Gegen den Trend 2001 - Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen
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Gegen den Trend 2001 - Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen
GEGEN DEN TREND ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … AEJN • Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Niedersachsen Postfach 265 • 30002 Hannover • Telefon: 05 11 / 12 41 - 572 / - 571 • Fax: 05 11 / 12 41 - 492 [email protected] • http://www.ejh.de/aejn.htm Redaktion: Ralph-Ruprecht Bartels, Christian Ceconi-Solle, Daniela Jeksties, Gottfried Labuhn, Manfred Neubauer, Daniel Petzold Autoren: Ralph-Ruprecht Bartels, Pastor im Landesjugendpfarramt Hannover Martin Bauer, Dipl. Religionspädagoge, Kirchenkreisjugendwart Nienburg Christian Ceconi-Solle,Vikar, Ehrenamtlicher der Christlichen Pfadfinderschaft Deutschland Daniela Jeksties, Dipl. Sozialwirtin, Referentin für Mädchenarbeit, Landesjugendpfarramt Hannover Gottfried Labuhn, Dipl.Sozialarbeiter, Propsteijugenddiakon, Ev.-Luth. Landeskirche Braunschweig André Medeke, Dipl. Religionspädagoge, Regionaljugenddiakon f. d. Kirchenkreis Vechta, Ev.Luth. Kirche in Oldenburg Roger Moch, Berufsschulpastor, Rotenburg/Wümme Manfred Neubauer, Dipl.Religionspädagoge, Jugendbildungsreferent im Landesjugendpfarramt Hannover Daniel Petzold,Vikar und Mitglied der Altpapiergruppe Loccum Siegfried Rupnow, Dipl. Religionspädagoge, Landesjugendwart im Landesjugendpfarramt Hannover Eva Viedt, Diakonin, Arbeitsgebiet Mädchenarbeit, Evangelischer Stadtjugenddienst Braunschweig Dr. Klaus Zastrow, Berufsschulpastor in Bückeburg Titelseite: Kolja Schwab - s•form Satzerfassung: Doris Koch, Manfred Neubauer Layout: Kolja Schwab - s•form Druck: Buchdruckwerkstätten GmbH, Hannover Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier, Recycling Hannover, im Januar 2001 Inhaltsverzeichnis 5_ Vorwort der Nds. Ministerin für Frauen, Arbeit und Soziales 6_ Vorwort der Redaktion Die Aktion 8_ Die Aktion und ihr Thema 8_ Zur Arbeit der Projektgruppe und der Zielsetzung 9_ Fasten, warum? 9_ Die Arbeitshilfe (Broschüre) und ihre Zielgruppen 10_ Die Themen Jugendgewalt - Wie, wo, warum? - Überblick über die Ergebnisse der neuesten soziologischen Studien 12_ Einleitung 12_ Gewalt in der Schule 12_ Gewalt findet (meistens) draußen statt 13_ Bangemachen bringt nix – die Rolle der Lehrer/innen 13_ Gewalt und soziales Milieu 13_ Gewalterlebnisse bestimmen das Gewaltverhalten 14_ Je schlechter die soziale Lage, desto häufiger Gewalt 14_ Normen werden zu Hause gemacht 15_ Jugendgewalt ist ein Männlichkeitsproblem 15_ Sind es also immer die Ausländer? 16_ Welchen Stellenwert hat das Thema Gewalt für die Jugendlichen selbst? 16_ Das Gewaltproblem realistisch einschätzen und gezielt daran arbeiten GEGEN DEN TREND ’2001 Faszinosum Gewalt 20_ Das Ende der Vernunft? 20_ Kein Leben ohne Beziehung 21_ Wie der Mensch sich selbst gewinnt 22_ 3 x 1 = 1: Der dreieinige Gott 23_ Gewalt und die Suche nach Beziehung 2_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … 23_ Nächstenliebe – Deine Sache!? 24_ Vom Fremden zum Eigenen 26_ Pädagogik der Grenzen 26_ Der Grund des Seins – Kick oder Exstase 28_ Verstehen oder Abschrecken? 28_ Nachsicht oder Verantwortung? Wie wirkt Musik? 34_ Die Affekte, Begriffsbestimmungen 35_ Aggression beim Menschen Aggressionstheorien 37_ Praxisbaustein: Ablauf eines Schulgottesdienstes an der BBS zum Thema Gewalt/ Menschlichkeit 40_ Gewalt in den Medien/Musik 40_ Begegnung mit einem (typischen?) Nazimusik-Konsumenten 44_ Musik und ihre Funktionen Die Welt zertrümmern?! Musikkonsum und aggressives Verhalten 48_ Vorbemerkung 48_ Einleitung 50_ Inhalt der Studie, Fragestellungen und Hypothesen der Studie von C. Stöver 50_ Hypothesenbildung 51_ Der Fragebogen 53_ Fragebogen zum Zusammenhang von Persönlichkeit und Musikkonsum 58_ Analyse und Untersuchungsergebnisse 61_ Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse 63_ Fazit Gewaltbereite Mädchen 68_ Das Projekt „Starke Mädchen gegen Rechts“ 68_ Hintergrundwissen über gewaltbereite Mädchen 69_ Warum sind Mädchen und Frauen in der rechtsextremen Szene zu finden? Inhaltsverzeichnis 70_ Ziel des Projektes 71_ Umsetzung 71_ Vorstellung vom Teilprojekt „Straßenbefragung“ 72_ Ergebnisse des Gesamtprojektes Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen 74_ Wege des Ausbruchs 75_ Überlebensstrategien 76_ Gefühl zeigen über Kreativität 76_ Freies und experimentelles Malen 76_ Mädchenarbeit ist Präventionsarbeit 77_ Wen Do - Weg der Frauen 77_ Ausgangssituation 78_ Geschichte und Prinzipien 78_ Das Besondere am Wen Do 79_ Wen Do als Bildungsschwerpunkt in der Mädchenarbeit Gewalt und Jungen (Jungen treten Mädchen ziehen an den Haaren) 82_ Einleitung 83_ Beschreibung von aktiver Gewalt bei Kindern und Jugendlichen 83_ Gewalt in der Familie 83_ Jungen und Gewalt 84_ Jugendgewalt 84_ Gewalt als Mittel der Identitätsfindung 84_ Gewalt als Erlebnis 85_ Gewalt als Angstabwehr 85_ Konsequenzen für die Gewaltprävention Der Herr der Heerscharen Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010 - Ein Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen 100_ Ein Programm zur Überwindung der Gewalt 101_ Die Geschichte der ÖRK - Dekade 103_ Das Programm der Dekade 104_ ÖRK - Dekade und evangelische Jugendarbeit Praxisbeispiele Für die Arbeit mit Mädchen (jungen Frauen) 108_ Ich brauche Platz 108_ Ich breche aus 109_ Rück‘ mir nicht auf die Pelle Für die Arbeit mit Jungen (jungen Männern) 112_ Elektrischer Draht 113_ Säureteich 114_ Das Spinnennetz 115_ Konkurrenz unter Jungen Für die Arbeit mit Mädchen und Jungen/ Männern und Frauen 118_ Lebenskurve: Erfahrungen von Gewalt 119_ Grenzen wahrnehmen 119_ Burgspiel 120_ Burgspiel (Variante) 121_ Manchmal haben Frauen … 122_ Begeisterung kennt keine Grenzen 123_ Gruppenarbeit zum Thema Begeisterung ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_3 GEGEN DEN TREND ’2001 88_ Von Pazifismus keine Spur 88_ Ein starker Gott hilft einem schwachen Volk: Showdown am Schilfmeer 89_ Eine betende Terminatorin: Judit 90_ Begeisterung macht stark: Simson 90_ Die jugendliche Geheimwaffe: David 91_ Größe und Größenwahn 92_ Rohrstockpädagogik im Kleinen ... 93_ ...und im Großen 93_ Der andere Gott 95_ Runter mit der Hasskappe – rauf mit dem Helm des Heils! 96_ Kreativität für das Evangelium des Friedens 97_ Praxisbeispiel Inhaltsverzeichnis Gewaltorientierte Spiele mit der Playstation - ein Selbstversuch 125_ Die Idee 125_ Der Versuchsaufbau 125_ Durchführung 127_ Unsere Erfahrungen und Tipps zur Durchführung des Versuchs in Schulklassen und Jugendgruppen 127_ Kleine Quellenkunde zu geeigneten (aktuellen) Spielen 128_ Und was bringt‘s? Das Bauwagenprojekt „Paule“ zur Überwindung von Gewalt 129_ Entstehung des Projektes 129_ Ziel: Overcome violence – die Gewalt überwinden 129_ Der Ausbau des Bauwagens 130_ Die Arbeit mit „Paule“ 131_ 10 Artikel zur Gewaltvermeidung 131_ Mobilität 132_ Teamarbeit 132_ Ausblick Gewalt in unseren Straßen 133_ Erlebnisse eines 16jährigen 134_ Vaterland 135_ Schritte gegen Tritte 138_ 10 Regeln zur Deeskalation GEGEN DEN TREND ’2001 142_ Literaturliste und Deeskalationsseminare 146_ Informationen über die AEJN 148_ Veröffentlichungen der AEJN zur Aktion „Gegen den Trend“ 4_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Vorwort der Nds. Ministerin für Frauen, Arbeit und Soziales Mit ihrem Motto „Gegen den Trend 2001 - Zwischen Begeisterung und Gewalt“ ruft die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend zu ihrer diesjährigen Fastenaktion auf. Gewalt scheint „im Trend“ zu liegen. Medienmeldungen über Gewalt an Ausländern und fremdländisch Aussehenden, an Behinderten, Obdachlosen, Wehrlosen häufen sich. Gewalt, die weniger nach außen dringt, herrscht in vielen Familien. Subtile Formen der Gewalt finden sich in der Arbeitswelt. Gewalt richtet sich immer gegen Schwächere. Gewalt widerspricht den zentralen Grundsätzen unseres Zusammenlebens, der Freiheit, der Solidarität und der gegenseitigen Achtung. Ansätze, die „gegen den Trend“ der Gewalt wirken, sind daher notwendig. Dazu gehört es, auf die unterschiedlichen Formen von Gewalt und ihre Ursachen hinzuweisen, Wege zur Prävention aufzuzeigen, Beispiele und Anregungen zu benennen, die jungen Menschen und ihren Familien, Pädagogen in der Jugendhilfe und der Schule helfen und Mut machen, Gewalt vorzubeugen und abzubauen. Die diesjährige Aktion der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend leistet dazu einen guten Beitrag. beispielgebend sind. Besonders Familien brauchen unsere Unterstützung. Wir haben gemeinsam die Aufgabe, junge Menschen mit ihren Erwartungen, Ängsten und Wünschen ernstzunehmen, sie an Entscheidungen, die ihre Angelegenheiten betreffen, zu beteiligen, ihnen lebenswerte Perspektiven zu geben und verantwortlich mit den Ressourcen ihrer Zukunft umzugehen. In dieser Aufgabe liegt ein Schlüssel zur Gewaltvermeidung. Ich würde mich sehr freuen, wenn die vorliegende Arbeitshilfe für Jugendhilfe und Schule zu konstruktiven und hilfreichen Auseinandersetzungen mit dem Thema „Gewalt” beitragen kann. Dr. Gitta Trauernicht Niedersächsische Ministerin für Frauen, Arbeit und Soziales GEGEN DEN TREND ’2001 Mit dem „Präventions- und Integrationsprogramm”, das auf einer Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Schule aufbaut, verstärkt Niedersachsen in diesem Jahr die Maßnahmen des Landes zur Gewaltbekämpfung. Aber um der Gewalt in ihren verschiedenen Formen wirksam zu begegnen, bedarf es darüber hinaus der gemeinsamen Verantwortung und Bereitschaft zur Zusammenarbeit vieler gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen und auch vieler Einzelner, die ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_5 Vorwort der Redaktion gibt. Unsere Gesellschaft baut ja bekanntlich auf einem geregelten Rechtssystem auf, der Staat hat das Gewaltmonopol und körperliche Stärken sind zum Überleben nicht mehr notwendig, außer in Godzillafilmen, oder Bartels? Bartels: Ja, da sind wir doch auf einen fahrenden Zug aufgesprungen, oder, Neubauer? Bartels: Neubauer: Die Idee des Themas war schon länger vorhanden, wie du dich erinnerst. Im Rahmen der Reihe „Gegen den Trend” haben wir 1993 schon einmal das Thema „Gewalt” behandelt. Bartels: ...und, hat sich seitdem etwas verändert? Gibt es neue Erkenntnisse, die eine weitere Arbeitshilfe zu dem Themenkomplex begründen? Neubauer: Acht Jahre sind verstrichen, die Aktualität des Themas ist ungebrochen. Hinzu kommt, dass für das Jahr 2001 die ÖRK1-Dekade zur Überwindung von Gewalt ausgerufen wurde. Das hat auf verschiedenen Ebenen Bewegung gebracht. Im Bereich der evangelischen Jugendarbeit der Landeskirche Hannovers hat beispielsweise die Landesjugendkammer beschlossen, sich an der Umsetzung der Dekade zu beteiligen. GEGEN DEN TREND ’2001 Bartels: Richtig, die Synode der Landeskirche hat in ihrer Novembersitzung ebenfalls einen entsprechenden Beschluss gefasst. Neubauer: Außerdem: Wir haben scheinbar friedliche Zeiten. Wie leben in einem Land, in dem es keine Bombennächte mehr 6_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Ja, es findet zur Zeit der virtuelle Overkill statt, in PC´s, auf Spielkonsolen in Action-Filmen und Serien. Dort werden Fähigkeiten idealisiert, die Mann oder Frau im normalen Leben eigentlich nicht mehr braucht. Wo kann man sich heute noch austesten? Da bleibt nur die Randale auf Straßen oder in Stadien, ist doch so oder, Neubauer? Neubauer: Richtig, Bartels. Deshalb haben wir ja auch lange den Spagat diskutiert: „Zwischen Begeisterung und Gewalt”. Uns war und ist klar, dass Begeisterung kreativ positiv umgesetzt werden kann. Aber auch negativ gewendet in Gewalt umschlagen kann. Oder anders ausgedrückt: Begeisterung ist eine Kraft, die unglaublich viel Kreativität freisetzen kann. Andererseits kann sie uns auch zu Dingen hinreißen, die Unheil bewirken. Bartels: Stimmt, aus Begeisterung kann auch Gewalt werden. Aber Jugendliche teilen nicht nur Gewalt aus, sondern sie sind auch im hohen Maße Opfer von Brutalität, Erpressung und dem sogenannten „Abziehen”. Erwachsene beklagen die vermeintliche Zunahme von Gewalt, aber sehen sie auch inwieweit sie selbst dafür die Ursache sind, Neubauer? Neubauer: Ist doch klar, Bartels. Diejenigen, die selbst Gewalt erlitten haben, werden Vorwort der Redaktion eher gewalttätig, das zeigen einschlägige wissenschaftliche Untersuchungen. Bartels: Das sagt auch schon das Alte Testament: „Die Sünde der Väter will ich heimzahlen bis ins dritte und vierte Glied”. Neubauer: Erwachsene leben nicht unbedingt gewaltfreies Handeln vor. Schläge sind in der Kindererziehung weiterhin an der Tagesordnung, Gewalt zwischen Frauen und Männern wird üblich und verniedlicht. Jungen und Mädchen lernen davon. des Verstandes bewältigen, sondern greifen tief in unseren Gefühlshaushalt hinein. Aber vielleicht ist es darum um so wichtiger, klare Orientierungen zu gewinnen über das, was sein soll und was nicht sein darf. Neubauer: Dann darf das ganze Thema nicht nur über die theoretische Auseinandersetzung angegangen werden, sondern wir müssen vielleicht alte und neue Techniken anwenden, bzw. entwickeln, die zur Gewaltüberwindung führen und gewaltfreieren Umgang zwischen uns ermöglichen. Bartels: Bartels: Ach du meinst, „manchmal haben Frauen ein bisschen Haue gern”, wie es „Die Ärzte” singen. Aber das kann doch nicht ernst gemeint sein, oder, Neubauer? Neubauer: Natürlich nicht, Bartels. Da wird uns doch ein Spiegel vorgehalten, das ist doch eher eine Persiflage. Aber es zeigt, dass das Thema allgegenwärtig ist und auf Gewalt mit Gewalt reagiert wird, selbst von Frauen. Bartels: Also, ähnlich wie ich auch das Lieben lernen muss, Neubauer? Neubauer: Ja klar, Bartels, auch du. Bartels: 1 Wir alle sind hoffentlich lernfähig, Neubauer! Ökumenischer Rat der Kirchen Gibt es so etwas wie ein Bedürfnis nach Gewalt? Ein letzter Kick nachdem alle anderen täglichen Höhepunkte ausgereizt sind? Bartels: GEGEN DEN TREND ’2001 Neubauer: Ich glaube schon. Es gibt eine voyeuristische- und eine Opfer-Perspektive. Ganz abgesehen von der Täter-Sicht, oder Bartels? Liebe und Gewalt rühren an die tiefsten Schichten unserer Existenz. Sie lassen sich beide nicht allein auf der Ebene ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_7 Die Aktion Die Aktion und ihr Thema Fasten ist mehr als nur Verzichten. Mit dem Fasten steigen Menschen aus gewohnten Verhaltens- und Konsumweisen aus und es eröffnen sich ihnen neue Reflexionsmöglichkeiten. Es ist eine Zeit des Innehaltens und der Besinnung auf das eigene Verhältnis zu Gott und zur Welt. Eine heilsame Leere tut sich auf und will mit weiterführenden Anregungen gefüllt werden. In der diesjährigen Fastenzeit will die Aktion „Gegen den Trend” der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Niedersachsen (AEJN) das Thema „Zwischen Begeisterung und Gewalt” in den Mittelpunkt des Nachdenkens stellen. GEGEN DEN TREND ’2001 Begeisterung - ein Hochgefühl, dass dem Geist Flügel verleiht. Es gibt ganz unterschiedliche Ursachen und ganz unterschiedliche Wirkungen von Begeisterung. Begeisterung kann Kreativität zur Überwindung von Gewalt freisetzen. Begeisterung kann aber auch Grenzen sprengen, eigenes Verhalten entgrenzen und somit in Gewalt umschlagen. „Das ist eben so bei mir, wenn ich erst mal dabei bin, kann ich nicht einfach aufhören” sagte ein 23 Jähriger vor Gericht, der einen Obdachlosen fast zu Tode geprügelt hatte. Gewalt schreckt ab und macht Angst, Gewalt wird (zu recht) moralisch verurteilt. Gewalt kann aber auch zum „Trip” werden, zum faszinierenden Rausch, in dem alle Hemmungen verloren gehen. Begeisterung und Gewalt sind beides ambivalente Phänomene, die oftmals miteinander in einer engen Beziehung stehen. Zur Arbeit der Projektgruppe und die Zielsetzung Insgesamt hatte die Projektgruppe die Schwierigkeit, dass der Fokus bei der Behandlung des Themas stärker auf dem Stichwort „Gewalt˝ lag. Der Bereich „Begeisterung˝ musste immer wieder neu in den Blickpunkt gerückt werden. Doch ist es 8_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … in manchen Beiträgen gelungen, die jeweiligen Pole zu Wort kommen zu lassen. Bei der Behandlung eines Themenkomplexes war folgender 3-er Schritt leitend: 1.) Beschreibung, 2.) Zuspitzung und 3.) Material zur Umsetzung, um dadurch den Praxisbezug sicher zu stellen. Für die Projektgruppenmitglieder galt für die Artikel folgende Gliederung: • Einordnung des Themas: Begeisterung und Gewalt • Wie wird Begeisterung thematisiert und wie lässt sie sich dokumentieren? • Wie wird Gewalt thematisiert und wie lässt sie sich dokumentieren? • Ausblicke zum Umgang mit Begeisterung und Gewalt • Ausblicke zur Überwindung Als inhaltliche Zielsetzung für diese Arbeitshilfe wurde formuliert: • dass eine weitere Sensibilisierung für gesellschaftliche Phänomene zwischen Begeisterung und Gewalt erfolgen soll • dass dabei auch der eigene Umgang mit Gewalt in den Blick genommen werden soll • dass Möglichkeiten erkundet werden sollen, wie die zweifelsohne bei Jugendlichen vorhandene Begeisterungsbereitschaft auf gute Wege geleitet werden kann. • dass das Thema 1993 zwar schon einmal behandelt wurde, aber nach acht Jahren sich eine „Neubearbeitung” lohnt, da das Thema weiterhin virulent ist und die Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001 – 2010 – ein Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen - aufgenommen und unterstützt werden soll. Über die 40 Tage der Passionszeit hinaus erhoffen wir uns gute Diskussionen in Schulklassen und Jugendgruppen, in denen Jugendliche angeregt werden, ihre persönlichen Vorstellungen zu Gewalt und ihrer Überwindung weiterzuentwickeln. Die Aktion Fasten, warum? Neben der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Thema: „Gegen den Trend – Zwischen Begeisterung und Gewalt” bietet die Fastenzeit selbst Gelegenheit innezuhalten. Der Anstoß dafür liegt in der Bereitschaft, vorhandene Verhaltensmuster und Einstellungen, gewohnte und vielleicht sogar beliebte Gewohnheiten auf ihre Bedeutung für die eigene Lebensgestaltung zu überprüfen. Und zwar durch Verzicht, freiwillig, einzeln oder gemeinsam. Die im biologischen Vollzug oft genug praktizierte und der körperlichen Verfassung zu Nutze kommende Praxis des Fastens hat ihr Pendant im geistig-seelischen Bereich gefunden. Selbst religiös nicht engagierte Menschen können für sich einen Sinn darin sehen, die Orientierung nach anderen Maßstäben zu finden als nur nach dem Schema „Nehmen ist seliger als Geben” (in Umkehr zu einer christlich verwurzelten Einstellung). Eine befriedigende Lebensgestaltung kann eben nicht durch Egoismus und Kosten-Nutzen-Denken gefunden werden. In der (Evangelischen) Jugend liegt das Potential zur Veränderung, zum Ausprobieren, zum Protest. Dies lässt sich auch für solch eine Fastenaktion nutzbar machen. Die Arbeitshilfe (Broschüre) und ihre Zielgruppen Die Arbeitshilfe versucht die weit gestreute Bezugsgruppe „Jugendliche” in den Blick zu nehmen, für OrientierungsstufenschülerInnen bis hin zu AbiturientInnen sollen die Unterthemen aufgenommen, aufgegriffen, weiterentwickelt und weitergegeben werden. Die Entfaltung der Einzelthemen geschieht jedoch nicht schematisch, so dass nacheinander alle Schul- und Altersstufen gleichmäßig angesprochen werden. Zum Teil ist es auch von den zugänglichen Materialien abhängig, was hier dargeboten wird. Außerdem spielt eine Rolle, aus welchem Bereich der Jugendarbeit bzw. Schule der/die jeweilige Redakteur/in kommt. Das wiederum macht (hoffentlich) den Reiz dieser Arbeitshilfe aus, dass sie von verschiedenen Seiten her einen Zugang anbietet, dass sie in der Auswahl des Stoffes und der Methoden dementsprechend vielfältig ist. Einen Anspruch auf Vollständigkeit der Themen wie der Materialien kann und will die Broschüre nicht erheben. Die Leserschaft wird auch feststellen, dass es den einzelnen Redakteuren nicht nur um eine ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_9 GEGEN DEN TREND ’2001 Der biblische Anknüpfungspunkt kann z. B. mit einem Text nach dem Jesaja-Buch benannt werden, in dem Fasten und Teilen anschaulich aufeinander bezogen werden: „Während du fastest, singst, betest und dich ausruhst, arbeiten zur gleichen Zeit andere für einen Hungerlohn dafür, dass es dir gut geht. Vielleicht unterdrückst du nicht selbst andere Mitmenschen: aber du lässt zu, dass es geschieht. Du selbst achtest die Menschenrechte, aber du lässt zu, dass andere sie missachten. Zwar bist du auch dafür, dass es den Armen in den Entwicklungsländern besser geht, aber du nimmst in Kauf, dass sie arm sind, weil du hier billige Produkte einkaufen kannst. Fasten heißt: verzichten und teilen. Du kannst nicht fasten und es zulassen, dass die Armen der Welt mit vielen schönen Worten abgespeist werden und weiter hungern müssen. Wenn du fastest, dann sollst du demjenigen Obdach und Wohnung gewähren, der keine Wohnung hat … Wenn du fastest, dann gib das ab, worauf du verzichtest: gib dem Hungrigen von deinem Brot, dem Nackten von deiner Kleidung, dem Obdachlosen von deiner Wohnung, dem Verfolgten Asyl. Wenn du so fastest, dann wirst du etwas von Gottes Licht der Liebe in dieser Welt zum Leuchten bringen” (weiterentwickelte Fassung der Verse 3-9 des Kapitels 58 des Propheten Jesajas). Teilen kann - ebenso wie fasten - nur gelingen, wenn der andere, der Mitmensch, die Familie, die Gesellschaft im Blick bleiben. GEGEN DEN TREND ’2001 Die Aktion sachgemäße Wiedergabe der Problematik und eine saubere Exegese der Texte geht, sondern auch darum, eigene Ansichten zur Diskussion zu stellen. Hier und da wird es gewiss Widerspruch geben - dies ist bewusst einkalkuliert und kann sicher auch zu weiterführender Bearbeitung bzw. zu Diskussionen innerhalb der jeweiligen Zielgruppe führen. Die Themen Natürlich ist es die Absicht, sowohl Jugendliche in verschiedenen Jugendgruppen und Verbänden, als auch Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Schulstufen zu berücksichtigen. Allerdings konnte bei der jeweiligen Auswahl nicht nach Proportionen und Quantitäten entschieden werden (also keine gleiche Menge für jede Alters- und Zielgruppe). Vielmehr wird mit dem Dargebotenen die Hoffnung verbunden, dass es einen größeren Entscheidungs- und Spielraum der Verwendbarkeit zulässt; zum Beispiel mag, was zunächst für 13 bis 14-Jährige entworfen ist, hier auch für 11 bis 12Jährige in Frage kommen usw. Die Einzel- oder Unterthemen wollen jedes auf seine Weise das Hauptthema entfalten. Dabei sind sie jeweils in sich abgeschlossene Arbeiten, die den Leser/die Leserin selektiv vorgehen lassen. Wer sich beispielsweise mit dem Einzelthema „Die Welt zertrümmern?! Musikkonsum und aggressives Verhalten” befassen will, ist nicht zugleich auf die Texte von „Faszinosum Gewalt” angewiesen. Diese Arbeitshilfe selbst ist vorrangig für die Hand des Gruppenleiters/der Gruppenleiterin, des Lehrers/der Lehrerin bestimmt. Natürlich werden auch interessierte Jugendliche Anregendes und Interessantes finden - hofft die Redaktion - aber die Lektüre und Bearbeitung der jeweiligen Themen und ihrer Materialien erfordert, bei aller Sorgfalt der Bearbeitung und der Darbietung auf Seiten der Redaktion, doch noch eine Menge an Eigenarbeit, an Reflexion und an eigener Entscheidung darüber, was mit welchem Material gemacht wird. Die Erfahrungen der Vergangenheit mit der Reihe „Gegen den Trend” zeigen jedoch, dass die jeweils entwickelten Anregungen zur Behandlung von Themen z.B. für Schreibwerkstätten, (Jugend- ) Gottesdiensten, Gruppenstunden, Schulprojektwochen oder inhaltlichen Ausrichtungen bei Freizeiten oder Seminaren genutzt, in der schulischen oder außerschulischen Praxis weiterentwickelt und umgesetzt wurden. 10_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Die Anzahl der Einzelthemen ist gegenüber der letzten Ausgabe auf gleich hohem Niveau - das hängt mit dem weitgefächerten Feld zusammen, in dem die Themen entfaltet werden und dem Versuch, die Spannungspole „Begeisterung” und „Gewalt” zu bearbeiten. Jedes Einzelthema entfaltet mehr oder weniger umfangreich die Grundfragen, das Umfeld, den Kontext, bevor es auf die Konkretionen zugeht. Nicht jedes Medium oder Material kann detailliert dargelegt und aufbereitet werden. Dies kann nur exemplarisch geschehen, anderenfalls hätte die Broschüre einen zu großen Umfang bekommen. Manfred Neubauer ›› Jugendgewalt Wie, wo, warum? Jugendgewalt - Wie, wo, warum? - Überblick über die Ergebnisse der neuesten soziologischen Studien Einleitung „Jochen F. aus S. hat schon lange aufgehört Konflikte mit ,Rumgequatsche‘ auszutragen. Mit 14 Jahren hat er sich eine Gaspistole besorgt und den Lauf aufgebohrt. „Jetzt kann mir keiner mehr was“, sagt Jochen. Im Gegenteil, nun tanzen die Mitschüler nach seiner Pfeife. „Was soll ich da machen?“, berichtet hilflos Monika A., Grundschullehrerin, seit zwei Monaten an die Hauptschule versetzt. Werden unsere Kinder immer gewalttätiger? Brauchen wir nicht endlich wieder klare Regeln?“ So ähnlich klingen viele Meldungen und Artikel, die sich populistisch mit dem Thema Jugendgewalt auseinandersetzen. Einzelschicksale werden im Reportagestil dargestellt, um schließlich in gesellschaftliche Anfragen zu münden, die einerseits Hilflosigkeit thematisieren und andererseits nach schnellen und wirkungsvollen Lösungen fragen. GEGEN DEN TREND ’2001 Beides scheint mir falsch. Einzelschicksale taugen nicht zur Verallgemeinerung und sagen – außer für diesen Einzelfall – wenig über das Gewaltverhalten der Jugendlichen aus1. Schnelle, wirkungsvolle Lösungen gibt es darüber hinaus nicht, weil Jugendgewalt viel mit Beziehungen zu tun hat. Und Beziehungen aufzubauen und zu verändern braucht Zeit. Im Januar 1999 haben Peter Wetzels, Dirk Enzmann und Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) die Ergebnisse der Studie „Jugendgewalt in Hannover“ veröffentlicht, die sich mit den Opfererfahrungen und dem Gewalthandeln junger Menschen in der Großstadt befasst. Zum Vergleich gingen in diese Studie auch Zahlen aus Kleinstädten wie Wunstorf oder Schwäbisch Gemünd ein. Im Mittelpunkt stehen Gewaltdelikte, aber es wurden auch Daten ermittelt, die Aussagen beispiels- 12_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … weise über verbale Gewalt in der Schule erlauben. Im Februar und März 1998 wurden 2268 Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen 14 und 18 Jahren aus den 9. Klassen bzw. dem BVJ von 55 verschiedenen Schulen bzw. Schulzentren befragt. Schlaglichtartig sollen einige Ergebnisse hier vorgestellt und mit anderen Veröffentlichungen neueren Datums ins Gespräch gebracht werden. Gewalt2 in der Schule3 In den vergangenen Jahren war Gewalt in der Schule ein großes Thema in den Medien. Schulen schienen zeitweise der Brennpunkt jugendlicher Gewalt zu sein. Stimmt das wirklich? Gewalt findet (meistens) draußen statt Ein nicht zu vernachlässigender Teil krimineller Gewaltdelikte findet in der Schule statt. Verglichen mit anderen Tatorten ist aber festzustellen, dass der Großteil der Delikte – insbesondere Raub und Delikte mit Waffenanwendung – außerhalb der Schule stattfindet. „Für die Schule typisch sind eher weniger gravierende Gewaltformen, die von verbalem Ausgrenzen und Hänseln bis zur einfachen Körperverletzung reichen.“4 Opfer und Täter sind dabei vor allem die Jungen. Außerdem zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und Anzahl der Gewalttaten im Blick auf physische Gewalt. Gymnasien sind hier wesentlich weniger betroffen als beispielsweise Hauptschulen. Gewalt ist aber gleichwohl - wenn auch häufig „nur“ verbal - auch an Gymnasien präsent. Die Schule ist also offenbar weitaus sicherer, als manch reißerischer Medienbericht der Vergangenheit das glauben machen wollte. Auch S. Lamnek kommt zu dem Ergebnis, dass sich in dem von ihm untersuchten Zeitraum 1994-1999 das Ausmaß der Jugendgewalt - Wie, wo, warum? - Überblick über die Ergebnisse der neuesten soziologischen Studien Jugendgewalt nicht wesentlich verändert hat (allenfalls im verbalen Bereich).5 Trotzdem muss im Blick behalten werden, dass in etwa jeder zehnte Schüler in Hannover „von massiver verbaler oder physischer Gewalt und/oder Bedrohung“6 betroffen ist. Jugendlichen festzustellen sind, die wahrnehmen, dass ihre Lehrer sich nicht aktiv mit Jugendgewalt auseinandersetzen. Bedenkt man außerdem, dass im familiären Bereich die häufige Konfrontation mit Gewalt gewalttätiges Handeln Jugendlicher begünstigt, wird deutlich, dass das Lehrerverhalten ein wichtiger Faktor der Gewaltprävention ist7. Jugendliche nehmen sehr differenziert wahr, wie Erwachsene auf Gewalt reagieren. Umso wichtiger ist es, dass Erwachsene bewusst reagieren. Gewalt und soziales Milieu Als wesentliche Faktoren für das Gewaltverhalten wurden bei der hannoverschen Studie die soziale Lage der Familie, Gewalterleben in der Familie und auch die orientierende Rolle der Eltern ausgemacht. Gewalterlebnisse bestimmen das Gewaltverhalten Statistisch gesehen am häufigsten erleben Jugendliche Gewalt in der eigenen Familie. Bangemachen bringt nix – die Rolle der LehrerInnen Die Studie von Wetzels u.a. zeigt hier, dass erhöhte Opfer- und Täterraten in derjenigen Gruppe von Die Untersuchungen ergaben, dass nur 47,3% ganz ohne elterliche Gewalt aufgewachsen sind, hingegen haben 26,4% leichte elterliche Züchtigung erlebt und 15,8% wurden sogar schwer gezüchtigt (in der Befragung die Items „Mein Vater/Mutter hat mich geprügelt, zusammengeschlagen„ bzw. „...hat mich mit der Faust geschlagen oder mich getreten.“). ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_13 GEGEN DEN TREND ’2001 Sollen Lehrer und alle, die mit Jugendlichen zusammenarbeiten, bei wahrgenommener Gewalt intervenieren, oder von Zeit zu Zeit auch nach der Devise verfahren „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich“? In verschiedenen Veröffentlichungen wurde die Theorie aufgestellt, dass die von Schülern wahrgenommene Reaktion der Lehrer eine wesentliche Rolle beim Thema Schulgewalt spielt. Jugendgewalt - Wie, wo, warum? - Überblick über die Ergebnisse der neuesten soziologischen Studien Diese Formen von Gewalt gegenüber Jugendlichen werden in der öffentlichen Diskussion weit weniger thematisiert als Gewalt, die von Jugendlichen selbst ausgeht. Auch die Opfer reden kaum über diese Vorfälle. Der Anteil, der zur Anzeige gebracht wird, ist verschwindend gering, noch seltener ist das Aufsuchen von Beratungsangeboten oder etwa der Kinderhilfe (nur fünf Prozent der Fälle gelangen allen damit beschäftigten Institutionen zur Kenntnis!). Die Bundesregierung hat zu diesem Problembereich im Dezember 2000 eine Anzeigenkampagne unter dem Motto „Wer Schläge einsteckt, wird Schläge austeilen“ gestartet8. macht. Möglicherweise spielen aber auch „kulturspezifische Normen der verschiedenen Ethnien im Blick auf Gewalt“9 eine wichtige Rolle. Vergleichsstudien in Großstädten wie Istanbul werden hier Aufschluß bringen. Je schlechter die soziale Lage, desto häufiger Gewalt Sicher ist, dass in Milieus mit hoher Elterngewalt auch die Zahl der Jugendlichen, die Gewalt ausüben deutlich höher ist. „Die soziale Lage von Familien hat einen bedeutsamen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von elterlicher Gewalt: In Fällen von Arbeitslosigkeit sowie Sozialhilfeabhängigkeit ist das Risiko innerfamiliärer Gewalt deutlich erhöht.“10 Dabei sind die verschiedenen ethnischen Gruppen nicht in gleicher Weise betroffen. Nichtdeutsche Jugendliche sind erheblich öfter durch soziale Schwierigkeiten der Familie mitbetroffen als deutsche Jugendliche. Normen werden zu Hause gemacht GEGEN DEN TREND ’2001 Auffällig war außerdem, dass in einigen ethnischen Gruppen (v.a. in türkischen und südeuropäischen Familien) in besonderem Maße elterliche Gewalt ausgeübt wird. Unklar ist, inwieweit sich neben wirtschaftlichem Druck hier ein Druck durch Integrationsanforderungen bzw. soziale Ausgrenzung bemerkbar 14_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Erleben Kinder und Jugendliche in der Familie Gewalt, sei es als Opfer oder als Beobachter, beeinflusst dies natürlich ihre Wahrnehmung und Bewertung von Gewalt. Die Gruppe derer, die in Kindheit oder Jugend mit Gewalt im Elternhaus konfrontiert wurde, ist bei jugendlichen Gewalttätern besonders stark vertreten. Jugendgewalt - Wie, wo, warum? - Überblick über die Ergebnisse der neuesten soziologischen Studien In der individuellen Bewertung von Gewalt spielt außerdem das Erziehungsverhalten der Eltern eine Rolle. Inkonsistenz, d.h. nicht erwartbare Reaktionen, die keinen offensichtlichen Regeln folgen, wirkt sich dabei negativ aus. Noch mehr als den Lehrern kommt also den Eltern eine wichtige orientierende Rolle zu. Wetzels u.a. kommen zu dem Ergebnis: „(1) Die Neigung zu Feindseligkeitszuschreibungen der Jugendlichen steigt systematisch mit der Häufigkeit und Intensität elterlicher Gewalt in der Kindheit. (2) Je häufiger bzw. intensiver die Befragten in ihrer Kindheit der Gewalt seitens ihrer Eltern ausgesetzt waren, desto positiver bewerten sie selbst die Anwendung von Gewalt. (3) Die Konfliktkompetenz ist um so niedriger, je stärker ausgeprägt elterliche Gewalterfahrungen in der Kindheit waren. ... (4) Je geringer die Konfliktkompetenz, je höher die Feindseligkeitszuschreibung und je ausgeprägter gewaltbefürwortende Einstellungen, desto häufiger kommt es auch tatsächlich zu Gewalthandlungen.“11 Jugendgewalt ist ein Männlichkeitsproblem Die weit überwiegende Zahl der jugendlichen Gewalttäter sind Jungen. Aber nicht nur auf der Täterseite sind Jungen stärker repräsentiert. Sie bilden auch die Mehrzahl der Opfer. gendlichen die der weiblichen um das Doppelte bis Vierfache. Daraus abgeleitet stellt sich gerade für die Arbeit mit Jungen die Frage, ob in der geschlechtsspezifischen Arbeit neben der Thematisierung eigener Aggressivität und Gewalt nicht noch stärker auf Gewalterfahrung in der Opferrolle eingegangen werden muss. Im Hinblick auf kriminelle Gewalttaten wurde außerdem ermittelt, dass eine kleine Gruppe von etwa 5% für mehr als 2/3 der Gewalttaten verantwortlich ist. Es handelt sich hier um Mehrfachtäter, die überwiegend dem männlichen Geschlecht angehören und in der die jugendlichen Nichtdeutschen überrepräsentiert sind. Sind es also immer die Ausländer? Die Antwort lautet hier nicht immer, aber sicher verhältnismäßig öfter. Nur ist das, wie sich oben bereits zeigte, weniger eine Frage der Nationalität, als vielmehr der sozioökonomischen Bedingungen der jeweiligen Familie, der jeweiligen Bildungschancen und der Beziehungsangebote, die es Jugendlichen ermöglichen, ein bestimmtes Sozialverhalten zu entwickeln. Nichtdeutsche Jugendliche haben wesentlich häufiger mit sozialen Problemen zu kämpfen als deutsche Jugendliche. In absoluten Zahlen ausgedrückt, werden die meisten Gewalttaten noch immer von deutschen Jugendlichen verübt. GEGEN DEN TREND ’2001 Mit Ausnahme des Bereichs „sexuelle Gewalt“ übersteigen die Opferraten der männlichen JuZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_15 Jugendgewalt - Wie, wo, warum? - Überblick über die Ergebnisse der neuesten soziologischen Studien Welchen Stellenwert hat das Thema Gewalt für die Jugendlichen selbst? – Opferängste und tatsächliche Bedrohung Die hannoversche Studie kommt zum Ergebnis: „Die weit überwiegende Mehrheit der Hannoveraner Jugendlichen hat eher selten Angst vor Gewalt und schätzt auch das Risiko einer eigenen Viktimisierung eher gering ein.“ Tatsächlich ergab die Befragung, dass im Vergleich mit anderen Lebensrisiken und Problemen, Gewalt eine eher nachgeordnete Rolle spielt. Im Vordergrund stehen Umweltverschmutzung, Tod von Familienangehörigen oder auch die Sorge um einen Ausbildungsplatz. Jahren 38% der befragten Jugendlichen selbst Opfer von Gewalt, bezogen auf einen Einjahreszeitraum 28%. Gewalt geht also (fast) alle an. Es wurde deutlich, dass es die sozialen Rahmenbedingungen, die Bildungschancen und das bei Erwachsenen erlebte Verhalten insbesondere in der eigenen Familie wesentliche Faktoren sind, die das Gewaltverhalten von Jugendlichen mitbestimmen. Wetzels u.a. weisen ausdrücklich darauf hin, dass „Personen als Träger von Beziehungsangeboten“ gefragt sind. Angesichts der vielfältigen Probleme auf dem Weg zum Erwachsensein sind Jugendliche auf Menschen angewiesen, die ihnen aktiv Beziehungsangebote machen und unterstützend wirken, wenn junge Menschen ihren Platz in der Gesellschaft suchen. Hier steckt das kleine Körnchen Wahrheit, wenn über Einzelschicksale im Zusammenhang mit Jugendgewalt berichtet wird: An den Chancen für und dem Umgang mit dem Einzelnen entscheidet sich, ob Jugendliche lernen mit Gewalt umzugehen. Christian Ceconi-Solle GEGEN DEN TREND ’2001 Die Einschätzung des Gewaltproblems durch die Jugendlichen selbst hängt darüber hinaus anscheinend stark damit zusammen, wie sehr sie mit dem jeweiligen Ort vertraut sind. Während beispielsweise Klassenraum und eigener Stadtteil (tagsüber) als relativ sicher eingestuft werden, schneiden andere Stadtteile oder Städte deutlich schlechter ab. Für weiter entfernte Orte wird auch die Zunahme der Kriminalität in den letzten zwei Jahren wesentlich höher eingeschätzt. 1 Vgl. auch F. J. Krafeld, Immer mehr, immer jünger, immer gewalttätiger...? Überlegungen zur Diskussion über Jugendgewalt und -kriminalität, in: Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen (Hg.), Jugendgewalt – und kein Ende?, Hannover 1999, 6-16. 2 Der Gewaltbegriff der vorgestellten Studie orientiert sich an kriminellen Delikten. Sicher muss im Gespräch mit Jugendlichen die Definition dessen, was Gewalt ist, an erster Stelle stehen. Andere Artikel dieser Arbeitshilfe bieten dazu Ansatzpunkte. 3 Eine grundlegende Orientierung zum Bereich Schule bietet auch: S. Lamnek, Gewalttätige Schüler 1994-1999, in: Landesstelle Jugend- Das Gewaltproblem realistisch einschätzen und gezielt daran arbeiten Gewalt gehört zum Alltag der Jugendlichen, in der Schule v.a. in Form verbaler Gewalt. Nach eigenen Angaben wurden in einem Zeitraum von zwei 16_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Jugendgewalt - Wie, wo, warum? - Überblick über die Ergebnisse der neuesten soziologischen Studien schutz Niedersachsen (Hg.), Jugendgewalt - und kein Ende?, Hannover 1999, 17-46. 4 Wetzels u.a. (1999), 197. 5 Vgl. Lamnek (1999), 44f. 6 Wetzels u.a. (1999), 130. 7 Vgl. auch Lamnek (1999), 32ff zu Normorientierungen und Gewalt an Schulen. 8 Diese Kampagne soll die BGB-Gesetzesänderung vom 06.07.2000 bekannt machen. In § 1631 Abs 2 BGB heißt es: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Weitere Infos unter: www.mehr-respektvor-kindern.de; eine Infobroschüre kann dort ebenfalls angefordert werden. 9 Wetzels u.a. (1999), 170. 10 Wetzels u.a. (1999), 198. 11 Wetzels u.a. (1999), 187. Literatur: P. Wetzels/D. Enzmann/C. Pfeiffer: Jugendgewalt in Hannover. Eine repräsentative kriminologische Studie über Opfererfahrungen und Gewalthandeln junger Menschen in einer Großstadt, Hannover 1999. (mit Vergleichsstudien in anderen großen Städten) GEGEN DEN TREND ’2001 Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen (Hg.): Jugendgewalt – und kein Ende?, Hannover 1999. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: www.mehr-respekt-vor-kindern.de. ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_17 GEGEN DEN TREND ’2001 Jugendgewalt - Wie, wo, warum? - Überblick über die Ergebnisse der neuesten soziologischen Studien 18_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … ›› Faszinosum Gewalt Faszinosum Gewalt Das Ende der Vernunft? Nicht nur auf Grund der Ereignisse der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts empfinden viele die neuaufkommenden rechtsextremistischen und ausländerfeindlichen Aktionen als Skandal. Hirnloser Hass und Gewalt machen auch das alte Aufklärungsmodell fraglich, nach dem vernünftige Einsicht die Grundlage von gesellschaftlicher Entwicklung ist. zugänglich sein kann. Präventionen gegen Gewalt können daher nicht länger auf Aufklärungsmodelle setzen, sondern müssen auf Gemeinschaft und Erleben setzen. Dabei kann das „Erleben“ nicht auf Aufklärung zielen und die Gemeinschaft nicht als eine Zusammenfassung von Randgruppierungen meinen. Gesellschaftliche Gegenentwürfe müssen lebbar sein und nicht in der gesellschaftlichen Verweigerung enden, die schnell in Gewalt umschlagen kann. Deshalb plädiert dieser Artikel für eine Gesellschaft, die aus vielen, verschiedenen Gemeinschaften besteht, die alle ihr Recht zum Leben haben, weil sie sich alle um die große Gemeinschaft, die der Gesellschaft, bemühen. Und das nicht aus Vernunftgründen, sondern auf Grund von Erfahrung. GEGEN DEN TREND ’2001 Kein Leben ohne Beziehung Ist es denn so, dass alle Gruppierungen einer Gesellschaft „Einsicht“ haben und haben wollen? Oder gibt es Gruppen, die sich aller „vernünftigen Einsicht“ versperren? Hat vielleicht die Gewalt ihre eigenen Strukturen und Einsichten, die sich der Vernunft entziehen? Und, wenn dem so ist, wie können solche Strukturen entstehen und aus welchem Grunde? Dieser Beitrag behauptet, dass von der Gewalt eine Faszination ausgeht, die den Menschen existentieller ergreift als die Vernunft und sich deshalb auch den Gründen der Vernunft verschließt. Eine solche gewalttätige, faszinierende Lebenshaltung entsteht, wenn die eigene Existenz nicht mehr gespürt wird und die Ausübung von Gewalt in dem Täter eine Ekstase auslöst, die ihm sagt: Du lebst. Eine solche Haltung ist aber keine „echte“ Teilhabe am Sein, sondern impliziert eine Suchtstruktur des Täters. D.h. der Täter wird immer wieder Gewalt anwenden, um sich am Leben zu spüren. Die Suchtstruktur verhindert wiederum, dass der Täter Vernunftgründen 20_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Das Schlagwort unserer Zeit ist „Subjekt“. Ein Subjekt setzt gegenüber der restlichen Welt einen eigenen Standort. Welches sind die Bedingungen für die Selbstsetzung des Subjektes? Zu keinem Zeitpunkt unseres Lebens sind wir allein. Selbst in der Psychoanalyse, die ein Subjekt im Sinne von Gegenüber behauptet, integriert das Ich sich in ein Geschehen, das Ich und Anderes umgreift. Durch diesen glücklichen Widerspruch wird das Ich zu einem Teilaspekt einer Atmosphäre, die viele umgreift. Jacques Lacan behauptet, das jedes menschliche Leben bei seiner Geburt ohnmächtig und verraten ins Dasein stürzt.1 Erst wenn es sich in einem Spiegel als Mensch begreife, setze die Erlösung ein. Wer aber ist dieser Spiegel, wenn Faszinosum Gewalt nicht die Mutter; wenn nicht das andere Ich? Das eigene Ich kann ja gerade nicht zum Spiegel werden. Der Mensch ist demnach auf die Beziehung zu anderen festgelegt. Beziehungen sind keine freie Wahl, die durch Zuneigung gewonnen werden. Beziehungsfähigkeit wird auch nicht a posteriori erworben, sondern ist eine angeborene. Im Ich ist die Beziehungsfähigkeit das Wesentliche. Damit ist das Fremde bereits in meiner Subjektivität enthalten und ermöglicht erst das Erkennen meiner selbst. Es ist müßig zu fragen, was eher war: das Andere oder Ich. Die Gleichzeitigkeit ist grundlegend für Beziehungsfähigkeit. Wie der Mensch sich selbst gewinnt Intimverhältnisse, die kommunikativ (medial) sind, trennen das Subjekt nie von dem Umfeld. Sie konfrontieren nicht, sie integrieren. Das SubjektObjekt-Schema trennt, während die reflexive Subjektivität Trennung verhindert. Im SubjektObjekt-Schema begreift sich das anschauende Subjekt außerhalb des Geschehens. Im Schema der reflexiven Subjektivität begreift sich das betrachtende Subjekt sich selbst als ein Teil des Betrachtens. Das Subjekt bildet lediglich einen Pol des Verhältnisses. Wir sind sowenig in uns selbst, wie wir im Irgendwo sind, sondern wir durchdringen alles. Fragt man nach dem Band zwischen mir und anderen, tut sich eine Verbindung auf, die tiefer reicht als alles rationales Bedenken. Das Band reicht bis vor unsere Geburt. Und so wie die Liebe nicht existiert, bevor sie sich nicht ereignet, beginnt das gemeinsame Band mit unserer fötalen Entwicklung zu existieren. Begegnen sich zwei Menschen, so geschieht es nicht aus dem eigenen Willen zweier, autonomer Persönlichkeiten heraus und ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_21 GEGEN DEN TREND ’2001 Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Ich will ihm eine Hilfe schaffen als sein Gegenüber, die zu ihm passt (Gen 2,18). Martin Heidegger hat das Sein als ein Einwohnen in der Welt beschreiben.2 Der Welt wohnt man nicht ein, wie man einem Haus einwohnt, sondern indem ich in der Welt wohne, wohnt sie in mir. Im Sein ist auch keine Eigenschaft, die man manchmal hat oder nicht, sondern ohne Sein könnte der Mensch nicht existieren.3 Damit aber ist die Welt nicht nur Objekt für den Menschen, sondern zugleich auch Subjekt. Welt und Mensch sind ein Ganzes und neben diesen Teilen (Mensch, Welt) gibt es kein Ganzes. Es ist nicht so, dass das Subjekt je nach Laune eine Beziehung zur Welt aufnimmt oder nicht. Indem der Mensch die Welt draußen betrachtet, ist er bereits in ihr enthalten. Der Welt Äußeres ist zugleich des Menschen Inneres.4 Dem Sein wesenhaft ist die Nähe. Entfernen bedeutet zunächst, dass eine Ferne zum Verschwinden gebracht werden soll. Die Ferne soll entfernt werden. Solches Entfernen ist zugleich eine Näherung. Der Mensch kommt immer von einer Nähe (Vergangenheit) her zu einer Ferne (Gegenwart) hin, die er zu seiner Nähe machen will. Dasein ist Annäherung, ist Nähe.5 Zur Klärung seines Weges, seiner Herkunft und seines Zieles, nistet der Mensch sich in der Sprache ein. Durch sie weiß er von der vorangehenden Nähe und von der Annäherung an das Ziel. Kommunikation ist seine Daseinsweise. Faszinosum Gewalt (vielleicht) durch den Zufall bestimmt, sondern unser Sein führt die Begegnung selbst herbei, um sich zu begreifen. In jeder Begegnung geschieht im Grunde die Wiederholung des fötalen Erlebnisses, um den Menschen als Person zu konstituieren. Mit der leiblichen Geburt inszeniert das Sein selbst die Begegnungen, um einstige Gemeinsamkeit wiederzugewinnen. Die Lücke, die nun klafft, könnte man auch als den Weg zum Heilsein bezeichnen. GEGEN DEN TREND ’2001 Von wann an erinnert sich der Mensch? Nikolaus von Kues antwortet: Von dem Tage an, wo Gott sich mit der Seele6 verschränkte (contractio). Die Seele wird damit zum Statthalter, zum Beamten Gottes in jedem Menschen, ohne selbst Gott zu sein. „Und was ist, Herr, mein Leben, wenn nicht jene Umarmung (amplexus), in der die süße Freude deiner Liebe mich so liebevoll umschließt?7“ Wie kann der Mensch in dieser unio mystica, die den Grund des Lebens und seiner Person legt, unverwechselbare Person sein? Wie kann er eine gewisse Eigenmacht entfalten? Und kann der Mensch durch die Selbstwerdung überhaupt die Revolte gegen Gott verhindern? Nach Nikolaus von Kues herrscht die von Gott erschaffene Seele über den Körper wie der König über sein Reich, weil durch die Seele das Maximum (Gott) im Minimum (Mensch) ist. So gesehen ist er frei und die Begegnung mit anderen Menschen wird zu einer Begegnung von Freien. Cusanus denkt hier die Urform der Demokratie. Eigenmacht erhält der einzelne nur indem er anderen dient, bzw. der Gemeinschaft dient. Ja, er muss aktiv werden, seiner Seele wegen. Herrschen wird zu einem Synonym für Dienen8. Entfällt das Dienen, dann entfällt auch die Persönlichkeit des Menschen. Hier sind die Anfänge der Menschenrechte mit Händen zu greifen. Heute wird der Bezug zu Gott als Bezug zur Natur oder zur Gesellschaft hin gewandelt. Aber die Frage, wie die Natur oder die Gesellschaft außerhalb unser selbst, zugleich in uns sein kann, wird 22_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … nicht mehr wie in der Theologie gelöst, so dass aus der Verschränkung von Außen und Innen das Auseinandertreten von Subjekt und Objekt wurde. Eine Vereinzelung machte sich breit. 3 x 1 = 1: Der dreieinige Gott Wie soll man die unio mystica überhaupt denken? Im Modell der Trinität verdeutlicht sich der Sachverhalt. Das Johannes-Evangelium beginnt mit den Worten: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“(1,1) Dieser Vers kennzeichnet den Vater. Vom Sohn sagt das Johannes-Evangelium: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“(1,14)9 Damit wird die Frage aufgeworfen, wie mehrere Personen in eins sein können, so dass sie ungeschieden, ungewandelt, ungetrennt gedacht werden können. Das Anderssein soll im Vereintsein gedacht werden. Die Kirchenväter nahmen ein Ausdrucksgeschehen innerhalb der einzelnen Personen an (Perichorese/Intercessio). Damit wurde ein physischer Raum aufgegeben und eine Liebessphäre angenommen, die das Verschiedensein eint. Innerhalb dieser Verbundenheit kann es keine Zeit geben, weil sie ein Nacheinander konstituieren würde. Es ist im Grunde die gleiche Redeweise, wie sie Cusanus mit seinem „maximum in minimum est unum“ meinte. Es entsteht Faszinosum Gewalt ein Personenraum, der keine Lokalisierung mehr braucht. Die Beziehung selbst wird der Ort der Einheit. Die Beziehungen konstituieren Gott als Vater, als Sohn und als Heiligen Geist. Anders: Subjekt und Objekt sind relational und keine Orte. Gewalt und die Suche nach Beziehung Nächstenliebe – Deine Sache!? Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, gebietet das Matthäus-Evangelium (Mt 22,39). Im modernen Irrtum des Subjekt-Objekt-Schemas wird dieser Satz oft missverstanden und umformuliert: Erst muss ich mich selbst lieben lernen, bevor ich andere wie mich lieben kann. Der Irrtum beschreitet einen doppelten Weg. Einmal glaubt der moderne Mensch, sich selbst lieben lernen zu können, bevor er andere lieben kann, was ein lebenslanger Weg ist und keine Lebensetappe. Immer wird es Momente geben, in denen man sich nicht ausstehen kann. Das ist die Form der Selbstliebe, mit der der Mensch kein Ende findet: Der andere Mensch wird zum Objekt unter anderen Objekten. Zum anderen wird eingewandt, wenn ich den anderen liebe und mich nicht, liebe ich den anderen nicht. Das ist nur eine Spielart des ersten Satzes. Auch hier herrscht das Subjekt-ObjektSchema vor. Dass Mt. 22, 39 meinen könnte, dass durch den anderen ich mich selbst konstituiere, kommt nicht in den Blick. Nachzeitigkeit ist nicht gemeint, sondern Gleichzeitigkeit. Das MatthäusEvangelium meint keinen lokalen, sondern einen mentalen Ort. Wäre ein lokaler Ort gemeint, wäre auch eine Nachzeitigkeit angesprochen. Doch das Subjekt-Objekt-Schema kann nur räumlich denken und daher nur in der Nachzeitigkeit. Dann wird das vorangehende Lieben von sich selbst oder anderen immer zum Verlust des eigenen Ichs führen. Das ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_23 GEGEN DEN TREND ’2001 Zwischen dem theologischen Denken und den heutigen Anforderungen, offenbart sich eine überraschende Kongruenz. Kommunikation ist die Seinsweise des Menschen.10 Existiert der Mensch als Person nur durch den kommunikativen Ort, der kein lokaler sein kann, dann ist für die Idee des sich selbst bestimmenden Individuums kein Platz.11 Die verschiedenen Sozialformen von Völkern innerhalb einer Gesellschaft, wie es heute vielfach in den westlichen Ländern gegeben ist, durchdringen sich (Perichorese) zu einer Einheit. Das eigene Sein wird zum Mitsein mit Anderem. Gelingt die Perichorese aber nicht, dann stolpern wir über Heideggers Satz: „Jeder ist der Andere und Keiner er selbst.“12 Dann verschwimmt alles: das Fremde und die eigene Identität. Dann wird der Mensch sich selbst oder den anderen zur Hölle, wie es Sartre und Beckett beschrieben. Die verabsolutierte Seinsweise, die zu keiner Durchlässigkeit (Perichorese) mehr fähig ist, führt faktisch zur Abwertung des Menschseins – führt zur Hölle. Aber selbst in der Hölle bleibt ein Rest: Die Sehnsucht, in der sich der Rest begreift, irgendeinmal irgendjemandem nahe zu sein. Selbst in der rohesten Gemeinschaft ist die vorrationale Grundlegung für das Personensein, das Außen möge Innen sein, lebendig. Nur im dumpfen Kollektiv ahnt das eigene, dumpfe Ich sich größer, realer als es ist. Der Sog der Sehnsucht nach Verschmelzung führt zu einer allgemeinen Innenweltentleerung.13 Die Seele gibt sich ans Außen ab, an das dumpfe Kollektiv. Begegnet man aber einer einzelnen Seele, zeigt sie sich zwar verschlossen und nicht kommunikativ, jedoch auch nicht unbedingt entschlossen, sich mit Gewalt des Fremden zu bemächtigen. In der Gruppe jedoch tritt die einzelne Seele durch ihre Sehnsucht nach Geistesgemeinschaft in eine ekstatische Vorläufigkeit ein und prügelt sich oft durch das Fremde, um durch die Aggressivität seine Seele in einem ekstatischen Akt eine dumpfen Gemeinschaft zu erleben, die dann zu einer verschworen (unio mystica) wird. Die Clique richtet sich im ortlosen Ungeheurem ein und ist durch rationale Argumente nicht erreichbar, weil sie dann ihre Identität verlöre. Faszinosum Gewalt ekstatische Element des Ichs, das das Ich begründet, tritt in den Hintergrund und verbeißt sich in eine sprachlichen Binnenwelt, die sich keiner sprachlichen Argumentation mehr zugänglich erweist. Doch das biblische Zitat weist gerade auf die Gleichzeitigkeit hin. „Wie dich selbst“ meint die Fähigkeit zur Antwort auf eine Aufforderung des Außen. Das Innen will ja gerade nicht antworten. Aber im Nichtantworten würde es sich selbst verfehlen. Der bipolare Aspekt des Daseins würde verfehlt, würde man einer Seite der zweiteiligen Sphäre das Übergewicht zuerkennen. Der Mensch ist kein Wesen, das sich aus sich selbst erschafft. GEGEN DEN TREND ’2001 Jeder wird zu einer unverwechselbaren Persönlichkeit durch andere. Den anderen geht es nicht anders. Dann sind wir alle einander Spiegel und Hilfe zur Persönlichkeitswerdung. Dies drückt Mt 22,39 aus: Liebe den anderen (zur gleichen Zeit) wie dich selbst. Wer liebt, nimmt an. Wer annimmt, muss Person sein. Ein verwaschenes, dumpfes Ich Gaby ist unglücklich. Gaby hat stets an sich selbst zuletzt gedacht. Nie hat sie sich in den Vordergrund gestellt, geschweige denn gedrängelt. Hieß es: wer will in diesem Theaterstück die Hauptrolle übernehmen, schlug sie andere statt sich vor. Hieß es: Wer hilft bei diesem Projekt? Oder: Wer kann jene Aufgabe übernehmen? Tat sie es. Sie wurde rot, wenn sie gelobt wurde. Und wurde sie einmal selbst vorgeschlagen, in vorderster Reihe zu stehen, wehrte sie verlegen, ja fast ängstlich ab. Einige Jungen hänselten sie wegen ihrer Bescheidenheit. Dann weinte sie schnell. Und ihre Freundin beschwerte sich dann lauthals beim Lehrer über die Jungen. Aber auch da wehrte Gaby verlegen ab. Und dann kümmerte sich plötzlich Jens um sie. Ausgerechnet Jens. Er war nicht aufdringlich. Gewiss nicht. Aber zuversichtlich. Und ihrer Freundin vertraute sie an, sie sei überglücklich, dass Jens sich um ihre Zuneigung bemühe. Doch wisse sie gar nicht, was Jens eigentlich an ihr 24_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … kann niemanden annehmen. Höchstens kann es bewundern. Wer sich nicht selbst zu würdigen weiß, wie sollte er andere würdigen können? Hinter Bewunderung versteckt sich die Aufgabe, sich zu gestalten und gleichzeitig Spiegel für andere zu sein. Vom Fremden zum Eigenen „Die Seele gibt dem Druck der ersten Überzeugung um so leichter nach, je weniger sie über einen eigenen Inhalt und ein inneres Gleichgewicht verfügt.“14 Dieser Satz aus Montaignes Essay über die Torheit, spricht sich gegen die Suggestion aus, dass unser Geist beurteilen könne, was wahr und falsch ist. Mit diesem Glauben nähert man sich oft rechtsradikalen Jugendlichen. Man traut der Vernunft zu, sie könne irrige Vorstellungen korrigieren und dann würden mehr und mehr die Gewaltentäußerungen schwinden. Thomas Assheuer betont in seinem Zeit-Artikel15, dass gewaltwillige Gedanken in Jugendlichen sehr früh finde. Er, der so geliebt würde von allen, der so im Mittelpunkt des Interesses aller stände, könne sie doch gar nicht attraktiv finden. Sie, so sagte später ihre Freundin, sei ganz hilflos. Sie glaube, Jens wolle sich im Grunde nur über sie lustig machen. Und als Jens merkte, dass Gaby weiterhin, trotz aller seiner Bemühungen, scheu und zurückgezogen blieb, ließ er von ihr ab. Nun ist Gaby unglücklich. Und, so sagte sie zu ihrer Freundin, sie fände das gar nicht gerecht, weil sie doch an sich selbst immer zuletzt denke. Fragen zur Geschichte: Anscheinend liebt Gaby andere mehr als sich selbst. Oder liebt sie andere gar nicht mehr als sich? Was hindert sie denn, sich selbst zu lieben? Mt. 22,39 meint, wenn man andere liebt, liebt man sich auch selbst und umgekehrt. Was meint ihr? Faszinosum Gewalt entstehen und sich gegenüber einer argumentativen Gegendarstellung als resistent erweisen. Peter Schneider16 meint, die Gewalt der Rechtsradikalen sei weder ein akademisches noch ein vorübergehendes Problem. Was hilft dann, rechtsradikale Jugendliche zu verstehen? Offensichtlich nicht unsere vernünftigen Weltentwürfe. Sie scheinen diesen Jugendlichen nicht einsichtig. Und eine definitorische Einordnung dieser Jugendlichen, die auf Abwarten setzt, weil sich solche „Jugendsünden„ leicht erledigen lassen, scheitert ebenso. Der Gedanke von Wilhelm Heitmeyer aus Bielefeld, dass sich rechtsradikales Gedankengut viel früher bilde als es naive Politiker annehmen, spricht die Erziehung an. Und Peter Schneider fragt nach dem „Wie“ der Erziehung. Offensichtlich ist das Insistieren auf Einsicht nicht ausreichend. Die Methode der offenen Diskussion scheint keinen sonderlichen Einfluss auf rechtsradikale Jugendliche zu haben. Sie scheint allgemeine Werte eher ins Beliebige zu rücken als Maximen für eine ethische Lebensführung vermitteln zu können. Im Eingangs erwähnten Zitat von Montaigne meldet sich der Widerspruch von Meinung und Wissen an, und darüber hinaus spricht Montaigne von der gefestigten Seele, die falschen Einschätzungen widerstehen kann. Ab wann ist denn die Seele in der Lage zu widerstehen? Und muss sie von Wissen unterstützt werden? Johannes Schwarte18, so berichtet die FAZ, führt die zunehmende Verrohung von Kindern und Jugendlichen, wie auch die Infantilisierung der Erwachsenen auf den rapiden Verlust von nacheifernswerten Vorbildern zurück. Die Gesellschaft mit ihrer wirtschaftlichen Rücksichtslosigkeit habe erst die Autorität des Vaters und nun auch die der Mutter zerrüttet. Wo aber Vorbilder fehlen, da zieht die Gewalt ein. Ähnliches stellt Susanne Gaschke19 fest. Kinder werden zu Erwachsenen, was ihr Konsumverhalten betrifft, während die Erwachsenen infantilisieren. Andererseits können Eltern dem Druck des Konsums nicht mehr standhalten und verlangen ihrerseits, dass die Schule das leisten soll, was sie selbst nicht mehr leisten ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_25 GEGEN DEN TREND ’2001 Joachim Camerarius ist heut genauso unbekannt wie der große Pädagoge Christofero Landino. Der pädagogische Streit der Renaissance entzündete sich am Maß der Nachahmung. Geht durch das Nacheifern von Vorbildern das Eigene verloren? Wie weit darf die Nachahmung gehen? Wird durch Nachahmung Neues verhindert? Diese Fragen wurden von Erasmus von Rotterdam aufgeworfen. Camerarius nimmt dazu Stellung und stellt fest: zur Nachahmung gibt es keine Alternative, sie liegt in der Natur des Menschen.17 Denn der gesellschaftliche Mensch wird gemacht, nicht als solcher geboren. Das zeigt sich besonders bei der Frage nach der Toleranz. Lernen, Üben und Orientierung verlangen nach Vorbildern. Dadurch kommt man zu einer Unterscheidung. Da der Mensch von Natur aus kein Maß zum Nächsten besitzt, dem er entgegen wächst, ist Nachahmung ein unentbehrliches Gegenstück zur Beliebigkeit, die schnell als Freiheit missverstanden werden kann. Nachahmung ist das Überführen von Meinen in die Praxis. Dabei kommt der Sprache eine große Bedeutung zu. Sie vermittelt erprobte Denkweisen, auf die gerade Jugendliche zurückgreifen können. Die Nachahmung prägt sich vornehmlich durch Sprachfiguren ein. Doch sind Schlagworte noch keine zusammenhängende Rede, und damit auch keine Welterklärung. Vorbilder vermitteln eine zusammenhängende Rede für eine bestimmte Weltsicht. Wie Kinder von den Eltern das Leben empfangen, erlangen Jugendliche durch Vorbilder Sprachfähigkeit. Durch solches Reden erschließt sich Zukunft, die auf die Herausforderung der Gegenwart antwortet. Faszinosum Gewalt können oder wollen. Dieser Trend beginne bereits im Kindergarten.20 Schon hier zeigen sich Konzentrationsschwierigkeiten und Unangepasstheit. Ulrich Greiner21 beschreibt anhand von Analysen von Norbert Elias, Richard Sennett und Erving Goffman, wie dem heutigen Individuum die Orientierung fehlt, die frühere Generationen durch Vorbilder erhalten haben. Welche Vorbilder präsentieren Schulen, die aus Geldnot ihre Tore für die Werbung öffnen? Deutlicher kann den Schülern nicht vor Augen geführt werden, welche Autorität heute noch zählt und wem sie nacheifern müssen, um erfolgreich zu sein. Pädagogik der Grenzen GEGEN DEN TREND ’2001 Der nach Lebenssinn Suchende ist in der Zeit der Globalisierung allein gelassen. Gemeinschaft, die durchs Leben trägt, kollidiert mit den Alltagserfahrungen. Allgemein gilt: Die Familie hält zusammen gegen äußere Einflüsse. Das Vorbild des Zusammenhalts gegenüber einer feindlichen Umwelt führt zur Cliquen-Bildung, zu mafiosen Strukturen und zur Auflösung der Demokratie. Und da die Demokratie mehr und mehr zum Sprungbrett der Selbstdarstellung wird, führt sie schließlich zur Fragmentarisierung des Ich’s. Mit anderen Worten: Die höchste Entwicklung des Subjekts ist gleichzeitig seine Auflösung und Vermassung. Verurteilung und Ausgrenzung weichen dem Problem aus. Erklärungsmuster auf dem Boden der Aufklärung verfehlen das Anliegen, die Gewalttätigen in eine zivile Gesellschaft zurückzuführen. Wer grundsätzlich eine andere Weltsicht hat, hat auch ein anderes Vokabular. Wer ein anderes Vokabular hat, kann nicht durch Argumente überzeugt werden, sondern erfährt Fundamentalismus als einzige Antwort auf eine global expandierende technische Konsumwelt. Denn die Globalisierung antwortet auf die Begierden des Menschen, nicht aber auf die Frage nach dem Warum des Lebens. 26_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Der Grund des Seins –Kick oder Ekstase „Glaube“, schreibt Paul Tillich „ist das Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht.“22 Alles, was uns angeht ist demnach Glaube. Was uns angeht, sind in der Regel Dinge, die unser persönliches Leben betreffen. Werden diese Anliegen cliquenhaft ausgeweitet, bekommt der Glaube dämonische Züge und die Verheißungen werden diffus. Helfen Verheißungen nicht weiter, sollen Drohungen die Wünsche befördern. Glaube ist keine Erkenntnis, kein für wahr halten, sondern besitzt eine logische Evidenz.23 Ein Willensakt, zu dem man jemanden aufruft, kann Glaube nicht sein, denn der Mensch ist nicht in der Lage, sich durch Willen, Gewissheit zu verschaffen.24 Ebenso wenig ist der Glaube eine subjektive Gemütsbewegung, ein Gefühl. Werde ich von dem ergriffen, was mich unbedingt angeht, so ist alles von mir davon ergriffen: Gefühl, Wille und Verstand. Das aber kann nicht auf eine Ergriffenheit des Subjekts beschränkt werden.25 Vielmehr übersteigt Glaube das Subjekt und weist auf eine menschliche Befindlichkeit, die alle angeht. Folgt man dieser Auffassung von Glauben, so wird rasch klar, dass aufklärerische Konzepte, die sich Erfolg durch vernünftige Argumente erhoffen, existentiale Änderungen nicht herbeiführen können. Herzinger betont, dass der Rechtsradikalismus eine Gegenwelt zur demokratischen ist. Wären Rechtsradikale vernünftigen Argumenten zugänglich, stünden sie zumindest partiell auf dem gleichen Grund wie die aufgeklärten Demokraten.26 Aber sie haben sich hermetisch in ihrem ahistorischen Glauben eingeigelt. Wie soll die Gesellschaft darauf reagieren? Sie schwankt zwischen hartem Durchgreifen und Verstehen. Das Verstehen wird jedoch immer mehr erschwert, je mehr Kinder kriminell werden. Das allgemeine Bild von der Unschuldigkeit der Kinder Faszinosum Gewalt driftet.27 Die jahrelange Aufforderung an die nachwachsende Jugend, ihre Selbstverwirklichung selbst in die Hand zu nehmen, trägt Früchte, die die Ermunterer nicht beabsichtigten. ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_27 GEGEN DEN TREND ’2001 Eine Frucht ist sicherlich die Langeweile, die allenthalben empfunden wird, weil man sich vom Quell des Seins ausgeschlossen fühlt. Sie erzeugt einen so großen Leidensdruck, dass das Risiko bewusst gesucht wird, um sich dem Sein näher zu fühlen. Der begehrte„Kick„ geistert durch alle Schichten des Volkes und hat sich in allen Überzeugungen eingenistet. Da suchen die besser betuchten Jugendlichen den „Kick“ in den sogenannten Risiko-Sportarten28, da springen zwei jugendliche Mädchen in Berlin-Marzahn bewusst in den Tod, um der Langeweile zu entrinnen; Politiker bauen mitten in der Demokratie ein personales Imperium auf; Konzerne fusionieren zu gigantischen Unternehmen; Zlatko wird durch Big Brother seiner dumpfen Anonymität entrissen; Touristen fahren vermehrt in Spannungsgebiete. Von den Grenzen des Möglichen her will sich jeder begreifen. Der „Kick“ ist kein Phänomen, das sich nur auf Hooligans oder die rechte Gewaltszene beschränkt. Horst W. Opaschowski, der Leiter des B.A.T. (British American Tobacco) kann der Langenweile, die selbst das größte Risiko nicht scheut, sogar eine positive Seite abgewinnen, wenn er meint, dass die Langeweile und ihr Hang zur Risikobereitschaft in manchen Fällen Gewalt abbaue,29 weil sie sich in Risikosportarten entlade. Leider verfügen Jugendliche aus weniger bemittelten Elternhäuser nicht über die nötigen Mittel, ihre Aggressionen auf diese Weise abzubauen. Vielleicht wäre es nach Opaschowski ein probates Mittel, wenn der Staat allen Jugendlichen die nötigen Mittel bereitstellte, um so die Gewalt zu verhindern. Leider greifen aber auch Jugendliche aus dem „besseren Milieu“ zum Mittel Gewalt. Und Opaschowski räumt selbst ein, dass der „Kick“ nur manchmal Gewalt verhindere. Dieses „Manchmal“ ist zu vage. Vielmehr verbirgt sich hinter der Langenweile eine Seinsverlorenheit, zu der die B.A.T.-Studie nicht vordringt, weil sie sich mit der vordergründigen Langenweile zufrieden gibt. Die Frage, wo der Mensch gründet, lässt ihn bis an die Grenzen gehen. Sich zu spüren, ist das Ziel; nicht, sich zu zerstreuen. Nicht die Fragmentarisierung, sondern die Identität wird angestrebt. Gefunden wird in der Zerstreuung jedoch nur das Fragmentarische. Solange wir diesen Sachverhalt nur bei den Jugendlichen suchen und Erwachsene aus dem Blick lassen, werden wir kaum die Sehnsucht der Jugendlichen erkennen. Sie wachsen ja nicht in einem traditionsleeren Raum auf. Sie lösen sich nicht von der älteren Generation, ohne zu überdenken, wie dies geschehen kann. Es ist ein Band vorhanden zwischen den Generationen. Entwurzelt aber die ältere Generation, dann entwurzelt auch die jüngere. Denn ihr Suchen nach Eigenem richtet sich vielfach nach dem Gefundensein der Älteren. Gebärden sich aber gerade die Älteren als die Lebendigern, sprich: exzesshafteren, dann entwickelt sich ein konkurrenter Lauf und die Alten lassen die Jungen nicht jung sein, weil sie es selbst sein wollen, und die Jungen wollen die Alten im Jungsein übertreffen. Die Leugnung des Lebensalters äußert sich als Seinsverlorenheit. Der Tod stellt sich als Unfall und Selbstverschuldung dar. Wer stirbt hat entweder zu viel geraucht, zu viel gegessen oder überhaupt ungesund gelebt. Wenn biologische Grenzen geleugnet und permanent überschritte werden, muss man sich dann nicht wundern, wenn Jugendliche moralische Grenzen überschreiten? Setzt die Natur uns nicht Verhaltensgrenzen, aus denen moralische Regeln folgen? Die Leugnung der Endlichkeit des Seins führt zur Seinsverlorenheit. Alle Möglichkeiten sollen jederzeit allen offen stehen, unabhängig vom Alter. Wir vergessen, dass der Tod, unserem Leben Sinn verleiht, weil er uns zu Entscheidungen zwingt, indem er uns begrenzt. Je mehr uns ein Jenseits entschwindet, desto weniger können wir dem Diesseits folgen. Wir verriegeln uns in einem optimalen, erträumten Faszinosum Gewalt Der Prediger schreibt (Prediger 3,16-22): Weiter sah ich unter der Sonne: An der Stätte des Rechts war Gottlosigkeit, und an der Stätte der Gerechtigkeit war Frevel. Da sprach ich in meinem Herzen: Gott wird richten den Gerechten und den Gottlosen; denn alles Vorhaben und alles Tun hat seine Zeit. Ich sprach in meinem Herzen: Es geschieht wegen der Menschenkinder, damit Gott sie prüfe und sie sehen, dass sie selber sind wie das Vieh. Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt auch er, und sie haben alle einen Odem, und der Mensch hat nichts voraus vor dem Viel; denn alles ist eitel. Es fährt alles an einen Ort. Es ist alles aus Staub geworden und wird wieder zu Staub. Wer weiß, ob der Odem der Menschen aufwärts fahre und der Odem des Viehs hinab unter die Erde fahre. Und der Prediger fährt fort (Prediger 4,8-12): Da ist einer, der steht allein und hat weder Kind noch Bruder, doch ist seiner Mühe kein Ende, und seine Augen können nicht genug Reichtum sehen. Für wen mühe ich mich denn und gönne mir selber nichts Gutes? Das ist auch eitel und eine böse Mühe. So ist’s ja besser zu zweien als allein; denn sie haben guten Lohn für ihre Mühe. Fällt einer, so hilft ihm sein Gefährte auf. Weh dem, der allein ist, wenn er fällt. Dann ist keiner da, der ihm aufhilft. Auch wenn zwei beieinander liegen, wärmen sie sich; wie aber kann einem Einzelnen warm werden? Einer mag überwältig werden, aber zwei können widerstehen, und eine dreifache Schnur reißt nicht leicht entzwei. Zustand und meinen, darauf ein verbrieftes Recht zu haben. Doch das Jenseits wird deshalb nicht obsolet, sondern unser Feind. Wir müssen es bekämpfen, um unser vermeintlich diesseitiges Leben zu retten. Der Tod wird zur persönlichen Niederlage. Und das hartnäckige Leugnen der Transzendenz zur Hoffnungslosigkeit. Das irdische Leben ist tragisch vorgezeichnet. Ein gigantischer Kampf entwickelt sich. Der Kampf gegen das Sein. Wir wollen mehr als das Sein sein und müssen es gerade deswegen verfehlen. Maßnahmen können nicht dem Schutz der Gesellschaft dienen. Sie bringen kurzfristig Lösungen, weil sie die Probleme amputieren. Veränderungen gründen in der Übernahme von Verantwortung. Geschieht sie, ergäben sich andere Methoden. Statt Rache und gesellschaftliche Sicherheit stünde die Einübung in einen existentiellen Habitus im Vordergrund. Kurz: statt Ausgrenzung Eingliederung, die dann gelingt, wenn gelernt wird, Pflichten zu übernehmen. GEGEN DEN TREND ’2001 Verstehen oder Abschrecken? Was ist zu tun? Konzepte, die in der frühen Sozialisation (Kindheit) die Ursachen für den heutigen Zustand suchen, finden immer weniger Berücksichtigung, weil sie keine Erklärung geben, warum auch im Jugendalter zukunftsweisende Erlebnisse eintreten. Der Schrei nach härteren Maßnahmen übersieht, dass weder die Fixierung auf die frühe Kindheit noch eine Verantwortung ohne Einübung eine Änderung der Verhältnisse bringen. Härtere 28_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Der erste Text warnt vor menschlichen Hochmut und der zweite tröstet den, der hochmütig war und weist ihm die Gemeinschaft an als Rettung aus seiner Vereinsamung, wo der Hochmut hineinführt. Nachsicht oder Verantwortung? Wie immer, wenn ein Thema im Vordergrund steht, scheint sich alles auf dieses Thema zu reduzieren und düstere Aussichten gewinnen die Oberhand. So geschieht es auch beim Thema Gewalt. Die Konzentrierung auf dieses Thema lässt den Blick auf andere ruhen. Aber es gibt auch andere Gruppen als nur solche, die Gewalt als Lebensinhalt begreifen. Die Ausdifferenzierung der Jugendgruppen könnte auch als Sehnsucht nach Geborgenheit, nach einem gemeinsamen, geschützten Faszinosum Gewalt Raum verstanden werden, in dem eine neue Form von Solidarität und Gemeinschaft heranwächst. In den Berichterstattungen stehen viel zu oft die Gewaltgruppen im Vordergrund. Andererseits dürfen gewaltbereite Gruppen nicht verharmlost werden. Gewalt ist niemals marginal für eine Gesellschaft. Und wer Nachsicht übt, in dem er rechtsradikale Gruppierungen als Randerscheinungen ausgibt, denunziert die anderen Jugendgruppen. Gewalt verlangt per se eine Stellungsnahme. Nachsicht schiebt die Übernahme von Verantwortung fort. Modelle, die begreifen wollen, wie es zur Gewaltentäußerung kommt, sollen den Täter begreifen, jedoch mit der Tat keine Nachsicht üben. Daher ist es nötig auf die Tat eine Nach-Sicht zu werfen, um weiterem gewalttätigem Handeln zu wehren. Der Glaube macht den Menschen, nicht seine Taten, formulierte bereits Martin Luther. Solchen Glauben gilt es zu erkennen. Nur wenn man die Taten verurteilt, kann man den Täter retten. Je mehr Nach-Sichten wir üben, desto mehr nachwachsende Täter können wir aus dem dumpfen Dunst einer Gewaltatmosphäre, die Geborgenheit vorspiegelt retten. Die von mehreren erzeugten Räume sind ungegenständlich und unbeherrschbar. Die Mittel, um solche Räume zu erweitern sind verschieden. Einmal kann man das Äußere ins Innere integrieren. Diesen Weg beschritt das Christentum. Das Fremde wurde als Eigenes erkannt. Die Hingabe an das größere Ganze ermöglichte die Anerkennung des Fremden. Das „Böse“ (Fremde) wird verwandelt. Der andere Weg der Atmosphärenerweiterung benötigt einen Sündenbock. Es entsteht ein Gefälle vom Guten (Innen) zum Bösen (Außen). Der Sündenbock wird ritualisiert, um eine Gruppensphäre zu erzeugen. In dieser Opferatmosphäre bildet sich aus Erregung und Einredung das Heilige einer Gruppe. In diesem Klima wachsen Ehrfurcht, Opferbereitschaft und Schuldgefühle gegenüber der Gruppe. Es entwickelt sich ein Täterkollektiv um ein Opfer, das die Gruppe zusammenhält. Daher braucht die Gruppe, um eine homogene Einheit zu bleiben, immer wieder neue Opfer, die der Gruppe zugleich numinos, unheimlich und verachtenswert erscheinen. Gerade weil der Sündenbock zu einem unheimlichen Gegner wird, der die Gruppe bedroht wie erhält, gewinnt die Sprache der Gruppe über ihren Sündenbock zugleich abwertenden wie beschwörenden Charakter.33 Gewaltgruppen können Frieden immer nur als Durchsetzung der eigenen Machtvorstellungen denken. Dagegen wollen Gruppen, die integrieren ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_29 GEGEN DEN TREND ’2001 Früher, so führt Peter Sloterdijk30 aus, umschloss Gott alles. Und alles war in ihm. Doch mit der Dimension der Unendlichkeit, mit der Gott näher konkretisiert werden sollte, verlor sich das Bergende. Nun waren alle Menschen irgendwo im Unendlichen verstreut. Gott wurde unanschaulich. Er mutierte zu einem „Monstrum“ für menschliche Versuche, Unendliches zu fassen. Die Postmoderne wandte sich von der metaphysischen Kategorie des Unendlichen ab und versuchte keine Einheit der Anschauungen mehr zu entwickeln. Sie näherte sich den Sprachspielen, Handlungsmustern, und „Ereignissen“, die Sinn liefern sollten.31 Doch warum der Mensch nicht mehr durch sein Wesen, sondern durch Ereignisse konstituiert werden soll, wurde nicht einsichtig. Wo ist denn der Ort des Menschen, wenn er im Ungeheuerlichen wohnt und nicht mehr im Ber- genden? Sloterdijks Antwort ist: Im Egoismus. Das Drehen um das Selbst und nur für sich zu sorgen, ist die Konstante, die Individuum, Staat, Familie und Wirtschaft eint. Doch näher kommen sich die Menschen nicht. Unterschlagen wird, dass Atmosphären sind, die alle Kommunizierenden einschließen und sie gegenseitig werden lässt. Atmosphären es sind weder Worte noch Dinge. Atmosphären sind auch nie Sache eines einzelnen.32 Atmosphären bilden sich durch viele. Sie eröffnen für einander einen Raum. Faszinosum Gewalt Frieden durch Geist und Einsicht erreichen. Wo der Staat versagt und versagen muss, sollte die Kirche helfen. Individualität setzt einen überschaubaren Lebensraum voraus. Wer kann Lebensräume schaffen, wenn der Staat dem Druck der Wirtschaft folgt? Der Staat kann das Miteinander der Menschen regeln, aber nicht Sinn im Leben des Einzelnen stiften. Die Abschaffung des Religionsunterrichts und anderer geisteswissenschaftlicher Fächer in den Ausbildungsinstitutionen erklärt die Sinnfrage des Lebens zur Randfrage und macht das Leben des Einzelnen zur Bagatelle. Je mehr die Wirtschaft dem irdischen Leben Glückseligkeit verspricht und nicht einhalten kann, desto mehr wächst das Verlangen danach und die Vorstellung, ein einklagbares Recht darauf zu besitzen. Und dann wird es spannend, welche Strategien einem zur Verfügung stehen, um auch an sein (vermeintliches) Recht zu kommen. 8 Nikolaus von Kues: a.a.O. S. 263, (Dialogus de ludo globoli, Liber primus von 1462). 9 Vgl. auch Joh 14,9.11.26. 10 Es sei nebenbei an das Experiment Friedrich II. von Staufen erinnert, der erfahren wollte, welche Sprache Kinder von Natur aus sprechen, wenn sie keine Sprache erlernen. Vgl. Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, Frankfurt 1994, S. 13. 11 Peter Sloterdijk: a.a.O. S. 639. 12 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1967, S. 128. 13 Peter Sloterdijk: a.a.O. S. 643. 14 Michel de Montaigne: Die Essais, 1. Buch, 25. Kapitel, Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8308, Stuttgart 1969, S. 97. 15 Thomas Assheuer: Rechte Gewalt und Neue Mitte, „Die Zeit“ Nr. 36 vom 31. 8. 2000. 16 Peter Schneider: Der Zerfall des Zivilen, „Die Zeit“ Nr. 32 vom 3. 8. 2000. 17 Hanna-Barbara Gerl-Falkowitz: Wie wird der Mensch zum Menschen? Die Wichtigkeit der Nachahmung bei Joachim Camerarius, in: Hanna-Barbara Gerl-Falkowitz: Die zweite Schöpfung der Welt, Mainz 1994, S. 164f. 18 Arnulf Baring: Erziehungssabotage, von Arnulf Baring, FAZ, Nr. 136, Mittwoch 14.6.00. 19 Susanne Gaschke: Ende der Kindheit. in: Die Zeit, Nr. 17, 19. April 00 20 Susanne Gaschke: Prima für Kevin, in: Die Zeit Nr. 25 vom 15. Juni 2000. Klaus Zastrow 1 2 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1967, S. 53-54. 3 Martin Heidegger: a.a.O. S. 57. 4 Martin Heidegger: a.a.O. S. 62. 5 Martin Heidegger: a.a.O. S. 107. 6 GEGEN DEN TREND ’2001 Jacques Lacan: Schriften I, Frankfurt 1975, S. 6370. 7 Nikolaus von Kues: Die philosophisch-theologischen Schriften, Lateinisch-Deutsch, Wien 1989, Bd.3, S. 97-99, („De visione Die sive de icona“ von 1453). Nikolaus von Kues: ebenda, S. 107. Vgl. auch Röm 5,5. 30_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Faszinosum Gewalt 21 Ulrich Greiner: Versuch über die Intimität. Von Ballermann bis zu ,,Big Brother”, vom Internet bis zur Talkshow, in: Die Zeit, Nr. 18 vom 27.4.2000. 22 Paul Tillich: Wesen und Wandel des Glaubens, Ullstein Buch 318, 1961, S. 9. 23 Paul Tillich: a.a.O. S. 41ff. 24 Paul Tillich: a.a.O. S. 49. 25 Paul Tillich: a.a.O. S. 51. 26 Richard Herzinger: Der Hass zum Tode. Liberale Diskursgesellschaft und rechte Gewalt, „Die Zeit“ Nr. 33 vom 10. August 2000. 27 Thomas Darnstädt: Angriff auf die bösen Jungs, „Der Spiegel“ Nr. 12/ 1999. 28 Vgl. „Schaumburger Nachrichten“: Risikosport gegen Öde im Alltag, vom 20. September 2000. 29 „Schaumburger Nachrichten“: a.a.O. 30 Peter Sloterdijk: Sphären, Bd. 2, Frankfurt 1999, S. 131ff. 31 Hans Joachim Türk: Postmoderne, Stuttgart 1990, S. 64f. 32 Vgl. hierzu: Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt 1995. 33 Peter Sloterdijk: Sphären, Bd. 2, S. 159 – 195. GEGEN DEN TREND ’2001 ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_31 GEGEN DEN TREND ’2001 Faszinosum Gewalt 32_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … ›› Wie wirkt Musik? Wie wirkt Musik? Die Affekte, Begriffsbestimmungen ßerster Erregung. (s.o.: Duden „Bedeutungswörterbuch”,S.765.) 1) außerwissenschaftliche Definitionen: heftiger, unbeherrschter, durch Ärger o.ä. hervorgerufener Gefühlsausbruch, der sich in Miene, Wort und Tat zeigt. (s.o.: Duden „Deutsches Universalwörterbuch”, S.1458. ) Ärger durch Mißfallen an etwas, durch Unzufriedenheit, Enttäuschung o.ä. hervorgerufenes Gefühl des Unwillens. (Duden „Bedeutungswörterbuch”/ hrsg. u. bearb. Von Wolfgang Müller. Unter Mitarb.. d. Dudenred.: Wolfgang Eckey ...-2. völlig neu bearb.. u. erw.. Aufl.-Mannheim; Wien; Zürich: Bibliographisches Institut, 1985, S.69. ) GEGEN DEN TREND ’2001 bewußtes, von starker Unlust u. [aggressiver] innerer Auflehnung geprägtes [erregtes] Erleben [vermeintlicher] persönlicher Beeinträchtigung, insbesondere dadurch, daß etwas, nicht ungeschehen zu machen, zu ändern ist; Aufgebrachtsein, heftige Unzufriedenheit, [heftiger] Unmut, Unwille, heftige Verstimmung, Mißstimmung. (Duden „Deutsches Universalwörterbuch”/ hrsg. u. bearb. vom Wiss. Rat u. d. Mitarb.. d. Duden-red. unter Leitung von Günther Drosdowski. [Un-ter Mitw. von Brigitte Alsleben ...]. - Mannheim; Wien; Zürich: Bibliographisches Institut, 1983, S.99.) ärgern: „erzürnen, reizen”: Das Verb mhd. ergern, argern, ahd. argorôn, ergirôn ist von … abgeleitet und bedeutet demnach eigentlich „schlimmer, böser, schlechter machen” . Abl.: Ärger (18.Jh.). (Duden „Etymologie”: Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. 2., völlig neu bearb.. u. erw.. Aufl./ von Günther Drosdowski. Mannheim; Wien; Zürich: Dudenverl., 1989, S.44.) Wut [sich in heftigen, zornigen Worten und/oder unbeherrschten Handlungen äußernder] Zustand äu- 34_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … das Substantiv mhd., ahd. wuot ist eine Bildung zu dem gemeingerm. Adjektiv ahd. wuot „unsinnig”, got. Wôds „wütend, besessen”, aengl. wôd, aisl. ôdr „rasend”. Daneben steht das andersgebildete Substantiv aengl. Wôd „Ton Stimme, Dichtung”, aisl. ôdr „Dichtung, Dichtkunst”. Damit ist wohl der Göttername ahd. Wuotan, aengl. Wôden, aisl. Odinn verwandt, der wahrscheinlich eigentlich „rasender Gott, Dämon” bedeutet. Die germ. Wörter sind wohl verwandt mit lat. vates „Wahrsager, Seher” und air. fâith „Seher, Prophet”. (s.o.: Duden „Etymologie”:Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache,S.821.) Unmut durch das Verhalten anderer ausgelöstes starkes Gefühl der Unzufriedenheit, des Mißfallens, des Verdrusses. (s.o.: Duden „Deutsches Universalwörterbuch”, S.1330.) 2) Wissenschaftliche Definition Ärger Ärger in den Emotionstheorien: Ärger entsteht infolge einer Störung, eines Hindernisses, eines missfälligen Ereignisses; Ärger aktiviert, mit welchen Mitteln auch immer. Der Ausdruck des Ärgers mag ursprünglich andere davor gewarnt haben, dass Widerstand droht das kann er natürlich auch heute noch tun. Ein weiteres Element einbringt, Wie wirkt Musik? sind die kognitiven Theorien, die davon ausgehen, dass Ärger dann einsetzt, wenn ein andere Mensch sich nicht an soziale Normen bzw. persönlich bedeutsame Standards hält. Begeisterung/Besessenheit Veränderter Bewusstseinszustand, in dem sich der Erlebende von einer fremden Macht „in Besitz genommen” fühlt. B.-Zustände werden in Trancekulten, die auf schamanische Wurzeln zurückzuführen sind, vor allem durch frenetische Bewegungen, monotone Musik, Tanz und heftiges Atmen hervorgerufen. Während der B.-Trance verliert der Erlebende sein gewöhnliches Verhältnis zu seinem psychischen Bezugsmittelpunkt, seinem Ich. Wesentliches Element der B. ist ihr religiöser Charakter (Ekstase). Insofern ist die B. die phänomenologisch folgerichtigste Form der enthusiastischen Ergriffenheit. Die B. zählt zu einem in allen Teilen der Welt von alters her verbreiteten Phänomen, das als Hinweis für den dem Menschen innewohnenden Wunsch gesehen werden kann, die transzendente Wirklichkeit oder die göttliche Sphäre zu erfahren und zu erleben (mystische Erfahrung). In der christlichen Religionsgeschichte begegnet uns das Phänomen der B. als B. von Dämonen und Teufeln. Dem Rituale Romanum zufolge erkennt man Besessene nicht nur an blasphemischen, obszönen Äußerungen und Handlungen, sondern vor allem an ihren paranormalen Fähigkeiten, einschließlich des Sprechens und Verstehens fremder Sprachen. Ekstase Aggression beim Menschen Aggressionstheorien In der Psychologie: • das Austeilen schädigender Reize gegen Lebewesen (auch gegen die eigene Person › AutoAggression), Institutionen und Sachen • kann offen (körperlich, verbal) oder versteckt (phantasiert) sein • kann negativ (missbilligt) oder positiv (von der Kultur gebilligt) sein • Psychoanalyse sieht als Ursache den Aggressionstrieb, der seine Quelle im Todestrieb (S. Freud) hat Verhaltensforschung: • der tatsächliche physische Akt oder eine Drohhandlung mit dem Ziel die Lebensfähigkeit eines anderen Individuums oder einer anderen Gruppe von Individuen einzuschränken • Bereitschaft, solche Handlung auszuführen, als Aggressionstrieb (Triebstauhypothese) oder Aggressivität bezeichnet • Aggressivität: [lat.: „Angriffslust”], die Bereitschaft eines oder mehrerer Individuen, andere ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_35 GEGEN DEN TREND ’2001 [von griech. Ekstasis „Aus-sich-Heraustreten”] Bewusstseinszustand, in dem ein Individuum sich selbst nicht mehr allein mit seinem eigenen Körper identifiziert. Dieser Zustand des „Außer-SichSeins” (Entrückung, Verzückung) erreicht in seiner extremsten Form die mystische Vereinigung mit Gott bzw. dem höchsten Wesen (unio mystica). Ekstase ist aus dem Schamanismus, aus den dionysischen Kulten, sowie zahlreichen religiösen Systemen und im Bereich der christlichen Mystik seit dem älteren Prophetentum bekannt. Thomas von Aquin deutete die Ekstase als eine Wirkung der Liebe, die den Liebenden außer sich setzt, so dass er nicht mehr in sich selbst lebt, sondern in der geliebten Sache. Die Ekstase sei ihm zufolge ein Durchgangsschritt zum eigentlichen Ziel der Mystik, der Vereinigung mit Gott. Wie wirkt Musik? Organismen durch bestimmte Verhaltensweisen so einzuschränken, dass ihre Umweltbeziehungen entgegen der eigenen Motivation verändert oder ganz aufgehoben werden; hierzu zählen verschiedene Klassen des Angriffsverhaltens (Inner- und Zwischengruppenaggressionen). • Frustration führt stets zu einer Form der Aggression • Stärke der Bereitschaft zur Aggression ist abhängig von: • der Stärke der gestörten Aktivität, • der Stärke der Störung und • Trieb (Antrieb, Motivation): Bereitschaft, eine bestimmte Handlung (insbesondere eine Instinkthandlung) ablaufen zu lassen; innere Erregung wird zentralnervös produziert und staut sich auf (Triebstau); bei starkem Triebstau reicht schon schwacher spezifischer Reiz (Auslöser, Schlüsselreiz) aus, der die innere Sperre über einen angeborenen Auslösemechanismus beseitigt, um Handlung ablaufen zu lassen (Triebbefriedigung); bleibt Reiz aus, wird die angestaute Erregung in einer Leerlaufhandlung aufgebraucht (Abreaktion an Ersatzobjekt) Aggressionstheorien • der Anzahl der Frustrationen Lerntheorie: • aggressives Verhalten basiert auf Lernen • aggressives Verhalten befriedigt Bedürfnisse und führt zum Erreichen von Zielen • es entwickelt sich die Erwartung, auch zukünftig durch Aggression Erfolg zu haben • Lob und Belohnung verstärken aggressives Verhalten Triebtheorie: • kann durch Lernen verändert werden • Aggression kann auch am Modell gelernt werden, d.h. wenn aggressives Verhalten anderer erfolgreich ist, unbestraft bleibt, gerechtfertigt oder verherrlicht wird, erhöht sich Erwartung, dass eigenes aggressives Verhalten zu Zielen verhilft • Frustration kann zu aggressiven Handlungen führen Gemeinsamkeit: Frustrations-Aggressionstheorie: in 5 Bereichen gesteuert und unmittelbar beeinflusst: • Aggressionsverhalten = echter Instinkt mit eigener endogener Antriebserzeugung GEGEN DEN TREND ’2001 • Frustration ist Störung einer zielgerichteten Aktivität • Aggression ist jedes Verhalten, dass auf die Verletzung eines Organismus abzielt • Aggression ist immer Folge einer Frustration, d.h. die Versagung von Bedürfnissen oder Wünschen führt zur Angriffslust 36_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … • im Bereich der Gene • in der Physiologie (z.B. Hormonstörungen bewirken auffällige Aggressivität oder völliges Fehlen aggressiven Verhaltens) • im Gesamtorganismus (psychische Zustände, Empfindungen, Motive, ...) Wie wirkt Musik? • im sozialen Verband (Aggression bei Ausbildung einer Rangordnung, weniger bei gefestigten Hierarchien) • stabile Familienverhältnisse (feste Bezugsperson) Aggressionsbereitschaft wird gesenkt durch: Lächeln, Höflichkeit, Grüßen • im ökologischen Zusammenhang (Gruppendichte oder Nahrungsknappheit beeinflussen aggressives Verhalten) • Anerkennung, Geschenke Strategien zur Vermeidung von Aggressionen beim Menschen • Aggression abreagieren, z.B. durch körperliche Anstrengung › Abbau von Energieüberschüssen • nicht zu Handlung verleiten lassen, die man von selbst nie tun würde • bei ungerechten Forderungen nicht nachgeben, weil sonst Lernen am Erfolg • Menschen sollten sich selbst kennenlernen, sich beobachten und Selbstbeherrschung üben Praxisbaustein: Ablauf eines Schulgottesdienstes an der BBS zum Thema Gewalt/Menschlichkeit „Du mußt ein Schwein sein in dieser Welt“ Aktualisiert: „Es ist geil, ein Arschloch zu sein“ (Christian) Musik zur Einstimmung • Meditative Musik (Schulband) Beginn • Sketch: „Nicht alles gefallen lassen“ nach Gerhard Zwerenz (SchülerInnen) siehe Text 1 • Lied: Alex (Schulband, nach Tote Hosen) • Gedanken zum Text (SchülerInnen ) • Gebet, Meditative Musik (Schulband) • Video Grasshoppers (Erklärungen als Grundlage zur Erarbeitung siehe Text 2) • Gedanken zum Video (SchülerInnen) • Lied: „Du mußt ein Schwein sein“ (nach Prinzen) bzw. „Es ist geil, ein Arschloch zu sein“ (Christian) Abschlußsegen • Gedanken zum Liedtext (SchülerInnen) Gebet ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_37 GEGEN DEN TREND ’2001 - Begrüßung, Einführung - (Biblische Relevanz) Exemplarische biblische Texte zum Themenkomplex »Gewaltanwendung/ Frieden»: Ex 20,13: Ps 34,15; Spr 20.22; Jes 2,4b; Jes 32,17; Mt 5,9; Mt 10,.34 (Kontrast): Mt 26,52; Röm 12,17; 1 Kor 14,33; 1 Petr 3,9; SchülerInnen lesen die Texte mit Erklärungen zum Thema Wie wirkt Musik? Auf dem Weg des Friedens Herr, unser Gott und Gott unserer Väter, möge es dein Wille sein, uns in Frieden zu leiten, unsere Schritte auf den Weg des Friedens zu richten, und uns wohlbehalten zum Ziel unserer Reise zu führen. Behüte uns vor aller Gefahr, die uns auf dem Weg bedroht. Bewahre uns vor Unfall und vor Unglück, das über die Welt Unruhe bringt. Segne die Arbeit unserer Hände. Laß uns Gnade und Barmherzigkeit vor deinen Augen finden; Verständnis und Freundlichkeit bei allen, die uns begegnen. Höre auf die Stimme unseres Gebetes. Gepriesen seist du, O Gott, der du unser Gebet erhörst. Amen. (Altes jüdisches Reisegebet) Als meine Mutter dreimal vergeblich gemahnt hatte, riss ihr eines Tages die Geduld, und sie sagte auf der Treppe zu Frau Muschg, die im vierten Stock wohnt, Frau Doerfelt sei eine Schlampe. Irgendwer muss das den Doerfelts hinterbracht haben, denn am nächsten Tag überfielen Klaus und Achim unseren Jüngsten, den Hans, und prügelten ihn windelweich. Ich stand grad im Hausflur, als Hans ankam und heulte. In diesem Moment trat Frau Doerfelt drüben aus der Haustür, ich lief über die Strasse, packte ihre Einkaufstasche und stülpte sie ihr über den Kopf. Sie schrie aufgeregt um Hilfe, als sei sonst was los, dabei drückten sie nur die Glasscherben etwas auf den Kopf, weil sie ein paar Milchflaschen in der Tasche gehabt hatte. Mittagszeit, und da kam Herr Doerfelt mit dem Wagen angefahren. Ich zog mich sofort zurück, doch Elli, meine Schwester, die mittags zum Essen heimkommt, fiel Herrn Doerfelt in die Hände. Er schlug ihr ins Gesicht und zerriss dabei ihren Rock. Das Geschrei lockte unsere Mutter ans Fenster, und als sie sah, wie Herr Doerfelt mit Elli umging, warf unsere Mutter mit Blumentöpfen nach ihm. Von Stund an herrschte erbitterte Feindschaft zwischen den Familien. • Musik: Sounds of silence (Schulband) Anhang Texte 1 und 2 Material z. Gottesdienst GEGEN DEN TREND ’2001 Text 1: Nicht alles gefallen lassen... (von Gerhard Zwerenz) Wir wohnten im dritten Stock mitten in der Stadt und haben uns nie etwas zuschulden kommen lassen, auch mit Doerfelts von gegenüber verband uns eine jahrelange Freundschaft, bis die Frau sich kurz vor dem Fest unsere Bratpfanne auslieh und nicht zurückbrachte. 38_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Weil wir nun Doerfelts nicht über den Weg trauen, installierte Herbert, mein ältester Bruder, der bei einem Optiker in die Lehre geht, ein Scherenfernrohr am Küchenfenster. Da konnte unsere Mutter, waren wir anderen alle unterwegs, die Doerfelts beobachten. Augenscheinlich verfügte diese über ein ähnliches Instrument, denn eines Tages schossen sie von drüben mit einem Luftgewehr herüber. Ich erledigte das feindliche Fernrohr dafür mit einer Kleinkaliberbüchse, an diesem Abend ging unser Volkswagen unten im Hof in die Luft. Unser Vater, der als Oberkellner im hochrenommierten Café Imperial arbeitete, nicht schlecht Wie wirkt Musik? verdiente und immer für den Ausleich eintrat, meinte, wir sollten uns jetzt an die Polizei wenden. Aber unserer Mutter passte das nicht, denn Frau Doerfelt verbreitete in der ganzen Strasse, wir, das heißt, unsere gesamte Familie, seien derart schmutzig, dass wir mindestens zweimal jede Woche badeten und für das hohe Wassergeld, das die Mieter zu gleichen Teilen zahlen müssen, verantwortlich wären. Wir beschlossen also, den Kampf aus eigener Kraft in aller Härte aufzunehmen, auch konnten wir nicht mehr zurück, verfolgte doch die gesamte Nachbarschaft gebannt den Fortgang des Streites. Am nächsten Morgen schon wurde die Strasse durch ein mörderisches Geschrei geweckt. Wir lachten uns halbtot, Herr Doerfelt, der früh als erster das Haus verliess, war in eine tiefe Grube gefallen, die sich vor der Haustür erstreckte. Er zappelte ganz schön in dem Stacheldraht, den wir gezogen hatten, nur mit dem linken Bein zappelte er nicht, das hielt er fein still, das hatte er sich gebrochen. Bei alledem konnte der Mann noch von Glück sagen - für den Fall, dass er die Grube bemerkt und umgangen hätte, war der Zünder einer Plastikbombe mit dem Anlasser seines Wagens verbunden. Damit ging kurze Zeit später KlunkerPaul, ein Untermieter von Doerfelts, hoch, der den Arzt holen wollte. Als wir das Rohr genau auf Doerfelts Küche eingestellt hatten, sah ich drüben gegenüber im Bodenfenster ein gleiches Rohr blinzeln, das hatte freilich keine Chance mehr, Elli, unsere Schwester, die den Verlust ihres Rockes nicht verschmerzen konnte, hatte zornroten Gesichts das Kommando „Feuer!“ erteilt. Mit einem unvergesslichem Fauchen verliess die Atomgranate das Rohr, zugleich fauchte es auch auf der Gegenseite. Die beiden Geschosse trafen sich genau in der Strassenmitte. Natürlich sind wir nun alle tot, die Strasse ist hin, und wo unsere Stadt früher stand, breitet sich jetzt ein graubrauner Fleck aus. Aber eins muss man sagen, wir haben das Unsere getan, schließlich kann man sich nicht alles gefallen lassen. Die Nachbarn tanzen einem sonst auf der Nase herum. Text 2: Erklärungen zum Film Grasshoppers Bozetto kontrastiert eine von Kriegen gezeichnete Menschheitsgeschichte mit einer friedvollen und fröhlichen Natur, die unverändert bleibt und sich selbst immer wieder hervorbringt (vgl. die Fortpflanzung der beiden Heuschrecken im letzten Bild). Das ist ein Kunstgriff: Weder ist Natur friedvoll noch bleibt sie unverändert. Im Vergleich zur Geschichte der Menschheit vollziehen sich natürliche Änderungen allerdings in großen Zeiträumen. Auch gibt es keine Vernichtung einzelner Gattungen untereinander. Bozettos Kontrastierung wirft ein kritisches Licht auf die Vorstellung von der Überlegenheit des Menschen über die Natur. Nimmt man das filmisch konstruierte Nebeneinander von Menschheitsgeschichte und natürlichem ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_39 GEGEN DEN TREND ’2001 Es ist bekannt, dass die Doerfelts leicht übelnehmen. So gegen zehn Uhr begannen sie unsere Hausfront mit einem Flakgeschütz zu bestreichen. Sie mussten sich erst einschiessen, und die Einschläge befanden sich nicht alle in der Nähe unserer Fenster. Das konnte uns nur recht sein, denn jetzt fühlten sich auch die anderen Hausbewohner geärgert, und Herr Lehmann, der Hausbesitzer, begann um den Putz zu fürchten. Eine Weile sah er sich die Sache noch an, als aber zwei Granaten in seiner guten Stube krepierten, wurde er nervös und gab uns den Schlüssel zum Boden. Wir robbten sofort hinauf und rissen die Tarnung von der Atomkanone. Es lief alles wie am Schnürchen, wir hatten den Einsatz oft genug geübt, die werden sich jetzt ganz schön wundern, triumphierte unsere Mutter und kniff als Richtkanonier das rechte Auge fachmännisch zusammen. Wie wirkt Musik? Leben allerdings als Gleichsetzung - das eine ist wie das andere - dann ergibt sich eine andere Deutungsperspektive: Der Film wird zur Satire, die lakonisch-überzeichnet den Menschen vor Augen führt, wie lächerlich ihre erbitterten Gefechte neben dem natürlichen Fortgang des Lebens wirken. Geht man nach dem Titel des Films, Grasshoppers, dann ist klar, wer die Hauptpersonen sind: Die Heuschrecken, nicht die Menschen. Unberührt von dem Gemetzel, das um sie immer wieder ausbricht, gehen sie ihren Verrichtungen nach. Insgesamt kennt der Handlungsverlauf des Films kein Ende. Die collagenhafte Aneinanderreihung der Szenen hat exemplarischen Charakter und betont das Fragmentarische der Darstellung. Gewalt in den Medien/Musik Begegnung mit einem (typischen?) Nazimusik-Konsumenten dient als Einstiegsdroge und schürt die Gewaltbereitschaft. Und nicht selten folgen auf Parolen auch Taten, wie Daniel bestätigt … „Wie gesagt: Tritt einfach rein in die dumme Sau, ganz einfach!” Daniel, 29 Jahre, arbeitslos. Ich treffe ihn in Bernau, in Brandenburg. Stolz führt er uns seine Musik vor. Eines der szene-üblichen Lieder mit rassistischen und gewaltverherrlichenden Texten. Schmierstoff für Aggression und Gewalt … GEGEN DEN TREND ’2001 „Das ist mein Lieblingssong. Den habe ich von einem Kumpel gekriegt!”, sagt er und legt die Kassette in den Autorecorder ein: „Ich brauch’ keinen Griechen, um gut essen zu gehen/Keinen Nigger, um ein Fußballtor zu sehen/Ich will auch kein Arbeiter bei den Türken sein/Ich will, daß wir uns vom fremden Pack befrei’n/Tritt einfach rein in das dumme Schwein...!” “Solche Lieder von Skinhead-Bands ohne Namen werden in der Szene weitergereicht”, erzählt mir Daniel. Konzerte der entsprechenden Gruppen, meist als Privatparties getarnt, finden regelmäßig statt. Vor allem in den neuen Bundesländern. Das Publikum aber kommt von überall her, auch aus Nordrhein-Westfalen. Die Musik 40_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … • Exemplarische biblische Texte zum Themenkomplex »Gewaltanwendung/Frieden»: Ex 20,13: Ps 34,15; Spr 20.22; Jes 2,4b; Jes 32,17; Mt 5,9; Mt 10,.34 (Kontrast): Mt 26,52; Röm 12,17; 1 Kor 14,33; 1 Petr 3 Ende „Bist Du auch schon einmal gewalttätig geworden?”, frage ich ihn. „Ja, mehrmals! Du bist mit der Gruppe unterwegs und da langst du hin, wenn irgend so ein Idiot kommt, ob es irgend so ein dreckiger Punk ist oder eine Zecke, da wird einfach reingehämmert, mit den Springerstiefeln noch mal nachgetreten und dann ist gut!” Ortswechsel: Düsseldorf. Der Handel mit verbotener rechter Musik ist inzwischen ein einträgliches Geschäft, bedeutendste Geldquelle der rechten Szenen, die deutschlandweit eng vernetzt sind. Ganz wichtig dabei: Die Rolle NordrheinWestfalens. Einer der Drahtzieher hier: Torsten Lemmer. Bereits 1993 gründete der Musterjunge der neuen Rechten in Düsseldorf die beiden Musikverlage „Creative Zeiten” und „Funny Sounds”, die nach eigenen Angaben etwa 40 Prozent des gesamtdeutschen Rechtsrock-Marktes halten. Alle Musikrichtungen - auch Techno oder Schlager werden hier mit faschistoiden Texten und Inhalten besetzt. Von Köln aus vertreibt der Musikverlag „Rock-oRama” seit 1997 rechtsradikale Musik und ist Wie wirkt Musik? mittlerweile zu Europas größtem Unternehmen dieser Art aufgestiegen. Die hier verlegte Musik ist nicht verboten oder indiziert. Gerichtsverfahren gegen den Verlag wegen Volksverhetzung waren meist erfolglos. Demonstrationen in Köln und Polizei-Razzien bei dem Hintermann Herbert Egoldt aus Brühl haben das einträgliche Geschäft bisher nicht gestört. Doch die Demonstranten bleiben dabei: “Wer Leute dazu anleitet, Asylbewerberwohnheime anzuzünden, ist und bleibt ein mieser Rassist!”, ruft einer von ihnen. Der Journalist Burkhard Schröder untersucht seit langem die Vernetzungen innerhalb der deutschen rechtsradikalen Szene. Immer wieder weist er auf die Bedeutung der neuen Medien bei der Verbreitung rechtsextremer Musik hin. „Wenn man sich das mal anguckt auf den Internet-Portalen, die sich mit Musik beschäftigen, ist Deutschland das einzige Land, das mit Neonazis vermehrt präsent ist. In allen anderen Ländern ist das anders. Das sagt etwas über die deutsche Kultur aus.” „Was?”, möchte ich wissen. „Dass Rassismus gesellschaftsfähig ist in Deutschland und von vielen Leuten konsumiert wird und das Gefühl vieler Leute anspricht - vor allem in den neuen Bundesländern. Es ist eben nicht nur ein Problem der Jugendlichen. Die Jugendlichen - das weiß jeder Sozialwissenschafter - sagen das, was die Erwachsenen auch denken, nur etwas radikaler.” Ortswechsel. Ich besuche das Landeskriminalamt von Sachsen-Anhalt in Magdeburg. Hier gibt es Fazit für mich, nach tagelanger Recherche in Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und SachsenAnhalt: Rechtsextreme Bands haben ihre Proberäume verlassen. Es besteht zumindest die Gefahr, daß Nazimusik in den Jugendkultur-Mainstream eindringt. Die Drahtzieher und Profiteure sitzen auch in Nordrhein-Westfalen. Ihre Musik erreicht immer mehr Leute. Leute wie Daniel, der seine ausländerfeindlichen Anschauungen in der braunen Musik wiederfindet. Eigentlich sollte man ihn in die faszinierende Welt der bunten Musik entführen. “Bunt statt braun” - eigentlich müsste Daniel einleuchten, daß bunte Musik attraktiver ist als “braune”, die er - in Abwandlungen - immer wieder hört. Oder ist für ihn alles schon zu spät? Dieser Beitrag des WDR-Autors Antonio Cascais wurde in leicht veränderter Fassung in der Sondersendung des WDR-Fernsehens “Gewalt von rechts - Was tun?” ausgestrahlt: Antonio Cascais wurde in Portugal geboren, studierte in Dortmund Journalistik und Geschichte, und arbeitet als freier Autor für den WDR, u. a. für das ARD-Magazin Monitor. ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_41 GEGEN DEN TREND ’2001 Bestätigt wird diese These, wenn man sich bei den Skinheads, den Fans von Neonazi-Musik, umhört. Ich frage Daniel, wie seine Mutter die Nazimusik findet. Die Mutter, sie steht neben ihm auf der Straße, mitten in Bernau … „Meine Mutti, die hört die Mucke auch ganz gern!”, sagt Daniel. Die “Mutti” nickt zustimmend. „Und die anderen Verwandten?“ „Die auch, die sind alle ganz easy drauf und haben auch keine Probleme damit!” eine spezielle “Koordinierungs- und Ermittlungsgruppe Rechts”. Immer wieder werden hier CDs sichergestellt. Es ist nicht leicht, die Tatbestände der Volksverhetzung und Gewaltverherrlichung zu verfolgen, vor allem dann nicht, wenn die Verlage ihren Sitz im Ausland haben. Die Musik - aus dem Internet in den PC geladen - kann leicht vervielfältigt werden. „Die CDs werden zum Selbstbrennen immer günstiger. Mittlerweile kostet die Herstellung einer CD 1,40 Mark. Verkauft werden sie für zwischen 15 und 40 Mark. Wir haben bei Ermittlungsverfahren festgestellt, dass derjenige, der vertreibt, Umsätze zwischen 10.000 und 40.000 Mark im Monat macht. Steuerfrei, versteht sich denn die Vertreiber melden natürlich kein Gewerbe an.” Wie wirkt Musik? Songbeispiele für rassistische, menschenverachtende Texte Musik wird vor allem über den Versandhandel an die interessierte Klientel weitergegeben…“ Im harten Skin-Rock'n'Roll wird der Nationalsozialismus verherrlicht und gegen Ausländer gehetzt. Beschreiben Sie die Musik und ihre Inhalte: „Das ist sehr schwer, weil es alle Segmente des rechten Millieus gibt. Es gibt Skinheadmusik, die sich eher an die harten Rhythmen des Punks annähert. Die eigentlichen Wurzeln dieser Musik kommen ja ursprünglich aus den Wurzeln des Ska in Jamaica, was die heutige Szene kaum noch weiß. Einfache, schnelle Rhythmen, sehr laut, ab 120 Phon aufwärts. Es gibt auch melancholische Gruftie-Musik, die mit rechten Texten arbeitet, es gibt auch rechte Techno-Musik, das wird nicht im Text klar, sondern durch das Arrangement(...). Es gibt auch die klassische Gitarrenmusik der sogenannten Barden, das ist wahrscheinlich das größte Segment.“ Zitat aus einem z.Zt. vor allem in den neuen Bundesländern kursierenden Song: „Ich brauch' keinen Griechen, um gut essen zu geh'n keinen Nigger, um ein Fußball-Tor zu seh'n ich will auch kein Arbeiter bei den Türken sein ich will nur, daß wir uns vom fremden Pack befrei'n Tritt einfach rein in das fiese Schwein…“ Auszüge aus anderen "Liedern" mit rechtsextremem Inhalt: (…) lasst die Messer flutschen in den Judenleib (…) schmiert die Guillotine mit dem Judenfett (…) (Quelle: Sampler „Northeim Live“) GEGEN DEN TREND ’2001 (…) Adolf Hitler unser Führer Adolf Hitler unser Held (…) (Interpreten: „Weisser Arischer Widerstand“) (…) alle Juden sind mir gleich, ich mag Skinheads und SA, Türken klatschen, ist doch klar Ich mag Fußball auf dem Rasen, die SS, wenn sie gasen. All das mag ich, und ganz doll NSDAP (…) Die rechte Musikszene ist keine bloße Randerscheinung „Es gibt circa 100 Faschobands, deren Produkte von Hand zu Hand weitergereicht werden. Ihre 42_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … „Die zentralen Themen sind natürlich Rassismus also Türken abstechen, Frauen schänden, das kann man sich gar nicht brutal genug vorstellen. Das zweite Element: antisemitische Grundstimmung: Es gibt Bands, die dezidiert dazu aufrufen, Juden abzustechen. Es ist so, dass die Texte, wenn sie indiziert sind, von den Musikern auf der Bühne gar nicht selber gesungen werden, sondern - da das Publikum das vorher schon weiß - die Bands nur den Anstoß geben müssen, und das Publikum das dann im Chor singt - so daß juristisch schwer etwas zu machen ist gegen diese Bands.“ Wie wirkt Musik? Rechtsextremistische Musik ist dann gegeben, wenn - zumindest in Teilpassagen - gegen § 86 und 86 a oder §130 verstoßen wird, also wenn das Verwenden von verbotenen Kennzeichen, Gewaltverherrlichung Volksverhetzung eine Rolle spielt. Es gibt aber auch Texte, wo lediglich umschrieben Passagen dargestellt werden, die zwar einen gewissen fremdenfeindlichen Eindruck hinterlassen, aber nicht strafrechtlich relevant sind. Die Abgrenzung ist sehr fließend, weil man nicht zu jedem Text sagen kann: Er ist rechtsextremistisch. Vielfach ist bloß ein fremdenfeindlicher Inhalt gegeben, der an sich - wie der rechtsextremistische - nicht strafbar ist. Strafbar wird es erst, wenn Gesetze verletzt werden, wie §86, 86a, Verwendung von verbotenen Kennzeichen, oder Volksverhetzung oder Gewaltverherrlichung.“ Die Strafverfolgungsbehörden müssen den Vertreibern rechtsextremer Medien nachweisen, daß sie zum Zeitpunkt des Vertriebs indizierter Musik informiert waren, dass das Verbreiten verboten wurde. Dieses ist oft so gut wie unmöglich. Überdies wird ein Großteil verbotener Skin-Musik und NS-Propagandamaterial in Skandinavien, Belgien/ Holland und vor allem USA produziert. Da im Ausland aber die Herstellung und Verbeitung von Nazisymbolen erlaubt ist, sehen die Behörden in diesen Ländern keinen Anlaß, den deutschen Behörden bei Rechtshilfeersuchen zu helfen. strafrechtlich relevanten Texte wieder im Kommen sind, jetzt aber in einer anderen Art. Sie werden also nicht mehr in Deutschland hergestellt, sondern vielfach im Ausland, und damit wurde dann ab 1996/97 der deutsche Markt überschwemmt.” „Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften ist die Instanz, die das Gütesiegel vergibt. Jede Naziband ist stolz, wenn sie dieses Gütesiegel hat, weil es den Erfolg in der rechten Szene garantiert. Die Indexliste, die ja frei erhältlich ist, ist in ihrer Wirkung ungefähr das, was die Prohibition in den USA für den Alkoholkonsum war. Das ist bei der Prohibition so gewesen und so ist es auch bei der Nazimusik. Aber wir Deutschen haben leider die Tradition des Obrigkeitsstaates und der Erziehungsdiktatur, und deswegen tun wir alles dafür, daß es auch so bleibt.” Hilft ein Verbot? „Ich glaube, ein Verbot und der Gedanke daran ist zwar typisch deutsch aber immer ein Zeichen völliger Hilfslosigkeit. Da wir in Deutschland keinen Konsens darüber haben, was eigentlich das Problem ist, auch keine Idee, wie der Rassismus in die Köpfe hineinkommt, sehe ich auch schwarz, was die Bekämpfung dieses Problems angeht.” GEGEN DEN TREND ’2001 Jörg Bunk, LKA Sachsen-Anhalt: „Die rechtsextremistische Musikszene - und hier insbesondere die Skinheadszene - war bereits 1992/93 schon einmal im Kommen gewesen und da haben wir bundesweit, in Zusammenarbeit mit der Informationsgruppe gegen fremdenfeindliche und rechtsextremistische Straftaten, 1993 Aktionen durchgeführt. Wir konnten dann die rechtsextremistische Musikszene und auch die Verlage zumindest für zwei Jahre zurückdrängen. Es hat sich dann herausgestellt, - so ab 1995/96 - daß diese rechtsextremistische Szene, vor allem die ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_43 Wie wirkt Musik? Musik und ihre Funktionen (nach Musikpsychologie S.77ff) Der Soziologe Max Weber unterschied in seinen Ausführungen zur Musik zwischen vier grundlegenden, als idealtypisch bezeichneten´ Funktionen: zweckrationalen Funktionen (politisch, wirtschaftlich oder erzieherisch ausgerichtet), traditionalen Funktionen (rituell, geschichtsbezogen, überliefernd), wertrationalen Funktionen (gute - schlechte, schöne - unschöne Musik) und affektbestimmten bzw. emotionalen Funktionen Resonanz, Projektion oder Abreaktion von Stimmungen und Gefühlen; (Weber, 1992). Natürlich greifen diese Funktionen ineinander über und ergänzen sich, und zwar um so mehr, je weniger arbeitsteilig eine Gesellschaft strukturiert ist. GEGEN DEN TREND ’2001 Ein idealtypisch strukturierter Überblick aus heutiger Sicht, ohne explizite Berücksichtigung der historischen Dimension und der unterschiedlichen Genres abendländischer Musik (z.B. Feldmusik, 44_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Volksmusik, Kunstmusik), legt die Trennung in zwei Hauptbereiche nahe: den gesellschaftlichkommunikativen und den individuell-psychischen Bereich (Rösing, 1992). Zum gesellschaftlich-kommunikativen Funktionsbereich zählen: • sakrale Funktionen: Sie haben die Musik des Abendlandes zumindest bis zum Beginn der Säkularisierung entscheidend mitgeprägt; • Repräsentations- bzw. Glorifizierungsfunktionen: Musik als Statussymbol, als klingender Ausdruck von wirtschaftlicher, politischer und/ oder kultureller Potenz; • Festlichkeitsfunktionen: Musik als Rahmen für das Besondere, Außeralltägliche. Das betrifft das Leben des einzelnen (Geburt, Geburtstage, Volljährigkeit, Hochzeit usw.) ebenso wie das gemeinschaftliche Leben (Festtage, Feierstunden, Staatsakte und Funktionen der Bewegungsaktivierung und -koordination: beim Volks- und Gesellschaftstanz (auch in der Disco), bei Musik zur Gruppenarbeit, bei Marsch und Parademusik mit jeweils unterschiedlichen Intentionen; • gemeinschaftsbindende-gruppenstabilisierende Funktionen: Musik bestimmter sozialer Schichten und Gruppen, die sich jeweils mit dem Sinn ihrer Musik identifizieren (in gruppenübergreifendem Sinn die Nationalhymne als musikalisches Symbol einer Nation); • erzieherische Funktionen: Musik als Mittel zur Bildung, zur «richtigen» Gesinnung, zur Etablierung von ästhetischen Normen; • geseIIschaftliche Funktionen: Musik wie Kunst überhaupt) als Ausdrucksmittel von Minderheiten, um auf Mißstände in der Gesellschaft hinzuweisen und um neue Utopien zu artikulieren, Musik der Sub- und Gegenkulturen; • Verständigungsfunktionen: Musik als Metasprache als symbolhaltiges Kommunikationsmedium neben der Sprache und über die Sprache hinaus; Wie wirkt Musik? • Kontaktfunktionen: Musik als nonverbales Medium der Kontaktaufnahme und zur Klärung zwischenmenschlicher (meist positiver) Beziehungen; • Funktionen der Selbstverwirklichung: besonders beim eigenen Musikmachen, aber durchaus auch beim gezielten und eigenbestimmten Musikhören. Alle diese dem gesellschaftlich-kommunikativen Funktionsbereich zugeordneten, einander durchaus ergänzenden und überlagernden Teilfunktionen sind hochgradig abhängig vom jeweiligen Die Teilfunktionen im individuell-psychischen Funktionsbereich dagegen sind weniger kontextabhängig und stärker personenorientiert. Die Aneignung und Vergegenständlichung erfolgt vornehmlich durch Subjektivierung, also z. B. durch Assoziationen und Imaginationen im Hinblick auf die eigene psychische Bedürfnislage. Im einzelnen lassen sich hier die folgenden Teilfunktionen benennen: • emotionale Kompensationsfunktion: die Projektion oder Abreaktion von Stimmungen, Gefühlen, Wünschen, Träumen und Vorstellungen durch Musik; • Funktion der Einsamkeitsüberbrückung: Musik suggeriert durch Identifikationsangebote Verbindungen zum gesellschaftlichen Umfeld, die real nicht gegeben sind; • Konfliktbewältigungsfunktion: die Flucht aus den Sachzwängen des Alltags durch meist regressive Versenkung in das abstrakte und realitätsüberhöhende Medium Musik, Musik als Drogenersatz; • Entspannungsfunktion: Musik als streßregulierendes, Emotionen glättendes und Diskrepanzen innerhalb des Selbst verdrängendes Therapeutikum; • Aktivierungsfunktion: geistige und körperliche Stimulierung und Stimmungsoptimierung durch entsprechende, dem eigenen Geschmack angepaßte Musik; • Unterhaltungsfunktion: Empfinden von Spaß, Wohlgefallen und Lustgewinn durch Anpassungs- und Identifikationsprozesse bei als schön empfundener Musik. Die vom realen Aufführungsanlass losgelöste Musikwiedergabe über Lautsprecher hat fraglos zur Dominanz der individuell-psychischen gegenüber den gesellschaftlich-kommunikativen Funktionen in unserer Gesellschaft beigetragen (Rösing, ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_45 GEGEN DEN TREND ’2001 situativen Kontext, also von der spezifischen musikalischen Aufführungs- bzw. Darbietungssituation (Behne, 1991). Sie beruhen, wahrnehmungspsychologisch gesehen, auf Aneignungs- und Vergegenständlichungsstrategien von Musik durch Objektivierung im Sinne vorgegebener gesellschaftlicher Normen (Oerter, 1991) handlungs- theoretische Fundierung, hier von Musizieren und Musikerleben). Wie wirkt Musik? GEGEN DEN TREND ’2001 1992). Auf diese Weise werde – so Theodor W. Adorno unter kulturkritischem Blickwinkel - ein falsches Bewußtsein geschaffen. Musik diene heutzutage vornehmlich der unterhaltsamen Ablenkung, als Freudenbringer und schwindelhaftes Versprechen von Glück, als Ersatzbefriedigung und Selbstbestätigung («Radau als Triumph»), als Illusion von Unmittelbarkeit in einer total verwalteten Welt, als triebdynamischer Abwehrmechanismus, als Dressur des Unbewussten auf bedingte Reflexe. Eine derart funktionalisierte Musik sei rückhaltlos der herrschenden Ideologie übereignet, Abbild der gesellschaftlichen Situation, in der sie produziert und rezipiert wird (Adorno, 1962, Kap. III). Entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung haben die schriftliche Verdinglichung (Notation) von Musik und ihre Speicherung auf Tonträger gehabt. Roger Moch 46_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Literatur: Böhm, Uwe; Buschmann, Gerd Popmusik – Religion –Unterricht: Modelle und Materialien zur Didaktik von PopularkulturMünster: LIT, 2000 (Symbol – Mythos – Medien, 5) ISBN 3-8258-5179-6 Bruhn, Herbert; Oerter, Rolf; Rösing, Helmut (hg.) Musikpsychologie Reinbek bei Hamburg, April 1993, 3. Auflage 1997 3690-ISBN- 3 499 55526 3 Schröder, Burkhard Nazis sind Pop ESPRESSO Verlag GmbH, Berlin ISBN 3 – 88520-779-6 Beten, Texte zum Mitdenken und Nachsprechen Evangelische Jugend, Landesjugendpfarramt d. Ev.-luth. Landeskirche Hannovers ›› Die Welt zertrümmern?! Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten Vorbemerkung Dear Senator Lieberman. Weite Teile dieses Artikels sind der Examensarbeit von Carsten Stöver entnommen, die an der Universität Oldenburg im Fach Musik (Fachbereich 2 Kommunikation/Ästhetik) entstanden ist und einen detaillierten Einblick in die Wirkungszusammenhänge von Musik, Persönlichkeit und Gewalt bietet. Ich bedanke mich in diesem Zusammenhang ganz herzlich für die Zusammenarbeit mit Herrn Stöver.1 As part our families normal daily behaviour on the morning of December 12th, 1996, my wife started our son´s shower and went to wake him. But our son was not sleeping at bed, he was dead, he had killed himself. He has left us and is never coming back. Einleitung GEGEN DEN TREND ’2001 Die Diskussion, ob Musik in der Lage ist, menschliche Verhaltensweisen derart zu beeinflussen, dass der Mensch zur Anwendung physischer Gewalt neigt, oder aber die Musik zumindest die Ausführung von Gewalttaten begünstigen kann, besteht schon lange und geht einher mit Diskussionen um die Frage, ob und inwieweit Musik konkrete Auswirkungen auf Psyche und Verhalten des Menschen haben kann. Die Diskussion um die Wirkung von Musik und der Frage, ob denn Musik menschliche Gewalttaten auslösen oder aber zu Gewalttaten animieren könne, ist gegenwärtig immer noch aktuell. Vor dem Hintergrund einer steigenden Gewalt von Schülern an Schulen und eines Aufkommens neonazistischer, gewaltbereiter Jugendsubkulturen wird breit erörtert, inwieweit die von Jugendlichen konsumierte Musik im Prozess der Gewaltentstehung involviert ist oder sogar Auslöser für Gewalttaten sein kann.2 In einem Brief vom 13. Februar 1997 an Senator Joseph Lieberman, Washington DC, schreiben Richard und Christine Kuntz: 48_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Dear sir, my son was listening to Marylin Manson´s ,,Antichrist Superstar” on the stereo when he died, (...) with the rough draft of a 10th grade English class paper about this artist, that his teacher had returned to him that day for final revisions, on the stand next to his body. The lyrics (enclosed) of ,,The Reflecting God”, on that CD, read as an unequivocally direct inducement to take one’s own life. (...) We are all certainly free to make our own decisions regarding the value of content, but if you were to ask me, I´d say that the lyrics of this song, contributed directly to my son´s death. (...) Sir, this music, because it glorifies inhumane intolerance and hate, and promotes suicide, contradicts all of the community values that people of good will, regardless of faith, ideology, economic or social position, share. Simply put, this music hurts us as a people. Our children are quietly being destroyed (dying), by this man´s music, by ones and twos in scattered isolation throughout our nation today. (...) Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten Der Selbstmord des 15jährigen Richard Kuntz, der sich während des Hörens eines Titels von Marylin Manson umgebracht haben soll, löste in der USA eine Debatte über die Rolle der von Jugendlichen konsumierten Musik aus, inwieweit sie Gewalttaten begünstige oder verursache. Für die Eltern des Jugendlichen und auch für eine breite Öffentlichkeit in Amerika ergibt sich in diesem Fall ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Selbstmordtat und der konsumierten Musik, da der nihilistische Text des gehörten MarylinManson-Titels den Selbstmord verherrliche und Richard Kuntz beim Hören dieses Songs Selbstmord verübte; ergo muss seine Entscheidung zum Selbstmord durch die konsumierte Musik ausgelöst worden sein. Eine populäre Meinung scheint es demnach zu sein, dass Musik direkt das menschliche Verhalten beeinflusst und somit auch Gewalttaten verursachen kann.3 Rockmusik gilt als gewalttätig in ihrem gesamten Auftreten und in ihrer musikalische Geste. Dies zu leugnen hieße große Bereiche der Rockmusik um ihre Substanz zu betrügen. Als Ausdruck des Aufbegehrens gegen gesellschaftliche Verkrustungen ist sie entstanden. Die 68er-Bewegung ist zum großen Teil auch musikalisch auf diese Weise bewegt. „Macht kaputt, was Euch kaputt macht” hieß es dann in den 80er Jahren in Deutschland – die atomare Bedrohung im Nacken fühlend. Umso erstaunlicher ist es, dass man den Vorwurf des Faschismus gegen die Rockmusik häufig genug in Stellung bringt. Dieser Vorwurf bezieht sich im wesentlichen auf die große Lautstärke von rockmusikalischen Darbietungen. Gewalt an Ohr und Hirn. Damit wird ein Phänomen herangezogen, das zweifellos vorhanden ist. Aber dieser Vorwurf betrifft nicht nur die Rockmusik. Es ist nicht zu bestreiten, dass von Musik physische und psychische Wirkungen grundlegendster Art ausgehen. Musik tut den Menschen immer etwas an. Musik berührt. Und dieser Berührung kann man sich schlecht entziehen. Augen kann man schließen, Ohren kann man bestenfalls zustopfen. Es ist zu fragen, ob erhebliche musikalische Lautstärke eine Form der Gewalt ist, „die eine Ausübung von physischem oder psychischem Zwang darstellt, die mit dem Ziel verbunden ist, Personen oder Sachen zu schädigen”. Diesen Vorsatz wird ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_49 GEGEN DEN TREND ’2001 Die Annahme, dass Musikkonsum Gewalttaten auslösen kann, wird auch zugrunde gelegt, wenn die Entstehung von Gewalt und Krawallen während und nach Rockkonzerten erklärt und eine Ursache für die Genese dieser Gewalt gefunden werden soll. Deshalb hier noch ein Beispiel, welches die gängige Meinung belegt, dass Musik eine verhaltensmodulierende, zur Gewaltanwendung führende Wirkung besitzt: Im New Yorker Central Park überfielen im Jahre 1989 sechs Jugendliche eine Joggerin und vergewaltigten sie, während aus einem Ghettoblaster Rapmusik ertönte. Die sich aus diesem Vorfall entwickelnde Diskussion wurde auf der Basis der Unterstellung, dass die Musik mit ihren gewaltverherrlichenden Texten aus dem Ghettoblaster tatauslösend gewesen sei, geführt.4 Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten man nur selten antreffen. Dass man eine Schädigung von Personen billigend in Kauf nimmt, das wird jedoch häufiger der Fall sein. Aber im Fall der Rockmusik unterstellt man gern, dass diese Musik nicht nur gewalttätig sei, sondern auch zur Gewalt gegen Personen und Sachen anstachele.5 Es ist interessant, dass es zwar jede Menge Meinungen gibt, die eine gewaltauslösende und aggressionsfördernde Wirkung von Musik bejahen, aber kaum wissenschaftliche Untersuchungen als Beleg oder zur Widerlegung dieser Meinungen. Auch erscheint der Hinweis wichtig, dass Musik als solche nicht aggressiv sein kann. Die Bewertung von Musik hinsichtlich ihrer „Aggressivität” kann nie ein objektives Kriterium sein, sondern resultiert aus subjektiven Einschätzungen. Inhalt der Studie, Fragestellungen und Hypothesen der Studie von C. Stöver GEGEN DEN TREND ’2001 Die wissenschaftliche Diskussion um „Musik und Gewalt” konstatiert auf der einen Seite gewalttätige Handlungen im Umfeld gewisser Musikdarbietungen, wozu auf der anderen Seite die „Katharsisthese” im Widerspruch zu stehen scheint, der zufolge Musik der Abfuhr von Energien, der Verarbeitung von Gewaltphantasien und damit der Behinderung gewalttätiger Handlungen dienen kann. C. Stöver führt dazu in seiner Arbeit aus: Ebenso bleibt insgesamt festzuhalten, dass in der Literatur eine relativ hohe Übereinstimmung darin besteht, dass Musik langfristig keine kathartische Wirkung hat.6 Die Frage, ob Musik Einfluss auf die Aggressivität einer Person hat oder ob Musik aggressives Verhalten auslösen kann lässt sich dagegen scheinbar noch nicht generell beant- 50_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … worten. Allenfalls lässt sich belegen, dass unter bestimmten Bedingungen mögliche Effekte bei bestimmten Personen mit speziellen persönlichen oder sozialen Hintergründen auftreten können.7 Mit anderen Worten müsste man die Frage wohl mit einem „es kommt darauf an” beantworten. Für wahrscheinlicher halte ich dagegen die Theorie, dass Aggressivität als Persönlichkeitsmerkmal auf die Beurteilung von Musik bzw. auf andere Aspekte des Musikkonsums einwirkt, wobei hier zu fragen ist, auf welche Aspekte des Musikkonsums eine derartige Abhängigkeit zutrifft. Aufgrund der dargestellten besonderen Bedeutung von Musik für Jugendliche beziehen sich die im folgenden dargestellten Vermutungen insbesondere auf diesen Personenkreis.8 Stöver untersucht in seiner Studie die „Neigung zu aggressivem Verhalten”, die er mit den jeweiligen Musikpräferenzen, charakteristischen Umgangsweisen mit Musik, Musikverwendung in Situationen von Ärger und Trauer sowie dem Stellenwert, den Musik für die Jugendlichen hat, in Beziehung setzt. Er formuliert folgende Hypothesen, die er mit Hilfe einer Befragung (Fragebogenaktion) von 200 Jugendlichen aus acht städtischen und sechs ländlichen Jugendzentren überprüfte. Hypothesenbildung Hypothese 1: Die Präferenz von bestimmten Musikstilen ist bei Jugendlichen abhängig vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”. Hypothese 1.1.: Je stärker das Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” bei Jugendlichen ausgeprägt ist, desto stärker präferieren sie subjektiv als aggressiv Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten empfundene Musik. Hypothese 2: Die musikalischen Präferenzen von Jugendlichen in stark emotional geprägten, subjektiv als negativ bewerteten Situationen sind abhängig vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”. Hypothese 2.1.: Die musikalischen Präferenzen von Jugendlichen in Situationen des Ärgers unterscheiden sich von den musikalischen Präferenzen in Situationen der Trauer. Hypothese 2.2.: Die musikalischen Präferenzen von Jugendlichen in Situationen des Ärgers sind abhängig vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”. Hypothese 2.3.: Die musikalischen Präferenzen von Jugendlichen in Situationen der Trauer sind abhängig vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”. Hypothese 2.4.: Je stärker das Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” bei Jugendlichen ausgeprägt ist, desto aggressiver und erregender soll die Musik in stark emotional geprägten, subjektiv als negativ bewerteten Situationen sein. Hypothese 3: Die Umgangsweise von Jugendlichen mit Musik ist abhängig vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”. Hypothese 3.3.: Bei Jugendlichen mit einer hohen Neigung zu aggressivem Verhalten ist die Tendenz, mit Musik verstärkt stimulativ umzugehen, stärker ausgeprägt, wenn Musik einen hohen Stellenwert einnimmt. Hypothese 3.4.: Bei Jugendlichen mit einer hohen Neigung zu aggressivem Verhalten ist die Tendenz, mit Musik verstärkt kompensatorisch umzugehen, stärker ausgeprägt, wenn Musik einen hohen Stellenwert einnimmt. Der Fragebogen Der empirische Teil der Studie von C. Stöver umfasst zwei Teile: die Durchführung eines standardisierten Tests zum Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” und die Befragung der Jugendlichen hinsichtlich des Musikkonsums. Die Untersuchung sollte sich an etwa 12- bis 20-jährige Jugendliche richten und die Durchführung an verschiedenen Jugendzentren erfolgen. Um die Aussagekraft der Studie zu erhöhen, wurden dabei verschiedene Wohnregionen (Stadt Oldenburg und Landkreis Ammerland) berücksichtigt.9 Aus den Telefonverzeichnissen der Stadt Oldenburg und dem Landkreis Ammerland wurden die aufgeführten Jugendzentren und Jugendfreizeitstätten herausgesucht und bezüglich ihrer Bereitschaft zur Teilnahme an dieser empirischen Studie angesprochen. Von den kontaktierten Jugendzentren und Jugendfreizeitstätten gaben alle ihr Einverständnis zur Durchführung der ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_51 GEGEN DEN TREND ’2001 Hypothese 3.1.: Jugendliche mit einer hohen Neigung zu aggressivem Verhalten tendieren dazu, mit Musik verstärkt stimulativ umzugehen. Bzw.: Jugendliche mit einer geringen Neigung zu aggressivem Verhalten tendieren dazu, mit Musik weniger stark stimulativ umzugehen. Hypothese 3.2.: Jugendliche mit einer hohen Neigung zu aggressivem Verhalten tendieren dazu, mit Musik verstärkt kompensatorisch umzugehen. Bzw.: Jugendliche mit einer geringen Neigung zu aggressivem Verhalten tendieren dazu, mit Musik weniger stark kompensatorisch umzugehen. Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten Befragung. Insgesamt war im allgemeinen großes Interesse, Offenheit und Teilnahmebereitschaft sowohl von Seiten der Mitarbeiter in den Jugendzentren als auch insbesondere bei den Jugendlichen zu beobachten. Die Darstellung des genauen Verfahrens zur Erstellung des Fragebogens würde den Rahmen dieses Artikels sprengen.10 Der Fragebogen erfasste im folgende Aspekte: 1. Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” 2. Merkmale hinsichtlich des Musikkonsums: • präferierte Musikrichtungen • zum Zeitpunkt der Untersuchung präferierte Musikstücke und Interpreten • Stellenwert von Musik • musikalische Präferenzen in der Situationen des Ärgers und der Trauer • Begründung dieser situativen Präferenzen • Umgangsweisen mit Musik 3. Merkmale zur Person GEGEN DEN TREND ’2001 • • • • Alter Geschlecht Schulform Wohnregion Um eine computergestützte und zugleich ökonomische Auszählung der Ergebnisse zu ermöglichen, wurden im wesentlichen Fragen mit festgelegten Antwortalternativen (geschlossene Fragen) ausgewählt. Lediglich an den Stellen, wo die potentiellen Antwortmöglichkeiten vorab nicht abzuschätzen sind, wurde offenen Fragen der Vorzug gegeben.11 Bezogen auf seinen Umfang wurde dieser Fragebogen so konzipiert, dass die Durchführung der Befragung einschließlich einer Einführung in ca. 15 Minuten erfolgen kann. 52_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten Hier nun der Fragebogen: Fragebogen zum Zusammenhang von Persönlichkeit und Musikkonsum Fragebogen-Nr. ➊ Zunächst wirst Du ein paar Aussagen über bestimmte Verhaltensweisen, Einstellungen und Gewohnheiten finden. Beantworte bitte jede mit „stimmt” oder mit „stimmt nicht”. Es gibt hier keine richtigen oder falschen Antworten, weil jeder Mensch das Recht zu eigenen Anschauungen hat. Antworte bitte so, wie es für Dich zutrifft. Beachte: Überlege bitte nicht erst, welche Antwort vielleicht den „besten Eindruck” machen könnte, sondern antworte so, wie es für Dich persönlich gilt. Manche Fragen kommen Dir vielleicht sehr persönlich vor. Bedenke aber, dass Deine Angaben wirklich vertraulich behandelt werden und Du Deinen Namen nicht angeben musst. Denke nicht lange über einen Satz nach, sondern antworte so, wie es Dir unmittelbar in den Sinn kommt. Auch wenn vielleicht einige Fragen nicht so gut passen, kreuze bitte trotzdem immer die Antwort an, die noch am ehesten auf Dich zutrifft. stimmt stimmt nicht 1. Wenn jemand meinem Freund etwas Böses tut, bin ich dabei, wenn es heimgezahlt wird. 2. Ich kann mich erinnern, mal so zornig gewesen zu sein, dass ich irgend etwas nahm und es zerriss oder zerschlug. 3. Wenn ich in einer ausgelassenen, lustigen Gruppe bin, habe ich häufig Lust, üble Streiche zu spielen. 4. Ich überlege mir manchmal, wie schlecht es denen eigentlich ergehen müsste, die mir Unrecht tun. 5. Als Kind habe ich manchmal ganz gerne anderen die Arme umgedreht, an Haaren gezogen, ein Bein gestellt usw. 6. Es macht mir Spaß, anderen ihre Fehler zu zeigen. 7. Wenn ich körperlich gewalttätig werden muss, um meine Rechte zu verteidigen, dann tue ich es. 8. Wenn mich jemand anschreit, schreie ich zurück. 9. Wenn ich wirklich wütend werde, bin ich in der Lage jemandem eine runterzuhauen. 11. Lieber bis zum Äußersten gehen als feige sein. 12. Es gab Leute, die mich so ärgerten, dass es zu einer handfesten Auseinandersetzung (z.B. einer Schlägerei) kam. ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_53 GEGEN DEN TREND ’2001 10. Einem Menschen, der mich schlecht behandelt oder beleidigt hat, wünsche ich eine harte Strafe. Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten Die jetzt folgenden Fragen drehen sich ausschließlich um Musik. ➋ Zuerst möchte ich gerne etwas über Deinen Musikgeschmack erfahren. Nenne dazu bitte drei Musikstücke, die Dir im Moment sehr gut gefallen. Schreibe bitte die Musiktitel und die jeweiligen Interpreten/Interpretinnen auf. Wenn Du nicht alle Angaben ganz genau weißt, dann lasse die Stelle einfach frei. 1. Titel: Interpreten/Interpretinnen: 2. Titel: Interpreten/Interpretinnen: 3. Titel: Interpreten/Interpretinnen: ➌ Bitte gebe nun jeweils an, wie gut Dir die folgenden Musikarten gefallen. gefällt mir be- höre ich auch gefällt mir gefällt mir keine Meinung/ sonders gut (4) noch gern (3) weniger (2) gar nicht (1) mir unbekannt (0) 1. Schlagermusik 2. Techno/House 3. HipHop/Rap 4. Rockmusik 5. Heavy-Metal 6. Popmusik 7. Punk 8. Soul 9. Gothic/Dark Wave/EBM (Electronic Body Music) GEGEN DEN TREND ’2001 10. SoftRock 11. Rechtsrock/rechte Rockmusik/Oi!-Musik 12. Dancefloor/Technopop 13. Grunge 14. aggressive Musik 54_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten ➍ Jetzt möchte ich erfahren, wie wichtig Musik für Dich ist. stimmt gar nicht (0) stimmt wenig (1) stimmt ziemlich (2) stimmt völlig (3) 1. Für ein wichtiges Konzert fahre ich auch sehr weit. 2. Ich sammle Texte, Bilder, Bücher usw. über Musik. 3. Ich lese Zeitschriften, um mich über Musik zu informieren. 4. Ohne Musik würde mir etwas sehr Wichtiges fehlen. 5. Ich höre CDs, Kassetten oder Schallplatten. 6. Ich tausche, leihe und überspiele CDs, Kassetten oder Schallplatten. 7. Wenn ich für längere Zeit keine Musik hören kann, werde ich ganz unruhig. ➎ Stell Dir bitte einmal folgende Situation vor: Du hast Dich mit Deinem besten Freund/Deiner besten Freundin heftig gestritten und bist jetzt stinksauer auf ihn/sie. Wenn Du nun Musik einschalten könntest, die Du in dieser Situation am liebsten hören würdest, wie sollte diese Musik sein? Mache bitte in jeder Zeile ein Kreuz! ➠ ➠ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ langsam hart ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ weich heiter ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ trübe aggressiv ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ friedvoll traurig ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ froh lebhaft ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ müde erregend ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ beruhigend nüchtern ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ gefühlvoll (0) (1) (2) (3) (4) (5) Könntest Du auch kurz begründen, warum die Musik so und nicht anders sein sollte? ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_55 GEGEN DEN TREND ’2001 schnell Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten Versuche Dich jetzt einmal an eine Situation zu erinnern, in der Du unheimlich traurig warst. Wenn Du nun Musik einschalten könntest, die Du in dieser Situation am liebsten hören würdest, wie sollte diese Musik sein? Mache bitte in jeder Zeile ein Kreuz! ➠ ➠ schnell ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ langsam hart ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ weich heiter ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ trübe aggressiv ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ friedvoll traurig ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ froh lebhaft ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ müde erregend ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ beruhigend nüchtern ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ gefühlvoll (0) (1) (2) (3) (4) (5) Könntest Du auch kurz begründen, warum die Musik so und nicht anders sein sollte? ➏ Im folgenden findest Du eine Reihe von Feststellungen, Behauptungen und Beschreibungen, die etwas mit Musikhören zu tun haben. Einigen wirst Du persönlich zustimmen können, anderen nicht. Manchmal ist es aber nicht leicht, eindeutig ja oder nein zu sagen. Versuche deshalb, die einzelnen Aussagen mit Zahlen von 1 bis 5 (ähnlich wie mit Zensuren) daraufhin zu bewerten, ob sie für Dich persönlich zutreffen. Denke dabei an die Musikstücke, die Du zur Zeit gut findest. Dabei bedeutet: 1 Absolut richtig – diese Aussage trifft genau auf mich zu; 2 Einigermaßen richtig – diese Aussage trifft mit Einschränkungen auf mich zu; 3 Unentschieden – da kann man weder ja noch nein sagen; 4 Eher falsch – diese Aussage stimmt für mich im Allgemeinen nicht, manchmal trifft sie aber vielleicht doch zu; 5 Absolut falsch – diese Aussage trifft auf mich überhaupt nicht zu. GEGEN DEN TREND ’2001 Wenn ich Musik höre … Bewertung von 1 bis 5 hier eintragen: 1 … singe oder summe ich oft mit. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 2 … habe ich oft bildhafte Vorstellungen. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 3 … kann es sein, dass mir die Musik regelrecht unter die Haut geht. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 4 … versuche ich gleich zu erkennen, welche Art von Musik das sein könnte (z.B. Rock, Jazz, Folk, klassische Musik, ...). - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 5 … möchte ich mich am liebsten immer bewegen. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 56_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten 6 … höre ich gern nur mit einem Ohr zu.- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 7 … kann es sein, dass ich bestimmte körperliche Wirkungen (Veränderungen des Herzschlages, Kribbeln auf der Haut, Gefühl im Magen, ...) spüre. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 8 … versuche ich den Text (wenn vorhanden) zu verstehen. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 9 … achte ich auch darauf, welche Gefühle durch die Musik ausgedrückt werden.- - - - - - - - - - - - - - [ ] 10 … träume ich am liebsten. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 11 … kann es sein, dass mich der Rhythmus ganz gefangen hält. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 12 … höre ich hin und wieder gezielt bestimmte Instrumente heraus. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 13 … ist eine höhere Lautstärke für mich wichtig. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 14 … werde ich an Dinge erinnert, die ich früher erlebt habe. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 15 … kann ich mich richtig beruhigen, wenn ich vorher aufgeregt war. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 16 … kann es sein, dass ich meine Stimmungen in der Musik wiederfinde. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 17 … fühle ich mich weniger einsam. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 18 … versuche ich, den Aufbau des Stückes (Wiederholungen, Veränderungen) zu verstehen. - - - - - [ ] 19 … mache ich gern etwas ganz anderes. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 20 … kann es sein, dass ich sehr erregt, angriffslustig, aggressiv werde. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 21 … kann es sein, dass ich eine ganze Geschichte zur Musik erfinde, so als wenn ein Film in mir abläuft. [ ] 22 … regt sie mich an, über mich nachzudenken. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 23 … setze ich mich irgendwie anders hin als sonst. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 24 … soll sie mich auf andere Gedanken bringen, unangenehme Stimmungen aus meinem Kopf vertreiben. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 25 … kann es sein, dass ich am liebsten weinen möchte. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 26 … möchte ich ganz weit weg sein. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 27 … höre ich vor allem mit dem Gefühl. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 28 … mache ich gern die Augen zu. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] 29 … finde ich es interessant, die verschiedenen Themen, Melodien und Rhythmen zu verfolgen. - - [ ] 30 … bringt sie mich in eine andere Stimmung. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [ ] Ich bin Jahre alt. ❐ weiblich ❐ männlich ❐ Abitur oder Fachabitur Welchen Schulabschluss hast Du oder strebst Du an? ❐ Hauptschulabschluss ❐ Realschulabschluss Ganz vielen Dank für Deine Mitarbeit! ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_57 GEGEN DEN TREND ’2001 ➐ Abschließend nur noch ein paar Fragen zu Deiner Person: Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten Analyse12 und Untersuchungsergebnisse Einfluss von Geschlecht, Alter, besuchter Schulform und Wohnregion auf das Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” Tab. 1: Verteilung des Skalenwerts für das Persönlichkeitsmerkmals „Aggressivität” in der Stichprobe Gültig Häufigkeit Prozent Kumulierte Prozente 3 1 ,5 ,5 4 13 6,4 6,9 5 40 19,8 26,7 6 60 29,7 56,4 7 49 24,3 80,7 8 22 10,9 91,6 9 17 8,4 100,0 202 100,0 Gesamt Tab. 2: Abhängigkeit des Persönlichkeitsmerkmals „Aggressivität” von Geschlecht, Alter, Schulabschluss und Wohnregion Persönlichkeitsmerkmal "Aggressivität" (Skalenwert) Geschlecht der Person Mittelwert N Standardabweichung weiblich 6,69 78 1,32 männlich 6,17 124 1,32 Insgesamt 6,37 202 1,34 GEGEN DEN TREND ’2001 Altersgruppen Mittelwert N Standardabweichung 12-14 Jahre 6,59 41 1,55 15-16 Jahre 6,41 78 1,38 17-18 Jahre 6,34 50 1,22 19-24 Jahre 6,06 31 1,15 Welchen Schulabschluss hast Du oder strebst Du an? Mittelwert N Standardabweichung Hauptschule 6,56 57 1,21 Realschule 6,29 100 1,42 Abitur oder Fachabitur 6,19 36 1,33 58_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten Wohnort der Person Mittelwert N Standardabweichung Oldenburg 6,39 94 1,42 Ammerland 6,35 108 1,28 Zunächst ist einmal auffällig der relativ hohe Gesamtmittelwert (Mittelwert 6,37) für das Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”, da als repräsentative Vergleichsdaten in der Handanweisung zum FPI-R für Männer zwischen 16 und 24 Jahren ein Mittelwert von 5,44 und für Frauen in diesem Alter ein Mittelwert von 4,33 angegeben wird.13 Jedoch ist zu beachten, dass in der Normstichprobe zum FPI-R auch die Standardabweichungen wesentlich größer als in dieser Untersuchung waren (Männer: s = 3,27; Frauen: s = 2,88)14, wodurch die Unterschiede in den Mittelwerten weniger aussagekräftig werden. Wie bei der Skalenkonstruktion vom FPI-R vorgesehen, lagen etwa 54%15 (exakter Wert in dieser Untersuchung: 55,9%) der Stichprobe im mittleren Skalenbereich, d.h. im Bereich von 4 bis 6. Während jedoch der Anteil der Jugendlichen mit einem hohen Skalenwert (7 bis 9) bei 43,6% liegt, sind Jugendliche mit einem niedrigen Skalenwert (1 bis 3) bis auf eine Ausnahme nicht vorhanden (vgl. Tab. 7). Aufgrund der Tatsache, dass in den bereits erwähnten Vergleichsdaten die Männer im Durchschnitt eine höhere Neigung zu aggressivem Verhalten aufwiesen, ist der in dieser Studie vorhandene signifikant höhere Wert für Frauen (vgl. Tab. 8 und 9) besonders hervorstechend. ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_59 GEGEN DEN TREND ’2001 Über die Gründe dieser Ergebnisse kann an dieser Stelle nur spekuliert werden. Eine Erklärungsmöglichkeit für das relativ hohe durchschnittliche Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” ist, dass Jugendliche heute wohl im allgemeinen mit Emotionen offener umgehen als zum Zeitpunkt der Repräsentativerhebung zum FPI-R (1982). So sind auch in den Begründungen für die Musikpräferenzen in Situationen des Ärgers häufiger Aussagen wie etwa „ (...) ich lebe meine Gefühle eher aus als dass ich gegen sie arbeite”16 und „weil ich gerade in der Stimmung bin und so bin ich halt”17 zu finden. Eine weitere mögliche Ursache könnte aber auch in der Sozialstruktur der Besucher von Jugendfreizeitstätten liegen. Aus einer Untersuchung von Freizeitstätten aus ganz Deutschland ergab sich, dass „Besucher aus unteren Statusgruppen (...) leicht überrepräsentiert”18 sind. Es ist anzunehmen, dass die Jugendlichen aus dieser sogenannten unteren Sozialschicht eine schichtspezifische Sozialisationserfahrung haben. Das, was sie im Alltag an eventueller Unterdrückung und Frustration erfahren (z.B. in Familie, Schule und Arbeitsplatz), spiegelt sich in ihrem Freizeitverhalten wider. In diesem Kontext kann die Freizeitstätte durchaus auch als ein Ort verstanden werden, der Jugendlichen die Möglichkeit bietet, aus den vorgegebenen Bahnen auszubrechen und die eventuell erfahrenen Frustrationen unmittelbar abzureagieren. So erwarten Jugendliche nach Krisam & Tegethoff in einer Freizeitstätte stets die Möglichkeit einer lärmenden und geselligen Atmosphäre.19 Dieser ‘lärmende’ Umgang von Jugendlichen beinhaltet eine gewisse Form von Aggressivität, jedoch ist von Bedeutung, „dass (diese) Aggressivität nicht als ein nach außen und gegen andere Besucher gerichtetes, sondern als ein sich selbst befreiendes, enthemmendes Verhalten verstanden wird.”20 Ebenso wäre denkbar, dass Jugendliche durch Konsumangebote in dem von der Freizeitstätte scheinbar angebotenen Freiraum eine Entschädigung für erfahrene Frustration erwarten.21 Es wird jedoch z.B. bei Grauer auch betont, dass „Besucher von Freizeit(stätten) im Großen und Ganzen nicht als eine charakteristische Untergruppe in bezug auf bedeutsame Merkmale des sozialen Milieus und der Familiensituation (...) anzusehen sind.”22 Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten Das höhere Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” bei weiblichen Jugendlichen in dieser Studie könnte ebenfalls mit dem Lebenskontext Jugendzentrum in Zusammenhang gebracht werden. Es ist zu vermuten, dass insbesondere bei weiblichen Besuchern von Jugendzentren besondere charakteristische Merkmale, wie etwa ein stark ausgeprägtes Durchsetzungsvermögen, notwendig sind, um in diesen vorwiegend von männlichen Jugendlichen besuchten Freizeiteinrichtungen zurechtzukommen. Tab. 3: Korrelationen des Skalenwerts für das Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” mit Geschlecht, Alter, Schulabschluss und Wohnort Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität„ (Skalenwert) Geschlecht der Person Altersangabe Welchen Schulabschluss hast Du oder strebst Du an? Wohnort der Person -,190 (**) -,128 -,099 -,016 202 200 193 202 Korrelation nach Pearson N ** Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant. Vergleicht man die Mittelwerte des Persönlichkeitsmerkmals „Aggressivität” mit der Variable „Alter”, so fällt auf, dass die Jugendlichen mit zunehmenden Alter eine kontinuierlich weniger stark ausgeprägte Neigung zu aggressivem Verhalten aufweisen. Jedoch erweisen sich diese Abweichungen nicht als signifikant. Dennoch ist anzunehmen, dass bei einer Stichprobe mit größerer Altersspanne der Probanden eine signifikante Auswirkung auf das Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” zu verzeichnen gewesen wäre. Auch vom Schulabschluss der befragten Jugendlichen hängt der Skalenwert für das Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” nur geringfügig zusammen (vgl. Tab. 3). Die Gymnasiasten weisen hier mit einem Mittelwert von 6,19 die geringste, die Hauptschüler mit 6,56 die höchste Neigung zu aggressivem Verhalten auf. Eine Abhängigkeit von der Wohnregion konnte nicht ausgemacht werden (vgl. Tab. 2 und Tab. 3). Um im Folgenden die Abhängigkeit der verschiedenen Aspekte des Musikkonsums vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” zu untersuchen, wurden die einzelnen Skalenwerte aufgrund von zum Teil sehr geringen Häufigkeiten zu vier „Aggressivitätsgruppen” zusammengefasst (vgl. Tab. 4). GEGEN DEN TREND ’2001 Tab. 4: „Aggressivitätsgruppen“ Häufigkeit Prozent Kumulierte Prozente Gruppe 1: Skalenwerte 3 bis 5 54 26,7 26,7 Gruppe 2: Skalenwert 6 60 29,7 56,4 Gruppe 3: Skalenwert 7 49 24,3 80,7 Gruppe 4: Skalenwerte 8 und 9 39 19,3 100,0 60_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse Insgesamt lässt sich festhalten, dass mit zunehmender Neigung zu aggressivem Verhalten auch die Präferenz von subjektiv als aggressiv empfundener Musik stärker wird (Bestätigung der Hypothese 1.1.). Die Einfluss der Aggressivität auf die Präferenzen zu den erhobenen Musikstilen scheint dagegen nur relativ gering zu sein. Hier ergibt sich nur eine signifikante Abhängigkeit bei Schlagermusik, die sich als geschlechtsspezifisch erweist (vgl. Kapitel 6.2.). Obwohl darüber hinaus bei mehreren anderen Musikrichtungen durchaus weitere (varianzanalytisch nicht signifikante) Tendenzen zu beobachten sind, kann Hypothese 1 (Die Präferenz von bestimmten Musikstilen ist bei Jugendlichen abhängig vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”.) im Gegensatz zu Hypothese 1.1. (Je stärker das Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” bei Jugendlichen ausgeprägt ist, desto stärker präferieren sie subjektiv als aggressiv empfundene Musik.) nicht eindeutig als bestätigt angesehen werden. Deutlich zeigt sich auch, dass Musikpräferenzen recht stark situationsabhängig sind. Während sich in Situationen der Trauer ein recht deutlicher Wunsch nach langsamer, weicher, friedvoller, Als hoch signifikant abhängig vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” erweisen sich die musikalischen Präferenzen in Situationen des Ärgers (Bestätigung der Hypothese 2.2.). Jugendliche mit einer hohen Neigung zu aggressivem Verhalten wünschen sich in dieser Situation deutlich härtere, aggressivere und erregendere sowie tendenziell schnellere Musik als Jugendliche mit einer geringeren Neigung (vgl. Kapitel 6.3.2.). Deutlich wird in Kapitel 6.3.4. zudem, dass Musik bei einigen Jugendlichen auch dazu benutzt wird, vorhandenen Ärger in vielleicht sogar lustvoller Form auszuleben. Diese Jugendlichen weisen im Durchschnitt eine vergleichsweise hohe Neigung zu aggressivem Verhalten auf. In Situationen der Trauer hängen die Musikpräferenzen von Jugendlichen dagegen kaum von der „Aggressivität” ab (vgl. Kapitel 6.3.3.). Hier läßt sich lediglich beobachten, dass die Präferenz von trauriger Musik bei Jugendlichen mit hoher Neigung zu aggressivem Verhalten vergleichsweise stark ausgeprägt ist. Darüber hinaus wünschen sich männliche Jugendliche mit einem höheren Maß an Aggressivität tendenziell lebhaftere Musik. Weibliche Jugendliche mit geringerer Neigung zu aggressivem Verhalten lassen eine stärker ausgeprägte Vorliebe für beruhigende Musik erkennen. Die Hypothese 2.3. (Die musikalischen Präferenzen von Jugendlichen in Situationen der Trauer sind abhängig vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”.) wird demzufolge nicht eindeutig bestätigt. Hypothese 2.4. (Je stärker das Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” bei Jugendlichen ausgeprägt ist, desto ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_61 GEGEN DEN TREND ’2001 Dieses Ergebnis kann man dahingehend interpretieren, dass die empfundene Aggressivität eines Musikstücks für Jugendliche mit einer höheren Neigung zu aggressivem Verhalten ein wichtiges Kriterium für die Präferenz dieser Musik ist. Diese Jugendlichen präferieren ein Musikstück folglich unter anderem aufgrund der empfundenen Aggressivität. Jugendliche mit einer geringeren Neigung präferieren evtl. dieselbe Musikrichtung, ohne diese jedoch als aggressiv zu empfinden. Denn schließlich resultiert die Beurteilung der Musik hinsichtlich ihrer Aggressivität immer aus einer subjektiven Einschätzung. beruhigender, gefühlvoller und eher trauriger Musik abzeichnet, sind in Situationen des Ärgers bis auf eine leichte Tendenz zu lebhafter und gefühlvoller Musik keine einheitlichen Musikpräferenzen festzustellen. Die Hypothese 2.1. („Die musikalischen Präferenzen von Jugendlichen in Situationen des Ärgers unterscheiden sich von den musikalischen Präferenzen in Situationen der Trauer.”) wird also bestätigt. Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten aggressiver und erregender soll die Musik in stark emotional geprägten, subjektiv als negativ bewerteten Situationen sein.) bestätigt sich in Situationen des Ärgers, in Situationen der Trauer hingegen nicht. GEGEN DEN TREND ’2001 In beiden Situation treten starke Abweichungen von den durchschnittlichen Musikwünschen fast ausschließlich in der Gruppe mit der höchsten Neigung zu aggressivem Verhalten (Gruppe 4) auf. Es ist zu vermuten, dass sich bei Jugendlichen mit einer weit unterdurchschnittlichen Neigung zu aggressivem Verhalten gegenläufige Effekte abzeichnen, wodurch die bereits in dieser Untersuchung an mehreren Stellen festgestellte Abhängigkeit der situativen Musikpräferenzen vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” noch deutlicher werden würde. Da jedoch keiner der Jugendlichen in dieser Untersuchung eine weit unterdurchschnittliche Neigung zu aggressivem Verhalten aufweist23, müsste man diese Annahme in einer weiterführenden Studie überprüfen. Aus den dargestellten Clusterprofilen der Situation Ärger24 wird ersichtlich, dass es unterschiedliche Arten der Emotionsbewältigung durch Musik gibt, die durch verschiedene emotionale und kognitive Verläufe gekennzeichnet sind. Ein bestimmtes Grundgefühl wie z.B. Ärger soll durch Musik noch verstärkt werden oder – im Gegenteil (wahrscheinlich hauptsächlich bei als unangenehm empfundenen Gefühlszuständen) – abgeschwächt oder in eine konträre, „positive” Laune verwandelt werden. Auch diese musikalischen Bewältigungsstrategien in Situationen des Ärgers erweisen sich als hoch signifikant abhängig vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”. An dieser Stelle wird allerdings ebenso erkennbar, dass musikalische Präferenzen kein Indikator für die Neigung zu aggressivem Verhalten von Jugendlichen sind (vgl. Kapitel 6.3.4.). In der Situation Trauer ergibt sich auch im Zusammenhang keine signifikante Abhängigkeit. 62_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Wie vermutet zeigt sich insgesamt auch, dass die Umgangsweisen mit Musik von Jugendlichen abhängig vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” sind (Hypothese 3). Varianzanalytisch ergibt sich hier insgesamt ein schwach signifikanter Effekt (vgl. Kapitel 6.4.). Besonders hervorzuheben ist diesem Kontext die hoch signifikante Abhängigkeit bei der stimulativen Hörweise. In überraschender Deutlichkeit wird bestätigt, dass Jugendliche mit einer hohen Neigung zu aggressivem Verhalten dazu tendieren, mit Musik verstärkt stimulativ umzugehen (Hypothese 3.1.). Zudem gehen weibliche Jugendliche mit hoher Aggressivität weniger stark konzentriert und „aggressivere” männliche Jugendliche stärker assoziativ mit Musik um. Da sich in anderen Studien zeigte, dass männliche Jugendliche allgemein stärker als weibliche Jugendliche an Gewalt in Videoclips interessiert sind und sich in dieser Studie eine signifikante Korrelation zwischen der Präferenz von „aggressiver” Musik und der assoziativen Hörweise ergibt, erscheint es mir möglich, dass in den Köpfen von männlichen Jugendlichen mit höherer Neigung zu aggressivem Verhalten beim Hören von „aggressiver Musik gelegentlich z.B. Erinnerungen an gewalttätige Filmszenen aktiviert werden. Nicht bestätigt hat sich allerdings die vermutete Abhängigkeit der kompensatorischen Hörweise vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” (Hypothese 3.2.). Die Jugendlichen mit einer hohen Neigung zu aggressivem Verhalten nutzen Musik nicht stärker zur Verdrängung oder Verarbeitung von negativen Erlebnisinhalten als Jugendliche mit einem geringen Maß an Aggressivität. Betrachtet man Tabelle 25, so wird deutlich, dass die Jugendlichen mit der höchsten Neigung zu aggressivem Verhalten mit Musik ebenso stark kompensatorisch wie auch stimulativ umgehen, bei den anderen Jugendlichen dagegen eine kompensatorische Hörweise jeweils deutlich stärker ausgeprägt ist. Dieses Ergebnis könnte darauf Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten lichkeitsmerkmal „Aggressivität” an mehreren Stellen sehr deutlich. Aufgrund der Untersuchungsdurchführung in Jugendzentren muss jedoch davon ausgegangen werden, dass einige Ergebnisse zum Teil aus der in dieser Hinsicht vielleicht etwas spezifischen Stichprobe resultieren. Sehr deutlich wird insgesamt der Einfluss des Stellenwerts von Musik auf die musikalischen Umgangsweisen. Die „überdurchschnittlichen” MusikliebhaberInnen gehen mit Musik wesentlich vielfältiger um, als die Jugendlichen, für die Musik einen unterdurchschnittlichen Stellenwert hat. Es ist anzunehmen, dass die scheinbar vorhandene intensivere Beziehung der MusikliebhaberInnen zur Musik auch eine stärkere Wirkungsweise z.B. im Sinne einer Kompensation bedingt. Als bestätigt anzusehen ist daher die Hypothese 3.4. (Bei Jugendlichen mit einer hohen Neigung zu aggressivem Verhalten ist die Tendenz, mit Musik verstärkt kompensatorisch umzugehen, stärker ausgeprägt, wenn Musik einen hohen Stellenwert einnimmt.), auch wenn die Ausprägung der Zustimmung zur kompensatorischen Umgangsweise mit Musik ausschließlich vom Stellenwert von Musik (und nicht vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität”) abhängig ist. Die stimulative Hörweise erweist sich bei Jugendlichen mit hoher Neigung zu aggressivem Verhalten als nur vom Persönlichkeitsmerkmal „Aggressivität” und nicht vom Stellenwert von Musik abhängig, so dass Hypothese 3.3. (Bei Jugendlichen mit einer hohen Neigung zu aggressivem Verhalten ist die Tendenz, mit Musik verstärkt stimulativ umzugehen, stärker ausgeprägt, wenn Musik einen hohen Stellenwert einnimmt.) nicht als bestätigt betrachtet werden kann. Allgemein kann jedoch festgestellt werden, dass viele Ängste vor der alleinigen aggressionsauslösenden Wirkung spezifischer Musik unbegründet sind. Aus den bislang vorliegenden Befunden können allerdings noch keine endgültigen Schlussfolgerungen gezogen werden, so dass die Frage nach den Wirkungen noch nicht eindeutig zu beantworten ist. Fazit In der Studie von Carsten Stöver zeigt sich die Abhängigkeit des Musikkonsums vom Persön- Die Befragung ergab drei Gruppen von Musikpräferenzen („Cluster“): die „Freunde gitarrenlastiger Rockmusik“ (50 Prozent), „Technopop-Fans“ (25 Prozent) und „Liebhaber angesagter Musikstile“ (25 Prozent). Auf der „Aggressivitätsskala“ unterschieden sich diese drei Gruppen nicht signifikant. In Situationen von Ärger oder Trauer setzen die Jugendlichen aber eindeutig unterschiedliche Musik ein. Je höher die Neigung zu aggressivem Verhalten ausgeprägt ist, umso mehr neigen die Jugendlichen auch dazu, Ärger mit aggressiver Musik zu verarbeiten, während in Situationen von Trauer der Wunsch nach trauriger Musik bei den Aggressiven signifikant stärker ausgeprägt ist als bei den weniger Aggressiven. Allerdings konnte nicht festgestellt werden, dass Musikpräferenzen etwas über Persönlichkeitsmerkmerkmale aussagen, d.h. vom Hören aggressiver Musik kann nicht auf eine Neigung zu aggressivem Verhalten geschlossen werden. Hingegen war zu konstatieren, dass Jugendliche mit Neigung zu aggressivem Verhalten Musik eher „stimulativ“ einsetzen und auch Musik eher „assoziativ“ hören als andere Jugendliche. André Medeke ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_63 GEGEN DEN TREND ’2001 hindeuten, dass insbesondere Jugendliche mit hohem Maß an Aggressivität Musik – wahrscheinlich in Abhängigkeit von der Situation sowie von individuellen Faktoren – gleichermaßen zum „Dampfablassen” im Sinne eines angestrebten Aggressionsabbaus wie auch zur „Aufstachelung” und weiteren Anheizung nutzen. Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten 1 2 Dietmar Portals: Aggression als musikalische Metapher und ihre Wahrnehmung – Ein alternativer Ansatz zur Erklärung der Entstehung von Aggressionen durch Musik. Hausarbeit im Hauptseminar: ,,Mediengewalt. Von Opfern, Tätern und sonstigen Betroffenen”/Wintersemester 1998/99 3 Dietmar Korthals: a. a. O. 4 Der Vorfall ist ansatzweise, allerdings leider ohne konkret auf die Diskussion um die Musik einzugehen, dokumentiert in: Didion, Joan: Überfall im Central Park. Eine Reportage.(Dt. Übersetzung von Eike Schönfeld). München 1991. 5 6 GEGEN DEN TREND ’2001 Die Welt zertrümmern? Eine empirisch quantitative Untersuchung zum Zusammenhang von Musikkonsum und aggressivem Verhalten, Oldenburg 1999. Von: Carsten Stöver, Mittellinie 185a, 26160 Bad Zwischenahn Martin Hufner: Musik und Gewalt. Rundfunksendung von Bayern2Radio. Sendetermin: 07.04.2000/20:05 Vgl. hierzu auch Müller, Renate: Soziale Bedingungen der Umgehensweisen Jugendlicher mit Musik. Theoretische und empirisch-statistische Untersuchung zur Musikpädagogik. Essen: Verlag Die Blaue Eule 1990. S.31ff.; sowie Münch, Thomas: Was ‘macht’ eigentlich die populäre Musik im Radio? In: Musikpädagogische Biographieforschung. Fachgeschichte – Zeitgeschichte – Lebensgeschichte. Hrsg.: Rudolf-Dieter Kraemer. Essen: Verlag Die Blaue Eule 1997. S.350 Vgl. Kapitel 2.3.2. und 3.2.3. 7 Vgl. Kapitel 3.2. 8 Vgl. Stöver, Carsten: a. a. O. Kapitel 3.3 9 Vgl. Stöver, Carsten: a. a. O, Kapitel 4 64_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … 10 Das genaue Verfahren wird beschrieben bei: Stöver, C.: a. a. O. Kapitel 4.1 – 4.2 11 Vgl. auch Bastian, Hans Günther: Methoden der empirischen Sozialforschung in Musikpsychologie und Musikpädagogik. In: Musikpsychologische Forschung und Musikunterricht. Hrsg.: Rudolf-Dieter Kraemer. Mainz: Schott 1983. S.113. 12 Wer sich für die Mess- und Prüfverfahren und Methoden interessiert: Vgl. Stöver, C.: a. a. O. Kapitel 5 13 Vgl. Fahrenberg, Jochen & Hampel, Rainer & Selg, Herbert: Das Freiburger Persönlichkeitsinventar FPI. Test und Handanweisung in der 5., ergänzten Auflage. Göttingen & Toronto & Zürich: Hogrefe Verlag 1989. S.87. 14 ebd. S.87 15 Vgl. ebd. 16 18-jährige Gymnasiastin aus Oldenburg, Fragebogen Nr. 17. 17 19-jährige Frau aus Oldenburg, Realschulabschluß, Fragebogen Nr. 93. 18 Lüdtke, Hartmut: Jugendliche in organisierter Freizeit. Ihr soziales Motivations- und Orientierungsfeld als Variable des inneren Systems von Jugendfreizeitheimen. Teil 2 der Untersuchung von Jugendfreizeitheimen. Weinheim & Basel: Beltz 1972. S.329. 19 Vgl. Krisam, Raymund & Tegethoff, Hans Georg: Jugendfreizeitzentrum und soziales Umfeld. Ein Lehrforschungsprojekt zur stadtteilorientierten Jugendarbeit. Neuwied & Darmstadt: Luchterhand 1977. 20 ebd. S.66. Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten 21 Vgl. Liebel, Manfed: Überlegungen zum Praxisverständnis antikapitalistischer Jugendarbeit. In: Deutsche Jugend, München, 18 (1971) 6, S.28-34. 22 Grauer, Gustaf: Jugendfreizeitheime in der Krise. Zur Situation des sozialpädagogischen Feldes. Teil 1 der Untersuchung von Jugendfreizeitheimen. 2.Auflage. Weinheim & Basel: Beltz 1975. 23 Insbesondere sind hier keine Jugendlichen mit FPI-Skalenwerten von 1 und 2 vertreten (vgl. Kapitel 4.1.1.). 24 wie auch aus den nicht dargestellten Clusterprofilen der Situation Trauer GEGEN DEN TREND ’2001 ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_65 GEGEN DEN TREND ’2001 Die Welt zertrümmern?! - Musikkonsum und aggressives Verhalten 66_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … ›› Gewaltbereite Mädchen Gewaltbereite Mädchen GEGEN DEN TREND ’2001 Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit von Mädchen ist ein Thema, dass noch tief im Dunkeln liegt. Ein Grund dafür ist sicherlich die statistisch sichtbare höhere Beteiligung von Jungen an Gewalttaten. Darüber hinaus handelt es sich bei der Erforschung dieses Themenkomplexes fast um ein Tabuthema. Feministische Forscherinnen befürchten, dass Untersuchungen zur Mädchengewalt angesichts des erheblichen Gefälles zur Jungengewalt und der Tatsache, dass Mädchen häufiger Opfer als Täterinnen sind, zu einer überhöhten öffentlichen Aufmerksamkeit und somit zu einer verzerrten Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität führen. Ein Beispiel liefert der SPIEGEL im November 1998 mit der Schlagzeile „Brutalität unter Jugendlichen ist nicht länger Domäne von Jungen – immer mehr Mädchen prügeln und foltern“. Außerdem können Themen wie Einschränkungen und Diskriminierungen von Mädchen verdrängt und damit der Blick auf „das Wesentliche“ verloren gehen, auf die Bedingungen und Mechanismen, die traditionelle Weiblichkeitsbilder und Geschlechterhierarchien erzeugen und reproduzieren (Bruhns/Wittmann, 1999). Derartige Bedenken sind sicherlich berechtigt und verlangen einen sensiblen Umgang mit Forschungsergebnissen. Mädchenforschung und Mädchenarbeit, die an den Lebenssituationen und –perspektiven von Mädchen ansetzt und Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen, aber auch zwischen den Mädchen selber herausarbeitet, kann und will gewaltbereite Mädchen nicht übergehen. Denn Gewaltbereitschaft ist eine möglicherweise weibliche Ausdrucksform, mit der Belastungen, Widersprüche und Ambivalenzen in der Lebenswelt „verarbeitet“ werden. Bislang beziehen sich Erkenntnisse und Handlungsansätze überwiegend auf gewaltbereite und gewalttätige Mädchen in rechtsextremen Gruppen. 68_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Das Projekt „Starke Mädchen gegen Rechts“ So wurde z.B. die Evangelische Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe vom nordrhein-westfälischen Ministerium für Gleichstellung beauftragt, mädchenspezifische Angebote zu erarbeiten und zu erproben, um der Jugendarbeit Impulse für die Arbeit mit gewaltbereiten Mädchen geben zu können. Die Evangelische Fachhochschule führte das Projekt gemeinsam mit den Mädchenzentren Gelsenkirchen und Gladbeck von 1994 bis 1996 durch. Ein Projektteam entwickelte und führte in 18 Monaten 14 Teilprojekte mit insgesamt 120 Mädchen und jungen Frauen im Alter von 6 bis 25 Jahren an Schulen, einer Jugendwerkstatt und Mädchenzentren durch. Die Teilprojekte umfassten Zeiträume zwischen einer Woche und 18 Monaten, die Gruppengröße lag zwischen 5 und 26 Teilnehmerinnen. Hintergrundwissen über gewaltbereite Mädchen Um im Vorfeld mehr über die Zielgruppe der gewaltbereiten Mädchen zu erfahren, wurde der aktuelle Forschungsstand ausgewertet und Gespräche mit 127 Einzelpersonen und Einrichtungen der Jugendarbeit geführt, sowie auf Arbeitserfahrungen aus Projekten der akzeptierenden Sozialarbeit mit gewaltbereiten Jugendlichen zurückgegriffen. Für dieses Projekt stand im Vordergrund folgendes Verständnis von Rechtsextremismus: Ein Syndrom aus folgenden Dimensionen: • Akzeptanz von Gewalt als Konfliktlösungsmuster • Autoritative bzw. antidemokratische Orientierungsmuster Gewaltbereite Mädchen • Ideologie der natürlichen Ungleichheit bzw. Ungleichwertigkeit der Menschen • Schätzungen gehen von ca. 500 – 2500 organisierten Rechtsextremistinnen aus. • Indifferentes bis positives Verhältnis zum Nationalsozialismus • Geschlechtsspezifische Differenzierung: deutlich weniger Mädchen und Frauen tendieren zu autoritativen und/oder gewaltakzeptierenden Verhaltensmustern. Unterschieden wurde zwischen dem manifesten, messbaren Bereich (Mitgliedschaft, Wahlverhalten) des Rechtsextremismus und dem Bereich des latenten, indirekt zugänglichen Rechtsextremismus, der sich an Einstellungen, Sympathien, unbewussten Orientierungsmustern zeigt. Letzterer war für dieses Projekt vorrangig von Bedeutung. Warum sind Mädchen und Frauen in der rechtsextremen Szene zu finden? Mögliche Ursachen: Auf der Suche nach spezifischen Anschlussstellen des Rechtsextremismus in der weiblichen Psyche und den weiblichen Lebenslagen wurde ein gemeinsamer Schlüssel immer deutlicher: das Phänomen der Unsicherheit. Ursachen: in psychischer Disposition, in der sozial-ökonomischen Situation, in der Unklarheit moderner weiblicher Lebensentwürfe oder in der Kombination aus allem? In empirischen Untersuchungen (Utzmann-Krombholz,1994, 1045 Befragte; Birsl,1994, 469 Befragte) wurden bei den befragten Jugendlichen zwischen 14 und 24 Jahren deutliche Affinitäten zu rechtsextremem Gedankengut sowie rassistische und autoritative Einstellungen gefunden. • Weibliche Mitgliedschaften in rechtsextremen Parteien: 20-30% (=ca. 11-17000 weibl. Mitglieder) • Rechtsextreme Mädchen wie die „Reenies“, „Skingirls“ oder „Faschobräute“ sind teils organisiert, teilweise auch nicht. Zuschlagen als präventive Methode: • Der Ruf als gewalttätiges Mädchen schützt vor Angriffen und sexueller Anmache und verschafft Respekt. Zuschlagen als präventive Methode, sich die Gewalt anderer vom Leib zu halten. „Haben sie erst mal den Ruf als „Gewaltelse“, ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_69 GEGEN DEN TREND ’2001 • Organisationen am rechten Rand: ca. 1-5% aktive Mädchen/Frauen Gewaltakzeptanz und eigene Gewaltbereitschaft sind bei Mädchen zu beobachten, die unter ungünstigen sozioökonomischen Bedingungen aufwuchsen, häufig verbunden mit der Prägung durch gewaltträchtige Familienmillieus. Die Mädchen entwickeln in der Regel trotz ihrer vergleichbaren Opfer- und Benachteiligungserfahrungen keine Solidarität miteinander, sondern konkurrieren um Chancen auf den Arbeitsmarkt und um Männer, die ihnen Anerkennung, Schutz, Geld etc. verschaffen sollen. Gewaltbereite Mädchen dann traut sich so schnell niemand an sie ran,“ (eine Sozialarbeiterin). Der Wunsch, gewalttätig zu sein, entwickelt sich oft aus Unterlegenheitsgefühlen und Opfererfahrungen. • Gewalttätig sein wird bei Mädchen z.T. auch mit Gleichberechtigung gleichgesetzt. „Wenn Jungs das können, warum sollen Mädchen das nicht auch können?“ • Ursachen für die Abwertung alles „Andersartigen“, Vorurteilsstrukturen und antidemokratischen Orientierungen: Weitergabe von Einstellungen und Handlungsmustern, die ihnen in ihren Familienmillieus vorgelebt wurden. • Zum Teil verarbeiten die Mädchen durch ihre Abwehrhaltung ihre psychischen Verunsicherungen und/oder passiven Gewalterfahrungen und versuchen, aus rassistischen und/oder autoritativen Einstellungen Sicherheit und Stärke zu beziehen. GEGEN DEN TREND ’2001 • In der antidemokratischen Einstellung spiegeln sich vor allem die Erfahrungen der eigenen öffentlichen Einflusslosigkeit und Ohnmachtserfahrungen in Schule, Stadtteil wie auch in der „großen Politik“. Allen Mädchen gemeinsam ist die Lebensphase der Pubertät und damit u.a. die Auseinandersetzung mit und Übernahme der eigenen Geschlechtsrollen sowie die Entwicklung einer biographischen Perspektive. Für Mädchen ist dieses ein besonderer Balanceakt. Es zeigen sich deutliche Veränderungen bei der „typischen“ Frauenrolle, die als ein „Sowohl als auch“ beschrieben werden können. Zu der herkömmlichen Rolle als fürsorgliche Mutter und Hausfrau kommen Erwerbsarbeit und ein Leistungs-, Konkurrenz- und Selbstständigkeitsdenken hinzu. Die Doppelrolle der unselbstständigen-schutzbedürftigen, aber auch verführerischen Frau wird erweitert durch 70_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Orientierungen an Normen wie sexuelle Selbstbestimmung, Freiheit und Emanzipation. „Mädchen werden ermutigt, erfahren aber oftmals in der sozialen Wirklichkeit, dass ihnen doch nur der zweite Platz gebührt“ (Mogge-Grotjahn, 1992). Mädchen sollen sich vor Männern in acht nehmen und sich gleichzeitig von ihnen beschützen lassen. Mit alldem ist eine starke Verunsicherung, häufig das Gefühl des Unzulänglichseins verbunden, dass dazu führen kann, das eigene Stärken und Fähigkeiten abgewertet werden. Die genannten Balanceakte und Suchbewegungen bieten Anknüpfungspunkte für rechtsgerichtete Orientierungen. Das Gefühl des Unzulänglichseins und der Hilfebedürftigkeit wird von rechtsextremen Ideologien aufgegriffen und durch feste Zuschreibungen von Qualitäten überspielt. So wird in den meisten rechten Szenen die Mädchen- und Frauenrolle als Mutterrolle aufgewertet. Angeboten werden Sicherheit, klare Prioritäten, Zugehörigkeitsgefühle, die eine Abmilderung oder Auflösung der weiblichen Balanceakte versprechen. Das führt durchaus auch zu widersprüchlichem Verhalten bei Mädchen: einerseits den starken Mann toll finden und alles für ihn tun, andererseits selber stark und auch gewalttätig sein zu wollen. Ziel des Projektes Die konkrete Projektarbeit zielte darauf ab, Einstellungen, Verhalten und Wünsche von Mädchen an ihren Lebensorten näher kennenzulernen und durch inhaltliche Angebote hieran anzuschließen. Die rechtsorientierten und gewaltbejahenden Einstellungen sollten nicht durch Belehren oder durch Instruktionsarbeit zu verändern versucht werden, sondern es sollte durch Möglichkeit zum Erleben von alternativen Erfahrungen auf das Selbstbewusstsein der Mädchen, ihr Verhaltens- und Einstellungsrepertoire Einfluss genommen werden. Außerdem sollten die Belange der Mädchen in der kommunalen Öffentlichkeit stärker ins Bewusstsein kommen. Dahinter stand die Gewaltbereite Mädchen Überlegung, dass durch öffentlich wirksame Aktivitäten die positiven Effekte für das Selbstbewusstsein der Mädchen besonders groß sein könnten. Umsetzung Klar war, dass Mädchen aus den gut organisierten, teils militanten rechtsextremen Organisationen und Parteien mit sozialarbeiterischen Angeboten nicht ohne weiteres erreicht würden. Erreicht werden sollten Mädchen aus der Jugendszene, die Affinitäten zu rechtem Gedankengut aufweisen und gewaltbejahend bzw. –bereit sind. Kontakte wurden geknüpft über die Jugendzentren, Schulen, Einrichtungen des betreuten Wohnens und einer Jugendwerkstatt, in der Jugendliche betreut werden, die in der Schule die Klassen 7-9 erreicht haben und als nicht berufsreif, aber förderungsfähig gelten. An verschiedenen Schulen und der Jugendwerkstatt wurden für das Projekt MädchenAGs eingerichtet, an denen die Teilnahme freiwillig war, die aber auf die Schulstunden angerechnet wurden. Andere Mädchengruppen fanden sich projektbezogen und wurden in den Mädchenzentren durchgeführt. In einem Bildungszentrum für arbeitslose Jugendliche wurde ebenfalls eine Mädchengruppe eingerichtet. Vorstellung vom Teilprojekt „Straßenbefragung“ Ziel: Auseinandersetzung mit einem Thema wie z.B. „Vorurteile gegenüber Ausländern“ • Die Aktion kann mit Vor- und Nachbereitung in sich geschlossen sein und dementsprechend geplant werden. • Alle können sich beteiligen. Es ist günstig, wenn die Mädchen nicht alleine losziehen, sondern sich in Kleingruppen zusammentun, in denen sie die Umfrage auch vor- und nachbereiten. Instruktionen: Die Umfrage muss inhaltlich mit den Mädchen vorbereitet werden: Wieviele Fragen und welche Fragen sollen gestellt werden? Wie verhalte ich mich gegenüber den befragten Personen? Wie beende ich ein Interview u.v.a.m. In Rollenspielen werden die Interviews vorbereitet, auch kritische Situationen können durchgespielt werden. Wirkungen: Die Aktion Straßenbefragung und das Formulieren der Ergebnisse auf Wandzeitungen setzte bei den Mädchen eine Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Vorurteilen in Gang. Auch eigene Erfahrungen von Macht und Ohnmacht, Angst und Gewalt konnten nach der gemeinsam durchgeführten Aktion intensiver und offener als in der Vorbereitung besprochen werden. Die Mädchen hatten insgesamt von sich selbst den Eindruck, im Laufe der Befragung mutiger geworden zu sein. Beispielsweise hatten sie zu Beginn nur ihnen sympathische Personen angesprochen, später auch andere. Besonders intensiv beschäftigte sie die Frage, warum nur wenige der Befragten aktiv eingreifen würden, wenn andere Menschen bedroht werden. Hieran schlossen sich Gespräche ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_71 GEGEN DEN TREND ’2001 • Die Form der Straßenumfrage lässt die Mädchen die Hemmschwelle gegenüber ihnen unbekannten Menschen überschreiten bzw. ein Gefühl entwickeln, wie sie mit Fremden umgehen und selbstbestimmt Distanz einhalten können. Begrüßenswert ist es, wenn die Ergebnisse veröffentlicht werden (z.B. Schülerzeitung, lokale Tageszeitung, Gespräch mit PolitikerInnen). Die Veröffentlichung kann für die Mädchen eine wichtige Erfahrung bedeuten, sie fühlen sich ernst genommen und können etwas berichten. Erfahrungsgemäß haben die Mädchen selber Ideen, wie mit der Umfrage umgegangen werden soll. Gewaltbereite Mädchen der Mädchen darüber an, wie sie selbst sich in bedrohlichen Situationen verhalten würden oder verhalten haben, welche alternativen Handlungsstrategien es gibt. worden, der als Prävention gegen Rechtsextremismus und Gewalt als Konfliktlösung, sowie gegen Autoritarismus gewertet werden kann Da die Mädchen keine Vorerfahrung mit geschlechtshomogenen Gruppen und kaum Erfahrungen mit anderen als frontalen Unterrichtsmethoden hatten, war es wichtig, durch Kennlern- und Vertrauensübungen für eine Atmosphäre zu sorgen, in der sich alle zu Wort kommen lassen und gegenseitig wahrnehmen konnten. Literatur: GEGEN DEN TREND ’2001 Ergebnisse des Gesamtprojektes Insgesamt hat das Projekt dazu beigetragen, das die Mädchen neue soziale Erfahrungen machen konnten. Sie erlebten, dass sie nicht vereinzelt und erfolglos sein müssen, dass sie auf Konkurrenz untereinander, auf Ressentiments und tendenziell feindliche Abgrenzungen gegen andere nicht angewiesen sind. Die Erfahrungen des gemeinsamen Handelns in einer gleichgeschlechtlichen Gruppe und das Ernst-genommen-werden haben die Sichtweisen der Mädchen verändert. Deutlich wurde, dass ein großer Bedarf nach Anregung und Reflexion besteht, um aus den vorhandenen Unsicherheiten einen Ausweg zu finden. Dadurch, dass die Belange der Mädchen nachhaltig in das öffentliche Bewusstsein gerückt wurden, ist ihr Selbstbewusstsein aufgewertet worden und sie haben durch das Hinaustreten in die Öffentlichkeit politische Strukturen kennenund anwenden gelernt. Hiermit ist ein wichtiger Schritt in Richtung gelebte Demokratie getan 72_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Daniela Jeksties Kirsten Bruhns/Svendy Wittmann in: Recht der Jugend und des Bildungswesens, Heft 3/99 Hilde Utzmann-Krombholz Rechtsextremismus und Gewalt: Affinitäten und Resistenzen von Mädchen und jungen Frauen, Ergebnisse einer Studie. Dokumente und Berichte 27 des Ministeriums für die Gleichstellung von Frau und Mann NRW, Düsseldorf. Uschi Birsl Rechtsextremismus: weiblich – männlich? Eine Fallstudie, Opladen 1994 Hildegard Mogge-Grotjahn/ Martin Bellermann Starke Mädchen gegen Rechts, Abschlußbericht des Projektes Rechtsextremismus und Mädchenarbeit, Evangelische Fachhochschule Bochum, 1998 ›› Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen Wege des Ausbruchs Viele Mädchen und junge Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, haben keine öffentliche Stimme, leben individuell mit ihren Biographien weiter. Um dies zu durchbrechen, suchte das autonome Mädchenhaus Berlin ein Medium, das die Erlebniswelten der Betroffenen auf gefühlsmäßig ansprechende Art der Öffentlichkeit nachvollziehbar machen könnte. Wichtig war dabei, das neben dem Aufzeigen der strukturellen Gewalt und deren Auswirkungen auch Ausbruchsmöglichkeiten dargestellt werden. Wenn Mädchen sich aus der erlebten Gewaltsituation befreien und Risiken eingehen, heißt dies Wachstum, Stärke und Kraft. Grundidee war von Anfang an, die betroffenen Mädchen und jungen Frauen in das Projekt mit einzubeziehen. Es wurden vielfältige Workshops angeboten, wie Mal-, Foto-, Bau- und Schreibworkshops. Die Ergebnisse flossen in eine beeindruckende Ausstellung ein, die mit dem Berliner Frauenpreis ausgezeichnet wurde und die ausleihbar ist. Der Name der Ausstellung ist „Wege des Ausbruchs“. GEGEN DEN TREND ’2001 Mädchen und jungen Frauen Raum zu geben, sich auszudrücken, ist nicht nur eine Möglichkeit, um Gewalterlebnisse zu verarbeiten, sondern grundsätzlich Präventionsarbeit. Denn nur Mädchen, die ihre Bedürfnisse und ihre Grenzen kennen und für sie aktiv eintreten können, können sich gegen sexuelle Gewalt zur Wehr setzen. Ausdruck macht stark gegen das immer noch „bestgehütete Geheimnis“. Die Dunkelziffer bei sexuellem Missbrauch liegt laut Bundeskriminalamt bei 1:15. Es wird angenommen, dass in der Bundesrepublik Deutschland etwa jedes vierte Mädchen und jeder zwölfte Junge sexuell missbraucht würden. Die Täter sind zu 90 % männlich. Sexuelle Gewalt fängt mit Grenzüberschreitungen an, d.h. dort, wo die Intimsphäre des Mädchens nicht beachtet wird, ihre Grenzen nicht akzeptiert 74_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … bzw. nicht wahrgenommen werden. Dazu gehören auch für Mädchen alltägliche Situationen, wie z.B. das gemeinsame Baden, die „zufälligen“ Berührungen, die Sprüche, Bemerkungen und Blicke von Vätern, Bekannten, Lehrern u.a. in Bezug auf den Körper, das enge Sitzen in Bus und Bahn. Mädchen erleben diese Situationen oft sehr widersprüchlich. Zum einen haben sie sehr wohl das Gefühl, das die Situation nicht in Ordnung ist. Doch gleichzeitig bewerten sie die Situation als nicht so schlimm bzw. nehmen die eigenen Gefühle nicht so wichtig. Die Geschlechtsrollenzuschreibungen wirken hier auf fatale Weise: was Männer dürfen (Grenzverletzungen begehen, sich wichtig nehmen), dürfen Frauen noch lange nicht. Die Folgen sexueller Gewalterfahrung können sein: • Gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper, • Schwierigkeiten, zu erkennen, was gut tut und was nicht, • verschütteter Zugang zu den eigenen Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen, • Schwierigkeiten, mit Nähe und Distanz, Vertrauen und Mißtrauen, umzugehen, • unklares Gefühl zu den eigenen physischen und psychischen Grenzen, Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen • Schwierigkeiten, „nein“ zu sagen, Überlebensstrategien • Gefühl von Ohnmacht, Ausgeliefertsein und Schwäche Verharmlosung: die Gewalterfahrung sich selbst und anderen gegenüber verharmlosen; rationalisieren und Entschuldigungen für den Täter finden; ignorieren Mädchen mit sexuellen Gewalterfahrungen senden oft ausgesprochene und unausgesprochene, direkte und indirekte Signale aus, mit denen sie ihre Umgebung auf die sexuelle Gewalt aufmerksam machen wollen. Da die Signale häufig nicht wahrgenommen werden, sind Mädchen gezwungen, Überlebensstrategien zu entwickeln. Diese Abspaltung: um den Körper von Gefühlen zu trennen und ihn dadurch nicht wahrzunehmen; eine Fassade aufbauen (erfolgreich, souverän und durchsetzungsfähig nach außen – Unsicherheit, Depression, Angst u.a. sind Gefühle im Innern) Kontrolle: alles im Griff haben, pedantisch auf Ordnung achten; Chaos, Unruhe und Krisen schaffen und gleichzeitig hervorragend zu managen; erhöhte Wachsamkeit zeigen für die Bedürfnisse, Konflikte anderer Sicherheit: durch das Vermeiden von großer Nähe in Beziehungen; durch eine selbstgegründete Familie; durch den Anschluß an strukturierte Gruppen Humor: als ein Mittel, eine schützende Distanz herzustellen, oder negative Gefühle zu kanalisieren Flucht: in Bücher, in den Schlaf, ins Fernsehen, in Phantasien Schlaflosigkeit: Nacht und Dunkelheit ausweichen, um am Tag zu schlafen, bedeutet Überschaubarkeit und Kontrolle Selbstverletzung: als Ventil für die erlittenen Grenzverletzungen Sucht: Drogen, Medikamente, Alkohol; Essstörungen als Ablehnung des eigenen Körpers; zwanghaftes Lügen als Folge des Schweigens; ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_75 GEGEN DEN TREND ’2001 haben verschiedene Seiten. Zum einen helfen sie Mädchen, mit den ihnen zugefügten Verletzungen überhaupt weiterleben zu können und stellen daher einen wichtigen Schutz dar. Diese Strategien können sich im Laufe des Lebens zu Stärken entwickeln. Zum anderen können sie aber auch zu selbstzerstörerischen Handlungsmustern werden. Die Notwendigkeit, mit Hilfe von Strategien zu überleben, bedeutet auch, keinen wirklichen inneren und äußeren Raum für die Verarbeitung von Grenzverletzungen zu haben. Vielmehr können diese Strategien neue Probleme schaffen. Rastlosigkeit: um ständig beschäftigt zu sein, immer etwas vorzuhaben, zu organisieren Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen zwanghaftes Stehlen als Versuch, sich etwas zurückzuholen; Arbeitssucht Suchen von Sexualität: als Wiederholungsmuster; um Kommunikation, Zuneigung, Selbstwert zu erfahren; um Macht und Kontrolle über andere zu erleben; Vermeidung von Sexualität: um der Konfrontation mit der Erinnerung aus dem Weg zu gehen: aus Angst, sich nicht abgrenzen zu können und die Kontrolle zu verlieren. Gefühl zeigen über Kreativität Es zeigt sich, das Mädchen, die sexuelle Grenzverletzungen erfahren haben, ein großes Potential an Kreativität besitzen. Haben Mädchen die Möglichkeit, diese einzusetzen und werden darin bestärkt, so erhalten sie Anerkennung, die ihr Selbstwertgefühl stärkt. GEGEN DEN TREND ’2001 Freies und experimentelles Malen Mit einem Malworkshop wird Mädchen Raum für freies und experimentelles Malen angeboten. Möglichst große Malflächen sollten zur Verfügung stehen, um so das Gefühl zu vermitteln, auch im wahrsten Sinne des Wortes Raum einnehmen zu dürfen. Es sollte kein Leistungsdruck entstehen und ausreichend Zeit zur Verfügung sein. Als Rahmen sollten die Anleiterinnen Maltechniken vorstellen, um den Einstieg zu erleichtern (z.B. Papiere schichten, blind malen, Collagen kleben, mit Farbe und Materialien experimentieren). In Einzelgesprächen können die Mädchen während des Malens technisch und gestalterisch beraten werden. Sie fühlen sich ernst genommen und in ihrer Arbeit wertgeschätzt. Die Mädchen malen so lange, bis ein für sie befriedigendes Bild entsteht (oft 4-6 Stunden). In einem Malworkshop erleben die Mädchen, dass sie etwas erschaffen und 76_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … beenden können, was sie sich vorher nicht zugetraut hätten und worauf sie stolz sein können. Wenn die Mädchen damit einverstanden sind, können die Bilder auch öffentlich ausgestellt werden. Mädchenarbeit ist Präventionsarbeit Sie kann Mädchen Orientierungsmöglichkeiten aufzeigen, um ihr eigenes Selbstbewusstsein zu entwickeln, Stärke aufzubauen und Mut zu sich selbst zu haben. Denn nur „starke Mädchen“ sind in der Lage, sich gegenüber sexuellen Übergriffen zu wehren. Daniela Jeksties Literatur: „Wege des Ausbruchs“, Gewalt gegen Mädchen und junge Frauen – Ausstellungskatalog 1997, Hrsg.: Autonomes Mädchenhaus Berlin, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen Wen Do - Weg der Frauen Ausgangssituation Täglich entwickeln Frauen und Mädchen eine Vielzahl von Strategien sich gegen männliche Abwertung und negativ empfundener Anmache zu wehren. Das reicht von dem sich Entziehen und Ertragen bis zur aggressiven Verbalattacke und ist meistens mit Gefühl der Hilflosigkeit bei den Mädchen und Frauen verbunden. • Mädchen (gewaltsam) daran hindern, das Jugendzentrum zu besuchen (fehlende Mäd- • bei den Lerninhalten und methodisch-didaktischen Konzepten in der Schule Erfahrungen aus weiblichen Lebenszusammenhängen negieren bzw. nicht berücksichtigen.“ Dieses Zitat aus der Landesjugendring Broschüre Wen – Do Materialien für die Mädchenarbeit beschreibt den gesellschaftlichen bzw. jugendarbeiterischen Alltag von Pädagoginnen. Sie reagieren auf den Kontext, in dem Mädchen und junge Frauen eingebunden sind. Verschärfend kommt heute, einige Jahre nach Erscheinen der Broschüre, dazu, dass Mädchen und junge Frauen sich in einer Welt sehen, in der alles möglich ist, alles easy und Problembewusstsein nicht zum Selbstverständnis von Mädchen gehört. Mädchen von heute sind eigenwillig, selbstbewusste Zicken, sind laut, wissen was sie wollen und wenn sie nichts wollen ist das auch OK. Unsere Gesellschaft gaukelt ihnen vor: „Alles ist möglich, wenn du nur willst.“ Und schiebt damit jedes Scheitern auf eine individuelle Schiene: „Wenn du es nicht schaffst, bist du selbst schuld!“ Ich sehe darin eine Verstärkung der strukturellen Gewalt, weil den Mädchen und jungen Frauen suggeriert wird, dass es strukturelle Gewalt kaum noch gibt. Wen Do als Weg der Frauen setzt genau hier an. Mädchen und Frauen wird ein frauenspezifischer ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_77 GEGEN DEN TREND ’2001 In unserer gesellschaftlichen Realität sind patriarchale Strukturen verankert, die das Männliche als Normalität und das Weibliche als Abweichung von der Norm erscheinen lassen und damit als weniger wertvoll und defizitär definieren. Dieses ist die Grundlage der von Gewalt geprägten Beziehung zwischen Frauen und Männern. Das äußert sich in körperlicher Gewalt, d. h.: 1 „Mädchen werden geboxt, geschlagen, geprügelt, in die Geschlechtsteile getreten, sexuell misshandelt und vergewaltigt. ... die psychische Gewalt wird ausgeübt durch heruntermachende Bemerkungen, die sich auf die Geschlechtszugehörigkeit beziehen, wie durch eine sexistische Sprache, Witze, durch anzügliche Bemerkungen, durch ein Nicht-Respektieren der Grenzen eines Mädchens. Außerdem gibt es noch die nicht unmittelbare oder spürbare strukturelle Gewalt. Darunter sind Strukturen zu verstehen, die Frauen und Mädchen in unserer Gesellschaft benachteiligen, behindern, wirtschaftlich schlechter stellen und vom Status her abwerten; in der Jugendarbeit beispielsweise chenangebote, kein Mädchenraum, Eingangsbereiche in Jugendhäusern mit „Laufsteg“-Situation für Mädchen) Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen Blick aufgezeigt und ein sich daraus ergebendes individuelles Handeln ermöglicht. GEGEN DEN TREND ’2001 Geschichte und Prinzipien Wen Do entstand vor ca. 20 Jahren in Kanada und wurde von Frauen entwickelt, die sich intensiv mit asiatischen Kampftechniken beschäftigten. Ihr Anliegen war, aus den Kampfkünsten, die ursprünglich für Männer gedacht waren, eine frauenspezifische Form der Selbstverteidigung und Selbstbehauptung zu entwickeln. Wen Do lebt vom „mündlichen Prinzip“. Es wird ausschließlich von Frauen an Frauen und Mädchen weitergegeben. Das bedeutet, einen Form des Frauenwissens, zu dem keine potentiellen Täter Zugang haben. Dieses Element des „Frauenwissens“ stärkt Mädchen bzw. Frauen in ihrer Weiblichkeit. Wen Do ist weiterhin ein praktisches Prinzip. Wen Do Trainerinnen verbinden Theorie und Praxis und setzen bei den jeweiligen individuellen Lebenssituationen der Teilnehmerinnen an. Das erfordert z. B. eine altershomogene Struktur der Teilnehmerinnen in den Mädchenkursen. Verständlicherweise sieht die Lebenswelt einer 12jährigen anders aus als die einer 16jährigen. Um in den Mädchenkursen tatsächlich Erfahrungsund Lernräume für individuelle Handlungsspektren zu ermöglichen, sind Altersbegrenzungen von jeweils zwei Jahrgangsstufen (z.B. 10 bis 12 Jahren) 78_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … und Kursgrößen von nicht mehr als 14 Mädchen üblich. Das Besondere am Wen Do Der Ansatz jeder Wen Do Trainerin richtet sich nach ihrer Persönlichkeit und Authentizität. Sie stellt sich den Frauen und Mädchen mit ihrer Persönlichkeit ihrer Form der Selbstbehauptung und –verteidigung zur Verfügung und zeigt ihnen gleichzeitig auf, wie individuelle Formen gefunden werden können. Da jede Frau unterschiedliche Reaktionsmuster hat, gibt es kein einheitliches Konzept. Aber sicher sind Anteile der körperorientierten und mental ausgerichteten Art der Selbstbehauptung und –verteidigung zu gleichen Teilen vertreten. Die Vermittlung von körperlicher Verteidigungstechnik in Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungskursen ist bei vielen Anbietern z. B. Polizeisportvereinen ein wesentlicher Teil. Zu Wen Do Kursen besteht der wesentliche Unterschied, dass bei anderen Anbietern häufig Männer den Teilnehmerinnen beibringen, wohin sie Tätern treten sollen, um sich zu wehren. Sicher ist das auch wichtig, aber es macht auf das Besondere eines Wen Do Kurses aufmerksam. Die Vermittlung von mentalen Voraussetzungen der Selbstbehauptung und Selbstverteidigung von Frau und Mädchen ist das stärkste Element jedes Kurses. Mentale Voraussetzung heißt: jede Frau/jedes Mädchen muss wissen, wann und wie Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen sie N E I N sagt. Dazu gehört der Kontakt zu sich selbst und eigene Grenzen zu spüren. Mädchen und Frauen brauchen Erfahrungsräume, die frei sind von potentiellen Tätern, in denen sie ihrer individuellen Strategien entwickeln und z. B. rückgemeldet bekommen, wie ihr „Nein“ wirkt. In Wen Do Kursen erfahren sie Stärkung von Frau zu Frau/ Mädchen auf femininer, mentaler Ebene. Wen Do als Bildungsschwerpunkt in der Mädchenarbeit Noch ein Wort zur Durchführung. Wen Do ist kein geschützter Begriff von sich aus. Deshalb empfehle ich, sich an das Netzwerk der Wen Do Trainerinnen zu wenden. Trainerinnen aus dem Netzwerk stellen sicher, dass ihre Kurse ihre verabredeten Standards beinhalten. Da alle Trainerinnen freiberuflich arbeiten, wird außerdem ein Preiskampf vermieden. Es ist im übrigen jeder Pädagogin zu empfehlen, einen Kurs bei der Trainerin zu besuchen, die sie engagieren will. Adressen und Kontakte sind über: Eva Viedt, Ev. Stadtjugenddienst, Am Fallersleber Tore 9 in 38100 Braunschweig Tel. 0531/49017 und Daniela Jeksties, Archivstr. 3 in 30169 Hannover Tel. 0511/ 1241-693 zu erhalten. Eva Viedt 1 Monika Wolff in: Wen – Do Materialien für die Mädchenarbeit Seite 5, Hg. Landesjugendring Niedersachsen e.V. GEGEN DEN TREND ’2001 Wen Do Kurse sind Bildungsseminare, die eingebettet in die Mädchenarbeit sind. Sie beschränken sich nicht auf Tricks oder kurz zu erlernende Techniken, sondern bieten den Einstieg in Lernprozesse, die in einer fortlaufenden Mädchenarbeit eingebettet werden sollten. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und der gesellschaftlichen Struktur, die die Identität mit beeinflusst, ist für alle Bildungsträger eine notwendige Aufgabe. Die Einbindung in ein Konzept emanzipatorischer, feministischer Mädchenarbeit wäre wünschenswert. Allerdings sehe ich auch Vorteile in einer gemischtgeschlechtlichen Jugendarbeit, durch das Anbieten von Wen Do Kursen den Mädchen einen geschlechtshomogenen Raum zur Identitätsfindung zu ermöglichen. verteidigung und -behauptung schnell ein, dass ein solcher Kurs sich ausschließlich an Mädchen wendet. Und am Ende der Kurse steht immer wieder der Wunsch in geschlechtshomoger Mädchengruppe zusammen zu bleiben. Häufig ein Anfang einer kontinuierlichen Mädchengruppe. Durch die Veranstaltung eines Wen Do Kurses ergeben sich in der bestehenden Mädchenarbeit besondere Chancen für kontinuierliche Gruppenarbeit. Mädchen sehen durch das Thema SelbstZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_79 GEGEN DEN TREND ’2001 Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen 80_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … ›› Gewalt und Jungen Gewalt und Jungen (Jungen treten - Mädchen ziehen an den Haaren) Einleitung GEGEN DEN TREND ’2001 Denke ich an Gewalt, entstehen ganz automatisch Bilder von randalierenden Skinheads, schlagenden Vätern oder sich prügelnde Jungs auf dem Schulhof in meinem Kopf. Wahrscheinlich haben die meisten Menschen ähnliche Bilder vor Augen. Was dabei auffällt, diejenigen, die Gewalt ausüben, sind männlich. Das wird auch durch statistische Zahlen belegt. 90% aller Tatverdächtigen Gewalttäter sind männlich, über 80% aller Gefängnisinsassen in Niedersachsen sind männlich. Ist Gewalt also reine Männersache? Berechtigte Zweifel werden wach, wenn man die Ergebnisse einer in NRW veröffentlichten Studie über die Einstellungen von 14-24-jährigen Jugendlichen zu Gewalt in Hinblick auf geschlechtsspezifische Aspekte von Gewalt wahrnimmt. So lehnen zum Beispiel 82% der Mädchen und 72% der Jungen Gewalt rundweg ab. Eine normale Klopperei finden doppelt so viele Jungen (26%) wie Mädchen (13%) in Ordnung. Nicht alle Mädchen also lehnen Gewalt grundsätzlich ab. Gewalt äußert sich ja auch in Form von Beleidigungen, emotionaler Ausbeutung, Erpressung und subtile Manipulation (psychische Gewalt). Viele Menschen vermuten, dass Mädchen und Frauen auf diesem Gebiet Gewalt ausüben (Buscotte). Weil es aber starke Unterschiede in der Einstellung zur Gewalt und in der Ausprägung von Gewalt zwischen den Geschlechtern gibt, ist es nötig die geschlechtsspezifischen Aspekte von Gewalt zu berücksichtigen. Vernünftige Gewaltprävention sollte sich also mit der Frage beschäftigen, wie die unterschiedlichen Geschlechter mit Gewalt umgehen, und welche 82_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Ursachen das hat. Dieser Bereich fällt in der öffentlichen Diskussion über die Ursachen von Gewalt häufig unter den Tisch. Im Folgenden geht es um die Gewalt von Jungen und jungen Männern unter Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen Aspekte. Gewalt ist vielschichtig. Einfache Erklärungen und Begründungen reichen oft nicht aus, um das Handeln von gewalttätigen Jugendlichen zu verstehen. Eine Dimension, die bei der Betrachtung von Gewalt eine besondere Rolle spielt, ist die Frage nach der aktiven oder passiven Gewalt. Jeder Täter, der Gewalt ausübt, hat in seinem Leben mehr als einmal die Erfahrung gemacht, was es heißt, Opfer zu sein. Häufig ergibt sich eine gewalttätige Karriere aus den Gewalterfahrungen in der Kindheit und Jugend. Und sei es nur durch das negative Vorbild. Wie soll jemand, der als Kind Schläge erhält, als Erwachsener gewaltfreie Konfliktlösungsmechanismen beherrschen? Es heißt, vom Opfer zum Täter ist es nur ein kleiner Schritt. Dieser Opfer-Täter Aspekt von Gewalt ist selten klar zu trennen, sollte aber immer berücksichtigt werden. Das Thema Jungen und Gewalt lässt sich also sowohl unter dem Blickwinkel Jungen als Opfer, als auch unter dem Blickwinkel Jungen als Täter betrachten. Zwei Drittel der körperlichen Gewalttaten von Jungen richten sich gegen Jungen. Auch beim Thema sexuelle Gewalt gegen Jungen wird von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen. Es ist Gewalt und Jungen (Jungen treten - Mädchen ziehen an den Haaren) anzunehmen, dass auch Jungen sehr viel häufiger Opfer von sexueller Gewalt sind, als bislang angenommen. Leider gibt es wenig genaue Untersuchungen. gen und Ohnmachtserfahrungen nicht fertig werden. Beschreibung von aktiver Gewalt bei Kindern und Jugendlichen Jungen sind aggressiver als Mädchen (Cains und Cains bei Rohrmann). Sie initiieren mehr Konflikte und sind häufiger deren Opfer. Im Konfliktfall schlagen Jungen eher zurück als Mädchen. Gewalttätiges Handeln ist schon bei Kindern einer sehr starken Differenzierung unterworfen. Wo bei Mädchen bei aggressivem Verhalten sehr schnell interveniert wird, geht es bei Jungen sehr häufig noch als normal durch. Jungen sind aktiver, sie versuchen in Raufereien „ihren Mann“ zu stehen und ernten wenig Kritik, manchmal sogar offene Zustimmung. Auf diese Weise bilden sich im Umgang mit Gewalt typisch weibliche und typisch männliche Verhaltensmuster. Der Meinung, dass Aggressivität ein angeborenes menschliches Verhaltensmuster ist, kann entgegengesetzt werden, dass es daneben, wie im Ausdruck von Schmerz oder Hilflosigkeit, auch andere mögliche Verhaltensmuster gibt. Es kommt nur darauf an, diese zu erlernen. Ein Problem für Jungen besteht allerdings darin, dass häufig die männlichen Vorbilder fehlen. Neben der Mutter werden die Kinder von Babysitterinnen, Erzieherinnen in Kindertagesstätten und Grundschullehrerinnen versorgt. Väter im Erziehungsurlaub sind immer noch relativ seltene Ausnahmen. Was männlich ist, lernen Jungen nicht von Vorbildern. Aber von wem dann? Von den vielen Ursachen für die Gewalt von Jugendlichen und jungen Männern sollen einige wichtige Aspekte im folgenden erörtert werden. Gewalt in der Familie Eine wichtige Rolle in der Sozialisation von Verhaltensweisen spielen Peergroups. Gerade im Miteinanderumgehen unter Jungen werden bestimmte gewalttätige Rituale toleriert. Allerdings lassen sich nicht alle Peergruppen über einen Kamm scheren. Häufig wird abweichendes Verhalten sanktioniert. Hyperaktive und aggressive Jungen stehen auch in Gefahr, sozial isoliert zu werden. ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_83 GEGEN DEN TREND ’2001 Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn, wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten. Dieser Vers aus den Sprüchen Salomos (Spr 13, 24) verdeutlicht, dass die Gewalt an Kindern, in diesem Fall an Söhnen, schon eine sehr lange Tradition hat. Wenn auch die körperliche Gewalt an Kindern gesellschaftlich in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer mehr an Akzeptanz verloren hat, so sprechen doch die statistischen Zahlen eine eindeutige Sprache. 1999 gab es in der Bundesrepublik über 3000 angezeigte Fälle von Kindesmisshandlung (http://www.bka.de). Das ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs. Schätzungen gehen für das Jahr 1990 von bis zu 300 000 Fällen von Kindesmisshandlungen aus (Möller 1991 bei Rohrmann). Bei Gewalt gegen Kinder sind, im Gegensatz zu den anderen Gewaltdelikten, Frauen mit einem relativ hohen Anteil als Täterinnen vertreten (ca. 40%). Jungen werden tendenziell häufiger geschlagen. Obwohl Untersuchungen belegen, dass körperliche Strafen sich aggressionsfördernd erweisen, waren 1993 immer noch mehr als die Hälfte der Eltern der Meinung, dass Kindern eine Ohrfeige ab und an nicht schade. Nicht zwangsläufig entwickeln sich später diejenigen Jungen am aggressivsten, die am häufigsten misshandelt wurden. Aber Gewalt ist für Jungen, viel stärker als für Mädchen, ein Ventil, wenn sie mit Konflikten, Misshandlun- Jungen und Gewalt Gewalt und Jungen (Jungen treten - Mädchen ziehen an den Haaren) Jugendgewalt GEGEN DEN TREND ’2001 Im Jugendalter spielt Gewalt eine noch größere Rolle als bei Kindern. Ob die Gewalt von Jugendlichen unter Jugendlichen tatsächlich zugenommen hat, darüber gibt es in der Forschung keine Einigkeit. In Zeitungsberichten und im Fernsehen wird dieser Eindruck vermittelt. Auch die akute permanente Gewalt von Rechts verstärkt diesen Eindruck einer erhöhten Gewalt bei Jugendlichen. Ob sich die Formen der Gewalt bei Jugendlichen verändert haben, ob wir durch eine intensivere Berichterstattung in den Medien den Eindruck haben, es gäbe mehr Gewalt unter männlichen Jugendlichen, oder ob es tatsächlich wirklich mehr Gewalt gibt, das ist nicht klar zu beantworten. Tatsache ist, dass Gewalt vor allem bei männlichen Jugendlichen in einem hohen Maß vorkommt. Das ist ein immenser gesellschaftlicher Missstand. Gewalt war auch immer schon ein Aufbegehren gegen das Establishment, das besonders von jungen Menschen beiderlei Geschlechts praktiziert wurde und war somit eine besondere Form von jugendlicher Gewalt. Die politisch motivierte Gewalt rechter Jugendlicher gegen Ausländer und Andersdenkende hat eine ganz andere Brisanz, wenngleich auch hierbei das Aufbegehren gegen die Erwachsenengesellschaft und die Ohnmachtsgefühle verursachenden Strukturen eine Rolle spielen können. Die sich verändernde gesellschaftliche Erfahrungswelt ist für Jugendliche unübersichtlicher und befremdender geworden. Gerade bei Jungen bringen ein Verschwinden des traditionellen Männerbildes und die Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt immense Verunsicherungen mit sich, die sich auch in gewalttätigem Verhalten äußern können. Gründe für Gewalt, die in der Forschung diskutiert werden, lassen sich beliebig fortführen. So gehören Armut, gesellschaftliche Ausgrenzung, gesellschaftlich-strukturelle Gewalt, ungünstige Familienverhältnisse, Politikverdrossenheit, Ohnmachtserfahrungen, 84_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Orientierungslosigkeit und Vereinzelung durch Individualisierungsprozesse zu möglichen Ursachen für die Gewalt auf den Straßen. Auch die Gewalt im Fernsehen wird als Ursache diskutiert. In der Wahrnehmung, dass Gewalt ein normales Mittel zur Durchsetzung von Konflikten ist, kann sie die Einstellung des Konsumenten zur Gewalt beeinflussen. Diese Begründungen haben sicher ihre Berechtigung. Aber Mädchen reagieren auf diese Belastungen anders als Jungen. Das heißt, es gibt auch noch geschlechtsspezifische Erklärungen, wieso Jungen auf diverse Probleme in ihrem Umfeld viel stärker mit Gewalt reagieren als Mädchen. Gewalt als Mittel der Identitätsfindung Für sozial benachteiligte Jugendliche kann traditionelle Männlichkeit ein Versuch sein, ihre Identität zu finden, um den Fall in soziale Bedeutungslosigkeit und individuelle Leere zu verhindern. Mut, Kampfbereitschaft, Darstellung der Kompetenz im Umgang mit Autos, Maschinen und Waffen, Negation von Gefühlen und eine durch Sprüche symbolisierte Abgrenzung zum anderen Geschlecht können als Aspekte der traditionellen Männlichkeit verstanden werden. Ehre, Territorium und die eigenen Frauen werden verteidigt, Schwule und Fremde müssen weg. Diesen Kriterien versuchen Jungen zu entsprechen, um sich in einer von Männern dominierten Kultur Respekt und Beachtung zu verschaffen. In der Gewalt mit sich bringenden Ausprägung dieser Männlichkeit wird sie von der Gesellschaft gefürchtet und bekämpft. Gewalt als Erlebnis Die meisten rationalen Begründungen für Gewalt bei Jugendlichen, bei männlichen Jugendlichen, treffen nicht das Phänomen, dass Gewalt Spaß macht. Bekannt ist der Begriff „im Rausch der Gewalt“. Das gewalttätige Auftreten von Hooligans Gewalt und Jungen (Jungen treten - Mädchen ziehen an den Haaren) kann als Beispiel dienen. Mann geht zum Fußballspiel wegen der Action, der Randale am Rand. Erst haut man sich auf den Kopf, um später miteinander ein Bier trinken zu gehen. Nicht die Jugendlichen aus den unteren Schichten am Rande der Gesellschaft, sondern ganz „normale“ junge Männer, die einen festen sozialen Status haben, lassen sich von der Gewalt berauschen. Gewalt kann hier als eine Aktion erlebt werden, in der der Jugendliche seinen Körper spürt. Manchmal scheint es, als ob Wut und Zerstörung das Einzige Ventil für unterdrückte Kraft und Lebendigkeit sind, und manchmal sieht es so aus, als ob Wut das Einzige sei, was Veränderung möglich macht. Nach meiner Einschätzung handelt es sich hierbei um das Ausleben von Emotionen bei Männern, die aus welchen Gründen auch immer im emotionalen Bereich Defizite aufweisen. Den Spaßaspekt bei der Gewalt gibt es nur bei jungen Männern und nicht bei Mädchen und Frauen. Gewalt als Angstabwehr Sich in der Gewalt spüren, Angst und Ohnmachtsgefühle überwinden - wieso haben männliche Jugendliche das nötig und Mädchen und Frauen eher nicht? Wenn Jungen Opfer von Gewalt werden, trauen sie sich häufig nicht, sich zu wehren und geben Gewalt an jüngere und schwächere Jungen weiter. Selbst schwere Misshandlungen werden vor den Eltern geheim gehalten. Das wäre nicht so, wenn das Verhältnis zum eigenen Körper nicht gestört wäre. Irgendwann macht eine Faust im Gesicht nichts mehr aus. Dann kommt zur Unempfindlichkeit gegenüber dem eigenen Schmerz noch die Unempfindlichkeit gegen den Schmerz überhaupt. Unsere Gesellschaft bietet Jungen wenig Möglichkeiten für „weiche Körpererfahrungen“. Neben Sport und Sex ist aggressives Verhalten eine immer noch akzeptierte Möglichkeit, Gefühle auszudrücken. Weil es an Möglichkeiten fehlt, die eigene Männlichkeit zu erleben, werden riskante Handlungen und Gewalt zum Ventil. Gewalt lässt Jungen ihren Körper spüren. Konsequenzen für die Gewaltprävention Beim Verstehen vom Gewalt ist ebenso wie in der praktischen Jugendarbeit zu berücksichtigen, dass Gewalt auch eine Form der Suche nach Männlichkeit darstellt. Auf Gewalt mit Sanktionen und Gegengewalt zu reagieren, erscheint mir nur da sinnvoll, wo es um berechtigte Interessen des Opferschutzes geht. Sonst gilt für Gewaltprävention wie für Jugendarbeit im Allgemeinen, dass die Jugendlichen dort abgeholt werden, wo sie stehen, ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_85 GEGEN DEN TREND ’2001 Jungen sind gleichaltrigen Mädchen oft unterlegen. Sei es bei den Schulleistungen oder durch den Reifevorsprung in der Pubertät. Wo es keine Möglichkeit gibt, das dadurch entstehende Ohnmachtsgefühl zu kompensieren, wird es durch die Form körperlicher Gewalt gegen Schwächere ausgelebt. Das dabei entstehende Machtgefühl hilft der Stärkung eines meist eher brüchigen Selbstwertgefühls. Unsicherheit und Überforderung werden weg geprügelt. Verstärken kann sich dieses Problem in familiären und sexuellen Beziehungen. Gerade bei Männern, die sich ihrer Männlichkeit nicht ganz sicher sind, kann es zu besonders herablassenden, aggressiven Verhaltensweisen kommen. Durch die Verankerung von der Gewalt in der Jungenkultur und die mangelnde Fähigkeit vieler Jungen, mit ihren Bedürfnissen, Konflikten und Gefühlen (besonders mit Angst und Hilflosigkeit) umzugehen, kommt es zur Männergewalt in allen Bereichen, in denen wir sie heute wahrnehmen. Solange es für Jungen und Männer nicht akzeptiert wird, Angst, Schmerz und Schwäche zu zeigen, bleiben die Gewaltbeziehungen unter Jungen bestehen. Gewalt und Jungen (Jungen treten - Mädchen ziehen an den Haaren) dass sie selbst und ihre Bedürfnisse ernst genommen werden. Nötig ist eine besondere Arbeit mit Jungen. Es ist wichtig, die Persönlichkeit der Jungen zu stärken und Orientierungshilfen zu geben. Hier sind männliche Vorbilder gefragt. Jungen brauchen die Möglichkeit, ihre Körper zu spüren und Gefühle auszudrücken. Erlebnis- und Abenteuerpädagogik, aber auch Theater- und Spielpädagogik bieten Handlungsansätze. Um in unserer Gesellschaft Männlichkeit positiv zu erleben, benötigen Jungen die Erfahrungen, Anregungen und Unterstützung von Männern, die Lust haben, sich mit ihnen zu beschäftigen. Gottfried Labuhn Literatur: Rohrmann, Timm: Junge, Junge - Mann, o Mann - Die Entwicklung zur Männlichkeit. Hamburg, 1994 GEGEN DEN TREND ’2001 Buskotte, Andrea: Gewalt - (k)eine reine Männersache? In: JUGEND GEWALT - UND KEIN ENDE? Hrsg. Landesstelle Jugendschutz in Hannover. Hannover, 1999 86_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … ›› Der Herr der Heerscharen Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt „Meine Faust will in sein Gesicht – und darf nicht, und darf nicht“ – Herbert Grönemeyer bringt in seinem Song „Was soll das“ die Ambivalenz des modernen Menschen in Bezug auf Gewalt auf den Punkt. Einmal ist Gewalt verpönt – statt zuschlagen lieber miteinander reden, statt Krieg führen lieber verhandeln. Aber andererseits gibt es da noch die Ebene der Emotionen, die im Falle eines Falles nur mühsam im Zaum gehalten werden können. Diese Form der Begeisterung, die das Innere aufwühlt und durcheinander bringt, die vor Wut schäumen lässt, die eine Spannung aufbaut, die sich so gerne in einem Gewaltakt entladen möchte. Bisweilen versagt die kulturelle Kontrolle und die Faust landet tatsächlich im Gesicht des Nebenbuhlers. Dieses „… und darf nicht!“ hat seine Geschichte. Diese moralische Ächtung von Gewalt als Mittel zur Lösung von Beziehungsproblemen im zwischenmenschlichen wie auch zwischenstaatlichen Bereich ist historisch gewachsen und zu einem großen Teil auch religiös motiviert. Wie sieht es mit dieser religiösen Motivation aus? Aus welchen Traditionen stammt sie? Wie gehen die beiden Testamente des christlichen Glauben mit der Gewaltfrage um? GEGEN DEN TREND ’2001 Von Pazifismus keine Spur? Wer in unserer Zeit das Alte Testament liest, wird an vielen Stellen die Stirn runzeln und sich fragen, welcher Gott kommt denn da auf mich zu. Alles andere als friedlich und sanftmütig mischt er sich in die Geschichte seines Volkes ein. Wenn er will, schickt er seinen Geist in Gestalt eines Engels zu einem friedlich vor sich hindreschenden Ackerbauern und beruft ihn zum Strategen und Kämpfer gegen plündernde Reitervölker (Richter 6,11ff.), oder er lässt durch seinen Propheten die Priester eines Konkurrenzgottes abschlachten (1.Kön.19). Statt entschieden die Ablehnung von Gewalt zu propagieren, zeugen viele Geschichten des Alten Testamentes eher 88_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … von einem unverkrampften Verhältnis dazu. Wie selbstverständlich können die Dichter mancher Psalmen in ihren Rachegedanken schwelgen (z.B. Psalm 137). Was ist das für ein Gott, der auf dem Schlachtfeld mitmischt, der seinen Geist ausschickt, um Kämpfern zum Sieg zu verhelfen, statt sie in den Strategien zur Gewaltvermeidung zu unterweisen? Nun, zunächst muss man bedenken, dass der Gott des Volkes Israel es recht schwer hatte, was Bekanntheitsgrad und Verehrungsmasse betraf. Er war im Grunde genommen genauso bedeutend wie das Volk, von dem er angebetet wurde. Diese Bedeutung hielt sich in Grenzen. Und diese Grenzen waren markiert von anderen Völkern, die Bedeutender waren und entsprechend bedeutendere Gottheiten verehrten. Ägypten, Babylon, Assyrien – Großreiche mit militärischer Macht und der Lizenz zu unterdrücken. Macht und Religion gingen Hand in Hand – je größer der militärische Erfolg, desto größer die Gottheit, die diesen Erfolg veranlasst oder zumindest begleitet hatte. Das Schlachtfeld war auch der Kampfplatz der Gottheiten – nicht nur vor den Toren Trojas, sondern überall im antiken Vorderasien bzw. Nordafrika. Ein besiegtes Volk hatte entweder eine schwache Gottheit, die ihm nicht helfen konnte, oder eine ärgerliche Gottheit, die mit seinem Volk aus bekannten oder unbekannten Gründen unzufrieden war (zu wenig Opfer, zu lasches Geboteeinhalten, zu viel Interesse an anderen Göttinnen und Göttern, etc.). Im Bewusstsein der Menschen war das eigene Überleben an die Macht und das Wohlwollen der Gottheit gebunden. Ein starker Gott hilft einem schwachen Volk: Showdown am Schilfmeer Das Urdatum der Geschichte der Volkes Israel war seine wundersame Errettung bei seinem Auszug Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt aus Ägypten. In der größten Bedrohung durch die Streitwagen der verfolgenden Ägypter tut sich dem fliehenden Volk das Schilfmeer auf. Trockenen Fußes können sie dem drohenden Gemetzel entkommen. Pech hatten die militärisch überlegenen Ägypter: 2.Mose 15,19-21: Denn der Pharao zog hinein ins Meer mit Rossen und Wagen und Männern. Und der HERR ließ das Meer wieder über sie kommen. Aber die Israeliten gingen trocken mitten durchs Meer. Da nahm Mirjam, die Prophetin, Aarons Schwester, eine Pauke in ihre Hand, und alle Frauen folgten ihr nach mit Pauken im Reigen. Und Mirjam sang ihnen vor: Lasst uns dem HERRN singen, denn er hat eine herrliche Tat getan, Ross und Mann hat er ins Meer gestürzt. Frauen konnten sich nicht nur über die Siege freuen – sie hatten bisweilen auch handfesten Anteil daran. Im Buch Judit wird erzählt, wie die Titelheldin mit Gottes Hilfe den schrecklichen Feldherrn Holofernes enthauptet: Judit 13,7-10: Nach diesem Gebet trat sie zu der Säule oben an seinem Bett und griff nach seinem Schwert, das dort hing, zog es heraus, ergriff ihn beim Schopf und betete abermals: Herr, Gott Israels, stärke mich in dieser Stunde! Darauf stach sie ihn zweimal mit ganzer Kraft in den Hals und schnitt ihm den Kopf ab. Danach wälzte sie den Körper aus dem Bett und nahm das Netz von den Säulen herunter. Kurz darauf ging sie hinaus und gab das Haupt des Holofernes ihrer Magd, damit sie es in ihren Sack steckte. Im Gebet bereitet sich Judit auf die Gewalttat vor – auch wenn es sich um die Befreiung von einem gefährlichen Unterdrücker und Plünderer handelte, bleibt die Verbindung von Spiritualität und Gewalt befremdlich: beten bevor man mordet? Oder vielleicht ist das auch gar nicht so befremdlich. Schließlich ist es schon ein Akt, das Lebenslicht eines anderen Menschen auszulösen. Tief in uns greifen noch die Mechanismen unseres animalischen Erbes, die uns eigentlich davor bewahren sollten, Artgenossen auszuschalten. Diese Hemmungen gilt es zu überwinden, will frau die eigene Stadt vor dem Aggressor schützen. Es braucht eine Form von „Begeisterung“, der Einstimmung in die Tat, die ohne innere Zustimmung nicht begangen werden kann. Im Gebet wird diese Selbstvergewisserung gesucht. Der Gott, der am Sinai unter anderem „Du sollst nicht töten“ gesprochen hat, muss anscheinend einbezogen werden, wenn Gewaltlösungen als ultima ratio notwendig werden. Im Gebet werden Kraft und Erlaubnis zur Überwindung der natürlichen Hemmung gesucht und gefunden. Die Ausführende wird damit zum ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_89 GEGEN DEN TREND ’2001 Unter dem Gesichtspunkt des Überlebens wird die Begeisterung angesichts des jämmerlichen Ersaufens der ägyptischen Heerscharen mit ihren gefährlichen Streitwagen verständlich: normalerweise hatten die Ägypter und ihre Gottheiten das Sagen und die Macht. Die Israeliten als kleine geduldete Volksgruppe, die sich gut zu Sklavenarbeit pressen ließ, hatten angesichts der Übermacht eigentlich wenig Aussicht aufs Überleben. Die Ägypter hatten die größeren Tempel und die mächtigeren Krieger. Doch plötzlich wendet sich das Blatt und der bis dahin namenlose Gott der Israeliten zeigt, was in ihm steckt. Der „Ich bin“ rettet sein erwähltes Volk vor dem sicheren Untergang. Mag man über die Methoden dieser Rettung auch geteilter Meinung sein – des einen Rettung, des anderen Untergang – es hätte evtl. auch elegantere Lösungen geben können und schließlich waren auch viele der Kriegswagenlenker Familienväter – so tritt doch mit diesem Ereignis ein Wandel in der theologischen Reflexion ein: fortan gilt nicht mehr die Gleichung: großes, starkes, bedeutendes Volk gleich große, starke, bedeutende Götter. Vielmehr dürfen ab jetzt gerade die Unterdrückten auf Hilfe hoffen. Eine betende Terminatorin: Judit Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt Medium des Eingreifens Gottes zum Schutz seines Volkes. Begeisterung macht stark: Simson GEGEN DEN TREND ’2001 In der Zeit der sogenannten „Landnahme“, also des allmählichen Zusammenwachsens und Ausbreitens der Stämme, die sich dann zum Volk Israel zählten, hat es eine Vielzahl von Konflikten gegeben. Konfliktgegner waren die „Philister“ – ein Sammelbegriff für andere Bevölkerungsgruppen, die schon in dem Land lebten, das die Stämme Israels für sich beanspruchten. Das Kriegsglück war häufig auf Seiten der Philister. Dann konnte es aber geschehen, dass Gott sich einen Menschen auswählte, um durch seine Hilfe sein Volk zu retten. Die sogenannten „Richter“ sind Männer und Frauen, die zu ungewöhnlichen Taten fähig wurden. Allerdings hatten sie diese Fähigkeiten nicht aus sich selbst heraus. Vielmehr war es Gottes Geist, der sie ergriff und ihnen strategisches Wissen oder übermenschliche Kampfkraft verlieh. Richter 15,9-20: Da zogen die Philister hinauf und lagerten sich in Juda und breiteten sich aus bei Lehi. Aber die von Juda sprachen: Warum seid ihr gegen uns heraufgezogen? Sie antworteten: Wir sind heraufgekommen, Simson zu binden, dass wir ihm tun, wie er uns getan hat. Da zogen dreitausend Mann von Juda hinab in die Felsenkluft zu Etam und sprachen zu Simson: Weißt du nicht, dass die Philister über uns herrschen? Warum hast du uns denn das angetan? Er sprach zu ihnen: Wie sie mir getan haben, so hab ich ihnen wieder getan. Sie sprachen zu ihm: Wir sind herabgekommen, dich zu binden und in die Hände der Philister zu geben. Simson sprach zu ihnen: So schwört mir, dass ihr selber mir nichts antun wollt. Sie antworteten ihm: Nein, sondern wir wollen dich nur binden und in ihre Hände geben und wollen dich nicht töten. Und sie banden ihn mit zwei neuen Stricken und führten ihn aus der Felsenkluft hin- 90_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … auf. Und als er nach Lehi kam, jauchzten die Philister ihm entgegen. Aber der Geist des HERRN geriet über ihn, und die Stricke an seinen Armen wurden wie Fäden, die das Feuer versengt hat, so dass die Fesseln an seinen Händen zerschmolzen. Und er fand einen frischen Eselskinnbacken. Da streckte er seine Hand aus und nahm ihn und erschlug damit tausend Mann. Von der Begeisterung zur Gewalt – spannender geht’s nicht mehr. Simson, eine Art Bud Spencer des Alten Testamentes, wird nach diversen Streichen und Fiaskos, die er den Philistern angetan hat, von den eigenen Leuten an seine Feinde ausgeliefert. Aber die freuen sich wieder einmal zu früh – sie rechnen nicht mit der Kraft der Begeisterung. Nicht nur Wut oder menschlicher Überlebenswille treiben Simson an, es ist die göttliche Kraft, die in ihm den Blutrausch wirkt. Tausend Mann der Philister bekommen es zu spüren wie das ist, wenn die Kraft des Herrn in einem Menschen brennt und der Unterkiefer eines Eselsskeletts in greifbarer Nähe ist. In der theologischen Reflexion wird Gewalt nicht grundsätzlich problematisiert. Sie steht in der rückblickenden Geschichtsbetrachtung der Deuteronomisten (5.Mose bis 2.Könige) in einem engen Zusammenhang mit dem Eingreifen Gottes in die Geschichte seines Volkes. Dieses Eingreifen geht nach einem recht einfachen Schema vor sich: wenn Israel sich an die Satzungen und Gebote Gottes hält und ihn allein verehrt, dann führt sein Geist zu Kampf und Sieg. Ist Israel dagegen den Geboten und Gott untreu, dann zieht Gott seinen Geist zurück und die Philister dürfen wieder über das Volk herfallen und es knechten. So lange, bis es sich bessert. Die jugendliche Geheimwaffe: David Kriegsglück ist Gnade und Segen Gottes, ist Teil des Schutzes, den Gott seinem Volk gewährt. Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt Bisweilen sind es recht merkwürdige Umstände unter denen Israel diesen Schutz erfährt. Seine Feinde einfach nur besiegen kann jeder mit entsprechender Rüstung und Ausbildung und Taktik. Aber das Schlachtfeld ist immer auch Ort der Gotteserfahrung. Und die wird um so stärker, je aussichtsloser die Situation ist. Sich auf diesen Gott zu verlassen und auf seine Hilfe zu vertrauen ist wichtiger als die zahlen- oder kräftemäßige Überlegenheit. In der rückschauenden Erzählung über die großen Taten der Vorfahren wird Gott als Helfer auf der Seite der Kleinen und Schwachen gesehen. Auch nicht gerade eine Geschichte für das Lesebuch zur Überwindung von Gewalt. Man darf aber nicht vergessen, dass sie aus einer Zeit stammte, in der Spiele ohne Sieger noch kein Thema waren. Sieg oder Untergang war die Alternative für die Sippen und Clans, die in Palästina um Wasser und Weideland stritten. Eine Kampfmaschine wie Goliath brachte im Kampf ums Überleben natürlich entscheidende Vorteile für den eigenen Stamm. Aber Rüstung und Waffen helfen nicht gegen einen Gott, der „Jahwe Zebaoth“ heißt – der Gott der Heerscharen, der Schlachtreihen Israels. Gott steht auf der Seite der Schwachen und wendet sogar aussichtslose Situationen wie diesen ungleichen Zweikampf. Größe und Größenwahn Mit David beginnt aber auch ein neuer Abschnitt in der Geschichte Israels. Aus dem lockeren Verband mehrerer Sippen und Stämme entwickelt sich ein Zentralstaat mit dem König an der Spitze. Eine straffere militärische Organisation wird zur ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_91 GEGEN DEN TREND ’2001 1.Sam.17,39-51: Und David gürtete Sauls Schwert über seine Rüstung und mühte sich vergeblich, damit zu gehen; denn er hatte es noch nie versucht. Da sprach David zu Saul: Ich kann so nicht gehen, denn ich bin’s nicht gewohnt; und er legte es ab und nahm seinen Stab in die Hand und wählte fünf glatte Steine aus dem Bach und tat sie in die Hirtentasche, die ihm als Köcher diente, und nahm die Schleuder in die Hand und ging dem Philister entgegen. Der Philister aber kam immer näher an David heran, und sein Schildträger ging vor ihm her. Als nun der Philister aufsah und David anschaute, verachtete er ihn; denn er war noch jung, und er war bräunlich und schön. Und der Philister sprach zu David: Bin ich denn ein Hund, dass du mit Stecken zu mir kommst? Und der Philister fluchte dem David bei seinem Gott und sprach zu David: Komm her zu mir, ich will dein Fleisch den Vögeln unter dem Himmel geben und den Tieren auf dem Felde. David aber sprach zu dem Philister: Du kommst zu mir mit Schwert, Lanze und Spieß, ich aber komme zu dir im Namen des HERRN Zebaoth, des Gottes des Heeres Israels, den du verhöhnt hast. Heute wird dich der HERR in meine Hand geben, dass ich dich erschlage und dir den Kopf abhaue und gebe deinen Leichnam und die Leichname des Heeres der Philister heute den Vögeln unter dem Himmel und dem Wild auf der Erde, damit alle Welt innewerde, dass Israel einen Gott hat, und damit diese ganze Gemeinde innewerde, dass der HERR nicht durch Schwert oder Spieß hilft; denn der Krieg ist des HERRN, und er wird euch in unsere Hände geben. Als sich nun der Philister aufmachte und daherging und sich David nahte, lief David eilends von der Schlachtreihe dem Philister entgegen. Und David tat seine Hand in die Hirtentasche und nahm einen Stein daraus und schleuderte ihn und traf den Philister an die Stirn, dass der Stein in seine Stirn fuhr und er zur Erde fiel auf sein Angesicht. So überwand David den Philister mit Schleuder und Stein und traf und tötete ihn. David aber hatte kein Schwert in seiner Hand. Da lief er hin und trat zu dem Philister und nahm dessen Schwert und zog es aus der Scheide und tötete ihn vollends und hieb ihm den Kopf damit ab. Als aber die Philister sahen, dass ihr Stärkster tot war, flohen sie. Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt GEGEN DEN TREND ’2001 Grundlage für Eroberungen und Unterdrückung der Nachbarvölker. Die Vielzahl der kleinen Konflikte um Äcker und Beute wird abgelöst durch stabilere Verhältnisse – gegen die militärische Überlegenheit Israels kommen die kleineren Nachbarvölker nicht gegen an. In Palästina ist Israel zur einflussreichen Großmacht aufgestiegen. Das gibt einerseits Ruhe in der Region, andererseits aber ruft es auch andere Großmächte als neue Konfliktpartner auf den Plan. Ägypten, Assyrien und Babylonien wechselten sich in den Jahrhunderten als Gegner ab. Mit denen kann man aber besser ins Geschäft kommen als mit irgendwelchen marodierenden Räuberbanden. Das heißt, dass Politik zunehmend an Bedeutung gewinnt. Es wird möglich, Machtgefüge durch geschickte Diplomatie auszubalancieren. Wer regelmäßig Tribut zahlt, der kann auch einigermaßen in Frieden leben. Wer dagegen auf militärische Stärke setzt, geht das Risiko ein, dass das Imperium zurückschlägt. Das Nordreich Israels hatte das 722 v.Chr. schmerzhaft erfahren müssen, als es gegen die Oberherrschaft der Assyrer rebellierte. Nach der militärischen Niederlage gingen die Menschen in die Deportation und das Reich hörte auf zu existieren. Statt auf Waffen, Wagen und Wehrhaftigkeit zu setzen, werden in der theologischen Reflexion verstärkt intelligente Wege zur Friedensbewahrung und Deeskalation bedacht. Vor allem in der Verkündigung der Propheten tauchen immer wieder kritische Stimmen auf, die davor warnen, sich auf militärische Abenteuer einzulassen. Jesaja 31,1-3: Weh denen, die hinabziehen nach Ägypten um Hilfe und, sich verlassen auf Rosse und hoffen auf Wagen, weil ihrer viele sind, und auf Gespanne, weil sie sehr stark sind! Aber sie halten sich nicht zum Heiligen Israels und fragen nichts nach dem HERRN. Aber auch er ist weise und bringt Unheil herbei und nimmt seine Worte nicht zurück, sondern wird sich aufmachen wider das Haus der Bösen und wider die Hilfe der Übeltäter. Denn Ägypten ist Mensch und nicht Gott, 92_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … und seine Rosse sind Fleisch und nicht Geist. Und der HERR wird seine Hand ausstrecken, so dass der Helfer strauchelt und der, dem geholfen wird, fällt und alle miteinander umkommen. Plötzlich geht es nicht mehr einfach nur darum, dass Gott seinen Segen zu einer militärischen Unternehmung gibt und die Schlachtreihen Israels siegreich bleiben. Jetzt gibt es so etwas wie einen übergeordneten Gedanken, bei dem die Sinnhaftigkeit des Tuns über den göttlichen Beistand entscheidet. Mit den Ägyptern ein Bündnis einzugehen, um eventuell den Assyrern die Stirn zu bieten, ist ein riskantes militärisches und politisches Abenteuer. Jesaja warnt seinen König Hiskia davor, sich in dieses Abenteuer zu begeben. Der Gott Israels steht darin nicht automatisch auf seiner Seite. Es kann sogar sein, dass Gott sich des Assyrerkönigs Sanherib (705-681 v.Chr.) bedient, um sein Volk für die Gottvergessenheit seines Königs zu strafen. Rohrstockpädagogik im Kleinen ... Aber Gewalt ist nicht nur ein Phänomen des Überlebenskampfes der Sippen und Staaten gewesen. Sie ereignet sich nicht nur in Einzelkämpfen und auf Schlachtfeldern, sondern ist alltäglicher Bestandteil in Erziehung und Rechtssprechung. Wo es an Gehorsam mangelt, kann selbstverständlich Gewalt eingesetzt werden, um ihn zu erzwingen. Wo eine Schuld begangen wird, muss selbstverständlich eine entsprechende Strafe verhängt werden – das ist ein wichtiges Prinzip nach dem das Alte Testament das Zusammenleben der Menschen regelt. Eine Fülle von Geboten und Vorschriften beschreiben, wie im Einzelnen verfahren werden soll, wenn jemand sich außerhalb des zulässigen Verhaltens bewegt. Die Anweisungen darüber, wie dann zu verfahren sei, waren nicht gerade zimperlich. 5.Mose 21,18 Wenn jemand einen widerspenstigen und ungehorsamen Sohn hat, der der Stimme Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt seines Vaters und seiner Mutter nicht gehorcht und auch, wenn sie ihn züchtigen, ihnen nicht gehorchen will, so sollen ihn Vater und Mutter ergreifen und zu den Ältesten der Stadt führen und zu dem Tor des Ortes und zu den Ältesten der Stadt sagen: Dieser unser Sohn ist widerspenstig und ungehorsam und gehorcht unserer Stimme nicht und ist ein Prasser und Trunkenbold. So sollen ihn steinigen alle Leute seiner Stadt, dass er sterbe, und du sollst so das Böse aus deiner Mitte wegtun, dass ganz Israel aufhorche und sich fürchte. Gewalt war legitim als pädagogisches Mittel bis hin zur Todesstrafe selbst gegen die eigene Nachkommenschaft. Für das, was jemand verbrochen hat, muss ihm auch Vergeltung widerfahren, sonst gerät die Gesellschaft aus der Ordnung. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ist das bekannte Schlagwort des ius talionis, des Vergeltungsrechtes. Zu bedenken ist, dass diese gesetzlichen Regelungen immerhin schon eine kulturelle Errungenschaft sind, indem sie einer ungezügelten Rache ein geregeltes Verfahren der Vergeltung gegenüberstellten. Gewalt soll begrenzt werden und nicht unkontrolliert hervorbrechen. ...und im Großen 2.Kön.24,18-20: Einundzwanzig Jahre alt war Zedekia, als er König wurde; und er regierte elf Jahre zu Jerusalem. Seine Mutter hieß Hamutal, eine Tochter Jirmejas aus Libna. Und er tat, was dem HERRN missfiel, wie Jojakim getan hatte. Denn so geschah es mit Jerusalem und Juda um des Zornes des HERRN willen, bis er sie von seinem Angesicht wegstieß. Es hatte nur wenige Zeiten gegeben, in denen „von Dan bis Beersheba“ ein jeder unter seinem Feigenbaum und Weinstock in Frieden sitzen konnte. Gewalt ist immer eine Bedrohung gewesen und oftmals hatte das Volk darunter zu leiden. Wenn der „Hüter Israels“ wirklich nicht schläft und schlummert (Psalm 121,4), dann musste man irgendwie erklären, weshalb immer wieder fremde Mächte sich nicht davon abbringen ließen, mit ihren Kriegsheeren durchs Land zu ziehen. Die Deutung der kleinen und großen Katastrophen als Strafe für unbotmäßiges Verhalten von Volk und König ist schnell bei der Hand. Zudem korrespondiert sie mit den Alltagserfahrungen von Gewalt als Strafe für Verfehlungen und Übertretungen der Gebote. Der andere Gott Trotzdem: neben den Erzählungen von dem gewaltigen und gewalttätigen Gott finden sich auch noch ganz andere Seiten seines Wesens beschrieben. Da ist der Gott, der den Kain wegen seines Mordes an seinem Bruder Abel nicht tötet, sondern ihm sein Leben lässt. Statt Todesstrafe nur lebenslänglich eine unstete und flüchtige Existenz. Da ist der Gott, der, nach dem fast hundertprozentigen Auslöschen der Menschheit durch die Sintflut, plötzlich Gewissenbisse bekommt und sich ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_93 GEGEN DEN TREND ’2001 Wessen alltägliches Leben so von Gewalt geprägt ist, wer durch die Drohung von Strafe auf geordneten Lebensbahnen gehalten wird, für den wird auch Gott in Gleicherweise sein Handeln in der Welt gestalten. Die geschichtlichen Ereignisse und Katastrophen sind dann durch Gottes Handeln heraufgeführt. Das Schema ist einfach: Gnade zeigt sich in siegreichen Unternehmungen, wenn sich das Volk an die Gebote hält. Wenn das Volk die Gebote verachtet, schickt Gott militärische Niederlagen, Eroberungen und Plünderungen. Gott hält Gericht und straft sein Volk – so deuten die Geschichtstheologen das Auf und Ab von Sieg und Niederlage vom Anfang der Eroberung des gelob- ten Landes bis hin zu der großen Katastrophe von 586 v.Chr. als die Neubabylonier unter Nebukadnezar Jerusalem erobern und den Tempel zerstören. Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt ernsthaft vornimmt, nie wieder so zu strafen. Es scheint neben der Rede von dem eifernden Gott auch noch den Gedanken an einen Gott zu geben, der in unmenschlicher oder besser übermenschlicher Weise seinen Geschöpfen Nachsichtigkeit gewährt. Spuren dieser anderen Seite Gottes finden sich an vielen Stellen. So gibt es z.B. in den Kriegsgesetzen neben den Anweisungen darüber, wie die Städte der Andersgläubigen zu vernichten seien (5. Mose 20,10-18), auch ungewohnt nachsichtige Regelungen: 5. Mose 20,5-7: Und die Amtleute sollen mit dem Volk reden und sagen: Wer ein neues Haus gebaut hat und hat’s noch nicht eingeweiht, der mache sich auf und kehre heim, auf dass er nicht sterbe im Krieg und ein anderer es einweihe. Wer einen Weinberg gepflanzt hat und hat seine Früchte noch nicht genossen, der mache sich auf und kehre heim, dass er nicht im Kriege sterbe und ein anderer seine Früchte genieße. Wer mit einem Mädchen verlobt ist und hat es noch nicht heimgeholt, der mache sich auf und kehre heim, dass er nicht im Krieg sterbe und ein anderer hole es heim. GEGEN DEN TREND ’2001 Ja, sogar den Furchtsamen wird die Kriegslast abgenommen und sie werden nach Hause entlassen: 5. Mose 20,8: Und die Amtleute sollen weiter mit dem Volk reden und sprechen: Wer sich fürchtet und ein verzagtes Herz hat, der mache sich auf und kehre heim, auf dass er nicht auch das Herz seiner Brüder feige mache, wie sein Herz ist. Merkwürdige Töne in einer rauen Zeit, in der das eigene Überleben immer wieder auf dem Spiel stand. Aber vielleicht ein Fingerzeig dafür, dass hinter dem Gewaltsamen, von dem auch das Gottesbild nicht ausgenommen war, schon etwas aufleuchtet, das hinweist auf eine neue Sicht- 94_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … weise. Hoffnung auf einen Frieden, der nicht mehr durch das Auslöschen der Feinde mit Hilfe göttlicher Gewalt geschieht. Es wächst die Sehnsucht nach einem Gott, der nicht mehr die Schlachtreihen Israels anführt, sondern der dafür sorgt, dass der Teufelskreis der Gewalt unterbrochen wird und die Völker nicht mehr übereinander herfallen. Jesaja 2,1-5: Dies ist’s, was Jesaja, der Sohn des Amoz, geschaut hat über Juda und Jerusalem: Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, laßt uns auf den Berg des HERRN gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. Und er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, laßt uns wandeln im Licht des HERRN! Die Vision einer neuen Form der Begeisterung: Menschen verfallen nicht mehr dem Blutrausch, sondern werden vom Wissensdurst getrieben. Ihr Fernweh wird durch Bildungsreisen kuriert und muss nicht mehr durch Eroberungszüge gestillt werden. Ihre Erfindungskraft konzentriert sich auf die Verbesserung der landwirtschaftlichen Anbauund Erntemethoden im Rückgriff auf die ehemaligen Raub- und Plünderwerkzeuge. Frieden ist möglich in einer Welt, die von Vergebung geprägt ist. Vergebung, die von Gott ausgeht, sich in den Menschen entfaltet und ihr Miteinanderleben prägt. Nach dem Untergang Jerusalems hofft der Prophet Jeremia auf diese Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt neue Zeit, in der es einen neuen Bund geben wird zwischen Gott und den Menschen. Jeremia 31,33-34 sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein. Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, klein und groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken. Ein vergebender Gott, der seinen Geist schickt, damit Menschen auf seinen Wegen zum Leben wandeln. Und wenn sie Um- und Irrwege gehen, werden sie nicht zurückgeprügelt, sondern sie dürfen freiwillig umkehren, weil Vergebung und neue Liebe auf sie warten. Diese Vision Jeremias zeigt, wie sich das Bild Gottes im Laufe der Zeit und der geschichtlichen Erfahrungen verwandelt hat. Aus dem Kriegsgott kleiner, um ihr Leben kämpfender Stämme wird ein Weltgott, der die Menschen zu mehr befähigen kann als nur sich möglichst effektiv und ausdauernd die Schädel einzuschlagen. Runter mit der Hasskappe – rauf mit dem Helm des Heils! Diese Spur des Gottes, der den Frieden will und alles Erdenkliche dafür tut, wird im neuen Testament vollends deutlich. Was sich martialisch anhört, ist bei näherer Betrachtung eher als defensive Bewaffnung zu verstehen. Es fehlen Speer und Bogen – typische Distanzwaffen für Angreifer. Besonders der Schild des Glaubens ist ein schönes Bild – er dient zum Auslöschen der Aggression des Bösen. Aber Auslöschen reicht – es ist nicht die Rede vom Zurückschießen! Aggressionen ins Leere laufen lassen mit Hilfe des Glaubens – wie kann das geschehen? Ist es überhaupt möglich? Was muss dieser Glaube beinhalten, damit es möglich werden kann? Es fängt wohl damit an, dass Jesus in Gott nicht mehr den Rohrstockpädagogen der alten Zeit gesehen hat. Er hat sich selbst von einem neuen Bild von Gott leiten lassen und gleichzeitig ist in ihm dieses neue Bild Gottes geoffenbart worden.. Lukas 13,1-4: Es kamen aber zu der Zeit einige, die berichteten ihm von den Galiläern, deren Blut Pilatus mit ihren Opfern vermischt hatte. Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Meint ihr, dass diese Galiläer mehr gesündigt haben als alle andern Galiläer, weil sie das erlitten haben? Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen. Oder meint ihr, dass die achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel und erschlug sie, schuldiger gewesen sind als alle andern Menschen, die in Jerusalem wohnen? Unheil, Unglück, Katastrophen sind nicht Strafen eines zornigen Gottes für die Übertretung seiner Gebote. Gott übt damit nicht Rache für unbotmäßiges Verhalten. Das „Warum“ wird nicht geklärt, aber abgewiesen wird diese allzu einfache Erklärung der negativen Welterfahrungen. Gott verübt keine Gewalttaten, er schubst keinen Turm um, um Menschen in ihre Schranken zu weisen. Sie sind ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_95 GEGEN DEN TREND ’2001 Epheser 6,13-17: Deshalb ergreift die Waffenrüstung Gottes, damit ihr an dem bösen Tag Widerstand leisten und alles überwinden und das Feld behalten könnt. So steht nun fest, umgürtet an euren Lenden mit Wahrheit und angetan mit dem Panzer der Gerechtigkeit, und an den Beinen gestiefelt, bereit, einzutreten für das Evangelium des Friedens. Vor allen Dingen aber ergreift den Schild des Glaubens, mit dem ihr auslöschen könnt alle feurigen Pfeile des Bösen, und nehmt den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes. Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt für ihn zu wertvoll, als dass er so grob mit ihnen umginge. Aus dieser Überzeugung entwickelt Jesus Christus seinen Umgang mit den Menschen. Sie sind für ihn alle – die Guten wie die Bösen – Kinder des himmlischen Vaters, der die Sonne aufgehen lässt über Gerechte wie Ungerechte. So sind selbst die Menschen unter deren Feindseligkeit man zu leiden hat, nicht Feinde im endgültigen Sinn. Auch für sie lohnt sich das Gebet: GEGEN DEN TREND ’2001 Matthäus 5,43-45: Ihr habt gehört, dass gesagt ist (3. Mose 19,18): »Du sollst deinen Nächsten lieben« und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. „Liebet eure Feinde!“ – das ist der vielleicht steilste Satz der Welt- und Geistesgeschichte. Um ihn denken und erst recht leben zu können, muss man schon so etwas wie einen „Helm des Heils“, eine „Glaubenskappe“ auf dem Kopf haben – eine Gründung der eigenen Existenz in der Zusage Gottes, in seinem Erbarmen. Ein festes Vertrauen auf sein Wohlwollen trotz aller üblen Welterfahrung, die so oft dagegen zu sprechen scheint. Und dann muss auch noch eine Übertragung stattfinden: dass dieses Wohlwollen Gottes nicht exklusiv nur für einen selber und die paar Gutmenschen um einen herum gilt, sondern dieses Wohlwollen erstreckt sich auf alle Menschen und keiner kann jemals davon ausgeschlossen werden. Es ist die pure Zumutung und wer ihr folgen kann, muss begeistert sein, muss von Gottes Geist mit diesem Glauben erfüllt worden sein. Es geht um eine Begeisterung der neuen Art als Kreativität für den Frieden. Matthäus 5,38-41: Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 21,24): »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben 96_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. Wie kann ich dem Feind den Boden für seine Feindschaft entziehen – das ist die Leitfrage unter der Jesus auf dieses Problem der kleinen und großen menschlichen Beziehungsstörungen blickt. Das alte Schema der „geregelten Rache“ – also nur das dem anderen zerstören, was er bei mir oder den Meinen zerstört hat und ihm nicht darüber hinaus heimzahlen – greift nicht mehr. Es ist die alte Form der „Rohrstockpädagogik“: der Andere muss spüren, was er falsch gemacht hat, soll am eigenen Leibe erfahren, was er Anderen angetan hat. In der Rache entlädt sich die Spannung, die durch die Untat im Opfer aufgebaut wurde. Aber in den seltensten Fällen ist damit die Sache erledigt und aus der Welt geschafft. Meistens wird neue Spannung aufgebaut, die sich im Täter entwickelt und ihn nun seinerseits auf Rache sinnen lässt. Ein Kreislauf ohne Ende mit der Aussicht auf Steigerung der Gewalt. Eine Rache, die keine Einsicht beim Täter hervorruft, bleibt ohne Erfolg und beendet die Feindschaft nicht. Kreativität für das Evangelium des Friedens Was kann man der Feindschaft entgegenstellen ohne selber feindselig zu sein. Jesus nennt mehrere Beispiele, wie er mit Feindschaft umgehen würde. Es sind Formen des aktiven aber gewaltfreien Widerstandes: Die andere Backe hinhalten, wenn man auf die rechte Backe geschlagen wird: auf die rechte Backe kann jemand normalerweise nur mit dem Handrücken der linken Hand schlagen. Das war im alten Orient eine außerordentlich beleidigende Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt Geste gewesen. Es geht also um Beleidigung und nicht um Prügelei. Die andere Backe hinhalten meint: steige auf die Beleidigung nicht mit einer Gegenbeleidigung ein, lass dich nicht in Feindschaft hineinziehen, sondern mache dem anderen bewusst, was er getan hat. Sei dabei aktiv und lass dich nicht in die Opferrolle hineindrängen. Zu dem Rock auch noch den Mantel geben – das spielt an auf eine Situation vor Gericht, in der es um Pfändung geht. Der Mantel war oftmals der letzte Besitz und Schutz vor der Kälte der Nacht. Zu dem Mantel auch noch das Untergewand herzugeben bedeutete, nackt vor Gericht zu stehen – eine Peinlichkeit und Schande, die aber zu Lasten des Fordernden ging. Zu der ersten Meile auch noch die zweite mitzugehen – das greift ein Gesetz der römischen Besatzungsmacht auf, nach dem jeder Legionär einen Juden dazu zwingen konnte, ihm sein Gepäck eine Meile weit zu tragen. Eine schwere Demütigung ganz gewiss. Aber nach der einen Meile nicht einfach stehen zu bleiben, sondern fröhlich pfeifend den Rucksack auch noch weiter zu tragen – das ist eine äußerst souveräne Art von Protest, die der Besatzer machtlos hinnehmen muss. (Vergleiche dazu auch die ausführliche Interpretation dieser Stelle bei: Walter Wink, Der dritte Weg Jesu, in: Schritte gegen Tritte, S. 40-44; oder auch im Internet: http://bs.cyty.com/elmbs/wink.htm) Wenn heute Gewalt in allen ihren Spielarten als problematisch empfunden wird, dann hat das seine Wurzeln auch in diesem neuen Gottesbild, das schon im Alten Testament aufgeleuchtet hat und dann in Jesus Christus sichtbar geworden ist. Begeisterung von diesem Gott und durch diesen Gott kann die Kreativität freisetzen, die dazu hilft, Gewalt zu überwinden. Praxisbeispiel „Liebet eure Feinde!“ dieses Wort Jesu ist wohl nur auf dem Hintergrund seines Gottes- und Menschenbilds zu verstehen. Gott ist für Jesus jemand, dessen Liebe weder durch das gewonnen noch durch das zerstört werden kann, was ein Mensch in seinem Leben an Taten vollbringt. Der Mensch ist und bleibt ein geliebtes Wesen und sei er noch so schlecht. „Liebet eure Feinde“ heißt, sich von dieser Perspektive Gottes anrühren zu lassen. Es bedeutet nicht, dass sich Gemeinheit und Gewalt einfach so niederkuscheln lassen – so naiv war Jesus nun wirklich nicht. Aber damit überhaupt Kreativität für die Überwindung von Gewalt freigesetzt werden kann, muss zwischen der Schuld und dem Schuldigen unterschieden werden. Sich diese Unterscheidung bewusst zu machen, ist Ziel dieser Methode: Wir phantasieren einen Lebenslauf Auf einem großen Blatt Papier liegt eine Babypuppe oder eine Babyfoto. Wir sammeln Gedanken zu dem, was ein Neugeborenes für uns bedeutet. Etwa: schutzlos, offenes Buch, noch nicht fertig, Hardware, die noch Software braucht, etwas, das wachsen will und wachsen wird, unschuldig, angewiesen, positive Gefühle. Die Einfälle werden ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_97 GEGEN DEN TREND ’2001 Überbiete das, was der andere von dir fordert, er kann dann nicht auf deine Aggression reagieren. Es geht also nicht darum, kleinbeizugeben, sondern darum, dem Täter seine eigene Feindseligkeit bewusst zu machen. Den Teufelskreis von Erniedrigung und Rache, von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen, dazu braucht es diese Kreativität für den Frieden. Sie wächst aus der Begeisterung für den Weg, den Jesus selbst gegangen ist – bis hin zum Kreuz. Die Abkehr von dem alten Schema von Schuld und Strafe und die Entdeckung der Vergebung und der grundsätzlichen und unwiderruflichen Menschenfreundlichkeit Gottes sind wichtige Meilensteine auf diesem Weg. Der Herr der Heerscharen - Biblische Streiflichter zum Thema Gewalt GEGEN DEN TREND ’2001 auf dem Papier um die Babypuppe notiert. Dann wird ein etwas größerer Umriss als „Hülle“ um die Babypuppe herum aufgezeichnet. Wir überlegen, welche Entwicklung das Kind durchmacht. Kindergarten und Grundschule – welche Erfahrungen werden damit verbunden sein? Kampf um Spielzeug, Freundschaften, Feindschaften, … Die Begriffe werden um den ersten Umriss herum notiert. Dann folgt ein weiterer Umriss, der eine weitere Entwicklungsstufe markiert: Sortierung in der OS – wer kommt wohin? Ich bin, was ich in der Schule leiste; ich darf weiter von zu Hause weggehen, aber es wird auch gefährlicher; ich muss stark sein und mich behaupten. Eine dritte und vierte „Hülle“ markieren weitere Entwicklungsstufen mit eigenen Erfahrungen. Leben in der Clique, was läuft am Wochenende, sich stark fühlen in der Gruppe, vielleicht auch eigenen Taten in Richtung Gemeinheit und Gewalt. Am Ende blicken wir gemeinsam auf die Babypuppe und dem, was sich daraus entwickelt hat. Wir merken, jeder Mensch fängt sein Leben an als ein schutzbedürftiges, hilfloses, unschuldiges (wir lassen jetzt mal die Erbsündenlehre beiseite), liebenswertes Wesen an. Es legen sich Erfahrungen und Handlungen um dieses Anfangswesen herum – es verliert viel von seiner ursprünglichen Liebenswürdigkeit, vielleicht gibt es sogar Grund zum Hass. Aber worauf würde sich der Hass richten? Auf das Wesen, das in der Mitte der „Hüllen“ liegt, oder auf das, was als „Hülle“, als Erfahrungen und Taten zu dem Menschen dazu gekommen ist? Kann der Blick noch zu diesem Ausgangspunkt hindurch dringen? Das wäre der Perspektivenwechsel, den Jesus von Nazareth eingeleitet hat. 98_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Vor Gott kann der Mensch seine Würde und seinen Wert nicht verlieren – auch nicht durch seine Taten. Gott blickt hindurch zu dem, was der Mensch einmal war. Nicht auf den sogenannten „guten Kern“, sondern auf das, was einmal klein angefangen hat: ein schutzloses, liebenswürdiges Geschöpf, das atmet und schreit und Wärme und Zuwendung braucht. Ist es möglich, diesen gottgeliebten Kern in jedem Menschen zu entdecken – auch und gerade in denen, mit denen das Leben schwer ist? Ralph-Ruprecht Bartels ›› Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010 Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010 - ein Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen Ein Programm zur Überwindung der Gewalt Das Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen zur Überwindung der Gewalt hat seinen kirchengeschichtlichen Vorlauf nicht nur in der Programmentwicklungsgeschichte des ÖRK selber. Auf ihn soll gleich Bezug genommen werden, damit die Dekade zur Überwindung von Gewalt historisch eingeordnet werden kann. Und, um es vorwegzunehmen, es handelt sich hier für mein Dafürhalten um den Beginn eines kirchengeschichtlichen Durchbruches der volkskirchlichen Ernstnahme der Tradition der jesuanischen Gewaltlosigkeit in einer Breitenwirkung, die es so bisher nicht gegeben hat. Immer gab es in der Kirchengeschichte diese Tradition, stellvertretend seien hier nur Franziskus von Assisi und die historischen Friedenskirchen benannt. Sie haben sich vor allem auch auf die Bergpredigt bezogen. GEGEN DEN TREND ’2001 Die Dekade des ÖRK greift auf die paulinische Weiterführung der jesuanischen Tradition zurück, was auch deshalb wichtig ist, weil damit erkennbar wird, dass Paulus in der Kontinuität der Überlieferung bleibt. Das Programm zur Überwindung von Gewalt, und der Schwerpunkt soll bei der Überwindung liegen, greift zurück auf Röm 12, 21 „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“. Mit dieser Wahrheit hat in der Neuzeit vor allem ein Hinduist mit viel Sympathien für das Christentum ernst gemacht. Um der historischen Redlichkeit willen muss deshalb von ihm gesprochen werden. Dies ist insofern auch bedeutsam, als es in Zukunft zur Überwindung von Gewalt nicht nur auf den Dialog der Konfessionen, sondern auch der Weltreligionen ankommt. Es handelt sich um Mahatma Gandhi, dessen gesamtes Leben eine praktische Auslegung und ein Umsetzen dessen war, was Jesus in der Bergpredigt (Mt. 5 - 7) lehrt. Ein anderer großer Christ unseres Jahrhunderts, 100_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … der wie kein anderer für die Lehre und Praxis gewaltfreien Handelns steht, beruft sich ausdrücklich auf ihn, so dass ich das Hauptanliegen Gandhis durch ihn, durch Martin Luther - King jr., erkennbar werden lassen möchte. Martin Luther King jr. schrieb: „Dann wurde ich mit Leben und Lehre Mahatma Gandhis bekannt. Mich fesselte sein Eintreten für den gewaltlosen Widerstand. Gandhis Konzept des satyagraha (satya ist Wahrheit, die der Liebe gleicht, und graha ist Kraft; satyagraha bedeutet also Wahrheit-Kraft oder Liebe-Kraft) schien mir sehr bedeutungsvoll. Je tiefer ich in die Lehre Gandhis eindrang, desto mehr schwand meine Skepsis hinsichtlich der Kraft der Liebe. Zum erstenmal erkannte ich, dass die christliche Lehre der Liebe, wie sie in der Gewaltlosigkeit Gandhis zum Ausdruck kam, eine der mächtigsten Waffen ist, die ein unterdrücktes Volk in seinem Kampf um die Freiheit ergreifen kann … Aber die Gewaltlosigkeit bewirkt etwas in den Herzen derer, die sich ihr verschreiben. Sie gibt ihnen eine neue Selbstachtung. Sie legt bisher ungeahnte Quellen der Kraft und des Mutes frei. Und endlich rührt sie auch das Gewissen des Gegners so sehr an, dass die Aussöhnung zur Wirklichkeit wird.“ ( Martin Luther - King jr., Kraft zum Lieben, Konstanz 1971, S.229 ff.) Das, was Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann als Ertrag einer bibliodramatischen Auseinandersetzung mit der Bergpredigt während einer Konferenz der VELKD in ihrem neuen Buch beschreibt, nämlich dass die Bergpredigt zu Gewaltfreiheit, nicht aber zur Widerstandlosigkeit aufruft, (Margot Käßmann, Gewalt überwinden, Hannover 2000, S. 49) ist hier schon vorweggenommen und zwar im Horizont politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, die, wie wir wissen, sowohl für Gandhi als auch für Martin Luther King jr. tödlich endeten. Beiden Menschen war diese Konsequenz ihrer Option für die Gewaltfreiheit Jesu deutlich, trotzdem blieben sie bei ihrem Programm der Überwindung von Gewalt durch gewaltfreies Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010 - ein Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen Handeln. Das diese Wahrheit und Kraft der Botschaft Jesu jetzt auch in den Volkskirchen theologisch und praktisch wieder entdeckt wird und Raum gewinnt, weckt Hoffnung für die politische und gesellschaftliche Rolle der Kirchen in der Zukunft. Die Geschichte der ÖRK - Dekade Die ÖRK - Dekade zur Überwindung der Gewalt und ihre Programmatik ist Ergebnis eines langen Prozesses der Entwicklung der neuzeitlichen ökumenischen Bewegung. Schon auf der Gründungsversammlung des Weltkirchenrates 1948 in Amsterdam wurde noch unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges das Zeugnis formuliert: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“ ( EKD Texte 3, Kirche und Frieden, S. 156 ff.). Seitdem beschäftigt sich die ökumenische Bewegung mit Fragen des Krieges und des Friedens, der Gewaltanwendung und der Gewaltüberwindung. Zu einer eindeutig pazifistischen Grundhaltung konnte man sich im Laufe der Jahrzehnte nicht durchringen, obwohl man dem sehr nahe kam. Es sind hier in aller kürze zwei Entwicklungsstränge zu benennen, die konsequent auf die ÖRK - Dekade zuführen: 1.Die Vollversammlungen und Zentralausschusssitzungen des ÖRK: 1968 Die ÖRK Vollversammlung in Uppsala verabschiedete ein ökumenisches Programm zur Bekämpfung des Rassismus. Intensiv wurde damals die Frage nach der „gerechten Revolution“ und „gerechten Gewaltanwendung“ diskutiert vor dem Hintergrund bewaffneter Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und des Kampfes gegen Rassismus, vor allem in Südafrika. Es wurde ein Studienprozess in Gang gesetzt zum Thema „Gewalt, Gewaltfreiheit und der Kampf für soziale Gerechtigkeit“. ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_101 GEGEN DEN TREND ’2001 Es gibt einen roten Faden der Gewaltkritik und der Überwindung der Gewalt schon in der Bibel, und zwar in beiden Testamenten (siehe Jürgen Ebach, Das Erbe der Gewalt - eine biblische Realität und ihre Wirkungsgeschichte, Gütersloh 1980) Er zieht sich dann durch die Kirchengeschichte hindurch und durchwirkt wie Sauerteig die Geschichte der ökumenischen Bewegung und nun auch hoffentlich, aktuell und wirkungsmächtig, Leben, Lehre und Praxis der Kirchen, die im Ökumenischen Rat zusammengeschlossen sind. Dass sich für die lutherischen Landeskirchen in der Frage von Gewalt und Gewaltüberwindung ein theologischer Paradigmenwechsel ankündigt, sei nur an zwei theologischen Gedankengängen der lutherischen Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann aufgezeigt. Zum einen stellt sie, ausgehend von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Bergpredigt und dem Schicksal Jesu fest, dass Gewaltfreiheit in das Zentrum des Evangeliums gehört (Margot Käßmann, s.o. S.58). Zum anderen zieht sie aus dieser Erkennnis auch die ekklesiologischen Konsequenzen. Nach lutherischem Verständnis ist gemäß CA VII (Confessio Augustina) die Kirche die Versammlung der Heiligen, in der das Evangelium rein gelehrt und die Sakramente recht verwaltet werden. „Dies könnte der gemeinsame Bezugspunkt im ökumenischen Dialog werden, um die Gewaltfreiheit im esse bzw. im Sein der Kirche zu verankern, da alle drei großen Traditionen des Christentums - Orthodoxie, römischer Katholizismus und Reformation - Evangelium und Sakrament als fundamental für die Kirche ansehen. Und Gewaltfreiheit steht, wie aufgezeigt, im Zentrum des Evangeliums“ (Margot Käßmann, s.o. S. 58). Gewaltfreiheit und Engagement für die Überwin- dung von Gewalt haben ihre Begründung also nicht nur im Bereich des ethischen Handelns des einzelnen Christen, sondern es geht hier in Zukunft um das Sein und das Wesen der Kirche selbst. Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010 - ein Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen 1975 Die ÖRK Vollversammlung in Nairobi führte zu einer Erklärung der Delegierten, bereit zu sein, ohne den Schutz von Waffen zu leben. Diese Erklärung gab vielen christlichen Friedensgruppen einen neuen Anschub, auch neue Gruppe entstanden, vor allem bekannt wurde die Aktion „Ohne Rüstung Leben“. Die Friedensbewegung insgesamt bekam kräftigen Aufwind. 1983 Die ÖRK Vollversammlung in Vancouver beschloss einen „Konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“. Die Frage nach Gewalt und Gewaltüberwindung wird zum eigentlichen Bindeglied der drei Themenbereiche, die die entscheidenden Menscheitsprobleme der Gegenwart und Zukunft ansprechen. 1991 Die ÖRK Vollversammlung in Canberra konnte sich angesichts des Golfkrieges auf eine Ablehnung militärischer Interventionen nicht einigen, obwohl ein Konsens der Kirchen greifbar schien, jede theologische Legitimation von Gewalt in Zukunft abzulehnen. (siehe Margot Käßmann, Was steht ihr da und seht zum Himmel,Hannover 1999 S.136) GEGEN DEN TREND ’2001 1994 Der ÖRK Zentralausschuss beschloss in Johannesburg ein „Programm zur Überwindung der Gewalt“ im Angesicht der Überwindung der rassistischen Gewalt in Südafrika. 1996 Als erste Konkretisierung des Beschlusses entsteht das Programm „Friede für die Stadt“ (Peace to the city). Es soll in sieben internationalen Großstädten mit hohem Gewaltpotential Initiativen der Gewaltüberwindung ermutigen, stärken, stützen und vernetzen. 1998 Die 8. Vollversammlung des ÖRK in Harare beschliesst eine „Ökumenische Dekade zur Überwindung der Gewalt“. 102_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … 2. Konziliarer Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung Ausgehend von der ÖRK - Vollversammlung in Vancouver entwickelten sich verschiedene Bestrebungen, vor allem auch in Deutschland (damals noch BRD und DDR), auf ein Weltkonzil für Frieden und Gerechtigkeit hinzuwirken. Diese Bestrebungen beriefen sich auf eine Rede von Dietrich Bonhoeffer, die dieser 1934 auf der Insel Fanö, anlässlich einer ökumenischen Jugendkonferenz gehalten hatte. Er ahnte einen neuen Weltkrieg und forderte das eine „große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt“, das den Krieg verbieten und den Söhnen der Völker die Waffen aus der Hand nehmen sollte (Dietrich Bonhoeffer, London 1933 - 35, DBW Band 13, S.299 - 301). Es kann hier nicht weiter ausgeführt werden, warum ein Konzil weder damals noch infolge von Vancouver zustande kam. Aber die Bestrebungen blieben nicht ergebnislos. 1989 fand eine Europäische Ökumenische Versammlung für Frieden in Gerechtigkeit in Basel statt, mit Beteiligung der römisch katholischen Kirche. 1990 kam es schließlich zu einer Weltversammlung des ÖRK für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in Seoul in Korea. Die Teilnehmenden dieser Konferenz gingen einen sogenannten Bundesschluss und eine Selbstverpflichtung ein, in ihren Kirchen für diesen Bundesschluss und seine praktischen Konsequenzen einzutreten. Stellvertretend sei hier nur ein Bundesschluss benannt, für eine Kultur aktiver und lebensfreundlicher Gewaltlosigkeit - nicht als Flucht vor Gewalt und Unterdrückung, sondern als Einsatz für Gerechtigkeit und Befreiung (epd Dokumentation, Frankfurt 2.4.1990, S. 25). Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010 - ein Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen Insgesamt kann und muss man also sagen, dass die „Dekade zur Überwindung von Gewalt“ eine Konsequenz aus dem jahrzehntelangen Ringen um und aus dem Engagement für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung des Ökumenischen Rates der Kirchen ist. Das Programm der Dekade • Ganzheitliche Auseinandersetzung mit dem breiten Spektrum von direkter wie auch struktureller Gewalt zu Hause, in Gemeinschaften und auf internationaler Ebene, und lernen von lokalen und regionalen Analysen der Gewalt und Wegen zu ihrer Überwindung; • Aufforderung an die Kirchen, Geist, Logik und Ausübung von Gewalt zu überwinden; • auf jede theologische Rechtfertigung von Gewalt zu verzichten und erneut die Spiritualität von Versöhnung und aktiver Gewaltlosigkeit zu bekräftigen; • Gewinnung eines neuen Verständnisses von Sicherheit im Sinne von Zusammenarbeit und Gemeinschaft statt Herrschaft und Konkurrenz; • Lernen von der Spiritualität Andersgläubiger und ihren Möglichkeiten, Frieden zu schaffen, Zusammenarbeit mit Gemeinschaften Andersgläubiger bei der Suche nach Frieden, und Aufforderung an die Kirchen, sich mit dem Missbrauch religiöser und ethnischer Identität in pluralistischen Gesellschaften auseinanderzusetzen; • Protest gegen die zunehmende Militarisierung unserer Welt und insbesondere gegen die Verbreitung von Feuer- und Handfeuerwaffen. (nach epd Nr. 38/99, S. 30) ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_103 GEGEN DEN TREND ’2001 Am 3./4. Februar 2001 wird die internationale Eröffnung der ÖRK - Dekade erfolgen, und zwar während der Sitzung des Zentralausschusses des ÖRK in Potsdam und Berlin. Der Zentralausschuss hat ein Rahmenkonzept verabschiedet, das der Dekade erste erkennbare Konturen verleiht. Es geht dem Zentralausschuss am Ende dieses gewalttätigen Jahrhunderts um ein deutliches Zeugnis: „Wir sind der festen Überzeugung, dass die Kirchen aufgerufen sind, vor der Welt ein klares Zeugnis abzulegen von Frieden, Versöhnung und Gewaltlosigkeit, die auf Gerechtigkeit gründen.“ (M. Käßmann, s.o. S.148) Und es geht um praktische Zeichen und Konsequenzen: „Wir müssen aufhören, reine Zuschauer der Gewalt zu sein oder sie lediglich zu beklagen. Wir müssen uns aktiv um ihre Überwindung sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirchenmauern bemühen.“ (M. Käßmann, s.o. S. 149) Der Schwerpunkt des Programmes liegt also eindeutig auf dem Aspekt der Überwindung, auf dem Willen, konstruktive Wege aufzuzeigen und umzusetzen. „Beim methodischen Ansatz wird man daher die positiven Erfahrungen der Kirchen und Gruppen herausstellen, die an der Überwindung von Gewalt arbeiten. Die Dekade zur Überwindung von Gewalt muss aus den Erfahrungen und der Arbeit von Gemeinden und Gemeinschaften erwachsen...Deshalb wird die Dekade Bemühungen um die Überwindung unterschiedlicher Formen der Gewalt von Seiten der Kirchen, ökumenischen Organisationen und Zivilgesellschaftlichen Bewegungen hervorheben und miteinander verknüpfen.“ (epd Dokumentation 38/99, S. 30) Im Rahmenkonzept des Zentralausschusses werden folgende Ziele gesetzt, auf die in den kommenden zehn Jahren in zwei Etappen hingearbeitet werden soll. Es wird dabei davon ausgegangen, dass die neunte Vollversammlung des ÖRK im Jahr 2005 einen ersten Höhepunkt markieren wird, der dazu dienen soll, die bis dahin erreichten Ergebnisse aufzuarbeiten und der zweiten Hälfte der Dekade einen neuen Schub und neue Motivation zu geben. Die Ziele sind: Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010 - ein Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen ÖRK - Dekade und evangelische Jugendarbeit Die Landesjugendkammer der evangelisch - lutherischen Landeskirche Hannovers hat am 12.11.00 während ihrer Tagung im Sachsenhain beschlossen, das Thema der ÖRK - Dekade zu einem Schwerpunktthema der Arbeit der Evangelischen Jugend in den nächsten Jahren zu machen. Dies ist sowohl folgerichtig mit Blick auf die Zielgruppen der Kinder und Jugendlichen, als auch mit Blick auf mögliche methodische Vorgehensweisen im Rahmen der Dekade. Dass die Zunahme der Gewaltanwendung an Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft, als auch durch Kinder und Jugendliche, eine Herausforderung auch für die Jugendverbandsarbeit ist, kann nicht bestritten werden. Es gibt in der Jugendarbeit vielfältige Ansätze der Präventionsarbeit und des konstruktiven Umgangs mit Konflikten und deren Austragung, die ausbaufähig sind und zwischen verschiedenen Trägern verbandlicher und kommunaler Jugendarbeit vernetzt werden können. Gerade dies ist ja ein Grundanliegen der Dekade. GEGEN DEN TREND ’2001 Im Bereich der methodischen Ansätze und Vorgehensweisen, die im Rahmenkonzept benannt werden hat Jugendarbeit Kompetenzen, die eingebracht werden können. Neben den Stichworten: ➨Kampagnen, ➨Bildungsarbeit, ➨Gottesdienst und Spiritualität, ➨Geschichten erzählen, seien auch noch hinzugefügt ➨Internationale ökumenische Jugendbegegnungsarbeit und ➨Erinnerungs- und Gedenkstättenarbeit. Die Liste ist sicher noch nicht vollständig. Die Landesjugendkammer hat alle ihre Ausschüsse, Gliederungen, Arbeitsgemeinschaften und die Verbände eigener Prägung aufgefordert zu untersuchen und zu benennen, welche Bezüge es in der konkreten praktischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen vor Ort zum Thema der ÖRK- Dekade gibt. Dies wird zusammengetragen und analysiert 104_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … werden, um bestehende Handlungsansätze aufzunehmen, auszubauen und auch darauf aufbauend neue Ansätze zu entwickeln. Die anstehenden größeren Veranstaltungen der nächsten Jahre, wie z.B. der Landesjugendsonntag und das Landesjugendcamp, werden sicherlich vom Thema der Gewaltüberwindung geprägt und dominiert sein. Natürlich wird darauf zu achten sein, dass des Guten nicht zuviel geschieht. Auch in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen ist dieses Thema zur Zeit dran und Jugendliche werden damit konfrontiert. Vor allem auch im Raum der Schulen. Deshalb wird Jugendarbeit auf ein eigenes Profil achten müssen. Dies kann zum einen darin bestehen, dass uns durch den ökumenischen Kontext eine kritische Sichtweise zu Verfügung steht, die auch nach den Ursachen von Gewalt fragt, sowohl direkter als auch struktureller Gewalt. Dies kann uns davor bewahren, in vordergründigen Präventionsaktionismus zu verfallen, der gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Zusammenhänge ausblendet. Zum anderen haben wir Freiräume und methodische Kompetenzen, gepaart mit Phantasie und Kreativität, die es uns ermöglichen sollten, unseren spezifischen Beitrag zu leisten, damit die Ziele der ÖRK - Dekade erreicht werden können. Zum Abschluss noch ein Bogen zum eigentlichen Thema des Heftes, dessen Schwerpunkt ja auch auf der Begeisterung liegen soll. Nur mit dieser, im positiven Sinn, wird die Dekade ein Erfolg werden. „Die Ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt erfüllt den Zweck, die Begeisterung und Erwartungen von Kirchen, ökumenischen Organisationen, Gruppen und Bewegungen weltweit zu bündeln, um einen positiven, praktischen und einzigartigen Beitrag der Kirchen zur Errichtung einer Friedenskultur zu leisten. Der Entwurf und der methodische Ansatz der Dekade zur Überwindung von Gewalt sollten zielgerichtet und zugleich offen für Kreativität sein und die Dynamik der Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010 - ein Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen Kirchen und verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen nutzen.“ (epd - Dokumentation Nr. 38/ 99, S.32) Für die evangelisch - lutherische Landeskirche Hannovers hat es schon zwei ermutigende kirchliche Signale gegeben, dass die ÖRK - Dekade ein Schwerpunkt kirchlicher Arbeit der nächsten Jahre werden soll. Zum einen hat die Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann ihren Synodenbericht am 18.06.2000 unter diesen Schwerpunkt gestellt, zum anderen hat sie in der Marktkirche Hannovers zu einem ökumenischen Dekadegottsdienst am 3.09.00 eingeladen, der einen ersten eindrucksvollen Einblick gab, welche Potentiale der Entfaltung und Vernetzung bezüglich der Dekade in unserer Landeskirche schlummern. Sie hat damit aus ihrer Sicht künftige Prioritäten kirchlicher Arbeit deutlich gemacht. Die herzförmigen Hände über der fragmentierten Erde symbolisieren die Notwendigkeit und die Hoffnung, Gewalt zu überwinden. Die gelbe Erde bedeutet Hoffnung inmitten von Unruhe, während die scharfen Kanten der grünen Form auf die Gefahr hindeuten, in der sich die Erde befindet. Die Bewegung der Schrift um die Erde herum deutet die Dynamik dieser weltweiten Initiative an. Dass die Evangelische Jugend unserer Landeskirche zügig und konsequent auf das Thema der Dekade zugegangen ist, zeigt, dass sie die Zeichen der Zeit erkannt hat und ihre Jugendarbeit in der Lage ist, auf aktuelle kirchliche und gesellschaftliche Entwicklungen einzugehen. GEGEN DEN TREND ’2001 Siegfried Rupnow ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_105 GEGEN DEN TREND ’2001 Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010 - ein Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen 106_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … » Praxisbeispiele Praxisbeispiele Ich brauche Platz Material: zwei Stühle oder eine kleine Bank Übung zu dritt. Zwei Mädchen sitzen auf zwei Stühlen (oder einer kleinen Bank). In der Mitte ist soviel Platz, dass noch eine Person sitzen könnte. Dort nimmt die dritte Person Platz. Alle drei schließen die Augen, besinnen sich auf sich selbst und versuchen dann, sich möglichst bequem hinzusetzen. Anschließend werden die Rollen so getauscht, dass jede einmal in der Mitte sitzt. Auswertungsgespräch: • Konnte ich mir Platz verschaffen? • Wurde ich verdrängt? • Ist es mir leicht gefallen, Druck auszuüben? • Ist es mir leicht gefallen, Druck auszuhalten? • An welcher Stelle habe ich meine Kraft eingesetzt, an welcher Stelle habe ich sie zurückgenommen? • Erlebe ich ähnliche Situationen in meinem Alltag, wie geht es mir mit solchen Erlebnissen? Ich breche aus • Hat es zu lange gedauert? • Was haben die anderen Mädchen beobachtet? • Wie versuchte das Mädchen auszubrechen? Setzte sie neben den körperlichen auch noch andere Kräfte ein? • Nach welchen Kriterien suchte sie schließlich einen neuen Platz im Kreis? • Waren die Versuche des Kreises sehr intensiv, das Mädchen am Ausbrechen zu hindern? Auswertungsgespräch: (Das erste Wort hat das Mädchen, das in der Mitte stand.) • Wie hast du dich in der Mitte gefühlt? aus: Pfadfinderinnenschaft St. Georg, Arbeitshilfe „Starke Mädchen“ zur Prävention von sexueller Gewalt an Mädchen und Frauen, 1993 GEGEN DEN TREND ’2001 Die Teilnehmerinnen bilden einen Kreis und fassen sich an den Händen. Ein Mädchen steht in der Mitte und versucht den geschlossenen Kreis zu durchbrechen. Wenn sie ausgebrochen ist, kann sie sich im Kreis einen Platz wählen, mit dem sie zufrieden ist. Die Mädchen im Kreis dürfen nicht miteinander sprechen, sondern sollen das Verhalten des ausbrechenden Mädchens beobachten. 108_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Für die Arbeit mit Mädchen (jungen Frauen) Rück‘ mir nicht auf die Pelle Öffentliche sexuelle Belästigungen von Mädchen in der Pubertät sind gang und gäbe. Der Cartoon erlaubt es Mädchen, darüber zu sprechen. Gesprächsleitfaden Ein 12jähriges Mädchen sitzt in der Straßenbahn. Sie hört Musik über Kopfhörer und schaut ganz versunken durch das Fenster. Obgleich noch viele andere Plätze frei sind, setzt sich ein Mann direkt neben sie und macht sich sehr breit - bedrängt sie mit seinem Körper. PIötzlich spürt sie seine Hand an ihrem Oberschenkel. Der Übergriff geschieht wie nebenher, scheinbar zufällig, als ließen sich die Berührungen nicht vermeiden. Doch die Tarnung mißlingt. Jetzt reicht’s! Wütend blickt das Mädchen den Belästiger an. Aus dieser Stimmung heraus bläst sie mit ihrem Kaugummi eine große Blase und knallt ihm diese auf die Brille. Dabei schreit sie: »Uuups - ist aber auch schrecklich eng hier!« Der Mann ist von der spontanen Abwehr des Mädchens vollkommen überrascht. Damit hat er nicht gerechnet! Die Situation wird peinlich. Das Mädchen ist für ihn unberechenbar. Er hält es für ratsam, den Platz zu räumen, und schleicht sich aus der Sitzreihe. Zwei Kinder auf den hinteren Plätzen solidarisieren sich mit dem Mädchen und rufen laut »Bravo«. Kommentar Das Mädchen erkennt die Situation. Für sie besteht kein Zweifel daran, dass der Mann sie mit Methodische Uberlegungen Jedes Mädchen sollte erst einmal selbständig anhand der Fragen zu dem Cartoon SteIlung beziehen. Anschließend kann die Gruppe die Situation in der Straßenbahn nachspielen. Es empfiehlt sich, während des SpieIs verschiedene Widerstandsformen auszuprobieren (verrückt spielen, unhöflich sein, weglaufen, treten usw. Die Täterrolle können und sollen auch schüchterne Mädchen übernehmen. Anschließend können die Mädchen sich eine der SelbstbestimmungsregeIn aussuchen und diese in der Gruppe als Ich-Botschaft laut wiederholen. Z.B.: »Ich steIle meinen Schutz und meine Sicherheit an erste SteIle … Ich vertraue meinem Gefühl …« usw. Die Mädchen sollen aussprechen, was sie spüren, wenn sie diesen Satz sagen, und was sie dazu bewogen hat, gerade diese Regel auszusuchen. Oft sind Jugendliche stark verunsichert, weil sie meinen, sie könnten sich »so etwas« nicht erlauben, oder aber sie spüren, wie wichtig diese Regeln sind und wie gut es ihnen tut, sie laut zu sagen. Häufig fällt die Wahl auf Regeln, die entweder wenig beherzigt oder schon angewendet wurden. Geben Sie den Mädchen die SelbstbestimmungsregeIn und lassen Sie die einzeInen Regeln von den Kindern illustrieren. Erklären Sie den Mädchen, was eine sexueIle Belästigung ist! Entscheidend ist auch hier das Verhalten und die Handlung des Belästigers ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_109 GEGEN DEN TREND ’2001 Ganz plötzlich und ohne Vorwarnung befindet sich das Mädchen in einer Belästigungssituation. Diese überfallartigen Übergriffe ohne »VorgeplänkeI« erleben Mädchen täglich. Auch die HauptdarsteIlerin des Cartoons »trifft es« aus heiterem HimmeI. voller Absicht sexuell belästigt. Doch sie zeigt klar und deutlich ihren Widerwillen und ihre Entschlossenheit, ihr Recht auf Platz und Bewegungsfreiheit zu verteidigen. Wenn der Kerl unhöflich ist, dann kann sie es auch sein! Sie fackeIt nicht lange und weiß genau, wie die Pläne des Belästigers durchkreuzt werden können. GEGEN DEN TREND ’2001 Für die Arbeit mit Mädchen (jungen Frauen) 110_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Für die Arbeit mit Mädchen (jungen Frauen) weniger die Frage, ob er bekannt oder fremd ist. Erzählen Sie eine erIebte Belästigung und wie Sie sich gefühlt und reagiert haben. Ohne weitere Aufforderung werden die Mädchen danach über eigene Erfahrungen berichten. Beachten Sie jede Erzählung. Manchmal brauchen Mädchen Formulierungshilfe, z.B. wenn sie sich schämen, Geschlechtsteile zu benennen. Jeder Bericht sollte mit einer positiven Bemerkung über das Mädchen abgeschlossen werden. Wenn Sie merken, dass Mädchen sich über Humor und Lachen Distanz zum ErIebten schaffen, dann machen Sie einfach mit. Fragestellungen • Wie hat sich das Mädchen gefühlt, als der Mann sie belästigte? • Gab es eine Möglichkeit, der Belästigung auszuweichen? • Darf ein Mädchen unfreundlich sein, wenn sie belästigt wird? • WeIche Arten der Belästigungen kennst Du? Regeln zur Selbstbestimmung für Mädchen (ab 11 Jahre) 1 . SteIle Deinen Schutz und Deine Sicherheit an die erste SteIle, wenn jemand Deine Gefühle und Deinen Körper nicht achten oder verIetzen will. 2. Dein Körper gehört Dir! Du bestimmst, wer ihm nahe kommen und ihn anfassen darf! Du Angst und Unsicherheit spürst, dann traue diesem Gefühl. Meist stimmt es. 5. Manchmal kommt das Gefühl erst später, wenn Du Dich daran wieder erinnerst. Beachte es genauso! 6. Du darfst wie ein Hund die unangenehmen Berührungen abschütteIn oder sie mit der Hand wegstreichen. Sofort nachdem es passiert ist, oder auch im nachhinein. 7. Du darfst Nein sagen, unfreundlich sein, verrückt spielen, nicht gehorchen, weglaufen, herumschreien, treten. Alles ist für Dich erlaubt, wenn Du glaubst, in Gefahr zu sein. 8. Wenn Du Nein sagst, dann meine auch Nein. Lache nicht, wenn Du innerlich voll Ärger bist. Zeige, was Du fühlst und willst. 9. Sprich mit Deinen Freundinnen über unangenehme Erlebnisse. Du kannst Dir sicher sein, dass sie Dir glauben, weil sie Ähnliches erIebt haben. Wenn Du darüber sprichst, dann verpflichte Deine Freundinnen nicht, darüber zu schweigen. Überlegt, wer es alles wissen soll und darf! aus: Irmgard Schaffrin/Dorothee Wolters, Auf den Spuren starker Mädchen, Cartoons für Mädchen - diesseits von Gut und Böse, Köln 1993 Hrsg.: Zartbitter e.V., Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Mißbrauch an Mädchen und Jungen, Sachsenring 2-4, 50677 Köln, Tel.: 0221/312055 GEGEN DEN TREND ’2001 3. Wenn dich jemand bedrängt und unangenehm berührt, überIege nicht, was diese Person von dir wilI. ÜberIege was Du willst! 4. Vertraue deinem Gefühl! Wenn sich Berührungen unangenehm oder komisch anfühlen und ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_111 Für die Arbeit mit Jungen (jungen Männern) Elektrischer Draht Ziel: Erlernen von Problemlösungsstrategien; Zusammenarbeit; Förderung der Diskussionsfähigkeit Teilnehmer: 10 – 15 Alter: ab 14 Material: - zwei Bäume von ca. 5 m - ein ca. 5 m langes Seil - ein 2,00 m langes, 15 cm breites und mindestens 10 cm dickes Brett GEGEN DEN TREND ’2001 Beschreibung: Das Seil wird zwischen die beiden Bäume in einer Höhe von 1,50 m gespannt. Der Spielleiter erklärt, dass es elektrisch geladen sei. Aufgabe der Teilnehmer ist es, die gesamte Gruppe von einer Seite des Seiles auf die andere zu bringen, wobei das Seil nicht berührt werden darf. Als Hilfsmittel steht das Brett zur Verfügung. Die Regeln sind wie folgt: - Wenn ein Teilnehmer den „Draht“ berührt, muß er neu beginnen. Für jeden anderen Teilnehmer, der denjenigen zu diesem Zeitpunkt berührt hat, gilt das Gleiche; gleichgültig, ob er bereits auf der anderen Seite war oder nicht. - Wenn das Brett den „Draht“ berührt, müssen die, die das 112_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Brett gehalten haben, von vorn beginnen. - Die Bäume, um die das Seil gespannt ist, stehen ebenfalls „Unter Strom“. Variationen: (1) Der „elektrische Draht“ kann mit Hilfe eines dritten Baumes als Dreieck gespannt werden. Alle Teilnehmer müssen in die innere Fläche des Dreiecks gelangen. (1.1) Bei dieser Variante ist es auch möglich, das Seil in unterschiedlichen Höhen zu spannen (Zum Beispiel von Baum A zu B eine Höhe von 1,50 , von B zu C eine Höhe von 1,40 m und von C zu A eine Höhe von 1,30 m). Der Spielleiter kann je nach Gruppenzusammenstellung bestimmen, wieviele Teilnehmer über das niedrig, wieviele über das 1,30 m hoch gespannte Seil hinüberdürfen. Erfahrungen: Die Problemstellungen bei dieser Übung fordert die Überlegung, wie die letzte Person die andere Seite des „Drahtes“ erreichen kann. Gruppen, die wild drauflosarbeiten, werden sich sehr schnell vor diesem Problem sehen. Es müssen also sowohl eine Taktik als auch Personen nach besonderen Eigenschaften diskutiert und ausgewählt werden. Für die Arbeit mit Jungen (jungen Männern) Säureteich Ziel: Erlernen von Problemlösungsstrategien; Zusammenarbeit; Förderung der Diskussionsfähigkeit Teilnehmer: 10 –14 Alter: ab 14 Jahre Material: - ein Baum oder jede andere besteigbare stabile Plattform, an der ein Seil befestigt werden kann - ein Kletterseil (30 m) - ein Seil (20 m) - ein Klettergurt mit Karabiner - ein Kletterhelm - ein Gegenstand (zum Beispiel Apfel) - ein Tuch zum Augenverbinden Variationen: (1) Es ist eine sehr interessante Erschwerung der Aufgabe, der Person im Klettergurt die Augen zu verbinden. (2) Je nach Gruppe kann der Spielleiter die Zeitvorgabe verlängern oder verkürzen. Erfahrungen: Dieses Spiel verlangt Einfallsreichtum der Gruppe. Es gilt eine Taktik und die geeignete Person für die Aufgabe zu finden. Die wichtigste Funktion des Betreuers oder Spielleiters liegt in der Sicherheitsüberwachung. Er hat darauf zu achten, dass das Kletterseil richtig an den Baum geknotet ist und dass sowohl Klettergurt als auch Helm ordnungsgemäß angelegt sind. Man sollte dieses Spiel auf keinen Fall mit Kindern unter 18 Jahren spielen. Der Betreuer müßte voraussichtlich aus sichterheitstechnischen Gründen oft eingreifen und würde so die Eigeninitiative der Teilnehmer unterdrücke. Damit wäre der Zweck des Spieles verfehlt. ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_113 GEGEN DEN TREND ’2001 Beschreibung: Das Seil wird an den Enden zusammengeknotet und vor dem Baum als Kreis ausgelegt. In den Mittelpunkt wird der Apfel gestellt. Aufgabe der Gruppe ist es, mit Hilfe des Kletterseils, des Klettergurtes mit Helm und des Baumes den Apfel innerhalb einer halben Stunde aus dem Kreis zu holen. Der Kreis stellt einen Teich mit giftiger Säure dar. Kürzung oder andere Auflagen wie z.B. Augenverbinden der betreffenden Person, Hände auf den Rücken binden, etc. erhöhen den Schwierigkeitsgrad. Die gängigste Lösung ist, ein Ende des Kletterseils in einer maximalen Höhe von 2,50 m am Baum zu befestigen (der Knoten sollte auf alle Fälle vom Betreuer überprüft werden). Eine Person legt Klettergurt und Helm an, besteigt den Baum und klinkt den Karabiner in das Kletterseil ein. Der Rest der Gruppe hält das Kletterseil über den Kreis hinweg gestrafft. Nun kann sich die Person am Kletterseil in Richtung Apfel hinunterhangeln und ihn aufnehmen. Für die Arbeit mit Jungen (jungen Männern) Das Spinnennetz Ziel: Erlernen von Problemlösungsstrategien, Zusammenarbeit; Förderung der Diskussionsfähigkeit. Teilnehmer: 10 –12 Alter: ab 14 Jahre Material: - zwei Bäume im Abstand von ca. 4m - ein langes Seil oder Nylonschnur GEGEN DEN TREND ’2001 Beschreibung: Zwischen den beiden Bäumen wird ein Spinnennetz mit Hilfe des Seils gespannt. Es sollte 0,5 m über dem Boden beginnen und eine Höhe von 2m haben. Je nach Teilnehmerzahl müssen zwischen 10 –12 Löcher in dem Netz in verschiedenen Höhen vorhanden sein. Aufgabe der Gruppe ist es, alle Teilnehmer durch die Löcher im Netz zu schleusen, wobei jede Berührung des Netzes untersagt ist. Wenn das Netz berührt wurde, muss die gesamt Gruppe von vorn beginnen. Außerdem darf jedes Loch nur einmal benutzt werden. Derjenige, der einmal durch das Netz hindurch ist, darf nicht mehr auf die andere Seite zurück, um den Restlichen zu helfen. Die Hilfe kann nur auf der Seite geschehen, auf der er sich im Moment befindet. Variationen: (1)Wenn jemand das Netz berührt, muss nicht die ganze Gruppe noch mal beginnen; der Befreffende 114_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … bekommt stattdessen eine besondere Aufgabe: sich die Augen zu verbinden, ein Lied beim Durchsteigen des Netzes zu singen, eine oder beide Hände auf den Rücken zu binden, einen Gegenstand mit durch das Netz zu nehmen, etc. (2) Der Spielleiter kann als zusätzliches „Loch“ den Weg unter dem Netz, jedoch nicht über dem Netz anbieten. Erfahrungen: Diese Übung fördert neben dem Erlernen von Problemlösungensstrategien (Aufgabe akzeptieren, Plan fassen und ausprobieren) die Zusammenarbeit und die Diskussionsfähigkeit einer Gruppe, da sie wie die anderen von einem Individuum nicht zu lösen ist. Der Spielleiter sollte zu Beginn betonen, dass es sich bei dieser Übung um eine Gruppenaktivität handelt. Die Aufgabe ist erst erfüllt, wenn alle Gruppenmitglieder die andere Seite des Netzes erreicht haben. Es wird wahrscheinlich einige geben, die sich sofort ein für sie leichtes Loch aussuchen. Wie die restlichen Teilnehmer hinüberkommen, ist ihnen im ersten Moment nicht so wichtig. Ansonsten kann ich diese Übung nur empfehlen, sie weckt großen Ehrgeiz, da sie am Anfang fast unmöglich zu lösen erscheint. Aus: Reiners, Annette: Praktische Erlebnispädagogik, Alling, 1997 Für die Arbeit mit Jungen (jungen Männern) Konkurrenz unter Jungen - möglicher Auslöser von Gewalt immer zwei Seiten: einen Gewinner und einen Verlierer. Ist es erreicht, die Überlegenheit oder eigene Bedürfnisse zu demonstrieren, hat das Verhalten auch immer einen Verlierer produziert, der kleiner, schwächer, weniger, hässlicher ist, als man selbst. Jungen, die sich häufig in der Verliererposition wiederfinden, sehen sich, um ihr Selbstwertgefühl wieder aufzubauen, zunehmend in die Situation gedrängt, mit „aller Gewalt” ihre Persönlichkeit oder ihre Position in der Gruppe verteidigen zu müssen. Sie überschreiten in ihrem übersteigerten Eifer dann häufig die Grenzen anderer. Verliert ein Junge diese Konkurrenz zum gleichen Geschlecht, so besteht für ihn immer noch die Möglichkeit, seine Überlegenheit gegenüber Mädchen zu betonen. „Ich war besser, als das beste Mädchen”. Somit kann er seinen angekratzten Selbstwert wenigstens teilweise zurückzugewinnen. Das Prinzip des Konkurrierens ist im männlichen Denken fest verankert und bestimmt das Verhalten zu den Geschlechtsgenossen. Der Mythos des „Einzelkämpfers” ( Ich schaffe das schon alleine ), steht der Solidarität unter Jungen im Wege. Somit wird eine vertrauensvolle und hilfsbereite Atmosphäre zwischen den Jungen verhindert. Spiel: Der große Reiz Thema: Gewalt und Aggression Einleitung:Eine Aufgabe der Arbeit mit Jungen ist es, sie aus diesen KonkurrenzsituatiZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_115 GEGEN DEN TREND ’2001 Einleitung: Ist die Konkurrenz unter Jungen das auslösende Moment für Gewalt? Geht man der ursprünglichen Bedeutung von Konkurrenz nach, so bedeutet es im Lateinischen: Wettstreit. Sicherlich im klassischen Sinne von fairem Wettstreit. In unserer Zeit ist damit stärker der Akzent des Ausstechens, besser sein als der Andere verbunden. Jungen stehen in ständigem Wettstreit, in ständiger Konkurrenz zu einander. Beobachten können wir das an ständigen Rangeleien und Schubsereien. Darüber hinaus sind Jungen häufig in Situationen des sich gegenseitig Ausstechens verwickelt. Egal ob es um Kleidung, um Cool sein, um körperliche Leistung, Rauchen, Alkohol, oder Mädchen geht. In diesen täglichen kleinen Auseinandersetzungen lernen sie unter anderem Durchsetzungsvermögen und Willensstärke. Doch wird es den Jungen zum Verhängnis, wenn sich diese Dynamik verselbstständigt, oder wenn sie ausschließlich von solchen tagtäglichen Bestätigungen durch Rangeleien abhängig werden. In der Übersteigerung dieses Bedürfnisses liegt die Gefahr. Jungen geht es häufig darum, in der Selbstdarstellung und Außenwirkung immer ein wenig anders, besser dazustehen, als die Anderen. Ein wenig mehr Aufmerksamkeit für sich zu bekommen, ein bisschen mehr zu sein als der Andere. Dabei ist der Kern der Streites eigentlich ziemlich nebensächlich. Das Prinzip des Konkurrierens, des Ausstechens an sich ist wichtig. In diesem Prozess gibt es Für die Arbeit mit Jungen (jungen Männern) onen herauszuholen, ihre Solidarität untereinander zu fördern und somit zur Vermeidung von Gewaltanwendung beizutragen. Dazu ist es erforderlich ihnen diese Konkurrenzsituationen vor Augen zu führen und gemeinsam nach Alternativlösungen zu suchen. Aufgabe ist es, sie von dem Zwang zu befreien, immer besser, schneller oder stärker sein zu müssen als der Andere. Das folgende Spiel bietet Jungen die Möglichkeit im spielerischen Wettstreit andere Verhaltensweisen anzudenken, bzw. im Rollenspiel auszuprobieren und als mögliche Verhaltensmuster für sich kennenzulernen. GEGEN DEN TREND ’2001 Zielgruppe: Jungen im Alter ab 12 Jahren; auf Freizeiten und in Gruppenstunden entweder aus einer Jugendgruppe, Konfirmandengruppe, oder einer Projektgruppe in einer Schule. Teilnehmerzahl mindestens 8 Dauer: ca. 2 Stunden Zielformulierung: Die Jungen sollen in einer spielerischen Situation im Wettstreit um Punkte Konflikt und Konkurrenzsituationen gewaltfrei lösen lernen. Sie sollen erleben, dass Nachgeben nicht „uncool sein“ bedeutet. Sie sollen erleben, dass andere Jungen ähnliche Erfahrungen im Erleben von Konkurrenz machen. Ablauf: Der große Reiz ( in Anlehnung an die Fernsehsendung „Der große 116_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Preis”) kann in vielen verschiedenen Ausprägungen und unter verschiedensten Themenstellungen gespielt werden. Wichtig hierbei ist, dass Fragen und Aufgaben von den Leitenden selbst ausgesucht und durchdacht worden und auf die Gruppe abgestimmt worden sind. Somit sind die hier abgedruckten Fragen und Aufgaben als Anregung zu verstehen. Als Leitung muss ich mir die Fragen selbst zutrauen, um ein Gespür zu haben, was den Jungen bei der Beantwortung an Gefühlen begegnen kann. Zu Beginn des Spiels werden Kleingruppen von 2 - 4 Spielern gebildet, die sich bei der Beantwortung der Fragen oder bei der Erfüllung der Aufgabe unterstützen. Die erste Aufgabe der Kleingruppe vor Spielbeginn ist es, sich einen Namen zu geben. Nun beginnt ein Team von den verdeckten, nur mit Punktzahlen versehenen Feldern zu den verschiedenen Überschriften eine Frage auszuwählen. Das gewählte Feld wird umgedreht und die Frage/Aufgabe laut vorgelesen. Das Recht des Wählens geht nach jeder Frage zum nächsten Team über. Die Punktevergabe oder Lösung der Aufgabe entscheidet nicht die Spielleitung, sondern alle urteilen über Antwort und Punkteverteilung. aus: Halbe Hemden - ganze Kerle Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen Für die Arbeit mit Jungen (jungen Männern) Lösungen Gewalt Konflikte Zähle vier Möglichkeiten auf, wie Jungen einen Streit/Konflikt beenden können? WeIche Möglichkeit wählst Du am häufigsten? WeIches Signal/Äußerung würde Dich stoppen, weiter auf einen anderen einzuschlagen? VervolIständige folgenden Satz in drei Varianten. Gewalt ist, wenn ... Beschreibe das Bild. Was geht in Dir vor wenn Du es siehst? Zähle Gründe auf warum Jungen sich prügeln? Welche Gründe kennst Du von Dir? Joker Assoziiere Worte zum Thema Gewalt mit den Anfangsbuchstaben von Gewalt: G -E-W -A -L-T Beschreibe eine Situation, in der Du Dich körperlich gewehrt hast. Was hast Du gefühlt? Du hast einen heftigen Streit mit Deinem Vater über das Schuleschwänzen. Spiel die Streitsituation nach. Erzähle eine Begebenheit von Dir, in der Du gestritten hast, und vielleicht auch geschlagen hast? Wie bist Du da für Dich zu einem Ende gekommen? Gibt es für Dich eine Grenze zwischen Gewalt und Aggression? Wo ist sie? Beschreibe den Unterschied mit Deinen Worten. Beschreibe einen Konflikt, der Dich innerlich hin und her gerissen hat. Wie bist Du da wieder herausgekommen? Spiele ein Gespräch von zwei Jungen in Deinem Alter mit der Frage nach: Was finden Jungen so interessant an Rambo? Folgende Situation: Du betrittst eine Straßenbahn. Es ist nur ein Sitzplatz frei. Ein Klassenkamerad, den Du nicht leiden kannst versucht es ebenfalls. Was passiert? Beschreibe eine Situation, Begebenheit in der Du Opfer geworden bist. Welche Gefühle sind da bei Dir hochgekommen? Beschreibe, wie Du Dich abregst, wenn Du Dich ins Unrecht gesetzt fühlst. Welche Möglichkeiten hast Du? Jungen Lösungen Gewalt Konflikte 20 20 20 20 40 40 40 40 60 60 60 60 80 80 80 80 ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_117 GEGEN DEN TREND ’2001 Jungen Für die Arbeit mit Mädchen und Jungen/Männern und Frauen Lebenskurve: Erfahrungen von Gewalt Einleitung: JedeR von uns hat Gewalt in unterschiedlicher Form in ihrem/seinem Leben schon einmal erfahren. Diese Einheit gibt die Möglichkeit sich im vertrauten Rahmen über Gewalterfahrungen auszutauschen und Solidarität in der erlebten Situation durch die Äußerungen der anderen Teilnehmenden zu erfahren. Zielgruppe: Diese Einheit erfordert ein hohes Maß an Vertrauen innerhalb der Gruppe und zur Gruppenleitung. Die Teilnehmenden sollten sich gut kennen. Vielleicht auf einer gemeinsamen Freizeit sein, oder schon eine längere Zeit in einer Gruppe zusammen sein und mindestens 16 Jahre alt sein. ihrem persönlichen Bereich mit Gewaltstrukturen und Gewalt benennen. In einem weiteren Schritt sollen die Gefühle der Teilnehmenden zur Sprache kommen. Die Teilnehmenden sollen erkennen, dass sie mit ihren Gefühlen nicht allein sind. Ablauf: JedeR Teilnehmende erhält ein Arbeitsblatt mit dem Koordinatenkreuz „Lebenskurve”. Die Teilnehmenden tragen ihre individuellen Erfahrungen in das Arbeitsblatt ein. Auswertung: In welchen Situationen habe ich Gewalt erlebt? Welche Person waren / sind daran beteiligt? Welche Gefühle hat das bei mir ausgelöst? Wie gehe ich damit um? Wie bin ich damit umgegangen? Zielformulierungen: Die Teilnehmenden sollen anhand der Lebenskurve konkrete Erlebnisse aus Anzahl 6• 5• 4• GEGEN DEN TREND ’2001 3• 2• 1 • • 5 118_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … • 10 • 15 • 20 Lebensalter Für die Arbeit mit Mädchen und Jungen/Männern und Frauen Grenzen wahrnehmen Einleitung: Begeisterung kennt keine Grenzen habe ich vorhin behauptet. Im Sturme der Begeisterung kommt es schnell zu Grenzverletzungen anderer. Die folgende Übung soll Möglichkeiten aufzeigen, die eigene Grenze und die der/des Anderen kennenzulernen. Zielgruppe: Die Gruppe sollte vertraut miteinander sein. Sie sollte sich entweder auf einer Freizeit befinden, oder aber schon längere Zeit in einer Gruppe zusammen sein. Alter ab 16 Jahren. zur Wand. Der/die andere TN steht auf der anderen Seite des Raumes, das Gesicht auf den Rücken des anderen gerichtet. Auf Kommando des 1. TN setzt sich der 2. TN langsam in Bewegung, Richtung 1. TN. DieseR versucht das langsam Näherkommen des 2. TN zu erspüren und sagt „Stopp” wenn es ihm/ ihr zu dicht wird. Dann dreht er/ Sie sich um und betrachtet die Entfernung zum 2. TN. Auswertung: Zielformulierung: Die TN sollen ihre eigenen Grenzen deutlicher erfahren und die Grenzen anderer akzeptieren lernen. Unsichtbare persönliche Grenzen sollen durch die Übung visualisiert werden. Ablauf: Ein TN steht auf der einen Seite des Raumes mit dem Gesicht Wie dicht habe ich den 2. TN an mich herangelassen? War meine Vermutung mit der tatsächlichen Entfernung identisch? Was hab ich in meinem Rücken gespürt? Wo liegt meine körperliche Grenze? Wie ist es mir mit dem auf den anderen Zugehen ergangen? Burgspiel Einleitung: Teilnehmenden in ihrer Kreativität und Sensibilisierung für einander gestärkt. Zielgruppe: Dieses Spiel eignet sich für Gruppen auf Freizeiten oder auch im Schulbereich. Alter ab 12 Jahren, aber auch für jüngere. Zielformulierung: Die Teilnehmenden sollen Grenzen erkennen und durch ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_119 GEGEN DEN TREND ’2001 Grenzüberschreitungen sind ein gewaltsames Eindringen in den Persönlichkeitsbereich anderer. Grenzverletzungen geschehen manchmal auch unbewußt. Die folgende Übung will die Grenzen in Form eines Spieles deutlich machen und den Teilnehmenden Wege eröffnen, Grenzen nicht gewaltsam und unbewusst zu überschreiten. Durch diese Übung werden die Für die Arbeit mit Mädchen und Jungen/Männern und Frauen Kreativität vorsichtig öffnen lernen. Ablauf: Es wird eine Mädchen- und eine Jungengruppe gebildet. Die einen gehen hinaus, die anderen bilden einen dichten Kreis und setzten sich auf den Boden. Sie verabreden ein Zeichen auf das hin sich der Kreis öffnen (Bein streicheln, Ärmel aufkrempeln, sanft am Ohrläppchen zupfen, o.ä.). Die Gruppe von draußen kommt herein und versucht das Zeichen zu finden, in dem sie mögliche Verhaltensweisen gemeinsam ausprobieren. Die Personen im Kreis lassen sich z. B. auf die Nase stupsen und öffnen den Kreis erst wenn das verabredete Zeichen von einem gefunden wurde. Auswertung: Die Teilnehmenden sowohl in der, als auch außerhalb der Burg sollten über ihre Erfahrungen/Gefühle reden können. Anmerkung: Wichtigste Regel für dieses Spiel ist kein aggressives, oder unangenehmes Verhalten zuzulassen. Es geht um kreative Ideen im Blick auf Grenzöffnungen. Burgspiel (Variante) Zielformulierung: Einübung (gewaltfreier) Problemlösungen Ablauf: GEGEN DEN TREND ’2001 Auswertung: Eine Gruppe wird in zwei Kleingruppen unterteilt. Die einen gehen Hinaus. Die anderen bilden einen dichten Kreis auf dem Boden. Die Gruppe von außen hat als Ziel in die Burg zu gelangen. Die Gruppe von innen soll das verhindern. auch thematisiert werden, wie eine Lösung zustande kam und wie die Gruppe kooperiert hat. Anmerkung: Die TN sowohl in der, als auch außerhalb der Burg sollten über ihre Erfahrungen/Gefühle reden. Dabei sollte Kommt es zu einem konfrontativem Verhalten der äußeren Gruppe, lässt sich daran sehr gut über das Thema Gewalt reden. In einem zweiten Durchgang kann sehr gut die andere Variante des Burgspiels erprobt werden. Wenn man vor hat, beide Varianten auszuprobieren, sollte diese Variante zuerst durchgeführt werden. Praxisbeispiel (Väter) für die thematische Arbeit mit Jungen (männlichen Jugendlichen): Gemischtgeschlechtliche Gruppen können in zwei geschlechtshomogene Untergruppen aufgeteilt werden. 120_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Lies den Text bis zum Ende durch. (Wenn möglich, die Musikversion von der Gruppe „Die Ärzte“ anhören.) Für die Arbeit mit Mädchen und Jungen/Männern und Frauen Was für ein Männerbild wird hier transportiert bzw. welche männlichen Rollenzuschreibungen werden thematisiert? Welche Alternativen gibt es? Was für ein Frauenbild wird hier transportiert? Welche Möglichkeiten gibt es für Mädchen und Frauen, sich gegen männliche Gewalt zu wehren? Was passiert (worin liegt die Gefahr), wenn Radiosender das Lied nicht bis zum Ende ausspielen? Wird das Lied der tatsächlichen Gewalt gegen Mädchen und Frauen gerecht? Ist die Art und Weise des Liedes geeignet, das Problem der Gewalt gegen Mädchen und Frauen angemessen zu problematisieren? Manchmal haben Frauen… Die Ärzte (M/T: Felsenheimer) In einer Bar sprach er mich an. Er war betrunken und er roch nach Schweiß. Er sagte: „Junge, hör mir zu, da gibt es etwas, das ich besser weiß. Die Emanzipation ist der gerechte Lohn, für die verweichlichte Männerschaft. Doch du kannst mir vertrauen zwischen Männern und Frauen, gibt es einen Unterschied, der ganz gewaltig klafft.“ Und was ich dann hörte, was mich total empörte, es wiederzugeben fehlt mir fast die Kraft. Er sagte: Manchmal, aber nur manchmal, haben Frauen ein kleines bisschen Haue gern. Manchmal, aber nur manchmal, haben Frauen ein kleines bisschen Haue gern. Ich stieß ihn weg und rannte nach Haus´, das mußte ich meiner Freundin erzählen. Ich ließ nichts aus, es sprudelte aus mir raus. Die Ungewissheit fing an mich zu quälen. Das war mir noch nie passiert. Ich war wie traumatisiert, und etwas neugierig war ich auch. Da lächelte sie und hob ihr Knie, und rammte es mit voller Wucht in meinen Bauch. Als ich nach Atem rang und ihre Stimme erklang, umwehte sie ein eisiger Hauch. Sie sagte: Manchmal, aber nur manchmal, haben Frauen ein kleines bisschen Haue gern. Manchmal, aber nur manchmal, haben Frauen ein kleines bisschen Haue gern. Immer, ja wirklich immer, haben Typen wie Du, was auf die Fresse verdient. Immer, ja wirklich immer, haben Typen wie Du, was auf die Fresse verdient. © Sascha Lüthje ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_121 GEGEN DEN TREND ’2001 Ich sagte: „Laß´ mich in Ruh´. Ich hör´ Dir nicht mehr zu, Du stinkbesoffenes Machoschwein!“ Das hörte er nicht gern. Er fing an, an mir zu zerren. Kurz darauf fing ich mir eine ein. Er schrie: „Stell´ Dich nicht blind! Du bist doch kein Kind. Ich mach Dich alle, dann weißt Du Bescheid!“ Doch statt mir noch eine zu zimmern, fing er an zu wimmern, jetzt tat der Typ mir plötzlich leid. Er fing an zu flehen, ich sollte endlich verstehen. Sein Mundgeruch brachte mir Übelkeit. Er sagte: Manchmal, aber nur manchmal, haben Frauen ein kleines bisschen Haue gern. Manchmal, aber nur manchmal, haben Frauen ein kleines bisschen Haue gern. Für die Arbeit mit Mädchen und Jungen/Männern und Frauen Begeisterung kennt keine Grenzen Wer lässt sich nicht gerne von etwas begeistern? Ich jedenfalls bin mit Begeisterung bei vielen Aktionen dabei, sei es nun das Spielen, eine Sportveranstaltung meines Lieblingsvereins oder aber bei meiner Lieblingsmusik auf einem Konzert. Begeisterung ist für mich eine gefühlsmäßige Zustimmung zu einer Sache/Idee/Aktion, o.ä. In der evangelischen Jugendarbeit versuchen wir mit unseren Angeboten Jugendliche und Kinder zu begeistern. Deshalb sind unsere Angebote zum einen sehr vielfältig, und zum anderen haben sie einen hohen Begeisterungswert. Begeisterung wird in Freizeiten, Aktionen, Spielsituationen, Konzerten und Gottesdiensten erlebbar. Durch die Erlebnisgesellschaft hervorgerufen, wird der Drang zu immer mehr Erleben und Begeisterung größer. Die Schwelle der Begeisterungsfähigkeit steigt an und erfordert somit ein ständig sich selbst übertreffendes Erlebnisangebot (Kick, Events, Thrill). Allerdings bedeutet Begeisterung noch keine eindeutige Identifikation oder reflektierte Zustimmung mit der Sache an sich, sondern sie beinhaltet, dass ich mich emotional von dem Geist, der dieser Sache/Aktion/Idee innewohnt, anstecken und mittragen lasse. Dieses „unreflektierte Verhalten” birgt die Gefahr des Umkippens der Begeisterung in Gewalt oder Euphorie. Wie schnell kann aus der Begeisterung für einen Fußballverein in der Auseinandersetzung mit anderen Vereinen im Falle einer sportlichen Niederlage „eine gewaltige Begeisterung” werden. Begeisterung für eine Person, eine Idee, die in Euphorie umschlägt und zur Folge hat, dass eigenes Verhalten grenzenlos wird und die Grenzen anderer überschreitet. Zum Beispiel, wenn ich versuche eine Andere/einen Anderen von meiner Idee „mit Gewalt” zu überzeugen. Andererseits ist Begeisterung für das eigene Erleben von großer Bedeutung, denn sie wird zur eigenen Antriebsfeder, zum Motor meines Handelns für/in dieser Angelegenheit. Ein reflektiertes Verhalten meinerseits macht aus der Begeisterung stärker ein zielgerichtetes Interesse. Insofern schwankt Begeisterung immer zwischen der Gefahr der Grenzüberschreitung, sowohl meiner eigenen Grenze, als auch der anderer Menschen. In der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen soll es auch darum gehen, diese Gradwanderung zwischen Begeisterung und Gewalt deutlich zu machen und die Sensibilität für den „Punkt des Kippens” zu erfahren. Die folgenden Übungen bieten dazu Gelegenheit und Anregungen. Begeisterung kennt keine Grenzen GEGEN DEN TREND ’2001 Einleitung: Menschen lassen sich von unterschiedlichen Dingen und auch unterschiedlich stark oder schnell begeistern. Die folgende Übung für Jugendliche ab 12 Jahren auf einer Freizeit oder während einer Gruppen-/Schulstunde bietet die Möglichkeit, 122_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … die verschiedenen Formen von Begeisterung sichtbar werden zu lassen. Zielformulierung:Die Teilnehmenden sollen erleben, dass Begeisterung individuell unterschiedlich geäußert und wahrgenommen wird. Für die Arbeit mit Mädchen und Jungen/Männern und Frauen Ablauf: Auswertung: Alle Teilnehmenden stehen im Kreis und werden aufgefordert Begeisterung gleichzeitig pantomimisch darzustellen. Die Unterschiede im Ausdruck von Begeisterung werden sicherlich deutlich werden. Alternative: Es werden Bilder von Menschen in Situationen der Begeisterung ausgelegt. JedeR Teilnehmende kann sich ein Bild auswählen und dann in einer Austauschrunde begründen: Warum habe ich dieses Bild gewählt hat? Was ist das Begeisternde für mich an dieser Situation? Kenne ich ähnliche Situationen von mir? Welche Form des Ausdrucks von Begeisterung habe ich für mich gewählt? Welche Formen habe ich bei den anderen gesehen? Gruppenarbeit zum Thema Begeisterung Einleitung: In der vorangegangen Übung ist die Unterschiedlichkeit von Begeisterung deutlich geworden. Ebenso unterschiedlich sind die Dinge/Aktionen für die Menschen sich begeistern können. In der folgenden Gruppenstunde sollen die Teilnehmenden die Gelegenheit erhalten, sich über ihre Bereiche der Begeisterung auszutauschen. Zielformulierung: Die Teilnehmenden sollen durch den Austausch erfahren, dass Menschen sich für unterschiedliche Dinge begeistern können. Sie sollen die Begeisterung anderer für andere Dinge akzeptieren lernen und diese nicht bewerten. Musik ❒ Sportarten überhaupt ❒ Fußball ❒ Personen ❒ Aktionen ❒ Ideen ❒ Hobbys ❒ Autos ❒ Technik ❒ Freizeiten ❒ Fernsehen ❒ ______________ ❒ ______________ 2. Schritt: Kleingruppenarbeit: Die Teilnehmenden tauschen ihre Einzelergebnisse in Kleingruppen zu 5 Personen aus und stellen Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede fest. Sie erstellen eine Hit-Liste der drei meistgenannten Bereiche. ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_123 GEGEN DEN TREND ’2001 Ablauf: 1. Schritt: Einzelarbeit: Die Teilnehmenden erhalten das Arbeitsblatt und bearbeiten dieses jedeR für sich alleine unter folgender Fragestellung: Wovon lässt du dich begeistern? Wofür kannst du dich begeistern? ❒ Für die Arbeit mit Mädchen und Jungen/Männern und Frauen Anmerkung: 4. Schritt: Einzelarbeit im Plenum Die Teilnehmenden sollen folgenden Fragen für sich beantworten. Was ist es genau, was dich begeistert? Wie äußert sich deine Begeisterung? Martin Bauer GEGEN DEN TREND ’2001 3. Schritt: Plenum: Im Plenumsgespräch werden die „Hit - Listen der Begeisterung vorgestellt und auf Mehrfachnennungen überprüft. Ein Gruppentrend kann sichtbar werden. 124_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Was bist du bereit dafür zu tun? Wo gibt es für dich Grenzen? Der Austausch erfolgt im Plenumsgespräch. Antworten und Einschätzungen sollen besprochen und diskutiert werden. Eine Bewertung der Aussagen ist, auch von den Teilnehmenden, bewusst zu vermeiden. Gewaltorientierte Spiele mit der Playstation - ein Selbstversuch Gewaltorientierte Spiele mit der Playstation - ein Selbstversuch 1. Die Idee Immer wieder wird diskutiert, ob gewaltbetonte Filme und Spiele Jugendliche dazu bringen, auch selbst häufiger Gewalt anzuwenden. Wir haben die Probe auf’s Exempel gemacht und uns selbst getestet. Wir wollten herausfinden und wahrnehmen, wie wir uns während des Spiels verhalten und ob unmittelbare Wirkungen beobachtbar sind. Natürlich ist auf diese Weise nicht zu ermitteln, wie häufiges Spielen sich langfristig auswirkt. Durch den Selbstversuch werden Jugendliche aber auf die Möglichkeit dieses Effektes aufmerksam gemacht und für Nebenwirkungen ihrer Spielbegeisterung sensibilisiert. Dabei ist entscheidend, dass sie durch gegenseitige Beobachtung lernen und nicht Erwachsene als „Spielverderber” ihre Lieblingsspiele verteufelen. Und ganz ehrlich: Playstationspiele machen Spaß! Wir haben sogar diskutiert, ob es sich dabei nicht um eine Art Geländespiel mit fortgesetzten Mitteln, nämlich im Cyberspace, handelt. 2. Der Versuchsaufbau Pro 6 Teilnehmer werden benötigt: eine Playstation, Spiele (möglichst für zwei Spieler), ein Fernseher (möglichst großer Bildschirm; allerdings spielen viele Jugendliche auch oft auf kleineren Bildschirmen), Beobachtungsbögen, eine Uhr/ Wecker, evtl. eine Videokamera mit Stativ. Der Raum wird folgendermaßen arrangiert: Der Einsatz einer Videokamera hängt von den technischen Möglichkeiten ab. Er ist ausgesprochen lohnend, weil sich einzelne Sequenzen wiederholen lassen und auch die Spieler selbst Gelegenheit haben, sich zu beobachten. Ein Nachteil kann die in der Regel längere Auswertungsdauer sein. Möglicherweise besteht zu Beginn eine gewisse Kamerascheu. Wird die Kamera aber mit Stativ fest aufgebaut und läuft einfach durch, gerät sie schnell in Vergessenheit. Die Uhr wird hinter den Spielern aufgebaut. Damit werden die Spieler nicht irritiert und die Beobachter können sich problemlos zeitlich orientieren. Eine Spielphase sollte zwischen 10 und 20 Minuten dauern, um einerseits den Spielern ein „eintauchen” in das Spiel zu ermöglichen und andererseits die Beobachter nicht zu überfordern. Die Zeitleiste auf dem Beobachtungsbogen ist entsprechend anzupassen. Die Beobachter schweigen während der Spielphase. Jeder Beobachter ist jeweils nur für einen Mitspieler zuständig. In unserem Testdurchlauf haben wir Spielphasen von 10 Minuten erprobt. Dabei füllten die Beobachter folgenden Bogen aus: ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_125 GEGEN DEN TREND ’2001 3. Durchführung Gewaltorientierte Spiele mit der Playstation - ein Selbstversuch Spiel: Beobachter: Beobachteter Mitspieler: ➡ Beurteile die Körperhaltung/Körperspannung des Mitspielers: ➠ ➠ P entspannt nach 1 Minute ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ nach 2 Minuten ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ nach 3 Minuten ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ nach 4 Minuten ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ nach 5 Minuten ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ nach 6 Minuten ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ nach 7 Minuten ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ nach 8 Minuten ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ nach 9 Minuten ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ nach 10 Minuten ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏ sehr angespannt/engagiert ➡ Welche Zeichen von Aggressivität konntest Du wahrnehmen? ➡ Notiere typische (auch körperliche) Äußerungen: für die 2. Minute: für die 4. Minute: GEGEN DEN TREND ’2001 für die 6. Minute: für die 8. Minute: für die 10. Minute: 126_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Gewaltorientierte Spiele mit der Playstation - ein Selbstversuch Die anschließende Reflexion erfolgte in drei bzw. vier Phasen. Der Leiter/die Leiterin kann in der jeweiligen Phase einige Impulsfragen liefern: 1. Phase: Zunächst durften sich die Mitspieler äußern: • Wie habt ihr euch gefühlt? • Wie habt ihr euch selbst wahrgenommen? • Habt ihr jetzt Ärger im Bauch oder eher ein Glücksgefühl? 2.Phase: Die Beobachter sind an der Reihe: • Was habt ihr gesehen? 3. Phase: Das Spiel insgesamt kann reflektiert werden: • Wie wird in dem Spiel mit Gewalt umgegangen? • Was macht daran Spaß / was begeistert euch? Warum? 4. Phase: Am Ende des gesamten Selbstversuchs kann eine eher allgemeine Diskussionsrunde angeschlossen werden: • Glaubt ihr, dass die Spieler während des Spiels aggressiver geworden sind? • Welche Spiele machen euch am meisten Spaß/bringen den größten Kick? • Haben diese Spiele irgendetwas mit dem wirklichen Leben zu tun? Es lohnt sich, alle Impulse noch einmal auf die geplante Zielgruppe hin zu durchdenken, denn von der Qualität der Reflexionsgespräche hängt ab, ob eine Sensibilisierung für die verharmlosenden oder gewaltverherrlichenden Aspekte der Spiele erreicht wird. Wir haben den Playstation-Selbstversuch mit sechs 13-15jährigen Jugendlichen einer Gruppe aus der Kirchengemeinde durchgeführt. Alle waren Die Beobachter konnten ermitteln, dass die Mitspieler/innen ganz unterschiedlich angespannt waren, am stärksten oft dann, wenn ihr „Leben” massiv bedroht war. Je tiefer der/die Einzelne in das Spiel eintauchte, desto häufiger kam es zu ungehemmten Spontanäußerungen wie „Wo bist du Kanake?”. Das bot wiederum gute Ansatzpunkte für die Reflexion. Die Beobachter/innen waren teilweise überfordert. Das lag weniger an ihren Fähigkeiten, als vielmehr daran, dass sie begannen im Spiel mitzufiebern und den Spieler/innen Tipps zu geben. Es ist also wichtig, den Beobachtern räumlich eine gewisse Distanz zu schaffen, damit sie auch gedanklich Abstand halten können. Aufgrund der meist begrenzten Zeit ist nicht jedes Spiel gleichermaßen geeignet (s. Kleine Quellenkunde). Bei Schulklassen wäre zu überlegen, statt einem zwei oder drei Beobachtungs-Arrangements zu schaffen. Es war den Jugendlichen durchweg wichtig, auch selbst zum Spielen zu kommen. 5. Kleine Quellenkunde zu geeigneten (aktuellen) Spielen An dieser Stelle kann nur ein grober Überblick geliefert werden. Wer einzelne Spielbeschreibungen, Rezensionen und repräsentative Fotos von Spielszenen sucht, schaut am besten unter http:// games.hotvision.de nach. Dort gibt es ein Archiv zu nahezu allen auf dem Markt befindlichen Spielen. ➡ Beat’em-up-Spiele Bei dieser Gruppe von Spielen geht es um ein Duell zweier Spieler, die sich – wie der Name schon sagt – „fertigmachen” müssen. ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_127 GEGEN DEN TREND ’2001 4. Unsere Erfahrungen und Tipps zur Durchführung des Versuchs in Schulklassen und Jugendgruppen interessiert dabei und haben sich anschließend auch der Diskussion gestellt. Gewaltorientierte Spiele mit der Playstation - ein Selbstversuch • Tekken I, II und III: Ein echter Klassiker. Die Spieler wählen eine bestimmte Person, deren Schlag- und Kampftechniken sie im Laufe des Spiels immer besser kennenlernen. Dadurch entsteht eine hohe Identifikation mit der kämpfenden Figur. Erinnert ein bißchen an Kung-fuFilme. GEGEN DEN TREND ’2001 Ähnlich sind: • Virtual Fighter • Dead or alive kanische Version, die sich im Brutalitätsgrad noch einmal voneinander unterscheiden. ➡ Arcade-Adventure-Spiele bedeutet, dass in Echtzeit Aufträge zu lösen sind und während des Spiels immer wieder neue Aufträge/Nachrichten einer imaginären Kommandozentrale o.ä. eingespielt werden. • GTa 1 und 2. Als Gangster erfüllt der Spieler diverse Aufträge. Er kann dabei Autos kapern, Waffen einsetzen, Menschen überfahren, usw. ➡ Action-Spiele Hier ist nur wenig Strategie gefragt. Es geht – wie der Name schon sagt – um die Action. • Jedi Power Battles (Star Wars Episode 1): Außergewöhnlich ist hier, dass die zwei Spieler gemeinsam kämpfen. In einem Szenario, das an die Star Wars Filme angelehnt ist, kämpfen sie gemeinsam für das Gute. • Syphon Filter I und II: Special-Forces-Typ kämpft gegen zahlreiche Widersacher, die alle im Dienst eines Terroristen stehen, der mit biologischen Waffen die Welt vernichten will. Die Version II des Spiels bietet als Zusatzoption den Duellmodus. Dabei können zwei Spieler in Häuserkampfmanier mit Handfeuerwaffen bis zum Granatwerfer gegeneinander antreten. ➡ Command & Conquer (C & C) ist ein Echtzeit-Strategiespiel, bei dem es darum geht, einen Stützpunkt aufzubauen, von dem aus die jeweils gegnerische Partei bekämpft wird. Es wird ein Krieg zwischen der Brotherhood of Nod und der Global Defense Initiative simuliert. Das Spiel ist relativ kompliziert und dauert mindestens eine Stunde. ➡ Action-Adventure-Spiele enthalten auch Strategieelemente. • Resident Evil I, II und III ist der Klassiker in diesem Bereich. Genexperimente machten fast alle Menschen zu Zombies. Der Spieler hat die Aufgabe den Professor, der für diese Experimente verantwortlich ist, zu finden und zu vernichten. Dabei wird nicht nur gegen Zombis gekämpft, sondern auch beispielsweise gegen Dobermänner. Im Ganzen blutrünstig und spannend. Resident Evil wird allerdings nur von einem Spieler allein gespielt. Hier – wie auch bei anderen Gewaltspielen – gibt es eine deutsche sowie eine unzensierte ameri- Der Playstation-Selbstversuch kann mit Sicherheit keine empirischen Daten liefern. Aber er bietet eine gute Möglichkeit, mit den Jugendlichen ernsthaft ins Gespräch zu kommen. Über das Medium des Versuchs kommen die Jugendlichen untereinander ins Gespräch und setzen sich mit der Gewalt/Begeisterung-Thematik auseinander. Der Lehrer bzw. die Leiterin übernimmt dabei lediglich eine moderierende Rolle. Die Methodik wird viele Jugendliche überraschen, aber gerade dadurch kommt großes Interesse auf. Wir können den Selbstversuch wärmstens weiterempfehlen. 128_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Dieses Spiel hat sowohl Nachfolger- als auch Nachahmerspiele hervorgebracht, z.B.: • C & C II • Red Alert • Rise of the Tiberium Sun 6. Und was bringt’s? Christian Ceconi-Solle Das Bauwagenprojekt „Paule“ zur Überwindung von Gewalt Das Bauwagenprojekt „Paule“ zur Überwindung von Gewalt Das Bauwagenprojekt „Paule“ zur Überwindung von Gewalt 1. Entstehung des Projektes: Motivation: Den entscheidenden Impuls hat dieses Projekt durch die Dekade des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) „Overcome violence - die Gewalt überwinden” erhalten. „Laß dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit dem Guten.” (Röm 12,21) In ihrem Synodenbericht rief die Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann im Mai 2000 zu mehr Einmischung und Kreativität der Christen in der Frage nach dem Umgang mit Gewalt auf: „Wir sollten als Kirche nicht länger ein Lamento über Gewalt anstimmen oder schweigen, sondern selbst aktiv werden bei deren Überwindung.” Das Projekt „Bauwagen Paule” ist seither der Versuch, basisnah im Handlungsbereich der Kirche konkret vor Ort die globalen Themen des ÖRK umzusetzen. 2. Ziel: Overcome violence - die Gewalt überwinden Kinder und Jugendliche sollen in die Lage versetzt werden, Gewalt, gewalttätige Strukturen und eigenes Aggressionspotential zu erkennen und positiv zu prägen, bzw. angemessen damit umzugehen. Sie sollen in diesem Prozeß die grundlegende Bedeutung der biblischen Botschaft erleben, erfahren und reflektieren. Die Arbeit mit „Paule” hat ein Profil: Alle Angebote beziehen sich in ihrer spezifischen Art und Weise auf das Thema der Dekade „Gewalt überwinden”. Dabei geht es um einen Mix aus Erfahrungsaustausch, Übungen, Reflexion und Spiel. So sollen Inhalte und Methoden zur gewaltfreien Bearbeitung von Konflikten unter Aufnahme entsprechender Impulse aus der biblischen Botschaft vermittelt werden. 3. Der Ausbau des Bauwagens „Der Umbau dieses Wagens kam mir vor wie die Entwicklung einer Raupe zum Schmetterling”, so eine ältere Frau aus der Gemeinde. Der Innenausbau und die Außenarbeiten benötigten in der Zeit von April bis zur Einweihung am 3. September 2000 700 Arbeitsstunden. Das alles geschah mit großer Beteiligung von freiwilligen Jugendlichen und Senioren. Dieses Engagement steigerte den Bekanntheitsgrad des Projektes, besonders bei der Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen und erhöhte die Möglichkeit zur Identifikation. ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_129 GEGEN DEN TREND ’2001 Theologisch entscheidend für die Entstehung von Aktionen und Projekten wie dem Bauwagenprojekt ist die Wirkung des Heiligen Geistes als „spiritus creator” (schöpferischer Geist). Demnach erschließt der Heilige Geist den menschlichen Geist für sein Wirken, bewegt, treibt und motiviert ihn über die Grenzen von Trägheit, Mutlosigkeit und Resignation hinaus. Die Wirkung des Heiligen Geistes unter uns Menschen ist grundlegend initiiert in der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Gott ist eben nicht allein als Gott im Himmel geblieben, sondern wahrer Mensch geworden und bringt auf dieser Basis Menschen in Bewegung bzw. zur Begeisterung, als wahrer Mensch und wahrer Gott. Als solcher ist er am Kreuz nicht im Tod geblieben, sondern von den Toten auferstanden. Er hat den Tod überwunden heißt in unserem Kontext: er hat die menschliche Unfähigkeit überwunden, sich von seinem Geist begeistern und bewegen zu lassen. Er hat uns Menschen die Perspektive der Begeisterung auf ein schöpferisches, geistgewirktes Leben hin eröffnet. Das Bauwagenprojekt „Paule“ zur Überwindung von Gewalt Innenausbau: Ausbau der vorhandenen Innenausstattung, der Decken-, Wand- und Fußbodenverkleidung, Verlegen der elektrischen Leitungen, Verschalung der Decke und Seitenwände mit Profilbrettern, Verlegen von Laminat als Fußboden, Installierung der Küchen- und Schrankeinrichtung, Streicharbeiten, etc. Außenarbeiten: Abnehmen des Wellblechs, Reparatur des Wandgerüstes, Isolierung, Verschalung mit Blockhausbrettern, Fensterläden, Streicharbeiten, Reparatur des Daches, Herstellung eines Glockenturmes, Überholen der Bremsanlage, Installierung einer Lichtanlage, etc. 4. Die Arbeit mit „Paule”: Mit „Paule” gibt es drei Bereiche der Antigewaltund Präventionsarbeit: • In öffentlichen Schulen • An sozialen Brennpunkten • Mit kirchlichen Gruppen GEGEN DEN TREND ’2001 In öffentlichen Schulen: Es geht konkret um Projekte, die seitens der Kirche in zeitlich überschaubaren Angeboten im Alltag der Schulen durchgeführt werden. Schulklassen sollen innerhalb ihres Schulalltages positiv geprägt werden und den Charakter der Schule mitbestimmen. Inhalte kirchlicher Handlungs- und Lernfelder werden als Konsequenz biblischer Überlieferung und Werte den SchülerInnen zur Orientierung angeboten. Durchgeführt werden Projekttage und Unterrichtseinheiten zum Thema „Gewalt überwinden”, Beteiligung des Bauwagen-Teams am SchülerInnengottesdienst der Sek 2 am Buß- und Bettag zum Thema „Zivilcourage?!”, SchülerInnencafe auf 130_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … dem Schulhof, Malwettbewerb mit Kunstkursen und AGs etc. In sozialen Brennpunkten: Mit offenen Angeboten vor Ort sollen gerade die Kinder und Jugendlichen erreicht werden, die nur bedingt an sozialen Angeboten der Kirche, bzw. der Vereine teilnehmen. Die Erkenntnis der „Sozialbilanz” der Stadt Hameln, mehr wohnortnahe Angebote für Kinder und Jugendliche zu schaffen, hat die städtische Jugendarbeit in Hameln verändert. Der Bauwagen „Paule” ist jetzt Teil des Konzeptes der Stadt Hameln in der „dezentralen und offenen Jugendarbeit”, weil „Paule” aufsuchende Arbeit leistet. Es wird dort ein Raum der Begegnung angeboten, wo die Jugendlichen bereits ihre Treffpunkte haben, bzw. leicht hinkommen. In besonderen Aufgabengebieten, wie z.B. in sozialen Brennpunkten, können flexible Angebote der Situation vor Ort am ehesten gerecht werden. Z.Zt. (Dezember 2000) bietet „Paule” einmal wöchentlich einen offenen Treffpunkt an. Zielgruppe sind 20 Jugendliche aus z.T. „schwierigen Verhältnissen” im Alter von 12 bis 17 Jahren, die im Stadtteil durch provozierendes und schockierendes Verhalten aufgefallen sind. Unter dem Motto „bekämpft nicht die Jugendlichen, sondern ihre Probleme” ist der Bauwagen Ort niedrigschwelliger Begegnung mit Tee, Musik, warmem Raum, Gesprächen und angemessenen Spielangeboten. Mit kirchlichen Gruppen: In der Gemeinde gibt es seit Jahren den Zirkus „Gerhardy”. Hier entdecken die 40 Kinder und Jugendlichen ihre verborgenen Talente, lernen das soziale Miteinander und erleben die Kirche als einen Ort kennen, wo sie auch gemeinsamen Spaß haben können. Weil zu jedem Zirkus ein Zirkuswagen gehört, ist der Bauwagen als Materialwagen und Publikumsmagnet für verschiedene Auftritte vorgesehen. Das Bauwagenprojekt „Paule“ zur Überwindung von Gewalt Die Gruppen des traditionellen Konfimandenunterrichtes und des Hoyaer Modells binden „Paule” in ihre Paddeltouren auf der Weser ein, indem sie ihn als Campingmobil zum Übernachten und Kochen nutzen. Der PfadfinderInnenstamm „Kreuzfähnlein” des VCP buchte „Paule” für ein Zeltlager im Sommer. 5. 10 Artikel zur Gewaltvermeidung Situativ und an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientiert, werden kurze Einheiten als „in” oder „out” Impulse angeboten. Entsprechend wird die Glocke im Turm geläutet. Es handelt sich dabei um kurze, gemeinsame Runden, nicht länger als sieben Minuten, zu Beginn und/ oder zum Ende des jeweiligen Angebotes. Hier werden Absprachen getroffen, Regeln diskutiert, Ideen gesammelt aber auch spirituelle Impulse gegeben, z.B. mit einer Meditation zu Steinen, Kerzen und Bildern, kurzen Gebeten oder mit einem Lied aus der Musikszene mit religiösem Inhalt etc. Aus der inhaltlichen Arbeit am Bauwagen sind die „10 Artikel zur Gewaltvermeidung” hervorgegangen. Sie sind Produkt bisheriger und bieten eine Grundlage zukünftiger Diskussionen. 6. Mobilität ermöglicht Kooperation: Mobilität ist die beste Vorraussetzung für eine übergreifende Zusammenarbeit zwischen Kirche, Schulen, Vereinen und Initiativen. „Paule kann man mieten!” ist das Motto, mit dem andere Einrichtungen aufgefordert werden, „Paule” auch für ihre selbstbestimmten Zwecke im Rahmen ihrer Antigewalt oder Präventionsarbeit vor Ort zu nutzen. Die lokale wie überregionale Kooperation gehört zum Grundwesen des Projektes. Das paulinische Bild vom Leib und seinen Gliedern (1. Kor. 12) kann als biblische Vision einen kreativen Prozess einleiten, der seine Wurzeln in der biblischen Tradition offenlegt, pflegt und weitersagt. Der Prozess einer Vernetzung von Maßnahmen zur Überwindung von Gewalt kann als eine Chance betrachtet werden, kreativ und geistesgegenwärtig am Netzwerk des Geistes Gottes im pluralen Leben der Gesellschaft mitzuwirken. Diese pneumatologische Perspektive verbietet eine institutionell verengte Sicht der Kirche auf die Binnenperspektive der eigenen Organisation. Je breiter Gewaltprävention angelegt ist, desto mehr Aussicht auf Erfolg hat sie nach menschlichem Ermessen. Das konzentrierte Auftreten öffentlicher Einrichtungen fördert bei betroffenen Kindern und Jugendlichen das Gefühl ernstgenommen zu werden. In der Stadt Hameln: Das Projekt ist Teil einer Projektgruppe, die sich die Umsetzung und ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_131 GEGEN DEN TREND ’2001 1. Wir achten die Würde unserer Mitmenschen. 2. Wir leisten jedem Menschen Beistand gegen Schikane, auch wenn wir nicht seine Meinung teilen. 3. Wir wollen den Anfängen von Psychoterror in unserem Umfeld (Schule, Clique etc) wehren. 4. Wir üben Toleranz. 5. Wir begegnen Fehlern von fremden Menschen ebenso nachsichtig wie unseren eigenen. 6. Wir beteiligen uns nicht an der Entstehung von Gerüchten. Miteinander und nicht übereinander reden! 7. Wir erklären, dass wir die Schwachen stützen und verpflichten uns, auf Gerechtigkeit in unserem Umfeld zu bestehen. 8. Wir erklären, dass wir niemanden schikanieren. 9. Wir wollen uns Mühe geben, mit jedem in unserer Nähe höflich und offen zusammenzuarbeiten und Problemen nicht aus dem Weg zu gehen. 10. Wir verpflichten uns, gegen Mobbing gemeinsam vorzugehen - gemeinsam, nicht einsam. Das Bauwagenprojekt „Paule“ zur Überwindung von Gewalt Begleitung von konkreten Projekten zur Überwindung von Gewalt in der Stadt Hameln zum Ziel gesetzt hat. Diese Gruppe ist beauftragt vom „Kriminalpräventionsrat” der Stadt, besteht aus 14 Personen und trifft sich einmal im Monat. In ihr sind VertreterInnen des Stadtrates, der städtischen Kinder- und Jugendsozialarbeit, der Polizei, der Schulen, der Sportvereine und anderer sozialer Einrichtungen vertreten. Die Person aus dem Bauwagenprojekt ist die bisher einzige aus einer kirchlichen Initiative - kirchliches Engagement im säkularen kommunalen Raum. persönliche Erfahrung im Umgang mit Gewalt bei sich und anderen befassen sie sich in diesem Team regelmäßig mit einem konkreten Teilaspekt aus ihrem direkten Lebensumfeld. Sie werden von der Problemdarstellung über die Lösungssuche und die Planung der jeweiligen Maßnahme bis zu ihrer Umsetzung beteiligt. Dabei handelt es sich überwiegend um überschaubare Problembereiche, die über das Projekt zeitnah gelöst werden sollen. Die Gewinnung, Ausbildung und Einarbeitung von ehrenamtlichen MitarbeiterInnen ist unverzichtbar für die Nachhaltigkeit und Breitenwirkung des Projektes. In der Kirche: Das Projekt „Paule” ist an die evang.-luth. Paul-Gerhardt Kirchengemeinde angebunden, ist aber ein Projekt des Kirchenkreises Hameln-Pyrmont. Folglich geschieht die Entwicklung einer Konzeption des Projektes, die Planung und Durchführung der Angebote in enger Zusammenarbeit mit dem Kirchenkreisjugenddienst, der Jugend-AG und dem Jugendkonvent des Kirchenkreises. Ziel ist, dass „Paule” mit dem Trecker (23,5 km/h) auch bei überregionalen Veranstaltungen wie dem Landesjugendcamp, Kirchentagen, der Synode etc. zum Einsatz kommt. Um die Beteiligung und Schulung der Mitarbeitenden zu gewährleisten, trifft sich das Team einmal im Monat zu einem Abend oder einem Fachtag. Bei diesen Treffen wurde gemeinsam das „Paule-Konzept” entworfen, bedürfnisorientierte Angebote geplant und reflektiert, sowie konkrete Anfragen und Schwerpunkte der weiteren Arbeit besprochen. Die Ergebnisse des Engagements sind unmittelbar erfahrbar und vermitteln damit das notwendige Maß an Erfolgserlebnissen: Die Arbeit macht Spaß!! GEGEN DEN TREND ’2001 7. Teamarbeit „Die Sache Jesu braucht Begeisterte, sein Geist sucht sie auch unter uns.” (P. Janssens) Die Angebote sollen überwiegend durch ein geschultes Team von ehrenamtlichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 16-30 Jahre vorbereitet und durchgeführt werden. Für die Aktion und die jeweilige Bedarfslage muss jedes mitwirkende Team gut qualifiziert sein, auch in religionspädagogischer Hinsicht. Dazu werden Ressourcen und Kompetenzen gesammelt, gesucht und genutzt. Bisher sind es 10 Personen, die an kurz- oder mittelfristigen Zielen im Projekt mitwirken. Durch die 132_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … 8. Ausblick Es ist geplant und von der zuständigen Kommission in Hannover am 8. November 2000 beschlossen, ab Mai 2001 eine DiakonIn einzustellen, die z.T. aus dem Beschäftigungfonds der Landeskirche Hannovers bezahlt wird. Für die anfallenden Personalkosten von jährlich 15.000 DM, sowie etwa 10.000 DM Sachkosten werden noch Geldgeber gesucht. Im März 2001 soll ein „Freundeskreis Paule” ins Leben gerufen werden, der die Arbeit finanziell und ideell begleitet. Daniel Petzold Gewalt in unseren Straßen Gewalt in unseren Straßen Jugendliche sind immer häufiger Opfer von Gewalt – ein Jugendlicher, der selber an einem schönen Sommerabend in einer niedersächsischen Stadt Opfer geworden ist, hat aufgeschrieben, wie so eine Eruption von Gewalt abläuft. Dieser konkrete Vorfall läuft nach einem verbreiteten Schema ab. Es kann gefragt werden, welche Handlungsalternativen in den einzelnen Abschnitten des Dramas möglich gewesen wären. Erlebnisse eines 16- Jährigen Eigentlich ist der Platz nicht gerade verrufen. Sicher, weil er ein Treffpunkt der Skater ist, hängen da viele Jugendliche herum. Aber ansonsten ist dort eigentlich alles im grünen Bereich. Gleich nebenan tobt das Leben in den angesagten SzeneKneipen. Wir sitzen kurz nach 23.00 Uhr an der Bushaltestelle und warten auf den letzten Bus. Plötzlich kommen zwei Jungs auf uns zu, die sich gegenseitig laut anbrüllen – sie scheinen sich zu streiten. Wir denken uns nichts dabei und blieben sitzen, doch in dem Moment, als sie an uns vorbeigehen, drehen sie sich um und bleiben stehen. Sie bauen sich direkt vor uns, so dass wir nicht weglaufen können. Ziemlich kräftige Typen – uns wird mulmig und wir ahnen schon, was die beiden von uns wollen. Sie fangen an, uns Fragen zu stellen. Belangloses Zeug. Sie wollen wissen, wo wir wohnen, wo wir zur Schule gehen. Dann geben sie uns Befehle. Wir haben mehr nicht zu reden, es sei denn, sie fordern uns dazu auf. Sie fragen meinen Kumpel aus welchem Land er komme. Er will sich dazu nicht äußern. „Hast du denn keinen Stolz in dir, dass du nicht zu deinem Land stehst?“ schnauzen sie ihn an. Mein Kumpel fängt an zu stottern – ich merke, wie die Angst ihn verwirrt. Wie es genau gekommen ist, kann ich gar nicht mehr sagen. Aber plötzlich fangen sie an, mir mit ihren Fäusten ins Gesicht zu schlagen. Merkwürdigerweise tat es im ersten Moment gar nicht weh. Ich möchte abhauen – aber es ist aussichtslos. Hoffentlich komme ich da wieder raus! Dann sehe ich P. - einen Bekannten, der an uns vorbeigeht. Vielleicht meine Rettung. Ich hoffe, dass er die beiden kennt und mit ihnen reden kann. Ich rufe P. zu und er kommt sofort zu uns her. Die beiden lassen mich und gehen jetzt auf ihn los. Um sie abzuwehren schlägt P. dem einen sofort ins Gesicht. Aber er hat keine Chance. Die beiden prügeln jetzt auf ihn ein. Mein Kumpel und ich nutzen die Gelegenheit und rennen zu einer der Kneipen, um Hilfe zu holen. Vor der Kneipe stehen Männer so um die 30. Doch leider fühlt sich keiner dazu in der Lage, uns gegen zwei jugendliche Schläger zu verteidigen. Oder sie haben einfach keine Lust, ihr Bier warten zu lassen. Am liebsten hätte ich dem einen das Blut aus meinem Gesicht auf sein piekfeines weißes Hemd geschmiert. GEGEN DEN TREND ’2001 ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_133 Gewalt in unseren Straßen Vaterland Konstantin Wecker schrieb 1979 unter dem Eindruck von neu erwachten nationalistischen und rechtsextremistischen Aktivitäten das Lied „Vaterland“. In ihm wird deutlich, welches Gedankengut in den entsprechenden Gruppen den Einzelnen fasziniert und in tragische Situationen hineinführen kann. Andererseits wird an die deutsche Geschichte von 1933-1945 erinnert, in der schon einmal die „grausamen Stiefel“ die Menschlichkeit zertrampelt hatten. „Recht und Ordnung“ und „Männer aus Stahl und Granit“ mit einem lohnenden Ziel vor Augen - ganz schnell wird daraus die Rechtfertigung von Gewalt gegen Andersartige und Andersdenkende. Spannend die Frage, ob es erst zur Katastrophe kommen muss, oder ob schon im Vorfeld eine Möglichkeit zur „Bekehrung“ bestände – gerade auch in Hinsicht auf die Erfahrungen des Vaters. Obwohl in bayrischem Dialekt gesungen, empfiehlt es sich, das Lied vorzuspielen, nicht zuletzt deswegen, weil Wecker es sehr engagiert vorträgt. Vaterland Vater, sag mir, ist das wahr warst Du wirklich ein Sozi in die dreiß´ger Jahr´ warst Du wirklich damals im Widerstand hast gekämpft gegen´s eigene Vaterland Vater i muß mi schame´ i möchte´ an andern Name´ in der Schul´, Du glaubst net wie an peinlich das ist da haoßen´s dir an Kommunist. GEGEN DEN TREND ’2001 Und der Buer träumt von Recht und Ordnung von einem g´sunden graden Tritt und im Geist hört er´s marschieren und im Geist marschiert er scho‘mit und der Vater weiß niet aus noch ei so weit is‘ scho‘ g‘komme mit der Druckerei mit Kommunistenhatz und Berufsverbot und Wirtschaftswunder und Arbeitsnot. Da wehrs‘t Dich dei‘ Leben lang gegen all den Schutt und dann machen´s dafür deinen Sohn kaputt. Und der Vater nimmt sich eine Nacht lang Zeit und erzählt dem Buer‘m von der Unmenschlichkeit von Krieg und KZ, von der Feigheit der Leit‘ und er blehrt, paß auf, die machen sich bald wieder breit und dann packt der Buer seine Sache‘ sagt Vater, da muß ich doch lache‘. 134_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Du kannst es doch überall lesen, des is doch ganz anders g‘wesen, und dann träumt er von hohen Stiefeln und von Männern aus Stahl und Granit und im Geist da hört er Trompeten und im Geist da maschiert er scho‘ mit. Und der Vater, woaß net aus noch ei‘, so weit ist scho‘g‘ komme mit der Duckerei, mit... Und a‘ paar Woche‘ später steht der Buer vor der Tür und zittert und flüstert, i ko nix dafür, die mache‘ ernst, die basteln Granaten, die rechen vom Volkssturm und Attentaten Vater, i‘muß mi schame‘, i möchte‘ an andern Name‘, mir ham, i trau‘ mer‘s gar nich‘sog‘n gestern Nacht im Streit an Mo daschlagen. Und der Vater denkt an früher, hört die grausamen Stiefel marschieren und im Geist marschieren die noch immer und scho‘ morgen kann des wieder passieren. Und wie a soviel‘ andre da kriegt er an Zorn, was ist bloß wieder aus Deutschland ‘worden mit..... aus: Konstantin Wecker (live), Polydor 1979 Gewalt in unseren Straßen Schritte gegen Tritte Vom Umgang mit Gewalt - in Südafrika und bei uns Ein ökumenisches Lernprojekt für Schulen und Gemeinden Zwei Männer steigen in einen mit acht Passagieren besetzten Bus. „Deutschland zuerst,” brüllt der eine und geht zielstrebig auf einen jungen Mann zu. Plump wird dieser angepöbelt. Es kommt zu einem kurzen verbalen Schlagabtausch; dann zu Handgreiflichkeiten. Die Situation wirkt bedrohlich. Wird jemand eingreifen? Welches Risiko geht er/sie dabei ein? Gibt es unterschiedliche Möglichkeiten und Methoden, deeskalierend in Gewaltsituationen zu wirken? Um solche Fragen und konkrete Hilfen zur Gewaltintervention geht es in dem Projekt „Schritte gegen Tritte”, das von Pastor Klaus Burckhardt, ELM Beauftragter für Mission und Ökumene in der Landeskirche Braunschweig, gemeinsam mit religionspädagogischen Mitarbeitern des Hauses Kirchlicher Dienste Kassel entwickelt wurde. Pastor Burckhardt hat sich in zehnjährigem Gemeindedienst in Südafrika (1983 - 1993) intensiv mit dem Thema der Gewaltprävention und -intervention auseinandergesetzt, besonders in seiner Arbeit in einem Lager für Flüchtlinge und Landlose. Nach seiner Rückkehr stellte er Vergleiche zur deutschen Situation an und widmete sich dabei besonders den Fragen der Entstehung von Gewalt, ihren Strukturen und Merkmalen unter Jugendlichen. Daraus entstand ein sechsstündiges Unterrichtsprojekt, das mit Hilfe verschiedener Medien (Videos, Ausstellung und 3-D Simulationsspiel zum Flüchtlingslager „Canaan”, Rollenspiele) versucht: Das Projekt wurde bisher mit mehr als 17000 Schülern verschiedener Schultypen (besonders OS, HS, RS und BBS) der Klassen 6 - 13 durchgeführt. Dabei hat sich eine Zusammenarbeit mit MitarbeiterInnen aus Schule, Kirchengemeinde und Kommune bewährt, die für die Vorbereitung, Projektvorstellung im Lehrerkollegium und die Frage der Unterrichtsbegleitung und -nacharbeit verantwortlich ist. Das Projekt hat über den regionalen Bereich hinaus eine große Breitenwirkung und wird mittlerweile auch von 10 weiteren MultiplikatorInnen in Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Hessen durchgeführt. In Braunschweig wird „Schritte gegen Tritte” als Impulsprojekt in einem Gesamtpaket von AntiGewaltmaßnahmen an Schulen angeboten, die auf ein Konfliktschlichterprogramm hinauslaufen (http://bs.cyty.com/elmbs/pbs.htm). Die Kosten (DM 200,00 pro Tag & Fahrtkosten & Vor- und Nachbereitung von 250,00) kommen einen Solidaritätsprojekt des Ev.-luth. Missionswerks i.N. (ELM) in Südafrika zugute. Konkrete Anfragen sind zu richten an: P. Klaus J. Burckhardt, ELM Beauftragter für Mission & Ökumene, Leonhardstr.39, 38102 Braunschweig, Tel: 0531-2702866 oder 71902, Fax: 0531-79772, Email: [email protected] Weitere Informationen, Presseartikel, Links, etc. sind unter der Homepage URL http://bs.cyty.com/ elmbs/schritte.htm abrufbar. ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_135 GEGEN DEN TREND ’2001 1. Jugendlichen am Beispiel Südafrikas Gewaltursachen, -strukturen und -reaktionen bewusstzumachen, 2. ihnen die Möglichkeit zu geben, eigene Gewalterfahrungen und Ausgrenzungsmechanismen im persönlichen Umfeld zu reflektieren, 3. konkrete Handlungs- und Interventionshilfen im Umgang mit Gewalt zu erarbeiten und 4. biblisch fundierte Alternativen zur Gewaltanwendung zu entdecken. Gewalt in unseren Straßen Schritte gegen Tritte Ratschläge zum Verhalten in Bedrohungssituationen Vorbemerkungen: • • • • • Es gibt keinen 100% Schutz vor Überfällen und gewaltsamen Auseinandersetzungen. Jeder Mensch kann Opfer oder Beteiligter einer Gewalttat werden. Doch die Wahrscheinlichkeit ist - trotz des von den Medien vermittelten Eindrucks - eher geringer anzusetzen, als es das subjektiv wahrgenommene Gefühl der Bedrohung suggeriert. Das statistische Datenmaterial zeigt, dass entgegen landläufiger Meinung: die meisten Taten nicht von Gruppen, sondern von Einzeltätern, die meisten Tötungsdelikte von Erwachsenen, nicht von Jugendlichen begangen werden, die Opfer von Gewalttaten häufiger Männer als Frauen sind. (Hier ist allerdings die Dunkelziffer nicht gemeldeter und tabuisierter Gewalttaten nicht eingeschlossen!) Das Erlernen asiatischer Kampfsportarten ist nur dann erfolgversprechend, wenn eine vernünftige Ausbildung durch LehrerInnen geschieht, die gleichzeitig die lebensbejahen- GEGEN DEN TREND ’2001 Folgende Regeln allerdings können - unter Berücksichtung der oben genannten Vorbemerkungen - durchaus sehr nützlich sein: • VORBEREITEN! Bereite dich auf mögliche Bedrohungssituationen seelisch vor: Spiel Situationen für dich allein und im Gespräch mit anderen durch. Werde dir grundsätzlich klar darüber, zu welchem persönlichen Risiko du bereit bist. Es ist besser, sofort die Polizei zu alarmieren und Hilfe herbeizuholen, als sich nicht für oder gegen das Eingreifen entscheiden zu können und gar nichts zu tun. 136_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … • • den und -fördernden Grundsätze dieser Sportarten mitvermittelt (z.B. Einheit von Körper, Seele, Geist, Entspannungsübungen und Körpergefühl, Einsatz zur Gewaltvermeidung, Nicht-Aggression). Das Tragen und die Anwendung von Waffen führt in fast allen Fällen zu einer Eskalation der Gewaltspirale! Dies gilt auch für Kampfmittel, die juristisch nicht als Waffen gelten (z.B. Butterfly-Messer, bestimmte Reizgase etc). Oft kommt es vor, dass die eigene Waffe gegen den/die WaffenträgerIn eingesetzt wird. Jeder/jede sollte das tun, was er/sie sich in einer Krisen- bzw. Gewaltsituation zutraut. Meine eigene Persönlichkeitsstruktur entscheidet mit darüber, welches Verhalten ich in einer bestimmten Situation an den Tag legen kann. Dies kann ich jedoch nur herausfinden, indem ich mich in spielerisch mit erlebten oder von anderen vorgegebenen ausgewählten Gewalt- bzw. Konfliktsituationen auseinandersetze (Rollenspiele, Forumtheather etc). Klaus Burckhardt • RUHIG BLEIBEN! Panik und Hektik vermeiden und möglichst keine hastigen Bewegungen machen, die reflexartige Reaktionen herausfordern könnten. Wenn ich „in mir ruhe”, bin ich kreativer in meinen Handlungen und wirke meist auch auf andere Beteiligte beruhigend. • AKTIV WERDEN! Wichtig ist, sich von der Angst nicht zähmen zu lassen. Eine Kleinigkeit zu tun ist besser, als über große Heldentaten nachzudenken. Wenn du Zeuge oder Zeugin von Gewalt bist: Zeige, dass du bereit bist, gemäß deinen Möglichkeiten einzugreifen. Gewalt in unseren Straßen Ein einziger Schritt, ein kurzes Ansprechen, jede Aktion verändert die Situation und kann andere dazu anregen, ihrerseits einzugreifen. • TU DAS UNERWARTETE! Fall aus der Rolle, sei kreativ, und nutz den Überraschungseffekt zu deinem Vorteil aus. • VERLASSE DIE DIR ZUGEWIESENE OPFERROLLE! Wenn du angegriffen wirst: Flehe nicht, und verhalte dich nicht unterwürfig. Sei dir über deine Prioritäten im klaren und zeige deutlich, was du willst. Ergreif die Initiative, um die Situation in deinem Sinne zu prägen: Schreib dein eigenes Drehbuch! • VERMEIDE MÖGLICHST JEDEN KÖRPERKONTAKT! Wenn du jemandem zu Hilfe kommst, vermeide es möglichst, den Angreifer anzufassen, es sei denn, Ihr seid in der Überzahl, so dass Ihr jemanden beruhigend festhalten könnt. Körperkontakt ist in der Regel eine Grenzüberschreitung, die zu weiterer Aggression führt. Wenn nötig, nimm lieber direkten Kontakt zum Opfer auf. • HALTE DEN KONTAKT ZUM ANGREIFER! Stelle Blickkontakt her und versuche, Kommunikation herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten. • REDEN UND ZUHÖREN! Teile das Offensichtliche mit, sprich ruhig, laut und deutlich. Hör zu, was dein Gegner bzw. Angreifer sagt. Aus seinen Antworten kannst du deine nächsten Schritte ableiten. • NICHT DROHEN ODER BELEIDIGEN! Mach keine geringschätzigen Äußerungen über den Angreifer. Versuche nicht, ihn einzuschüchtern, ihm zu drohen oder Angst zu machen. Kritisiere sein Verhalten, aber werte ihn persönlich nicht ab. (Also: nicht „Du bist schlecht”, sondern „Das ist schlecht”) Dazu noch einige Ratschläge der Polizei Hamburg: „Die Gewalt nimmt zu. Gerade in Großstädten. Wer nicht hilft, wird selbst zum Mittäter.“ Das Urteil der Polizei ist hart. Dabei wäre Helfen so einfach. Doch nur wenige tun es. Die Polizei hat sechs Regeln für mehr Courage erarbeitet. Die PolizeiPsychologin Claudia Brockmann erläutert sie: 1) Ich helfe, ohne mich selbst in Gefahr zu bringen: Jeder hat die Möglichkeit zu helfen, ohne in die direkte Konfrontation zum Täter zu gehen. Häufig reicht es, wenn der Täter mitbekommt, dass er beobachtet wird. 2) Ich fordere andere direkt zu Mithilfe auf: Je mehr Personen an einem Tatort versammelt sind, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass jemand hilft - ein Phänomen. Viele haben Angst, sich zu blamieren oder einen Fehler zu machen. Ein Tip: Fangen Sie an, aber handeln Sie nicht alleine, sondern fordern Sie ganz gezielt andere Passanten zur Mithilfe auf. Vielleicht so: „Junger Mann mit der roten Jacke! Helfen Sie mir bitte!” 3) Ich beobachte genau und merke mir den Täter: Eine gute Täterbeschreibung hilft der Polizei ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_137 GEGEN DEN TREND ’2001 • HOL DIR HILFE! Sprich nicht eine anonyme Masse an, sondern einzelne Personen. Dies gilt sowohl für Opfer als auch für Zuschauerinnen und Zuschauer. Sie sind bereit zu helfen, wenn jemand anderes den ersten Schritt macht oder sie persönlich angesprochen werden. (nach: Ralf-Erik Posselt: Handbuch „Schule Ohne Rassismus”, S. 83 f.) Gewalt in unseren Straßen enorm. Wichtig sind Alter, Aussehen, Kleidung und Fluchtrichtung. Auch kann es sinnvoll sein, dem Täter in sicherer Distanz zu folgen - schon viele Täter haben dadurch entnervt ihre Flucht aufgegeben. 4) Ich rufe Hilfe: Es ist so lächerlich wenig nötig, um zu helfen: Wählen Sie den Notruf 110. Sagen Sie, was genau passiert und wo es passiert. Legen Sie nicht gleich wieder auf, warten Sie auf eine mögliche Rückfrage der Polizei. 5) Ich kümmere mich um das Opfer: Für die Opfer dauert es eine schiere Ewigkeit, bis Polizei, Feuerwehr oder Rettungsdienst am Tatort sind. Auch wenn Sie sich in Erster Hilfe nicht sicher sind, leisten Sie deshalb wenigstens seelischen Beistand, trösten Sie und fragen, wie Sie das Opfer unterstützen können. 6) Ich stelle mich als Zeuge zur Verfügung: Um Täter zu bestrafen bedarf es Zeugen. Rennen Sie nicht weg, wenn Sie eine Straftat oder ein Unglück beobachtet haben - auch wenn viele andere scheinbar das gleiche gesehen haben. Melden Sie sich bei der Polizei. Und wenn Sie es eilig haben: Hinterlassen Sie wenigsten Ihren Namen und Ihre Telefonnummer. Opfer und Polizei werden es Ihnen danken. Helfen Sie unbedingt! Auch wenn es Sie Mühe und Überwindung kostet. Es könnte sein, daß auch Sie einmal die Hilfe anderer Menschen benötigen. Auch deshalb gilt in Deutschland: Unterlassene Hilfe ist strafbar! GEGEN DEN TREND ’2001 Zum Hintergrund der Hamburger Ratschläge aus einem Internet-Chat zum Thema „Gewalt”: Sie schrie um Hilfe, schlug wild um sich, doch der junge Mann war stärker. Er riß ihr die Hose runter, drückte die 17jährige in die Ecke der Sitzbank und vergewaltigte sie. Beschämt blickten die anderen Fahrgäste zur Seite. Niemand half, griff ein oder rief die Polizei. Nicht einmal als Zeugen stellten sie sich zur Verfügung. Hamburgs Medien schrieen auf vor Empörung: Wie konnte so ein Fall in der 138_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Schnellbahnlinie 21 geschehen? Wie konnten andere Fahrgäste teilnahmslos die Tat hinnehmen? Noch immer ist der junge Mann nicht gefasst. Und so geht jeden Abend die Angst in Hamburgs Schnellbahnen mit auf Reisen. „Wer nichts tut, macht mit”, urteilt Hamburgs Polizei. Sie startete im Frühjahr eine ungewöhnliche Kampagne für mehr Zivilcourage. Polizisten verteilten in Bussen und Bahnen 250.000 Kärtchen mit sechs wichtigen Verhaltensregeln. „Wir fordern nicht zu falschem Heldentum auf ”, sagte Hamburgs Innensenator Wrocklage. Er forderte aber mehr Courage, bei Straftaten oder Unglücken zu helfen. Unterstützt wird die Aktion von Prominenz aus Film, Kultur und Sport. Box-Weltmeister Dariusz Michalczewski ruft ebenso zu mehr Mut im Alltag auf wie Schauspielerin Hannelore Hoger, Fußballer Carsten Pröpper, Krimi-Legende Jürgen Roland oder Regisseur Christoph Schlingensief. Polizeibehörden anderer Bundesländer haben die Aktion aufmerksam verfolgt und wollen sie wiederholen. „Wir sind mit dem Ergebnis sehr zufrieden”, sagte Polizei-Sprecherin Ulrike Sweden gegenüber AOL. Für Polizei-Präsident Ernst Uhrlau steht fest: „Wir konnten die Bereitschaft der Bürger, Opfern von Straftaten zu helfen, wieder wachrütteln.” Allein die Internet-Seiten zu diesem Thema haben 4500 Interessierte aufgerufen. Jetzt will die Polizei das Thema auch in andere Institutionen hineintragen. In Schulen und Universitäten beispielsweise, sagte Sprecherin Sweden. Entworfen wurde die Kampagne von der Werbeagentur „Springer & Jacoby”. Sie spendete ihr kreatives Potential. Heraus kam eine Kampagne mit beklemmendem Tenor. Beispiel: „Hier wurde gestern ein Mädchen Opfer von sechs Tätern. Einer vergewaltigte sie, fünf schauten weg.” Gewalt in unseren Straßen 10 Regeln zur Deeskalation in Gewaltsituationen I. In Beziehung treten mit ation, der Situ sich einmischen Genau hinsehen! Wenn Jungen sich prügeln oder wenn Jungen Mädchen bedrängen und belästigen, ist das Ernst und nicht Spiel. Deshalb: Nicht wegsehen, sondern Stellung beziehen. II. Per sonale onfront K ationSich als Person ohne pädagogisch-verständnisvolle Fassade bemerkbar machen. So nicht: „Du, ich weiß, dass du sauer bist, aber ich find’ das irgendwie nicht gut jetzt.” Sondern: „Schluss damit! Hier wird nicht geprügelt.“ „Oder: So etwas will ich von euch/dir nie wieder mitkriegen!” III. Trennung derontrahenten K Weitere Gewaltanwendungen durch Trennung der Gewalthandelnden verhindern. Opfer und Täter müssen sofort getrennt werden. IV. Sofor t und eindeutig Grenz en setz en Keinerlei Gewalt oder Androhung von Gewalt gegen sich selbst als Intervenierende/n zulassen. will, aber kein Gegner ist. Ihn auf sich und die Realität beziehen. Auf den Boden der Tatsachen bringen. Laut werden: „Was macht ihr hier eigentlich?”, „Euer Streit interessiert mich nicht/ich hab damit nichts zu tun, aber das (Gewalt) läuft hier nicht!”, „Schluss damit! Seht ihr nicht, dass er/sie Angst hat/verletzt ist/ sich nicht wehren kann?” VII. Nicht entw eichenassen l Gewaltsituation nicht durch Flucht der Gewalthandelnden abbrechen lassen - nach dem Motto: „Ist doch nichts passiert”. „Hier geblieben! Erst wird euer Streit geklärt, dann könnt ihr gehen!” VIII. Erns t nehmen„Ich nehme dich mit dem, was du sagst, beim Wort und ernst!” Auch die Gewalthandlung mit ihrer interpersonalen Aussage wörtlich nehmen und damit den Schüler für seine Gewalthandlung verantwortlich machen. Beschönigen ist dann nicht mehr möglich. ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_139 GEGEN DEN TREND ’2001 IX. Sp iegeln„Das hier war kein Spaß, dein Tun hat V. Per sonaleW ertungEigene Bewertung der GeKonsequenzen.” Konsequenzen in Form von persamtsituation deutlich machen, aber nicht moralisönlicher Ablehnung durch den Pädagogen/die sieren. „Ich verbiete dir das! Hier läuft so was nicht!” Pädagogin, einer Meldung an die Schulleitung etc. Und: Eine Ankündigung ist keine leere Drohung. VI. Einsch tzung, ob depressiv e oder cha otische Sie muss auch umgesetzt werden! Gew altkrise orlieg v t Beispiele: Ein Eifersuchtsdrama ist eine depressiv verengte Krise, in der der X. Begleitungchnadem Ge w altendeDer/die Gewalthandelnde nur noch die scheinbare ÜberlePädagoge/in soll nicht aus dem Kontakt gehen, genheit der Partnerin sieht. In diesem Fall: Weiten, sondern im Kontakt bleiben, bis die Situation d.h.: ihn auf seine Stärken bzw. auf andere Persodeeskaliert ist, bis festgestellt werden kann: „Es nen, die ihn mögen, aufmerksam machen. „Du bist ist bei den Handelnden angekommen“. Nicht die schließlich nicht allein. Das kann doch jeder sehen, Schüler/innen wieder zusammenkommen lassen, dass Peter, Uli, Karin dich gerne haben.” „Meinst wenn damit gerechnet werden muss, dass weiter du, Rita tut es nicht auch weh, dass ihr nicht mehr geprügelt, belästigt wird. zusammen seid?“ Gruppengewalt hat einen zumeist chaotischen Krisenverlauf. Jeder ist gegen jeden, Ausgearbeitet von: Kontakt- und Beratungsstelle auch Unbeteiligte werden angegriffen; dann enMänner gegen Männer-Gewalt e.V., Institut for gen, d.h.: dem Gewalthandelnden deutlich maMale, Burkhard Oelemann, Joachim Lempert, chen, dass der/die Intervenierende nur schlichten Mühlendamm 66, 22087 Hamburg ›› Literaturliste und DeeskalationsSeminare Literatur: Ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt - Kirchen für Frieden und Wiederversöhnung Bücher zur Dekade (DOV): Margot Käßmann Gewalt überwinden: Eine Dekade des Ökumenischen Rates der Kirchen, Hannover 2000 Bücher zum Thema „Gewalt“: Hans-Eckhard Bahr Aggression und Lebenslust. Kooperieren statt konfrontieren, Düsseldorf, 1994 Eckhard Bahr Verfluchte Gewalt. Dokumentierte Geschichten, Leipzig, 1992 Georg Baudler Die Befreiung von einem Gott der Gewalt, Düsseldorf, 1999 Heidrun Bründel, Klaus Hurrelmann Gewalt macht Schule. Wie gehen wir mit aggressiven Kindern um? München 1994 Christian W. Büttner Friedensbrigaden: Zivile Konfliktbearbeitung mit gewaltfreien Methoden. Münster, 1995 Tilman Evers (Hrsg.) Ziviler Friedensdienst - Fachleute für den Frieden. Idee – Erfahrungen – Ziele, Opladen, 2000 GEGEN DEN TREND ’2001 EKD (Hrsg.) Gewalt gegen Frauen als Thema der Kirche. Ein Bericht in zwei Teilen, Gütersloh 2000 Paul Hugger, Ulrich Stadler (Hrsg.) Gewalt. Kulturelle Formen in Geschichte und Gegenwart, Zürich, 1995 René Girard Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a.M., 1992 Hildegard Goss-Mayer Wie Feinde Freunde werden, Freiburg-Basel-Wien, 1996 Günther Gugel, Uli Jäger Gewalt muß nicht sein. Eine Einführung in friedenspädagogisches Denken und Handeln, Verein für Friedenspädagogik Tübingen e.V., 1994 G. Mader, W.-D. Eberwein, W.R. Vogt Frieden durch Zivilisierung? Probleme – Ansätze – Perspektiven, in: Schriftenreihe des Österreichischen Studienzentrums für Frieden und Konfliktlösung – ÖSFK (Hrsg.), Band 1, Münster 1996 Joh. Esser, Dieter v. Kietzell, Barbara Ketelhut, Joachim Romppel Frieden vor Ort. Alltagsfriedensforschung - Subjektentwicklung – Partizipationspraxis, agenda Frieden 19, Münster 1996 Wilhelm Heitmeyer u.a. Gewalt. Schattenseiten der Individualisierung aus unterschiedlichen Milieus, München, 2. Aufl., 1996 Erich Fromm Anatomie der menschlichen Destruktivität, rororo sachbuch, Hamburg 1977 Wolfgang Redwanz Schritte gegen Gewalt, pädagogische Konzepte der Gewaltprävention, Hg.: Bundeszentrale für politische Bildung (BpB), Berliner Freiheit 7, 53111 Bonn. Fax: 0 18 88/515-309; [email protected]; www.bpb.de Wolfgang Huber Die tägliche Gewalt. Gegen den Ausverkauf der Menschenwürde, Freiburg i.B., 1993 Kurt Singer Zivilcourage wagen — wie man lernt, sich einzumischen, Piper Verlag, München, 190 Seiten 142_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Literatur: Ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt - Kirchen für Frieden und Wiederversöhnung Robert Spaemann Zur Kritik der politischen Utopie. Zehn Kapitel politischer Philosophie, Stuttgart 1977 (Besonders die Begriffsklärung im Artikel: Moral und Gewalt, S. 77-103) Helmut Lukesch Wenn Gewalt zu Unterhaltung wird ... Regensburg 1994 (Gewalt im Fernsehen) Hans-Uwe Otto, Roland Merten (Hrsg.) Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland. Jugend im Umbruch, Opladen 1993 Wolfgang Sofsky Traktat über die Gewalt, Frankfurt a.M., 1994, 2.Aufl. Wolfgang R. Vogt, Eckard Jung (Hrsg.) Kultur des Friedens: Wege zu einer Welt, Darmstadt 1997 Ulrike C. Wasmuht Geschichte der deutschen Friedensforschung: Entwicklung, Selbstverständnis, Politischer Kontext, Münster 1998 Zivilcourage Anleitung zum kreativen Umgang mit Konflikten und Gewalt. Agenda Verlag, Münster 1995, 142 S. Zeitschriften und Aufsätze: Margot Käßmann Ökumenische Dekade „Gewalt überwinden“, Junge Kirche – Zeitschrift europ. Christinnen und Christen, Febr. 1999, 60. Jhg. , S. 83 ff Sonderheft: Gewalt überwinden Junge Kirche – Zeitschrift europ. Christinnen und Christen, Mai 2000, 61. Jhg. Sonderheft: Religionen als Quelle von Gewalt? Concilium Internationale Zeitschrift für Theologie, 33. Jhg., September 1997, Heft 4 Ausrottung der Armut – Überwindung von Gewalt: Themen der Oekumene, Nr. 61 – September 2000, III. Quartal Christ sein weltweit – Gewalt überwinden: Material f. Gemeinden und Gruppen; 2000 Hrsg.: Ev. Missionswerk in Deutschland e.V. Programm zur Überwindung von Gewalt; Zusammengestellt von Salpy Eskidjian Oekumenischer Rat der Kirchen, Genf 1997 (vergriffen?) Gewalt überwinden: Werkstatt zur Ökumenischen Dekade, 19.bis 21. Januar 2000 in der Ev. Akademie Bad Boll, Protokolldienst 8/ 2000 Lateinamerika: Wer stoppt die Gewalt? In: der überblick. Zeitschrift für ökum. Begegnung und intern. Zusammenarbeit, Heft 1 1998 Krieg gegen die Frauen der überblick, Heft 2, 1993 Ernst von der Recke Warum hast du gleich geschlagen, in: zivil - Zeitschrift für Frieden und Gewalt-Freiheit, 3/2000, S.36 f Tobias Kaufmann Frieden fängt beim Fußball an, in: zivil – Zeitschrift für Frieden und Gewaltfreiheit, 3/2000 S. 33 f ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_143 GEGEN DEN TREND ’2001 epd-Dokumentation Dekade zur Überwindung von Gewalt. Botschaft und Rahmenkonzeption und Bewaffnete Konflikte und Völkerrecht. Memorandum und Empfehlungen, ÖRK Zentralausschuss ´99, Nr. 38/99 (Bestellung: Tel 069/580 98-189 Fax 069/ 580 98 - 226, E-Mail [email protected] Literatur: Ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt - Kirchen für Frieden und Wiederversöhnung Gewaltfreie Konfliktbearbeitung antimilitarismus information (ami) 25. Jhrg., Heft 12, Dezember 1995 Thomas Rödl Zivil handeln. Gewaltfrei Alternativen, AG Friedenspädagogik, München, 98 Joachim Zierau Alternativen zur militärischen Konfliktbearbeitung, in: Grenzen der Versöhnung: Handreichung zur Friedensdekade Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, Göttingen 1995 Zeitschrift: Probleme des Friedens, Pax Christi (Hrsg.), Komzi Verlag, Idstein • Friedens- statt Militäreinsätze. Freiwillige Friedensdienste im Aufwind, 2-3/1994 • Jenseits der Gewalt. Arbeit für den Frieden in ExJugoslawien, 1-2/1996 • Aufstehen gegen Kulturen der Gewalt. Beispiel Türkei, 3/1997 • Der konziliare Prozeß. Gemeinsam für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, 1-2/1998 Gewaltverherrlichung kann gefährlich sein, Ursula Nuber Interview mit H. Selg und H. Lukesch zu Gewaltdarstellungen in den Medien, in: Psychologie Heute April 1999, S. 45-49 Arbeitsmaterialen: GEGEN DEN TREND ’2001 Arbeitsgruppe SOS-Rassismus NRW (Hrg.) »Spiele, Impulse und Übungen«, SOS-Rassismus, Haus Villigst, 58239 Schwerte, Tel. 02 304/75 51 90 Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt, Braunschweig, Reinhard Koch, Rechtsextremismus und Gewalt. Ein Verzeichnis der in Braunschweig verfügbaren Medien und Materialien, Verzeichnis 9, 1994 144_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) »Störenfriede«, Broschürenstelle Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Postfach 20 15 51, 53145 Bonn Fon: 0180/53 29-3 29 Klaus Burckhardt, Schritte gegen Tritte. Vom Umgang mit Gewalt in Südafrika und bei uns, Evangelisches Missionswerk in Deutschland (EMW), Hamburg K. Fuller, W. Kerntke Konflikte selber lösen – Mediation für Schule und Jugendarbeit, Verlag an der Ruhr, 1996 K. Fuller, W. Kerntke Konflikte selber lösen – Mediation für Schule und Jugendarbeit, Verlag an der Ruhr, 1996 R.-E. Posselt, Kl. Schumacher Projekthandbuch: Gewalt und Rassismus. Handlungsorientierte und offensive Projekte, Aktionen und Ideen zur Auseinandersetzung und Überwindung von Gewalt und Rassismus in Jugendarbeit, Schule und Betrieb, Mühlheim a.d.R., 1993 Peace to the City. Stories of Hope. Video-Serie zur Kampagne „Peace to the City“ WCC Publicationes, P.O. Box 2100, 1211 Geneva 2, Switzerland Dokumentation des Modellvorhabens „Ausbildung in ziviler Konfliktbearbeitung“, Forum Ziviler Friedensdienst Arbeitsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) u.a. Hrsg., 1997 Detlef Beck – Barbara Müller Gewaltfreie Nachbarschaftshilfe, BSV Minden, 1994 »Publik-Forum« Dossier: »Den braunen Vormarsch stoppen«. Literatur: Ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt - Kirchen für Frieden und Wiederversöhnung Dort sind auch »Initiativen für ein freundliches Land« vorgestellt. Publik-Forum, Postfach 2010, 61410 Oberursel www.publik-forum.de Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion Kirchstr. 14, 29462 Wustrow, Tel.: 05843-507 Internetadressen: Ghandi Informationszentrum Lübecker Str. 44, 10559 Berlin 21, Tel.: 030-3941420 Graswurzelwerkstatt, Scharnhorststr. 6, 50733 Köln 60, Tel.: 0221-765842 www.arbeitsstelle-moeve.de www.wcc-coe.org (ÖRK Website mit vielen Informationen) www.afg-hannover.de Friedens- und Begegnungsstätte Mutlangen e.V. Forststr. 3, 73557 Mutlangen, Tel.: 07171-75661. Werkstatt für gewaltfreie Aktion Baden Römerstr. 32, 69115 Heidelberg, Tel.: 06221/16197 Bund für soziale Verteidigung, Friedensplatz 1a, 32378 Minden, Tel.: 0571/29456 Pädagogisches Institut des Schulreferats München c/o Wunibald Heigl, Herrnstr. 19, 80539 München, Tel.: 089-23327965 Fax.: 089-23328749 Zusammengestellt von: Joachim Zierau, Pastor, Arbeitsstelle KDV & ZDL & Friedensdienste im Amt für Gemeindedienst, 0511-1241-468 Deeskalations-Seminare (und Informationen dazu) bieten an: Arbeitsgruppe SOS-Rassismus NRW Haus Villigst, 58239 Schwerte, Tel.: 02304-755190, e-mail: [email protected] GEGEN DEN TREND ’2001 ARIC-NRW (Anti-Rassismus-Informations-Centrum) Niederstr. 5, 47051 Duisburg, Tel. und Fax: 0203/284873, e-mail: [email protected] oder: [email protected] Aktion Courage c/o Ulrich Nehls, Lankauer Weg 1, 23879 Mölln, Tel.: 04542-87345 ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_145 Informationen über die AEJN Zur Arbeit der AEJN GEGEN DEN TREND ’2001 In der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Niedersachsen (AEJN) haben sich 10 Jugendverbände aus den 5 Landeskirchen, den Verbänden eigener Prägung und den Freikirchen zusammengeschlossen, um u. a. „gemeinsame Belange bei staatlichen, kirchlichen und sonstigen öffentlichen Stellen“ zu vertreten. Wesentliche Grundlage der verbandlichen Jugendarbeit sind weiterhin Jugendgruppen, Projekt- und Aktionsgruppen. Sie haben wechselnde inhaltliche Schwerpunkte und sind Teil der Freizeit, die Jugendliche und junge Erwachsene gemeinsam gestalten, in der sie soziale Aktionen durchführen und sich mit religiösen, gesellschaftspolitischen und politischen Fragen auseinandersetzen. Hinzu kommen Seminare, Wochenendfreizeiten, Zeltlager, internationale Jugendbegegnungen, Jugendgottesdienste und offene Angebote für nicht organisierte Jugendliche. Ein nicht unerheblicher Anteil der Aktivitäten wird mit öffentlichen Mitteln gefördert. 1.486 Freizeiten- bzw. Bildungsmaßnahmen (davon 759 Freizeiten und 727 Bildungsmaßnahmen) haben die zehn Mitgliedsverbände der AEJN im Jahr 1999 durchgeführt . An diesen Veranstaltungen nahmen 44.142 Personen (davon 22.913 weiblich und 21.229 männlich) teil. Insgesamt konnten 268.969 Teilnehmertage (TNT=Anzahl der Personen multipliziert mit Tagen) gezählt werden. Mit mehr als 31.000 TeilnehmerInnen bei 759 Freizeitmaßnahmen dürften die evangelischen Jugendverbände zu den größten Anbietern im Jugendhilfebereich in Niedersachsen zählen. Dazu müssen eine Vielzahl von weiteren Freizeiten der örtlichen Ebene gerechnet werden, die von dieser Statistik nicht erfasst werden. Bei einer Auflistung der Altersstruktur ist erkennbar, dass bei den genannten Maßnahmen 17.500 Jugendliche aus dem Segment der 14 -18 Jährigen stammen, ca. 7.000 Personen zum Zeitpunkt der Erhebung zwischen 19 und 26 Jahre alt waren. 146_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … Über 15.000 Kinder im Alter von 6 -13 Jahren nahmen an Freizeiten teil. Die Mitgliedsverbände zählten 16.978 Ehrenamtliche, die für die unterschiedlichsten Angebotsformen der Jugendarbeit aktiv tätig waren. 52% davon sind weiblich - 48% sind männlich. Diese Statistik weist nur ein Teilsegment der Angebotsvielfalt der Jugendverbände aus. Regelmäßig stattfindende Gruppenzusammenkünfte, Projekte oder Wochenendveranstaltungen kommen noch dazu. Fazit: Jede Mark, die den Mitgliedsverbänden der AEJN vom Land Niedersachsen oder anderen öffentlichen Stellen zur Verfügung gestellt werden, ist gut angelegt. Verwendungsnachweise werden den zuständigen Stellen zur Überprüfung regelmäßig vorgelegt. Dazu kommen die Kinder und Jugendlichen, die sich regelmäßig in Gruppen und Projekten, häufig wöchentlich oder 14-tägig treffen. Allein im Bereich der Ev. Jugend der hannoverschen Landeskirche gibt es mehr als 3.540 Kinder- und Jugendgruppen. Zur Arbeit Ehrenamtlicher Ehrenamtliches Engagement ist nach wie vor die tragende Säule der Jugendarbeit und insbesondere der Jugendverbandsarbeit. Jugendverbände werden seit ihrer Gründung von Ehrenamtlichen, d.h. von freiwilligen und unbezahlten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern getragen und gestaltet. Mit ihrem Engagement sichern sie das gesamte Verbandsleben von regelmäßiger Gruppenarbeit über die Leitung von Bildungs- und Freizeitmaßnahmen bis zur politischen Vertretung. Es sind Ehrenamtliche, die Projekte, Freizeiten und die alltäglichen Angebote erst möglich machen. Nach der oben erwähnten Aktivitätenübersicht der AEJN wurden 16.978 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gezählt. Informationen über die AEJN Die Mitgliedsverbände der AEJN haben Strukturen und Rahmenbedingungen geschaffen, damit junge Menschen • durch religiöse, allgemeine und politische Bildung in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gefördert werden; • ihre Interessen innerhalb ihres eigenen Jugendverbandes artikulieren; • ihre Bedürfnisse und Anliegen in der kirchlichen und politischen Öffentlichkeit vertreten; Als Grundlage dient die Überzeugung, wie sie z. B. in der Präambel der Ordnung für die ev. Jugendarbeit in der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers formuliert ist: „Ev. Jugendarbeit will allen jungen Menschen das Evangelium von Jesus Christus in ihnen gemäßer Weise bezeugen, sie mit der biblischen Botschaft in ihrer Lebenswirklichkeit begleiten und sie ermutigen, in der Nachfolge Jesu Christi als mündige Christen kirchliches Leben mitzugestalten und Verantwortung in der Welt wahrzunehmen.“ Arbeitsgemeinschaft der Ev. Jugend in Niedersachsen (AEJN): evangelische Jugendarbeit der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig, Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Ev.-luth. Kirche in Oldenburg, Ev.-luth. Landeskirche SchaumburgLippe, Evangelisch-reformierte Kirche (Synode ev.-ref. Kirchen in Bayern und Nordwestdeutschland), Jugendwerk der ev.-meth. Kirche Niedersachsen, Gemeindejugendwerke Niedersachsen und Nordwestdeutschland des Bundes Ev.-freikirchlicher Gemeinden, Jugendwerk des Bundes der freien Evangelischen Gemeinden, CVJM in Niedersachsen, Niedersächsischer Jugendverband „Entschieden für Christus (EC)“ e.V. GEGEN DEN TREND ’2001 Postanschrift: Postfach 265, 30002 Hannover, Telefon (05 11) 12 41 - 5 71, Fax (05 11) 12 41 - 4 92 e-mail: [email protected] Homepage: http://www.ejh.de/aejn.htm ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT …_147 Veröffentlichungen „Gegen den Trend“ Gegen den Trend 1992 vergriffen 40 Tage ohne …Verzicht ein Gewinn Gegen den Trend 1997 vergriffen Surfen in die Zukunft - Fasten - ein leibliches Fest und ein religiöses Ereignis - Thema Alkohol - Thema Süßigkeiten - Thema Medienkosum - Gegen den Trend 1993 vergriffen Gewalt - gewaltfrei leben Gegen den Trend 1998 Erfolgreich leben - Die Aktion Gewalt in der Schule Gewalt in der Freizeit Gewalt in den Medien - Die Aktion - Versuch einer Ist-Stands Beschreibung - Individuum und Gemeinschaft - Ich suche mich noch - Individuum und Gemeinschaft - „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei...„ - Werte und Orientierungen - Die anderen sind mein größter Wert - Werte und Orientierungen - Wir haben einen Traum DM 6,– - Option für die Schwachen Jugend und Teilen Macht teilen Zeit - teilen statt totschlagen Arbeit teilen Geld/Besitz teilen Begabung, Intelligenz, Talent und die Möglichkeit des Teilens - Fasten und Teilen im Horizont der Einen Welt GEGEN DEN TREND ’2001 Gegen den Trend 1996 Kick, Fun & Thrill - DM 6,50 von der Schiffsschaukel zum Euro-Disney Trends Tanzen ist Trumpf Beziehungskisten Erleben gegen den Trend Erlebnispädagogik - Rettungsanker in schwieriger Zeit? 148_ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND GEWALT … DM 6,50 - Erfolg, was ist das für mich - Jeder ist seines Glückes Schmied? Von Leitbildern und Idolen - Stell Dir vor, Du stellst Dich vor, und keiner stellt Dich ein! - Warum immer nur zu kurz kommen? Frauen und Erfolg - Die Geburtsstätte des Erfolgs: Die Stadt - Von Winnern und Losern: die geistliche Dimension des Erfolges - Impuls- und Erlebnisstationen zu biblischen „Erfolgstexten“ Gegen den Trend 1994 DM 6,– Wettstreit statt Feindschaft Gegen den Trend 1995 Fasten und Teilen Runter von der Oberfläche Ich-Styling Kreativ sein im Internet Die Computergesellschaft Kommunikation Zukunft in der Bibel Gegen den Trend 1999 DM 6,50 Navigation braucht Orientierung - Orientierung - Vom Gebot zur Geschichte - Orientierung als Prozeß - Innerer Kompaß und Orientierungslosigkeit - Global + Ratlosigkeit = Angst - Lebensaufgaben im Jugendalter - Wertehammer - The dark side of the moon - Umgang mit Tod und Sterben - Wie gewinne ich Orientierung? Gegen den Trend 2000 DM 6,50 Von Helden und anderen Lichtgestalten - Einführung - Helden - Begleiter auf dem Weg zur eigenen Persönlichkeit - Filmhelden in Aktion - Star Trek - Raumschiff Enterprise - Stars - Helden in der Musikszene - Martin Luther King - Vom General zum Friedensheld - Yitzchak Rabin - Heldinnen - Jungen - Männer - Helden - „Mir nach spricht Christus unser Held …“