils unterschiedlichen
Intentionen;
• gemeinschaftsbindende-gruppenstabilisierende Funktionen: Musik bestimmter sozialer
Schichten und Gruppen, die sich jeweils mit
dem Sinn ihrer Musik identifizieren (in gruppenübergreifendem Sinn die Nationalhymne als
musikalisches Symbol einer Nation);
• erzieherische Funktionen: Musik als Mittel zur
Bildung, zur «richtigen» Gesinnung, zur Etablierung von ästhetischen Normen;
• geseIIschaftliche Funktionen: Musik wie Kunst
überhaupt) als Ausdrucksmittel von Minderheiten, um auf Mißstände in der Gesellschaft
hinzuweisen und um neue Utopien zu artikulieren, Musik der Sub- und Gegenkulturen;
• Verständigungsfunktionen: Musik als Metasprache als symbolhaltiges Kommunikationsmedium neben der Sprache und über die
Sprache hinaus;
Wie wirkt Musik?
• Kontaktfunktionen: Musik als nonverbales
Medium der Kontaktaufnahme und zur Klärung
zwischenmenschlicher (meist positiver) Beziehungen;
• Funktionen der Selbstverwirklichung: besonders beim eigenen Musikmachen, aber durchaus auch beim gezielten und eigenbestimmten
Musikhören.
Alle diese dem gesellschaftlich-kommunikativen
Funktionsbereich zugeordneten, einander durchaus ergänzenden und überlagernden Teilfunktionen sind hochgradig abhängig vom jeweiligen
Die Teilfunktionen im individuell-psychischen
Funktionsbereich dagegen sind weniger kontextabhängig und stärker personenorientiert. Die
Aneignung und Vergegenständlichung erfolgt
vornehmlich durch Subjektivierung, also z. B.
durch Assoziationen und Imaginationen im Hinblick auf die eigene psychische Bedürfnislage. Im
einzelnen lassen sich hier die folgenden Teilfunktionen benennen:
• emotionale Kompensationsfunktion: die Projektion oder Abreaktion von Stimmungen, Gefühlen, Wünschen, Träumen und Vorstellungen
durch Musik;
• Funktion der Einsamkeitsüberbrückung: Musik
suggeriert durch Identifikationsangebote Verbindungen zum gesellschaftlichen Umfeld, die
real nicht gegeben sind;
• Konfliktbewältigungsfunktion: die Flucht aus
den Sachzwängen des Alltags durch meist
regressive Versenkung in das abstrakte und
realitätsüberhöhende Medium Musik, Musik als
Drogenersatz;
• Entspannungsfunktion: Musik als streßregulierendes, Emotionen glättendes und Diskrepanzen innerhalb des Selbst verdrängendes
Therapeutikum;
• Aktivierungsfunktion: geistige und körperliche
Stimulierung und Stimmungsoptimierung durch
entsprechende, dem eigenen Geschmack angepaßte Musik;
• Unterhaltungsfunktion: Empfinden von Spaß,
Wohlgefallen und Lustgewinn durch Anpassungs- und Identifikationsprozesse bei als
schön empfundener Musik.
Die vom realen Aufführungsanlass losgelöste
Musikwiedergabe über Lautsprecher hat fraglos
zur Dominanz der individuell-psychischen gegenüber den gesellschaftlich-kommunikativen Funktionen in unserer Gesellschaft beigetragen (Rösing,
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_45
GEGEN DEN TREND ’2001
situativen Kontext, also von der spezifischen musikalischen Aufführungs- bzw. Darbietungssituation
(Behne, 1991). Sie beruhen, wahrnehmungspsychologisch gesehen, auf Aneignungs- und Vergegenständlichungsstrategien von Musik durch
Objektivierung im Sinne vorgegebener gesellschaftlicher Normen (Oerter, 1991) handlungs-
theoretische Fundierung, hier von Musizieren und
Musikerleben).
Wie wirkt Musik?
GEGEN DEN TREND ’2001
1992). Auf diese Weise werde – so Theodor W.
Adorno unter kulturkritischem Blickwinkel - ein
falsches Bewußtsein geschaffen. Musik diene
heutzutage vornehmlich der unterhaltsamen
Ablenkung, als Freudenbringer und schwindelhaftes Versprechen von Glück, als Ersatzbefriedigung
und Selbstbestätigung («Radau als Triumph»), als
Illusion von Unmittelbarkeit in einer total verwalteten Welt, als triebdynamischer Abwehrmechanismus, als Dressur des Unbewussten auf bedingte
Reflexe. Eine derart funktionalisierte Musik sei
rückhaltlos der herrschenden Ideologie übereignet, Abbild der gesellschaftlichen Situation, in der
sie produziert und rezipiert wird (Adorno, 1962,
Kap. III). Entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung haben die schriftliche Verdinglichung (Notation) von Musik und ihre Speicherung auf Tonträger
gehabt.
Roger Moch
46_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Literatur:
Böhm, Uwe; Buschmann, Gerd
Popmusik – Religion –Unterricht: Modelle und
Materialien zur Didaktik von PopularkulturMünster: LIT, 2000 (Symbol – Mythos – Medien, 5)
ISBN 3-8258-5179-6
Bruhn, Herbert; Oerter, Rolf; Rösing, Helmut (hg.)
Musikpsychologie
Reinbek bei Hamburg, April 1993, 3. Auflage 1997
3690-ISBN- 3 499 55526 3
Schröder, Burkhard
Nazis sind Pop
ESPRESSO Verlag GmbH, Berlin
ISBN 3 – 88520-779-6
Beten, Texte zum Mitdenken und Nachsprechen
Evangelische Jugend, Landesjugendpfarramt d.
Ev.-luth. Landeskirche Hannovers
›› Die Welt
zertrümmern?!
Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten
Vorbemerkung
Dear Senator Lieberman.
Weite Teile dieses Artikels sind der Examensarbeit
von Carsten Stöver entnommen, die an der Universität Oldenburg im Fach Musik (Fachbereich 2
Kommunikation/Ästhetik) entstanden ist und
einen detaillierten Einblick in die Wirkungszusammenhänge von Musik, Persönlichkeit und Gewalt
bietet. Ich bedanke mich in diesem Zusammenhang ganz herzlich für die Zusammenarbeit mit
Herrn Stöver.1
As part our families normal daily behaviour on the morning of December
12th, 1996, my wife started our son´s
shower and went to wake him. But our
son was not sleeping at bed, he was
dead, he had killed himself. He has
left us and is never coming back.
Einleitung
GEGEN DEN TREND ’2001
Die Diskussion, ob
Musik in der Lage ist,
menschliche Verhaltensweisen derart zu
beeinflussen, dass der
Mensch zur Anwendung physischer Gewalt neigt, oder aber
die Musik zumindest die Ausführung von Gewalttaten begünstigen kann, besteht schon lange und
geht einher mit Diskussionen um die Frage, ob und
inwieweit Musik konkrete Auswirkungen auf
Psyche und Verhalten des Menschen haben kann.
Die Diskussion um die Wirkung von Musik und der
Frage, ob denn Musik menschliche Gewalttaten
auslösen oder aber zu Gewalttaten animieren
könne, ist gegenwärtig immer noch aktuell. Vor
dem Hintergrund einer steigenden Gewalt von
Schülern an Schulen und eines Aufkommens
neonazistischer, gewaltbereiter Jugendsubkulturen wird breit erörtert, inwieweit die von Jugendlichen konsumierte Musik im Prozess der
Gewaltentstehung involviert ist oder sogar Auslöser für Gewalttaten sein kann.2
In einem Brief vom 13. Februar 1997 an Senator
Joseph Lieberman, Washington DC, schreiben
Richard und Christine Kuntz:
48_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Dear sir, my son was listening to
Marylin Manson´s ,,Antichrist Superstar” on the stereo when he died, (...)
with the rough draft of a 10th grade
English class paper about this artist,
that his teacher had returned to him
that day for final revisions, on the
stand next to his body. The lyrics
(enclosed) of ,,The Reflecting God”,
on that CD, read as an unequivocally
direct inducement to take one’s own
life. (...)
We are all certainly free to make our
own decisions regarding the value of
content, but if you were to ask me,
I´d say that the lyrics of this song,
contributed directly to my son´s death.
(...) Sir, this
music, because it
glorifies inhumane
intolerance and
hate, and promotes
suicide, contradicts all of the
community values that people of good
will, regardless of faith, ideology,
economic or social position, share.
Simply put, this music hurts us as a
people. Our children are quietly being
destroyed (dying), by this man´s music,
by ones and twos in scattered isolation throughout our nation today. (...)
Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten
Der Selbstmord des 15jährigen Richard Kuntz, der
sich während des Hörens eines Titels von Marylin
Manson umgebracht haben soll, löste in der USA
eine Debatte über die Rolle der von Jugendlichen
konsumierten Musik aus, inwieweit sie Gewalttaten begünstige oder verursache. Für die Eltern des
Jugendlichen und auch für eine breite Öffentlichkeit in Amerika ergibt sich in diesem Fall
ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der
Selbstmordtat und der konsumierten Musik,
da der nihilistische Text des gehörten MarylinManson-Titels den Selbstmord verherrliche und
Richard Kuntz beim Hören dieses Songs Selbstmord verübte; ergo muss seine Entscheidung
zum Selbstmord durch die konsumierte Musik
ausgelöst worden sein. Eine populäre Meinung
scheint es demnach zu sein, dass Musik direkt das
menschliche Verhalten beeinflusst und somit auch
Gewalttaten verursachen kann.3
Rockmusik gilt als gewalttätig in ihrem gesamten
Auftreten und in ihrer musikalische Geste. Dies
zu leugnen hieße große Bereiche der Rockmusik
um ihre Substanz zu betrügen. Als Ausdruck des
Aufbegehrens gegen gesellschaftliche Verkrustungen ist sie entstanden. Die 68er-Bewegung ist
zum großen Teil auch musikalisch auf diese Weise
bewegt. „Macht kaputt, was Euch kaputt macht”
hieß es dann in den 80er Jahren in Deutschland –
die atomare Bedrohung im Nacken fühlend. Umso
erstaunlicher ist es, dass man den Vorwurf des
Faschismus gegen die Rockmusik häufig genug in
Stellung bringt. Dieser Vorwurf bezieht sich im
wesentlichen auf die große Lautstärke von rockmusikalischen Darbietungen. Gewalt an Ohr und
Hirn. Damit wird ein Phänomen herangezogen, das
zweifellos vorhanden ist. Aber dieser Vorwurf
betrifft nicht nur
die Rockmusik.
Es ist nicht zu
bestreiten, dass
von Musik
physische und
psychische
Wirkungen
grundlegendster Art ausgehen. Musik tut den Menschen immer
etwas an. Musik berührt. Und dieser Berührung
kann man sich schlecht entziehen. Augen kann
man schließen, Ohren kann man bestenfalls zustopfen.
Es ist zu fragen, ob erhebliche musikalische Lautstärke eine Form der Gewalt ist, „die eine Ausübung von physischem oder psychischem Zwang
darstellt, die mit dem Ziel verbunden ist, Personen
oder Sachen zu schädigen”. Diesen Vorsatz wird
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_49
GEGEN DEN TREND ’2001
Die Annahme, dass Musikkonsum Gewalttaten
auslösen kann, wird auch zugrunde gelegt, wenn
die Entstehung von Gewalt und Krawallen während und nach Rockkonzerten erklärt und eine
Ursache für die Genese dieser Gewalt gefunden
werden soll. Deshalb hier noch ein Beispiel,
welches die gängige Meinung belegt, dass Musik
eine verhaltensmodulierende, zur Gewaltanwendung führende Wirkung besitzt: Im New Yorker
Central Park überfielen im Jahre 1989 sechs Jugendliche eine Joggerin und vergewaltigten sie,
während aus einem Ghettoblaster Rapmusik
ertönte. Die sich aus diesem Vorfall entwickelnde
Diskussion wurde auf der Basis der Unterstellung,
dass die Musik mit ihren gewaltverherrlichenden
Texten aus dem Ghettoblaster tatauslösend gewesen sei, geführt.4
Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten
man nur selten antreffen. Dass man eine Schädigung von Personen billigend in Kauf nimmt, das
wird jedoch häufiger der Fall sein.
Aber im Fall der Rockmusik unterstellt man gern,
dass diese Musik nicht nur gewalttätig sei,
sondern auch zur Gewalt gegen Personen und
Sachen anstachele.5 Es ist interessant, dass
es zwar jede Menge Meinungen gibt, die
eine gewaltauslösende und aggressionsfördernde Wirkung von Musik bejahen,
aber kaum wissenschaftliche Untersuchungen als Beleg oder zur Widerlegung dieser
Meinungen. Auch erscheint der Hinweis
wichtig, dass Musik als solche nicht
aggressiv sein kann. Die Bewertung von
Musik hinsichtlich ihrer „Aggressivität”
kann nie ein objektives Kriterium sein,
sondern resultiert aus subjektiven Einschätzungen.
Inhalt der Studie, Fragestellungen
und Hypothesen der Studie von
C. Stöver
GEGEN DEN TREND ’2001
Die wissenschaftliche Diskussion um „Musik
und Gewalt” konstatiert auf der einen Seite gewalttätige Handlungen im Umfeld gewisser
Musikdarbietungen, wozu auf der anderen Seite
die „Katharsisthese” im Widerspruch zu stehen
scheint, der zufolge Musik der Abfuhr von Energien, der Verarbeitung von Gewaltphantasien und
damit der Behinderung gewalttätiger Handlungen
dienen kann.
C. Stöver führt dazu in seiner Arbeit aus: Ebenso
bleibt insgesamt festzuhalten, dass in der Literatur eine relativ hohe Übereinstimmung darin
besteht, dass Musik langfristig keine kathartische
Wirkung hat.6 Die Frage, ob Musik Einfluss auf die
Aggressivität einer Person hat oder ob Musik
aggressives Verhalten auslösen kann lässt sich
dagegen scheinbar noch nicht generell beant-
50_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
worten. Allenfalls lässt sich belegen, dass unter
bestimmten Bedingungen mögliche Effekte bei
bestimmten Personen mit speziellen persönlichen oder sozialen Hintergründen auftreten können.7 Mit anderen Worten müsste man die Frage
wohl mit einem „es kommt darauf an” beantworten. Für wahrscheinlicher halte ich dagegen die Theorie, dass Aggressivität als
Persönlichkeitsmerkmal auf die Beurteilung von Musik bzw. auf andere Aspekte
des Musikkonsums einwirkt, wobei hier
zu fragen ist, auf welche Aspekte des
Musikkonsums eine derartige Abhängigkeit zutrifft. Aufgrund der dargestellten
besonderen Bedeutung von Musik für Jugendliche beziehen sich die im folgenden dargestellten Vermutungen insbesondere auf diesen
Personenkreis.8
Stöver untersucht in seiner Studie die „Neigung
zu aggressivem Verhalten”, die er mit den jeweiligen Musikpräferenzen, charakteristischen Umgangsweisen mit Musik, Musikverwendung in
Situationen von Ärger und Trauer sowie dem
Stellenwert, den Musik für die Jugendlichen hat, in
Beziehung setzt.
Er formuliert folgende Hypothesen, die er mit Hilfe
einer Befragung (Fragebogenaktion) von 200
Jugendlichen aus acht städtischen und sechs
ländlichen Jugendzentren überprüfte.
Hypothesenbildung
Hypothese 1:
Die Präferenz von bestimmten Musikstilen ist bei
Jugendlichen abhängig vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”.
Hypothese 1.1.:
Je stärker das Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” bei Jugendlichen ausgeprägt ist, desto
stärker präferieren sie subjektiv als aggressiv
Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten
empfundene Musik.
Hypothese 2:
Die musikalischen Präferenzen von Jugendlichen
in stark emotional geprägten, subjektiv als negativ bewerteten Situationen sind abhängig vom
Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”.
Hypothese 2.1.:
Die musikalischen Präferenzen von Jugendlichen in
Situationen des Ärgers unterscheiden sich von den
musikalischen Präferenzen in Situationen der
Trauer.
Hypothese 2.2.:
Die musikalischen Präferenzen von Jugendlichen
in Situationen des Ärgers sind abhängig vom
Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”.
Hypothese 2.3.:
Die musikalischen Präferenzen von Jugendlichen
in Situationen der Trauer sind abhängig vom
Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”.
Hypothese 2.4.:
Je stärker das Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” bei Jugendlichen ausgeprägt ist, desto
aggressiver und erregender soll die Musik in stark
emotional geprägten, subjektiv als negativ bewerteten Situationen sein.
Hypothese 3:
Die Umgangsweise von Jugendlichen mit Musik ist
abhängig vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”.
Hypothese 3.3.:
Bei Jugendlichen mit einer hohen Neigung zu
aggressivem Verhalten ist die Tendenz, mit Musik
verstärkt stimulativ umzugehen, stärker ausgeprägt, wenn Musik einen hohen Stellenwert einnimmt.
Hypothese 3.4.:
Bei Jugendlichen mit einer hohen Neigung zu
aggressivem Verhalten ist die Tendenz, mit Musik
verstärkt kompensatorisch umzugehen, stärker
ausgeprägt, wenn Musik einen hohen Stellenwert
einnimmt.
Der Fragebogen
Der empirische Teil der Studie von C. Stöver
umfasst zwei Teile: die Durchführung eines standardisierten Tests zum Persönlichkeitsmerkmal
„Aggressivität” und die Befragung der Jugendlichen hinsichtlich des Musikkonsums. Die Untersuchung sollte sich an etwa 12- bis 20-jährige
Jugendliche richten und die Durchführung an
verschiedenen Jugendzentren erfolgen. Um die
Aussagekraft der Studie zu erhöhen, wurden
dabei verschiedene Wohnregionen (Stadt Oldenburg und Landkreis Ammerland) berücksichtigt.9 Aus den Telefonverzeichnissen der Stadt
Oldenburg und dem Landkreis Ammerland wurden
die aufgeführten Jugendzentren und Jugendfreizeitstätten herausgesucht und bezüglich ihrer
Bereitschaft zur Teilnahme an dieser empirischen
Studie angesprochen. Von den kontaktierten
Jugendzentren und Jugendfreizeitstätten gaben
alle ihr Einverständnis zur Durchführung der
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_51
GEGEN DEN TREND ’2001
Hypothese 3.1.:
Jugendliche mit einer hohen Neigung zu aggressivem Verhalten tendieren dazu, mit Musik verstärkt
stimulativ umzugehen.
Bzw.: Jugendliche mit einer geringen Neigung zu
aggressivem Verhalten tendieren dazu, mit Musik
weniger stark stimulativ umzugehen.
Hypothese 3.2.:
Jugendliche mit einer hohen Neigung zu aggressivem Verhalten tendieren dazu, mit Musik verstärkt
kompensatorisch umzugehen.
Bzw.: Jugendliche mit einer geringen Neigung zu
aggressivem Verhalten tendieren dazu, mit Musik
weniger stark kompensatorisch umzugehen.
Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten
Befragung. Insgesamt war im allgemeinen großes
Interesse, Offenheit und Teilnahmebereitschaft
sowohl von Seiten der Mitarbeiter in den Jugendzentren als auch insbesondere bei den Jugendlichen zu beobachten.
Die Darstellung des genauen Verfahrens zur Erstellung des Fragebogens würde den Rahmen dieses
Artikels sprengen.10
Der Fragebogen erfasste im folgende Aspekte:
1. Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”
2. Merkmale hinsichtlich des Musikkonsums:
• präferierte Musikrichtungen
• zum Zeitpunkt der Untersuchung präferierte
Musikstücke und Interpreten
• Stellenwert von Musik
• musikalische Präferenzen in der Situationen
des Ärgers und der Trauer
• Begründung dieser situativen Präferenzen
• Umgangsweisen mit Musik
3. Merkmale zur Person
GEGEN DEN TREND ’2001
•
•
•
•
Alter
Geschlecht
Schulform
Wohnregion
Um eine computergestützte und zugleich ökonomische Auszählung der Ergebnisse zu ermöglichen, wurden im wesentlichen Fragen mit
festgelegten Antwortalternativen (geschlossene
Fragen) ausgewählt. Lediglich an den Stellen, wo
die potentiellen Antwortmöglichkeiten vorab nicht
abzuschätzen sind, wurde offenen Fragen der
Vorzug gegeben.11 Bezogen auf seinen Umfang
wurde dieser Fragebogen so konzipiert, dass die
Durchführung der Befragung einschließlich einer
Einführung in ca. 15 Minuten erfolgen kann.
52_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten
Hier nun der Fragebogen:
Fragebogen zum Zusammenhang von Persönlichkeit und Musikkonsum
Fragebogen-Nr.
➊ Zunächst wirst Du ein paar Aussagen über bestimmte Verhaltensweisen, Einstellungen und Gewohnheiten finden. Beantworte bitte jede mit „stimmt” oder mit „stimmt nicht”. Es gibt hier keine richtigen
oder falschen Antworten, weil jeder Mensch das Recht zu eigenen Anschauungen hat. Antworte bitte so,
wie es für Dich zutrifft.
Beachte: Überlege bitte nicht erst, welche Antwort vielleicht den „besten Eindruck” machen könnte,
sondern antworte so, wie es für Dich persönlich gilt. Manche Fragen kommen Dir vielleicht sehr persönlich vor. Bedenke aber, dass Deine Angaben wirklich vertraulich behandelt werden und Du Deinen Namen nicht angeben musst. Denke nicht lange über einen Satz nach, sondern antworte so, wie es Dir
unmittelbar in den Sinn kommt. Auch wenn vielleicht einige Fragen nicht so gut passen, kreuze bitte
trotzdem immer die Antwort an, die noch am ehesten auf Dich zutrifft.
stimmt
stimmt nicht
1. Wenn jemand meinem Freund etwas Böses tut, bin ich dabei, wenn es
heimgezahlt wird.
2. Ich kann mich erinnern, mal so zornig gewesen zu sein, dass ich
irgend etwas nahm und es zerriss oder zerschlug.
3. Wenn ich in einer ausgelassenen, lustigen Gruppe bin, habe ich
häufig Lust, üble Streiche zu spielen.
4. Ich überlege mir manchmal, wie schlecht es denen eigentlich ergehen
müsste, die mir Unrecht tun.
5. Als Kind habe ich manchmal ganz gerne anderen die Arme umgedreht, an Haaren gezogen, ein Bein gestellt usw.
6. Es macht mir Spaß, anderen ihre Fehler zu zeigen.
7. Wenn ich körperlich gewalttätig werden muss, um meine Rechte zu
verteidigen, dann tue ich es.
8. Wenn mich jemand anschreit, schreie ich zurück.
9. Wenn ich wirklich wütend werde, bin ich in der Lage jemandem eine
runterzuhauen.
11. Lieber bis zum Äußersten gehen als feige sein.
12. Es gab Leute, die mich so ärgerten, dass es zu einer handfesten
Auseinandersetzung (z.B. einer Schlägerei) kam.
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_53
GEGEN DEN TREND ’2001
10. Einem Menschen, der mich schlecht behandelt oder beleidigt hat,
wünsche ich eine harte Strafe.
Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten
Die jetzt folgenden Fragen drehen sich ausschließlich um Musik.
➋ Zuerst möchte ich gerne etwas über Deinen Musikgeschmack erfahren.
Nenne dazu bitte drei Musikstücke, die Dir im Moment sehr gut gefallen. Schreibe bitte die Musiktitel
und die jeweiligen Interpreten/Interpretinnen auf.
Wenn Du nicht alle Angaben ganz genau weißt, dann lasse die Stelle einfach frei.
1. Titel:
Interpreten/Interpretinnen:
2. Titel:
Interpreten/Interpretinnen:
3. Titel:
Interpreten/Interpretinnen:
➌ Bitte gebe nun jeweils an, wie gut Dir die folgenden Musikarten gefallen.
gefällt mir be- höre ich auch gefällt mir gefällt mir keine Meinung/
sonders gut (4) noch gern (3) weniger (2) gar nicht (1) mir unbekannt (0)
1. Schlagermusik
2. Techno/House
3. HipHop/Rap
4. Rockmusik
5. Heavy-Metal
6. Popmusik
7. Punk
8. Soul
9. Gothic/Dark Wave/EBM
(Electronic Body Music)
GEGEN DEN TREND ’2001
10. SoftRock
11. Rechtsrock/rechte
Rockmusik/Oi!-Musik
12. Dancefloor/Technopop
13. Grunge
14. aggressive Musik
54_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten
➍ Jetzt möchte ich erfahren, wie wichtig Musik für Dich ist.
stimmt
gar nicht (0)
stimmt
wenig (1)
stimmt
ziemlich (2)
stimmt
völlig (3)
1. Für ein wichtiges Konzert fahre ich auch
sehr weit.
2. Ich sammle Texte, Bilder, Bücher usw.
über Musik.
3. Ich lese Zeitschriften, um mich über
Musik zu informieren.
4. Ohne Musik würde mir etwas sehr
Wichtiges fehlen.
5. Ich höre CDs, Kassetten oder Schallplatten.
6. Ich tausche, leihe und überspiele CDs,
Kassetten oder Schallplatten.
7. Wenn ich für längere Zeit keine Musik
hören kann, werde ich ganz unruhig.
➎ Stell Dir bitte einmal folgende Situation vor: Du hast Dich mit Deinem besten Freund/Deiner besten
Freundin heftig gestritten und bist jetzt stinksauer auf ihn/sie.
Wenn Du nun Musik einschalten könntest, die Du in dieser Situation am liebsten hören würdest, wie
sollte diese Musik sein? Mache bitte in jeder Zeile ein Kreuz!
➠
➠
❍
❍
❍
❍
❍
❍
langsam
hart
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❍
❍
❍
❍
❍
weich
heiter
❍
❍
❍
❍
❍
❍
trübe
aggressiv
❍
❍
❍
❍
❍
❍
friedvoll
traurig
❍
❍
❍
❍
❍
❍
froh
lebhaft
❍
❍
❍
❍
❍
❍
müde
erregend
❍
❍
❍
❍
❍
❍
beruhigend
nüchtern
❍
❍
❍
❍
❍
❍
gefühlvoll
(0)
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
Könntest Du auch kurz begründen, warum die Musik so und nicht anders sein sollte?
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_55
GEGEN DEN TREND ’2001
schnell
Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten
Versuche Dich jetzt einmal an eine Situation zu erinnern, in der Du unheimlich traurig warst.
Wenn Du nun Musik einschalten könntest, die Du in dieser Situation am liebsten hören würdest, wie
sollte diese Musik sein? Mache bitte in jeder Zeile ein Kreuz!
➠
➠
schnell
❍
❍
❍
❍
❍
❍
langsam
hart
❍
❍
❍
❍
❍
❍
weich
heiter
❍
❍
❍
❍
❍
❍
trübe
aggressiv
❍
❍
❍
❍
❍
❍
friedvoll
traurig
❍
❍
❍
❍
❍
❍
froh
lebhaft
❍
❍
❍
❍
❍
❍
müde
erregend
❍
❍
❍
❍
❍
❍
beruhigend
nüchtern
❍
❍
❍
❍
❍
❍
gefühlvoll
(0)
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
Könntest Du auch kurz begründen, warum die Musik so und nicht anders sein sollte?
➏ Im folgenden findest Du eine Reihe von Feststellungen, Behauptungen und Beschreibungen, die
etwas mit Musikhören zu tun haben. Einigen wirst Du persönlich zustimmen können, anderen nicht.
Manchmal ist es aber nicht leicht, eindeutig ja oder nein zu sagen. Versuche deshalb, die einzelnen
Aussagen mit Zahlen von 1 bis 5 (ähnlich wie mit Zensuren) daraufhin zu bewerten, ob sie für Dich persönlich zutreffen. Denke dabei an die Musikstücke, die Du zur Zeit gut findest. Dabei bedeutet:
1 Absolut richtig – diese Aussage trifft genau auf mich zu;
2 Einigermaßen richtig – diese Aussage trifft mit Einschränkungen auf mich zu;
3 Unentschieden – da kann man weder ja noch nein sagen;
4 Eher falsch – diese Aussage stimmt für mich im Allgemeinen nicht, manchmal trifft sie aber vielleicht doch zu;
5 Absolut falsch – diese Aussage trifft auf mich überhaupt nicht zu.
GEGEN DEN TREND ’2001
Wenn ich Musik höre …
Bewertung von 1 bis 5 hier eintragen:
1
… singe oder summe ich oft mit. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
2
… habe ich oft bildhafte Vorstellungen. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
3
… kann es sein, dass mir die Musik regelrecht unter die Haut geht. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
4
… versuche ich gleich zu erkennen, welche Art von Musik das sein könnte (z.B. Rock, Jazz, Folk,
klassische Musik, ...). - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
5
… möchte ich mich am liebsten immer bewegen. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
56_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten
6
… höre ich gern nur mit einem Ohr zu.- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
7
… kann es sein, dass ich bestimmte körperliche Wirkungen (Veränderungen des Herzschlages,
Kribbeln auf der Haut, Gefühl im Magen, ...) spüre. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
8
… versuche ich den Text (wenn vorhanden) zu verstehen. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
9
… achte ich auch darauf, welche Gefühle durch die Musik ausgedrückt werden.- - - - - - - - - - - - - - [ ]
10 … träume ich am liebsten. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
11
… kann es sein, dass mich der Rhythmus ganz gefangen hält. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
12 … höre ich hin und wieder gezielt bestimmte Instrumente heraus. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
13 … ist eine höhere Lautstärke für mich wichtig. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
14 … werde ich an Dinge erinnert, die ich früher erlebt habe. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
15 … kann ich mich richtig beruhigen, wenn ich vorher aufgeregt war. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
16 … kann es sein, dass ich meine Stimmungen in der Musik wiederfinde. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
17 … fühle ich mich weniger einsam. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
18 … versuche ich, den Aufbau des Stückes (Wiederholungen, Veränderungen) zu verstehen. - - - - - [ ]
19 … mache ich gern etwas ganz anderes. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
20 … kann es sein, dass ich sehr erregt, angriffslustig, aggressiv werde. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
21 … kann es sein, dass ich eine ganze Geschichte zur Musik erfinde, so als wenn ein Film in mir abläuft. [ ]
22 … regt sie mich an, über mich nachzudenken. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
23 … setze ich mich irgendwie anders hin als sonst. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
24 … soll sie mich auf andere Gedanken bringen, unangenehme Stimmungen aus meinem
Kopf vertreiben. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
25 … kann es sein, dass ich am liebsten weinen möchte. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
26 … möchte ich ganz weit weg sein. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
27 … höre ich vor allem mit dem Gefühl. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
28 … mache ich gern die Augen zu. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
29 … finde ich es interessant, die verschiedenen Themen, Melodien und Rhythmen zu verfolgen. - - [ ]
30 … bringt sie mich in eine andere Stimmung. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ]
Ich bin
Jahre alt.
❐
weiblich
❐
männlich
❐
Abitur oder Fachabitur
Welchen Schulabschluss hast Du oder strebst Du an?
❐
Hauptschulabschluss
❐
Realschulabschluss
Ganz vielen Dank für Deine Mitarbeit!
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_57
GEGEN DEN TREND ’2001
➐ Abschließend nur noch ein paar Fragen zu Deiner Person:
Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten
Analyse12 und Untersuchungsergebnisse
Einfluss von Geschlecht, Alter, besuchter Schulform und Wohnregion auf das Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”
Tab. 1: Verteilung des Skalenwerts für das Persönlichkeitsmerkmals „Aggressivität” in der Stichprobe
Gültig
Häufigkeit
Prozent
Kumulierte Prozente
3
1
,5
,5
4
13
6,4
6,9
5
40
19,8
26,7
6
60
29,7
56,4
7
49
24,3
80,7
8
22
10,9
91,6
9
17
8,4
100,0
202
100,0
Gesamt
Tab. 2: Abhängigkeit des Persönlichkeitsmerkmals „Aggressivität” von Geschlecht, Alter,
Schulabschluss und Wohnregion
Persönlichkeitsmerkmal "Aggressivität" (Skalenwert)
Geschlecht der Person
Mittelwert
N
Standardabweichung
weiblich
6,69
78
1,32
männlich
6,17
124
1,32
Insgesamt
6,37
202
1,34
GEGEN DEN TREND ’2001
Altersgruppen
Mittelwert
N
Standardabweichung
12-14 Jahre
6,59
41
1,55
15-16 Jahre
6,41
78
1,38
17-18 Jahre
6,34
50
1,22
19-24 Jahre
6,06
31
1,15
Welchen Schulabschluss
hast Du oder strebst Du an?
Mittelwert
N
Standardabweichung
Hauptschule
6,56
57
1,21
Realschule
6,29
100
1,42
Abitur oder Fachabitur
6,19
36
1,33
58_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten
Wohnort der Person
Mittelwert
N
Standardabweichung
Oldenburg
6,39
94
1,42
Ammerland
6,35
108
1,28
Zunächst ist einmal auffällig der relativ hohe
Gesamtmittelwert (Mittelwert 6,37) für das Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”, da als repräsentative Vergleichsdaten in der Handanweisung
zum FPI-R für Männer zwischen 16 und 24 Jahren
ein Mittelwert von 5,44 und für Frauen in diesem
Alter ein Mittelwert von 4,33 angegeben wird.13
Jedoch ist zu beachten, dass in der Normstichprobe zum FPI-R auch die Standardabweichungen
wesentlich größer als in dieser Untersuchung
waren (Männer: s = 3,27; Frauen: s = 2,88)14,
wodurch die Unterschiede in den Mittelwerten
weniger aussagekräftig werden. Wie bei der Skalenkonstruktion vom FPI-R vorgesehen, lagen etwa
54%15 (exakter Wert in dieser Untersuchung:
55,9%) der Stichprobe im mittleren Skalenbereich,
d.h. im Bereich von 4 bis 6. Während jedoch der
Anteil der Jugendlichen mit einem hohen Skalenwert (7 bis 9) bei 43,6% liegt, sind Jugendliche mit
einem niedrigen Skalenwert (1 bis 3) bis auf eine
Ausnahme nicht vorhanden (vgl. Tab. 7). Aufgrund
der Tatsache, dass in den bereits erwähnten Vergleichsdaten die Männer im Durchschnitt eine
höhere Neigung zu aggressivem Verhalten aufwiesen, ist der in dieser Studie vorhandene signifikant
höhere Wert für Frauen (vgl. Tab. 8 und 9) besonders hervorstechend.
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_59
GEGEN DEN TREND ’2001
Über die Gründe dieser Ergebnisse kann an dieser
Stelle nur spekuliert werden. Eine Erklärungsmöglichkeit für das relativ hohe durchschnittliche
Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” ist, dass
Jugendliche heute wohl im allgemeinen mit Emotionen offener umgehen als zum Zeitpunkt der
Repräsentativerhebung zum FPI-R (1982). So sind
auch in den Begründungen für die Musikpräferenzen in Situationen des Ärgers häufiger Aussagen
wie etwa „ (...) ich lebe meine Gefühle eher aus als
dass ich gegen sie arbeite”16 und „weil ich gerade
in der Stimmung bin und so bin ich halt”17 zu
finden. Eine weitere mögliche Ursache könnte
aber auch in der Sozialstruktur der Besucher von
Jugendfreizeitstätten liegen. Aus einer Untersuchung von Freizeitstätten aus ganz Deutschland
ergab sich, dass „Besucher aus unteren Statusgruppen (...) leicht überrepräsentiert”18 sind. Es ist
anzunehmen, dass die Jugendlichen aus dieser
sogenannten unteren Sozialschicht eine schichtspezifische Sozialisationserfahrung haben. Das,
was sie im Alltag an eventueller Unterdrückung
und Frustration erfahren (z.B. in Familie, Schule
und Arbeitsplatz), spiegelt sich in ihrem Freizeitverhalten wider. In diesem Kontext kann die Freizeitstätte durchaus auch als ein Ort verstanden
werden, der Jugendlichen die Möglichkeit bietet,
aus den vorgegebenen Bahnen auszubrechen und
die eventuell erfahrenen Frustrationen unmittelbar
abzureagieren. So erwarten Jugendliche nach
Krisam & Tegethoff in einer Freizeitstätte stets die
Möglichkeit einer lärmenden und geselligen
Atmosphäre.19 Dieser ‘lärmende’ Umgang von
Jugendlichen beinhaltet eine gewisse Form von
Aggressivität, jedoch ist von Bedeutung, „dass
(diese) Aggressivität nicht als ein nach außen
und gegen andere Besucher gerichtetes, sondern
als ein sich selbst befreiendes, enthemmendes
Verhalten verstanden wird.”20 Ebenso wäre denkbar, dass Jugendliche durch Konsumangebote in
dem von der Freizeitstätte scheinbar angebotenen
Freiraum eine Entschädigung für erfahrene Frustration erwarten.21 Es wird jedoch z.B. bei Grauer
auch betont, dass „Besucher von Freizeit(stätten)
im Großen und Ganzen nicht als eine charakteristische Untergruppe in bezug auf bedeutsame
Merkmale des sozialen Milieus und der Familiensituation (...) anzusehen sind.”22
Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten
Das höhere Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”
bei weiblichen Jugendlichen in dieser Studie könnte ebenfalls mit dem Lebenskontext Jugendzentrum
in Zusammenhang gebracht werden. Es ist zu vermuten, dass insbesondere bei weiblichen Besuchern
von Jugendzentren besondere charakteristische
Merkmale, wie etwa ein stark ausgeprägtes Durchsetzungsvermögen, notwendig sind, um in diesen
vorwiegend von männlichen Jugendlichen besuchten Freizeiteinrichtungen zurechtzukommen.
Tab. 3: Korrelationen des Skalenwerts für das Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” mit Geschlecht,
Alter, Schulabschluss und Wohnort
Persönlichkeitsmerkmal
„Aggressivität„
(Skalenwert)
Geschlecht
der Person
Altersangabe
Welchen Schulabschluss
hast Du oder strebst Du an?
Wohnort
der Person
-,190 (**)
-,128
-,099
-,016
202
200
193
202
Korrelation
nach
Pearson
N
** Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.
Vergleicht man die Mittelwerte des Persönlichkeitsmerkmals „Aggressivität” mit der Variable
„Alter”, so fällt auf, dass die Jugendlichen mit
zunehmenden Alter eine kontinuierlich weniger
stark ausgeprägte Neigung zu aggressivem Verhalten aufweisen. Jedoch erweisen sich diese
Abweichungen nicht als signifikant. Dennoch ist
anzunehmen, dass bei einer Stichprobe mit größerer Altersspanne der Probanden eine signifikante
Auswirkung auf das Persönlichkeitsmerkmal
„Aggressivität” zu verzeichnen gewesen wäre.
Auch vom Schulabschluss der befragten Jugendlichen hängt der Skalenwert für das Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” nur geringfügig
zusammen (vgl. Tab. 3). Die Gymnasiasten weisen
hier mit einem Mittelwert von 6,19 die geringste,
die Hauptschüler mit 6,56 die höchste Neigung zu
aggressivem Verhalten auf. Eine Abhängigkeit von
der Wohnregion konnte nicht ausgemacht werden
(vgl. Tab. 2 und Tab. 3).
Um im Folgenden die Abhängigkeit der verschiedenen Aspekte des Musikkonsums vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” zu untersuchen,
wurden die einzelnen Skalenwerte aufgrund
von zum Teil sehr geringen Häufigkeiten zu vier
„Aggressivitätsgruppen” zusammengefasst (vgl.
Tab. 4).
GEGEN DEN TREND ’2001
Tab. 4: „Aggressivitätsgruppen“
Häufigkeit
Prozent
Kumulierte Prozente
Gruppe 1: Skalenwerte 3 bis 5
54
26,7
26,7
Gruppe 2: Skalenwert 6
60
29,7
56,4
Gruppe 3: Skalenwert 7
49
24,3
80,7
Gruppe 4: Skalenwerte 8 und 9
39
19,3
100,0
60_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten
Zusammenfassung der
Untersuchungsergebnisse
Insgesamt lässt sich festhalten, dass mit zunehmender Neigung zu aggressivem Verhalten auch
die Präferenz von subjektiv als aggressiv empfundener Musik stärker wird (Bestätigung der Hypothese 1.1.). Die Einfluss der Aggressivität auf die
Präferenzen zu den erhobenen Musikstilen scheint
dagegen nur relativ gering zu sein. Hier ergibt sich
nur eine signifikante Abhängigkeit bei Schlagermusik, die sich als geschlechtsspezifisch erweist
(vgl. Kapitel 6.2.). Obwohl darüber hinaus bei
mehreren anderen Musikrichtungen durchaus
weitere (varianzanalytisch nicht signifikante)
Tendenzen zu beobachten sind, kann Hypothese 1
(Die Präferenz von bestimmten Musikstilen ist bei
Jugendlichen abhängig vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”.) im Gegensatz zu Hypothese 1.1. (Je stärker das Persönlichkeitsmerkmal
„Aggressivität” bei Jugendlichen ausgeprägt ist,
desto stärker präferieren sie subjektiv als aggressiv empfundene Musik.) nicht eindeutig als bestätigt angesehen werden.
Deutlich zeigt sich auch, dass Musikpräferenzen
recht stark situationsabhängig sind. Während sich
in Situationen der Trauer ein recht deutlicher
Wunsch nach langsamer, weicher, friedvoller,
Als hoch signifikant abhängig vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” erweisen sich die
musikalischen Präferenzen in Situationen des
Ärgers (Bestätigung der Hypothese 2.2.). Jugendliche mit einer hohen Neigung zu aggressivem
Verhalten wünschen sich in dieser Situation deutlich härtere, aggressivere und erregendere sowie
tendenziell schnellere Musik als Jugendliche mit
einer geringeren Neigung (vgl. Kapitel 6.3.2.).
Deutlich wird in Kapitel 6.3.4. zudem, dass Musik
bei einigen Jugendlichen auch dazu benutzt wird,
vorhandenen Ärger in vielleicht sogar lustvoller
Form auszuleben. Diese Jugendlichen weisen im
Durchschnitt eine vergleichsweise hohe Neigung
zu aggressivem Verhalten auf. In Situationen der
Trauer hängen die Musikpräferenzen von Jugendlichen dagegen kaum von der „Aggressivität” ab
(vgl. Kapitel 6.3.3.). Hier läßt sich lediglich beobachten, dass die Präferenz von trauriger Musik bei
Jugendlichen mit hoher Neigung zu aggressivem
Verhalten vergleichsweise stark ausgeprägt ist.
Darüber hinaus wünschen sich männliche Jugendliche mit einem höheren Maß an Aggressivität
tendenziell lebhaftere Musik. Weibliche Jugendliche mit geringerer Neigung zu aggressivem Verhalten lassen eine stärker ausgeprägte Vorliebe für
beruhigende Musik erkennen. Die Hypothese 2.3.
(Die musikalischen Präferenzen von Jugendlichen
in Situationen der Trauer sind abhängig vom
Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”.) wird
demzufolge nicht eindeutig bestätigt. Hypothese
2.4. (Je stärker das Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” bei Jugendlichen ausgeprägt ist, desto
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_61
GEGEN DEN TREND ’2001
Dieses Ergebnis kann man dahingehend interpretieren, dass die empfundene Aggressivität eines
Musikstücks für Jugendliche mit einer höheren
Neigung zu aggressivem Verhalten ein wichtiges
Kriterium für die Präferenz dieser Musik ist. Diese
Jugendlichen präferieren ein Musikstück folglich
unter anderem aufgrund der empfundenen Aggressivität. Jugendliche mit einer geringeren
Neigung präferieren evtl. dieselbe Musikrichtung,
ohne diese jedoch als aggressiv zu empfinden.
Denn schließlich resultiert die Beurteilung der
Musik hinsichtlich ihrer Aggressivität immer aus
einer subjektiven Einschätzung.
beruhigender, gefühlvoller und eher trauriger
Musik abzeichnet, sind in Situationen des Ärgers
bis auf eine leichte Tendenz zu lebhafter und
gefühlvoller Musik keine einheitlichen Musikpräferenzen festzustellen. Die Hypothese 2.1.
(„Die musikalischen Präferenzen von Jugendlichen
in Situationen des Ärgers unterscheiden sich von
den musikalischen Präferenzen in Situationen der
Trauer.”) wird also bestätigt.
Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten
aggressiver und erregender soll die Musik in stark
emotional geprägten, subjektiv als negativ bewerteten Situationen sein.) bestätigt sich in Situationen des Ärgers, in Situationen der Trauer hingegen
nicht.
GEGEN DEN TREND ’2001
In beiden Situation treten starke Abweichungen
von den durchschnittlichen Musikwünschen fast
ausschließlich in der Gruppe mit der höchsten
Neigung zu aggressivem Verhalten (Gruppe 4)
auf. Es ist zu vermuten, dass sich bei Jugendlichen
mit einer weit unterdurchschnittlichen Neigung
zu aggressivem Verhalten gegenläufige Effekte
abzeichnen, wodurch die bereits in dieser Untersuchung an mehreren Stellen festgestellte Abhängigkeit der situativen Musikpräferenzen vom
Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” noch
deutlicher werden würde. Da jedoch keiner der
Jugendlichen in dieser Untersuchung eine weit
unterdurchschnittliche Neigung zu aggressivem
Verhalten aufweist23, müsste man diese Annahme
in einer weiterführenden Studie überprüfen.
Aus den dargestellten Clusterprofilen der Situation
Ärger24 wird ersichtlich, dass es unterschiedliche
Arten der Emotionsbewältigung durch Musik gibt,
die durch verschiedene emotionale und kognitive
Verläufe gekennzeichnet sind. Ein bestimmtes
Grundgefühl wie z.B. Ärger soll durch Musik noch
verstärkt werden oder – im Gegenteil (wahrscheinlich hauptsächlich bei als unangenehm empfundenen Gefühlszuständen) – abgeschwächt oder in
eine konträre, „positive” Laune verwandelt werden. Auch diese musikalischen Bewältigungsstrategien in Situationen des Ärgers erweisen sich
als hoch signifikant abhängig vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”. An dieser Stelle wird
allerdings ebenso erkennbar, dass musikalische
Präferenzen kein Indikator für die Neigung zu
aggressivem Verhalten von Jugendlichen sind (vgl.
Kapitel 6.3.4.). In der Situation Trauer ergibt sich
auch im Zusammenhang keine signifikante Abhängigkeit.
62_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Wie vermutet zeigt sich insgesamt auch, dass die
Umgangsweisen mit Musik von Jugendlichen
abhängig vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” sind (Hypothese 3). Varianzanalytisch ergibt
sich hier insgesamt ein schwach signifikanter
Effekt (vgl. Kapitel 6.4.). Besonders hervorzuheben ist diesem Kontext die hoch signifikante
Abhängigkeit bei der stimulativen Hörweise. In
überraschender Deutlichkeit wird bestätigt, dass
Jugendliche mit einer hohen Neigung zu aggressivem Verhalten dazu tendieren, mit Musik verstärkt
stimulativ umzugehen (Hypothese 3.1.). Zudem
gehen weibliche Jugendliche mit hoher Aggressivität weniger stark konzentriert und „aggressivere”
männliche Jugendliche stärker assoziativ mit
Musik um. Da sich in anderen Studien zeigte,
dass männliche Jugendliche allgemein stärker als
weibliche Jugendliche an Gewalt in Videoclips
interessiert sind und sich in dieser Studie eine
signifikante Korrelation zwischen der Präferenz
von „aggressiver” Musik und der assoziativen
Hörweise ergibt, erscheint es mir möglich, dass in
den Köpfen von männlichen Jugendlichen mit
höherer Neigung zu aggressivem Verhalten beim
Hören von „aggressiver Musik gelegentlich z.B.
Erinnerungen an gewalttätige Filmszenen aktiviert
werden.
Nicht bestätigt hat sich allerdings die vermutete
Abhängigkeit der kompensatorischen Hörweise
vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”
(Hypothese 3.2.). Die Jugendlichen mit einer
hohen Neigung zu aggressivem Verhalten nutzen
Musik nicht stärker zur Verdrängung oder Verarbeitung von negativen Erlebnisinhalten als Jugendliche mit einem geringen Maß an Aggressivität.
Betrachtet man Tabelle 25, so wird deutlich, dass
die Jugendlichen mit der höchsten Neigung zu
aggressivem Verhalten mit Musik ebenso stark
kompensatorisch wie auch stimulativ umgehen,
bei den anderen Jugendlichen dagegen eine kompensatorische Hörweise jeweils deutlich stärker
ausgeprägt ist. Dieses Ergebnis könnte darauf
Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten
lichkeitsmerkmal „Aggressivität” an mehreren
Stellen sehr deutlich. Aufgrund der Untersuchungsdurchführung in Jugendzentren muss jedoch davon ausgegangen werden, dass einige
Ergebnisse zum Teil aus der in dieser Hinsicht
vielleicht etwas spezifischen Stichprobe resultieren.
Sehr deutlich wird insgesamt der Einfluss des
Stellenwerts von Musik auf die musikalischen
Umgangsweisen. Die „überdurchschnittlichen”
MusikliebhaberInnen gehen mit Musik wesentlich
vielfältiger um, als die Jugendlichen, für die Musik
einen unterdurchschnittlichen Stellenwert hat. Es
ist anzunehmen, dass die scheinbar vorhandene
intensivere Beziehung der MusikliebhaberInnen
zur Musik auch eine stärkere Wirkungsweise z.B.
im Sinne einer Kompensation bedingt. Als bestätigt anzusehen ist daher die Hypothese 3.4. (Bei
Jugendlichen mit einer hohen Neigung zu aggressivem Verhalten ist die Tendenz, mit Musik verstärkt kompensatorisch umzugehen, stärker
ausgeprägt, wenn Musik einen hohen Stellenwert
einnimmt.), auch wenn die Ausprägung der Zustimmung zur kompensatorischen Umgangsweise
mit Musik ausschließlich vom Stellenwert von
Musik (und nicht vom Persönlichkeitsmerkmal
„Aggressivität”) abhängig ist. Die stimulative
Hörweise erweist sich bei Jugendlichen mit hoher
Neigung zu aggressivem Verhalten als nur vom
Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” und nicht
vom Stellenwert von Musik abhängig, so dass
Hypothese 3.3. (Bei Jugendlichen mit einer hohen
Neigung zu aggressivem Verhalten ist die Tendenz,
mit Musik verstärkt stimulativ umzugehen, stärker
ausgeprägt, wenn Musik einen hohen Stellenwert
einnimmt.) nicht als bestätigt betrachtet werden
kann.
Allgemein kann jedoch festgestellt werden,
dass viele Ängste vor der alleinigen aggressionsauslösenden Wirkung spezifischer Musik unbegründet sind. Aus den bislang vorliegenden
Befunden können allerdings noch keine endgültigen Schlussfolgerungen gezogen werden, so dass
die Frage nach den Wirkungen noch nicht eindeutig zu beantworten ist.
Fazit
In der Studie von Carsten Stöver zeigt sich die
Abhängigkeit des Musikkonsums vom Persön-
Die Befragung ergab drei Gruppen von Musikpräferenzen („Cluster“): die „Freunde gitarrenlastiger
Rockmusik“ (50 Prozent), „Technopop-Fans“ (25
Prozent) und „Liebhaber angesagter Musikstile“
(25 Prozent). Auf der „Aggressivitätsskala“ unterschieden sich diese drei Gruppen nicht signifikant.
In Situationen von Ärger oder Trauer setzen die
Jugendlichen aber eindeutig unterschiedliche
Musik ein. Je höher die Neigung zu aggressivem
Verhalten ausgeprägt ist, umso mehr neigen die
Jugendlichen auch dazu, Ärger mit aggressiver
Musik zu verarbeiten, während in Situationen von
Trauer der Wunsch nach trauriger Musik bei den
Aggressiven signifikant stärker ausgeprägt ist als
bei den weniger Aggressiven. Allerdings konnte
nicht festgestellt werden, dass Musikpräferenzen
etwas über Persönlichkeitsmerkmerkmale aussagen, d.h. vom Hören aggressiver Musik kann nicht
auf eine Neigung zu aggressivem Verhalten geschlossen werden. Hingegen war zu konstatieren,
dass Jugendliche mit Neigung zu aggressivem
Verhalten Musik eher „stimulativ“ einsetzen und
auch Musik eher „assoziativ“ hören als andere
Jugendliche.
André Medeke
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_63
GEGEN DEN TREND ’2001
hindeuten, dass insbesondere Jugendliche mit
hohem Maß an Aggressivität Musik – wahrscheinlich in Abhängigkeit von der Situation sowie von
individuellen Faktoren – gleichermaßen zum
„Dampfablassen” im Sinne eines angestrebten
Aggressionsabbaus wie auch zur „Aufstachelung”
und weiteren Anheizung nutzen.
Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten
1
2
Dietmar Portals: Aggression als musikalische
Metapher und ihre Wahrnehmung – Ein alternativer Ansatz zur Erklärung der Entstehung
von Aggressionen durch Musik. Hausarbeit im
Hauptseminar: ,,Mediengewalt. Von Opfern,
Tätern und sonstigen Betroffenen”/Wintersemester 1998/99
3
Dietmar Korthals: a. a. O.
4
Der Vorfall ist ansatzweise, allerdings leider
ohne konkret auf die Diskussion um die Musik
einzugehen, dokumentiert in: Didion, Joan: Überfall im Central Park. Eine Reportage.(Dt. Übersetzung von Eike Schönfeld). München 1991.
5
6
GEGEN DEN TREND ’2001
Die Welt zertrümmern? Eine empirisch quantitative Untersuchung zum Zusammenhang von
Musikkonsum und aggressivem Verhalten,
Oldenburg 1999. Von: Carsten Stöver, Mittellinie
185a, 26160 Bad Zwischenahn
Martin Hufner: Musik und Gewalt. Rundfunksendung von Bayern2Radio. Sendetermin:
07.04.2000/20:05
Vgl. hierzu auch Müller, Renate: Soziale Bedingungen der Umgehensweisen Jugendlicher
mit Musik. Theoretische und empirisch-statistische Untersuchung zur Musikpädagogik.
Essen: Verlag Die Blaue Eule 1990. S.31ff.;
sowie Münch, Thomas: Was ‘macht’ eigentlich
die populäre Musik im Radio? In: Musikpädagogische Biographieforschung. Fachgeschichte
– Zeitgeschichte – Lebensgeschichte. Hrsg.:
Rudolf-Dieter Kraemer. Essen: Verlag Die Blaue
Eule 1997. S.350 Vgl. Kapitel 2.3.2. und 3.2.3.
7
Vgl. Kapitel 3.2.
8
Vgl. Stöver, Carsten: a. a. O. Kapitel 3.3
9
Vgl. Stöver, Carsten: a. a. O, Kapitel 4
64_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
10
Das genaue Verfahren wird beschrieben bei:
Stöver, C.: a. a. O. Kapitel 4.1 – 4.2
11
Vgl. auch Bastian, Hans Günther: Methoden der
empirischen Sozialforschung in Musikpsychologie und Musikpädagogik. In: Musikpsychologische Forschung und Musikunterricht. Hrsg.:
Rudolf-Dieter Kraemer. Mainz: Schott 1983. S.113.
12
Wer sich für die Mess- und Prüfverfahren und
Methoden interessiert: Vgl. Stöver, C.: a. a. O.
Kapitel 5
13
Vgl. Fahrenberg, Jochen & Hampel, Rainer &
Selg, Herbert: Das Freiburger Persönlichkeitsinventar FPI. Test und Handanweisung in der 5.,
ergänzten Auflage. Göttingen & Toronto & Zürich: Hogrefe Verlag 1989. S.87.
14
ebd. S.87
15
Vgl. ebd.
16
18-jährige Gymnasiastin aus Oldenburg, Fragebogen Nr. 17.
17
19-jährige Frau aus Oldenburg, Realschulabschluß, Fragebogen Nr. 93.
18
Lüdtke, Hartmut: Jugendliche in organisierter
Freizeit. Ihr soziales Motivations- und Orientierungsfeld als Variable des inneren Systems
von Jugendfreizeitheimen. Teil 2 der Untersuchung von Jugendfreizeitheimen. Weinheim
& Basel: Beltz 1972. S.329.
19
Vgl. Krisam, Raymund & Tegethoff, Hans Georg:
Jugendfreizeitzentrum und soziales Umfeld. Ein
Lehrforschungsprojekt zur stadtteilorientierten
Jugendarbeit. Neuwied & Darmstadt: Luchterhand 1977.
20
ebd. S.66.
Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten
21
Vgl. Liebel, Manfed: Überlegungen zum Praxisverständnis antikapitalistischer Jugendarbeit.
In: Deutsche Jugend, München, 18 (1971) 6,
S.28-34.
22
Grauer, Gustaf: Jugendfreizeitheime in der Krise.
Zur Situation des sozialpädagogischen Feldes.
Teil 1 der Untersuchung von Jugendfreizeitheimen. 2.Auflage. Weinheim & Basel: Beltz
1975.
23
Insbesondere sind hier keine Jugendlichen mit
FPI-Skalenwerten von 1 und 2 vertreten (vgl.
Kapitel 4.1.1.).
24
wie auch aus den nicht dargestellten Clusterprofilen der Situation Trauer
GEGEN DEN TREND ’2001
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_65
GEGEN DEN TREND ’2001
Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten
66_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
›› Gewaltbereite
Mädchen
Gewaltbereite Mädchen
GEGEN DEN TREND ’2001
Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit von Mädchen ist ein Thema, dass noch tief im Dunkeln
liegt. Ein Grund dafür ist sicherlich die statistisch
sichtbare höhere Beteiligung von Jungen an Gewalttaten. Darüber hinaus handelt es sich bei der
Erforschung dieses Themenkomplexes fast um ein
Tabuthema. Feministische Forscherinnen befürchten, dass Untersuchungen zur Mädchengewalt
angesichts des erheblichen Gefälles zur Jungengewalt und der Tatsache, dass Mädchen häufiger
Opfer als Täterinnen sind, zu einer überhöhten
öffentlichen Aufmerksamkeit und somit zu einer
verzerrten Wahrnehmung der gesellschaftlichen
Realität führen. Ein Beispiel liefert der SPIEGEL im
November 1998 mit der Schlagzeile „Brutalität
unter Jugendlichen ist nicht länger Domäne von
Jungen – immer mehr Mädchen prügeln und foltern“.
Außerdem können Themen wie Einschränkungen
und Diskriminierungen von Mädchen verdrängt
und damit der Blick auf „das Wesentliche“ verloren gehen, auf die Bedingungen und Mechanismen, die traditionelle Weiblichkeitsbilder und
Geschlechterhierarchien erzeugen und reproduzieren (Bruhns/Wittmann, 1999). Derartige Bedenken
sind sicherlich berechtigt und verlangen einen
sensiblen Umgang mit Forschungsergebnissen.
Mädchenforschung und Mädchenarbeit, die an
den Lebenssituationen und –perspektiven von
Mädchen ansetzt und Unterschiede zwischen
Jungen und Mädchen, aber auch zwischen den
Mädchen selber herausarbeitet, kann und will
gewaltbereite Mädchen nicht übergehen. Denn
Gewaltbereitschaft ist eine möglicherweise weibliche Ausdrucksform, mit der Belastungen, Widersprüche und Ambivalenzen in der Lebenswelt
„verarbeitet“ werden.
Bislang beziehen sich Erkenntnisse und Handlungsansätze überwiegend auf gewaltbereite und
gewalttätige Mädchen in rechtsextremen Gruppen.
68_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Das Projekt „Starke Mädchen
gegen Rechts“
So wurde z.B. die Evangelische Fachhochschule
Rheinland-Westfalen-Lippe vom nordrhein-westfälischen Ministerium für Gleichstellung beauftragt,
mädchenspezifische Angebote zu erarbeiten und
zu erproben, um der Jugendarbeit Impulse für die
Arbeit mit gewaltbereiten Mädchen geben zu können. Die Evangelische Fachhochschule führte das
Projekt gemeinsam mit den Mädchenzentren Gelsenkirchen und Gladbeck von 1994 bis 1996 durch.
Ein Projektteam entwickelte und führte in 18 Monaten 14 Teilprojekte mit insgesamt 120 Mädchen
und jungen Frauen im Alter von 6 bis 25 Jahren an
Schulen, einer Jugendwerkstatt und Mädchenzentren durch. Die Teilprojekte umfassten Zeiträume zwischen einer Woche und 18 Monaten, die
Gruppengröße lag zwischen 5 und 26 Teilnehmerinnen.
Hintergrundwissen über
gewaltbereite Mädchen
Um im Vorfeld mehr über die Zielgruppe der gewaltbereiten Mädchen zu erfahren, wurde der
aktuelle Forschungsstand ausgewertet und Gespräche mit 127 Einzelpersonen und Einrichtungen
der Jugendarbeit geführt, sowie auf Arbeitserfahrungen aus Projekten der akzeptierenden
Sozialarbeit mit gewaltbereiten Jugendlichen
zurückgegriffen.
Für dieses Projekt stand im Vordergrund folgendes
Verständnis von Rechtsextremismus:
Ein Syndrom aus folgenden Dimensionen:
• Akzeptanz von Gewalt als Konfliktlösungsmuster
• Autoritative bzw. antidemokratische Orientierungsmuster
Gewaltbereite Mädchen
• Ideologie der natürlichen Ungleichheit bzw.
Ungleichwertigkeit der Menschen
• Schätzungen gehen von ca. 500 – 2500 organisierten Rechtsextremistinnen aus.
• Indifferentes bis positives Verhältnis zum Nationalsozialismus
• Geschlechtsspezifische Differenzierung: deutlich weniger Mädchen und Frauen tendieren zu
autoritativen und/oder gewaltakzeptierenden
Verhaltensmustern.
Unterschieden wurde zwischen dem manifesten,
messbaren Bereich (Mitgliedschaft, Wahlverhalten) des Rechtsextremismus und dem Bereich
des latenten, indirekt zugänglichen Rechtsextremismus, der sich an Einstellungen, Sympathien,
unbewussten Orientierungsmustern zeigt. Letzterer war für dieses Projekt vorrangig von Bedeutung.
Warum sind Mädchen und Frauen
in der rechtsextremen Szene zu
finden?
Mögliche Ursachen:
Auf der Suche nach spezifischen Anschlussstellen
des Rechtsextremismus in der weiblichen Psyche
und den weiblichen Lebenslagen wurde ein gemeinsamer Schlüssel immer deutlicher: das Phänomen der Unsicherheit.
Ursachen:
in psychischer Disposition, in der sozial-ökonomischen Situation, in der Unklarheit moderner weiblicher Lebensentwürfe oder in der Kombination
aus allem?
In empirischen Untersuchungen (Utzmann-Krombholz,1994, 1045 Befragte; Birsl,1994, 469 Befragte) wurden bei den befragten Jugendlichen
zwischen 14 und 24 Jahren deutliche Affinitäten zu
rechtsextremem Gedankengut sowie rassistische
und autoritative Einstellungen gefunden.
• Weibliche Mitgliedschaften in rechtsextremen
Parteien: 20-30% (=ca. 11-17000 weibl. Mitglieder)
• Rechtsextreme Mädchen wie die „Reenies“,
„Skingirls“ oder „Faschobräute“ sind teils
organisiert, teilweise auch nicht.
Zuschlagen als präventive Methode:
• Der Ruf als gewalttätiges Mädchen schützt vor
Angriffen und sexueller Anmache und verschafft
Respekt. Zuschlagen als präventive Methode,
sich die Gewalt anderer vom Leib zu halten.
„Haben sie erst mal den Ruf als „Gewaltelse“,
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_69
GEGEN DEN TREND ’2001
• Organisationen am rechten Rand: ca. 1-5%
aktive Mädchen/Frauen
Gewaltakzeptanz und eigene Gewaltbereitschaft
sind bei Mädchen zu beobachten, die unter ungünstigen sozioökonomischen Bedingungen
aufwuchsen, häufig verbunden mit der Prägung
durch gewaltträchtige Familienmillieus. Die Mädchen entwickeln in der Regel trotz ihrer vergleichbaren Opfer- und Benachteiligungserfahrungen
keine Solidarität miteinander, sondern konkurrieren um Chancen auf den Arbeitsmarkt und um
Männer, die ihnen Anerkennung, Schutz, Geld etc.
verschaffen sollen.
Gewaltbereite Mädchen
dann traut sich so schnell niemand an sie ran,“
(eine Sozialarbeiterin). Der Wunsch, gewalttätig
zu sein, entwickelt sich oft aus Unterlegenheitsgefühlen und Opfererfahrungen.
• Gewalttätig sein wird bei Mädchen z.T. auch mit
Gleichberechtigung gleichgesetzt. „Wenn Jungs
das können, warum sollen Mädchen das nicht
auch können?“
• Ursachen für die Abwertung alles „Andersartigen“, Vorurteilsstrukturen und antidemokratischen Orientierungen: Weitergabe von
Einstellungen und Handlungsmustern, die ihnen
in ihren Familienmillieus vorgelebt wurden.
• Zum Teil verarbeiten die Mädchen durch ihre
Abwehrhaltung ihre psychischen Verunsicherungen und/oder passiven Gewalterfahrungen und
versuchen, aus rassistischen und/oder autoritativen Einstellungen Sicherheit und Stärke zu
beziehen.
GEGEN DEN TREND ’2001
• In der antidemokratischen Einstellung spiegeln
sich vor allem die Erfahrungen der eigenen
öffentlichen Einflusslosigkeit und Ohnmachtserfahrungen in Schule, Stadtteil wie auch in der
„großen Politik“.
Allen Mädchen gemeinsam ist die Lebensphase
der Pubertät und damit u.a. die Auseinandersetzung mit und Übernahme der eigenen Geschlechtsrollen sowie die Entwicklung einer biographischen Perspektive. Für Mädchen ist dieses
ein besonderer Balanceakt. Es zeigen sich deutliche Veränderungen bei der „typischen“ Frauenrolle, die als ein „Sowohl als auch“ beschrieben
werden können. Zu der herkömmlichen Rolle als
fürsorgliche Mutter und Hausfrau kommen Erwerbsarbeit und ein Leistungs-, Konkurrenz- und
Selbstständigkeitsdenken hinzu. Die Doppelrolle
der unselbstständigen-schutzbedürftigen, aber
auch verführerischen Frau wird erweitert durch
70_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Orientierungen an Normen wie sexuelle Selbstbestimmung, Freiheit und Emanzipation. „Mädchen
werden ermutigt, erfahren aber oftmals in der
sozialen Wirklichkeit, dass ihnen doch nur der
zweite Platz gebührt“ (Mogge-Grotjahn, 1992).
Mädchen sollen sich vor Männern in acht nehmen
und sich gleichzeitig von ihnen beschützen lassen.
Mit alldem ist eine starke Verunsicherung, häufig
das Gefühl des Unzulänglichseins verbunden,
dass dazu führen kann, das eigene Stärken und
Fähigkeiten abgewertet werden. Die genannten
Balanceakte und Suchbewegungen bieten Anknüpfungspunkte für rechtsgerichtete Orientierungen. Das Gefühl des Unzulänglichseins und der
Hilfebedürftigkeit wird von rechtsextremen Ideologien aufgegriffen und durch feste Zuschreibungen
von Qualitäten überspielt. So wird in den meisten
rechten Szenen die Mädchen- und Frauenrolle als
Mutterrolle aufgewertet. Angeboten werden Sicherheit, klare Prioritäten, Zugehörigkeitsgefühle,
die eine Abmilderung oder Auflösung der weiblichen Balanceakte versprechen. Das führt durchaus
auch zu widersprüchlichem Verhalten bei Mädchen: einerseits den starken Mann toll finden und
alles für ihn tun, andererseits selber stark und
auch gewalttätig sein zu wollen.
Ziel des Projektes
Die konkrete Projektarbeit zielte darauf ab, Einstellungen, Verhalten und Wünsche von Mädchen
an ihren Lebensorten näher kennenzulernen und
durch inhaltliche Angebote hieran anzuschließen.
Die rechtsorientierten und gewaltbejahenden
Einstellungen sollten nicht durch Belehren oder
durch Instruktionsarbeit zu verändern versucht
werden, sondern es sollte durch Möglichkeit
zum Erleben von alternativen Erfahrungen auf
das Selbstbewusstsein der Mädchen, ihr Verhaltens- und Einstellungsrepertoire Einfluss genommen werden. Außerdem sollten die Belange der
Mädchen in der kommunalen Öffentlichkeit stärker
ins Bewusstsein kommen. Dahinter stand die
Gewaltbereite Mädchen
Überlegung, dass durch öffentlich wirksame
Aktivitäten die positiven Effekte für das Selbstbewusstsein der Mädchen besonders groß sein
könnten.
Umsetzung
Klar war, dass Mädchen aus den gut organisierten,
teils militanten rechtsextremen Organisationen
und Parteien mit sozialarbeiterischen Angeboten
nicht ohne weiteres erreicht würden. Erreicht
werden sollten Mädchen aus der Jugendszene, die
Affinitäten zu rechtem Gedankengut aufweisen
und gewaltbejahend bzw. –bereit sind. Kontakte
wurden geknüpft über die Jugendzentren, Schulen,
Einrichtungen des betreuten Wohnens und einer
Jugendwerkstatt, in der Jugendliche betreut werden, die in der Schule die Klassen 7-9 erreicht
haben und als nicht berufsreif, aber förderungsfähig gelten. An verschiedenen Schulen und der
Jugendwerkstatt wurden für das Projekt MädchenAGs eingerichtet, an denen die Teilnahme freiwillig
war, die aber auf die Schulstunden angerechnet
wurden. Andere Mädchengruppen fanden sich
projektbezogen und wurden in den Mädchenzentren durchgeführt. In einem Bildungszentrum
für arbeitslose Jugendliche wurde ebenfalls eine
Mädchengruppe eingerichtet.
Vorstellung vom Teilprojekt
„Straßenbefragung“
Ziel:
Auseinandersetzung mit einem Thema wie z.B.
„Vorurteile gegenüber Ausländern“
• Die Aktion kann mit Vor- und Nachbereitung in
sich geschlossen sein und dementsprechend
geplant werden.
• Alle können sich beteiligen. Es ist günstig, wenn
die Mädchen nicht alleine losziehen, sondern
sich in Kleingruppen zusammentun, in denen sie
die Umfrage auch vor- und nachbereiten.
Instruktionen:
Die Umfrage muss inhaltlich mit den Mädchen
vorbereitet werden: Wieviele Fragen und welche
Fragen sollen gestellt werden? Wie verhalte ich
mich gegenüber den befragten Personen? Wie
beende ich ein Interview u.v.a.m. In Rollenspielen
werden die Interviews vorbereitet, auch kritische
Situationen können durchgespielt werden.
Wirkungen:
Die Aktion Straßenbefragung und das Formulieren
der Ergebnisse auf Wandzeitungen setzte bei den
Mädchen eine Auseinandersetzung mit eigenen
und fremden Vorurteilen in Gang. Auch eigene
Erfahrungen von Macht und Ohnmacht, Angst und
Gewalt konnten nach der gemeinsam durchgeführten Aktion intensiver und offener als in der Vorbereitung besprochen werden. Die Mädchen hatten
insgesamt von sich selbst den Eindruck, im Laufe
der Befragung mutiger geworden zu sein. Beispielsweise hatten sie zu Beginn nur ihnen sympathische Personen angesprochen, später auch
andere. Besonders intensiv beschäftigte sie die
Frage, warum nur wenige der Befragten aktiv
eingreifen würden, wenn andere Menschen bedroht werden. Hieran schlossen sich Gespräche
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_71
GEGEN DEN TREND ’2001
• Die Form der Straßenumfrage lässt die Mädchen
die Hemmschwelle gegenüber ihnen unbekannten Menschen überschreiten bzw. ein Gefühl
entwickeln, wie sie mit Fremden umgehen und
selbstbestimmt Distanz einhalten können. Begrüßenswert ist es, wenn die Ergebnisse veröffentlicht werden (z.B. Schülerzeitung, lokale
Tageszeitung, Gespräch mit PolitikerInnen). Die
Veröffentlichung kann für die Mädchen eine
wichtige Erfahrung bedeuten, sie fühlen sich
ernst genommen und können etwas berichten.
Erfahrungsgemäß haben die Mädchen selber
Ideen, wie mit der Umfrage umgegangen werden soll.
Gewaltbereite Mädchen
der Mädchen darüber an, wie sie selbst sich in bedrohlichen Situationen verhalten würden oder
verhalten haben,
welche alternativen
Handlungsstrategien
es gibt.
worden, der als Prävention gegen Rechtsextremismus und Gewalt als Konfliktlösung, sowie gegen
Autoritarismus gewertet werden kann
Da die Mädchen
keine Vorerfahrung
mit geschlechtshomogenen Gruppen
und kaum Erfahrungen mit anderen als
frontalen Unterrichtsmethoden hatten,
war es wichtig,
durch Kennlern- und
Vertrauensübungen für eine Atmosphäre zu sorgen, in der sich alle zu Wort kommen lassen und
gegenseitig wahrnehmen konnten.
Literatur:
GEGEN DEN TREND ’2001
Ergebnisse des Gesamtprojektes
Insgesamt hat das Projekt dazu beigetragen, das
die Mädchen neue soziale Erfahrungen machen
konnten. Sie erlebten, dass sie nicht vereinzelt
und erfolglos sein müssen, dass sie auf Konkurrenz untereinander, auf Ressentiments und tendenziell feindliche Abgrenzungen gegen andere
nicht angewiesen sind. Die Erfahrungen des gemeinsamen Handelns in einer gleichgeschlechtlichen Gruppe und das Ernst-genommen-werden
haben die Sichtweisen der Mädchen verändert.
Deutlich wurde, dass ein großer Bedarf nach
Anregung und Reflexion besteht, um aus den
vorhandenen Unsicherheiten einen Ausweg zu
finden. Dadurch, dass die Belange der Mädchen
nachhaltig in das öffentliche Bewusstsein gerückt
wurden, ist ihr Selbstbewusstsein aufgewertet
worden und sie haben durch das Hinaustreten in
die Öffentlichkeit politische Strukturen kennenund anwenden gelernt. Hiermit ist ein wichtiger
Schritt in Richtung gelebte Demokratie getan
72_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Daniela Jeksties
Kirsten Bruhns/Svendy Wittmann
in: Recht der Jugend und des Bildungswesens,
Heft 3/99
Hilde Utzmann-Krombholz
Rechtsextremismus und Gewalt: Affinitäten und
Resistenzen von Mädchen und jungen Frauen,
Ergebnisse einer Studie.
Dokumente und Berichte 27 des Ministeriums
für die Gleichstellung von Frau und Mann NRW,
Düsseldorf.
Uschi Birsl
Rechtsextremismus: weiblich – männlich? Eine
Fallstudie, Opladen 1994
Hildegard Mogge-Grotjahn/ Martin Bellermann
Starke Mädchen gegen Rechts, Abschlußbericht
des Projektes Rechtsextremismus und Mädchenarbeit, Evangelische Fachhochschule Bochum,
1998
›› Sexuelle Gewalt
gegen Mädchen
und Frauen
Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen
Wege des Ausbruchs
Viele Mädchen und junge Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, haben keine öffentliche Stimme,
leben individuell mit ihren Biographien weiter. Um
dies zu durchbrechen, suchte das autonome Mädchenhaus Berlin ein Medium, das die Erlebniswelten der Betroffenen auf gefühlsmäßig ansprechende
Art der Öffentlichkeit nachvollziehbar machen
könnte. Wichtig war dabei, das neben dem Aufzeigen der strukturellen Gewalt und deren Auswirkungen auch Ausbruchsmöglichkeiten dargestellt
werden. Wenn Mädchen sich aus der erlebten
Gewaltsituation befreien und Risiken eingehen,
heißt dies Wachstum, Stärke und Kraft. Grundidee
war von Anfang an, die betroffenen Mädchen und
jungen Frauen in das Projekt mit einzubeziehen. Es
wurden vielfältige Workshops angeboten, wie Mal-,
Foto-, Bau- und Schreibworkshops. Die Ergebnisse
flossen in eine beeindruckende Ausstellung ein,
die mit dem Berliner Frauenpreis ausgezeichnet
wurde und die ausleihbar ist. Der Name der Ausstellung ist „Wege des Ausbruchs“.
GEGEN DEN TREND ’2001
Mädchen und jungen Frauen Raum zu geben, sich
auszudrücken, ist nicht nur eine Möglichkeit, um Gewalterlebnisse zu verarbeiten, sondern grundsätzlich Präventionsarbeit. Denn nur Mädchen, die ihre
Bedürfnisse und ihre Grenzen kennen und für sie
aktiv eintreten können, können sich gegen sexuelle Gewalt zur Wehr setzen. Ausdruck macht stark
gegen das immer noch „bestgehütete Geheimnis“.
Die Dunkelziffer bei sexuellem Missbrauch liegt
laut Bundeskriminalamt bei 1:15. Es wird angenommen, dass in der Bundesrepublik Deutschland
etwa jedes vierte Mädchen und jeder zwölfte
Junge sexuell missbraucht würden. Die Täter sind
zu 90 % männlich.
Sexuelle Gewalt fängt mit Grenzüberschreitungen
an, d.h. dort, wo die Intimsphäre des Mädchens
nicht beachtet wird, ihre Grenzen nicht akzeptiert
74_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
bzw. nicht wahrgenommen werden. Dazu gehören
auch für Mädchen alltägliche Situationen, wie z.B.
das gemeinsame Baden, die „zufälligen“ Berührungen, die Sprüche, Bemerkungen und Blicke von
Vätern, Bekannten, Lehrern u.a. in Bezug auf den
Körper, das enge Sitzen in Bus und Bahn. Mädchen erleben diese Situationen oft sehr widersprüchlich. Zum einen haben sie sehr wohl das
Gefühl, das die Situation nicht in Ordnung ist.
Doch gleichzeitig bewerten sie die Situation als
nicht so schlimm bzw. nehmen die eigenen Gefühle nicht so wichtig. Die Geschlechtsrollenzuschreibungen wirken hier auf fatale Weise: was
Männer dürfen (Grenzverletzungen begehen, sich
wichtig nehmen), dürfen Frauen noch lange nicht.
Die Folgen sexueller Gewalterfahrung können sein:
• Gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper,
• Schwierigkeiten, zu erkennen, was gut tut und
was nicht,
• verschütteter Zugang zu den eigenen Gefühlen,
Wünschen und Bedürfnissen,
• Schwierigkeiten, mit Nähe und Distanz, Vertrauen und Mißtrauen, umzugehen,
• unklares Gefühl zu den eigenen physischen und
psychischen Grenzen,
Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen
• Schwierigkeiten, „nein“ zu sagen,
Überlebensstrategien
• Gefühl von Ohnmacht, Ausgeliefertsein und
Schwäche
Verharmlosung: die Gewalterfahrung sich selbst
und anderen gegenüber verharmlosen; rationalisieren und Entschuldigungen für den Täter finden;
ignorieren
Mädchen mit sexuellen Gewalterfahrungen senden oft ausgesprochene und unausgesprochene,
direkte und indirekte Signale aus, mit denen sie
ihre Umgebung auf die sexuelle Gewalt aufmerksam machen wollen. Da die Signale häufig nicht
wahrgenommen werden, sind Mädchen gezwungen, Überlebensstrategien zu entwickeln. Diese
Abspaltung: um den Körper von Gefühlen zu
trennen und ihn dadurch nicht wahrzunehmen;
eine Fassade aufbauen (erfolgreich, souverän
und durchsetzungsfähig nach außen – Unsicherheit, Depression, Angst u.a. sind Gefühle im Innern)
Kontrolle: alles im Griff haben, pedantisch auf
Ordnung achten; Chaos, Unruhe und Krisen schaffen und gleichzeitig hervorragend zu managen;
erhöhte Wachsamkeit zeigen für die Bedürfnisse,
Konflikte anderer
Sicherheit: durch das Vermeiden von großer Nähe
in Beziehungen; durch eine selbstgegründete Familie; durch den Anschluß an strukturierte Gruppen
Humor: als ein Mittel, eine schützende Distanz herzustellen, oder negative Gefühle zu kanalisieren
Flucht: in Bücher, in den Schlaf, ins Fernsehen, in
Phantasien
Schlaflosigkeit: Nacht und Dunkelheit ausweichen, um am Tag zu schlafen, bedeutet Überschaubarkeit und Kontrolle
Selbstverletzung: als Ventil für die erlittenen
Grenzverletzungen
Sucht: Drogen, Medikamente, Alkohol; Essstörungen als Ablehnung des eigenen Körpers;
zwanghaftes Lügen als Folge des Schweigens;
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_75
GEGEN DEN TREND ’2001
haben verschiedene Seiten. Zum einen helfen sie
Mädchen, mit den ihnen zugefügten Verletzungen
überhaupt weiterleben zu können und stellen
daher einen wichtigen Schutz dar. Diese Strategien können sich im Laufe des Lebens zu Stärken
entwickeln. Zum anderen können sie aber auch zu
selbstzerstörerischen Handlungsmustern werden.
Die Notwendigkeit, mit Hilfe von Strategien zu
überleben, bedeutet auch, keinen wirklichen
inneren und äußeren Raum für die Verarbeitung
von Grenzverletzungen zu haben. Vielmehr können
diese Strategien neue Probleme schaffen.
Rastlosigkeit: um ständig beschäftigt zu sein,
immer etwas vorzuhaben, zu organisieren
Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen
zwanghaftes Stehlen als Versuch, sich etwas
zurückzuholen; Arbeitssucht
Suchen von Sexualität: als Wiederholungsmuster;
um Kommunikation, Zuneigung, Selbstwert zu
erfahren; um Macht und Kontrolle über andere zu
erleben;
Vermeidung von Sexualität: um der Konfrontation
mit der Erinnerung aus dem Weg zu gehen: aus
Angst, sich nicht abgrenzen zu können und die
Kontrolle zu verlieren.
Gefühl zeigen über Kreativität
Es zeigt sich, das Mädchen, die sexuelle Grenzverletzungen erfahren haben, ein großes Potential an
Kreativität besitzen. Haben Mädchen die Möglichkeit, diese einzusetzen und werden darin bestärkt,
so erhalten sie Anerkennung, die ihr Selbstwertgefühl stärkt.
GEGEN DEN TREND ’2001
Freies und experimentelles
Malen
Mit einem Malworkshop wird Mädchen Raum für
freies und experimentelles Malen angeboten.
Möglichst große Malflächen sollten zur Verfügung
stehen, um so das Gefühl zu vermitteln, auch im
wahrsten Sinne des Wortes Raum einnehmen zu
dürfen. Es sollte kein Leistungsdruck entstehen
und ausreichend Zeit zur Verfügung sein. Als
Rahmen sollten die Anleiterinnen Maltechniken
vorstellen, um den Einstieg zu erleichtern (z.B.
Papiere schichten, blind malen, Collagen kleben,
mit Farbe und Materialien experimentieren). In
Einzelgesprächen können die Mädchen während
des Malens technisch und gestalterisch beraten
werden. Sie fühlen sich ernst genommen und in
ihrer Arbeit wertgeschätzt. Die Mädchen malen so
lange, bis ein für sie befriedigendes Bild entsteht
(oft 4-6 Stunden). In einem Malworkshop erleben
die Mädchen, dass sie etwas erschaffen und
76_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
beenden können, was sie sich vorher nicht zugetraut hätten und worauf sie stolz sein können.
Wenn die Mädchen damit einverstanden sind,
können die Bilder auch öffentlich ausgestellt
werden.
Mädchenarbeit ist
Präventionsarbeit
Sie kann Mädchen Orientierungsmöglichkeiten
aufzeigen, um ihr eigenes Selbstbewusstsein zu
entwickeln, Stärke aufzubauen und Mut zu sich
selbst zu haben. Denn nur „starke Mädchen“ sind
in der Lage, sich gegenüber sexuellen Übergriffen
zu wehren.
Daniela Jeksties
Literatur:
„Wege des Ausbruchs“, Gewalt gegen Mädchen
und junge Frauen – Ausstellungskatalog 1997,
Hrsg.: Autonomes Mädchenhaus Berlin, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin
Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen
Wen Do - Weg der Frauen
Ausgangssituation
Täglich entwickeln Frauen und Mädchen eine
Vielzahl von Strategien sich gegen männliche
Abwertung und negativ empfundener Anmache zu
wehren. Das reicht von dem sich Entziehen und
Ertragen bis zur aggressiven Verbalattacke und ist
meistens mit Gefühl der Hilflosigkeit bei den
Mädchen und Frauen verbunden.
• Mädchen (gewaltsam) daran hindern, das
Jugendzentrum zu besuchen (fehlende Mäd-
• bei den Lerninhalten und methodisch-didaktischen Konzepten in der Schule Erfahrungen aus
weiblichen Lebenszusammenhängen negieren
bzw. nicht berücksichtigen.“
Dieses Zitat aus der Landesjugendring Broschüre
Wen – Do Materialien für die Mädchenarbeit beschreibt den gesellschaftlichen bzw. jugendarbeiterischen Alltag von Pädagoginnen. Sie reagieren
auf den Kontext, in dem Mädchen und junge Frauen eingebunden sind. Verschärfend kommt heute,
einige Jahre nach
Erscheinen der
Broschüre, dazu,
dass Mädchen
und junge
Frauen sich
in einer
Welt sehen,
in der alles
möglich ist, alles easy und Problembewusstsein
nicht zum Selbstverständnis von Mädchen gehört.
Mädchen von heute sind eigenwillig, selbstbewusste Zicken, sind laut, wissen was sie wollen
und wenn sie nichts wollen ist das auch OK. Unsere Gesellschaft gaukelt ihnen vor: „Alles ist möglich, wenn du nur willst.“ Und schiebt damit jedes
Scheitern auf eine individuelle Schiene: „Wenn du
es nicht schaffst, bist du selbst schuld!“ Ich sehe
darin eine Verstärkung der strukturellen Gewalt,
weil den Mädchen und jungen Frauen suggeriert
wird, dass es strukturelle Gewalt kaum noch gibt.
Wen Do als Weg der Frauen setzt genau hier an.
Mädchen und Frauen wird ein frauenspezifischer
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_77
GEGEN DEN TREND ’2001
In unserer gesellschaftlichen
Realität sind patriarchale
Strukturen verankert, die
das Männliche als Normalität und das Weibliche als
Abweichung von der
Norm erscheinen lassen
und damit als weniger
wertvoll und defizitär definieren. Dieses ist die
Grundlage der von Gewalt geprägten Beziehung
zwischen Frauen und Männern. Das äußert sich in
körperlicher Gewalt, d. h.: 1 „Mädchen werden
geboxt, geschlagen, geprügelt, in die Geschlechtsteile getreten, sexuell misshandelt und vergewaltigt. ... die psychische Gewalt wird ausgeübt durch
heruntermachende Bemerkungen, die sich auf die
Geschlechtszugehörigkeit beziehen, wie durch
eine sexistische Sprache, Witze, durch anzügliche
Bemerkungen, durch ein Nicht-Respektieren der
Grenzen eines Mädchens. Außerdem gibt es noch
die nicht unmittelbare oder spürbare strukturelle
Gewalt. Darunter sind Strukturen zu
verstehen, die Frauen und Mädchen in unserer Gesellschaft
benachteiligen, behindern, wirtschaftlich schlechter stellen und
vom Status her abwerten; in der
Jugendarbeit beispielsweise
chenangebote, kein
Mädchenraum,
Eingangsbereiche in
Jugendhäusern mit
„Laufsteg“-Situation für Mädchen)
Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen
Blick aufgezeigt und ein sich daraus
ergebendes individuelles Handeln
ermöglicht.
GEGEN DEN TREND ’2001
Geschichte und Prinzipien
Wen Do entstand vor ca. 20 Jahren in Kanada und
wurde von Frauen entwickelt, die sich intensiv mit
asiatischen Kampftechniken beschäftigten. Ihr
Anliegen war, aus den Kampfkünsten, die ursprünglich für Männer gedacht waren, eine frauenspezifische Form der Selbstverteidigung und
Selbstbehauptung zu entwickeln. Wen Do lebt vom
„mündlichen Prinzip“. Es wird ausschließlich von
Frauen an Frauen und Mädchen weitergegeben.
Das bedeutet, einen Form des Frauenwissens, zu
dem keine potentiellen Täter Zugang haben.
Dieses Element des „Frauenwissens“ stärkt Mädchen bzw. Frauen in ihrer Weiblichkeit. Wen Do ist
weiterhin ein praktisches Prinzip. Wen Do Trainerinnen verbinden
Theorie und
Praxis und
setzen bei
den
jeweiligen
individuellen Lebenssituationen der Teilnehmerinnen
an. Das erfordert z. B. eine altershomogene Struktur der Teilnehmerinnen in den Mädchenkursen.
Verständlicherweise sieht die Lebenswelt einer
12jährigen anders aus als die einer 16jährigen.
Um in den Mädchenkursen tatsächlich Erfahrungsund Lernräume für individuelle Handlungsspektren
zu ermöglichen, sind Altersbegrenzungen von
jeweils zwei Jahrgangsstufen (z.B. 10 bis 12 Jahren)
78_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
und Kursgrößen von nicht mehr als 14 Mädchen
üblich.
Das Besondere am Wen Do
Der Ansatz jeder Wen Do Trainerin
richtet sich nach ihrer Persönlichkeit
und Authentizität. Sie stellt sich den
Frauen und Mädchen mit ihrer Persönlichkeit ihrer Form der Selbstbehauptung und –verteidigung
zur Verfügung und zeigt ihnen
gleichzeitig auf, wie individuelle
Formen gefunden werden können.
Da jede Frau unterschiedliche
Reaktionsmuster hat, gibt es kein
einheitliches Konzept. Aber sicher sind Anteile der
körperorientierten und mental ausgerichteten Art
der Selbstbehauptung und –verteidigung zu gleichen Teilen vertreten.
Die Vermittlung von körperlicher Verteidigungstechnik in Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungskursen ist bei
vielen Anbietern z. B.
Polizeisportvereinen ein wesentlicher Teil. Zu
Wen Do Kursen
besteht der
wesentliche
Unterschied, dass
bei anderen Anbietern häufig Männer
den Teilnehmerinnen beibringen,
wohin sie Tätern treten sollen, um sich zu wehren. Sicher ist das auch wichtig, aber es macht auf
das Besondere eines Wen Do Kurses aufmerksam.
Die Vermittlung von mentalen Voraussetzungen
der Selbstbehauptung und Selbstverteidigung
von Frau und Mädchen ist das stärkste Element
jedes Kurses. Mentale Voraussetzung heißt: jede
Frau/jedes Mädchen muss wissen, wann und wie
Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen
sie N E I N sagt. Dazu gehört der Kontakt zu sich
selbst und eigene Grenzen zu spüren. Mädchen
und Frauen brauchen Erfahrungsräume, die frei sind
von potentiellen Tätern, in denen sie
ihrer individuellen
Strategien entwickeln und z. B.
rückgemeldet
bekommen,
wie ihr „Nein“
wirkt. In Wen Do
Kursen erfahren sie Stärkung von Frau zu Frau/
Mädchen auf femininer, mentaler Ebene.
Wen Do als Bildungsschwerpunkt
in der Mädchenarbeit
Noch ein Wort zur Durchführung. Wen Do ist kein
geschützter Begriff von sich aus. Deshalb empfehle ich, sich an das Netzwerk der Wen Do Trainerinnen zu wenden. Trainerinnen aus dem Netzwerk
stellen sicher, dass ihre Kurse ihre verabredeten
Standards beinhalten. Da alle Trainerinnen freiberuflich arbeiten, wird außerdem ein Preiskampf
vermieden. Es ist im übrigen
jeder Pädagogin zu
empfehlen, einen
Kurs bei der
Trainerin zu
besuchen,
die sie engagieren will.
Adressen und Kontakte sind über: Eva Viedt,
Ev. Stadtjugenddienst, Am Fallersleber Tore 9 in
38100 Braunschweig Tel. 0531/49017 und Daniela
Jeksties, Archivstr. 3 in 30169 Hannover Tel. 0511/
1241-693 zu erhalten.
Eva Viedt
1
Monika Wolff in: Wen – Do Materialien für die
Mädchenarbeit Seite 5, Hg. Landesjugendring
Niedersachsen e.V.
GEGEN DEN TREND ’2001
Wen Do Kurse sind Bildungsseminare, die eingebettet in die Mädchenarbeit sind. Sie beschränken sich nicht auf Tricks oder kurz zu
erlernende Techniken, sondern bieten den Einstieg
in Lernprozesse, die in einer fortlaufenden Mädchenarbeit eingebettet werden sollten. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und der
gesellschaftlichen Struktur, die die Identität mit
beeinflusst, ist für alle Bildungsträger eine notwendige Aufgabe. Die Einbindung in ein Konzept
emanzipatorischer, feministischer
Mädchenarbeit wäre wünschenswert. Allerdings sehe ich auch
Vorteile in einer gemischtgeschlechtlichen Jugendarbeit, durch das Anbieten von
Wen Do Kursen den Mädchen
einen geschlechtshomogenen Raum zur Identitätsfindung zu ermöglichen.
verteidigung und -behauptung schnell ein, dass
ein solcher Kurs sich ausschließlich an Mädchen
wendet. Und am Ende der Kurse steht immer
wieder der Wunsch in geschlechtshomoger Mädchengruppe zusammen zu bleiben. Häufig ein
Anfang einer kontinuierlichen Mädchengruppe.
Durch die Veranstaltung eines Wen Do Kurses
ergeben sich in der bestehenden Mädchenarbeit
besondere Chancen für kontinuierliche Gruppenarbeit. Mädchen sehen durch das Thema SelbstZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_79
GEGEN DEN TREND ’2001
Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen
80_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
›› Gewalt
und Jungen
Gewalt und Jungen (Jungen treten - Mädchen ziehen an den Haaren)
Einleitung
GEGEN DEN TREND ’2001
Denke ich an Gewalt, entstehen ganz automatisch
Bilder von randalierenden Skinheads, schlagenden
Vätern oder sich prügelnde Jungs auf dem Schulhof in meinem Kopf. Wahrscheinlich haben die
meisten Menschen
ähnliche Bilder vor
Augen. Was dabei
auffällt, diejenigen,
die Gewalt ausüben, sind männlich.
Das wird auch
durch statistische
Zahlen belegt. 90%
aller Tatverdächtigen Gewalttäter sind männlich, über 80% aller
Gefängnisinsassen in Niedersachsen sind männlich.
Ist Gewalt also reine Männersache? Berechtigte
Zweifel werden wach, wenn man die Ergebnisse
einer in NRW veröffentlichten Studie über die
Einstellungen von 14-24-jährigen Jugendlichen zu
Gewalt in Hinblick auf geschlechtsspezifische
Aspekte von Gewalt wahrnimmt. So lehnen zum
Beispiel 82% der Mädchen und 72% der Jungen
Gewalt rundweg ab. Eine normale Klopperei finden
doppelt so viele Jungen (26%) wie Mädchen (13%)
in Ordnung. Nicht alle Mädchen also lehnen Gewalt grundsätzlich ab. Gewalt äußert sich ja auch
in Form von Beleidigungen, emotionaler Ausbeutung, Erpressung und subtile Manipulation (psychische Gewalt). Viele Menschen vermuten, dass
Mädchen und Frauen auf diesem Gebiet Gewalt
ausüben (Buscotte). Weil es aber starke Unterschiede in der Einstellung zur Gewalt und in der
Ausprägung von Gewalt zwischen den Geschlechtern gibt, ist es nötig die geschlechtsspezifischen
Aspekte von Gewalt zu berücksichtigen. Vernünftige Gewaltprävention sollte sich also mit der
Frage beschäftigen, wie die unterschiedlichen
Geschlechter mit Gewalt umgehen, und welche
82_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Ursachen das hat. Dieser Bereich fällt in der öffentlichen Diskussion über die Ursachen von
Gewalt häufig unter den Tisch. Im Folgenden geht
es um die Gewalt von Jungen und jungen Männern
unter Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen Aspekte.
Gewalt ist vielschichtig. Einfache Erklärungen und
Begründungen reichen oft nicht aus, um das
Handeln von gewalttätigen Jugendlichen zu verstehen. Eine Dimension, die bei der Betrachtung von
Gewalt eine besondere Rolle spielt, ist die Frage
nach der aktiven oder passiven Gewalt. Jeder
Täter, der Gewalt ausübt, hat in seinem Leben
mehr als einmal die Erfahrung gemacht, was es
heißt, Opfer zu sein. Häufig ergibt sich eine gewalttätige Karriere aus den Gewalterfahrungen in
der Kindheit und Jugend. Und sei es nur durch das
negative Vorbild. Wie soll jemand, der als Kind
Schläge erhält, als Erwachsener gewaltfreie Konfliktlösungsmechanismen beherrschen? Es heißt,
vom Opfer zum Täter ist es nur ein kleiner Schritt.
Dieser Opfer-Täter Aspekt von Gewalt ist selten
klar zu trennen, sollte aber immer berücksichtigt
werden.
Das Thema Jungen und Gewalt lässt sich also
sowohl unter dem Blickwinkel Jungen als Opfer,
als auch unter dem Blickwinkel Jungen als Täter
betrachten.
Zwei Drittel der körperlichen Gewalttaten von
Jungen richten sich gegen Jungen. Auch beim
Thema sexuelle Gewalt gegen Jungen wird von
einer hohen Dunkelziffer ausgegangen. Es ist
Gewalt und Jungen (Jungen treten - Mädchen ziehen an den Haaren)
anzunehmen, dass auch Jungen sehr viel häufiger
Opfer von sexueller Gewalt sind, als bislang angenommen. Leider gibt es wenig genaue Untersuchungen.
gen und Ohnmachtserfahrungen nicht fertig werden.
Beschreibung von aktiver Gewalt
bei Kindern und Jugendlichen
Jungen sind aggressiver als Mädchen (Cains und
Cains bei Rohrmann). Sie initiieren mehr Konflikte
und sind häufiger deren Opfer. Im Konfliktfall
schlagen Jungen eher zurück als Mädchen. Gewalttätiges Handeln ist schon bei Kindern einer sehr
starken Differenzierung unterworfen. Wo bei
Mädchen bei aggressivem Verhalten sehr schnell
interveniert wird, geht es bei Jungen sehr häufig
noch als normal durch. Jungen sind aktiver, sie
versuchen in Raufereien „ihren Mann“ zu stehen
und ernten wenig Kritik, manchmal sogar offene
Zustimmung. Auf diese Weise bilden sich im Umgang mit Gewalt typisch weibliche und typisch
männliche Verhaltensmuster. Der Meinung, dass
Aggressivität ein angeborenes menschliches
Verhaltensmuster ist, kann entgegengesetzt
werden, dass es daneben, wie im Ausdruck von
Schmerz oder Hilflosigkeit, auch andere mögliche
Verhaltensmuster gibt. Es kommt nur darauf an,
diese zu erlernen. Ein Problem für Jungen besteht
allerdings darin, dass häufig die männlichen
Vorbilder fehlen. Neben der Mutter werden die
Kinder von Babysitterinnen, Erzieherinnen in
Kindertagesstätten und Grundschullehrerinnen
versorgt. Väter im Erziehungsurlaub sind immer
noch relativ seltene Ausnahmen. Was männlich ist,
lernen Jungen nicht von Vorbildern. Aber von wem
dann?
Von den vielen Ursachen für die Gewalt von Jugendlichen und jungen Männern sollen einige
wichtige Aspekte im folgenden erörtert werden.
Gewalt in der Familie
Eine wichtige Rolle in der Sozialisation von Verhaltensweisen spielen Peergroups. Gerade im
Miteinanderumgehen unter Jungen werden bestimmte gewalttätige Rituale toleriert. Allerdings
lassen sich nicht alle Peergruppen über einen
Kamm scheren. Häufig wird abweichendes Verhalten sanktioniert. Hyperaktive und aggressive
Jungen stehen auch in Gefahr, sozial isoliert zu
werden.
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_83
GEGEN DEN TREND ’2001
Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn,
wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten.
Dieser Vers aus den Sprüchen Salomos (Spr 13,
24) verdeutlicht, dass die Gewalt an Kindern, in
diesem Fall an Söhnen, schon eine sehr lange
Tradition hat. Wenn auch die körperliche Gewalt
an Kindern gesellschaftlich in den letzten Jahren
und Jahrzehnten immer mehr an Akzeptanz verloren hat, so sprechen doch die statistischen
Zahlen eine eindeutige Sprache. 1999 gab es in
der Bundesrepublik über 3000 angezeigte Fälle
von Kindesmisshandlung (http://www.bka.de).
Das ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs.
Schätzungen gehen für das Jahr 1990 von bis zu
300 000 Fällen von Kindesmisshandlungen aus
(Möller 1991 bei Rohrmann). Bei Gewalt gegen
Kinder sind, im Gegensatz zu den anderen Gewaltdelikten, Frauen mit einem relativ hohen
Anteil als Täterinnen vertreten (ca. 40%). Jungen
werden tendenziell häufiger geschlagen. Obwohl
Untersuchungen belegen, dass körperliche Strafen sich aggressionsfördernd erweisen, waren
1993 immer noch mehr als die Hälfte der Eltern
der Meinung, dass Kindern eine Ohrfeige ab und
an nicht schade. Nicht zwangsläufig entwickeln
sich später diejenigen Jungen am aggressivsten,
die am häufigsten misshandelt wurden. Aber
Gewalt ist für Jungen, viel stärker als für Mädchen,
ein Ventil, wenn sie mit Konflikten, Misshandlun-
Jungen und Gewalt
Gewalt und Jungen (Jungen treten - Mädchen ziehen an den Haaren)
Jugendgewalt
GEGEN DEN TREND ’2001
Im Jugendalter spielt Gewalt eine noch größere
Rolle als bei Kindern. Ob die Gewalt von Jugendlichen unter Jugendlichen tatsächlich zugenommen
hat, darüber gibt es in der Forschung keine Einigkeit. In Zeitungsberichten und im Fernsehen wird
dieser Eindruck vermittelt. Auch die akute permanente Gewalt von Rechts verstärkt diesen Eindruck
einer erhöhten Gewalt bei Jugendlichen. Ob sich
die Formen der Gewalt bei Jugendlichen verändert
haben, ob wir durch eine intensivere Berichterstattung in den Medien den Eindruck haben, es gäbe
mehr Gewalt unter männlichen Jugendlichen, oder
ob es tatsächlich wirklich mehr Gewalt gibt, das ist
nicht klar zu beantworten. Tatsache ist, dass
Gewalt vor allem bei männlichen Jugendlichen in
einem hohen Maß vorkommt. Das ist ein immenser
gesellschaftlicher Missstand.
Gewalt war auch immer schon ein Aufbegehren
gegen das Establishment, das besonders von
jungen Menschen beiderlei Geschlechts praktiziert
wurde und war somit eine besondere Form von
jugendlicher Gewalt. Die politisch motivierte
Gewalt rechter Jugendlicher gegen Ausländer und
Andersdenkende hat eine ganz andere Brisanz,
wenngleich auch hierbei das Aufbegehren gegen
die Erwachsenengesellschaft und die Ohnmachtsgefühle verursachenden Strukturen eine Rolle
spielen können. Die sich verändernde gesellschaftliche Erfahrungswelt ist für Jugendliche
unübersichtlicher und befremdender geworden.
Gerade bei Jungen bringen ein Verschwinden des
traditionellen Männerbildes und die Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt immense Verunsicherungen mit sich, die sich auch in gewalttätigem
Verhalten äußern können. Gründe für Gewalt, die
in der Forschung diskutiert werden, lassen sich
beliebig fortführen. So gehören Armut, gesellschaftliche Ausgrenzung, gesellschaftlich-strukturelle Gewalt, ungünstige Familienverhältnisse,
Politikverdrossenheit, Ohnmachtserfahrungen,
84_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Orientierungslosigkeit und Vereinzelung durch
Individualisierungsprozesse zu möglichen Ursachen für die Gewalt auf den Straßen. Auch die
Gewalt im Fernsehen wird als Ursache diskutiert.
In der Wahrnehmung, dass Gewalt ein normales
Mittel zur Durchsetzung von Konflikten ist, kann
sie die Einstellung des Konsumenten zur Gewalt
beeinflussen. Diese Begründungen haben sicher
ihre Berechtigung. Aber Mädchen reagieren auf
diese Belastungen anders als Jungen. Das heißt,
es gibt auch noch geschlechtsspezifische Erklärungen, wieso Jungen auf diverse Probleme in
ihrem Umfeld viel stärker mit Gewalt reagieren als
Mädchen.
Gewalt als Mittel der
Identitätsfindung
Für sozial benachteiligte Jugendliche kann traditionelle Männlichkeit ein Versuch sein, ihre Identität
zu finden, um den Fall in soziale Bedeutungslosigkeit und individuelle Leere zu verhindern. Mut,
Kampfbereitschaft, Darstellung der Kompetenz im
Umgang mit Autos, Maschinen und Waffen, Negation von Gefühlen und eine durch Sprüche symbolisierte Abgrenzung zum anderen Geschlecht
können als Aspekte der traditionellen Männlichkeit verstanden werden. Ehre, Territorium und
die eigenen Frauen werden verteidigt, Schwule
und Fremde müssen weg. Diesen Kriterien versuchen Jungen zu entsprechen, um sich in einer von
Männern dominierten Kultur Respekt und Beachtung zu verschaffen. In der Gewalt mit sich bringenden Ausprägung dieser Männlichkeit wird sie
von der Gesellschaft gefürchtet und bekämpft.
Gewalt als Erlebnis
Die meisten rationalen Begründungen für Gewalt
bei Jugendlichen, bei männlichen Jugendlichen,
treffen nicht das Phänomen, dass Gewalt Spaß
macht. Bekannt ist der Begriff „im Rausch der
Gewalt“. Das gewalttätige Auftreten von Hooligans
Gewalt und Jungen (Jungen treten - Mädchen ziehen an den Haaren)
kann als Beispiel dienen. Mann geht zum Fußballspiel wegen der Action, der Randale am Rand. Erst
haut man sich auf den Kopf, um später miteinander ein Bier trinken zu gehen. Nicht die Jugendlichen aus den unteren Schichten am Rande der
Gesellschaft, sondern ganz „normale“ junge
Männer, die einen festen sozialen Status haben,
lassen sich von der Gewalt berauschen. Gewalt
kann hier als eine Aktion erlebt werden, in der
der Jugendliche seinen Körper spürt. Manchmal
scheint es, als ob Wut und Zerstörung das Einzige
Ventil für unterdrückte Kraft und Lebendigkeit
sind, und manchmal sieht es so aus, als ob Wut
das Einzige sei, was Veränderung möglich macht.
Nach meiner Einschätzung handelt es sich hierbei
um das Ausleben von Emotionen bei Männern, die
aus welchen Gründen auch immer im emotionalen
Bereich Defizite aufweisen. Den Spaßaspekt bei
der Gewalt gibt es nur bei jungen Männern und
nicht bei Mädchen und Frauen.
Gewalt als Angstabwehr
Sich in der Gewalt spüren, Angst und Ohnmachtsgefühle überwinden - wieso haben männliche
Jugendliche das nötig und Mädchen und Frauen
eher nicht?
Wenn Jungen Opfer von Gewalt werden, trauen sie
sich häufig nicht, sich zu wehren und geben Gewalt an jüngere und schwächere Jungen weiter.
Selbst schwere Misshandlungen werden vor den
Eltern geheim gehalten. Das wäre nicht so, wenn
das Verhältnis zum eigenen Körper nicht gestört
wäre. Irgendwann macht eine Faust im Gesicht
nichts mehr aus. Dann kommt zur Unempfindlichkeit gegenüber dem eigenen Schmerz noch die
Unempfindlichkeit gegen den Schmerz überhaupt.
Unsere Gesellschaft bietet Jungen wenig Möglichkeiten für „weiche Körpererfahrungen“. Neben
Sport und Sex ist aggressives Verhalten eine
immer noch akzeptierte Möglichkeit, Gefühle
auszudrücken. Weil es an Möglichkeiten fehlt, die
eigene Männlichkeit zu erleben, werden riskante
Handlungen und Gewalt zum Ventil. Gewalt lässt
Jungen ihren Körper spüren.
Konsequenzen für die
Gewaltprävention
Beim Verstehen vom Gewalt ist ebenso wie in der
praktischen Jugendarbeit zu berücksichtigen, dass
Gewalt auch eine Form der Suche nach Männlichkeit darstellt. Auf Gewalt mit Sanktionen und
Gegengewalt zu reagieren, erscheint mir nur da
sinnvoll, wo es um berechtigte Interessen des
Opferschutzes geht. Sonst gilt für Gewaltprävention wie für Jugendarbeit im Allgemeinen, dass die
Jugendlichen dort abgeholt werden, wo sie stehen,
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_85
GEGEN DEN TREND ’2001
Jungen sind gleichaltrigen Mädchen oft unterlegen. Sei es bei den Schulleistungen oder durch
den Reifevorsprung in der Pubertät. Wo es keine
Möglichkeit gibt, das dadurch entstehende Ohnmachtsgefühl zu kompensieren, wird es durch die
Form körperlicher Gewalt gegen Schwächere
ausgelebt. Das dabei entstehende Machtgefühl
hilft der Stärkung eines meist eher brüchigen
Selbstwertgefühls. Unsicherheit und Überforderung werden weg geprügelt. Verstärken kann sich
dieses Problem in familiären und sexuellen Beziehungen. Gerade bei Männern, die sich ihrer
Männlichkeit nicht ganz sicher sind, kann es zu
besonders herablassenden, aggressiven Verhaltensweisen kommen.
Durch die Verankerung von der Gewalt in der
Jungenkultur und die mangelnde Fähigkeit vieler
Jungen, mit ihren Bedürfnissen, Konflikten und
Gefühlen (besonders mit Angst und Hilflosigkeit)
umzugehen, kommt es zur Männergewalt in allen
Bereichen, in denen wir sie heute wahrnehmen.
Solange es für Jungen und Männer nicht akzeptiert
wird, Angst, Schmerz und Schwäche zu zeigen,
bleiben die Gewaltbeziehungen unter Jungen
bestehen.
Gewalt und Jungen (Jungen treten - Mädchen ziehen an den Haaren)
dass sie selbst und ihre Bedürfnisse ernst genommen werden.
Nötig ist eine besondere Arbeit mit Jungen. Es
ist wichtig, die Persönlichkeit der Jungen zu stärken und Orientierungshilfen zu geben. Hier sind
männliche Vorbilder gefragt. Jungen brauchen die
Möglichkeit, ihre Körper zu spüren und Gefühle
auszudrücken. Erlebnis- und Abenteuerpädagogik,
aber auch Theater- und Spielpädagogik bieten
Handlungsansätze. Um in unserer Gesellschaft
Männlichkeit positiv zu erleben, benötigen Jungen
die Erfahrungen, Anregungen und Unterstützung
von Männern, die Lust haben, sich mit ihnen zu
beschäftigen.
Gottfried Labuhn
Literatur:
Rohrmann, Timm:
Junge, Junge - Mann, o Mann - Die Entwicklung zur
Männlichkeit. Hamburg, 1994
GEGEN DEN TREND ’2001
Buskotte, Andrea:
Gewalt - (k)eine reine Männersache? In: JUGEND GEWALT - UND KEIN ENDE? Hrsg. Landesstelle
Jugendschutz in Hannover. Hannover, 1999
86_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
›› Der Herr der
Heerscharen
Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt
„Meine Faust will in sein Gesicht – und darf nicht,
und darf nicht“ – Herbert Grönemeyer bringt in
seinem Song „Was soll das“ die Ambivalenz des
modernen Menschen in Bezug auf Gewalt auf den
Punkt. Einmal ist Gewalt verpönt – statt zuschlagen lieber miteinander reden, statt Krieg führen
lieber verhandeln. Aber andererseits gibt es da
noch die Ebene der Emotionen, die im Falle eines
Falles nur mühsam im Zaum gehalten werden
können. Diese Form der Begeisterung, die das
Innere aufwühlt und durcheinander bringt, die
vor Wut schäumen lässt, die eine Spannung
aufbaut, die sich so gerne in einem Gewaltakt
entladen möchte. Bisweilen versagt die kulturelle Kontrolle und die Faust landet tatsächlich
im Gesicht des Nebenbuhlers. Dieses „… und
darf nicht!“ hat seine Geschichte. Diese moralische Ächtung von Gewalt als Mittel zur Lösung
von Beziehungsproblemen im zwischenmenschlichen wie auch zwischenstaatlichen Bereich ist
historisch gewachsen und zu einem großen Teil
auch religiös motiviert. Wie sieht es mit dieser
religiösen Motivation aus? Aus welchen Traditionen stammt sie? Wie gehen die beiden Testamente des christlichen Glauben mit der Gewaltfrage
um?
GEGEN DEN TREND ’2001
Von Pazifismus keine Spur?
Wer in unserer Zeit das Alte Testament liest, wird
an vielen Stellen die Stirn runzeln und sich fragen, welcher Gott kommt denn da auf mich zu.
Alles andere als friedlich und sanftmütig mischt
er sich in die Geschichte seines Volkes ein. Wenn
er will, schickt er seinen Geist in Gestalt eines
Engels zu einem friedlich vor sich hindreschenden Ackerbauern und beruft ihn zum Strategen
und Kämpfer gegen plündernde Reitervölker
(Richter 6,11ff.), oder er lässt durch seinen Propheten die Priester eines Konkurrenzgottes
abschlachten (1.Kön.19). Statt entschieden die
Ablehnung von Gewalt zu propagieren, zeugen
viele Geschichten des Alten Testamentes eher
88_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
von einem unverkrampften Verhältnis dazu. Wie
selbstverständlich können die Dichter mancher
Psalmen in ihren Rachegedanken schwelgen (z.B.
Psalm 137). Was ist das für ein Gott, der auf dem
Schlachtfeld mitmischt, der seinen Geist ausschickt, um Kämpfern zum Sieg zu verhelfen, statt
sie in den Strategien zur Gewaltvermeidung zu
unterweisen?
Nun, zunächst muss man bedenken, dass der
Gott des Volkes Israel es recht schwer hatte, was
Bekanntheitsgrad und Verehrungsmasse betraf.
Er war im Grunde genommen genauso bedeutend wie das Volk, von dem er angebetet wurde.
Diese Bedeutung hielt sich in Grenzen. Und diese
Grenzen waren markiert von anderen Völkern,
die Bedeutender waren und entsprechend bedeutendere Gottheiten verehrten. Ägypten, Babylon,
Assyrien – Großreiche mit militärischer Macht
und der Lizenz zu unterdrücken. Macht und Religion gingen Hand in Hand – je größer der militärische Erfolg, desto größer die Gottheit, die
diesen Erfolg veranlasst oder zumindest begleitet hatte. Das Schlachtfeld war auch der Kampfplatz der Gottheiten – nicht nur vor den Toren
Trojas, sondern überall im antiken Vorderasien
bzw. Nordafrika. Ein besiegtes Volk hatte entweder eine schwache Gottheit, die ihm nicht helfen
konnte, oder eine ärgerliche Gottheit, die mit
seinem Volk aus bekannten oder unbekannten
Gründen unzufrieden war (zu wenig Opfer, zu lasches Geboteeinhalten, zu viel Interesse an anderen Göttinnen und Göttern, etc.). Im Bewusstsein
der Menschen war das eigene Überleben an die
Macht und das Wohlwollen der Gottheit gebunden.
Ein starker Gott hilft einem
schwachen Volk: Showdown am
Schilfmeer
Das Urdatum der Geschichte der Volkes Israel war
seine wundersame Errettung bei seinem Auszug
Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt
aus Ägypten. In der größten Bedrohung durch die
Streitwagen der verfolgenden Ägypter tut sich dem
fliehenden Volk das Schilfmeer auf. Trockenen
Fußes können sie dem drohenden Gemetzel entkommen. Pech hatten die militärisch überlegenen
Ägypter:
2.Mose 15,19-21: Denn der Pharao zog hinein ins
Meer mit Rossen und Wagen und Männern. Und
der HERR ließ das Meer wieder über sie kommen.
Aber die Israeliten gingen trocken mitten durchs
Meer. Da nahm Mirjam, die Prophetin, Aarons
Schwester, eine Pauke in ihre Hand, und alle
Frauen folgten ihr nach mit Pauken im Reigen. Und
Mirjam sang ihnen vor: Lasst uns dem HERRN
singen, denn er hat eine herrliche Tat getan, Ross
und Mann hat er ins Meer gestürzt.
Frauen konnten sich nicht nur über die Siege
freuen – sie hatten bisweilen auch handfesten
Anteil daran. Im Buch Judit wird erzählt, wie die
Titelheldin mit Gottes Hilfe den schrecklichen
Feldherrn Holofernes enthauptet:
Judit 13,7-10: Nach diesem Gebet trat sie zu der
Säule oben an seinem Bett und griff nach seinem
Schwert, das dort hing, zog es heraus, ergriff ihn
beim Schopf und betete abermals: Herr, Gott
Israels, stärke mich in dieser Stunde! Darauf stach
sie ihn zweimal mit ganzer Kraft in den Hals und
schnitt ihm den Kopf ab. Danach wälzte sie den
Körper aus dem Bett und nahm das Netz von den
Säulen herunter. Kurz darauf ging sie hinaus und
gab das Haupt des Holofernes ihrer Magd, damit
sie es in ihren Sack steckte.
Im Gebet bereitet sich Judit auf die Gewalttat vor –
auch wenn es sich um die Befreiung von einem
gefährlichen Unterdrücker und Plünderer handelte, bleibt die Verbindung von Spiritualität und
Gewalt befremdlich: beten bevor man mordet?
Oder vielleicht ist das auch gar nicht so befremdlich. Schließlich ist es schon ein Akt, das Lebenslicht eines anderen Menschen auszulösen. Tief in
uns greifen noch die Mechanismen unseres animalischen Erbes, die uns eigentlich davor bewahren
sollten, Artgenossen auszuschalten. Diese Hemmungen gilt es zu überwinden, will frau die eigene
Stadt vor dem Aggressor schützen. Es braucht eine
Form von „Begeisterung“, der Einstimmung in die
Tat, die ohne innere Zustimmung nicht begangen
werden kann. Im Gebet wird diese Selbstvergewisserung gesucht. Der Gott, der am Sinai unter
anderem „Du sollst nicht töten“ gesprochen hat,
muss anscheinend einbezogen werden, wenn
Gewaltlösungen als ultima ratio notwendig werden. Im Gebet werden Kraft und Erlaubnis zur
Überwindung der natürlichen Hemmung gesucht
und gefunden. Die Ausführende wird damit zum
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_89
GEGEN DEN TREND ’2001
Unter dem Gesichtspunkt des Überlebens wird
die Begeisterung angesichts des jämmerlichen
Ersaufens der ägyptischen Heerscharen mit ihren
gefährlichen Streitwagen verständlich: normalerweise hatten die Ägypter und ihre Gottheiten
das Sagen und die Macht. Die Israeliten als kleine
geduldete Volksgruppe, die sich gut zu Sklavenarbeit pressen ließ, hatten angesichts der Übermacht eigentlich wenig Aussicht aufs Überleben.
Die Ägypter hatten die größeren Tempel und die
mächtigeren Krieger. Doch plötzlich wendet sich
das Blatt und der bis dahin namenlose Gott der
Israeliten zeigt, was in ihm steckt. Der „Ich bin“
rettet sein erwähltes Volk vor dem sicheren Untergang. Mag man über die Methoden dieser Rettung
auch geteilter Meinung sein – des einen Rettung,
des anderen Untergang – es hätte evtl. auch elegantere Lösungen geben können und schließlich
waren auch viele der Kriegswagenlenker Familienväter – so tritt doch mit diesem Ereignis ein Wandel in der theologischen Reflexion ein: fortan gilt
nicht mehr die Gleichung: großes, starkes, bedeutendes Volk gleich große, starke, bedeutende
Götter. Vielmehr dürfen ab jetzt gerade die Unterdrückten auf Hilfe hoffen.
Eine betende Terminatorin: Judit
Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt
Medium des Eingreifens Gottes zum Schutz seines
Volkes.
Begeisterung macht stark: Simson
GEGEN DEN TREND ’2001
In der Zeit der sogenannten „Landnahme“, also
des allmählichen Zusammenwachsens und Ausbreitens der Stämme, die sich dann zum Volk
Israel zählten, hat es eine Vielzahl von Konflikten
gegeben. Konfliktgegner waren die „Philister“ –
ein Sammelbegriff für andere Bevölkerungsgruppen, die schon in dem Land lebten, das die
Stämme Israels für sich beanspruchten. Das
Kriegsglück war häufig auf Seiten der Philister.
Dann konnte es aber geschehen, dass Gott sich
einen Menschen auswählte, um durch seine Hilfe
sein Volk zu retten. Die sogenannten „Richter“
sind Männer und Frauen, die zu ungewöhnlichen
Taten fähig wurden. Allerdings hatten sie diese
Fähigkeiten nicht aus sich selbst heraus. Vielmehr war es Gottes Geist, der sie ergriff und
ihnen strategisches Wissen oder übermenschliche
Kampfkraft verlieh.
Richter 15,9-20: Da zogen die Philister hinauf und
lagerten sich in Juda und breiteten sich aus bei
Lehi. Aber die von Juda sprachen: Warum seid ihr
gegen uns heraufgezogen? Sie antworteten: Wir
sind heraufgekommen, Simson zu binden, dass
wir ihm tun, wie er uns getan hat. Da zogen dreitausend Mann von Juda hinab in die Felsenkluft zu
Etam und sprachen zu Simson: Weißt du nicht,
dass die Philister über uns herrschen? Warum hast
du uns denn das angetan? Er sprach zu ihnen: Wie
sie mir getan haben, so hab ich ihnen wieder
getan. Sie sprachen zu ihm: Wir sind herabgekommen, dich zu binden und in die Hände der Philister
zu geben. Simson sprach zu ihnen: So schwört mir,
dass ihr selber mir nichts antun wollt. Sie antworteten ihm: Nein, sondern wir wollen dich nur
binden und in ihre Hände geben und wollen dich
nicht töten. Und sie banden ihn mit zwei neuen
Stricken und führten ihn aus der Felsenkluft hin-
90_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
auf. Und als er nach Lehi kam, jauchzten die Philister ihm entgegen. Aber der Geist des HERRN geriet
über ihn, und die Stricke an seinen Armen wurden
wie Fäden, die das Feuer versengt hat, so dass die
Fesseln an seinen Händen zerschmolzen. Und er
fand einen frischen Eselskinnbacken. Da streckte
er seine Hand aus und nahm ihn und erschlug
damit tausend Mann.
Von der Begeisterung zur Gewalt – spannender
geht’s nicht mehr. Simson, eine Art Bud Spencer
des Alten Testamentes, wird nach diversen Streichen und Fiaskos, die er den Philistern angetan
hat, von den eigenen Leuten an seine Feinde
ausgeliefert. Aber die freuen sich wieder einmal zu
früh – sie rechnen nicht mit der Kraft der Begeisterung. Nicht nur Wut oder menschlicher Überlebenswille treiben Simson an, es ist die göttliche
Kraft, die in ihm den Blutrausch wirkt. Tausend
Mann der Philister bekommen es zu spüren wie
das ist, wenn die Kraft des Herrn in einem Menschen brennt und der Unterkiefer eines Eselsskeletts in greifbarer Nähe ist.
In der theologischen Reflexion wird Gewalt nicht
grundsätzlich problematisiert. Sie steht in der
rückblickenden Geschichtsbetrachtung der Deuteronomisten (5.Mose bis 2.Könige) in einem
engen Zusammenhang mit dem Eingreifen Gottes
in die Geschichte seines Volkes. Dieses Eingreifen
geht nach einem recht einfachen Schema vor sich:
wenn Israel sich an die Satzungen und Gebote
Gottes hält und ihn allein verehrt, dann führt sein
Geist zu Kampf und Sieg. Ist Israel dagegen den
Geboten und Gott untreu, dann zieht Gott seinen
Geist zurück und die Philister dürfen wieder über
das Volk herfallen und es knechten. So lange, bis
es sich bessert.
Die jugendliche Geheimwaffe: David
Kriegsglück ist Gnade und Segen Gottes, ist Teil
des Schutzes, den Gott seinem Volk gewährt.
Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt
Bisweilen sind es recht merkwürdige Umstände
unter denen Israel diesen Schutz erfährt. Seine
Feinde einfach nur besiegen kann jeder mit entsprechender Rüstung und Ausbildung und Taktik.
Aber das Schlachtfeld ist immer auch Ort der
Gotteserfahrung. Und die wird um so stärker, je
aussichtsloser die Situation ist. Sich auf diesen
Gott zu verlassen und auf seine Hilfe zu vertrauen
ist wichtiger als die zahlen- oder kräftemäßige
Überlegenheit. In der rückschauenden Erzählung
über die großen Taten der Vorfahren wird Gott als
Helfer auf der Seite der Kleinen und Schwachen
gesehen.
Auch nicht gerade eine Geschichte für das Lesebuch zur Überwindung von Gewalt. Man darf aber
nicht vergessen, dass sie aus einer Zeit stammte,
in der Spiele ohne Sieger noch kein Thema waren.
Sieg oder Untergang war die Alternative für die
Sippen und Clans, die in Palästina um Wasser und
Weideland stritten. Eine Kampfmaschine wie
Goliath brachte im Kampf ums Überleben natürlich
entscheidende Vorteile für den eigenen Stamm.
Aber Rüstung und Waffen helfen nicht gegen einen
Gott, der „Jahwe Zebaoth“ heißt – der Gott der
Heerscharen, der Schlachtreihen Israels. Gott
steht auf der Seite der Schwachen und wendet
sogar aussichtslose Situationen wie diesen ungleichen Zweikampf.
Größe und Größenwahn
Mit David beginnt aber auch ein neuer Abschnitt
in der Geschichte Israels. Aus dem lockeren Verband mehrerer Sippen und Stämme entwickelt
sich ein Zentralstaat mit dem König an der Spitze.
Eine straffere militärische Organisation wird zur
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_91
GEGEN DEN TREND ’2001
1.Sam.17,39-51: Und David gürtete Sauls Schwert
über seine Rüstung und mühte sich vergeblich,
damit zu gehen; denn er hatte es noch nie versucht. Da sprach David zu Saul: Ich kann so nicht
gehen, denn ich bin’s nicht gewohnt; und er legte
es ab und nahm seinen Stab in die Hand und
wählte fünf glatte Steine aus dem Bach und tat sie
in die Hirtentasche, die ihm als Köcher diente, und
nahm die Schleuder in die Hand und ging dem
Philister entgegen. Der Philister aber kam immer
näher an David heran, und sein Schildträger ging
vor ihm her. Als nun der Philister aufsah und David
anschaute, verachtete er ihn; denn er war noch
jung, und er war bräunlich und schön. Und der
Philister sprach zu David: Bin ich denn ein Hund,
dass du mit Stecken zu mir kommst? Und der
Philister fluchte dem David bei seinem Gott und
sprach zu David: Komm her zu mir, ich will dein
Fleisch den Vögeln unter dem Himmel geben und
den Tieren auf dem Felde. David aber sprach zu
dem Philister: Du kommst zu mir mit Schwert,
Lanze und Spieß, ich aber komme zu dir im Namen
des HERRN Zebaoth, des Gottes des Heeres Israels, den du verhöhnt hast. Heute wird dich der
HERR in meine Hand geben, dass ich dich erschlage und dir den Kopf abhaue und gebe deinen
Leichnam und die Leichname des Heeres der
Philister heute den Vögeln unter dem Himmel und
dem Wild auf der Erde, damit alle Welt innewerde,
dass Israel einen Gott hat, und damit diese ganze
Gemeinde innewerde, dass der HERR nicht durch
Schwert oder Spieß hilft; denn der Krieg ist des
HERRN, und er wird euch in unsere Hände geben.
Als sich nun der Philister aufmachte und daherging und sich David nahte, lief David eilends von
der Schlachtreihe dem Philister entgegen. Und
David tat seine Hand in die Hirtentasche und nahm
einen Stein daraus und schleuderte ihn und traf
den Philister an die Stirn, dass der Stein in seine
Stirn fuhr und er zur Erde fiel auf sein Angesicht.
So überwand David den Philister mit Schleuder
und Stein und traf und tötete ihn. David aber hatte
kein Schwert in seiner Hand. Da lief er hin und trat
zu dem Philister und nahm dessen Schwert und
zog es aus der Scheide und tötete ihn vollends
und hieb ihm den Kopf damit ab. Als aber die
Philister sahen, dass ihr Stärkster tot war, flohen
sie.
Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt
GEGEN DEN TREND ’2001
Grundlage für Eroberungen und Unterdrückung
der Nachbarvölker. Die Vielzahl der kleinen Konflikte um Äcker und Beute wird abgelöst durch
stabilere Verhältnisse – gegen die militärische
Überlegenheit Israels kommen die kleineren
Nachbarvölker nicht gegen an. In Palästina ist
Israel zur einflussreichen Großmacht aufgestiegen. Das gibt einerseits Ruhe in der Region, andererseits aber ruft es auch andere Großmächte
als neue Konfliktpartner auf den Plan. Ägypten,
Assyrien und Babylonien wechselten sich in den
Jahrhunderten als Gegner ab. Mit denen kann man
aber besser ins Geschäft kommen als mit irgendwelchen marodierenden Räuberbanden. Das heißt,
dass Politik zunehmend an Bedeutung gewinnt. Es
wird möglich, Machtgefüge durch geschickte
Diplomatie auszubalancieren. Wer regelmäßig
Tribut zahlt, der kann auch einigermaßen in Frieden leben. Wer dagegen auf militärische Stärke
setzt, geht das Risiko ein, dass das Imperium
zurückschlägt. Das Nordreich Israels hatte das 722
v.Chr. schmerzhaft erfahren müssen, als es gegen
die Oberherrschaft der Assyrer rebellierte. Nach
der militärischen Niederlage gingen die Menschen
in die Deportation und das Reich hörte auf zu
existieren. Statt auf Waffen, Wagen und Wehrhaftigkeit zu setzen, werden in der theologischen
Reflexion verstärkt intelligente Wege zur Friedensbewahrung und Deeskalation bedacht. Vor allem
in der Verkündigung der Propheten tauchen immer
wieder kritische Stimmen auf, die davor warnen,
sich auf militärische Abenteuer einzulassen.
Jesaja 31,1-3: Weh denen, die hinabziehen nach
Ägypten um Hilfe und, sich verlassen auf Rosse
und hoffen auf Wagen, weil ihrer viele sind, und
auf Gespanne, weil sie sehr stark sind! Aber sie
halten sich nicht zum Heiligen Israels und fragen
nichts nach dem HERRN. Aber auch er ist weise
und bringt Unheil herbei und nimmt seine Worte
nicht zurück, sondern wird sich aufmachen wider
das Haus der Bösen und wider die Hilfe der Übeltäter. Denn Ägypten ist Mensch und nicht Gott,
92_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
und seine Rosse sind Fleisch und nicht Geist. Und
der HERR wird seine Hand ausstrecken, so dass
der Helfer strauchelt und der, dem geholfen wird,
fällt und alle miteinander umkommen.
Plötzlich geht es nicht mehr einfach nur darum,
dass Gott seinen Segen zu einer militärischen
Unternehmung gibt und die Schlachtreihen Israels
siegreich bleiben. Jetzt gibt es so etwas wie einen
übergeordneten Gedanken, bei dem die Sinnhaftigkeit des Tuns über den göttlichen Beistand
entscheidet. Mit den Ägyptern ein Bündnis einzugehen, um eventuell den Assyrern die Stirn zu
bieten, ist ein riskantes militärisches und politisches Abenteuer. Jesaja warnt seinen König Hiskia
davor, sich in dieses Abenteuer zu begeben. Der
Gott Israels steht darin nicht automatisch auf
seiner Seite. Es kann sogar sein, dass Gott sich
des Assyrerkönigs Sanherib (705-681 v.Chr.) bedient, um sein Volk für die Gottvergessenheit
seines Königs zu strafen.
Rohrstockpädagogik im Kleinen ...
Aber Gewalt ist nicht nur ein Phänomen des Überlebenskampfes der Sippen und Staaten gewesen.
Sie ereignet sich nicht nur in Einzelkämpfen und auf
Schlachtfeldern, sondern ist alltäglicher Bestandteil in Erziehung und Rechtssprechung. Wo es an
Gehorsam mangelt, kann selbstverständlich Gewalt eingesetzt werden, um ihn zu erzwingen. Wo
eine Schuld begangen wird, muss selbstverständlich eine entsprechende Strafe verhängt werden –
das ist ein wichtiges Prinzip nach dem das Alte
Testament das Zusammenleben der Menschen regelt. Eine Fülle von Geboten und Vorschriften beschreiben, wie im Einzelnen verfahren werden soll,
wenn jemand sich außerhalb des zulässigen Verhaltens bewegt. Die Anweisungen darüber, wie dann
zu verfahren sei, waren nicht gerade zimperlich.
5.Mose 21,18 Wenn jemand einen widerspenstigen
und ungehorsamen Sohn hat, der der Stimme
Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt
seines Vaters und seiner Mutter nicht gehorcht
und auch, wenn sie ihn züchtigen, ihnen nicht
gehorchen will, so sollen ihn Vater und Mutter
ergreifen und zu den Ältesten der Stadt führen und
zu dem Tor des Ortes und zu den Ältesten der
Stadt sagen: Dieser unser Sohn ist widerspenstig
und ungehorsam und gehorcht unserer Stimme
nicht und ist ein Prasser und Trunkenbold. So
sollen ihn steinigen alle Leute seiner Stadt, dass
er sterbe, und du sollst so das Böse aus deiner
Mitte wegtun, dass ganz Israel aufhorche und sich
fürchte.
Gewalt war legitim als pädagogisches Mittel bis
hin zur Todesstrafe selbst gegen die eigene Nachkommenschaft. Für das, was jemand verbrochen
hat, muss ihm auch Vergeltung widerfahren, sonst
gerät die Gesellschaft aus der Ordnung. „Auge um
Auge, Zahn um Zahn“ ist das bekannte Schlagwort
des ius talionis, des Vergeltungsrechtes. Zu bedenken ist, dass diese gesetzlichen Regelungen
immerhin schon eine kulturelle Errungenschaft
sind, indem sie einer ungezügelten Rache ein
geregeltes Verfahren der Vergeltung gegenüberstellten. Gewalt soll begrenzt werden und nicht
unkontrolliert hervorbrechen.
...und im Großen
2.Kön.24,18-20: Einundzwanzig Jahre alt war
Zedekia, als er König wurde; und er regierte elf
Jahre zu Jerusalem. Seine Mutter hieß Hamutal,
eine Tochter Jirmejas aus Libna. Und er tat, was
dem HERRN missfiel, wie Jojakim getan hatte.
Denn so geschah es mit Jerusalem und Juda um
des Zornes des HERRN willen, bis er sie von seinem Angesicht wegstieß.
Es hatte nur wenige Zeiten gegeben, in denen „von
Dan bis Beersheba“ ein jeder unter seinem Feigenbaum und Weinstock in Frieden sitzen konnte.
Gewalt ist immer eine Bedrohung gewesen und
oftmals hatte das Volk darunter zu leiden. Wenn
der „Hüter Israels“ wirklich nicht schläft und
schlummert (Psalm 121,4), dann musste man
irgendwie erklären, weshalb immer wieder fremde
Mächte sich nicht davon abbringen ließen, mit
ihren Kriegsheeren durchs Land zu ziehen. Die
Deutung der kleinen und großen Katastrophen als
Strafe für unbotmäßiges Verhalten von Volk und
König ist schnell bei der Hand. Zudem korrespondiert sie mit den Alltagserfahrungen von Gewalt
als Strafe für Verfehlungen und Übertretungen der
Gebote.
Der andere Gott
Trotzdem: neben den Erzählungen von dem gewaltigen und gewalttätigen Gott finden sich auch
noch ganz andere Seiten seines Wesens beschrieben. Da ist der Gott, der den Kain wegen seines
Mordes an seinem Bruder Abel nicht tötet, sondern ihm sein Leben lässt. Statt Todesstrafe nur
lebenslänglich eine unstete und flüchtige Existenz.
Da ist der Gott, der, nach dem fast hundertprozentigen Auslöschen der Menschheit durch die Sintflut, plötzlich Gewissenbisse bekommt und sich
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_93
GEGEN DEN TREND ’2001
Wessen alltägliches Leben so von Gewalt geprägt
ist, wer durch die Drohung von Strafe auf geordneten Lebensbahnen gehalten wird, für den wird
auch Gott in Gleicherweise sein Handeln in der
Welt gestalten. Die geschichtlichen Ereignisse und
Katastrophen sind dann durch Gottes Handeln
heraufgeführt. Das Schema ist einfach: Gnade
zeigt sich in siegreichen Unternehmungen, wenn
sich das Volk an die Gebote hält. Wenn das Volk
die Gebote verachtet, schickt Gott militärische
Niederlagen, Eroberungen und Plünderungen. Gott
hält Gericht und straft sein Volk – so deuten die
Geschichtstheologen das Auf und Ab von Sieg und
Niederlage vom Anfang der Eroberung des gelob-
ten Landes bis hin zu der großen Katastrophe von
586 v.Chr. als die Neubabylonier unter Nebukadnezar Jerusalem erobern und den Tempel zerstören.
Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt
ernsthaft vornimmt, nie wieder so zu strafen. Es
scheint neben der Rede von dem eifernden Gott
auch noch den Gedanken an einen Gott zu geben,
der in unmenschlicher oder besser übermenschlicher Weise seinen Geschöpfen Nachsichtigkeit
gewährt.
Spuren dieser anderen Seite Gottes finden sich an
vielen Stellen. So gibt es z.B. in den Kriegsgesetzen neben den Anweisungen darüber, wie die
Städte der Andersgläubigen zu vernichten seien
(5. Mose 20,10-18), auch ungewohnt nachsichtige
Regelungen:
5. Mose 20,5-7: Und die Amtleute sollen mit dem
Volk reden und sagen: Wer ein neues Haus gebaut
hat und hat’s noch nicht eingeweiht, der mache
sich auf und kehre heim, auf dass er nicht sterbe
im Krieg und ein anderer es einweihe. Wer einen
Weinberg gepflanzt hat und hat seine Früchte
noch nicht genossen, der mache sich auf und
kehre heim, dass er nicht im Kriege sterbe und ein
anderer seine Früchte genieße. Wer mit einem
Mädchen verlobt ist und hat es noch nicht heimgeholt, der mache sich auf und kehre heim, dass er
nicht im Krieg sterbe und ein anderer hole es
heim.
GEGEN DEN TREND ’2001
Ja, sogar den Furchtsamen wird die Kriegslast
abgenommen und sie werden nach Hause entlassen:
5. Mose 20,8: Und die Amtleute sollen weiter mit
dem Volk reden und sprechen: Wer sich fürchtet
und ein verzagtes Herz hat, der mache sich auf
und kehre heim, auf dass er nicht auch das Herz
seiner Brüder feige mache, wie sein Herz ist.
Merkwürdige Töne in einer rauen Zeit, in der das
eigene Überleben immer wieder auf dem Spiel
stand. Aber vielleicht ein Fingerzeig dafür, dass
hinter dem Gewaltsamen, von dem auch das
Gottesbild nicht ausgenommen war, schon etwas
aufleuchtet, das hinweist auf eine neue Sicht-
94_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
weise. Hoffnung auf einen Frieden, der nicht mehr
durch das Auslöschen der Feinde mit Hilfe göttlicher Gewalt geschieht. Es wächst die Sehnsucht
nach einem Gott, der nicht mehr die Schlachtreihen Israels anführt, sondern der dafür sorgt,
dass der Teufelskreis der Gewalt unterbrochen
wird und die Völker nicht mehr übereinander
herfallen.
Jesaja 2,1-5: Dies ist’s, was Jesaja, der Sohn des
Amoz, geschaut hat über Juda und Jerusalem: Es
wird zur letzten Zeit der Berg, da des HERRN Haus
ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle
Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, und viele Völker werden hingehen und sagen:
Kommt, laßt uns auf den Berg des HERRN gehen,
zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre
seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen!
Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des
HERRN Wort von Jerusalem. Und er wird richten
unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker.
Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und
ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein
Volk wider das andere das Schwert erheben, und
sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu
führen. Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, laßt uns
wandeln im Licht des HERRN!
Die Vision einer neuen Form der Begeisterung:
Menschen verfallen nicht mehr dem Blutrausch,
sondern werden vom Wissensdurst getrieben. Ihr
Fernweh wird durch Bildungsreisen kuriert und
muss nicht mehr durch Eroberungszüge gestillt
werden. Ihre Erfindungskraft konzentriert sich auf
die Verbesserung der landwirtschaftlichen Anbauund Erntemethoden im Rückgriff auf die ehemaligen Raub- und Plünderwerkzeuge.
Frieden ist möglich in einer Welt, die von Vergebung geprägt ist. Vergebung, die von Gott
ausgeht, sich in den Menschen entfaltet und ihr
Miteinanderleben prägt. Nach dem Untergang
Jerusalems hofft der Prophet Jeremia auf diese
Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt
neue Zeit, in der es einen neuen Bund geben wird
zwischen Gott und den Menschen.
Jeremia 31,33-34 sondern das soll der Bund sein,
den ich mit dem Hause Israel schließen will nach
dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz
in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und
sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein.
Und es wird keiner den andern noch ein Bruder
den andern lehren und sagen: »Erkenne den
HERRN«, sondern sie sollen mich alle erkennen,
beide, klein und groß, spricht der HERR; denn ich
will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde
nimmermehr gedenken.
Ein vergebender Gott, der seinen Geist schickt,
damit Menschen auf seinen Wegen zum Leben
wandeln. Und wenn sie Um- und Irrwege gehen,
werden sie nicht zurückgeprügelt, sondern sie
dürfen freiwillig umkehren, weil Vergebung und
neue Liebe auf sie warten. Diese Vision Jeremias
zeigt, wie sich das Bild Gottes im Laufe der Zeit
und der geschichtlichen Erfahrungen verwandelt
hat. Aus dem Kriegsgott kleiner, um ihr Leben
kämpfender Stämme wird ein Weltgott, der die
Menschen zu mehr befähigen kann als nur sich
möglichst effektiv und ausdauernd die Schädel
einzuschlagen.
Runter mit der Hasskappe – rauf
mit dem Helm des Heils!
Diese Spur des Gottes, der den Frieden will und
alles Erdenkliche dafür tut, wird im neuen Testament vollends deutlich.
Was sich martialisch anhört, ist bei näherer Betrachtung eher als defensive Bewaffnung zu verstehen. Es fehlen Speer und Bogen – typische
Distanzwaffen für Angreifer. Besonders der Schild
des Glaubens ist ein schönes Bild – er dient zum
Auslöschen der Aggression des Bösen. Aber Auslöschen reicht – es ist nicht die Rede vom Zurückschießen! Aggressionen ins Leere laufen lassen
mit Hilfe des Glaubens – wie kann das geschehen?
Ist es überhaupt möglich? Was muss dieser Glaube beinhalten, damit es möglich werden kann? Es
fängt wohl damit an, dass Jesus in Gott nicht mehr
den Rohrstockpädagogen der alten Zeit gesehen
hat. Er hat sich selbst von einem neuen Bild von
Gott leiten lassen und gleichzeitig ist in ihm dieses
neue Bild Gottes geoffenbart worden..
Lukas 13,1-4: Es kamen aber zu der Zeit einige, die
berichteten ihm von den Galiläern, deren Blut
Pilatus mit ihren Opfern vermischt hatte. Und
Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Meint ihr,
dass diese Galiläer mehr gesündigt haben als alle
andern Galiläer, weil sie das erlitten haben? Ich
sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut,
werdet ihr alle auch so umkommen. Oder meint
ihr, dass die achtzehn, auf die der Turm in Siloah
fiel und erschlug sie, schuldiger gewesen sind als
alle andern Menschen, die in Jerusalem wohnen?
Unheil, Unglück, Katastrophen sind nicht Strafen
eines zornigen Gottes für die Übertretung seiner
Gebote. Gott übt damit nicht Rache für unbotmäßiges Verhalten. Das „Warum“ wird nicht geklärt,
aber abgewiesen wird diese allzu einfache Erklärung der negativen Welterfahrungen. Gott verübt
keine Gewalttaten, er schubst keinen Turm um, um
Menschen in ihre Schranken zu weisen. Sie sind
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_95
GEGEN DEN TREND ’2001
Epheser 6,13-17: Deshalb ergreift die Waffenrüstung Gottes, damit ihr an dem bösen Tag Widerstand leisten und alles überwinden und das Feld
behalten könnt. So steht nun fest, umgürtet an
euren Lenden mit Wahrheit und angetan mit dem
Panzer der Gerechtigkeit, und an den Beinen
gestiefelt, bereit, einzutreten für das Evangelium
des Friedens. Vor allen Dingen aber ergreift den
Schild des Glaubens, mit dem ihr auslöschen
könnt alle feurigen Pfeile des Bösen, und nehmt
den Helm des Heils und das Schwert des Geistes,
welches ist das Wort Gottes.
Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt
für ihn zu wertvoll, als dass er so grob mit ihnen
umginge. Aus dieser Überzeugung entwickelt
Jesus Christus seinen Umgang mit den Menschen.
Sie sind für ihn alle – die Guten wie die Bösen –
Kinder des himmlischen Vaters, der die Sonne
aufgehen lässt über Gerechte wie Ungerechte. So
sind selbst die Menschen unter deren Feindseligkeit man zu leiden hat, nicht Feinde im endgültigen Sinn. Auch für sie lohnt sich das Gebet:
GEGEN DEN TREND ’2001
Matthäus 5,43-45: Ihr habt gehört, dass gesagt ist
(3. Mose 19,18): »Du sollst deinen Nächsten lieben« und deinen Feind hassen. Ich aber sage
euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch
verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im
Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über
Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und
Ungerechte.
„Liebet eure Feinde!“ – das ist der vielleicht steilste Satz der Welt- und Geistesgeschichte. Um ihn
denken und erst recht leben zu können, muss man
schon so etwas wie einen „Helm des Heils“, eine
„Glaubenskappe“ auf dem Kopf haben – eine
Gründung der eigenen Existenz in der Zusage
Gottes, in seinem Erbarmen. Ein festes Vertrauen
auf sein Wohlwollen trotz aller üblen Welterfahrung, die so oft dagegen zu sprechen scheint. Und
dann muss auch noch eine Übertragung stattfinden: dass dieses Wohlwollen Gottes nicht exklusiv
nur für einen selber und die paar Gutmenschen um
einen herum gilt, sondern dieses Wohlwollen
erstreckt sich auf alle Menschen und keiner kann
jemals davon ausgeschlossen werden. Es ist die
pure Zumutung und wer ihr folgen kann, muss
begeistert sein, muss von Gottes Geist mit diesem
Glauben erfüllt worden sein. Es geht um eine
Begeisterung der neuen Art als Kreativität für den
Frieden.
Matthäus 5,38-41: Ihr habt gehört, dass gesagt ist
(2. Mose 21,24): »Auge um Auge, Zahn um Zahn.«
Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben
96_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf
deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere
auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will
und dir deinen Rock nehmen, dem laß auch den
Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile
mitzugehen, so geh mit ihm zwei.
Wie kann ich dem Feind den Boden für seine
Feindschaft entziehen – das ist die Leitfrage unter
der Jesus auf dieses Problem der kleinen und
großen menschlichen Beziehungsstörungen blickt.
Das alte Schema der „geregelten Rache“ – also
nur das dem anderen zerstören, was er bei mir
oder den Meinen zerstört hat und ihm nicht darüber hinaus heimzahlen – greift nicht mehr. Es ist
die alte Form der „Rohrstockpädagogik“: der
Andere muss spüren, was er falsch gemacht hat,
soll am eigenen Leibe erfahren, was er Anderen
angetan hat. In der Rache entlädt sich die Spannung, die durch die Untat im Opfer aufgebaut
wurde. Aber in den seltensten Fällen ist damit die
Sache erledigt und aus der Welt geschafft. Meistens wird neue Spannung aufgebaut, die sich im
Täter entwickelt und ihn nun seinerseits auf Rache
sinnen lässt. Ein Kreislauf ohne Ende mit der
Aussicht auf Steigerung der Gewalt. Eine Rache,
die keine Einsicht beim Täter hervorruft, bleibt
ohne Erfolg und beendet die Feindschaft nicht.
Kreativität für das Evangelium
des Friedens
Was kann man der Feindschaft entgegenstellen
ohne selber feindselig zu sein. Jesus nennt mehrere Beispiele, wie er mit Feindschaft umgehen
würde. Es sind Formen des aktiven aber gewaltfreien Widerstandes:
Die andere Backe hinhalten, wenn man auf die
rechte Backe geschlagen wird: auf die rechte
Backe kann jemand normalerweise nur mit dem
Handrücken der linken Hand schlagen. Das war im
alten Orient eine außerordentlich beleidigende
Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt
Geste gewesen. Es geht also um Beleidigung und
nicht um Prügelei. Die andere Backe hinhalten
meint: steige auf die Beleidigung nicht mit einer
Gegenbeleidigung ein, lass dich nicht in Feindschaft hineinziehen, sondern mache dem anderen
bewusst, was er getan hat. Sei dabei aktiv und
lass dich nicht in die Opferrolle hineindrängen.
Zu dem Rock auch noch den Mantel geben – das
spielt an auf eine Situation vor Gericht, in der es
um Pfändung geht. Der Mantel war oftmals der
letzte Besitz und Schutz vor der Kälte der Nacht.
Zu dem Mantel auch noch das Untergewand herzugeben bedeutete, nackt vor Gericht zu stehen –
eine Peinlichkeit und Schande, die aber zu Lasten
des Fordernden ging.
Zu der ersten Meile auch noch die zweite mitzugehen – das greift ein Gesetz der römischen Besatzungsmacht auf, nach dem jeder Legionär einen
Juden dazu zwingen konnte, ihm sein Gepäck eine
Meile weit zu tragen. Eine schwere Demütigung
ganz gewiss. Aber nach der einen Meile nicht
einfach stehen zu bleiben, sondern fröhlich pfeifend den Rucksack auch noch weiter zu tragen –
das ist eine äußerst souveräne Art von Protest, die
der Besatzer machtlos hinnehmen muss. (Vergleiche dazu auch die ausführliche Interpretation
dieser Stelle bei: Walter Wink, Der dritte Weg Jesu,
in: Schritte gegen Tritte, S. 40-44; oder auch im
Internet: http://bs.cyty.com/elmbs/wink.htm)
Wenn heute Gewalt in allen ihren Spielarten als
problematisch empfunden wird, dann hat das
seine Wurzeln auch in diesem neuen Gottesbild,
das schon im Alten Testament aufgeleuchtet hat
und dann in Jesus Christus sichtbar geworden ist.
Begeisterung von diesem Gott und durch diesen
Gott kann die Kreativität freisetzen, die dazu hilft,
Gewalt zu überwinden.
Praxisbeispiel
„Liebet eure Feinde!“ dieses Wort Jesu ist wohl nur
auf dem Hintergrund seines Gottes- und Menschenbilds zu verstehen. Gott ist für Jesus jemand,
dessen Liebe weder durch das gewonnen noch
durch das zerstört werden kann, was ein Mensch
in seinem Leben an Taten vollbringt. Der Mensch
ist und bleibt ein geliebtes Wesen und sei er noch
so schlecht. „Liebet eure Feinde“ heißt, sich von
dieser Perspektive Gottes anrühren zu lassen. Es
bedeutet nicht, dass sich Gemeinheit und Gewalt
einfach so niederkuscheln lassen – so naiv war
Jesus nun wirklich nicht. Aber damit überhaupt
Kreativität für die Überwindung von Gewalt freigesetzt werden kann, muss zwischen der Schuld und
dem Schuldigen unterschieden werden. Sich diese
Unterscheidung bewusst zu machen, ist Ziel dieser
Methode:
Wir phantasieren einen
Lebenslauf
Auf einem großen Blatt Papier liegt eine Babypuppe oder eine Babyfoto. Wir sammeln Gedanken
zu dem, was ein Neugeborenes für uns bedeutet.
Etwa: schutzlos, offenes Buch, noch nicht fertig,
Hardware, die noch Software braucht, etwas, das
wachsen will und wachsen wird, unschuldig,
angewiesen, positive Gefühle. Die Einfälle werden
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_97
GEGEN DEN TREND ’2001
Überbiete das, was der andere von dir fordert, er
kann dann nicht auf deine Aggression reagieren.
Es geht also nicht darum, kleinbeizugeben, sondern darum, dem Täter seine eigene Feindseligkeit
bewusst zu machen. Den Teufelskreis von Erniedrigung und Rache, von Gewalt und Gegengewalt zu
durchbrechen, dazu braucht es diese Kreativität
für den Frieden. Sie wächst aus der Begeisterung
für den Weg, den Jesus selbst gegangen ist – bis
hin zum Kreuz. Die Abkehr von dem alten Schema
von Schuld und Strafe und die Entdeckung der
Vergebung und der grundsätzlichen und unwiderruflichen Menschenfreundlichkeit Gottes sind
wichtige Meilensteine auf diesem Weg.
Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt
GEGEN DEN TREND ’2001
auf dem Papier um die Babypuppe notiert. Dann
wird ein etwas größerer Umriss als „Hülle“ um die
Babypuppe herum aufgezeichnet. Wir überlegen,
welche Entwicklung das Kind durchmacht. Kindergarten und Grundschule – welche Erfahrungen werden damit verbunden sein? Kampf
um Spielzeug, Freundschaften, Feindschaften, … Die Begriffe werden um den ersten
Umriss herum notiert. Dann folgt ein
weiterer Umriss, der eine weitere
Entwicklungsstufe markiert: Sortierung in der OS – wer kommt wohin?
Ich bin, was ich in der Schule leiste;
ich darf weiter von zu Hause weggehen, aber es wird auch gefährlicher;
ich muss stark sein und mich behaupten. Eine dritte und vierte
„Hülle“ markieren weitere Entwicklungsstufen mit eigenen Erfahrungen. Leben in der Clique, was läuft
am Wochenende, sich stark fühlen in
der Gruppe, vielleicht auch eigenen
Taten in Richtung Gemeinheit und Gewalt.
Am Ende blicken wir gemeinsam auf die
Babypuppe und dem, was sich daraus
entwickelt hat. Wir merken, jeder Mensch
fängt sein Leben an als ein schutzbedürftiges, hilfloses, unschuldiges (wir lassen
jetzt mal die Erbsündenlehre beiseite), liebenswertes Wesen an. Es legen sich Erfahrungen und
Handlungen um dieses Anfangswesen herum – es
verliert viel von seiner ursprünglichen Liebenswürdigkeit, vielleicht gibt es sogar Grund zum Hass.
Aber worauf würde sich der Hass richten? Auf das
Wesen, das in der Mitte der „Hüllen“ liegt, oder
auf das, was als „Hülle“, als Erfahrungen und
Taten zu dem Menschen dazu gekommen ist?
Kann der Blick noch zu diesem Ausgangspunkt
hindurch dringen? Das wäre der Perspektivenwechsel, den Jesus von Nazareth eingeleitet hat.
98_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Vor Gott kann der Mensch seine Würde und seinen
Wert nicht verlieren – auch nicht durch seine Taten.
Gott blickt hindurch zu dem, was der Mensch
einmal war. Nicht auf den sogenannten „guten
Kern“, sondern auf das, was einmal klein
angefangen hat: ein schutzloses, liebenswürdiges Geschöpf, das atmet und schreit
und Wärme und Zuwendung braucht. Ist es
möglich, diesen gottgeliebten Kern in
jedem Menschen zu entdecken – auch
und gerade in denen, mit denen das
Leben schwer ist?
Ralph-Ruprecht Bartels
›› Dekade zur
Überwindung
von Gewalt
2001-2010
Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010 - ein Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen
Ein Programm zur Überwindung
der Gewalt
Das Programm des Ökumenischen Rates der
Kirchen zur Überwindung der Gewalt hat seinen
kirchengeschichtlichen Vorlauf nicht nur in der
Programmentwicklungsgeschichte des ÖRK selber.
Auf ihn soll gleich Bezug genommen werden,
damit die Dekade zur Überwindung von Gewalt
historisch eingeordnet werden kann. Und, um es
vorwegzunehmen, es handelt sich hier für mein
Dafürhalten um den Beginn eines kirchengeschichtlichen Durchbruches der volkskirchlichen
Ernstnahme der Tradition der jesuanischen Gewaltlosigkeit in einer Breitenwirkung, die es so
bisher nicht gegeben hat. Immer gab es in der
Kirchengeschichte diese Tradition, stellvertretend
seien hier nur Franziskus von Assisi und die historischen Friedenskirchen benannt. Sie haben sich
vor allem auch auf die Bergpredigt bezogen.
GEGEN DEN TREND ’2001
Die Dekade des ÖRK greift auf die paulinische
Weiterführung der jesuanischen Tradition zurück,
was auch deshalb wichtig ist, weil damit erkennbar wird, dass Paulus in der Kontinuität der Überlieferung bleibt. Das Programm zur Überwindung
von Gewalt, und der Schwerpunkt soll bei der
Überwindung liegen, greift zurück auf Röm 12, 21
„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern
überwinde das Böse mit Gutem“.
Mit dieser Wahrheit hat in der Neuzeit vor allem
ein Hinduist mit viel Sympathien für das Christentum ernst gemacht. Um der historischen Redlichkeit willen muss deshalb von ihm gesprochen
werden. Dies ist insofern auch bedeutsam, als es
in Zukunft zur Überwindung von Gewalt nicht nur
auf den Dialog der Konfessionen, sondern auch
der Weltreligionen ankommt. Es handelt sich um
Mahatma Gandhi, dessen gesamtes Leben eine
praktische Auslegung und ein Umsetzen dessen
war, was Jesus in der Bergpredigt (Mt. 5 - 7) lehrt.
Ein anderer großer Christ unseres Jahrhunderts,
100_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
der wie kein anderer für die Lehre und Praxis
gewaltfreien Handelns steht, beruft sich ausdrücklich auf ihn, so dass ich das Hauptanliegen
Gandhis durch ihn, durch Martin Luther - King jr.,
erkennbar werden lassen möchte. Martin Luther King jr. schrieb: „Dann wurde ich mit Leben und
Lehre Mahatma Gandhis bekannt. Mich fesselte
sein Eintreten für den gewaltlosen Widerstand.
Gandhis Konzept des satyagraha (satya ist Wahrheit, die der Liebe gleicht, und graha ist Kraft;
satyagraha bedeutet also Wahrheit-Kraft oder
Liebe-Kraft) schien mir sehr bedeutungsvoll. Je
tiefer ich in die Lehre Gandhis eindrang, desto
mehr schwand meine Skepsis hinsichtlich der
Kraft der Liebe. Zum erstenmal erkannte ich, dass
die christliche Lehre der Liebe, wie sie in der
Gewaltlosigkeit Gandhis zum Ausdruck kam, eine
der mächtigsten Waffen ist, die ein unterdrücktes
Volk in seinem Kampf um die Freiheit ergreifen
kann … Aber die Gewaltlosigkeit bewirkt etwas in
den Herzen derer, die sich ihr verschreiben. Sie
gibt ihnen eine neue Selbstachtung. Sie legt
bisher ungeahnte Quellen der Kraft und des Mutes
frei. Und endlich rührt sie auch das Gewissen des
Gegners so sehr an, dass die Aussöhnung zur
Wirklichkeit wird.“ ( Martin Luther - King jr., Kraft
zum Lieben, Konstanz 1971, S.229 ff.)
Das, was Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann als
Ertrag einer bibliodramatischen Auseinandersetzung mit der Bergpredigt während einer Konferenz
der VELKD in ihrem neuen Buch beschreibt, nämlich dass die Bergpredigt zu Gewaltfreiheit, nicht
aber zur Widerstandlosigkeit aufruft, (Margot
Käßmann, Gewalt überwinden, Hannover 2000, S.
49) ist hier schon vorweggenommen und zwar im
Horizont politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, die, wie wir wissen, sowohl für
Gandhi als auch für Martin Luther King jr. tödlich
endeten. Beiden Menschen war diese Konsequenz
ihrer Option für die Gewaltfreiheit Jesu deutlich,
trotzdem blieben sie bei ihrem Programm der
Überwindung von Gewalt durch gewaltfreies
Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010 - ein Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen
Handeln. Das diese Wahrheit und Kraft der Botschaft Jesu jetzt auch in den Volkskirchen theologisch und praktisch wieder entdeckt wird und
Raum gewinnt, weckt Hoffnung für die politische
und gesellschaftliche Rolle der Kirchen in der
Zukunft.
Die Geschichte der ÖRK - Dekade
Die ÖRK - Dekade zur Überwindung der Gewalt
und ihre Programmatik ist Ergebnis eines langen
Prozesses der Entwicklung der neuzeitlichen
ökumenischen Bewegung. Schon auf der Gründungsversammlung des Weltkirchenrates 1948
in Amsterdam wurde noch unter dem Eindruck
des Zweiten Weltkrieges das Zeugnis formuliert:
„Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“ ( EKD
Texte 3, Kirche und Frieden, S. 156 ff.). Seitdem
beschäftigt sich die ökumenische Bewegung mit
Fragen des Krieges und des Friedens, der Gewaltanwendung und der Gewaltüberwindung. Zu einer
eindeutig pazifistischen Grundhaltung konnte man
sich im Laufe der Jahrzehnte nicht durchringen,
obwohl man dem sehr nahe kam.
Es sind hier in aller kürze zwei Entwicklungsstränge zu benennen, die konsequent auf die ÖRK
- Dekade zuführen:
1.Die Vollversammlungen und Zentralausschusssitzungen des ÖRK:
1968 Die ÖRK Vollversammlung in Uppsala verabschiedete ein ökumenisches Programm zur
Bekämpfung des Rassismus. Intensiv wurde
damals die Frage nach der „gerechten Revolution“ und „gerechten Gewaltanwendung“
diskutiert vor dem Hintergrund bewaffneter
Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt
und des Kampfes gegen Rassismus, vor
allem in Südafrika. Es wurde ein Studienprozess in Gang gesetzt zum Thema „Gewalt,
Gewaltfreiheit und der Kampf für soziale
Gerechtigkeit“.
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_101
GEGEN DEN TREND ’2001
Es gibt einen roten Faden der Gewaltkritik und der
Überwindung der Gewalt schon in der Bibel, und
zwar in beiden Testamenten (siehe Jürgen Ebach,
Das Erbe der Gewalt - eine biblische Realität und
ihre Wirkungsgeschichte, Gütersloh 1980) Er zieht
sich dann durch die Kirchengeschichte hindurch
und durchwirkt wie Sauerteig die Geschichte der
ökumenischen Bewegung und nun auch hoffentlich, aktuell und wirkungsmächtig, Leben, Lehre
und Praxis der Kirchen, die im Ökumenischen Rat
zusammengeschlossen sind. Dass sich für die
lutherischen Landeskirchen in der Frage von Gewalt und Gewaltüberwindung ein theologischer
Paradigmenwechsel ankündigt, sei nur an zwei
theologischen Gedankengängen der lutherischen
Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann aufgezeigt.
Zum einen stellt sie, ausgehend von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Bergpredigt und
dem Schicksal Jesu fest, dass Gewaltfreiheit in
das Zentrum des Evangeliums gehört (Margot
Käßmann, s.o. S.58). Zum anderen zieht sie aus
dieser Erkennnis auch die ekklesiologischen
Konsequenzen. Nach lutherischem Verständnis ist
gemäß CA VII (Confessio Augustina) die Kirche die
Versammlung der Heiligen, in der das Evangelium
rein gelehrt und die Sakramente recht verwaltet
werden. „Dies könnte der gemeinsame Bezugspunkt im ökumenischen Dialog werden, um die
Gewaltfreiheit im esse bzw. im Sein der Kirche zu
verankern, da alle drei großen Traditionen des
Christentums - Orthodoxie, römischer Katholizismus und Reformation - Evangelium und Sakrament
als fundamental für die Kirche ansehen. Und
Gewaltfreiheit steht, wie aufgezeigt, im Zentrum
des Evangeliums“ (Margot Käßmann, s.o. S. 58).
Gewaltfreiheit und Engagement für die Überwin-
dung von Gewalt haben ihre Begründung also
nicht nur im Bereich des ethischen Handelns des
einzelnen Christen, sondern es geht hier in Zukunft um das Sein und das Wesen der Kirche
selbst.
Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010 - ein Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen
1975 Die ÖRK Vollversammlung in Nairobi führte
zu einer Erklärung der Delegierten, bereit zu
sein, ohne den Schutz von Waffen zu leben.
Diese Erklärung gab vielen christlichen
Friedensgruppen einen neuen Anschub, auch
neue Gruppe entstanden, vor allem bekannt
wurde die Aktion „Ohne Rüstung Leben“. Die
Friedensbewegung insgesamt bekam kräftigen Aufwind.
1983 Die ÖRK Vollversammlung in Vancouver
beschloss einen „Konziliaren Prozess für
Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der
Schöpfung“. Die Frage nach Gewalt und
Gewaltüberwindung wird zum eigentlichen
Bindeglied der drei Themenbereiche, die die
entscheidenden Menscheitsprobleme der
Gegenwart und Zukunft ansprechen.
1991 Die ÖRK Vollversammlung in Canberra konnte sich angesichts des Golfkrieges auf eine
Ablehnung militärischer Interventionen nicht
einigen, obwohl ein Konsens der Kirchen
greifbar schien, jede theologische Legitimation von Gewalt in Zukunft abzulehnen. (siehe
Margot Käßmann, Was steht ihr da und seht
zum Himmel,Hannover 1999 S.136)
GEGEN DEN TREND ’2001
1994 Der ÖRK Zentralausschuss beschloss in
Johannesburg ein „Programm zur Überwindung der Gewalt“ im Angesicht der Überwindung der rassistischen Gewalt in Südafrika.
1996 Als erste Konkretisierung des Beschlusses
entsteht das Programm „Friede für die Stadt“
(Peace to the city). Es soll in sieben internationalen Großstädten mit hohem Gewaltpotential Initiativen der Gewaltüberwindung
ermutigen, stärken, stützen und vernetzen.
1998 Die 8. Vollversammlung des ÖRK in Harare
beschliesst eine „Ökumenische Dekade zur
Überwindung der Gewalt“.
102_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
2. Konziliarer Prozess für Frieden, Gerechtigkeit
und Bewahrung der Schöpfung
Ausgehend von der ÖRK - Vollversammlung in
Vancouver entwickelten sich verschiedene Bestrebungen, vor allem auch in Deutschland (damals noch BRD und DDR), auf ein Weltkonzil für
Frieden und Gerechtigkeit hinzuwirken. Diese
Bestrebungen beriefen sich auf eine Rede von
Dietrich Bonhoeffer, die dieser 1934 auf der Insel
Fanö, anlässlich einer ökumenischen Jugendkonferenz gehalten hatte. Er ahnte einen neuen
Weltkrieg und forderte das eine „große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller
Welt“, das den Krieg verbieten und den Söhnen
der Völker die Waffen aus der Hand nehmen
sollte (Dietrich Bonhoeffer, London 1933 - 35,
DBW Band 13, S.299 - 301). Es kann hier nicht
weiter ausgeführt werden, warum ein Konzil weder damals noch infolge von Vancouver zustande
kam. Aber die Bestrebungen blieben nicht ergebnislos.
1989 fand eine Europäische Ökumenische Versammlung für Frieden in Gerechtigkeit in
Basel statt, mit Beteiligung der römisch katholischen Kirche.
1990 kam es schließlich zu einer Weltversammlung des ÖRK für Gerechtigkeit, Frieden
und Bewahrung der Schöpfung in Seoul in
Korea. Die Teilnehmenden dieser Konferenz
gingen einen sogenannten Bundesschluss
und eine Selbstverpflichtung ein, in ihren
Kirchen für diesen Bundesschluss und seine
praktischen Konsequenzen einzutreten. Stellvertretend sei hier nur ein Bundesschluss
benannt, für eine Kultur aktiver und lebensfreundlicher Gewaltlosigkeit - nicht als Flucht
vor Gewalt und Unterdrückung, sondern
als Einsatz für Gerechtigkeit und Befreiung
(epd Dokumentation, Frankfurt 2.4.1990,
S. 25).
Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010 - ein Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen
Insgesamt kann und muss man also sagen, dass
die „Dekade zur Überwindung von Gewalt“ eine
Konsequenz aus dem jahrzehntelangen Ringen um
und aus dem Engagement für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung des Ökumenischen Rates der Kirchen ist.
Das Programm der Dekade
• Ganzheitliche Auseinandersetzung mit dem
breiten Spektrum von direkter wie auch struktureller Gewalt zu Hause, in Gemeinschaften und
auf internationaler Ebene, und lernen von lokalen und regionalen Analysen der Gewalt und
Wegen zu ihrer Überwindung;
• Aufforderung an die Kirchen, Geist, Logik und
Ausübung von Gewalt zu überwinden;
• auf jede theologische Rechtfertigung von Gewalt zu verzichten und erneut die Spiritualität
von Versöhnung und aktiver Gewaltlosigkeit zu
bekräftigen;
• Gewinnung eines neuen Verständnisses von
Sicherheit im Sinne von Zusammenarbeit und
Gemeinschaft statt Herrschaft und Konkurrenz;
• Lernen von der Spiritualität Andersgläubiger
und ihren Möglichkeiten, Frieden zu schaffen,
Zusammenarbeit mit Gemeinschaften Andersgläubiger bei der Suche nach Frieden, und
Aufforderung an die Kirchen, sich mit dem
Missbrauch religiöser und ethnischer Identität
in pluralistischen Gesellschaften auseinanderzusetzen;
• Protest gegen die zunehmende Militarisierung
unserer Welt und insbesondere gegen die Verbreitung von Feuer- und Handfeuerwaffen.
(nach epd Nr. 38/99, S. 30)
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_103
GEGEN DEN TREND ’2001
Am 3./4. Februar 2001 wird die internationale
Eröffnung der ÖRK - Dekade erfolgen, und zwar
während der Sitzung des Zentralausschusses des
ÖRK in Potsdam und Berlin. Der Zentralausschuss
hat ein Rahmenkonzept verabschiedet, das der
Dekade erste erkennbare Konturen verleiht. Es
geht dem Zentralausschuss am Ende dieses gewalttätigen Jahrhunderts um ein deutliches Zeugnis: „Wir sind der festen Überzeugung, dass die
Kirchen aufgerufen sind, vor der Welt ein klares
Zeugnis abzulegen von Frieden, Versöhnung und
Gewaltlosigkeit, die auf Gerechtigkeit gründen.“
(M. Käßmann, s.o. S.148) Und es geht um praktische Zeichen und Konsequenzen: „Wir müssen
aufhören, reine Zuschauer der Gewalt zu sein oder
sie lediglich zu beklagen. Wir müssen uns aktiv um
ihre Überwindung sowohl innerhalb als auch
außerhalb der Kirchenmauern bemühen.“ (M.
Käßmann, s.o. S. 149) Der Schwerpunkt des Programmes liegt also eindeutig auf dem Aspekt der
Überwindung, auf dem Willen, konstruktive Wege
aufzuzeigen und umzusetzen. „Beim methodischen Ansatz wird man daher die positiven Erfahrungen der Kirchen und Gruppen herausstellen,
die an der Überwindung von Gewalt arbeiten. Die
Dekade zur Überwindung von Gewalt muss aus
den Erfahrungen und der Arbeit von Gemeinden
und Gemeinschaften erwachsen...Deshalb wird die
Dekade Bemühungen um die Überwindung unterschiedlicher Formen der Gewalt von Seiten der
Kirchen, ökumenischen Organisationen und Zivilgesellschaftlichen Bewegungen hervorheben und
miteinander verknüpfen.“ (epd Dokumentation
38/99, S. 30)
Im Rahmenkonzept des Zentralausschusses werden folgende Ziele gesetzt, auf die in den kommenden zehn Jahren in zwei Etappen hingearbeitet
werden soll. Es wird dabei davon ausgegangen,
dass die neunte Vollversammlung des ÖRK im Jahr
2005 einen ersten Höhepunkt markieren wird, der
dazu dienen soll, die bis dahin erreichten Ergebnisse aufzuarbeiten und der zweiten Hälfte der
Dekade einen neuen Schub und neue Motivation
zu geben. Die Ziele sind:
Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010 - ein Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen
ÖRK - Dekade und evangelische
Jugendarbeit
Die Landesjugendkammer der evangelisch - lutherischen Landeskirche Hannovers hat am 12.11.00
während ihrer Tagung im Sachsenhain beschlossen, das Thema der ÖRK - Dekade zu einem
Schwerpunktthema der Arbeit der Evangelischen
Jugend in den nächsten Jahren zu machen.
Dies ist sowohl folgerichtig mit Blick auf die Zielgruppen der Kinder und Jugendlichen, als auch
mit Blick auf mögliche methodische Vorgehensweisen im Rahmen der Dekade. Dass die Zunahme
der Gewaltanwendung an Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft, als auch durch
Kinder und Jugendliche, eine Herausforderung
auch für die Jugendverbandsarbeit ist, kann nicht
bestritten werden. Es gibt in der Jugendarbeit
vielfältige Ansätze der Präventionsarbeit und des
konstruktiven Umgangs mit Konflikten und deren
Austragung, die ausbaufähig sind und zwischen
verschiedenen Trägern verbandlicher und kommunaler Jugendarbeit vernetzt werden können. Gerade dies ist ja ein Grundanliegen der Dekade.
GEGEN DEN TREND ’2001
Im Bereich der methodischen Ansätze und Vorgehensweisen, die im Rahmenkonzept benannt werden
hat Jugendarbeit Kompetenzen, die eingebracht werden können. Neben den Stichworten: ➨Kampagnen,
➨Bildungsarbeit, ➨Gottesdienst und Spiritualität,
➨Geschichten erzählen, seien auch noch hinzugefügt ➨Internationale ökumenische Jugendbegegnungsarbeit und ➨Erinnerungs- und Gedenkstättenarbeit. Die Liste ist sicher noch nicht vollständig.
Die Landesjugendkammer hat alle ihre Ausschüsse, Gliederungen, Arbeitsgemeinschaften und die
Verbände eigener Prägung aufgefordert zu untersuchen und zu benennen, welche Bezüge es in der
konkreten praktischen Arbeit mit Kindern und
Jugendlichen vor Ort zum Thema der ÖRK- Dekade
gibt. Dies wird zusammengetragen und analysiert
104_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
werden, um bestehende Handlungsansätze aufzunehmen, auszubauen und auch darauf aufbauend
neue Ansätze zu entwickeln. Die anstehenden
größeren Veranstaltungen der nächsten Jahre, wie
z.B. der Landesjugendsonntag und das Landesjugendcamp, werden sicherlich vom Thema der
Gewaltüberwindung geprägt und dominiert sein.
Natürlich wird darauf zu achten sein, dass des
Guten nicht zuviel geschieht. Auch in anderen
gesellschaftlichen Zusammenhängen ist dieses
Thema zur Zeit dran und Jugendliche werden damit
konfrontiert. Vor allem auch im Raum der Schulen.
Deshalb wird Jugendarbeit auf ein eigenes Profil
achten müssen. Dies kann zum einen darin bestehen, dass uns durch den ökumenischen Kontext
eine kritische Sichtweise zu Verfügung steht,
die auch nach den Ursachen von Gewalt fragt,
sowohl direkter als auch struktureller Gewalt. Dies
kann uns davor bewahren, in vordergründigen
Präventionsaktionismus zu verfallen, der gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Zusammenhänge ausblendet. Zum anderen haben wir
Freiräume und methodische Kompetenzen, gepaart mit Phantasie und Kreativität, die es uns
ermöglichen sollten, unseren spezifischen Beitrag
zu leisten, damit die Ziele der ÖRK - Dekade erreicht werden können.
Zum Abschluss noch ein Bogen zum eigentlichen
Thema des Heftes, dessen Schwerpunkt ja auch
auf der Begeisterung liegen soll. Nur mit dieser, im
positiven Sinn, wird die Dekade ein Erfolg werden.
„Die Ökumenische Dekade zur Überwindung von
Gewalt erfüllt den Zweck, die Begeisterung und
Erwartungen von Kirchen, ökumenischen Organisationen, Gruppen und Bewegungen weltweit zu
bündeln, um einen positiven, praktischen und
einzigartigen Beitrag der Kirchen zur Errichtung
einer Friedenskultur zu leisten. Der Entwurf und
der methodische Ansatz der Dekade zur Überwindung von Gewalt sollten zielgerichtet und zugleich
offen für Kreativität sein und die Dynamik der
Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010 - ein Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen
Kirchen und verschiedenen gesellschaftlichen
Gruppen nutzen.“ (epd - Dokumentation Nr. 38/
99, S.32)
Für die evangelisch - lutherische Landeskirche
Hannovers hat es schon zwei ermutigende kirchliche Signale gegeben, dass die ÖRK - Dekade ein
Schwerpunkt kirchlicher Arbeit der
nächsten Jahre
werden soll. Zum
einen hat die
Landesbischöfin
Dr. Margot Käßmann ihren
Synodenbericht
am 18.06.2000
unter diesen
Schwerpunkt
gestellt, zum
anderen hat
sie in der Marktkirche Hannovers
zu einem ökumenischen Dekadegottsdienst am
3.09.00 eingeladen, der einen ersten eindrucksvollen Einblick gab, welche Potentiale der Entfaltung
und Vernetzung bezüglich der Dekade in unserer
Landeskirche schlummern. Sie hat damit aus ihrer
Sicht künftige Prioritäten kirchlicher Arbeit deutlich gemacht.
Die herzförmigen
Hände über der fragmentierten Erde symbolisieren die Notwendigkeit
und die Hoffnung, Gewalt
zu überwinden. Die gelbe
Erde bedeutet Hoffnung
inmitten von Unruhe, während die scharfen Kanten
der grünen Form auf die
Gefahr hindeuten, in der
sich die Erde befindet. Die
Bewegung der Schrift um die
Erde herum deutet die Dynamik
dieser weltweiten Initiative an.
Dass die Evangelische Jugend unserer Landeskirche zügig und konsequent auf das Thema der
Dekade zugegangen ist, zeigt, dass sie die Zeichen
der Zeit erkannt hat und ihre Jugendarbeit in der
Lage ist, auf aktuelle kirchliche und gesellschaftliche Entwicklungen einzugehen.
GEGEN DEN TREND ’2001
Siegfried Rupnow
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_105
GEGEN DEN TREND ’2001
Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010 - ein Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen
106_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
» Praxisbeispiele
Praxisbeispiele
Ich brauche Platz
Material: zwei Stühle oder eine kleine Bank
Übung zu dritt. Zwei Mädchen sitzen auf zwei
Stühlen (oder einer kleinen Bank). In der Mitte ist
soviel Platz, dass noch eine Person sitzen könnte.
Dort nimmt die dritte Person Platz. Alle drei schließen die Augen, besinnen sich auf sich selbst und
versuchen dann, sich möglichst bequem hinzusetzen. Anschließend werden die Rollen so getauscht,
dass jede einmal in der Mitte sitzt.
Auswertungsgespräch:
• Konnte ich mir Platz verschaffen?
• Wurde ich verdrängt?
• Ist es mir leicht gefallen, Druck auszuüben?
• Ist es mir leicht gefallen, Druck auszuhalten?
• An welcher Stelle habe ich meine Kraft eingesetzt, an welcher Stelle habe ich sie zurückgenommen?
• Erlebe ich ähnliche Situationen in meinem
Alltag, wie geht es mir mit solchen Erlebnissen?
Ich breche aus
• Hat es zu lange gedauert?
• Was haben die anderen Mädchen beobachtet?
• Wie versuchte das Mädchen auszubrechen?
Setzte sie neben den körperlichen auch noch
andere Kräfte ein?
• Nach welchen Kriterien suchte sie schließlich
einen neuen Platz im Kreis?
• Waren die Versuche des Kreises sehr intensiv,
das Mädchen am Ausbrechen zu hindern?
Auswertungsgespräch:
(Das erste Wort hat das Mädchen, das in der Mitte
stand.)
• Wie hast du dich in der Mitte gefühlt?
aus:
Pfadfinderinnenschaft St. Georg, Arbeitshilfe
„Starke Mädchen“ zur Prävention von sexueller
Gewalt an Mädchen und Frauen, 1993
GEGEN DEN TREND ’2001
Die Teilnehmerinnen bilden einen Kreis und fassen
sich an den Händen. Ein Mädchen steht in der
Mitte und versucht den geschlossenen Kreis zu
durchbrechen. Wenn sie ausgebrochen ist, kann
sie sich im Kreis einen Platz wählen, mit dem
sie zufrieden ist. Die Mädchen im Kreis dürfen
nicht miteinander sprechen, sondern sollen das
Verhalten des ausbrechenden Mädchens beobachten.
108_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Für die Arbeit mit Mädchen (jungen Frauen)
Rück‘ mir nicht auf die Pelle
Öffentliche sexuelle Belästigungen von Mädchen
in der Pubertät sind gang und gäbe. Der Cartoon
erlaubt es Mädchen, darüber zu sprechen.
Gesprächsleitfaden
Ein 12jähriges Mädchen sitzt in der Straßenbahn.
Sie hört Musik über Kopfhörer und schaut ganz
versunken durch das Fenster. Obgleich noch viele
andere Plätze frei sind, setzt sich ein Mann direkt
neben sie und macht sich sehr breit - bedrängt sie
mit seinem Körper. PIötzlich spürt sie seine Hand
an ihrem Oberschenkel. Der Übergriff geschieht
wie nebenher, scheinbar zufällig, als ließen sich
die Berührungen nicht vermeiden. Doch die Tarnung mißlingt. Jetzt reicht’s! Wütend blickt das
Mädchen den Belästiger an. Aus dieser Stimmung
heraus bläst sie mit ihrem Kaugummi eine große
Blase und knallt ihm diese auf die Brille. Dabei
schreit sie: »Uuups - ist aber auch schrecklich eng
hier!«
Der Mann ist von der spontanen Abwehr des
Mädchens vollkommen überrascht. Damit hat er
nicht gerechnet! Die Situation wird peinlich. Das
Mädchen ist für ihn unberechenbar. Er hält es für
ratsam, den Platz zu räumen, und schleicht sich
aus der Sitzreihe. Zwei Kinder auf den hinteren
Plätzen solidarisieren sich mit dem Mädchen und
rufen laut »Bravo«.
Kommentar
Das Mädchen erkennt die Situation. Für sie besteht kein Zweifel daran, dass der Mann sie mit
Methodische Uberlegungen
Jedes Mädchen sollte erst einmal selbständig
anhand der Fragen zu dem Cartoon SteIlung beziehen. Anschließend kann die Gruppe die Situation
in der Straßenbahn nachspielen. Es empfiehlt sich,
während des SpieIs verschiedene Widerstandsformen auszuprobieren (verrückt spielen, unhöflich sein, weglaufen, treten usw. Die Täterrolle
können und sollen auch schüchterne Mädchen
übernehmen.
Anschließend können die Mädchen sich eine der
SelbstbestimmungsregeIn aussuchen und diese in
der Gruppe als Ich-Botschaft laut wiederholen.
Z.B.: »Ich steIle meinen Schutz und meine Sicherheit an erste SteIle … Ich vertraue meinem Gefühl
…« usw. Die Mädchen sollen aussprechen, was sie
spüren, wenn sie diesen Satz sagen, und was sie
dazu bewogen hat, gerade diese Regel auszusuchen. Oft sind Jugendliche stark verunsichert, weil
sie meinen, sie könnten sich »so etwas« nicht
erlauben, oder aber sie spüren, wie wichtig diese
Regeln sind und wie gut es ihnen tut, sie laut zu
sagen. Häufig fällt die Wahl auf Regeln, die entweder wenig beherzigt oder schon angewendet
wurden. Geben Sie den Mädchen die SelbstbestimmungsregeIn und lassen Sie die einzeInen
Regeln von den Kindern illustrieren.
Erklären Sie den Mädchen, was eine sexueIle
Belästigung ist! Entscheidend ist auch hier das
Verhalten und die Handlung des Belästigers ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_109
GEGEN DEN TREND ’2001
Ganz plötzlich und ohne Vorwarnung befindet sich
das Mädchen in einer Belästigungssituation. Diese
überfallartigen Übergriffe ohne »VorgeplänkeI« erleben Mädchen täglich. Auch die HauptdarsteIlerin
des Cartoons »trifft es« aus heiterem HimmeI.
voller Absicht sexuell belästigt. Doch sie zeigt klar
und deutlich ihren Widerwillen und ihre Entschlossenheit, ihr Recht auf Platz und Bewegungsfreiheit
zu verteidigen. Wenn der Kerl unhöflich ist, dann
kann sie es auch sein! Sie fackeIt nicht lange und
weiß genau, wie die Pläne des Belästigers durchkreuzt werden können.
GEGEN DEN TREND ’2001
Für die Arbeit mit Mädchen (jungen Frauen)
110_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Für die Arbeit mit Mädchen (jungen Frauen)
weniger die Frage, ob er bekannt oder fremd ist.
Erzählen Sie eine erIebte Belästigung und wie Sie
sich gefühlt und reagiert haben. Ohne weitere
Aufforderung werden die Mädchen danach über
eigene Erfahrungen berichten.
Beachten Sie jede Erzählung. Manchmal brauchen
Mädchen Formulierungshilfe, z.B. wenn sie sich
schämen, Geschlechtsteile zu benennen. Jeder Bericht
sollte mit einer positiven Bemerkung über das Mädchen abgeschlossen werden. Wenn Sie merken, dass
Mädchen sich über Humor und Lachen Distanz zum
ErIebten schaffen, dann machen Sie einfach mit.
Fragestellungen
• Wie hat sich das Mädchen gefühlt, als der Mann
sie belästigte?
• Gab es eine Möglichkeit, der Belästigung auszuweichen?
• Darf ein Mädchen unfreundlich sein, wenn sie
belästigt wird?
• WeIche Arten der Belästigungen kennst Du?
Regeln zur Selbstbestimmung für Mädchen
(ab 11 Jahre)
1 . SteIle Deinen Schutz und Deine Sicherheit an die
erste SteIle, wenn jemand Deine Gefühle und
Deinen Körper nicht achten oder verIetzen will.
2. Dein Körper gehört Dir! Du bestimmst, wer ihm
nahe kommen und ihn anfassen darf!
Du Angst und Unsicherheit spürst, dann traue
diesem Gefühl. Meist stimmt es.
5. Manchmal kommt das Gefühl erst später, wenn
Du Dich daran wieder erinnerst. Beachte es
genauso!
6. Du darfst wie ein Hund die unangenehmen
Berührungen abschütteIn oder sie mit der Hand
wegstreichen. Sofort nachdem es passiert ist,
oder auch im nachhinein.
7. Du darfst Nein sagen, unfreundlich sein, verrückt spielen, nicht gehorchen, weglaufen,
herumschreien, treten. Alles ist für Dich erlaubt,
wenn Du glaubst, in Gefahr zu sein.
8. Wenn Du Nein sagst, dann meine auch Nein.
Lache nicht, wenn Du innerlich voll Ärger bist.
Zeige, was Du fühlst und willst.
9. Sprich mit Deinen Freundinnen über unangenehme Erlebnisse. Du kannst Dir sicher sein,
dass sie Dir glauben, weil sie Ähnliches erIebt
haben. Wenn Du darüber sprichst, dann verpflichte Deine Freundinnen nicht, darüber zu
schweigen. Überlegt, wer es alles wissen soll
und darf!
aus: Irmgard Schaffrin/Dorothee Wolters,
Auf den Spuren starker Mädchen, Cartoons für
Mädchen - diesseits von Gut und Böse, Köln 1993
Hrsg.: Zartbitter e.V., Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Mißbrauch an Mädchen
und Jungen, Sachsenring 2-4, 50677 Köln,
Tel.: 0221/312055
GEGEN DEN TREND ’2001
3. Wenn dich jemand bedrängt und unangenehm
berührt, überIege nicht, was diese Person von
dir wilI. ÜberIege was Du willst!
4. Vertraue deinem Gefühl! Wenn sich Berührungen unangenehm oder komisch anfühlen und
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_111
Für die Arbeit mit Jungen (jungen Männern)
Elektrischer Draht
Ziel:
Erlernen von Problemlösungsstrategien; Zusammenarbeit; Förderung der Diskussionsfähigkeit
Teilnehmer:
10 – 15
Alter:
ab 14
Material:
- zwei Bäume von ca. 5 m
- ein ca. 5 m langes Seil
- ein 2,00 m langes, 15 cm breites
und mindestens 10 cm dickes
Brett
GEGEN DEN TREND ’2001
Beschreibung: Das Seil wird zwischen die beiden
Bäume in einer Höhe von 1,50 m
gespannt. Der Spielleiter erklärt,
dass es elektrisch geladen sei.
Aufgabe der Teilnehmer ist es, die
gesamte Gruppe von einer Seite
des Seiles auf die andere zu bringen, wobei das Seil nicht berührt
werden darf. Als Hilfsmittel steht
das Brett zur Verfügung.
Die Regeln sind wie folgt:
- Wenn ein Teilnehmer den
„Draht“ berührt, muß er neu
beginnen. Für jeden anderen
Teilnehmer, der denjenigen zu
diesem Zeitpunkt berührt hat,
gilt das Gleiche; gleichgültig, ob
er bereits auf der anderen Seite
war oder nicht.
- Wenn das Brett den „Draht“
berührt, müssen die, die das
112_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Brett gehalten haben, von vorn
beginnen.
- Die Bäume, um die das Seil
gespannt ist, stehen ebenfalls
„Unter Strom“.
Variationen:
(1) Der „elektrische Draht“ kann
mit Hilfe eines dritten Baumes als
Dreieck gespannt werden. Alle
Teilnehmer müssen in die innere
Fläche des Dreiecks gelangen.
(1.1) Bei dieser Variante ist es auch
möglich, das Seil in unterschiedlichen Höhen zu spannen (Zum
Beispiel von Baum A zu B eine
Höhe von 1,50 , von B zu C eine
Höhe von 1,40 m und von C zu A
eine Höhe von 1,30 m). Der Spielleiter kann je nach Gruppenzusammenstellung bestimmen,
wieviele Teilnehmer über das niedrig, wieviele über das 1,30 m hoch
gespannte Seil hinüberdürfen.
Erfahrungen:
Die Problemstellungen bei dieser
Übung fordert die Überlegung, wie
die letzte Person die andere Seite
des „Drahtes“ erreichen kann.
Gruppen, die wild drauflosarbeiten, werden sich sehr schnell vor
diesem Problem sehen. Es müssen
also sowohl eine Taktik als auch
Personen nach besonderen Eigenschaften diskutiert und ausgewählt werden.
Für die Arbeit mit Jungen (jungen Männern)
Säureteich
Ziel:
Erlernen von Problemlösungsstrategien; Zusammenarbeit; Förderung der Diskussionsfähigkeit
Teilnehmer:
10 –14
Alter:
ab 14 Jahre
Material:
- ein Baum oder jede andere
besteigbare stabile Plattform, an
der ein Seil befestigt werden kann
- ein Kletterseil (30 m)
- ein Seil (20 m)
- ein Klettergurt mit Karabiner
- ein Kletterhelm
- ein Gegenstand (zum Beispiel
Apfel)
- ein Tuch zum Augenverbinden
Variationen:
(1) Es ist eine sehr interessante
Erschwerung der Aufgabe, der
Person im Klettergurt die Augen zu
verbinden.
(2) Je nach Gruppe kann der Spielleiter die Zeitvorgabe verlängern
oder verkürzen.
Erfahrungen:
Dieses Spiel verlangt Einfallsreichtum der Gruppe. Es gilt eine Taktik
und die geeignete Person für die
Aufgabe zu finden. Die wichtigste
Funktion des Betreuers oder Spielleiters liegt in der Sicherheitsüberwachung. Er hat darauf zu achten,
dass das Kletterseil richtig an den
Baum geknotet ist und dass sowohl Klettergurt als auch Helm
ordnungsgemäß angelegt sind.
Man sollte dieses Spiel auf keinen
Fall mit Kindern unter 18 Jahren
spielen. Der Betreuer müßte voraussichtlich aus sichterheitstechnischen Gründen oft eingreifen
und würde so die Eigeninitiative
der Teilnehmer unterdrücke. Damit
wäre der Zweck des Spieles verfehlt.
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_113
GEGEN DEN TREND ’2001
Beschreibung: Das Seil wird an den Enden zusammengeknotet und vor dem
Baum als Kreis ausgelegt. In den
Mittelpunkt wird der Apfel gestellt.
Aufgabe der Gruppe ist es, mit
Hilfe des Kletterseils, des Klettergurtes mit Helm und des Baumes
den Apfel innerhalb einer halben
Stunde aus dem Kreis zu holen.
Der Kreis stellt einen Teich mit
giftiger Säure dar.
Kürzung oder andere Auflagen wie
z.B. Augenverbinden der betreffenden Person, Hände auf den Rücken
binden, etc. erhöhen den Schwierigkeitsgrad.
Die gängigste Lösung ist, ein Ende
des Kletterseils in einer maximalen
Höhe von 2,50 m am Baum zu
befestigen (der Knoten sollte auf
alle Fälle vom Betreuer überprüft
werden). Eine Person legt Klettergurt und Helm an, besteigt den
Baum und klinkt den Karabiner in
das Kletterseil ein. Der Rest der
Gruppe hält das Kletterseil über
den Kreis hinweg gestrafft. Nun
kann sich die Person am Kletterseil
in Richtung Apfel hinunterhangeln
und ihn aufnehmen.
Für die Arbeit mit Jungen (jungen Männern)
Das Spinnennetz
Ziel:
Erlernen von Problemlösungsstrategien, Zusammenarbeit; Förderung der Diskussionsfähigkeit.
Teilnehmer:
10 –12
Alter:
ab 14 Jahre
Material:
- zwei Bäume im Abstand von
ca. 4m
- ein langes Seil oder Nylonschnur
GEGEN DEN TREND ’2001
Beschreibung: Zwischen den beiden Bäumen wird
ein Spinnennetz mit Hilfe des Seils
gespannt. Es sollte 0,5 m über dem
Boden beginnen und eine Höhe
von 2m haben. Je nach Teilnehmerzahl müssen zwischen 10 –12
Löcher in dem Netz in verschiedenen Höhen vorhanden sein.
Aufgabe der Gruppe ist es, alle
Teilnehmer durch die Löcher im
Netz zu schleusen, wobei jede
Berührung des Netzes untersagt
ist.
Wenn das Netz berührt wurde,
muss die gesamt Gruppe von vorn
beginnen. Außerdem darf jedes
Loch nur einmal benutzt werden.
Derjenige, der einmal durch das
Netz hindurch ist, darf nicht mehr
auf die andere Seite zurück, um
den Restlichen zu helfen. Die Hilfe
kann nur auf der Seite geschehen,
auf der er sich im Moment befindet.
Variationen:
(1)Wenn jemand das Netz berührt,
muss nicht die ganze Gruppe noch
mal beginnen; der Befreffende
114_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
bekommt stattdessen eine besondere Aufgabe: sich die Augen zu
verbinden, ein Lied beim Durchsteigen des Netzes zu singen, eine
oder beide Hände auf den Rücken
zu binden, einen Gegenstand mit
durch das Netz zu nehmen, etc.
(2) Der Spielleiter kann als zusätzliches „Loch“ den Weg unter dem
Netz, jedoch nicht über dem Netz
anbieten.
Erfahrungen:
Diese Übung fördert neben dem
Erlernen von Problemlösungensstrategien (Aufgabe akzeptieren,
Plan fassen und ausprobieren) die
Zusammenarbeit und die Diskussionsfähigkeit einer Gruppe, da sie
wie die anderen von einem Individuum nicht zu lösen ist.
Der Spielleiter sollte zu Beginn
betonen, dass es sich bei dieser
Übung um eine Gruppenaktivität
handelt. Die Aufgabe ist erst erfüllt, wenn alle Gruppenmitglieder
die andere Seite des Netzes erreicht haben. Es wird wahrscheinlich einige geben, die sich sofort
ein für sie leichtes Loch aussuchen. Wie die restlichen Teilnehmer hinüberkommen, ist ihnen im
ersten Moment nicht so wichtig.
Ansonsten kann ich diese Übung
nur empfehlen, sie weckt großen
Ehrgeiz, da sie am Anfang fast
unmöglich zu lösen erscheint.
Aus: Reiners, Annette: Praktische Erlebnispädagogik, Alling, 1997
Für die Arbeit mit Jungen (jungen Männern)
Konkurrenz unter Jungen
- möglicher Auslöser von Gewalt
immer zwei Seiten: einen Gewinner
und einen Verlierer. Ist es erreicht, die
Überlegenheit oder eigene Bedürfnisse zu demonstrieren, hat das Verhalten
auch immer einen Verlierer produziert,
der kleiner, schwächer, weniger, hässlicher ist, als man selbst.
Jungen, die sich häufig in der Verliererposition wiederfinden, sehen sich, um
ihr Selbstwertgefühl wieder aufzubauen, zunehmend in die Situation
gedrängt, mit „aller Gewalt” ihre
Persönlichkeit oder ihre Position in der
Gruppe verteidigen zu müssen. Sie
überschreiten in ihrem übersteigerten
Eifer dann häufig die Grenzen anderer.
Verliert ein Junge diese Konkurrenz
zum gleichen Geschlecht, so besteht
für ihn immer noch die Möglichkeit,
seine Überlegenheit gegenüber Mädchen zu betonen. „Ich war besser, als
das beste Mädchen”. Somit kann er
seinen angekratzten Selbstwert wenigstens teilweise zurückzugewinnen.
Das Prinzip des Konkurrierens ist im
männlichen Denken fest verankert und
bestimmt das Verhalten zu den Geschlechtsgenossen. Der Mythos des
„Einzelkämpfers” ( Ich schaffe das
schon alleine ), steht der Solidarität
unter Jungen im Wege. Somit wird eine
vertrauensvolle und hilfsbereite Atmosphäre zwischen den Jungen verhindert.
Spiel:
Der große Reiz
Thema: Gewalt und Aggression
Einleitung:Eine Aufgabe der Arbeit mit Jungen ist
es, sie aus diesen KonkurrenzsituatiZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_115
GEGEN DEN TREND ’2001
Einleitung: Ist die Konkurrenz unter Jungen das
auslösende Moment für Gewalt? Geht
man der ursprünglichen Bedeutung
von Konkurrenz nach, so bedeutet es
im Lateinischen: Wettstreit. Sicherlich
im klassischen Sinne von fairem Wettstreit. In unserer Zeit ist damit stärker
der Akzent des Ausstechens, besser
sein als der Andere verbunden. Jungen
stehen in ständigem Wettstreit, in
ständiger Konkurrenz zu einander.
Beobachten können wir das an ständigen Rangeleien und Schubsereien.
Darüber hinaus sind Jungen häufig in
Situationen des sich gegenseitig
Ausstechens verwickelt. Egal ob es um
Kleidung, um Cool sein, um körperliche Leistung, Rauchen, Alkohol, oder
Mädchen geht. In diesen täglichen
kleinen Auseinandersetzungen lernen
sie unter anderem Durchsetzungsvermögen und Willensstärke.
Doch wird es den Jungen zum Verhängnis, wenn sich diese Dynamik
verselbstständigt, oder wenn sie
ausschließlich von solchen tagtäglichen Bestätigungen durch Rangeleien
abhängig werden. In der Übersteigerung dieses Bedürfnisses liegt die
Gefahr. Jungen geht es häufig darum,
in der Selbstdarstellung und Außenwirkung immer ein wenig anders,
besser dazustehen, als die Anderen.
Ein wenig mehr Aufmerksamkeit für
sich zu bekommen, ein bisschen mehr
zu sein als der Andere. Dabei ist der
Kern der Streites eigentlich ziemlich
nebensächlich. Das Prinzip des Konkurrierens, des Ausstechens an sich ist
wichtig. In diesem Prozess gibt es
Für die Arbeit mit Jungen (jungen Männern)
onen herauszuholen, ihre Solidarität untereinander zu fördern
und somit zur Vermeidung von
Gewaltanwendung beizutragen.
Dazu ist es erforderlich ihnen
diese Konkurrenzsituationen vor
Augen zu führen und gemeinsam
nach Alternativlösungen zu
suchen.
Aufgabe ist es, sie von dem
Zwang zu befreien, immer besser, schneller oder stärker sein
zu müssen als der Andere. Das
folgende Spiel bietet Jungen die
Möglichkeit im spielerischen
Wettstreit andere Verhaltensweisen anzudenken, bzw. im Rollenspiel auszuprobieren und als
mögliche Verhaltensmuster für
sich kennenzulernen.
GEGEN DEN TREND ’2001
Zielgruppe:
Jungen im Alter ab 12 Jahren; auf
Freizeiten und in Gruppenstunden entweder aus einer
Jugendgruppe, Konfirmandengruppe, oder einer Projektgruppe in einer Schule.
Teilnehmerzahl mindestens 8
Dauer: ca. 2 Stunden
Zielformulierung: Die Jungen sollen in einer spielerischen Situation im Wettstreit
um Punkte Konflikt und Konkurrenzsituationen gewaltfrei
lösen lernen. Sie sollen erleben,
dass Nachgeben nicht „uncool
sein“ bedeutet. Sie sollen erleben, dass andere Jungen ähnliche Erfahrungen im Erleben von
Konkurrenz machen.
Ablauf:
Der große Reiz ( in Anlehnung an
die Fernsehsendung „Der große
116_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Preis”) kann in vielen verschiedenen Ausprägungen und unter
verschiedensten Themenstellungen gespielt werden. Wichtig
hierbei ist, dass Fragen und
Aufgaben von den Leitenden
selbst ausgesucht und durchdacht worden und auf die Gruppe abgestimmt worden sind.
Somit sind die hier abgedruckten Fragen und Aufgaben als
Anregung zu verstehen.
Als Leitung muss ich mir die
Fragen selbst zutrauen, um ein
Gespür zu haben, was den
Jungen bei der Beantwortung an
Gefühlen begegnen kann.
Zu Beginn des Spiels werden
Kleingruppen von 2 - 4 Spielern
gebildet, die sich bei der Beantwortung der Fragen oder bei der
Erfüllung der Aufgabe unterstützen. Die erste Aufgabe der
Kleingruppe vor Spielbeginn ist
es, sich einen Namen zu geben.
Nun beginnt ein Team von den
verdeckten, nur mit Punktzahlen
versehenen Feldern zu den
verschiedenen Überschriften
eine Frage auszuwählen. Das
gewählte Feld wird umgedreht
und die Frage/Aufgabe laut
vorgelesen. Das Recht des
Wählens geht nach jeder Frage
zum nächsten Team über. Die
Punktevergabe oder Lösung der
Aufgabe entscheidet nicht die
Spielleitung, sondern alle urteilen über Antwort und Punkteverteilung.
aus: Halbe Hemden - ganze Kerle
Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen
Für die Arbeit mit Jungen (jungen Männern)
Lösungen
Gewalt
Konflikte
Zähle vier Möglichkeiten auf, wie Jungen
einen Streit/Konflikt
beenden können? WeIche Möglichkeit wählst
Du am häufigsten?
WeIches Signal/Äußerung würde Dich stoppen, weiter auf einen
anderen einzuschlagen?
VervolIständige folgenden Satz in drei Varianten. Gewalt ist, wenn ...
Beschreibe das Bild.
Was geht in Dir vor
wenn Du es siehst?
Zähle Gründe auf
warum Jungen sich
prügeln? Welche Gründe kennst Du von Dir?
Joker
Assoziiere Worte zum
Thema Gewalt mit den
Anfangsbuchstaben von
Gewalt: G -E-W -A -L-T
Beschreibe eine Situation, in der Du Dich körperlich gewehrt hast.
Was hast Du gefühlt?
Du hast einen heftigen
Streit mit Deinem Vater
über das Schuleschwänzen. Spiel die
Streitsituation nach.
Erzähle eine Begebenheit von Dir, in der Du
gestritten hast, und
vielleicht auch geschlagen hast? Wie bist Du
da für Dich zu einem
Ende gekommen?
Gibt es für Dich eine
Grenze zwischen Gewalt und Aggression?
Wo ist sie? Beschreibe
den Unterschied mit
Deinen Worten.
Beschreibe einen
Konflikt, der Dich
innerlich hin und her
gerissen hat. Wie bist
Du da wieder herausgekommen?
Spiele ein Gespräch
von zwei Jungen in
Deinem Alter mit der
Frage nach: Was finden
Jungen so interessant
an Rambo?
Folgende Situation: Du
betrittst eine Straßenbahn. Es ist nur ein
Sitzplatz frei. Ein
Klassenkamerad, den
Du nicht leiden kannst
versucht es ebenfalls.
Was passiert?
Beschreibe eine Situation, Begebenheit in
der Du Opfer geworden
bist. Welche Gefühle
sind da bei Dir hochgekommen?
Beschreibe, wie Du
Dich abregst, wenn Du
Dich ins Unrecht gesetzt fühlst. Welche
Möglichkeiten hast
Du?
Jungen
Lösungen
Gewalt
Konflikte
20
20
20
20
40
40
40
40
60
60
60
60
80
80
80
80
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_117
GEGEN DEN TREND ’2001
Jungen
Für die Arbeit mit Mädchen und Jungen/Männern und Frauen
Lebenskurve: Erfahrungen von Gewalt
Einleitung:
JedeR von uns hat Gewalt in
unterschiedlicher Form in
ihrem/seinem Leben schon
einmal erfahren. Diese Einheit gibt die Möglichkeit sich
im vertrauten Rahmen über
Gewalterfahrungen auszutauschen und Solidarität in der
erlebten Situation durch die
Äußerungen der anderen
Teilnehmenden zu erfahren.
Zielgruppe:
Diese Einheit erfordert ein
hohes Maß an Vertrauen
innerhalb der Gruppe und zur
Gruppenleitung. Die Teilnehmenden sollten sich gut
kennen. Vielleicht auf einer
gemeinsamen Freizeit sein,
oder schon eine längere Zeit
in einer Gruppe zusammen
sein und mindestens 16 Jahre
alt sein.
ihrem persönlichen Bereich
mit Gewaltstrukturen und
Gewalt benennen. In einem
weiteren Schritt sollen die
Gefühle der Teilnehmenden
zur Sprache kommen. Die
Teilnehmenden sollen erkennen, dass sie mit ihren Gefühlen nicht allein sind.
Ablauf:
JedeR Teilnehmende erhält
ein Arbeitsblatt mit dem
Koordinatenkreuz „Lebenskurve”. Die Teilnehmenden
tragen ihre individuellen
Erfahrungen in das Arbeitsblatt ein.
Auswertung:
In welchen Situationen habe
ich Gewalt erlebt?
Welche Person waren / sind
daran beteiligt?
Welche Gefühle hat das bei
mir ausgelöst?
Wie gehe ich damit um?
Wie bin ich damit umgegangen?
Zielformulierungen: Die Teilnehmenden sollen
anhand der Lebenskurve
konkrete Erlebnisse aus
Anzahl
6•
5•
4•
GEGEN DEN TREND ’2001
3•
2•
1 •
•
5
118_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
•
10
•
15
•
20 Lebensalter
Für die Arbeit mit Mädchen und Jungen/Männern und Frauen
Grenzen wahrnehmen
Einleitung:
Begeisterung kennt keine
Grenzen habe ich vorhin behauptet. Im Sturme der Begeisterung kommt es schnell zu
Grenzverletzungen anderer. Die
folgende Übung soll Möglichkeiten aufzeigen, die eigene
Grenze und die der/des Anderen kennenzulernen.
Zielgruppe:
Die Gruppe sollte vertraut miteinander sein. Sie sollte sich
entweder auf einer Freizeit befinden, oder aber schon längere
Zeit in einer Gruppe zusammen
sein. Alter ab 16 Jahren.
zur Wand. Der/die andere TN
steht auf der anderen Seite des
Raumes, das Gesicht auf den
Rücken des anderen gerichtet.
Auf Kommando des 1. TN setzt
sich der 2. TN langsam in Bewegung, Richtung 1. TN. DieseR
versucht das langsam Näherkommen des 2. TN zu erspüren
und sagt „Stopp” wenn es ihm/
ihr zu dicht wird. Dann dreht er/
Sie sich um und betrachtet die
Entfernung zum 2. TN.
Auswertung:
Zielformulierung: Die TN sollen ihre eigenen Grenzen deutlicher erfahren und die
Grenzen anderer akzeptieren
lernen. Unsichtbare persönliche
Grenzen sollen durch die Übung
visualisiert werden.
Ablauf:
Ein TN steht auf der einen Seite
des Raumes mit dem Gesicht
Wie dicht habe ich den 2. TN an
mich herangelassen?
War meine Vermutung mit der
tatsächlichen Entfernung identisch?
Was hab ich in meinem Rücken
gespürt?
Wo liegt meine körperliche
Grenze?
Wie ist es mir mit dem auf
den anderen Zugehen ergangen?
Burgspiel
Einleitung:
Teilnehmenden in ihrer Kreativität und Sensibilisierung für
einander gestärkt.
Zielgruppe:
Dieses Spiel eignet sich für
Gruppen auf Freizeiten oder
auch im Schulbereich.
Alter ab 12 Jahren, aber auch für
jüngere.
Zielformulierung: Die Teilnehmenden sollen
Grenzen erkennen und durch
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_119
GEGEN DEN TREND ’2001
Grenzüberschreitungen sind ein
gewaltsames Eindringen in den
Persönlichkeitsbereich anderer.
Grenzverletzungen geschehen
manchmal auch unbewußt.
Die folgende Übung will die
Grenzen in Form eines Spieles
deutlich machen und den Teilnehmenden Wege eröffnen,
Grenzen nicht gewaltsam und
unbewusst zu überschreiten.
Durch diese Übung werden die
Für die Arbeit mit Mädchen und Jungen/Männern und Frauen
Kreativität vorsichtig öffnen
lernen.
Ablauf:
Es wird eine Mädchen- und eine
Jungengruppe gebildet. Die einen gehen hinaus, die anderen
bilden einen dichten Kreis und
setzten sich auf den Boden. Sie
verabreden ein Zeichen auf das
hin sich der Kreis öffnen (Bein
streicheln, Ärmel aufkrempeln,
sanft am Ohrläppchen zupfen,
o.ä.). Die Gruppe von draußen
kommt herein und versucht das
Zeichen zu finden, in dem sie
mögliche Verhaltensweisen
gemeinsam ausprobieren. Die
Personen im Kreis lassen sich
z. B. auf die Nase stupsen und
öffnen den Kreis erst wenn das
verabredete Zeichen von einem
gefunden wurde.
Auswertung:
Die Teilnehmenden sowohl in
der, als auch außerhalb der
Burg sollten über ihre Erfahrungen/Gefühle reden können.
Anmerkung:
Wichtigste Regel für dieses
Spiel ist kein aggressives, oder
unangenehmes Verhalten zuzulassen. Es geht um kreative
Ideen im Blick auf Grenzöffnungen.
Burgspiel (Variante)
Zielformulierung: Einübung (gewaltfreier) Problemlösungen
Ablauf:
GEGEN DEN TREND ’2001
Auswertung:
Eine Gruppe wird in zwei Kleingruppen unterteilt. Die einen
gehen Hinaus. Die anderen
bilden einen dichten Kreis auf
dem Boden. Die Gruppe von
außen hat als Ziel in die Burg zu
gelangen. Die Gruppe von innen
soll das verhindern.
auch thematisiert werden, wie
eine Lösung zustande kam
und wie die Gruppe kooperiert
hat.
Anmerkung:
Die TN sowohl in der, als auch
außerhalb der Burg sollten
über ihre Erfahrungen/Gefühle reden. Dabei sollte
Kommt es zu einem konfrontativem Verhalten der äußeren
Gruppe, lässt sich daran sehr
gut über das Thema Gewalt
reden. In einem zweiten Durchgang kann sehr gut die andere
Variante des Burgspiels erprobt
werden. Wenn man vor hat,
beide Varianten auszuprobieren, sollte diese Variante zuerst
durchgeführt werden.
Praxisbeispiel (Väter) für die thematische Arbeit
mit Jungen (männlichen Jugendlichen):
Gemischtgeschlechtliche Gruppen können in zwei
geschlechtshomogene Untergruppen aufgeteilt
werden.
120_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Lies den Text bis zum Ende durch.
(Wenn möglich, die Musikversion von der Gruppe
„Die Ärzte“ anhören.)
Für die Arbeit mit Mädchen und Jungen/Männern und Frauen
Was für ein Männerbild wird hier transportiert
bzw. welche männlichen Rollenzuschreibungen
werden thematisiert?
Welche Alternativen gibt es?
Was für ein Frauenbild wird hier transportiert?
Welche Möglichkeiten gibt es für Mädchen und
Frauen, sich gegen männliche Gewalt zu wehren?
Was passiert (worin liegt die Gefahr), wenn Radiosender das Lied nicht bis zum Ende ausspielen?
Wird das Lied der tatsächlichen Gewalt gegen
Mädchen und Frauen gerecht?
Ist die Art und Weise des Liedes geeignet, das
Problem der Gewalt gegen Mädchen und Frauen
angemessen zu problematisieren?
Manchmal haben Frauen…
Die Ärzte (M/T: Felsenheimer)
In einer Bar sprach er
mich an.
Er war betrunken und
er roch nach Schweiß.
Er sagte: „Junge, hör
mir zu, da gibt es
etwas, das ich besser
weiß.
Die Emanzipation ist
der gerechte Lohn, für die verweichlichte Männerschaft.
Doch du kannst mir vertrauen zwischen Männern
und Frauen,
gibt es einen Unterschied, der ganz gewaltig klafft.“
Und was ich dann hörte, was mich total empörte,
es wiederzugeben fehlt mir fast die Kraft.
Er sagte: Manchmal, aber nur manchmal, haben
Frauen ein kleines bisschen Haue gern.
Manchmal, aber nur manchmal, haben Frauen ein
kleines bisschen Haue gern.
Ich stieß ihn weg und rannte nach Haus´, das
mußte ich meiner Freundin erzählen.
Ich ließ nichts aus, es sprudelte aus mir raus. Die
Ungewissheit fing an mich zu quälen.
Das war mir noch nie passiert. Ich war wie traumatisiert, und etwas neugierig war ich auch.
Da lächelte sie und hob ihr Knie, und rammte es
mit voller Wucht in meinen Bauch.
Als ich nach Atem rang und ihre Stimme erklang,
umwehte sie ein eisiger Hauch.
Sie sagte: Manchmal, aber nur manchmal, haben
Frauen ein kleines bisschen Haue gern.
Manchmal, aber nur manchmal, haben Frauen ein
kleines bisschen Haue gern.
Immer, ja wirklich immer, haben Typen wie
Du, was auf die
Fresse verdient.
Immer, ja wirklich immer, haben Typen wie
Du, was auf die
Fresse verdient.
© Sascha Lüthje
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_121
GEGEN DEN TREND ’2001
Ich sagte: „Laß´ mich in Ruh´. Ich hör´ Dir nicht
mehr zu, Du stinkbesoffenes Machoschwein!“
Das hörte er nicht gern. Er fing an, an mir zu zerren. Kurz darauf fing ich mir eine ein.
Er schrie: „Stell´ Dich nicht blind! Du bist doch kein
Kind. Ich mach Dich alle, dann weißt Du Bescheid!“
Doch statt mir noch eine zu zimmern, fing er an zu
wimmern, jetzt tat der Typ mir plötzlich leid.
Er fing an zu flehen, ich sollte endlich verstehen.
Sein Mundgeruch brachte mir Übelkeit.
Er sagte: Manchmal, aber nur manchmal, haben
Frauen ein kleines bisschen Haue gern.
Manchmal, aber nur manchmal, haben Frauen ein
kleines bisschen Haue gern.
Für die Arbeit mit Mädchen und Jungen/Männern und Frauen
Begeisterung kennt keine Grenzen
Wer lässt sich nicht gerne von etwas begeistern?
Ich jedenfalls bin mit Begeisterung bei vielen
Aktionen dabei, sei es nun das Spielen, eine Sportveranstaltung meines Lieblingsvereins oder aber
bei meiner Lieblingsmusik auf einem Konzert.
Begeisterung ist für mich eine gefühlsmäßige
Zustimmung zu einer Sache/Idee/Aktion, o.ä. In
der evangelischen Jugendarbeit versuchen wir mit
unseren Angeboten Jugendliche und Kinder zu
begeistern. Deshalb sind unsere Angebote zum
einen sehr vielfältig, und zum anderen haben sie
einen hohen Begeisterungswert. Begeisterung
wird in Freizeiten, Aktionen, Spielsituationen,
Konzerten und Gottesdiensten erlebbar.
Durch die Erlebnisgesellschaft hervorgerufen, wird
der Drang zu immer mehr Erleben und Begeisterung größer. Die Schwelle der Begeisterungsfähigkeit steigt an und erfordert somit ein ständig
sich selbst übertreffendes Erlebnisangebot (Kick,
Events, Thrill).
Allerdings bedeutet Begeisterung noch keine
eindeutige Identifikation oder reflektierte Zustimmung mit der Sache an sich, sondern sie beinhaltet, dass ich mich emotional von dem Geist, der
dieser Sache/Aktion/Idee innewohnt, anstecken
und mittragen lasse. Dieses „unreflektierte Verhalten” birgt die Gefahr des Umkippens der Begeisterung in Gewalt oder Euphorie. Wie schnell kann
aus der Begeisterung für einen Fußballverein in
der Auseinandersetzung mit anderen Vereinen im
Falle einer sportlichen Niederlage „eine gewaltige
Begeisterung” werden.
Begeisterung für eine Person, eine Idee, die in
Euphorie umschlägt und zur Folge hat, dass eigenes Verhalten grenzenlos wird und die Grenzen
anderer überschreitet. Zum Beispiel, wenn ich
versuche eine Andere/einen Anderen von meiner
Idee „mit Gewalt” zu überzeugen.
Andererseits ist Begeisterung für das eigene Erleben von großer Bedeutung, denn sie wird
zur eigenen Antriebsfeder, zum Motor meines
Handelns für/in dieser Angelegenheit. Ein reflektiertes Verhalten meinerseits macht aus der
Begeisterung stärker ein zielgerichtetes Interesse.
Insofern schwankt Begeisterung immer zwischen
der Gefahr der Grenzüberschreitung, sowohl
meiner eigenen Grenze, als auch der anderer
Menschen.
In der pädagogischen Arbeit mit Kindern und
Jugendlichen soll es auch darum gehen, diese
Gradwanderung zwischen Begeisterung und
Gewalt deutlich zu machen und die Sensibilität für
den „Punkt des Kippens” zu erfahren. Die folgenden Übungen bieten dazu Gelegenheit und Anregungen.
Begeisterung kennt keine Grenzen
GEGEN DEN TREND ’2001
Einleitung:
Menschen lassen sich von unterschiedlichen Dingen und auch
unterschiedlich stark oder
schnell begeistern. Die folgende
Übung für Jugendliche ab
12 Jahren auf einer Freizeit oder
während einer Gruppen-/Schulstunde bietet die Möglichkeit,
122_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
die verschiedenen Formen von
Begeisterung sichtbar werden zu
lassen.
Zielformulierung:Die Teilnehmenden sollen erleben, dass Begeisterung individuell unterschiedlich geäußert
und wahrgenommen wird.
Für die Arbeit mit Mädchen und Jungen/Männern und Frauen
Ablauf:
Auswertung:
Alle Teilnehmenden stehen im
Kreis und werden aufgefordert
Begeisterung gleichzeitig pantomimisch darzustellen. Die
Unterschiede im Ausdruck von
Begeisterung werden sicherlich
deutlich werden.
Alternative:
Es werden Bilder von Menschen
in Situationen der Begeisterung
ausgelegt. JedeR Teilnehmende
kann sich ein Bild auswählen
und dann in einer Austauschrunde begründen:
Warum habe ich dieses Bild
gewählt hat?
Was ist das Begeisternde für
mich an dieser Situation?
Kenne ich ähnliche Situationen
von mir?
Welche Form des Ausdrucks von
Begeisterung habe ich für mich
gewählt?
Welche Formen habe ich bei den
anderen gesehen?
Gruppenarbeit zum Thema Begeisterung
Einleitung:
In der vorangegangen Übung ist
die Unterschiedlichkeit von Begeisterung deutlich geworden.
Ebenso unterschiedlich sind die
Dinge/Aktionen für die Menschen sich begeistern können.
In der folgenden Gruppenstunde
sollen die Teilnehmenden die
Gelegenheit erhalten, sich über
ihre Bereiche der Begeisterung
auszutauschen.
Zielformulierung: Die Teilnehmenden sollen durch
den Austausch erfahren, dass
Menschen sich für unterschiedliche Dinge begeistern können. Sie
sollen die Begeisterung anderer
für andere Dinge akzeptieren lernen und diese nicht bewerten.
Musik
❒
Sportarten überhaupt
❒
Fußball
❒
Personen
❒
Aktionen
❒
Ideen
❒
Hobbys
❒
Autos
❒
Technik
❒
Freizeiten
❒
Fernsehen
❒
______________
❒
______________
2. Schritt: Kleingruppenarbeit:
Die Teilnehmenden tauschen
ihre Einzelergebnisse in Kleingruppen zu 5 Personen aus und
stellen Gemeinsamkeiten bzw.
Unterschiede fest. Sie erstellen
eine Hit-Liste der drei meistgenannten Bereiche.
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_123
GEGEN DEN TREND ’2001
Ablauf: 1. Schritt: Einzelarbeit:
Die Teilnehmenden erhalten das
Arbeitsblatt und bearbeiten
dieses jedeR für sich alleine
unter folgender Fragestellung:
Wovon lässt du dich begeistern?
Wofür kannst du dich begeistern?
❒
Für die Arbeit mit Mädchen und Jungen/Männern und Frauen
Anmerkung:
4. Schritt: Einzelarbeit im Plenum
Die Teilnehmenden sollen folgenden Fragen für sich beantworten. Was ist es genau, was
dich begeistert? Wie äußert sich
deine Begeisterung?
Martin Bauer
GEGEN DEN TREND ’2001
3. Schritt: Plenum:
Im Plenumsgespräch werden die
„Hit - Listen der Begeisterung
vorgestellt und auf Mehrfachnennungen überprüft. Ein Gruppentrend kann sichtbar werden.
124_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Was bist du bereit dafür zu tun?
Wo gibt es für dich Grenzen?
Der Austausch erfolgt im Plenumsgespräch.
Antworten und Einschätzungen
sollen besprochen und diskutiert werden. Eine Bewertung
der Aussagen ist, auch von den
Teilnehmenden, bewusst zu
vermeiden.
Gewaltorientierte Spiele mit der Playstation - ein Selbstversuch
Gewaltorientierte Spiele mit der Playstation
- ein Selbstversuch
1. Die Idee
Immer wieder wird diskutiert, ob gewaltbetonte
Filme und Spiele Jugendliche dazu bringen, auch
selbst häufiger Gewalt anzuwenden. Wir haben die
Probe auf’s Exempel gemacht und uns selbst
getestet. Wir wollten herausfinden und wahrnehmen, wie wir uns während des Spiels verhalten
und ob unmittelbare Wirkungen beobachtbar sind.
Natürlich ist auf diese Weise nicht zu ermitteln,
wie häufiges Spielen sich langfristig auswirkt.
Durch den Selbstversuch werden Jugendliche aber
auf die Möglichkeit dieses Effektes aufmerksam
gemacht und für Nebenwirkungen ihrer Spielbegeisterung sensibilisiert. Dabei ist entscheidend, dass sie durch gegenseitige Beobachtung
lernen und nicht Erwachsene als „Spielverderber”
ihre Lieblingsspiele verteufelen.
Und ganz ehrlich: Playstationspiele machen Spaß!
Wir haben sogar diskutiert, ob es sich dabei nicht
um eine Art Geländespiel mit fortgesetzten Mitteln, nämlich im Cyberspace, handelt.
2. Der Versuchsaufbau
Pro 6 Teilnehmer werden benötigt: eine Playstation, Spiele (möglichst für zwei Spieler), ein
Fernseher (möglichst großer Bildschirm; allerdings
spielen viele Jugendliche auch oft auf kleineren
Bildschirmen), Beobachtungsbögen, eine Uhr/
Wecker, evtl. eine Videokamera mit Stativ. Der
Raum wird folgendermaßen arrangiert:
Der Einsatz einer Videokamera hängt von den
technischen Möglichkeiten ab. Er ist ausgesprochen lohnend, weil sich einzelne Sequenzen
wiederholen lassen und auch die Spieler selbst
Gelegenheit haben, sich zu beobachten. Ein Nachteil kann die in der Regel längere Auswertungsdauer sein. Möglicherweise besteht zu Beginn
eine gewisse Kamerascheu. Wird die Kamera aber
mit Stativ fest aufgebaut und läuft einfach durch,
gerät sie schnell in Vergessenheit.
Die Uhr wird hinter den Spielern aufgebaut. Damit
werden die Spieler nicht irritiert und die Beobachter können sich problemlos zeitlich orientieren.
Eine Spielphase sollte zwischen 10 und 20 Minuten dauern, um einerseits den Spielern ein
„eintauchen” in das Spiel zu ermöglichen und
andererseits die Beobachter nicht zu überfordern.
Die Zeitleiste auf dem Beobachtungsbogen ist entsprechend anzupassen. Die Beobachter schweigen
während der Spielphase. Jeder Beobachter ist
jeweils nur für einen Mitspieler zuständig.
In unserem Testdurchlauf haben wir Spielphasen
von 10 Minuten erprobt. Dabei füllten die Beobachter folgenden Bogen aus:
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_125
GEGEN DEN TREND ’2001
3. Durchführung
Gewaltorientierte Spiele mit der Playstation - ein Selbstversuch
Spiel:
Beobachter:
Beobachteter Mitspieler:
➡ Beurteile die Körperhaltung/Körperspannung des Mitspielers:
➠
➠
P
entspannt
nach 1 Minute
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
nach 2 Minuten
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
nach 3 Minuten
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
nach 4 Minuten
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
nach 5 Minuten
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
nach 6 Minuten
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
nach 7 Minuten
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
nach 8 Minuten
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
nach 9 Minuten
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
nach 10 Minuten
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
❏
sehr angespannt/engagiert
➡ Welche Zeichen von Aggressivität konntest Du wahrnehmen?
➡ Notiere typische (auch körperliche) Äußerungen:
für die 2. Minute:
für die 4. Minute:
GEGEN DEN TREND ’2001
für die 6. Minute:
für die 8. Minute:
für die 10. Minute:
126_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Gewaltorientierte Spiele mit der Playstation - ein Selbstversuch
Die anschließende Reflexion erfolgte in drei bzw.
vier Phasen. Der Leiter/die Leiterin kann in der
jeweiligen Phase einige Impulsfragen liefern:
1. Phase: Zunächst durften sich die Mitspieler
äußern:
• Wie habt ihr euch gefühlt?
• Wie habt ihr euch selbst wahrgenommen?
• Habt ihr jetzt Ärger im Bauch oder eher
ein Glücksgefühl?
2.Phase: Die Beobachter sind an der Reihe:
• Was habt ihr gesehen?
3. Phase: Das Spiel insgesamt kann reflektiert
werden:
• Wie wird in dem Spiel mit Gewalt
umgegangen?
• Was macht daran Spaß / was begeistert euch? Warum?
4. Phase: Am Ende des gesamten Selbstversuchs
kann eine eher allgemeine Diskussionsrunde angeschlossen werden:
• Glaubt ihr, dass die Spieler während
des Spiels aggressiver geworden sind?
• Welche Spiele machen euch am meisten Spaß/bringen den größten Kick?
• Haben diese Spiele irgendetwas mit
dem wirklichen Leben zu tun?
Es lohnt sich, alle Impulse noch einmal auf die
geplante Zielgruppe hin zu durchdenken, denn von
der Qualität der Reflexionsgespräche hängt ab, ob
eine Sensibilisierung für die verharmlosenden
oder gewaltverherrlichenden Aspekte der Spiele
erreicht wird.
Wir haben den Playstation-Selbstversuch mit
sechs 13-15jährigen Jugendlichen einer Gruppe
aus der Kirchengemeinde durchgeführt. Alle waren
Die Beobachter konnten ermitteln, dass die Mitspieler/innen ganz unterschiedlich angespannt
waren, am stärksten oft dann, wenn ihr „Leben”
massiv bedroht war. Je tiefer der/die Einzelne in
das Spiel eintauchte, desto häufiger kam es zu
ungehemmten Spontanäußerungen wie „Wo bist
du Kanake?”. Das bot wiederum gute Ansatzpunkte für die Reflexion.
Die Beobachter/innen waren teilweise überfordert. Das lag weniger an ihren Fähigkeiten, als
vielmehr daran, dass sie begannen im Spiel mitzufiebern und den Spieler/innen Tipps zu geben. Es
ist also wichtig, den Beobachtern räumlich eine
gewisse Distanz zu schaffen, damit sie auch gedanklich Abstand halten können.
Aufgrund der meist begrenzten Zeit ist nicht jedes
Spiel gleichermaßen geeignet (s. Kleine Quellenkunde).
Bei Schulklassen wäre zu überlegen, statt einem
zwei oder drei Beobachtungs-Arrangements zu
schaffen. Es war den Jugendlichen durchweg
wichtig, auch selbst zum Spielen zu kommen.
5. Kleine Quellenkunde zu geeigneten (aktuellen)
Spielen
An dieser Stelle kann nur ein grober Überblick geliefert werden. Wer einzelne Spielbeschreibungen,
Rezensionen und repräsentative Fotos von Spielszenen sucht, schaut am besten unter http://
games.hotvision.de nach. Dort gibt es ein Archiv zu
nahezu allen auf dem Markt befindlichen Spielen.
➡ Beat’em-up-Spiele
Bei dieser Gruppe von Spielen geht es um ein
Duell zweier Spieler, die sich – wie der Name
schon sagt – „fertigmachen” müssen.
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_127
GEGEN DEN TREND ’2001
4. Unsere Erfahrungen und Tipps zur Durchführung des Versuchs in Schulklassen und Jugendgruppen
interessiert dabei und haben sich anschließend
auch der Diskussion gestellt.
Gewaltorientierte Spiele mit der Playstation - ein Selbstversuch
• Tekken I, II und III: Ein echter Klassiker. Die
Spieler wählen eine bestimmte Person, deren
Schlag- und Kampftechniken sie im Laufe des
Spiels immer besser kennenlernen. Dadurch
entsteht eine hohe Identifikation mit der kämpfenden Figur. Erinnert ein bißchen an Kung-fuFilme.
GEGEN DEN TREND ’2001
Ähnlich sind:
• Virtual Fighter
• Dead or alive
kanische Version, die sich im Brutalitätsgrad noch
einmal voneinander unterscheiden.
➡ Arcade-Adventure-Spiele
bedeutet, dass in Echtzeit Aufträge zu lösen sind
und während des Spiels immer wieder neue Aufträge/Nachrichten einer imaginären Kommandozentrale o.ä. eingespielt werden.
• GTa 1 und 2. Als Gangster erfüllt der Spieler
diverse Aufträge. Er kann dabei Autos kapern,
Waffen einsetzen, Menschen überfahren, usw.
➡ Action-Spiele
Hier ist nur wenig Strategie gefragt. Es geht – wie
der Name schon sagt – um die Action.
• Jedi Power Battles (Star Wars Episode 1): Außergewöhnlich ist hier, dass die zwei Spieler gemeinsam kämpfen. In einem Szenario, das an
die Star Wars Filme angelehnt ist, kämpfen sie
gemeinsam für das Gute.
• Syphon Filter I und II: Special-Forces-Typ
kämpft gegen zahlreiche Widersacher, die alle
im Dienst eines Terroristen stehen, der mit
biologischen Waffen die Welt vernichten will.
Die Version II des Spiels bietet als Zusatzoption
den Duellmodus. Dabei können zwei Spieler in
Häuserkampfmanier mit Handfeuerwaffen bis
zum Granatwerfer gegeneinander antreten.
➡ Command & Conquer (C & C)
ist ein Echtzeit-Strategiespiel, bei dem es darum
geht, einen Stützpunkt aufzubauen, von dem aus
die jeweils gegnerische Partei bekämpft wird. Es
wird ein Krieg zwischen der Brotherhood of Nod
und der Global Defense Initiative simuliert. Das
Spiel ist relativ kompliziert und dauert mindestens
eine Stunde.
➡ Action-Adventure-Spiele
enthalten auch Strategieelemente.
• Resident Evil I, II und III ist der Klassiker in
diesem Bereich. Genexperimente machten fast
alle Menschen zu Zombies. Der Spieler hat die
Aufgabe den Professor, der für diese Experimente verantwortlich ist, zu finden und zu
vernichten. Dabei wird nicht nur gegen Zombis
gekämpft, sondern auch beispielsweise gegen
Dobermänner. Im Ganzen blutrünstig und spannend. Resident Evil wird allerdings nur von
einem Spieler allein gespielt.
Hier – wie auch bei anderen Gewaltspielen – gibt
es eine deutsche sowie eine unzensierte ameri-
Der Playstation-Selbstversuch kann mit Sicherheit
keine empirischen Daten liefern. Aber er bietet
eine gute Möglichkeit, mit den Jugendlichen ernsthaft ins Gespräch zu kommen. Über das Medium
des Versuchs kommen die Jugendlichen untereinander ins Gespräch und setzen sich mit der Gewalt/Begeisterung-Thematik auseinander. Der
Lehrer bzw. die Leiterin übernimmt dabei lediglich
eine moderierende Rolle. Die Methodik wird viele
Jugendliche überraschen, aber gerade dadurch
kommt großes Interesse auf. Wir können den
Selbstversuch wärmstens weiterempfehlen.
128_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Dieses Spiel hat sowohl Nachfolger- als auch
Nachahmerspiele hervorgebracht, z.B.:
• C & C II
• Red Alert
• Rise of the Tiberium Sun
6. Und was bringt’s?
Christian Ceconi-Solle
Das Bauwagenprojekt „Paule“ zur Überwindung von Gewalt
Das Bauwagenprojekt „Paule“
zur Überwindung von Gewalt
Das Bauwagenprojekt „Paule“ zur Überwindung
von Gewalt
1. Entstehung des Projektes:
Motivation: Den entscheidenden Impuls hat dieses
Projekt durch die Dekade des Ökumenischen
Rates der Kirchen (ÖRK) „Overcome violence - die
Gewalt überwinden” erhalten. „Laß dich nicht vom
Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse
mit dem Guten.” (Röm 12,21) In ihrem Synodenbericht rief die Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann im Mai 2000 zu mehr Einmischung und
Kreativität der Christen in der Frage nach dem
Umgang mit Gewalt auf: „Wir sollten als Kirche
nicht länger ein Lamento über Gewalt anstimmen
oder schweigen, sondern selbst aktiv werden bei
deren Überwindung.” Das Projekt „Bauwagen
Paule” ist seither der Versuch, basisnah im Handlungsbereich der Kirche konkret vor Ort die globalen Themen des ÖRK umzusetzen.
2. Ziel: Overcome violence - die Gewalt überwinden
Kinder und Jugendliche sollen in die Lage versetzt
werden, Gewalt, gewalttätige Strukturen und
eigenes Aggressionspotential zu erkennen und
positiv zu prägen, bzw. angemessen damit umzugehen. Sie sollen in diesem Prozeß die grundlegende Bedeutung der biblischen Botschaft
erleben, erfahren und reflektieren.
Die Arbeit mit „Paule” hat ein Profil: Alle Angebote
beziehen sich in ihrer spezifischen Art und Weise
auf das Thema der Dekade „Gewalt überwinden”.
Dabei geht es um einen Mix aus Erfahrungsaustausch, Übungen, Reflexion und Spiel. So sollen
Inhalte und Methoden zur gewaltfreien Bearbeitung von Konflikten unter Aufnahme entsprechender Impulse aus der biblischen Botschaft
vermittelt werden.
3. Der Ausbau des Bauwagens
„Der Umbau dieses Wagens kam mir vor wie die
Entwicklung einer Raupe zum Schmetterling”, so
eine ältere Frau aus der Gemeinde. Der Innenausbau und die Außenarbeiten benötigten in der Zeit
von April bis zur Einweihung am 3. September
2000 700 Arbeitsstunden. Das alles geschah mit
großer Beteiligung von freiwilligen Jugendlichen
und Senioren. Dieses Engagement steigerte den
Bekanntheitsgrad des Projektes, besonders bei
der Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen und
erhöhte die Möglichkeit zur Identifikation.
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_129
GEGEN DEN TREND ’2001
Theologisch entscheidend für die Entstehung von
Aktionen und Projekten wie dem Bauwagenprojekt
ist die Wirkung des Heiligen Geistes als „spiritus
creator” (schöpferischer Geist). Demnach erschließt der Heilige Geist den menschlichen Geist
für sein Wirken, bewegt, treibt und motiviert ihn
über die Grenzen von Trägheit, Mutlosigkeit und
Resignation hinaus. Die Wirkung des Heiligen
Geistes unter uns Menschen ist grundlegend
initiiert in der Menschwerdung Gottes in Jesus
Christus. Gott ist eben nicht allein als Gott im
Himmel geblieben, sondern wahrer Mensch geworden und bringt auf dieser Basis Menschen in
Bewegung bzw. zur Begeisterung, als wahrer
Mensch und wahrer Gott. Als solcher ist er am
Kreuz nicht im Tod geblieben, sondern von den
Toten auferstanden. Er hat den Tod überwunden
heißt in unserem Kontext: er hat die menschliche
Unfähigkeit überwunden, sich von seinem Geist
begeistern und bewegen zu lassen. Er hat uns
Menschen die Perspektive der Begeisterung auf
ein schöpferisches, geistgewirktes Leben hin
eröffnet.
Das Bauwagenprojekt „Paule“ zur Überwindung von Gewalt
Innenausbau: Ausbau der vorhandenen Innenausstattung, der Decken-, Wand- und Fußbodenverkleidung, Verlegen der elektrischen Leitungen,
Verschalung der Decke und Seitenwände mit
Profilbrettern, Verlegen von Laminat als Fußboden,
Installierung der Küchen- und Schrankeinrichtung,
Streicharbeiten, etc.
Außenarbeiten: Abnehmen des Wellblechs, Reparatur des Wandgerüstes, Isolierung, Verschalung
mit Blockhausbrettern, Fensterläden, Streicharbeiten, Reparatur des Daches, Herstellung eines
Glockenturmes, Überholen der Bremsanlage,
Installierung einer Lichtanlage, etc.
4. Die Arbeit mit
„Paule”:
Mit „Paule” gibt
es drei Bereiche
der Antigewaltund Präventionsarbeit:
• In öffentlichen Schulen
• An sozialen Brennpunkten
• Mit kirchlichen Gruppen
GEGEN DEN TREND ’2001
In öffentlichen Schulen: Es geht konkret um Projekte,
die seitens der Kirche in zeitlich überschaubaren
Angeboten im Alltag der Schulen durchgeführt
werden. Schulklassen sollen innerhalb ihres
Schulalltages positiv geprägt werden und den
Charakter der Schule mitbestimmen. Inhalte
kirchlicher Handlungs- und Lernfelder werden
als Konsequenz biblischer Überlieferung und
Werte den SchülerInnen zur Orientierung angeboten.
Durchgeführt werden Projekttage und Unterrichtseinheiten zum Thema „Gewalt überwinden”,
Beteiligung des Bauwagen-Teams am SchülerInnengottesdienst der Sek 2 am Buß- und Bettag
zum Thema „Zivilcourage?!”, SchülerInnencafe auf
130_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
dem Schulhof, Malwettbewerb mit Kunstkursen
und AGs etc.
In sozialen Brennpunkten: Mit offenen Angeboten
vor Ort sollen gerade die Kinder und Jugendlichen
erreicht werden, die nur bedingt an sozialen Angeboten der Kirche, bzw. der Vereine teilnehmen. Die
Erkenntnis der „Sozialbilanz” der Stadt Hameln,
mehr wohnortnahe Angebote für Kinder und Jugendliche zu schaffen, hat die städtische Jugendarbeit in Hameln verändert. Der Bauwagen „Paule”
ist jetzt Teil des Konzeptes der Stadt Hameln in der
„dezentralen und offenen Jugendarbeit”, weil
„Paule” aufsuchende Arbeit leistet. Es wird dort
ein Raum der Begegnung angeboten, wo die
Jugendlichen bereits ihre Treffpunkte haben, bzw.
leicht hinkommen. In besonderen Aufgabengebieten, wie z.B. in sozialen Brennpunkten,
können flexible Angebote der Situation vor Ort am
ehesten gerecht werden.
Z.Zt. (Dezember 2000) bietet „Paule” einmal
wöchentlich einen offenen Treffpunkt an. Zielgruppe sind 20 Jugendliche aus z.T. „schwierigen
Verhältnissen” im Alter von 12 bis 17 Jahren, die
im Stadtteil durch provozierendes und schockierendes Verhalten aufgefallen sind. Unter dem
Motto „bekämpft nicht die Jugendlichen, sondern
ihre Probleme” ist der Bauwagen Ort niedrigschwelliger Begegnung mit Tee, Musik, warmem
Raum, Gesprächen und angemessenen Spielangeboten.
Mit kirchlichen Gruppen: In der Gemeinde gibt
es seit Jahren den Zirkus „Gerhardy”. Hier entdecken die 40 Kinder und Jugendlichen ihre verborgenen Talente, lernen das soziale Miteinander
und erleben die Kirche als einen Ort kennen, wo
sie auch gemeinsamen Spaß haben können.
Weil zu jedem Zirkus ein Zirkuswagen gehört,
ist der Bauwagen als Materialwagen und Publikumsmagnet für verschiedene Auftritte vorgesehen.
Das Bauwagenprojekt „Paule“ zur Überwindung von Gewalt
Die Gruppen des traditionellen Konfimandenunterrichtes und des Hoyaer Modells binden
„Paule” in ihre Paddeltouren auf der Weser ein,
indem sie ihn als Campingmobil zum Übernachten
und Kochen nutzen. Der PfadfinderInnenstamm
„Kreuzfähnlein” des VCP buchte „Paule” für ein
Zeltlager im Sommer.
5. 10 Artikel zur Gewaltvermeidung
Situativ und an den Bedürfnissen der Kinder und
Jugendlichen orientiert, werden kurze Einheiten
als „in” oder „out” Impulse angeboten. Entsprechend wird die Glocke im Turm geläutet. Es handelt sich dabei um kurze, gemeinsame Runden,
nicht länger als sieben Minuten, zu Beginn und/
oder zum Ende des jeweiligen Angebotes. Hier
werden Absprachen getroffen, Regeln diskutiert,
Ideen gesammelt aber auch spirituelle Impulse
gegeben, z.B. mit einer Meditation zu Steinen,
Kerzen und Bildern, kurzen Gebeten oder mit
einem Lied aus der Musikszene mit religiösem
Inhalt etc.
Aus der inhaltlichen Arbeit am Bauwagen sind die
„10 Artikel zur Gewaltvermeidung” hervorgegangen. Sie sind Produkt bisheriger und bieten eine
Grundlage zukünftiger Diskussionen.
6. Mobilität ermöglicht Kooperation:
Mobilität ist die beste Vorraussetzung für eine
übergreifende Zusammenarbeit zwischen Kirche,
Schulen, Vereinen und Initiativen.
„Paule kann man mieten!” ist das Motto, mit dem
andere Einrichtungen aufgefordert werden, „Paule” auch für ihre selbstbestimmten Zwecke im Rahmen ihrer Antigewalt oder Präventionsarbeit vor
Ort zu nutzen. Die lokale wie überregionale Kooperation gehört zum Grundwesen des Projektes. Das
paulinische Bild vom Leib und seinen Gliedern (1.
Kor. 12) kann als biblische Vision einen kreativen
Prozess einleiten, der seine Wurzeln in der biblischen Tradition offenlegt, pflegt und weitersagt.
Der Prozess einer Vernetzung von Maßnahmen zur
Überwindung von Gewalt kann als eine Chance betrachtet werden, kreativ und geistesgegenwärtig
am Netzwerk des Geistes Gottes im pluralen Leben
der Gesellschaft mitzuwirken. Diese pneumatologische Perspektive verbietet eine institutionell
verengte Sicht der Kirche auf die Binnenperspektive der eigenen Organisation. Je breiter Gewaltprävention angelegt ist, desto mehr Aussicht auf
Erfolg hat sie nach menschlichem Ermessen. Das
konzentrierte Auftreten öffentlicher Einrichtungen
fördert bei betroffenen Kindern und Jugendlichen
das Gefühl ernstgenommen zu werden.
In der Stadt Hameln: Das Projekt ist Teil einer
Projektgruppe, die sich die Umsetzung und
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_131
GEGEN DEN TREND ’2001
1. Wir achten die Würde unserer Mitmenschen.
2. Wir leisten jedem Menschen Beistand gegen
Schikane, auch wenn wir nicht seine Meinung
teilen.
3. Wir wollen den Anfängen von Psychoterror
in unserem Umfeld (Schule, Clique etc) wehren.
4. Wir üben Toleranz.
5. Wir begegnen Fehlern von fremden Menschen
ebenso nachsichtig wie unseren eigenen.
6. Wir beteiligen uns nicht an der Entstehung von
Gerüchten. Miteinander und nicht übereinander reden!
7. Wir erklären, dass wir die Schwachen stützen
und verpflichten uns, auf Gerechtigkeit in
unserem Umfeld zu bestehen.
8. Wir erklären, dass wir niemanden schikanieren.
9. Wir wollen uns Mühe geben, mit jedem in
unserer Nähe höflich und offen zusammenzuarbeiten und Problemen nicht aus dem Weg zu
gehen.
10. Wir verpflichten uns, gegen Mobbing gemeinsam vorzugehen - gemeinsam, nicht einsam.
Das Bauwagenprojekt „Paule“ zur Überwindung von Gewalt
Begleitung von konkreten Projekten zur Überwindung von Gewalt in der Stadt Hameln zum Ziel
gesetzt hat. Diese Gruppe ist beauftragt vom
„Kriminalpräventionsrat” der Stadt, besteht aus 14
Personen und trifft sich einmal im Monat. In ihr
sind VertreterInnen des Stadtrates, der städtischen Kinder- und Jugendsozialarbeit, der Polizei,
der Schulen, der Sportvereine und anderer sozialer Einrichtungen vertreten. Die Person aus dem
Bauwagenprojekt ist die bisher einzige aus einer
kirchlichen Initiative - kirchliches Engagement im
säkularen kommunalen Raum.
persönliche Erfahrung im Umgang mit Gewalt bei
sich und anderen befassen sie sich in diesem Team
regelmäßig mit einem konkreten Teilaspekt aus ihrem direkten Lebensumfeld. Sie werden von der
Problemdarstellung über die Lösungssuche und
die Planung der jeweiligen Maßnahme bis zu ihrer
Umsetzung beteiligt. Dabei handelt es sich überwiegend um überschaubare Problembereiche, die
über das Projekt zeitnah gelöst werden sollen. Die
Gewinnung, Ausbildung und Einarbeitung von ehrenamtlichen MitarbeiterInnen ist unverzichtbar für
die Nachhaltigkeit und Breitenwirkung des Projektes.
In der Kirche: Das Projekt „Paule” ist an die
evang.-luth. Paul-Gerhardt Kirchengemeinde
angebunden, ist aber ein Projekt des Kirchenkreises Hameln-Pyrmont. Folglich geschieht die
Entwicklung einer Konzeption des Projektes, die
Planung und Durchführung der Angebote in enger
Zusammenarbeit mit dem Kirchenkreisjugenddienst, der Jugend-AG und dem Jugendkonvent des
Kirchenkreises. Ziel ist, dass „Paule” mit dem
Trecker (23,5 km/h) auch bei überregionalen
Veranstaltungen wie dem Landesjugendcamp,
Kirchentagen, der Synode etc. zum Einsatz
kommt.
Um die Beteiligung und Schulung der Mitarbeitenden zu gewährleisten, trifft sich das Team einmal
im Monat zu einem Abend oder einem Fachtag. Bei
diesen Treffen wurde gemeinsam das „Paule-Konzept” entworfen, bedürfnisorientierte Angebote geplant und reflektiert, sowie konkrete Anfragen und
Schwerpunkte der weiteren Arbeit besprochen. Die
Ergebnisse des Engagements sind unmittelbar erfahrbar und vermitteln damit das notwendige Maß
an Erfolgserlebnissen: Die Arbeit macht Spaß!!
GEGEN DEN TREND ’2001
7. Teamarbeit
„Die Sache Jesu braucht Begeisterte, sein Geist
sucht sie auch unter uns.” (P. Janssens) Die Angebote sollen überwiegend durch ein geschultes
Team von ehrenamtlichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 16-30 Jahre vorbereitet und durchgeführt werden. Für die Aktion und
die jeweilige Bedarfslage muss jedes mitwirkende
Team gut qualifiziert sein, auch in religionspädagogischer Hinsicht. Dazu werden Ressourcen
und Kompetenzen gesammelt, gesucht und genutzt.
Bisher sind es 10 Personen, die an kurz- oder mittelfristigen Zielen im Projekt mitwirken. Durch die
132_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
8. Ausblick
Es ist geplant
und von der
zuständigen
Kommission in
Hannover am
8. November
2000 beschlossen, ab Mai 2001 eine DiakonIn einzustellen, die z.T. aus dem Beschäftigungfonds der
Landeskirche Hannovers bezahlt wird. Für die
anfallenden Personalkosten von jährlich 15.000
DM, sowie etwa 10.000 DM Sachkosten werden
noch Geldgeber gesucht. Im März 2001 soll ein
„Freundeskreis Paule” ins Leben gerufen werden,
der die Arbeit finanziell und ideell begleitet.
Daniel Petzold
Gewalt in unseren Straßen
Gewalt in unseren Straßen
Jugendliche sind immer häufiger Opfer von Gewalt – ein Jugendlicher, der selber an einem
schönen Sommerabend in einer niedersächsischen Stadt Opfer geworden ist, hat aufgeschrieben, wie so eine Eruption von Gewalt abläuft.
Dieser konkrete Vorfall läuft nach einem verbreiteten Schema ab. Es kann gefragt werden,
welche Handlungsalternativen in den einzelnen
Abschnitten des Dramas möglich gewesen wären.
Erlebnisse eines 16- Jährigen
Eigentlich ist der Platz nicht gerade verrufen.
Sicher, weil er ein Treffpunkt der Skater ist, hängen da viele Jugendliche herum. Aber ansonsten
ist dort eigentlich alles im grünen Bereich. Gleich
nebenan tobt das Leben in den angesagten SzeneKneipen. Wir sitzen kurz nach 23.00 Uhr an der
Bushaltestelle und warten auf den letzten Bus.
Plötzlich kommen zwei Jungs auf uns zu, die sich
gegenseitig laut anbrüllen – sie scheinen sich zu
streiten. Wir denken uns nichts dabei und blieben
sitzen, doch in dem Moment, als sie an uns vorbeigehen, drehen sie sich um und bleiben stehen.
Sie bauen sich direkt vor uns, so dass wir nicht
weglaufen können. Ziemlich kräftige Typen – uns
wird mulmig und wir ahnen schon, was die beiden
von uns wollen. Sie fangen an, uns Fragen zu
stellen. Belangloses Zeug. Sie wollen wissen, wo
wir wohnen, wo wir zur Schule gehen. Dann geben
sie uns Befehle. Wir haben mehr nicht zu reden, es
sei denn, sie fordern uns dazu auf. Sie fragen
meinen Kumpel aus welchem Land er komme. Er
will sich dazu nicht äußern. „Hast du denn keinen
Stolz in dir, dass du nicht zu deinem Land stehst?“
schnauzen sie ihn an. Mein Kumpel fängt an zu
stottern – ich merke, wie die Angst ihn verwirrt.
Wie es genau gekommen ist, kann ich gar nicht
mehr sagen. Aber plötzlich fangen sie an, mir mit
ihren Fäusten ins Gesicht zu schlagen. Merkwürdigerweise tat es im ersten Moment gar nicht
weh. Ich möchte abhauen – aber es ist aussichtslos. Hoffentlich komme ich da wieder raus! Dann
sehe ich P. - einen Bekannten, der an uns vorbeigeht. Vielleicht meine Rettung. Ich hoffe, dass er
die beiden kennt und mit ihnen reden kann. Ich
rufe P. zu und er kommt sofort zu uns her. Die
beiden lassen mich und gehen jetzt auf ihn los.
Um sie abzuwehren schlägt P. dem einen sofort ins
Gesicht. Aber er hat keine Chance. Die beiden
prügeln jetzt auf ihn ein. Mein Kumpel und ich
nutzen die Gelegenheit und rennen zu einer der
Kneipen, um Hilfe zu holen. Vor der Kneipe stehen
Männer so um die 30. Doch leider fühlt sich
keiner dazu in der Lage, uns gegen zwei jugendliche Schläger zu verteidigen. Oder sie haben einfach keine Lust, ihr Bier warten zu lassen. Am
liebsten hätte ich dem einen das Blut aus meinem
Gesicht auf sein piekfeines weißes Hemd geschmiert.
GEGEN DEN TREND ’2001
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_133
Gewalt in unseren Straßen
Vaterland
Konstantin Wecker schrieb 1979 unter dem Eindruck von neu erwachten nationalistischen und
rechtsextremistischen Aktivitäten das Lied „Vaterland“. In ihm wird deutlich, welches Gedankengut
in den entsprechenden Gruppen den Einzelnen
fasziniert und in tragische Situationen hineinführen kann. Andererseits wird an die deutsche Geschichte von 1933-1945 erinnert, in der schon
einmal die „grausamen Stiefel“ die Menschlichkeit
zertrampelt hatten. „Recht und Ordnung“ und
„Männer aus Stahl und Granit“ mit einem lohnenden Ziel vor Augen - ganz schnell wird daraus die
Rechtfertigung von Gewalt gegen Andersartige
und Andersdenkende. Spannend die Frage, ob es
erst zur Katastrophe kommen muss, oder ob schon
im Vorfeld eine Möglichkeit zur „Bekehrung“
bestände – gerade auch in Hinsicht auf die Erfahrungen des Vaters.
Obwohl in bayrischem
Dialekt gesungen, empfiehlt es sich, das Lied
vorzuspielen, nicht zuletzt
deswegen, weil Wecker es sehr engagiert vorträgt.
Vaterland
Vater, sag mir, ist das wahr
warst Du wirklich ein Sozi in die dreiß´ger Jahr´
warst Du wirklich damals im Widerstand
hast gekämpft gegen´s eigene Vaterland
Vater i muß mi schame´
i möchte´ an andern Name´
in der Schul´, Du glaubst net wie an peinlich das ist
da haoßen´s dir an Kommunist.
GEGEN DEN TREND ’2001
Und der Buer träumt von Recht und Ordnung
von einem g´sunden graden Tritt
und im Geist hört er´s marschieren
und im Geist marschiert er scho‘mit
und der Vater weiß niet aus noch ei
so weit is‘ scho‘ g‘komme mit der Druckerei
mit Kommunistenhatz und Berufsverbot
und Wirtschaftswunder und Arbeitsnot.
Da wehrs‘t Dich dei‘ Leben lang gegen all den Schutt
und dann machen´s dafür deinen Sohn kaputt.
Und der Vater nimmt sich eine Nacht lang Zeit
und erzählt dem Buer‘m von der Unmenschlichkeit
von Krieg und KZ, von der Feigheit der Leit‘
und er blehrt, paß auf, die machen sich bald
wieder breit
und dann packt der Buer seine Sache‘
sagt Vater, da muß ich doch lache‘.
134_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Du kannst es doch überall lesen,
des is doch ganz anders g‘wesen,
und dann träumt er von hohen Stiefeln
und von Männern aus Stahl und Granit
und im Geist da hört er Trompeten
und im Geist da maschiert er scho‘ mit.
Und der Vater, woaß net aus noch ei‘,
so weit ist scho‘g‘ komme mit der Duckerei,
mit...
Und a‘ paar Woche‘ später steht der Buer vor der Tür
und zittert und flüstert, i ko nix dafür,
die mache‘ ernst, die basteln Granaten,
die rechen vom Volkssturm und Attentaten
Vater, i‘muß mi schame‘,
i möchte‘ an andern Name‘,
mir ham, i trau‘ mer‘s gar nich‘sog‘n
gestern Nacht im Streit an Mo daschlagen.
Und der Vater denkt an früher,
hört die grausamen Stiefel marschieren
und im Geist marschieren die noch immer
und scho‘ morgen kann des wieder passieren.
Und wie a soviel‘ andre da kriegt er an Zorn,
was ist bloß wieder aus Deutschland ‘worden
mit.....
aus: Konstantin Wecker (live), Polydor 1979
Gewalt in unseren Straßen
Schritte gegen Tritte
Vom Umgang mit Gewalt - in Südafrika und bei uns
Ein ökumenisches Lernprojekt für Schulen und Gemeinden
Zwei Männer steigen in einen mit acht Passagieren
besetzten Bus. „Deutschland zuerst,” brüllt der
eine und geht zielstrebig auf einen jungen Mann
zu. Plump wird dieser angepöbelt. Es kommt zu
einem kurzen verbalen Schlagabtausch; dann zu
Handgreiflichkeiten. Die Situation wirkt bedrohlich. Wird jemand eingreifen? Welches Risiko geht
er/sie dabei ein? Gibt es unterschiedliche Möglichkeiten und Methoden, deeskalierend in Gewaltsituationen zu wirken?
Um solche Fragen und konkrete Hilfen zur Gewaltintervention geht es in dem Projekt „Schritte gegen Tritte”, das von Pastor Klaus Burckhardt, ELM
Beauftragter für Mission und Ökumene in der
Landeskirche Braunschweig, gemeinsam mit
religionspädagogischen Mitarbeitern des Hauses
Kirchlicher Dienste Kassel entwickelt wurde. Pastor Burckhardt hat sich in zehnjährigem Gemeindedienst in Südafrika (1983 - 1993) intensiv mit
dem Thema der Gewaltprävention und -intervention
auseinandergesetzt, besonders in seiner Arbeit in
einem Lager für Flüchtlinge und Landlose. Nach
seiner Rückkehr stellte er Vergleiche zur deutschen Situation an und widmete sich dabei besonders den Fragen der Entstehung von Gewalt, ihren
Strukturen und Merkmalen unter Jugendlichen.
Daraus entstand ein sechsstündiges Unterrichtsprojekt, das mit Hilfe verschiedener Medien (Videos, Ausstellung und 3-D Simulationsspiel zum
Flüchtlingslager „Canaan”, Rollenspiele) versucht:
Das Projekt wurde bisher mit mehr als 17000
Schülern verschiedener Schultypen (besonders
OS, HS, RS und BBS) der Klassen 6 - 13 durchgeführt. Dabei hat sich eine Zusammenarbeit mit
MitarbeiterInnen aus Schule, Kirchengemeinde
und Kommune bewährt, die für die Vorbereitung,
Projektvorstellung im Lehrerkollegium und die
Frage der Unterrichtsbegleitung und -nacharbeit
verantwortlich ist. Das Projekt hat über den regionalen Bereich hinaus eine große Breitenwirkung
und wird mittlerweile auch von 10 weiteren MultiplikatorInnen in Niedersachsen, Sachsen-Anhalt
und Hessen durchgeführt.
In Braunschweig wird „Schritte gegen Tritte” als
Impulsprojekt in einem Gesamtpaket von AntiGewaltmaßnahmen an Schulen angeboten, die auf
ein Konfliktschlichterprogramm hinauslaufen
(http://bs.cyty.com/elmbs/pbs.htm).
Die Kosten (DM 200,00 pro Tag & Fahrtkosten
& Vor- und Nachbereitung von 250,00) kommen
einen Solidaritätsprojekt des Ev.-luth. Missionswerks i.N. (ELM) in Südafrika zugute.
Konkrete Anfragen sind zu richten an:
P. Klaus J. Burckhardt, ELM Beauftragter für Mission
& Ökumene, Leonhardstr.39, 38102 Braunschweig,
Tel: 0531-2702866 oder 71902, Fax: 0531-79772,
Email: [email protected]
Weitere Informationen, Presseartikel, Links, etc.
sind unter der Homepage URL http://bs.cyty.com/
elmbs/schritte.htm abrufbar.
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_135
GEGEN DEN TREND ’2001
1. Jugendlichen am Beispiel Südafrikas Gewaltursachen, -strukturen und -reaktionen bewusstzumachen,
2. ihnen die Möglichkeit zu geben, eigene Gewalterfahrungen und Ausgrenzungsmechanismen im
persönlichen Umfeld zu reflektieren,
3. konkrete Handlungs- und Interventionshilfen im
Umgang mit Gewalt zu erarbeiten und
4. biblisch fundierte Alternativen zur Gewaltanwendung zu entdecken.
Gewalt in unseren Straßen
Schritte gegen Tritte
Ratschläge zum Verhalten
in Bedrohungssituationen
Vorbemerkungen:
•
•
•
•
•
Es gibt keinen 100% Schutz vor Überfällen und
gewaltsamen Auseinandersetzungen. Jeder
Mensch kann Opfer oder Beteiligter einer
Gewalttat werden. Doch die Wahrscheinlichkeit ist - trotz des von den Medien vermittelten
Eindrucks - eher geringer anzusetzen, als es
das subjektiv wahrgenommene Gefühl der
Bedrohung suggeriert.
Das statistische Datenmaterial zeigt, dass
entgegen landläufiger Meinung:
die meisten Taten nicht von Gruppen, sondern
von Einzeltätern, die meisten Tötungsdelikte
von Erwachsenen, nicht von Jugendlichen
begangen werden,
die Opfer von Gewalttaten häufiger Männer als
Frauen sind. (Hier ist allerdings die Dunkelziffer nicht gemeldeter und tabuisierter Gewalttaten nicht eingeschlossen!)
Das Erlernen asiatischer Kampfsportarten ist
nur dann erfolgversprechend, wenn eine
vernünftige Ausbildung durch LehrerInnen
geschieht, die gleichzeitig die lebensbejahen-
GEGEN DEN TREND ’2001
Folgende Regeln allerdings können - unter Berücksichtung der oben genannten Vorbemerkungen - durchaus sehr nützlich sein:
• VORBEREITEN!
Bereite dich auf mögliche Bedrohungssituationen seelisch vor: Spiel Situationen für dich
allein und im Gespräch mit anderen durch. Werde
dir grundsätzlich klar darüber, zu welchem persönlichen Risiko du bereit bist. Es ist besser,
sofort die Polizei zu alarmieren und Hilfe herbeizuholen, als sich nicht für oder gegen das
Eingreifen entscheiden zu können und gar nichts
zu tun.
136_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
•
•
den und -fördernden Grundsätze dieser Sportarten mitvermittelt (z.B. Einheit von Körper,
Seele, Geist, Entspannungsübungen und
Körpergefühl, Einsatz zur Gewaltvermeidung,
Nicht-Aggression).
Das Tragen und die Anwendung von Waffen
führt in fast allen Fällen zu einer Eskalation
der Gewaltspirale! Dies gilt auch für Kampfmittel, die juristisch nicht als Waffen gelten
(z.B. Butterfly-Messer, bestimmte Reizgase
etc). Oft kommt es vor, dass die eigene Waffe
gegen den/die WaffenträgerIn eingesetzt wird.
Jeder/jede sollte das tun, was er/sie sich in
einer Krisen- bzw. Gewaltsituation zutraut.
Meine eigene Persönlichkeitsstruktur entscheidet mit darüber, welches Verhalten ich in
einer bestimmten Situation an den Tag legen
kann. Dies kann ich jedoch nur herausfinden,
indem ich mich in spielerisch mit erlebten oder
von anderen vorgegebenen ausgewählten
Gewalt- bzw. Konfliktsituationen auseinandersetze (Rollenspiele, Forumtheather etc).
Klaus Burckhardt
• RUHIG BLEIBEN!
Panik und Hektik vermeiden und möglichst keine
hastigen Bewegungen machen, die reflexartige
Reaktionen herausfordern könnten. Wenn ich „in
mir ruhe”, bin ich kreativer in meinen Handlungen
und wirke meist auch auf andere Beteiligte beruhigend.
• AKTIV WERDEN!
Wichtig ist, sich von der Angst nicht zähmen zu
lassen. Eine Kleinigkeit zu tun ist besser, als über
große Heldentaten nachzudenken. Wenn du Zeuge
oder Zeugin von Gewalt bist: Zeige, dass du bereit
bist, gemäß deinen Möglichkeiten einzugreifen.
Gewalt in unseren Straßen
Ein einziger Schritt, ein kurzes Ansprechen, jede
Aktion verändert die Situation und kann andere
dazu anregen, ihrerseits einzugreifen.
• TU DAS UNERWARTETE!
Fall aus der Rolle, sei kreativ, und nutz den Überraschungseffekt zu deinem Vorteil aus.
• VERLASSE DIE DIR ZUGEWIESENE OPFERROLLE!
Wenn du angegriffen wirst: Flehe nicht, und verhalte dich nicht unterwürfig. Sei dir über deine
Prioritäten im klaren und zeige deutlich, was du
willst. Ergreif die Initiative, um die Situation in
deinem Sinne zu prägen: Schreib dein eigenes
Drehbuch!
• VERMEIDE MÖGLICHST JEDEN KÖRPERKONTAKT!
Wenn du jemandem zu Hilfe kommst, vermeide es
möglichst, den Angreifer anzufassen, es sei denn,
Ihr seid in der Überzahl, so dass Ihr jemanden
beruhigend festhalten könnt. Körperkontakt ist in
der Regel eine Grenzüberschreitung, die zu weiterer Aggression führt. Wenn nötig, nimm lieber
direkten Kontakt zum Opfer auf.
• HALTE DEN KONTAKT ZUM ANGREIFER!
Stelle Blickkontakt her und versuche, Kommunikation herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten.
• REDEN UND ZUHÖREN!
Teile das Offensichtliche mit, sprich ruhig, laut
und deutlich. Hör zu, was dein Gegner bzw. Angreifer sagt. Aus seinen Antworten kannst du deine
nächsten Schritte ableiten.
• NICHT DROHEN ODER
BELEIDIGEN!
Mach keine geringschätzigen Äußerungen über den
Angreifer. Versuche nicht,
ihn einzuschüchtern, ihm
zu drohen oder Angst zu
machen. Kritisiere sein
Verhalten, aber werte ihn persönlich nicht ab.
(Also: nicht „Du bist schlecht”, sondern „Das ist
schlecht”)
Dazu noch einige Ratschläge der Polizei Hamburg:
„Die Gewalt nimmt zu. Gerade in Großstädten. Wer
nicht hilft, wird selbst zum Mittäter.“ Das Urteil
der Polizei ist hart. Dabei wäre Helfen so einfach.
Doch nur wenige tun es. Die Polizei hat sechs
Regeln für mehr Courage erarbeitet. Die PolizeiPsychologin Claudia Brockmann erläutert sie:
1) Ich helfe, ohne mich selbst in Gefahr zu bringen:
Jeder hat die Möglichkeit zu helfen, ohne in die
direkte Konfrontation zum Täter zu gehen.
Häufig reicht es, wenn der Täter mitbekommt,
dass er beobachtet wird.
2) Ich fordere andere direkt zu Mithilfe auf: Je mehr
Personen an einem Tatort versammelt sind,
desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass
jemand hilft - ein Phänomen. Viele haben Angst,
sich zu blamieren oder einen Fehler zu machen.
Ein Tip: Fangen Sie an, aber handeln Sie nicht
alleine, sondern fordern Sie ganz gezielt andere Passanten zur Mithilfe auf. Vielleicht so: „Junger Mann mit der roten Jacke! Helfen Sie mir
bitte!”
3) Ich beobachte genau und merke mir den Täter:
Eine gute Täterbeschreibung hilft der Polizei
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_137
GEGEN DEN TREND ’2001
• HOL DIR HILFE!
Sprich nicht eine anonyme Masse an, sondern
einzelne Personen. Dies gilt sowohl für Opfer als
auch für Zuschauerinnen und Zuschauer. Sie sind
bereit zu helfen, wenn jemand anderes den ersten
Schritt macht oder sie persönlich angesprochen
werden.
(nach: Ralf-Erik Posselt: Handbuch „Schule Ohne
Rassismus”, S. 83 f.)
Gewalt in unseren Straßen
enorm. Wichtig sind Alter, Aussehen, Kleidung
und Fluchtrichtung. Auch kann es sinnvoll sein,
dem Täter in sicherer Distanz zu folgen - schon
viele Täter haben dadurch entnervt ihre Flucht
aufgegeben.
4) Ich rufe Hilfe: Es ist so lächerlich wenig nötig,
um zu helfen: Wählen Sie den Notruf 110. Sagen
Sie, was genau passiert und wo es passiert.
Legen Sie nicht gleich wieder auf, warten Sie auf
eine mögliche Rückfrage der Polizei.
5) Ich kümmere mich um das Opfer: Für die Opfer
dauert es eine schiere Ewigkeit, bis Polizei,
Feuerwehr oder Rettungsdienst am Tatort sind.
Auch wenn Sie sich in Erster Hilfe nicht sicher
sind, leisten Sie deshalb wenigstens seelischen
Beistand, trösten Sie und fragen, wie Sie das
Opfer unterstützen können.
6) Ich stelle mich als Zeuge zur Verfügung: Um
Täter zu bestrafen bedarf es Zeugen. Rennen
Sie nicht weg, wenn Sie eine Straftat oder ein
Unglück beobachtet haben - auch wenn viele
andere scheinbar das gleiche gesehen haben.
Melden Sie sich bei der Polizei. Und wenn Sie es
eilig haben: Hinterlassen Sie wenigsten Ihren
Namen und Ihre Telefonnummer. Opfer und
Polizei werden es Ihnen danken.
Helfen Sie unbedingt! Auch wenn es Sie Mühe
und Überwindung kostet. Es könnte sein, daß
auch Sie einmal die Hilfe anderer Menschen
benötigen. Auch deshalb gilt in Deutschland:
Unterlassene Hilfe ist strafbar!
GEGEN DEN TREND ’2001
Zum Hintergrund der Hamburger Ratschläge aus
einem Internet-Chat zum Thema „Gewalt”:
Sie schrie um Hilfe, schlug wild um sich, doch der
junge Mann war stärker. Er riß ihr die Hose runter,
drückte die 17jährige in die Ecke der Sitzbank und
vergewaltigte sie. Beschämt blickten die anderen
Fahrgäste zur Seite. Niemand half, griff ein oder
rief die Polizei. Nicht einmal als Zeugen stellten
sie sich zur Verfügung. Hamburgs Medien schrieen
auf vor Empörung: Wie konnte so ein Fall in der
138_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Schnellbahnlinie 21 geschehen? Wie konnten andere Fahrgäste teilnahmslos die Tat hinnehmen?
Noch immer ist der junge Mann nicht gefasst.
Und so geht jeden Abend die Angst in Hamburgs
Schnellbahnen mit auf Reisen.
„Wer nichts tut, macht mit”, urteilt Hamburgs
Polizei. Sie startete im Frühjahr eine ungewöhnliche Kampagne für mehr Zivilcourage. Polizisten
verteilten in Bussen und Bahnen 250.000 Kärtchen mit sechs wichtigen Verhaltensregeln. „Wir
fordern nicht zu falschem Heldentum auf ”, sagte
Hamburgs Innensenator Wrocklage. Er forderte
aber mehr Courage, bei Straftaten oder Unglücken
zu helfen.
Unterstützt wird die Aktion von Prominenz aus
Film, Kultur und Sport. Box-Weltmeister Dariusz
Michalczewski ruft ebenso zu mehr Mut im Alltag auf wie Schauspielerin Hannelore Hoger,
Fußballer Carsten Pröpper, Krimi-Legende Jürgen
Roland oder Regisseur Christoph Schlingensief.
Polizeibehörden anderer Bundesländer haben die
Aktion aufmerksam verfolgt und wollen sie wiederholen.
„Wir sind mit dem Ergebnis sehr zufrieden”, sagte
Polizei-Sprecherin Ulrike Sweden gegenüber AOL.
Für Polizei-Präsident Ernst Uhrlau steht fest: „Wir
konnten die Bereitschaft der Bürger, Opfern von
Straftaten zu helfen, wieder wachrütteln.” Allein
die Internet-Seiten zu diesem Thema haben 4500
Interessierte aufgerufen. Jetzt will die Polizei das
Thema auch in andere Institutionen hineintragen.
In Schulen und Universitäten beispielsweise,
sagte Sprecherin Sweden.
Entworfen wurde die Kampagne von der Werbeagentur „Springer & Jacoby”. Sie spendete ihr
kreatives Potential. Heraus kam eine Kampagne
mit beklemmendem Tenor. Beispiel: „Hier wurde
gestern ein Mädchen Opfer von sechs Tätern. Einer
vergewaltigte sie, fünf schauten weg.”
Gewalt in unseren Straßen
10 Regeln zur Deeskalation in Gewaltsituationen
I. In Beziehung treten mit ation,
der Situ
sich
einmischen
Genau hinsehen! Wenn Jungen sich
prügeln oder wenn Jungen Mädchen bedrängen
und belästigen, ist das Ernst und nicht Spiel. Deshalb: Nicht wegsehen, sondern Stellung beziehen.
II. Per
sonale onfront
K
ationSich als Person ohne
pädagogisch-verständnisvolle Fassade bemerkbar
machen. So nicht: „Du, ich weiß, dass du sauer bist,
aber ich find’ das irgendwie nicht gut jetzt.” Sondern:
„Schluss damit! Hier wird nicht geprügelt.“ „Oder:
So etwas will ich von euch/dir nie wieder mitkriegen!”
III.
Trennung derontrahenten
K
Weitere Gewaltanwendungen durch Trennung der Gewalthandelnden verhindern. Opfer und Täter müssen sofort
getrennt werden.
IV. Sofor
t und eindeutig Grenz
en setz
en Keinerlei Gewalt oder Androhung von Gewalt gegen
sich selbst als Intervenierende/n zulassen.
will, aber kein Gegner ist. Ihn auf sich und die
Realität beziehen. Auf den Boden der Tatsachen
bringen. Laut werden: „Was macht ihr hier eigentlich?”, „Euer Streit interessiert mich nicht/ich hab
damit nichts zu tun, aber das (Gewalt) läuft hier
nicht!”, „Schluss damit! Seht ihr nicht, dass er/sie
Angst hat/verletzt ist/ sich nicht wehren kann?”
VII. Nicht entw
eichenassen
l
Gewaltsituation
nicht durch Flucht der Gewalthandelnden abbrechen lassen - nach dem Motto: „Ist doch nichts
passiert”. „Hier geblieben! Erst wird euer Streit
geklärt, dann könnt ihr gehen!”
VIII. Erns
t nehmen„Ich nehme dich mit dem, was
du sagst, beim Wort und ernst!” Auch die Gewalthandlung mit ihrer interpersonalen Aussage wörtlich nehmen und damit den Schüler für seine
Gewalthandlung verantwortlich machen. Beschönigen ist dann nicht mehr möglich.
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_139
GEGEN DEN TREND ’2001
IX. Sp
iegeln„Das hier war kein Spaß, dein Tun hat
V. Per
sonaleW ertungEigene Bewertung der GeKonsequenzen.” Konsequenzen in Form von persamtsituation deutlich machen, aber nicht moralisönlicher Ablehnung durch den Pädagogen/die
sieren. „Ich verbiete dir das! Hier läuft so was nicht!”
Pädagogin, einer Meldung an die Schulleitung etc.
Und: Eine Ankündigung ist keine leere Drohung.
VI. Einsch tzung, ob depressiv
e oder cha
otische Sie muss auch umgesetzt werden!
Gew altkrise orlieg
v
t Beispiele: Ein Eifersuchtsdrama ist eine depressiv verengte Krise, in der der
X. Begleitungchnadem Ge
w altendeDer/die
Gewalthandelnde nur noch die scheinbare ÜberlePädagoge/in soll nicht aus dem Kontakt gehen,
genheit der Partnerin sieht. In diesem Fall: Weiten, sondern im Kontakt bleiben, bis die Situation
d.h.: ihn auf seine Stärken bzw. auf andere Persodeeskaliert ist, bis festgestellt werden kann: „Es
nen, die ihn mögen, aufmerksam machen. „Du bist ist bei den Handelnden angekommen“. Nicht die
schließlich nicht allein. Das kann doch jeder sehen,
Schüler/innen wieder zusammenkommen lassen,
dass Peter, Uli, Karin dich gerne haben.” „Meinst
wenn damit gerechnet werden muss, dass weiter
du, Rita tut es nicht auch weh, dass ihr nicht mehr
geprügelt, belästigt wird.
zusammen seid?“ Gruppengewalt hat einen zumeist
chaotischen Krisenverlauf. Jeder ist gegen jeden,
Ausgearbeitet von: Kontakt- und Beratungsstelle
auch Unbeteiligte werden angegriffen; dann enMänner gegen Männer-Gewalt e.V., Institut for
gen, d.h.: dem Gewalthandelnden deutlich maMale, Burkhard Oelemann, Joachim Lempert,
chen, dass der/die Intervenierende nur schlichten
Mühlendamm 66, 22087 Hamburg
›› Literaturliste
und
DeeskalationsSeminare
Literatur: Ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt - Kirchen für Frieden und Wiederversöhnung Bücher zur Dekade (DOV):
Margot Käßmann
Gewalt überwinden: Eine Dekade des Ökumenischen Rates der Kirchen, Hannover 2000
Bücher zum Thema „Gewalt“:
Hans-Eckhard Bahr
Aggression und Lebenslust. Kooperieren statt
konfrontieren, Düsseldorf, 1994
Eckhard Bahr
Verfluchte Gewalt. Dokumentierte Geschichten,
Leipzig, 1992
Georg Baudler
Die Befreiung von einem Gott der Gewalt, Düsseldorf, 1999
Heidrun Bründel, Klaus Hurrelmann
Gewalt macht Schule. Wie gehen wir mit aggressiven Kindern um? München 1994
Christian W. Büttner
Friedensbrigaden: Zivile Konfliktbearbeitung mit
gewaltfreien Methoden. Münster, 1995
Tilman Evers (Hrsg.)
Ziviler Friedensdienst - Fachleute für den Frieden.
Idee – Erfahrungen – Ziele, Opladen, 2000
GEGEN DEN TREND ’2001
EKD (Hrsg.)
Gewalt gegen Frauen als Thema der Kirche. Ein
Bericht in zwei Teilen, Gütersloh 2000
Paul Hugger, Ulrich Stadler (Hrsg.)
Gewalt. Kulturelle Formen in Geschichte und
Gegenwart, Zürich, 1995
René Girard
Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a.M., 1992
Hildegard Goss-Mayer
Wie Feinde Freunde werden, Freiburg-Basel-Wien,
1996
Günther Gugel, Uli Jäger
Gewalt muß nicht sein. Eine Einführung in friedenspädagogisches Denken und Handeln, Verein
für Friedenspädagogik Tübingen e.V., 1994
G. Mader, W.-D. Eberwein, W.R. Vogt
Frieden durch Zivilisierung? Probleme – Ansätze –
Perspektiven, in: Schriftenreihe des Österreichischen Studienzentrums für Frieden und Konfliktlösung – ÖSFK (Hrsg.), Band 1, Münster 1996
Joh. Esser, Dieter v. Kietzell, Barbara Ketelhut,
Joachim Romppel
Frieden vor Ort. Alltagsfriedensforschung - Subjektentwicklung – Partizipationspraxis, agenda
Frieden 19, Münster 1996
Wilhelm Heitmeyer u.a.
Gewalt. Schattenseiten der Individualisierung aus
unterschiedlichen Milieus, München, 2. Aufl., 1996
Erich Fromm
Anatomie der menschlichen Destruktivität, rororo
sachbuch, Hamburg 1977
Wolfgang Redwanz
Schritte gegen Gewalt, pädagogische Konzepte
der Gewaltprävention, Hg.: Bundeszentrale für
politische Bildung (BpB), Berliner Freiheit 7, 53111
Bonn. Fax: 0 18 88/515-309; [email protected];
www.bpb.de
Wolfgang Huber
Die tägliche Gewalt. Gegen den Ausverkauf der
Menschenwürde, Freiburg i.B., 1993
Kurt Singer
Zivilcourage wagen — wie man lernt, sich einzumischen, Piper Verlag, München, 190 Seiten
142_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Literatur: Ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt - Kirchen für Frieden und Wiederversöhnung Robert Spaemann
Zur Kritik der politischen Utopie. Zehn Kapitel politischer Philosophie, Stuttgart 1977 (Besonders die
Begriffsklärung im Artikel: Moral und Gewalt,
S. 77-103)
Helmut Lukesch
Wenn Gewalt zu Unterhaltung wird ... Regensburg
1994 (Gewalt im Fernsehen)
Hans-Uwe Otto, Roland Merten (Hrsg.)
Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland. Jugend im Umbruch, Opladen 1993
Wolfgang Sofsky
Traktat über die Gewalt, Frankfurt a.M., 1994, 2.Aufl.
Wolfgang R. Vogt, Eckard Jung (Hrsg.)
Kultur des Friedens: Wege zu einer Welt, Darmstadt 1997
Ulrike C. Wasmuht
Geschichte der deutschen Friedensforschung:
Entwicklung, Selbstverständnis, Politischer Kontext, Münster 1998
Zivilcourage
Anleitung zum kreativen Umgang mit Konflikten
und Gewalt. Agenda Verlag, Münster 1995, 142 S.
Zeitschriften und Aufsätze:
Margot Käßmann
Ökumenische Dekade „Gewalt überwinden“, Junge
Kirche – Zeitschrift europ. Christinnen und Christen, Febr. 1999, 60. Jhg. , S. 83 ff
Sonderheft: Gewalt überwinden
Junge Kirche – Zeitschrift europ. Christinnen und
Christen, Mai 2000, 61. Jhg.
Sonderheft: Religionen als Quelle von Gewalt?
Concilium Internationale Zeitschrift für Theologie,
33. Jhg., September 1997, Heft 4
Ausrottung der Armut – Überwindung von Gewalt:
Themen der Oekumene, Nr. 61 – September 2000,
III. Quartal
Christ sein weltweit – Gewalt überwinden:
Material f. Gemeinden und Gruppen; 2000
Hrsg.: Ev. Missionswerk in Deutschland e.V.
Programm zur Überwindung von Gewalt; Zusammengestellt von Salpy Eskidjian
Oekumenischer Rat der Kirchen, Genf 1997 (vergriffen?)
Gewalt überwinden: Werkstatt zur Ökumenischen
Dekade, 19.bis 21. Januar 2000
in der Ev. Akademie Bad Boll, Protokolldienst 8/
2000
Lateinamerika: Wer stoppt die Gewalt?
In: der überblick. Zeitschrift für ökum. Begegnung
und intern. Zusammenarbeit, Heft 1 1998
Krieg gegen die Frauen
der überblick, Heft 2, 1993
Ernst von der Recke
Warum hast du gleich geschlagen, in: zivil - Zeitschrift für Frieden und Gewalt-Freiheit, 3/2000, S.36 f
Tobias Kaufmann
Frieden fängt beim Fußball an, in: zivil – Zeitschrift
für Frieden und Gewaltfreiheit, 3/2000 S. 33 f
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_143
GEGEN DEN TREND ’2001
epd-Dokumentation
Dekade zur Überwindung von Gewalt. Botschaft
und Rahmenkonzeption und Bewaffnete Konflikte und Völkerrecht. Memorandum und Empfehlungen, ÖRK Zentralausschuss ´99, Nr. 38/99
(Bestellung: Tel 069/580 98-189 Fax 069/ 580 98
- 226, E-Mail [email protected]
Literatur: Ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt - Kirchen für Frieden und Wiederversöhnung Gewaltfreie Konfliktbearbeitung
antimilitarismus information (ami) 25. Jhrg.,
Heft 12, Dezember 1995
Thomas Rödl
Zivil handeln. Gewaltfrei Alternativen, AG Friedenspädagogik, München, 98
Joachim Zierau
Alternativen zur militärischen Konfliktbearbeitung,
in: Grenzen der Versöhnung: Handreichung zur
Friedensdekade Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, Göttingen 1995
Zeitschrift: Probleme des Friedens, Pax Christi
(Hrsg.), Komzi Verlag, Idstein
• Friedens- statt Militäreinsätze. Freiwillige Friedensdienste im Aufwind, 2-3/1994
• Jenseits der Gewalt. Arbeit für den Frieden in ExJugoslawien, 1-2/1996
• Aufstehen gegen Kulturen der Gewalt. Beispiel
Türkei, 3/1997
• Der konziliare Prozeß. Gemeinsam für Gerechtigkeit,
Frieden und Bewahrung der Schöpfung, 1-2/1998
Gewaltverherrlichung kann gefährlich sein, Ursula Nuber
Interview mit H. Selg und H. Lukesch zu Gewaltdarstellungen in den Medien, in: Psychologie
Heute April 1999, S. 45-49
Arbeitsmaterialen:
GEGEN DEN TREND ’2001
Arbeitsgruppe SOS-Rassismus NRW (Hrg.)
»Spiele, Impulse und Übungen«, SOS-Rassismus,
Haus Villigst, 58239 Schwerte, Tel. 02 304/75 51 90
Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt,
Braunschweig, Reinhard Koch, Rechtsextremismus und Gewalt.
Ein Verzeichnis der in Braunschweig verfügbaren
Medien und Materialien, Verzeichnis 9, 1994
144_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend (Hrsg.) »Störenfriede«,
Broschürenstelle Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend, Postfach 20 15 51,
53145 Bonn Fon: 0180/53 29-3 29
Klaus Burckhardt,
Schritte gegen Tritte. Vom Umgang mit Gewalt in
Südafrika und bei uns, Evangelisches Missionswerk in Deutschland (EMW), Hamburg
K. Fuller, W. Kerntke
Konflikte selber lösen – Mediation für Schule und
Jugendarbeit, Verlag an der Ruhr, 1996
K. Fuller, W. Kerntke
Konflikte selber lösen – Mediation für Schule und
Jugendarbeit, Verlag an der Ruhr, 1996
R.-E. Posselt, Kl. Schumacher
Projekthandbuch: Gewalt und Rassismus. Handlungsorientierte und offensive Projekte, Aktionen
und Ideen zur Auseinandersetzung und Überwindung von Gewalt und Rassismus in Jugendarbeit,
Schule und Betrieb, Mühlheim a.d.R., 1993
Peace to the City. Stories of Hope. Video-Serie zur
Kampagne „Peace to the City“
WCC Publicationes, P.O. Box 2100, 1211 Geneva 2,
Switzerland
Dokumentation des Modellvorhabens „Ausbildung in ziviler Konfliktbearbeitung“, Forum
Ziviler Friedensdienst
Arbeitsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF)
u.a. Hrsg., 1997
Detlef Beck – Barbara Müller
Gewaltfreie Nachbarschaftshilfe, BSV Minden,
1994
»Publik-Forum«
Dossier: »Den braunen Vormarsch stoppen«.
Literatur: Ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt - Kirchen für Frieden und Wiederversöhnung Dort sind auch »Initiativen für ein freundliches
Land« vorgestellt. Publik-Forum, Postfach 2010,
61410 Oberursel www.publik-forum.de
Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie
Aktion
Kirchstr. 14, 29462 Wustrow, Tel.: 05843-507
Internetadressen:
Ghandi Informationszentrum
Lübecker Str. 44, 10559 Berlin 21, Tel.: 030-3941420
Graswurzelwerkstatt, Scharnhorststr. 6, 50733
Köln 60, Tel.: 0221-765842
www.arbeitsstelle-moeve.de
www.wcc-coe.org
(ÖRK Website mit vielen Informationen)
www.afg-hannover.de
Friedens- und Begegnungsstätte Mutlangen e.V.
Forststr. 3, 73557 Mutlangen, Tel.: 07171-75661.
Werkstatt für gewaltfreie Aktion Baden
Römerstr. 32, 69115 Heidelberg, Tel.: 06221/16197
Bund für soziale Verteidigung, Friedensplatz 1a,
32378 Minden, Tel.: 0571/29456
Pädagogisches Institut des Schulreferats München
c/o Wunibald Heigl, Herrnstr. 19, 80539 München,
Tel.: 089-23327965 Fax.: 089-23328749
Zusammengestellt von:
Joachim Zierau, Pastor, Arbeitsstelle KDV & ZDL
& Friedensdienste im Amt für Gemeindedienst,
0511-1241-468
Deeskalations-Seminare
(und Informationen dazu) bieten an:
Arbeitsgruppe SOS-Rassismus NRW
Haus Villigst, 58239 Schwerte, Tel.: 02304-755190,
e-mail: [email protected]
GEGEN DEN TREND ’2001
ARIC-NRW (Anti-Rassismus-Informations-Centrum)
Niederstr. 5, 47051 Duisburg, Tel.
und Fax: 0203/284873, e-mail: [email protected]
oder: [email protected]
Aktion Courage
c/o Ulrich Nehls, Lankauer Weg 1, 23879 Mölln,
Tel.: 04542-87345
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_145
Informationen über die AEJN
Zur Arbeit der AEJN
GEGEN DEN TREND ’2001
In der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen
Jugend in Niedersachsen (AEJN) haben sich 10
Jugendverbände aus den 5 Landeskirchen, den
Verbänden eigener Prägung und den Freikirchen
zusammengeschlossen, um u. a. „gemeinsame
Belange bei staatlichen, kirchlichen und sonstigen
öffentlichen Stellen“ zu vertreten. Wesentliche
Grundlage der verbandlichen Jugendarbeit
sind weiterhin Jugendgruppen, Projekt- und Aktionsgruppen. Sie haben wechselnde inhaltliche
Schwerpunkte und sind Teil der Freizeit, die Jugendliche und junge Erwachsene gemeinsam
gestalten, in der sie soziale Aktionen durchführen
und sich mit religiösen, gesellschaftspolitischen
und politischen Fragen auseinandersetzen. Hinzu
kommen Seminare, Wochenendfreizeiten, Zeltlager, internationale Jugendbegegnungen, Jugendgottesdienste und offene Angebote für nicht
organisierte Jugendliche. Ein nicht unerheblicher
Anteil der Aktivitäten wird mit öffentlichen Mitteln
gefördert. 1.486 Freizeiten- bzw. Bildungsmaßnahmen (davon 759 Freizeiten und 727 Bildungsmaßnahmen) haben die zehn Mitgliedsverbände
der AEJN im Jahr 1999 durchgeführt . An diesen
Veranstaltungen nahmen 44.142 Personen (davon 22.913 weiblich und 21.229 männlich) teil.
Insgesamt konnten 268.969 Teilnehmertage
(TNT=Anzahl der Personen multipliziert mit Tagen)
gezählt werden. Mit mehr als 31.000 TeilnehmerInnen bei 759 Freizeitmaßnahmen dürften die
evangelischen Jugendverbände zu den größten
Anbietern im Jugendhilfebereich in Niedersachsen
zählen. Dazu müssen eine Vielzahl von weiteren
Freizeiten der örtlichen Ebene gerechnet werden,
die von dieser Statistik nicht erfasst werden.
Bei einer Auflistung der Altersstruktur ist erkennbar, dass bei den genannten Maßnahmen 17.500
Jugendliche aus dem Segment der 14 -18 Jährigen
stammen, ca. 7.000 Personen zum Zeitpunkt der
Erhebung zwischen 19 und 26 Jahre alt waren.
146_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
Über 15.000 Kinder im Alter von 6 -13 Jahren nahmen an Freizeiten teil.
Die Mitgliedsverbände zählten 16.978 Ehrenamtliche, die für die unterschiedlichsten Angebotsformen der Jugendarbeit aktiv tätig waren. 52%
davon sind weiblich - 48% sind männlich. Diese
Statistik weist nur ein Teilsegment der Angebotsvielfalt der Jugendverbände aus. Regelmäßig stattfindende Gruppenzusammenkünfte, Projekte oder
Wochenendveranstaltungen kommen noch dazu.
Fazit: Jede Mark, die den Mitgliedsverbänden der
AEJN vom Land Niedersachsen oder anderen
öffentlichen Stellen zur Verfügung gestellt werden,
ist gut angelegt. Verwendungsnachweise werden
den zuständigen Stellen zur Überprüfung regelmäßig vorgelegt.
Dazu kommen die Kinder und Jugendlichen, die
sich regelmäßig in Gruppen und Projekten, häufig wöchentlich oder 14-tägig treffen. Allein im
Bereich der Ev. Jugend der hannoverschen Landeskirche gibt es mehr als 3.540 Kinder- und Jugendgruppen.
Zur Arbeit Ehrenamtlicher
Ehrenamtliches Engagement ist nach wie vor die
tragende Säule der Jugendarbeit und insbesondere der Jugendverbandsarbeit. Jugendverbände
werden seit ihrer Gründung von Ehrenamtlichen,
d.h. von freiwilligen und unbezahlten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern getragen und gestaltet. Mit
ihrem Engagement sichern sie das gesamte Verbandsleben von regelmäßiger Gruppenarbeit über
die Leitung von Bildungs- und Freizeitmaßnahmen
bis zur politischen Vertretung. Es sind Ehrenamtliche, die Projekte, Freizeiten und die alltäglichen
Angebote erst möglich machen. Nach der oben
erwähnten Aktivitätenübersicht der AEJN wurden
16.978 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gezählt.
Informationen über die AEJN
Die Mitgliedsverbände der AEJN haben Strukturen
und Rahmenbedingungen geschaffen, damit junge
Menschen
• durch religiöse, allgemeine und politische
Bildung in ihrer Persönlichkeitsentwicklung
gefördert werden;
• ihre Interessen innerhalb ihres eigenen Jugendverbandes artikulieren;
• ihre Bedürfnisse und Anliegen in der kirchlichen
und politischen Öffentlichkeit vertreten;
Als Grundlage dient die Überzeugung, wie sie z. B.
in der Präambel der Ordnung für die ev. Jugendarbeit in der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers formuliert ist:
„Ev. Jugendarbeit will allen jungen Menschen das
Evangelium von Jesus Christus in ihnen gemäßer
Weise bezeugen, sie mit der biblischen Botschaft
in ihrer Lebenswirklichkeit begleiten und sie
ermutigen, in der Nachfolge Jesu Christi als mündige Christen kirchliches Leben mitzugestalten und
Verantwortung in der Welt wahrzunehmen.“
Arbeitsgemeinschaft der Ev. Jugend in Niedersachsen (AEJN): evangelische Jugendarbeit der
Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig, Ev.-luth.
Landeskirche Hannovers, Ev.-luth. Kirche in Oldenburg, Ev.-luth. Landeskirche SchaumburgLippe, Evangelisch-reformierte Kirche (Synode
ev.-ref. Kirchen in Bayern und Nordwestdeutschland), Jugendwerk der ev.-meth. Kirche Niedersachsen, Gemeindejugendwerke Niedersachsen
und Nordwestdeutschland des Bundes Ev.-freikirchlicher Gemeinden, Jugendwerk des Bundes
der freien Evangelischen Gemeinden, CVJM in
Niedersachsen, Niedersächsischer Jugendverband
„Entschieden für Christus (EC)“ e.V.
GEGEN DEN TREND ’2001
Postanschrift: Postfach 265, 30002 Hannover,
Telefon (05 11) 12 41 - 5 71, Fax (05 11) 12 41 - 4 92
e-mail: [email protected]
Homepage: http://www.ejh.de/aejn.htm
ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_147
Veröffentlichungen „Gegen den Trend“
Gegen den Trend 1992 vergriffen
40 Tage ohne …Verzicht ein Gewinn
Gegen den Trend 1997 vergriffen
Surfen in die Zukunft
- Fasten - ein leibliches Fest und ein
religiöses Ereignis
- Thema Alkohol
- Thema Süßigkeiten
- Thema Medienkosum
-
Gegen den Trend 1993 vergriffen
Gewalt - gewaltfrei leben
Gegen den Trend 1998
Erfolgreich leben
-
Die Aktion
Gewalt in der Schule
Gewalt in der Freizeit
Gewalt in den Medien
- Die Aktion
- Versuch einer Ist-Stands Beschreibung
- Individuum und Gemeinschaft - Ich suche
mich noch
- Individuum und Gemeinschaft - „Es ist
nicht gut, dass der Mensch allein sei...„
- Werte und Orientierungen - Die anderen
sind mein größter Wert
- Werte und Orientierungen - Wir haben einen Traum
DM 6,–
-
Option für die Schwachen
Jugend und Teilen
Macht teilen
Zeit - teilen statt totschlagen
Arbeit teilen
Geld/Besitz teilen
Begabung, Intelligenz, Talent und die
Möglichkeit des Teilens
- Fasten und Teilen im Horizont der Einen Welt
GEGEN DEN TREND ’2001
Gegen den Trend 1996
Kick, Fun & Thrill
-
DM 6,50
von der Schiffsschaukel zum Euro-Disney
Trends
Tanzen ist Trumpf
Beziehungskisten
Erleben gegen den Trend
Erlebnispädagogik - Rettungsanker in
schwieriger Zeit?
148_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …
DM 6,50
- Erfolg, was ist das für mich
- Jeder ist seines Glückes Schmied? Von
Leitbildern und Idolen
- Stell Dir vor, Du stellst Dich vor, und keiner
stellt Dich ein!
- Warum immer nur zu kurz kommen?
Frauen und Erfolg
- Die Geburtsstätte des Erfolgs: Die Stadt
- Von Winnern und Losern: die geistliche Dimension des Erfolges
- Impuls- und Erlebnisstationen zu biblischen „Erfolgstexten“
Gegen den Trend 1994
DM 6,–
Wettstreit statt Feindschaft
Gegen den Trend 1995
Fasten und Teilen
Runter von der Oberfläche
Ich-Styling
Kreativ sein im Internet
Die Computergesellschaft
Kommunikation
Zukunft in der Bibel
Gegen den Trend 1999 DM 6,50
Navigation braucht Orientierung
- Orientierung
- Vom Gebot zur Geschichte - Orientierung
als Prozeß
- Innerer Kompaß und Orientierungslosigkeit
- Global + Ratlosigkeit = Angst
- Lebensaufgaben im Jugendalter
- Wertehammer
- The dark side of the moon - Umgang mit Tod und Sterben
- Wie gewinne ich Orientierung?
Gegen den Trend 2000 DM 6,50
Von Helden und anderen Lichtgestalten
- Einführung
- Helden - Begleiter auf dem Weg zur
eigenen Persönlichkeit
- Filmhelden in Aktion
- Star Trek - Raumschiff Enterprise
- Stars - Helden in der Musikszene
- Martin Luther King
- Vom General zum Friedensheld - Yitzchak Rabin
- Heldinnen
- Jungen - Männer - Helden
- „Mir nach spricht Christus unser Held …“