Ruf der Tiefe II

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Ruf der Tiefe II
Zurück aus der Tiefe
Returnees
Katja Brandis
Pazifik, in der Nähe der Insel Hawaii (Big Island), August 2018
Der riesige Körper des Pottwalweibchens war im Wasser so dicht neben ihr, dass Billie nur
die Hand ausstrecken musste, um ihn zu berühren. Shola schwamm sehr langsam, ließ sich
beinahe treiben. Sie machte keinen Versuch, zu tauchen, sondern blieb an der Oberfläche. Ein
gesunder Pottwal stieß häufig Klicks aus, um sich zu orientieren und zu verständigen, doch
Shola blieb stumm. Und sie gab auch keine Antwort auf Billies Handzeichen oder Tonsignale.
Was ist, wenn Shola tatsächlich krank ist? Wie um alles in der Welt sollen wir ihr helfen?
Wahrscheinlich bräuchte sie ein Kilo Antibiotika statt nur ein paar Tabletten!
Billie schwamm um Shola herum und strich zärtlich über ihre Haut, die sich anfühlte wie
festes, nasses Gummi. Eigentlich sah ihre Partnerin gesund aus, das Blasloch war frei von
Schleim, ihr Atem roch normal – ziemlich fischig – und ihre Haut hatte die gleiche
schiefergraue Farbe wie sonst. Doch irgendetwas stimmte nicht mit ihr, das war klar. Shola
erwiderte zwar Billies Blick, doch in ihren kleinen brauen Augen stand heute keine Neugier,
keine Unternehmungslust.
Lange blieb Billie bei ihr im Wasser und leistete ihr Gesellschaft, doch irgendwann war sie
trotz des Neoprenanzugs völlig ausgekühlt und kehrte durch die Taucherschleuse auf die
Thetys zurück.
Schweigend warteten dort zwei Menschen auf sie. Julian saß im Schneidersitz auf dem
Stahlboden vor der Schleuse, und unwillkürlich schlug Billies Herz schneller. Wie lange
hockte er schon da? Hatte er auf sie gewartet? Als Billie Maske und Schnorchel abstreifte,
trafen sich ihre Blicke, und nach den vier Jahren auf Benthos II verstanden sie sich wortlos.
Red ruhig erst mit Ashok, sagte die Art, wie er einen Wimpernschlag lang zu dem anderen
Mann hinüberblickte und dann wieder zu ihr. Ich hab Zeit. Wir können uns nachher
unterhalten.
Der zweite Mensch im OceanPartner-Raum war Ashok, Leiter aller ARAC-Projekte in
Hawaii, ein älterer Inder, der lange in England gelebt hatte. Unter der braunen Haut wirkte
sein Gesicht wachsbleich, anscheinend hatte auch er nicht besonders gut verkraftet, was
passiert war. Oder nahm es ihn noch mehr mit, dass die Inseln gerade von Fernsehteams
wimmelten, die der ARAC bohrende Fragen stellten?
Billie kam Ashoks Frage zuvor. „Shola kann in nächster Zeit unmöglich irgendwelche
Manganknollen suchen“, informierte sie ihn und verstaute ihre Ausrüstung in ihrer
Tauchtasche mit dem silbernen ARAC-Logo. „Erst müssen wir herausfinden, was ihr fehlt.“
Ashok nickte mit säuerlicher Miene. „Hat Dr. McCraddy das Tier schon untersucht?“
„Das Tier“! Also wirklich! „Bei der Blutprobe und einem Abstrich aus ihrem Blasloch gab es
keinen Befund“, zitierte Billie kühl. Ashok nickte und verabschiedete sich, ohne sich mit
Höflichkeiten aufzuhalten.
Kaum war er aus dem Raum, ergriff Julian das Wort. „Ich habe gerade mit Leon gesprochen.“
Fast ohne es zu merken hielt Billie den Atem an. „Und?“
„Lucy lebt noch. Obwohl sie so viel von diesem giftigen Wasser des Lo´ihi abgekriegt hat.
Die beiden sind jetzt im Sea Life Park in Oahu, dort pflegt Leon sie gesund.“
Erleichtert strich sich Billie das nasse Haar aus der Stirn. Es war erstaunlich, wie zäh Kraken
sein konnten! Immerhin, Lucy war ja auch kein gewöhnlicher Krake, sie war genetisch
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verändert worden, damit sie länger lebte als ihre wilden Artgenossen. „Und was ist mit ihm
selbst? Oder hat er gar nicht über sich gesprochen?“
„Nee. Du kennst ihn doch.“ Julian zuckte die Achseln. „Gestern habe ich für die beiden
gebetet, kannst du dir das vorstellen? Wenn nach Tim nun auch noch Lucy stirbt… dann hat
Leon nichts mehr. Mann, wie soll man so was überstehen, wenn nach den eigenen Eltern auch
noch der Adoptivvater draufgeht?“
„Immerhin hat er jetzt, wie´s aussieht, eine Freundin – das ist nicht gerade nichts“, wandte
Billie ein. Zu Anfang hatte sie Carima, diese hübsche blonde Deutsche, nicht besonders
gemocht, aber sie hatte wirklich Kopf und Kragen für Leon riskiert. Sie mochte ein bisschen
verwöhnt sein, aber ansonsten war sie in Ordnung.
„Diese Freundin wird demnächst nach Deutschland zurückfliegen.“ Julian seufzte tief.
„Meinst du, es liegt auch an diesen Schwermetallen im Wasser, dass es Shola schlecht geht?“
Vorsichtig ließ Billie sich auf den Stahlplatten neben Julian nieder, obwohl es im Raum ein
halbes Dutzend wasserfester Kunststoffsitze gab. Doch es fühlte sich falsch an, es jetzt –
während Leon litt – bequem zu haben, der harte Boden war genau richtig. Außerdem sandte
es warme Schauer durch sie hindurch, neben Julian zu sitzen, so nah neben ihm, dass ihre
Körper sich beinahe berührten. Billie senkte die Stimme. „Willst du wissen, was ich denke?
Ich glaube eher, es geht Shola genauso wie uns. Deprimiert.“
Julian blickte skeptisch drein. „Meinst du, sie hat begriffen… was passiert ist?“
„Unterschätz sie nicht. Immerhin hatte ich sie ja gebeten, das Tauchboot zu befreien. Sie hat
erlebt, dass das nicht geklappt hat.“ Billie stützte den Kopf in die Hände. Auch nur daran zu
denken schnürte ihr die Kehle zu, immer wieder hallte Leons letzter Funkspruch, der MaydayRuf, in ihrem Kopf wieder. Wenn sie mit Shola zusammen war, schaffte sie es halbwegs, das
Entsetzen, die Traurigkeit von sich fernzuhalten. Doch kaum war sie nicht mit irgendetwas
beschäftigt, dann fing sie wieder an, über den Tod nachzudenken und was das alles zu
bedeuten hatte. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass das etwas mit Sholas Zustand zu
tun haben könnte. „Aber… vielleicht spürt Shola auch einfach, wie mir zumute ist,
wahrscheinlich färbt das ab. Ich könnte die ganze Zeit heulen, weißt du das?“
„Warum machst du es nicht einfach?“ fragte Julian und blickte sie von der Seite an.
Weil du da bist, dachte Billie, aber sie sprach es nicht aus. Damit hätte er nichts anfangen
können. „Spinnst du, DiMarco?“ sagte sie stattdessen. „Vor all diesen Seeleuten und
Wissenschaftlern hier an Bord, die wahrscheinlich zuletzt in der Grundschule Tränen
vergossen haben?“
„Das stimmt nicht“, sagte Julian leise. „Manche haben nach dem Unfall geweint. Ich hab´s
gesehen.“
„Tim war eben einer von ihnen. Und Patrick, den mochte irgendwie jeder.“
Einen Moment lang blickten sie auf die graue Metalltür der geschlossenen Taucherschleuse.
Dann gab sich Billie einen Ruck. „Hast du gesehen, Ellard hat um 11 Uhr einen längeren
Trainingstauchgang mit den OxySkins aufs Programm gesetzt. Ist ´ne gute Idee, glaube ich.
Du kommst mit, oder?“
Julian nickte, ohne sie anzusehen, und als sie sich umwandte, sah sie, dass auch seine Augen
feucht waren. Anscheinend heulte auf diesem Schiff so ziemlich jeder außer ihr. Besonders
am Anfang hatte sie auf Benthos II versucht, möglichst taff zu wirken, damit die Besatzung
gar nicht erst auf die Idee kam, sie in die Kategorie „zartes Mädchen“ einzuordnen. Wenn
man vier Jahre lang so tat, als sei man ganz schön hart drauf… wurde man es dann
irgendwann auch?
Schon ein paar Minuten später kam Ellard hinein, ihr Ausbilder, wie immer mit langen
Schritten, jede Bewegung militärisch präzise. Julian war so schnell auf den Füßen wie eine
Katze, und auch Billie stand auf. Ellard warf ihnen einen forschenden Blick zu, begann dann
sofort, ihre OxySkin-Ausrüstung vorzubereiten und zu checken. „Geht auf
zweihundertfünfzig Meter, das reicht völlig, um in Übung zu bleiben“, sagte er. „Sechs
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Stunden max, okay? Und bleibt bitte immer in Funkkontakt.“ Er zögerte, bemerkte
wahrscheinlich, wie still sie beide waren. „Wie fühlt ihr euch?“
Billie verzog das Gesicht, sie und Julian tauschten einen Blick. Beschissen. Das wäre die
einzige wahre Antwort gewesen. Schließlich sagte Julian: „Geht schon“, und Billie nickte.
Immerhin, einen Ruhetag hatte die ARAC ihnen nach dem furchtbaren Unfall gegönnt.
Vielleicht war es jetzt wirklich besser, wenn sie weitermachten wie zuvor. Sie waren
schließlich Profis. Und bestimmt würde es sich gut anfühlen, wieder in der Tiefsee zu sein.
Billie horchte in sich hinein, versuchte festzustellen, ob sich seit dem Unfall etwas in ihr
dagegen sträubte, runterzugehen – doch da war nichts dergleichen, keine Angst, keine Scheue.
Schiefgehen konnte immer irgendetwas. Schicksal. Pech. Wie auch immer man das nennen
mochte. Aber davor fürchtete sie sich nicht.
Eine OxySkin trug man meist auf der bloßen Haut, ohne etwas darunter. Solchen
Schnickschnack wie Umkleidekabinen hatte es auf der Benthos II nie gegeben, und auf der
Thetys waren sie ebenfalls nicht üblich. Also zogen sich Billie und Julian direkt vor der
Schleuse um und streiften sich den Anzug über. Ellard wandte sich währenddessen wie üblich
ab und beschäftigte sich mit dem Vorbereiten der Atemflüssigkeit. Julian gab zwar manchmal
heftige Sprüche von sich, aber beim Umziehen war er ein echter Gentleman. Billie hatte ihn in
den letzten Jahren erst zwei- oder dreimal dabei ertappt, dass er rüberschielte und ihren
Körper musterte, und manchmal hätte sie sich fast gewünscht, dass er einen Moment länger
hinsah.
Seidig glatt fühlte sich der hautenge High-Tech-Anzug an, und manchmal kam sich Billie
darin richtig sexy vor. Leider hatte sie nicht die richtigen Kurven, um damit wie eine
Superheldin auszusehen, wahrscheinlich wirkte sie unter Wasser eher wie ein Otter als wie
eine Meerjungfrau. Aber Billie liebte ihre OxySkins trotzdem… schließlich vertraute sie
ihnen ihr Leben an. Tief unter Wasser würden sie für sie Sauerstoff aus dem Meer ziehen und
ihr ausgeatmetes Kohlendioxid abgeben… und sie außerdem warm halten und ernähren, falls
sie doch länger in diesem magischen Reich der Dunkelheit bleiben wollte. Billie hatte sich die
Tiefsee früher nie richtig vorstellen können, und insgeheim auch ein bisschen Angst davor
gehabt. Doch Shola hatte ihr geholfen, ihre Angst zu überwinden, und seither war die Tiefe
ihr und Billies Tummelplatz, ein Ort, an dem es unendlich viele Schätze zu entdecken gab.
Der sie immer wieder zum Staunen brachte. Eine andere Welt, in der Shola die ungekrönte
Königin war und Billie, Julian, Leon und Tom schon längst mehr als nur Gäste.
Und jetzt war es wieder soweit. Trotz allem, was geschehen war, stieg ein Glücksgefühl in
Billie hoch. Wie herrlich, Seite an Seite mit Julian tauchen zu können, und vielleicht kam
sogar Shola mit – was für eigenartige Wesen der Tiefe sie wohl diesmal sehen würden?
Billie strich mit der flachen Hand über die Stellen, an denen die OxySkin noch Falten warf.
Als der Anzug richtig saß, verschweißte sie ihn geschickt mit dem Versiegler, bis nur noch
das Gesicht frei lag.
Ellard reichte ihr den Werkzeuggürtel, dann schnallte sich Billie das DivePad um
Handgelenk. Julian tat kaum einen Meter entfernt das gleiche, er war meist ein bisschen
schneller als sie und hatte schon mit den Checks begonnen. All das war so vertraut, irgendwie
tröstete es sie. Und wenn Shola ihre Freundin abtauchen sah, ermutigte sie das vielleicht dazu,
mitzukommen und wieder in der Tiefe zu jagen, sie musste ja längst ordentlich Hunger haben,
obwohl Billie sie jeden Tag mit fünfzig Kilo Kalmaren versorgte. Aber das reichte natürlich
nicht und war nur eine Zufütterung.
„Alles bereit?“ fragte Ellard, und wortlos tauschten sie ein OK-Zeichen. Jetzt kam die
kritische Phase. Sie verabreichten sich das Rachenspray, das ihren Hustenreflex unterdrücken
sollte, und schlossen die OxySkin über ihrem Gesicht. Jetzt mussten sie ein paar Sekunden
ohne Luft auskommen, während der Anzug mit Perfluorcarbon geflutet wurde. Billie fühlte,
wie die vorgewärmte Flüssigkeit über ihre Haut strömte, und sog sie ein.
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Oder zumindest versuchte sie es. Doch diesmal stimmte damit irgendetwas nicht. Das Zeug
einzuatmen fühlte sich viel schlimmer an als sonst, ihre Halsmuskeln verkrampften sich, und
nicht mal das Spray konnte verhindern, dass sie zu husten begann.
Tief einatmen, du schaffst es schon! Das Fluo ist dein Verbündeter, nimm es an…
Die alten Sprüche aus ihrer Ausbildung wirkten, sie wurde wieder ruhiger. Noch einmal
versuchte Billie, das Fluo in ihre Lungen strömen zu lassen. Doch auch diesmal spielte ihr
Körper nicht mit, wehrte sich. Versehentlich schluckte Billie einen Schwall der Flüssigkeit
hinunter und musste würgen, instinktiv beugte sie sich nach vorne, ihre Hände flogen zu
ihrem Gesicht. Wahrscheinlich war schon mehr als eine Minute vergangen, jetzt fühlte es sich
wirklich an, als würde sie ersticken. Und Luft holen konnte sie nicht, die dichte Membran
bedeckte ihr ganzes Gesicht, ihren Mund, ihre Nase. Sie brauchte dringend Sauerstoff, woher
auch immer! Verzweifelt krallte Billie sich in ihren Gürtel, suchte nach dem Molekültrenner,
um die OxySkin wieder aufzukriegen.
Kühle Luft berührte die Haut ihrer Wange, Ellard hatte eingegriffen und die OxySkin für sie
aufgetrennt. Uff, gerade noch rechtzeitig. Das Fluo rann aus dem Anzug zu Boden, warm wie
Blut strömte es an ihrem Gesicht hinab. Hustend und keuchend stützte sich Billie gegen die
Schleusenwand, bis ihre Lungen frei waren und sie atmen konnte. Auch Julian hatte die
Vorbereitungen abgebrochen und seine OxySkin wieder geöffnet, beunruhigt hielt er sie am
Arm fest und blickte ihr in die Augen. „Hast du mir einen Schreck eingejagt eben. Was war
los?“
„Es… ging einfach nicht! Mein Körper hat es nicht mitgemacht.“ Billie presste die noch
immer schwarzsilbern umhüllten Hände gegen die Stirn, ihr war schwindelig und außerdem
taten ihr Brustkorb und Hals weh. „Das Spray hat nicht gewirkt.“
Das war noch nie passiert, seit den frühesten Tagen ihrer Ausbildung nicht. Flüssigkeit zu
atmen war ihr nie besonders schwer gefallen, sogar Leon hatte zu Anfang mehr Probleme
gehabt als sie. Und jetzt das! Wahrschein kam gleich eine Standpauke von Ellard, immerhin
kostete das Fluo, das jetzt eine Pfütze auf dem Boden bildete, mehrere hundert Dollar pro
Liter. Doch als sie hochblickte zu ihrem Ausbilder, sah sie, dass er blass geworden war. Oder
täuschte das, was es nur das fahle Licht, das ihn so aussehen ließ?
„Soll ich es einfach noch mal probieren?“ fragte Billie erschöpft. Nach ein paar Minuten
Pause ging es bestimmt wieder, sie war seelisch einfach nicht in Bestform heute, aber beim
nächsten Versuch würde es bestimmt gelingen…
„Hattest du Angst? Oder dachtest du, es könnte vielleicht nicht klappen?“ Ellards Blick war
durchdringend. Billie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe mich darauf gefreut, bald wieder
draußen zu sein.“
Grimmig ernst blickte James Ellard sie an, und Billie spürte, wie sie nervös wurde. Was hatte
das alles zu bedeuten?
„Es gibt da etwas, das ihr wissen solltet“, begann er. „Wir haben es euch bisher nicht gesagt,
um euch nicht zu beunruhigen. Auf den anderen Benthos-Stationen hatten zwei junge Taucher
Probleme… sie haben die Fähigkeit verloren, Flüssigkeit zu atmen.“
„Aber wieso?“ Julian klang genauso fassungslos, wie Billie sich fühlte.
„Wir vermuten, dass es eine Frage des Alters ist… sie haben es als Kinder gelernt, da ging das
noch, aber anscheinend…“
Billie starrte Ellard an, und alles in ihr schien zum Stillstand zu kommen. Ellard sprach
weiter, doch die Worte kamen nicht bei ihr an, sein Mund schien sich in Zeitlupe zu bewegen.
„Siebzehn“, flüsterte sie. „Ich bin siebzehn. Heißt das, ich bin jetzt zu alt? Ich kann kein
OxySkins mehr benutzen?“
„Gut möglich – wenn wir Pech haben“, sagte Ellard bitter, und seine Worte echoten in Billies
Kopf. Pech. Pech. Pech. Wieso warteten Pech und Schicksal denn hier, an der Oberfläche,
wie konnte das denn sein?
Nie wieder in die Tiefsee.
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Nie wieder.
Tränen rinnen über Billies Gesicht, sie bemüht sich nicht mehr, sie zurückzuhalten. Es wäre
sowieso nicht gegangen, das Schluchzen bahnt sich den Weg tief aus ihrem Inneren und
schüttelt ihren ganzen Körper. So lange hat sie sich beherrscht, alles unter Kontrolle, cool
bleiben, solche Dinge passieren eben, aber jetzt geht das nicht mehr. Patrick vom Druck
zerquetscht. Tim ertrunken. Der Ausdruck auf Leons Gesicht, als er auftaucht ohne seinen
Vater.
Und jetzt das.
Nie wieder. Nie wieder!
Sie kann nur noch schreien. „Aber warum denn ich! Scheiße, warum denn ich!“
Julians Arme, die sie umfangen. Julian, der genau weiß, was sie jetzt fühlt, der sie einfach nur
wortlos festhält, ihr über die Haare streicht. Kühl und glatt fühlt sich sein Körper in der
OxySkin an, wie der eines Delfins.
Niemand anders kann sie jetzt trösten, und Julian ist da.
San Diego School of the Sea, September 2018
Billie klopfte nur kurz an die Tür von Leons Zimmer, dann brüllte sie einfach: „Leon! Julian
ist da!“ Wahrscheinlich hörte es der halbe Wohntrakt, aber das war ihr völlig egal.
Das Geräusch irgendeines elektronischen Geräts, das hart auf den Boden aufkommt, dann
tauchte Leon im Türrahmen auf. Betrübt blickte er auf ein etwas zerdelltes Lesegerät in seiner
Hand, doch als er den Kopf hob, lächelte auch er. „Wie cool. Wollen wir in den
Aufenthaltsraum gehen?“
Doch Billie schüttelte in den Kopf. „Nein. Irgendwie… wäre es schöner, wenn wir unter uns
wären, oder?“ Nur schade, dass Tom nicht da sein konnte. Er war gerade in der Karibik, auf
Benthos I, und hätschelte seinen jungen Kraken, den er Bond getauft hatte.
„Dann bleiben wir am besten in einem unserer Zimmer“, meinte Leon. Billie hatte schon
gemerkt, dass er die Aufenthaltsräume nicht besonders mochte, noch immer war er eher
schüchtern, obwohl er sich so stark verändert hatte in letzter Zeit.
Schon sprintete Julian die Stufen hoch, seine hellen Augen leuchteten. Sie fielen sich alle drei
in die Arme, Billie, die sich neben den beiden Jungen zierlich und ungestüm vorkam. Leon,
groß und eckig fühlte er sich an; Julian etwas kleiner, aber voller Kraft und Energie, mit den
harten Muskeln eines Surfers. Sie gerieten ins Schwanken und wären beinahe die Treppe
hinuntergefallen, kamen aber lachend wieder ins Gleichgewicht.
„Hey, man könnte glatt meinen, es wären ein paar Monate vergangen und nicht nur zwei
Wochen“, sagte Julian. „Aber ich fühle mich natürlich höchst geehrt und geschmeichelt, dass
ihr mir so viel Aufmerksamkeit schenkt…“
Billie musste kichern. „Ach, die habe ich vermisst, diese völlig bescheuerte Art, wie du
daherredest…“
Eine der Ausbilderinnen, Mrs. Juneau, kam im Gang vorbei und warf einen kurzen
Seitenblick auf sie drei, verzichte aber zum Glück auf Small talk. So konnten sie sich gleich
in Leons Zimmer verziehen. Es war nicht groß, aber er hatte es erstaunlich gemütlich
eingerichtet, auf dem Boden lagen schwarz-weiß-rote mexikanische Webteppiche, an den
weißgekalkten Wänden hingen dicht an dicht Fotos und eine Schemazeichnung der Benthos
II. Auf dem Nachttisch stand eine Kerze, an deren Seite ein paar Wachstropfen erstarrt waren.
Billie und Leon hockten sich auf das Bett, Julian auf dem Boden, den Rücken gegen die
Wand gestützt und die Beine angewinkelt. „Leider nicht mehr richtig kühl“, sagte Julian und
zauberte ein Sixpack Coors aus seinem Rucksack. Billie nippte an ihrer Dose. Bäh, war das
bitter, und lauwarm noch dazu.
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„Auf der Benthos II war es nicht so toll ohne euch“, erzählte Julian. „Sie haben zwei neue
Kids dorthin gebracht, Gary und Kimberley… sie können schon ganz gut mit den OxySkins
umgehen, aber sie sind gerade mal zwölf. Kim sogar erst elf, glaube ich. Wahrscheinlich
fürchten sie sich noch im Dunkeln.“
„Tja, so wie wir damals“, sagte Leon und lächelte.
„Du bist also nicht wirklich in die Rolle des weisen älteren Ratgebers hineingewachsen?“
erkundigte sich Billie.
Julian zuckte die Schultern. „Na ja. Ich habe die beiden eingewiesen, mit Carag gespielt und
mich ansonsten ziemlich gelangweilt. Die Stimmung auf der Station ist immer noch nicht
besonders. Ich habe Paula schon ewig nichts mehr singen hören, sie vermisst Patrick am
meisten, glaube ich.“ Er trank sein Bier aus und warf die Dose zielsicher in den Mülleimer.
„So, jetzt aber mal zu euch. Erzähl mal, Billie, wie lief es, Shola hierher zu bringen?“
Billie seufzte. „Das war ziemlich anstrengend…“ Eigentlich war es als entspannter Trip
geplant gewesen, als eine Auszeit für sie und ihre Partnerin. Shola sollte die Yacht begleiten,
mit der Billie von Hawaii nach Kalifornien segelte. Doch dann hatten ihre Eltern, seit
Jahrzehnten begeisterte Walschützer, die Idee gehabt, sie könnten für diese Reise doch ihr
eigenes Boot nehmen und auf diese Weise endlich wieder Zeit mit ihrer Tochter verbringen.
„Meine Eltern haben sich total Mühe gegeben“, berichtete Billie. „Aber wir haben uns ja nicht
so oft gesehen in den letzten Jahren und es war eher… äh, seltsam, sie auf dem Boot den
ganzen Tag am Hals zu haben.“
Seinem Grinsen nach verstand Julian recht gut, was sie meinte; soweit sie wusste, war seine
Familie auch nicht ganz ohne. Billie warf einen verlegenen Seitenblick auf Leon – war es
überhaupt okay, sich über seine Eltern zu beschweren, wenn er dabei war? Leons Blick ging
in die Ferne, Billie wusste nicht, ob er überhaupt zuhörte oder über etwas anderes nachdachte.
Das war ihr schon vor Jahren aufgefallen, manchmal wirkte er Sekunden lang abwesend, als
sei er einen Moment lang ganz woanders.
„Meine Schwester Octavia Hazel war auch dabei“, erzählte Billie weiter. „Sie rettet
hauptberuflich Amphibien im Regenwald, und wenn wir geredet haben, ging es irgendwie die
ganze Zeit nur um Umweltschutz und was alles mit dem Planeten nicht stimmt und wie
furchtbar das alles ist blablabla.“
„Wahrscheinlich waren deine Verwandten alle ganz scharf darauf, Shola besser
kennenzulernen, oder?“ riet Julian. Billie verzog das Gesicht. „Und ob. Leider dachten sie,
dass sie schon längst alles über Wale wissen. Also sind sie bei erster Gelegenheit, noch bevor
ich sie Shola vorstellen konnte, direkt neben ihr ins Wasser gehüpft. Shola ist prompt
abgehauen.“
Diesmal musste auch Leon lachen.
„Sagt mal, ist es eigentlich wahr, dass ihr beiden hier beim Unterricht helfen dürft?“ fragte
Julian neugierig. „Wie vielen arglosen Leuten habt ihr schon beigebracht, dass der DumboTintenfisch trompetet und einen mit Tinte vollspuckt?“
Also redeten sie erstmal vom Meeresinternat, dem Unterricht, ihrem Abschluss nächstes Jahr
und von Lucy, die durch ihre nächtlichen Ausflüge außerhalb ihres Beckens im Internat schon
fast so berüchtigt wie berühmt war. Sie lästerten ein bisschen über Antonia, die behauptete,
dass sie in ihrem früheren Leben eine Nixe gewesen war, über Marcél, der Sohn eines
Filmemachers war und den ganzen Tag über alles mit seiner Handkamera aufzeichnete – „Er
hat bestimmt schon zehn Filme davon, wie ich mich am Hintern kratze!“ stöhnte Billie –, und
über den Biologen Mr. Dalley, der am liebsten unterrichtete, indem er in die Rolle
verschiedener Meerestiere schlüpfte. Was alle furchtbar peinlich und seltsam fanden, nur er
selbst nicht.
Dann entdeckte Julian das Deutschlehrbuch in einem Fach unter Leons Schreibtisch, und sie
zogen ihn noch ein bisschen damit auf, dass er für seine neue Freundin ja wirklich alles täte,
und was hieß eigentlich „I love you“ in Deutsch?
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„Ich liebe dich“, kam es von Leon sofort. „Das habe ich natürlich als erstes nachgeschaut.“
Die Kerze war schon fast heruntergebrannt, aber Billie war trotzdem noch nicht müde. Ein
warmes Gefühl erfüllte sie, ja, sie war tatsächlich wieder glücklich. Zum ersten Mal seit
Wochen. Wie schön, dass sie wieder zusammen waren! Es war, als habe all das, was passiert
war, ihre Freundschaft noch enger, noch intensiver gemacht. Die kleinen Streitereien waren
vergessen. Konnte jemand, der nicht in der Tiefsee gelebt hatte, überhaupt wirklich verstehen,
was sie verband?
Zum Glück war es Wochenende, und die älteren Schüler durften aufbleiben, so lange sie
wollten. Irgendwann so gegen zwölf begann Leon allmählich zu gähnen. „Ich glaube, ich
pack´s für heute“, meinte er. „Julian, ich leg dir einfach ´ne Isomatte in mein Zimmer, okay?“
Julian nickte, und wandte sich an Billie. „Aber vorher brauche ich noch ein bisschen frische
Luft. Gehen wir noch eine Runde raus?“
Billie nickte wortlos und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie schnell ihr Herz auf
einmal schlug. Sie schlenderten im Dunkeln über den Campus der Schule, über die
gepflasterten Wege, die sich zwischen den Gebäuden im spanischen Missions-Stil
hindurchwanden. Die Palmen zeichneten sich als dunkle Silhouetten am Nachhimmel ab.
„Weißt du was, ich habe jetzt angefangen, Unterricht in E-Gitarre zu nehmen“, erzählte Billie.
„Auf der Benthos konnte es mir keiner beibringen, aber jetzt habe ich mir endlich einen
Lehrer gesucht.“
„Gitarre? Das ist cool.“ Julian klang ehrlich begeistert. „Ich würde gerne Schlagzeug lernen.“
„Soso, du bist also der Typ, der gerne richtig Krach macht“, neckte ihn Billie. „Aber du weißt
doch, in einer Band ist es der Lead-Gitarrist, der die ganzen Groupies abkriegt.“
Julian grinste. „Du könntest ja in deinen Artikeln über uns die brillanten Solos des
gutaussehenden Schlagzeugers gebührend hervorheben.“ Doch dann änderte sich der Ton
seiner Stimme, wurde ernster. „Wieso wirst du nicht Journalistin? Du schreibst so gut.“
„Ja, vielleicht…“ Billie zögerte. „Aber ich würde lieber nicht nur irgendwelche Artikel
schreiben, sondern auch etwas, was die Menschen wirklich berührt. Ich bin nicht sicher, ob
ich das kann.“
Julian blieb ganz plötzlich stehen und sah sie an. „Na klar. Du hast mich berührt, mit dem,
was du über deine erste Zeit mit Shola geschrieben hast. Und mit deiner Geschichte über die
letzten Bewohner von Atlantis.“
„Echt?“ meinte sie verlegen, und sie unterhielten sich noch ein wenig über die Geschichten.
Ach, es tat so gut, wenn jemand einem Mut machte. Es hatte sie zu Anfang enorme
Überwindung gekostet, ihm und den anderen diese Geschichten überhaupt zu zeigen. Er hätte
sich genauso gut darüber lustig machen können.
„Und du? Wie stellst du dir dein Leben vor, so, wie es später mal sein soll?“ fragte sie ihn.
Julian zog die Schultern ein wenig hoch, auf einmal wirkte er sehr verletzlich. „Keine
Ahnung. Eins weiß ich, ich will nicht mehr auf einer Unterwasserstation leben, aber was gibt
es denn stattdessen? Neulich habe ich etwas geträumt… dass ich vor einer Mauer stand, sie
war wahnsinnig hoch und völlig glatt, und ich wusste nur, ich muss auf die andere Seite, aber
das ging nicht. Hinweisschilder gab es keine, und alle Leute, die ich fragte, haben mich nur
angeschaut, als sei ich blöd.“
„Na, den Traum zu deuten hätte Freud ganze zwei Sekunden gekostet“, sagte Billie
beunruhigt. Sie hatte nicht geahnt, dass es ihm so schlecht ging; die Mails, die sie in letzter
Zeit von ihm bekommen hatte, waren eher heiter-ironisch gewesen. „Dieser Psychologe hat
auch mit dir gesprochen, oder? Hat dir das irgendetwas gebracht?“
Julian hatte die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben. „Nicht gerade viel. Mann,
wieso mussten die uns auch so einen aufdringlichen, selbstgerechten Leuteversteher
schicken?“
„Wahrscheinlich hatte er einen Doktortitel von Harvard“, meinte Billie und seufzte, ja, auch
ihr war der Typ unsympathisch gewesen.
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„3-D-Printing interessiert mich. Vielleicht werde ich mal 3-D-Designer und sitze den ganzen
Tag über in einem Büro am Computer. Und auf Partys erzähle ich Leuten von meiner
seltsamen Jugend unter Wasser.“ Julian lachte gequält.
Ganz spontan nahm sie seine Hand und drückte sie. Er erwiderte den Druck, und einen
Moment lang klammerten sich ihre Finger aneinander. Billies Herz hämmerte.
„Ach, das wird schon irgendwie“, meinte er, und sie spürte, wie er fast trotzig die düstere
Stimmung abstreifte. Wahrscheinlich hätte der Psychologe ihn eine Kämpfernatur genannt.
Selbstmitleid hasste er, bei sich und bei anderen... das hatte sie auf Benthos II oft genug
mitbekommen.
Ihre Finger glitten wieder auseinander, wer von ihnen hatte losgelassen? Billie wusste es
nicht. Sie kamen gerade zu den Grünflächen zwischen den Gebäuden, und Julian streifte
sofort die Schuhe ab, marschierte auf den Rasen und wackelte mit den Zehen. „Aaah. Gras
unter den Fußsohlen. Das hab ich vermisst.“
„Du hättest mal sehen sollen, wie ich mich in den ersten Tagen auf dem Rasen gewälzt habe“,
gestand Billie. „Wie ein junges Pferd.“
Er lachte. „Hast du dich auch mal den Hügel da hinunterrollen lassen? Der sieht aus, als wäre
er prima für so was geeignet.“
Billie schüttelte den Kopf. Verschmitzt blickten sie sich an… und dann taten sie es einfach.
Rannten den Hügel hoch, warfen sich ins Gras und ließen sich die Anhöhe hinter der
Bibliothek hinunterkullern wie zwei Kinder, in einem atemlosen Wirbel von Armen und
Beinen. Schließlich lagen sie am Fuß des Hügels nebeneinander.
„So, jetzt halt mal kurz still“, sagte Julian und pflückte ihr ein paar Halme aus den Haaren. So
zärtlich, dass Billie kaum zu atmen wagte. Dann ließ er sich wieder zurücksinken und schaute
zum Nachthimmel hoch. Billie stützte sich auf beide Ellenbogen und sah ihm ins Gesicht.
Ruhig und aufmerksam erwiderte er ihren Blick. In seinen Augen spiegelte sich das
Mondlicht, sie wirkten fast silbrig, aber nicht ausdruckslos wie die Augenlinsen der OxySkins
mit den Restlichtverstärkern. Billie beobachtete, wie sich seine Brust bei jedem Atemzug hob
und senkte, und hätte so gerne ihre Hand darauf gelegt, um auch den ruhigen Schlag seines
Herzens zu spüren.
„Wie geht es dir jetzt?“ fragte Julian leise, und Billie ahnte, dass er an den schrecklichen Tag
dachte, an dem sie entdeckt hatte, dass sie jetzt keine Flüssigkeit mehr atmen konnte. Sie
seufzte tief. „Eigentlich geht es mir ganz gut. Klar, ich vermisse es… aber im Moment noch
weniger, als ich es dachte.“
„Würde mir wahrscheinlich genauso gehen.“ Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf,
blickte wieder hoch und nahm den Anblick des Sternhimmels fast gierig in sich auf. „Und
weißt du was? Ich glaube, ich brauche jetzt das Leben oben. Wenn ich meine Leute besucht
habe, dann fahre ich weiter…nach Mexiko.“
„Sag bloß, du bist auch so einer, der in Tijuana mal so richtig abstürzen will?“ Billie war nicht
schockiert, eher enttäuscht.
„Wieso denn nicht?“ schoss er zurück. „Wir waren da unten im Pazifik völlig abgeschottet,
jetzt will ich leben, verdammt noch mal, leben!“
Billie hörte den Hunger und die Sehnsucht in seiner Stimme und wusste, dass nichts, was sie
jetzt sagte, ihn von seinem Plan abbringen würde.
Niedergedrückt stand sie auf und klopfte sich die Grashalme ab. Julian schien zu spüren, was
in ihr vorging, denn er ging schweigend neben ihr her, als sie sich auf den Rückweg zu den
Wohntrakten machten. Gemeinsam gingen sie die Treppe hoch bis zu den Zimmern der
älteren Schüler, bis vor Leons Tür. Dann zögerten sie, wussten nicht recht, wie sie sich
verabschieden sollten. „Wann fährst du morgen los?“ fragte Billie; sie erkannte ihre Stimme
kaum wieder, so verzerrt war sie.
„Ganz früh, wahrscheinlich sehen wir uns nicht mehr“, sagte Julian, und auch er klang
irgendwie seltsam. „Ich werde dich vermissen.“
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„Ich dich auch“, erwiderte Billie, und sie umarmten sich im Halbdunkel des Korridors. Ganz
fest hielten sie sich, und Billie drückte ihr Gesicht in seine Halsbeuge, die nach Salzwasser
und frisch gemähtem Gras roch. Dann hob sie den Kopf… und merkte, dass er seinen
gleichzeitig gesenkt hatte. Ihre Lippen trafen sich – erst war es fast ein Zufall, doch beim
zweiten Mal schon nicht mehr. Erst küssten sie sich ganz behutsam, dann tiefer, inniger. Ein
Schauer durchrieselte Billie. Julian. Ich küsse Julian. Schließlich bin ich ja auch erst seit vier
Jahren in ihn verliebt!
Jetzt konnte sie es ihm endlich sagen. Was er ihr bedeutete. „Du gefällst mir schon so lange“,
flüsterte sie ihm ins Ohr. „Ich…“
Vielleicht hätte sie nicht sprechen dürfen; auf irgendeine Art brach es den Zauber. Plötzlich
wirkte Julians Umarmung hölzern, ungelenk.
„Billie… nein.“ Seine Stimme war heiser. „Wir sind praktisch zusammen aufgewachsen… es
fühlt sich einfach nicht richtig an, dass wir…“
Nervös löste sich Julian von ihr, trat einen Schritt zurück. Wie betäubt beobachtete Billie, wie
er seinen Rucksack aus Leons dunklem Zimmer holte, dann schnell in Richtung der Treppe
ging. Kurz blieb er auf der obersten Treppenstufe stehen und wandte sich zu ihr um. Sein
Gesicht lag im Schatten, doch sie wusste, dass er sie anblickte. War das sein Abschied?
Würde sie ihn überhaupt wiedersehen?
Julian setzte sich wieder in Bewegung, hastete weiter die Treppe hinunter. Das Geräusch
seiner Sneakers auf den Steinstufen wurde leiser, verklang.
Und dann war er weg. Als sei er von Anfang nur ein Traumbild gewesen.
Tijuana, Mexiko, September 2018
Die Tage und Nächte verschwammen, wie lange war er schon hier in Mexiko? Es kam Julian
vor wie eine Ewigkeit. Er konnte sich vage daran erinnern, dass er gestern Billie angerufen
und irgendwelchen Unsinn geredet hatte. Hatte er gesagt, dass er sich hier einsam fühlte?
Peinlich. Besser, er dachte nicht mehr daran.
Es ging doch darum, Spaß zu haben in Tijuana. Sie waren dabei, Spaß zu haben. Shane und
Kev gefiel es hier, das war klar. An diesem Abend waren sie in einer Kneipe mit gelb-grünen
Lichter-Dekorationen, Julian hatte sich den Namen des Schuppens nicht gemerkt. Er wusste
auch nicht, wie viel Uhr es war. Völlig egal. Zeit gab es hier nicht.
„Wir gehen mal raus, eine qualmen! Bis gleich, Kleiner.“ Shane und Kev legten sich die
Arme über die Schultern, um sich zu stützen, und drängten sich durch die Menge.
„Okay, bis gleich.“ Julian blieb sitzen. Er rauchte nicht, war auch nie in Versuchung gewesen,
es heimlich zu tun. Seine Lunge musste sowieso einiges aushalten, eigentlich ein Wunder,
dass er so wenige Probleme gehabt hatte damit in den letzten vier Jahren. Obwohl er sie
sozusagen regelmäßig unter Wasser gesetzt hatte.
Julian stützte die Unterarme auf die Bar und drehte sein Glas zwischen den Fingern. Kein
einziges Mal hatten sie ihn hier in Mexiko nach seinem Ausweis gefragt hier, um zu checken,
ob er überhaupt alt genug war, dieses Zeug legal zu trinken. Aber den Typen hier war es egal.
Hier war alles möglich, alles. Nach Benthos II fühlte sich das an wie grenzenlose Freiheit,
aber wahrscheinlich hätte sich sogar eine normale High School so angefühlt. O Mann, wenn
er an Ellard dachte… der hatte ihnen wirklich gar nichts durchgehen lassen! Als er Shane und
Kev erzählt hatte, dass für sie sogar ein paar Süßigkeiten von oben ein richtiger Schatz
gewesen waren, hatten die ihn nur fassungslos angeschaut. Und sich dann auf die Schenkel
geklopft.
Julian grinste schief, streute sich Salz auf die Hand, leckte es ab und kippte den Tequila
hinterher. Was war mit Shane und Kev, wo blieben die eigentlich? Julian sah sich um, schon
zum dritten Mal. So langsam wurde er unruhig. Seit einer Ewigkeit waren die schon draußen!
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Gerade in diesem Moment klingelte sein Handy, jemand gröhlte aus vollem Hals und im
Hintergrund redeten Leute. „Kev, bist du das?“, rief Julian verblüfft. „Wo seid ihr?“
Ja, es war Kevs Stimme. Er klang bester Laune. „So´n paar Typen haben uns eingeladen, wir
sind gerade auf ´ner Party, das ist dermaßen cool hier…“
„Eine Party? Wo?“ rief Julian und presste sich das Handy ans Ohr, verdammt, er verstand in
dieser Kneipe kaum sein eigenes Wort. Lag natürlich auch daran, dass seine Gehörgänge noch
immer mit Flüssigkeit geflutet waren, bisher hatte er die Operation nicht rückgängig machen
lassen. „Sag mir die Adresse, dann komme ich auch hin…“ Doch die Verbindung war schon
abgebrochen.
Na toll. Die hatten ihn tatsächlich sitzen lassen. Lachten sich jetzt irgendwo ins Fäustchen
über ihren naiven Cousin frisch aus der Tiefsee, der jetzt auf der Rechnung sitzen blieb. Sein
Drink brannte in Julians Magen, als hätte er versehentlich Batterieflüssigkeit getrunken. Der
Kleine. Mehr war er eben für die anderen nicht. Wahrscheinlich waren sie froh, ihn los zu
sein.
Jetzt musste er sich irgendwo selbst einen Schlafplatz suchen. Egal. Geld hatte er noch genug,
und die beiden hatten sowieso genervt. Abenteuer mit irgendwelchen Mädchen, Autos,
Elektronik, frühere Saufereien – über etwas anderes redeten sie selten.
Julian schüttete seinen letzten Drink herunter, überwand seinen Schock über die Rechnung –
80 Dollar! – schob sich vom Barhocker und hängte sich seinen Rucksack über die Schulter.
Es kostete ihn ein bisschen Mühe, zum Ausgang zu kommen, ohne überall anzustoßen,
ständig musste er sich entschuldigen, weil er jemanden angerempelt hatte. Sein Körper, der
ihn im Meer noch nie im Stich gelassen hatte, fühlte sich hier in Tijuana oft so schwerfällig
an. Wütend konzentrierte sich Julian, und dann war er endlich aus dieser Bar heraus und auf
der Straße.
Die Nachtluft war trocken und warm, sie roch nach Sand, Abgasen und Zigarettenrauch.
Neonschilder blinkten ihm entgegen, bunt und grell, von dem Geflimmer wurde Julian fast
schlecht. Und von überall dröhnte Musik, aus jeder Kneipe ein anderer Song, nichts davon
passte zusammen, ein grauenhafter Lärmbrei. Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt.
Doch außer ihn schien das niemanden zu stören, all diese Leute in bunten Klamotten, die sich
auf dem Bürgersteig und auf der Straße drängten. Wahrscheinlich lag es an ihm. Auf Benthos
II war es nie laut gewesen, und draußen in fünfhundert Metern unter der Oberfläche erst recht
nicht.
Julian lehnte sich gegen einen Torpfosten und versuchte sich zu entscheiden, in welche
Richtung er gehen sollte. Schließlich wanderte er einfach los. Irgendwo würde bestimmt ein
kleines Hotel sein, vielleicht sollte er jemanden fragen. Es waren ja wirklich genug Leute auf
der Straße, darunter einige heiße Girls. Eins davon war auf einmal ganz nah, lächelte ihm ins
Gesicht, ein breiter Mund driftete in sein Blickfeld, rot wie eine Schmuckkoralle.
Tiefschwarze Augen und eine Wolke dunkler Locken. Irgendwie versuchte Julian
zurückzulächeln, und das Mädchen hakte sich bei ihm ein, drückte sich an ihn. Genießen
konnte er es nicht, jetzt war ihm richtig übel, und es wurde eher schlimmer als besser.
Schließlich riss er sich los, wandte sich ab, und spuckte einen Schwall in eine dunkle Ecke
neben einer Toreinfahrt. Es war noch tausendmal unangenehmer als sich das Fluo aus der
Lunge zu husten.
Das Mädchen hatte ihn nicht rechtzeitig losgelassen, und ihre hochhackigen Schuhe hatten ein
bisschen was abbekommen. Ein Schwall wütendes Spanisch prasselte auf Julian nieder, er
verstand nur die Hälfte davon und das reichte schon völlig. Das hämmernde Geräusch sich
entfernender Schuhabsätze dröhnte ihm in den Ohren.
Er hatte nicht mal Wasser, um sich den Mund auszuspülen. Angewidert spuckte Julian aus.
Nichts wie weg von dieser widerlichen Breipfütze, die halb aus Quesadilla-Bröckchen und
halb aus Hochprozentigem bestand. Doch er schaffte es nicht weit, musste sich ein paar Meter
weiter schon wieder an eine Hauswand lehnen. Ja, er war hackedicht, und war das nicht
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irgendwie Sinn der Sache gewesen? Als er noch auf der Station gewesen war, hatte er sich das
lustiger vorgestellt, irgendwie. Und das wäre es vielleicht auch gewesen, wenn sich Shane
und Kev nicht als solche Arschlöcher rausgestellt hätten.
Da, war das nicht das Schild eines Hotels? Sah fast so aus. Blue Parrot Inn, verziert mit dem
kitschigen Bild eines Papageis. Na also. Schlafen. Er brauchte dringend Schlaf. Morgen
würde er dann Shane und Kev anrufen und klären, was genau eigentlich los gewesen war.
Julian versuchte, das „Blue Parrot Inn“ im Blick zu behalten, und stolperte über die löchrige
Straße voran, niemand von all diesen Leuten schien in die gleiche Richtung zu gehen, er
fühlte sich wie ein Fisch, der sich im Schwarm nicht mehr zurechtfand. Und das Hotelschild
war wie ein Trugbild, das ihn in die Irre führen wollte, eben noch da und dann plötzlich hinter
Häusern verschwunden. Mist, anscheinend führte die Straße, auf der er jetzt war, von diesem
Leuchtschild weg, mit jedem Schritt entfernte er sich davon. Wie kam man überhaupt
dorthin? Diese Seitenstraße da, vielleicht führte die in die richtige Richtung.
Julian durchquerte einen dunklen Hinterhof, der nur hin und wieder einen schwachen Schein
Neonlicht abbekam, unter seinen Schuhen knirschten Glasscherben. Dann verfing sich sein
Fuß in einem alten Draht, Seil oder etwas, brachte ihn zu Fall. Etwas Scharfes bohrte sich in
sein Knie und Julian spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten. Fast konnte er Billies
Stimme hören. Jetzt stell dich mal nicht so an, DiMarco, sagte diese Stimme, fast zärtlich
klang es, und beinahe hätte Julian gelächelt. Immerhin, ihm war jetzt nicht mehr so schlecht,
vielleicht hatte es ihm sogar gutgetan, all diesen Tequila auszukotzen…
Julian zuckte zusammen, als er Schritte hörte, Turnschuhsohlen knackten auf einer
weggeworfenen Plastikverpackung. Rechts von ihm, nein links, Moment mal, woher kamen
auf einmal diese Gestalten um ihn herum? Kaum zu erkennen in der Dunkelheit, doch dann
schnickte jemand ein Feuerzeug an, und die Flamme erhellte junge Gesichter, harte
ausdruckslose Augen, muskulöse Oberarme.
Shit!
„Na?“ sagte einer der Männer spöttisch. „Verlaufen?“
„Nicht wirklich“, gab Julian zurück und suchte nach irgendeinem Spruch, mit dem er sie auf
Abstand halten konnte. Aber sein Kopf fühlte sich an, als sei nichts als Blei darin. Es hatte
sowieso keinen Sinn, einen auf cool zu machen, die Kerle merkten bestimmt, dass sein Atem
schnell ging, viel zu schnell.
Julians Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, er sah, dass es drei junge Männer
waren, die in einem Halbkreis um ihn herumstanden. Verdammt, wenn Shane und Kev da
gewesen wären, hätten sich diese Typen nicht an sie rangetraut, vielleicht nicht mal in dieser
Seitenstraße, Heilige Jungfrau Maria, wie hatte er nur so blöd sein können, hier entlang zu
gehen? Hier an Land galten andere Gesetze, die Dunkelheit war hier nichts Natürliches,
sondern ein Schutz für Gauner!
Das Hotel war keine fünfzig Meter entfernt. Macht es Sinn, loszurennen? Er würde schnell
sein müssen. Und wahrscheinlich war es selbst dann zu weit. Sein Knie tat höllisch weh.
„Haste mal ´nen Dollar für uns?“ Die Stimme, die aus der Nacht drang, war hart und
abgehackt, das Englisch lag ihr nicht.
Wut auf sich, auf diese Typen, auf die ganze Welt, stieg in Julian auf. Dachten die, er sei eine
so leichte Beute? Na klar, der junge besoffene Gringo, allein und ohne Freunde, mitten hier in
Tijuana. Wollte die Sau rauslassen, so wie alle hier. Reich und dumm.
Ganz langsam zog Julian seine Geldbörse hervor, hielt sie hoch, streckte sie ins Licht, so dass
jeder der drei Typen sie sehen konnte. „´N bisschen was ist schon noch übrig“, sagte er, und
plötzlich musste er einfach grinsen, er konnte nicht anders. „Aber das müsst ihr euch schon
selbst holen!“
Einer der Männer wollte nach der Geldbörse greifen, doch Julian schleuderte sie in die
Dunkelheit und rannte los, in die entgegengesetzte Richtung. Auf dieses kitschige, leuchtende
Schild mit dem blauen Papagei zu. Er beachtete den Schmerz in seinem Knie einfach nicht,
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sprintete über den holprigen Boden, der am ersten Tag hier so ungewohnt gewesen war. Zum
zweiten Mal an diesem Abend hörte er Flüche in Spanisch, die ihm galten. Egal! Jetzt war da
schon wieder Asphalt unter seinen Füßen, gleich war er wieder auf einer belebten Straße, da
vorne sah er schon die Lobby des Hotels, das kalte Leuchten von Neonröhren…
Etwas rammte ihn in die Seite, und Julian verlor den Boden unter den Füßen, knallte auf den
Asphalt und rutschte gegen eine kleine Mauer, es knackte in seiner Schulter, ein dumpfer
Schmerz. Jemand riss ihn wieder hoch, mit beiden Fäusten. Hoffentlich haben die kein
Messer, das war alles, woran Julian denken konnte, dann prasselten Schläge auf ihn ein.
Immerhin, er schaffte es, auch selbst ein paar Tritte anzubringen, sein Schuh traf auf einen
Körper, schleuderte ihn nach hinten. „Hijo de puta!“ schrie jemand, Julian hörte es wie aus
weiter Ferne. Seine Beine gaben unter ihm nach, er rollte sich auf dem Boden zusammen und
schützte den Kopf mit den Armen.
Das Geräusch eines Motorrads, das näher kam. Noch ein paar Rufe in Spanisch, dann das
Geräusch rennender Füße. Ein Lichtfinger strich über ihn hinweg, doch das Motorrad hielt
nicht an und war einen Moment später in den Gassen verschwunden. Einen Moment lang
konnte sich Julian nicht bewegen, er lag einfach mit geschlossenen Augen da und atmete
flach. Es tat so verdammt weh, hatten die ihm irgendwas gebrochen? Es war alles so schnell
gegangen. Machte es jetzt noch Sinn, um Hilfe zu rufen? Vielleicht besser, er schaffte es bis
zum Hotel. Zu den Lichtern, den Leuten.
Mühsam versuchte Julian, sich aufzuraffen. Doch dann bemerkte, dass ein Lichtpunkt sich
näherte, der Strahl einer Taschenlampe. Jemand leuchtete den Boden ab. Ein eisiger Schreck
durchfuhr Julian. Dieser jemand suchte etwas, das war klar – Scheiße, waren die Typen
zurückgekommen, wollten sie noch einmal versuchen, seine Geldbörse zu finden?
Doch dann, ohne dass er genau wusste warum, beruhigte sich sein Herzschlag. Irgendetwas
kam ihm vertraut vor am Geräusch dieser Schritte und vor allem an der Art, wie sich dieser
Lichtstrahl bewegte, in einem exakten Suchmuster…
Eine erschrockene Stimme. „Julian!“
Anscheinend hatten ihn diese Typen doch härter am Kopf getroffen als gedacht. Es konnte
nicht sein, dass Leon hier war! Leon Redway. O Mann, jetzt kamen ihm doch noch die
Tränen. Mühsam hob Julian die Hand, versuchte sich über die Augen zu wischen, dann
spannte er alle Muskeln an, kam auf die Füße. „Wie genau hast du mich gefunden?“ versuchte
er zu sagen. Es kam als Gestammel heraus, er war immer noch betrunken, doch Leon schien
ihn trotzdem zu verstehen. „Ich habe dein Handy geortet“, sagte er. „Bist du schwer verletzt?
Brauchst du einen Notarzt?“
Jetzt lachte und weinte Julian gleichzeitig. Ja, das war ganz Leon. Der behielt immer einen
kühlen Kopf, egal was passierte. „Nee, lass mal… bin gleich wieder in Ordnung…
Hauptsache, diese Typen sind weg… au, verdammt!“
„Ich hätte mich mehr beeilen sollen. Zehn Minuten früher…“
„Dann hätten die uns beide fertiggemacht. Sie waren zu dritt.“
Leon legte sich seinen Arm um die Schultern, um ihn zu stützen, und Julian hinkte neben ihm
her bis zu der Lobby des Hotels. Die füllige Mexikanerin am Empfang starrte sie an wie eine
Erscheinung, und Julian schaffte irgendwie ein schiefes Grinsen. Sollte er sie bitten, die
Polizei zu rufen? Brachte das irgendwas? Vermutlich nicht. Sein Geld und sein Backpack
waren weg, und er konnte froh sein, dass er kein Messer zwischen den Rippen stecken hatte.
Wenn er der Polizei erzählte, was geschehen war, dann konnte es schnell passieren, dass sie
peinliche Fragen stellte – zum Beispiel, was genau ein sechzehnjähriger Amerikaner in
Tijuana zu tun hatte.
Mit der Hilfe eines Geldscheins überredete Leon die Mexikanerin schnell, ihnen ein Zimmer
zu geben. Es lag im ersten Stock, und ohne Leons Hilfe hätte Julian es nicht geschafft, sich so
weit hochzuschleppen. Mit einem tiefen Seufzer streckte er sich auf dem grellbunten
Bettüberzug aus, und Leon setzte sich neben ihn und blickte ihn besorgt an. „Hier ist was für
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dein Gesicht“, meinte er und reichte ihm einen feuchten weißen Lappen. Dunkel von Blut und
Dreck sah das Ding gleich darauf aus.
„Dachte, ich schaue mal, wie es dir geht“, sagte Leon, er wirkte ein bisschen verlegen.
„Dieser Anruf… tja, wir haben uns ein bisschen Sorgen gemacht. Billie konnte leider nicht
weg, wegen Shola. Aber ich habe den nächsten Flug genommen.“
Ihre Blicke trafen sich, und auf einmal war es Julian, der sich verlegen fühlte. Es war so viel,
das ihm durch den Kopf ging, mehr als er nach so vielen Drinks halbwegs verständlich
aussprechen konnte. Es schwankte zwischen Hey, richtige Freunde zu haben ist schon cool
und Ich brauche niemanden, der mir das Händchen hält!
„Eigentlich läuft´s ganz gut hier“, brachte er schließlich trotzig heraus und wusste, dass Leon
ihm das sowieso nicht abnehmen würde, immerhin stank Julian nach Schnaps und Kotze, sein
T-Shirt war auch hinüber, die Blutspuren gingen vermutlich nicht mehr raus. „Du hast mein
Handy geortet, ohne meine Freigabe? Ist das nicht illegal?“
„Hm, ja, ich glaube schon“, sagte Leon ganz selbstverständlich, und dann grinsten sie
plötzlich beide.
Leon stand auf und ging zum Fenster, blickte einen Moment lang hinaus in die neonhelle
Nacht und zog dann die Vorhänge zu. „Ich glaube, morgen wird die Lady vom Empfang uns
rauswerfen. Hast du gesehen, wie die geschaut hat?“
„Halb Drache, halb Mondfisch. Und dabei dachte ich, dass die hier sowas gewohnt sind. Hier
geht´s doch sowieso zu wie im Wilden Westen.“ Julian zog langsam das Knie an, untersuchte
den Schnitt, dort wo die Scherbe seine Jeans zerfetzt hatte. Doch schnell wurde ihm
schwindelig, er ließ sich wieder zurücksinken. „Kannst du mal schauen, ob da noch ´n
Glasssplitter drin ist?“
„Was genau hast du gemacht? So ´ne Art Russisch Roulette mit abgebrochenen Flaschen?“
Nachdem Leon ihn verarztet hatte, merkte Julian, wie schrecklich müde er war. Er schaffte es
kaum noch, sich die Zähne zu putzen – Leon sogar daran gedacht hatte, eine zweite
Zahnbürste mitzubringen. Wie in aller Welt hatte er wissen können, dass sein Freund eine
Zahnbürste brauchen würde? Eigentlich war ihm Leon immer noch ein Rätsel, selbst nach
vier gemeinsamen Jahren in einem winzigen Doppelquartier auf Benthos II. Früher hatte er
gedacht, dass sein Freund – scheu wie er war – jemanden brauchte, der ihm das wahre Leben
erklärte. Aber dann floh dieser Kerl mitten durch die Tiefsee, legte sich mit dem ganzen
Konzern an, mischte Hilo auf und schaffte es nicht nur, die Havarie eines Tauchboots in
tausend Meter Tiefe zu überleben, sondern auch noch, dieses deutsche Mädchen zu erobern,
mit dem eigentlich Julian geflirtet hatte. Plötzlich musste Julian lachen, er kicherte einfach
los. Zu komisch, das alles.
Als sie es sich in ihren Betten halbwegs bequem gemacht und das Licht ausgeschaltet hatten,
hörte Julian – schon halb weggedämmert – durch die Dunkelheit noch einmal Leons Stimme.
So wie früher oft, wenn sie sich nach dem Licht-aus noch unterhalten hatten.
„Weißt du, was mir geholfen hat, über die Station hinwegzukommen?“ flüsterte Leon jetzt.
„Ein Supermarkt. Hab mir fünfzehn Sorten Schokolade gekauft. Ganz schön kindisch, was?“
„Aber echt“, sagte Julian, und mit einem Lächeln glitt er hinüber in den Schlaf.
Als er erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel, und Leon saß am Fenster und
beobachtete, was um das Hotel herum vor sich ging. Irgendwie musste er gehört haben, dass
Julian wach war, denn jetzt wandte er sich um und sah ihn forschend an. „Na, alles klar?“
Julians Körper fühlte sich noch immer zerschlagen an, wahrscheinlich hatte er eine ganze
Palette von blauen Flecken, und aber das Schlimmste war überstanden. „Yep, geht wieder“,
sagte Julian und versuchte sich an einem Grinsen. Vorsichtig richtete er sich auf, um ins Bad
zu gehen.
„Ich hole das Auto“, sagte Leon und stand auf.
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Julian stutzte. „Wie, das Auto? Ein Mietwagen? Seit wann hast du denn den Führerschein?“
„Seit einer Woche. Im Vergleich zu einem Tauchboot sind Autos nicht gerade kompliziert.“
Stimmt, Leon war gerade siebzehn geworden. Und er hatte ihm nicht mal gratuliert. Julian
holte es nach, dann stieg er ein, ohne vorher noch einmal Kev und Shane anzurufen. Falls die
interessierte, was aus ihm geworden war, sollten sie sich melden.
Er fragte nicht, wohin Leon fuhr, und nach einer Weile eintöniger Fahrt durch die Wüste und
irgendwelche Kleinstädte dämmerte er wieder weg. Schlafen. Nur schlafen. Etwas anderes
wollte er gerade nicht, für etwas anderes hatte er keine Energie mehr, und nur die Schmerzen
weckten ihn hin und wieder auf, wenn sein Körper gegen irgendeine Bewegung protestierte.
Sie übernachteten in einem kleinen Motel am Highway, und am Morgen fühlte sich Julian
nach einem Orangensaft und einem Bagel schon fast wieder gut. Sein Kopf war klar, zum
ersten Mal seit Tagen. „Sag mal, wo sind wir hier eigentlich?“
„Schon fast da“, sagte Leon, und tatsächlich, nach einer kurzen Fahrt sah Julian das blaue
Band, im Sonnenlicht ein funkelndes Band am Horizont. Das Meer. Etwas zog ihn
unwiderstehlich dazu hin, und ein anderer Teil von ihm wehrte sich dagegen.
„Na, irgendwann erzählt du mir dann bestimmt auch, was das soll“, murmelte er. „Das ist die
Küste von Baja California, oder?“
Leon nickte. In einem kleinen Ort hielten sie dann wieder, an einem Tauchshop. Langsam
stieg Julian aus und folgte Leon ins Innere.
„Redway ist mein Name. Ich hatte zwei Geräte und ein Zodiac reserviert für heute“, meinte
Leon zu dem vierschrötigen Kerl, der hinter der Theke saß und gerade einen Atemregler
reparierte.
„Alles klar“, sagte der Mann, doch dann sah er sich Leon genauer an, merkte wahrscheinlich,
wie jung er und sein Begleiter waren. Julian sah, wie sein Blick skeptisch wurde. „Seid ihr
ausgebildet?“
„Könnte man so sagen, ja“, meinte Leon, ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er kramte
sein Logbuch aus seinem Rucksack hervor und schob es über die Theke. Julian grinste, er war
gespannt darauf, wie der Typ reagieren würde.
Der Mann blätterte im Logbuch, starrte auf die Seiten, blätterte weiter, sah dann wieder hoch
zu Leon. „Fünfhundert Meter, zehn Stunden… achthundert Meter, 49 Stunden… das ist ´n
Witz oder? Und was sollen das denn für Stempel sein?“
Doch dann entzifferte er anscheinend das Wort Benthos II in Leons Aufzeichnungen oder auf
den Bestätigungs-Stempeln, und der Ausdruck des Mannes veränderte sich. Ganz plötzlich
erhellte sich sein Gesicht, er strahlte fast. „He, Moment mal, bist du nicht der Junge, der
neulich im Fernsehen war? Der mit der Krake? Der die ARAC hat auflaufen lassen?“
„Ähm ja. Bin ich.“ Leon wirkte verlegen. „Mein Krake ist gerade in San Diego und macht
dort sozusagen Urlaub.“
„Und dein Kumpel da? Kann der auch tauchen?“ Zum ersten Mal wandte sich der Blick des
Mannes Julian zu, und sein Blick wurde wieder so abschätzend wie zuvor. Julian wurde
bewusst, dass er zwar ein frisches, von Leon geliehenes T-Shirt trug – das ihm zu groß war aber noch immer die zerrissene, blutfleckige Jeans. Auch die Blutergüsse von der Prügelei
konnte er nicht verbergen, und wahrscheinlich war er immer noch schrecklich blass und hatte
gerötete Augen wie die eines Kaninchens im Versuchslabor. Beim Blick in den Spiegel war er
heute morgen richtig erschrocken. Kurz, er sah aus wie ein Penner, Treibgut aus irgendeinem
Slum. Sein Logbuch und seine Zertifikate, hatte er nicht dabei.
„Der kann nicht nur tauchen, er ist der beste Taucher, den ich kenne“, sagte Leon und warf
einen kurzen Seitenblick auf Julian. „Und er hat die gleiche Tiefsee-Erfahrung wie ich.“
Julian fühlte, wie er in der Achtung des Typen stieg, und das war gar kein schlechtes Gefühl.
„Klingt gut“, meinte der Mann freundlich. „Na dann, ich zeig euch die Ausrüstung, da könnt
ihr euch nehmen, was ihr braucht.“
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Der beste Taucher, den ich kenne. Die Worte vibrierten durch Julian hindurch, hinterließen
eine Wärme in seinem Inneren. Ausgerechnet Leon sagte so etwas. Leon, der im Meer daheim
war wie kein anderer. Schweigend folgte Julian ihm und dem Mann in die
Ausrüstungskammer, wählte ein Jacket, einen Neoprenanzug, Flossen und Maske und alles
andere, was sie brauchten. Auf einer Bank vor dem Shop montierten und testeten sie die
Ausrüstung, auch mit verbundenen Augen hätte Julian das hinbekommen, obwohl er nun
schon länger mit OxySkins tauchte als mit Pressluft.
Leon ließ sich erklären, welche Tauchplätze es gab und was man in der Gegend beachten
musste, dann luden sie das ganze Zeug ins Schlauchboot, warfen den Außenbordmotor an und
fuhren raus in die Lagune. Ein salziger Seewind strich Julian durch die Haare, und er atmete
ihn tief ein. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte er sich richtig lebendig. So langsam dämmerte
es ihm, warum Leon ihn hergebracht hatte, was das alles sollte.
„Wie tief gehen wir?“ fragte Julian, als Leon das Zodiac an einer Boje vertäut hatte.
„Zwanzig Meter“, sagte Leon fröhlich, und Julian musste lachen. „Wir waren so tief in den
letzten Jahren, und jetzt… zwanzig Meter, Mann, das klingt so, als würden wir in einer
Badewanne mal schnell den Kopf unter Wasser stecken!“
Leon grinste. „Mir kommt es auch ein bisschen albern vor. Aber jetzt mal ehrlich, so wie du
aussiehst, reicht dir das heute völlig.“
Sie halfen sich gegenseitig beim Anziehen der Geräte und ließen sich dann rückwärts aus dem
Zodiac fallen. Julian fand sich unter Wasser wieder, mitten in diesem warmen Meer, das ihn
willkommen hieß, das ihn umfing und trug. Er holte Atem, und mit einem hohlen Zischen
strömte die Pressluft in seine Lungen. Leon tauschte ein OK-Zeichen mit ihm, dann tauchten
sie mit kräftigem Beinschlag ab, Seite an Seite, wie zwei Delfine. Sein Körper wusste, was zu
tun war, und Julian überließ sich einfach der puren Freude, hier zu sein. Ohne Auftrag, den er
erfüllen musste, ohne Ausbilder, der ihn beobachtete, ohne jemanden, der nach Erfolgen
fragte und wie viel Mangan sie diesmal am Meeresgrund entdeckt hatten. Julian drehte sich
im Wasser und blickte hoch, zur silbrigen Wasseroberfläche. Oben. Eine andere Welt. Nein,
dorthin wollte er vorerst nicht zurück.
Amüsiert blickte Leon ihn durch seine Maske an. Wahrscheinlich wusste er ganz genau, was
seinem Freund jetzt durch den Kopf ging…
Sie beobachteten ein paar Fischschwärme, eine Meeresschildkröte und einen Grauwal, der mit
dem Unterkiefer auf der Suche nach Futter den Boden umpflügte. Riesige Sedimentwolken
wirbelten auf, nahmen ihnen die Sicht, und danach fanden sie den Wal nicht mehr wieder.
Doch das Staunen blieb.
Nachdem sie aufgetaucht waren, witzelte Julian: „Hey, diese seichte Pfütze hier hatte doch
einiges zu bieten…“
„Dachte ich mir doch, dass es dir gefallen würde“, gab Leon zurück und zog sich die Maske
vom Kopf. Er wirkte ausgeglichen, wie immer, wenn er aus dem Meer zurückkam.
Bis sie die Ausrüstung zurückgegeben hatten, redeten sie vor allem über das, was sie gesehen
hatten, über die Grauwale hier in Baja, über Deko-Stopps und ihre Logbücher. Doch später,
als sie am Strand saßen und zusahen, wie das Meer die Sonne verschlang, sagte Leon leise:
„Und, was ist, kommst du mit zurück? Oder soll ich dich wieder nach Tijuana bringen?“
Julian schwieg einen Moment lang. Der beste Taucher, den ich kenne. Es war eigenartig
genug, dass er überhaupt so weit gekommen war – andere Jungs aus seinem Viertel in LA
waren jetzt gerade auf dem besten Weg, Drogendealer, Automechaniker oder Pizzabote zu
werden. Er selbst… als Kind war er Anführer einer Kinderbande gewesen, und es hatte Spaß
gemacht, so eine Art Leitwolf zu sein. Zu entscheiden, was die Bande unternahm, gegen wen
sie kämpfte, was sie wo stahl. Doch daheim hatte er als zweitjüngstes Kind wenig zu sagen
gehabt. Wie oft hatte er darum gebettelt, an den Strand und ins Schwimmbad zu dürfen,
meistens ohne Erfolg. Seine Eltern arbeiteten beide in zwei Jobs bis zur Erschöpfung und
verdienten doch kaum genug, um die Familie durchzubringen. Immerhin, sie waren stolz auf
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Julian, der an der Junior High School zwar nur mäßige Noten heimbrachte, aber dafür in
Basketball glänzte, und das, obwohl die meisten anderen Spieler größer waren als er. Schnell
hatte er Anschluss an eine Gang gefunden, doch schon damals hatte er gespürt, dass ihm das
nicht mehr genug war. Damit er an Schwimmwettkämpfen teilnehmen konnte, hatte er immer
jemanden beschwatzen müssen, der ihn dorthin und zum Training fuhr, manchmal klappte es
mit seinem älteren Bruder Ronnie, manchmal mit seinem Onkel Al oder seiner Granny. Und
dann, als er gerade mal elf war… hatte er bei einem dieser Wettkämpfe einen Tauchkurs
gewonnen. Manchmal waren es wirklich komische Zufälle, die einen irgendwohin führten.
Nach dem Kurs hatte der Ausbilder – den er wohl irgendwie beeindruckt hatte – ihn beiseite
genommen und ihn gefragt, ob er auf die School of the Sea gehen wolle, vielleicht ließe sich
ein Stipendium organisieren. Was für eine Frage! Klar wollte er! Nach einem Jahr auf dem
Meeresinternat war er dann ausgewählt worden für Benthos II, Mann, wie höllisch er sich
darüber gefreut hatte. Tiefsee, das war einfach cool, das war spannend, und nur ganz wenige
Schüler schafften es durch die Auswahltests.
Und jetzt… war er doch wieder ganz unten. Ausgekotzt vom Leben. Julian dachte an seinen
letzten Abend in Tijuana, und plötzlich fiel ihm die Entscheidung leicht. „Nein, ich will nicht
zurück nach T. Das ist vorbei. Darauf wolltest du doch hinaus, oder? Da gehöre ich nicht
hin.“
„Aber war trotzdem gut, dass du es mal gemacht hast“, meinte Leon trocken. „Sonst hättest
du noch ein paar Jahre davon fantasiert und ich hätte mir es anhören müssen.“
Grinsend sahen sie sich im rötlichen Licht des Sonnenuntergangs an, und Julian winkte ein
bisschen verlegen ab. Ja, wahrscheinlich war er ein bisschen fixiert gewesen, aber wer wäre
das nicht gewesen in dieser Situation, völlig isoliert vom normalen Leben? „Keine Sorge,
damit nerve ich dich nicht mehr. Die Mädchen in Mexiko haben mir erstmal gereicht. Ich
weiß nur nicht genau, was ich jetzt machen soll. Du hast wahrscheinlich gehört, was für Mist
ich gebaut habe, oder?“
„Mist?“ Leon zog die Augenbrauen hoch. „Du hast den ARAC-Managern gesagt, dass du
hinwirfst, wenn du als neuen Partner keinen Kraken oder Pottwal bekommst. Das war absolut
richtig. Ich hätt´s an deiner Stelle auch gemacht. Dass sie Nein gesagt haben, zeigt nur, dass
sie keine großen Pläne mehr mit dir hatten.“
Julian schüttelte den Kopf, versuchte in Worte zu fassen, was in seinem Inneren brannte.
Weswegen er überhaupt so lange in Tijuana geblieben war. „Aber… damit habe ich irgendwie
meine Zukunft weggeworfen, verstehst du? Ich bin raus aus dem OceanPartner-Programm,
das war´s für mich mit der Tiefsee, und ich habe keinen blassen Schimmer, was ich jetzt
machen soll.“
Eigentlich waren sie beide raus. Leon hatte ebenso gegen die ARAC rebelliert… und dann
hatte er auch noch seinen Adoptivvater verloren bei diesem furchtbaren Unfall, bei dem auch
Patrick umgekommen war. Doch irgendwie hatte Julian nicht den Eindruck, dass das alles
Leon aus der Spur geworfen hatte. Wie schaffte er das alles nur? Einen Moment lang fühlte
Julian einen Anflug des alten Neides, und fast sofort schämte er sich dafür.
Inzwischen war es völlig dunkel, und nur noch der fast volle Mond warf sein Licht über die
Lagune. Doch Julian spürte, dass Leon den Kopf wandte und ihn von der Seite ansah. „Sag
mal, hättest du Lust, mit mir nach Norwegen zu kommen?“ fragte er plötzlich.
Julian war verblüfft. „Norwegen?“
„Es geht um Kaltwasserkorallen. Für die soll ein Schutzgebiet eingerichtet werden, aber wenn
die Behörden sich damit nicht beeilen, gibt´s nichts mehr zu schützen, weil diese TiefseeRiffe gerade von Fischer plattgemacht werden.“
Überall das gleiche. Julian spürte, wie Wut in ihm hochstieg, die gleiche hilflose Wut, die
wahrscheinlich auch Leon fühlte. Sie hatten schon viel Zerstörung gesehen während ihrer
Tauchgänge, der Mensch richtete so viel Schaden an im Meer.
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Schon redete sein Freund weiter. „Aber wir können etwas dagegen tun. Für gewöhnliche
Taucher ist es zu tief, aber mit einer OxySkin wäre es kein Problem, zu den Riffen
runterzukommen. Wir wären so was wie Wildhüter der Tiefsee… bis das Schutzgebiet steht.“
„Wir haben keine OxySkins“, sagte Julian knapp. „Auf die hat ein gewisser Konzern, den wir
beide kennen, die Hand drauf.“
„Nicht mehr. Ich habe einen Deal gemacht mit der ARAC, inzwischen ist es offiziell. Keine
finanzielle Entschädigung, dafür OxySkins und Ausrüstung für dich, mich und Billie, so oft
wir dafür Verwendung haben.“
Julian konnte kaum glauben, was er hörte. Er konnte wieder in die Tiefe! Wenn er wollte.
Plötzlich war ihm wieder schwindelig, obwohl er in den letzten zwanzig Stunden nicht viel
anderes getrunken hatte als Wasser, Saft und eine Coke. Vielleicht lag es auch daran, dass er
mal wieder an Billie denken musste, wie so oft in letzter Zeit. Keine Ahnung, was mit ihm los
war.
„Wildhüter der Tiefsee?“ Plötzlich musste Julian lachen. „Das klingt ganz schön bescheuert.
Wir sehen dort unten die Hand nicht vor Augen, und sollen trotzdem für Ordnung sorgen oder
so was? Korallen-Cops, hey!“
„Heißt das, du bist nicht dabei?“ Leon klang enttäuscht.
„Klar bin ich dabei“, sagte Julian, und es fühlte sich gut an, das zu sagen.
Verdammt gut.
San Diego School of the Sea, September 2018
Billie rieb sich den Lippenstift wieder herunter, allmählich ging ihr die Geduld aus, sie war
kurz davor, das Ding in die Ecke zu pfeffern. „Hey, kannst du mir noch mal zeigen, wie man
dieses verdammte Zeug so draufbekommt, dass es halbwegs brauchbar aussieht?“
„Klar – schau, so.“ Antonia zog sich die eigenen Lippen noch einmal nach und warf ihre
dunkle Mähne nach hinten. Dann schlüpfte sie in das enge, schimmernde Top, das sie für
heute abend ausgewählt hatte, und warf gut gelaunt noch ein paar Sachen aus ihrem Schrank
aufs Bett. „Hier, kannst du gerne mal durchgucken, wäre das nicht was für dich? Ich glaube,
wir haben die gleiche Größe.“
„Na da beiß mich doch ´n Hammerhai“, murmelte Billie. Manche der Klamotten sahen
wirklich scharf aus, aber ob sie sich wirklich trauen würde, so auszugehen? „Echt nett von
dir.“
Schließlich entschied sie sich für eine schneeweiße, bis zum Bauchnabel geschlitzte
Piratenbluse mit weiten Ärmeln, kombiniert mit einer eng anliegenden, weinroten und
dreiviertellangen Samthose und High Heels. Passte alles ganz gut zu ihrer schmalen Figur und
sah irgendwie verwegen-romantisch aus. Nur wie sollte sie schaffen, auf diesen hohen
Absätzen zu gehen?
„Du siehst genial aus!“ juchzte Antonia und wirbelte sie herum, bis sie atemlos auf dem
Teppich landen. „Sämtliche Typen, denen du über den Weg läufst, werden dich anbaggern!“
Billie lächelte sich im Spiegel zu, den Antonia ihr hinhielt. Sie sah nicht mehr wie Billie aus,
die ungeschminkte, praktisch veranlagte, immer im Overall herumlaufende Billie, die Julian
kannte… sondern wie Benedetta. Ein Mädchen, in das er sich vielleicht verliebt hätte.
Verdammt, sie durfte nicht länger so an ihn denken! Für ihn war sie so was wie eine
Schwester, das hatte er ja deutlich genug gemacht… wieso war sie Julian nicht irgendwo
anders begegnen können als ausgerechnet in dieser Unterwasserstation?
„Hey, was ist los? Du siehst gerade so bedrückt aus…“
„Ach, ist nichts Schlimmes“, erwiderte Billie schnell. „Ich habe nur gerade überlegt, was
Shola heute Nacht macht. Ob sie sich wieder mit den wilden Pottwalen trifft.“
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Antonia nickte verständnisvoll. Sie wusste, was auf dem Spiel stand: Wenn Shola sich ihren
Artgenossen anschloss, dann würde Billie nicht einmal mehr an der Oberfläche mit ihr
arbeiten können. „Du fährst morgen wieder raus und schaust nach ihr, oder?“
Billie nickte. „Sowieso.“
„Okay, dann mach dir heute abend keine Gedanken mehr wegen ihr. Carpe diem!“
Sie zwängten sich in Antonias vollgemüllten weißen Hybrid, und fanden tatsächlich einen
Parkplatz in der Innenstadt, ein paar hundert Meter von dem Club entfernt, den Antonia
angepeilt hatte. Es war dann doch leichter als gedacht, auf den hohen Absätzen zu
balancieren. Antonia hatte sie praktisch gezwungen, das Haarband wegzulassen, und ihre
hellbraunen Haare, die sie wegen der OxySkin kurz hatte tragen müssen, fielen ihr schon fast
bis auf die Schultern. Noch keine Mähne, aber vielleicht wurde das noch. Billie merkte, dass
nicht nur Antonia bewundernde Blicke trafen… sie selbst bekam auch ein paar ab. Das fühlte
sich nicht schlecht an… gar nicht schlecht. Ja, Antonia hatte Recht, wieso sollte sie ihr Leben
nicht genießen, schließlich tat Julian das auch!
Geduldig warteten sie in der Schlange vor dem Club, und wurden tatsächlich eingelassen.
Drinnen sah es ziemlich spacey aus, wie die Landschaft auf einem außerirdischen Planeten.
„Sie dekorieren den ganzen Club jeden Monat komplett um“, rief Antonia. „Sieht ganz gut
aus diesmal.“ Sie steuerte zielsicher die Tanzfläche an, auf der grade der Indie-Hit Rain from
Mars lief, und Billie folgte ihr. Die Bässe vibrierten durch Billies Körper, und das war ein so
vertrautes Gefühl, dass sie beinahe gegrinst hätte. Genauso fühlte es sich an, von einem
Pottwal aus nächster Nähe mit Ultraschall-Klicks geortet zu werden. Ob das außer ihr jemand
hier wusste?
Später, nachdem sie sich beim Tanzen ausgetobt hatten, eroberten sie sich Drinks und Plätze
auf einem Sofa, das aus einem langen, roten Zottelfell bestand und wie die Trophäe eines
intergalaktischen Großwildjägers aussah. Hier in dieser Ecke war es auch ruhig genug, um
sich zu unterhalten. „Na, hast du Spaß?“ fragte Antonia, und Billie nickte heftig. Es wurde
immer voller im Club, und sie saßen dicht gedrängt auf dem Sofa. Sie und Antonia wurden
gegeneinander gepresst, und die Frau neben ihr streifte sie immer wieder mit dem Arm. Diese
körperliche Nähe fühlte sich seltsam und sehr ungewohnt an; Billie war nicht sicher, wie
lange sie das aushalten würde. Sie hatte Menschenmassen nie gemocht. Aber an diesem
Abend fühlte sie sich so wohl und so lebendig, dass es fast etwas Kuscheliges hatte, hier dicht
an dicht nebeneinander zu sitzen.
Schräg gegenüber von ihnen lehnte ein durchtrainiert wirkender Junge in einem hautengen
roten T-Shirt, höchstens zwei oder drei Jahre älter sie, seine blonden Locken fielen ihm bis
auf die Schultern. Selbstwusst und locker und gut gelaunt wirkte er, wie er dastand und mit
seinen Freunden redete und lachte. Er hatte ein langes, gut geschnittenes Gesicht, und sie
hätte ihn sich ohne weiteres als Frontman einer Pop-Band vorstellen können.
Gerade in dem Moment, als sie ihn musterte, schaute er zufällig in ihre Richtung und
bemerkte, dass sie ihn ansah. Verlegen blickte Billie weg und unterhielt sich weiter mit
Antonia. Ein paar Minuten später gingen die Frauen, die neben ihr gesessen hatten. Billie
zuckte fast zusammen, als der Junge mit den blonden Locken sich neben ihr niederließ. Es
war so eng auf dem Sofa, dass ihre Oberschenkel und ihre Schultern sich berührten. Wie
seltsam, einem völlig Fremden so nah zu sein, aber irgendwie gefiel es ihr auch. Na so was,
ihre Hose und das T-Shirt des Jungen hatten genau das gleiche Rot...
Sie zuckte beinahe zusammen, als sich der Junge ihr und Antonia zuwandte.
„Na, ihr beiden? Sorry, dass ich euch die ganze Zeit anglotze. Aber ihr seid einfach ein toller
Anblick.“
Billie war verblüfft. Er hatte sie doch gar nicht angeglotzt, oder hatte sie da etwas verpasst?
Während sie noch nach einer Antwort suchte, gab Antonia schon cool zurück: „Kein Problem.
Aber für die Abnutzung unserer Klamotten durch dein Geglotze müssen wir dir leider was
berechnen.“
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„Tauschgeschäft, okay?“ sagte der blonde Junge. „Ihr dürft meine auch ein bisschen
abnutzen.“
Billie musste lachen. „Kostet das bei unserem Partnerlook doppelt?“
„Nee, das nicht, aber es muss dokumentiert werden“, sagte der Junge, zog ein Handy aus der
Tasche – und bevor Billie ganz kapiert hatte, was los war, hatte er schon ein Foto von sich
und ihr geschossen. Er hielt ihr das Handy hin, damit sie das Bild anschauen konnte. Sie
saßen so eng nebeneinander, dass es auf dem Foto so aussah, als seien sie ein Paar. Wie
seltsam…
„Du bist nicht zufällig berühmt?“ Er grinste. „Dann kann ich das Bild nämlich an ein paar
Illustrierte verkaufen, gibt ordentlich Kohle, so was.“
„Na klar bin ich berühmt“, behauptete Billie munter. „Ich habe mal in einem Werbespot für
Frühstücksflocken mitgespielt.“
„Echt?“
„Nein. In Wirklichkeit bin ich nur gecastet worden. Für die Rolle der Frühstücksflocke.“
Jetzt hatte er gemerkt, dass sie ihn nur aufzog, und lachte. „Du hättest eine ganz wunderbare
Frühstücksflocke abgegeben. Du siehst aus, als wärst du randvoll mit Ballaststoffen und
Vitaminen.“
Mit Vitaminen? Billie war verdutzt. Sollte das heißen, dass sie irgendwie gesund und brav
und öko aussah? Hoffentlich nicht! Zum Glück ergriff Antonia jetzt wieder das Wort.
„Wahrscheinlich bist du in Wirklichkeit derjenige, der berühmt ist. Das da sind bestimmt
deine Bodyguards, oder?“ Sie zeigte auf seine Freunde, die ihre Drinks leerten und hin und
wieder neugierige Seitenblicke in ihre Richtung schossen.
Der Junge mit den blonden Locken zog die Augenbrauen hoch und grinste. „Die da?
Bodyguards? Einer davon ist ein Nerd, der höchstens schafft, seine Pizza zu verteidigen, und
der andere hat sich zwar im Fitness-Studio angemeldet, ist dann aber nicht mehr hingegangen.
Aber beide sind total nett.“
„Sag mal, wie heißt du eigentlich?“ mischte sich jetzt Antonia ein. „Du kannst natürlich auch
dein Inkognito wahren, aber dann muss ich dich leider erstmal Curly nennen.“
„Ja, ja, schon klar.“ Er fuhr sich mit beiden Händen in die Locken. „Ich kann nichts dafür. Die
habe ich von meiner Mutter geerbt. Und übrigens, ich heiße Christopher. Nenn mich Chris.
Hi.“
„Benedetta“, stellte Billie sich nach kurzem Zögern vor, und ihre Freundin ließ ein „Antonia“
folgen und schob nach: „Du bist bestimmt Surfer, oder? So wie du aussiehst.“
„Gut geraten.“ Vor Stolz schien Chris fast ein paar Zentimeter größer zu werden. „Und wisst
ihr was? Ich bin gerade an der San Diego School of the Sea aufgenommen worden. Sagt euch
das was?“
Billie und Antonia sahen sich an und mussten sich das Lachen verbeißen. Ein Blick genügte
und sie waren sich einig. „Nee, was ist denn das?“ fragte Billie unschuldig.
„Berühmte Privatschule. Nicht gerade billig“, erzählte er lässig. „Bildet zukünftige Profis aus,
die das Meer kennen wie ihren eigenen Vorgarten.“
„Ach, und da musstest du wahrscheinlich eine ganz schwere Aufnahmeprüfung bestehen,
oder?“ Antonia bekam einen wunderbar anbetenden Blick hin.
„Logisch, und die war echt höllenschwer.“ Chris lehnte sich ein wenig vor und musterte sein
Publikum, vielleicht um ganz sicherzugehen, dass sie auch gespannt zuhörten. „Erst gab es
einen Theorie-Test, und im Praxisteil mussten wir fünfzehn Meter tief frei tauchen, und
tausend Meter auf Zeit schwimmen…“
Billie lächelte. Ja, daran erinnerte sie sich auch noch. Außerdem musste man einen
zehnminütigen Stegreif-Vortrag über ein Meereslebewesen eigener Wahl halten. „Nur ein
Zeitschwimmen?“, zog sie ihn auf. „Ich dachte, ihr müsstet mindestens ein Becken voller
Haie durchqueren oder so.“
„Nee, das ist dann später die Zwischenprüfung“, behauptete er dreist.
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„Und hast du denn ein Hauptfach? Das ist dann das Surfen, oder?“ hakte Antonia ein.
Doch Chris schüttelte den Kopf. „Nee. Tauchen. Ich habe nämlich etwas ganz bestimmtes
vor...“
Beinahe hätte Billie sich verplappert und gefragt, ob er sich für Benthos II bewerben wollte.
Gerade noch rechtzeitig schaffte sie es, wieder einen bewundernden Blick aufzusetzen. „Echt?
Verrätst du schon was darüber?“
„Ich habe vor, die letzten Geheimnisse der Ozeane zu lüften“, verkündete Chris.
Antonia war rot angelaufen vor unterdrücktem Gelächer, und auch Billie entgleisten beinahe
die Gesichtszüge. „Entschuldige uns einen Moment, wir gehen kurz mal für kleine Mädchen“,
presste Antonia hervor. Auf dem Klo konnte sie endlich losprusten. „Der Typ ist echt lustig“,
keuchte Billie schließlich. „Die letzten Geheimnisse der Ozeane! Klasse.“
Antonia wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. „Mrs. Juneau sorgt bestimmt
dafür, dass er erstmal die letzten Geheimnisse am Boden des Schul-Pools ergründet.“
„Wir müssen ihm irgendeine offizielle Mitteilung basteln, aus der hervorgeht, dass die
Zwischenprüfung wirklich was mit einem Hai-Becken zu tun hat“, schlug Billie vor. Während
sich andere Frauen um sie herumdrängten, prüfte sie ihr Make-Up im Spiegel und zog ihren
Lippenstift nach. Das Zeug war klasse, um ein Haar hätte sie nicht geglaubt, dass das im
Spiegel wirklich sie war.
„Gute Idee“, meinte Antonia fröhlich. „Aber wir müssen es machen, bevor er kapiert, dass wir
auch an der SanSea sind.“
Sie gingen wieder zurück, und wie erwartet waren ihre Plätze auf dem Sofa jetzt von jemand
anders belegt, und Chris´ Kumpels waren verschwunden – in Richtung Bar oder Tanzfläche.
Aber Chris war noch da, er hatte tatsächlich auf sie gewartet.
„Sagt mal, habt ihr Lust auf einen Bootsausflug morgen? Das Boot meiner Eltern liegt hier in
der Nähe im Hafen, und wir könnten ein bisschen rausfahren.“
Billie tauschte einen Blick mit Antonia. Na, anscheinend gefielen sie Chris wirklich, und er
flirtete nicht nur aus reiner Routine mit ihnen! Im Prinzip ging das, sie hatte am Sonntag noch
nichts vor, außer mit Shola zu spielen. Ihre Eltern waren wieder zurück in Vancouver und
hatten nicht geplant, sie zu besuchen, und Leon würde todsicher mit Lucy in die Tiefen
entschwinden.
Antonia versuchte, ihr irgendwas zu sagen, sie bewegte übertrieben die Lippen. Shola,
entschlüsselte Billie schließlich. O ja, gute Idee. Chris wusste es zwar noch nicht, aber es
würde ein Bootsausflug zu viert werden.
„Klar, warum nicht, das wird bestimmt ein lustiger Trip“, sagte Billie.
„Falls du kein verrückter Serienmörder bist oder so was“, schob Antonia hinterher.
„Ach, keine Sorge, ich bin in Behandlung“, behauptete Chris grinsend, organisierte sich etwas
zu Schreiben und kritzelte seine Telefonnummer auf ein Blatt. Nach kurzem Zögern gab auch
Billie ihm ihre Handynummer. Die E-Mail-Adresse nicht, die San-Sea-Endung hätte sie
verraten.
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