Hoffnung auf Frieden und Angst um die Frauenrechte in Afghanistan

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Hoffnung auf Frieden und Angst um die Frauenrechte in Afghanistan
Tagungs-Dokumentation
Hoffnung auf Frieden und Angst um die
Frauenrechte in Afghanistan – Gefährdet
Gewalt gegen Frauen den Friedensprozess?
31. November 2012 bis 1. Dezember 2012
Bonn Bad-Godesberg
medica mondiale e.V.
Juni 2013
Hoffnung auf Frieden und Angst um
die Frauenrechte in Afghanistan –
Gefährdet Gewalt gegen Frauen den
Friedensprozess?
Redaktion:
Rita Schäfer, Mandy Seidel
Layout:
Beate Kriechel
Herausgeberin:
medica mondiale e.V.
Hülchrather Straße 4
D- 50670 Köln
Telefon: +49 (0)221 931898-0
Fax: +49 (0)221 931898-1
www.medicamondiale.org
[email protected]
Foto: Die afghanischen Kolleginnen Vida Faizi (Mitte) und Zarghona
Ahmadzai (links) zu Gast in Bonn
© Beate Kriechel/medica omdiale
Die Afghanistan-Tagung fand in Kooperation mit
der Evangelischen Akademie im Rheinland statt.
Inhaltsverzeichnis
Tagungsprogramm..................................................................................................................................4
Kurzviten der ReferentInnen und ModeratorInnen ..............................................................................6
Dr. Monika Hauser
Einführungsvortrag .................................................................................................................................8
Thomas Ruttig
Die aktuelle Lage in Afghanistan und der Stand des Friedensprozesses........................................10
Sajia Behgam
Afghanische Frauen und ihre Rechte nach dem Sturz der Taliban ..................................................17
Zarghona Ahmadzai
Gewalt gegen Frauen in Afghanistan .................................................................................................19
Erik Kurzweil und Sabine Fründt
Zwischen Diplomatie und der Realität afghanischer Frauen –
Sichtweisen zur deutschen Afghanistanpolitik .................................................................................22
Dr. Ute Scheub
Warum Gewalt gegen Frauen den Weltfrieden gefährdet.................................................................24
Podiumsdiskussion
Erst Frieden, dann Frauenrechte?
Perspektiven, Erwartungen und Anregungen für Afghanistans Zukunft?.......................................28
Dr. Monika Hauser
Schlusswort ..........................................................................................................................................33
Fotografische Eindrücke der Tagung ..................................................................................................34
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Tagungsprogramm
Tagungsprogramm
Trotz des bereits elf Jahre andauernden Militäreinsatzes und der Zahlung von Milliarden von Hilfsgeldern leben afghanische
Frauen und Mädchen nach wie vor in einem Klima der Gewalt. Neben der extremen Gewalt im Alltag und der Rechtlosigkeit
in den Familien wächst der Druck auf Frauen, die sich für ihre Rechte engagieren. Viele Afghaninnen in öffentlichen Positionen werden bedroht und müssen um ihr Leben fürchten.
Vor einem Jahr traf sich erneut die internationale Staatengemeinschaft in Bonn, um vor dem geplanten Abzug der ausländischen Truppen 2014 über die Zukunft Afghanistans zu beraten. Frauen spielten in den bisherigen Verhandlungen eine
weitaus geringere Rolle, als ihnen beispielsweise die UN-Resolutionen 1325 und 1820 zuweisen. Laut dieser Resolutionen
trägt die Beteiligung von Frauen in erheblichem Maße zur Verbesserung der Sicherheitslage und zur Förderung eines
gerechten Friedens bei.
Doch wie können sich afghanische Frauen am Wiederaufbau ihres Landes beteiligen, wenn sie im Alltag unterdrückt und
ihrer Rechte beraubt werden? Welche Chance hat nachhaltiger Frieden in Afghanistan, wenn Frauen und Mädchen systematisch Gewalt erfahren? Ist eine Befriedung Afghanistans überhaupt möglich, wenn die Hälfte der afghanischen Bevölkerung weiterhin aus friedensrelevanten Prozessen ausgeschlossen wird?
Wir laden Sie sehr herzlich ein, über diese Fragen mit afghanischen und deutschen Expertinnen und Experten zu diskutieren.
Jörgen Klußmann M. A., Studienleiter Evangelische Akademie im Rheinland
Dr. Monika Hauser, Gründerin und geschäftsführendes Vorstandsmitglied von medica mondiale e.V.
Eine Tagung in Kooperation der Evangelischen Akademie im Rheinland und medica mondiale
4
Tagungsprogramm
Freitag, 30. November 2012
Samstag, 1. Dezember 2012
Ab 14.00 Uhr
Anreise und Registrierung
8.00 Uhr
Frühstück
14.30 Uhr
Begrüßung
Jörgen Klußmann
8.45 Uhr
Andacht
Jörgen Klußmann
Einführung in das Thema
Dr. Monika Hauser
9.00 Uhr
Die aktuelle Lage in Afghanistan und der
Stand des Friedensprozesses, Vortrag
Thomas Ruttig
Hirngespinst oder reale Gefahr?
Warum Gewalt gegen Frauen den Weltfrieden gefährdet, Vortrag
Dr. Ute Scheub
10.00 Uhr
Kaffeepause
16.00 Uhr
Kaffeepause
10.30 Uhr
16.30 Uhr
Elf Jahre nach dem Sturz der Taliban:
Wie steht es um die Frauenrechte in
Afghanistan? Input und Diskussion
Sajia Behgam, Zarghona Ahmadzai
Moderation: Jörgen Klußmann
Erst Frieden, dann Frauenrechte?
Perspektiven, Erwartungen und Anregungen für Afghanistans Zukunft,
Podiumsdiskussion
15.15 Uhr
18.00 Uhr
Abendessen
19.00 Uhr
Zwischen Diplomatie und der Realität
afghanischer Frauen – Sichtweisen zur
deutschen Afghanistanpolitik, Gespräch
Erik Kurzweil, Sabine Fründt
20.30 Uhr
Dr. Monika Hauser, Dr. Janet Kursawe,
Sajia Behgam, Zarghona Ahmadzai,
Vida Faizi
Moderation: Jörgen Klußmann
Informelles Ende,
geselliges Beisammensein
5
12.30 Uhr
Mittagessen
14.00 Uhr
Open Space: Gruppendiskussionen zu
Perspektiven, Erwartungen und Anregungen für Afghanistans Zukunft
15.30 Uhr
Verabschiedung
Dr. Monika Hauser, Jörgen Klußmann
Kurzviten
Kurzviten der ReferentInnen und
ModeratorInnen
sie die internationale Hilfs- und Frauenrechtsorganisation
medica mondiale. Für ihre Arbeit wurde Hauser mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, so erhielt sie 2008 den sogenannten Alternativen Nobelpreis, im November 2012
wurde ihr der Staatspreis des Landes NRW verliehen.
Zarghona Ahmadzai, Psychologin und Mitarbeiterin
bei Medica Afghanistan
Seit 2002 ist Ahmadzai für die afghanische Frauenrechtsorganisation Medica Afghanistan als psycho-soziale Beraterin tätig. Ahmadzai bietet Einzel- und Gruppenberatungen
für von Gewalt betroffene Frauen an. Außerdem qualifiziert
sie Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen und medizinisches
Personal für frauenspezifische Traumaarbeit und arbeitet
an Radioprogrammen zur Aufklärung mit.
Jörgen Klußmann, Studienleiter an der
Evangelischen Akademie im Rheinland
Als Studienleiter ist er an der Evangelischen Akademie im
Rheinland verantwortlich für den Themenschwerpunkt Politik, Friedens- und Konfliktforschung und christlich-islamischer Dialog. Klußmann ist Islamwissenschaftler, Journalist und Trainer für systemische Konfliktbearbeitung und Organisationsentwicklung. Nebenberuflich führt er im Auftrag
unter anderem. der Friedrich-Ebert-Stiftung Schulungen für
systemische Konflikttransformation in Krisenregionen
durch, zuletzt in Afghanistan und Burma.
Sajia Behgam, Juristin, Politologin und Genderexpertin
aus Afghanistan
Von 2003 bis 2007 war Behgam für Medica Afghanistan
als Referentin für Politik und Frauenrechte tätig, Danach
arbeitete sie für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) als Genderberaterin. Zur Zeit
der Taliban-Herrschaft eröffnete sie in einer Wohnung eine
versteckte Schule für Mädchen. Derzeit studiert sie den
Masterstudiengang „Public Policy“ in Deutschland.
Dr. Janet Kursawe, Politikwissenschaftlerin
und Ethnologin
Kursawe ist seit 2009 als wissenschaftliche Mitarbeiterin
im Arbeitsbereich Frieden und Nachhaltige Entwicklung an
der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg tätig. Von 2005 bis 2009 promovierte sie zur Drogenökonomie in Afghanistan, Pakistan
und Iran, in diesem Rahmen absolvierte sie auch mehrere
Forschungs- und Studienaufenthalte vor Ort. Kursawe ist
Mitherausgeberin des jährlich erscheinenden Friedensgutachtens.
Vida Faizi, Leiterin Psychosoziale Beratung und Gesundheit bei Medica Afghanistan
Vida Faizi arbeitet seit 2004 bei Medica Afghanistan und
war zunächst als psychosoziale Beraterin tätig, Später übernahm sie zudem die Koordination der Trainings für afghanische Fachfrauen, die in medizinischen und psychosozialen Berufen tätig sind. Ihnen wird dabei ein traumasensitiver Umgang mit Frauen vermittelt, die an den Folgen von
Gewalterfahrungen leiden. Seit 2009 leitet sie den Bereich
Psychosoziale Beratung und Gesundheit.
Erik Kurzweil, stellvertretender Referatsleiter im
Arbeitsstab Afghanistan/Pakistan des Auswärtigen Amts
Kurzweil ist seit 2001 für das Auswärtige Amt tätig. Seitdem hat er u.a. in Rumänien, Indien und den USA für die
deutsche Botschaft gearbeitet. Sein thematischer Schwerpunkt liegt auf politischen Analysen internationaler Beziehungen. Im Sommer 2012 hat er sein Amt als stellvertretender Referatsleiter im Arbeitsstab Afghanistan/Pakistan
angetreten. Kurzweil studierte Geschichte, Romanistik und
Politikwissenschaft in Berlin und Paris.
Sabine Fründt, Beraterin, Trainerin und Moderatorin
Sabine Fründt ist Beraterin, Trainerin und Moderatorin. Ihre
Schwerpunkte sind Gender & Diversity, Konflikttransformation und Organisationsentwicklung. In Afghanistan arbeitet sie seit 2002 unter anderem. für die Frauenrechtsorganisation medica mondiale e.V. zu Peace Building,Capacity Building und Empowerment. Sie ist Vorstandsmitglied im Fachverband Gender Diversity e.V. und im Verein
Dialog Orient-Okzident e.V.
Thomas Ruttig, Mitbegründer und Kodirektor des
Afghanistan Analysts Network
Gemeinsam mit KollegInnen gründete Ruttig 2009 das unabhängige Thinktank Afghanistan Analysts Network. Ruttig
beschäftigt sich bereits seit mehreren Jahrzehnten mit dem
Land. Der studierte Afghanistan-Wissenschaftler war in den
1980er Jahren als Diplomat für die DDR in Afghanistan
tätig, später arbeitete er vor Ort unter anderem für die UNO,
als stellvertretender EU-Sondergesandter sowie an der
deutschen Botschaft in Kabul. Von 2006 bis 2008 war Rut-
Dr. Monika Hauser, Ärztin sowie Gründerin und geschäftsführendes Vorstandsmitglied von medica mondiale
Nach Berichten von Massenvergewaltigungen fuhr Hauser
1992 nach Bosnien und baute dort zusammen mit lokalen
Fachfrauen ein Frauentherapiezentrum für im Krieg vergewaltigte Frauen und Mädchen auf. Kurz danach gründete
6
Kurzviten
tig Gastwissenschaftler für die Stiftung Wissenschaft und
Politik (SWP). Seit 2008 arbeitet Ruttig als Autor und unabhängiger Analyst. Er spricht Pashto und Dari.
Dr. Ute Scheub, Journalistin und Frauenrechtsaktivistin
Scheub ist Schriftstellerin, Journalistin und Aktivistin. Sie
ist Mitbegründerin der taz, des Frauensicherheitsrates
sowie des Vereins Scheherazade, der in Afghanistan Projekte für Frauen und Kinder durchführt. Zudem ist sie europäische Koordinatorin der 1000 Friedens-Frauen Weltweit. Ihr aktuelles Buch ist unter dem Titel "Gute Nachrichten! Wie Frauen und Männer weltweit Kriege beenden und
die Umwelt retten" erschienen.
7
Einführungsvortrag
Einführungsvortrag
lang weitgehend ausgeschlossen gewesen. Das gilt für die
internationalen Afghanistan-Konferenzen in Bonn 2001,
London 2010, Tokio 2012 und Chicago 2012. Und auch im
eigenen Land konnten sich die Frauen beim Staatsaufbau
und in der Regierung nicht wirklich einbringen. Bei der Diskussion um die Zusammensetzung des Hohen Friedensrats
beispielsweise ist Frauen unterstellt worden, sie würden „zu
viel tratschen“. Auf internationalen Konferenzen wurde
ihnen von afghanischer Seite sogar der Zugang zum Mikrofon verwehrt.
Dr. Monika Hauser
Sehr geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung,
liebe Interessierte,
liebe Kolleginnen aus Afghanistan, Vida und Zarghona,
ich begrüße Sie und Euch sehr herzlich heute zu dieser Tagung.
Viele Erwartungen sind bei den afghanischen Frauen von
Seiten der internationalen Staatengemeinschaft geweckt
worden, als diese 2001 nach dem Sturz der Taliban in Afghanistan einmarschierten. Aber zu keiner Zeit in all den
Jahren ihres fragwürdigen Engagements waren die Verbesserung und Verwirklichung der Frauenrechte ernsthafte
Anliegen. Im Rückblick müssen wir sagen, dass es den internationalen Akteuren in Afghanistan stets um die Realisierung eigener Interessen ging – und nicht wirklich um
jene der afghanischen Bevölkerung.
Natürlich müssen wir in der praktischen Umsetzung fragen:
Wie können Frauen partizipieren, wenn sie im Alltag unterdrückt und ihrer Rechte beraubt werden? Welche Chance
kann ein nachhaltiger Frieden in Afghanistan überhaupt
haben, wenn Frauen dort immer wieder systematische Gewalt erfahren? In den letzten Monaten sind Fälle von extremer Gewalt gegen Mädchen in den Medien öffentlich gemacht worden – doch wir wissen, dass dies keine Einzelfälle sind, sondern dass geschlechtsspezifische sexualisierte Gewalt in der Gesellschaft tief verankert ist. Das zeigt
sich auch in der täglichen Arbeit von Medica Afghanistan.
Aus Sicht von medica mondiale wurde eindeutig die falsche
Strategie zur Befriedung des über Jahrzehnte vom Krieg gebeutelten Landes gewählt – die Strategie des militärischen
Primats. Von Beginn an wurde vom männlich geprägten militärischen Sicherheitsbegriff ausgegangen, in dem es um
Sieg oder Niederlage ging, um Terrorismus-Bekämpfung
und nicht um Demokratisierung, sondern um eine Intervention im Rahmen des „Krieges gegen den Terror“. Im
Rückblick sehen wir, wie sehr gerade Frauenrechte dafür
instrumentalisiert wurden. Frauenrechte waren von Anfang
an nur ein Vorwand der internationalen Gemeinschaft zur
Legitimierung ihres militärischen Einsatzes.
Die afghanische Regierung ist nicht fähig, Sicherheit und
Menschenrechte für ihre weibliche Bevölkerung zu gewährleisten, ebenso wenig hat die internationale Gemeinschaft – trotz vollmundiger Bekundungen und Argumentation für die Intervention – ihre Versprechungen der letzten
zehn Jahre eingelöst.
Es besteht kein politischer Wille und es fehlt an der nötigen Ernsthaftigkeit, Frauenrechte wirklich umzusetzen: Misogyni, Frauenfeindlichkeit und die Geringschätzung von
Frauen sehen wir auf allen Ebenen von der Regierung bis
zur Familie.
Zusätzlich fatal ist, dass die Kosten für den Militäreinsatz
über die Jahre im Vergleich zu den Kosten des zivilen Wiederaufbaus ins Unermessliche stiegen.
Die staatlichen Instrumente sind äußerst schwach, um der
Frauenverachtung und sexualisierten Gewalt wirksamen
Einhalt zu gebieten, da gute Regierungsführung, Justizaufbau und Sicherheitsorgane nicht ernsthaft aufgebaut und
entwickelt wurden.
Doch der Schutz und die Beteiligung von Frauen sind nicht
nur eine Frage der Menschenrechte, sondern wie Studien
zeigen, auch Voraussetzung für die Schaffung eines nachhaltigen Friedens. Die UN-Sicherheitsratsresolutionen
1325 und 1820 formulieren es deutlich: Die Anerkennung
der Rechte von Frauen und Mädchen in Kriegsgebieten ist
eine unangefochtene Notwendigkeit für die internationale
Sicherheit und den Weltfrieden.
Die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft hat
hier versagt:
Menschenrechte sind unteilbar und nicht verhandelbar:
Das heißt, es kann keinen Frieden geben ohne die gerechte
Teilhabe von Frauen.
So hat sie auf Politiker aus alten Macht-Eliten gesetzt, die
ihre Politik auf Machterhalt und Kontrolle ausgerichtet
haben, verbunden mit den für sie idealen Möglichkeiten zur
Korruption. Auch haben diese Männer kein Interesse an der
Aufarbeitung der Kriegsverbrechen.
Trotz dieser Resolutionen und trotz stichhaltiger Erkenntnisse sind Frauen vom Friedensprozess und den internationalen Geber- beziehungsweise NATO-Konferenzen bis-
Die so hilfreiche UN-Resolution 1325 wurde sträflich ignoriert. Aber nur wenn Frauen wirklich partizipieren, kommen
ihre frauen- und friedenspolitischen Inhalte überhaupt vor,
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Einführungsvortrag
Während der Tagung möchten wir mit Ihnen gemeinsam
nach möglichen Perspektiven für eine friedliche Zukunft
Afghanistans suchen. Die übergeordnete Frage dabei lautet: Weshalb hat Gewalt gegen Frauen in Afghanistan so
verheerende Auswirkungen auf die Schaffung eines nachhaltigen Friedensprozesses? Die Ergebnisse werden wir in
unserer weiteren Arbeit einsetzen – in der Kooperation mit
politischen Stellen in Berlin oder Brüssel und für die Unterstützung der Kolleginnen in der konkreten Projektarbeit.
Während der Tagung möchten wir mit Ihnen gemeinsam
nach möglichen Perspektiven für eine friedliche Zukunft Afghanistans suchen. Die übergeordnete Frage dabei lautet:
Weshalb hat Gewalt gegen Frauen in Afghanistan so verheerende Auswirkungen auf die Schaffung eines nachhaltigen Friedensprozesses? Die Ergebnisse werden wir in unserer weiteren Arbeit einsetzen – in der Kooperation mit
politischen Stellen in Berlin oder Brüssel und für die Unterstützung der Kolleginnen in der konkreten Projektarbeit.
und nur dann können sie für deren ernsthafte Umsetzung
sorgen.
Nur wenn die weibliche Bevölkerung adäquat geschützt
wird, hat sie die Chance zur Bearbeitung ihrer Traumata
und zur eigenen Entwicklung und Entfaltung. Das sind wichtige Voraussetzungen für ihre aktive Beteiligung am Wiederaufbau und am öffentlichen Leben überhaupt. Auf Generationen hinaus!
Wir haben die Initiative zu dieser Tagung ergriffen, weil
2014 der Truppenabzug aus Afghanistan bevorsteht. Wie
gesagt, die internationale Gemeinschaft hat ein Jahrzehnt
lang die falsche Strategie gefahren, nur um jetzt einen weiteren Fehler zu begehen, indem sie sich zurückzieht, ohne
ihren Job gemacht zu haben. Auch wenn sie behauptet,
jetzt verstärkt auf zivilen Wiederaufbau zu setzen, müssen
wir uns fragen, wie glaubhaft diese Absicht ist.
9
Thomas Ruttig
Die aktuelle Lage in Afghanistan und
der Stand des Friedensprozesses –
Im Spannungsfeld von regierungsamtlicher Berichterstattung und Realität
„on the ground“
gierungen nicht einmal aufgegriffen).
Das signalisiert: Der Abzug ist Teil der Innenpolitik in den
westlichen Truppenstellerländern; mit der Realität in Afghanistan hat er immer weniger zu tun. Selbst ehemalige
hochrangige NATO-Funktionäre bestätigen das. In einem
Gastbeitrag für die Financial Times (8.1.2013) schreiben
der frühere NATO-Generalsekretär George Robertson und
ein ehemaliger US-Vertreter bei der Allianz, Kurt Volker, die
Übergabe der Sicherheitsverantwortung „ist ein Instrument
dafür geworden, unseren Abzug zu ermöglichen, nicht um
Afghanistans Zukunft zu sichern“. Und sie verlangen einen
„Plan B“, der sich „an substanziellen Zielen“ wie dem Erhalt der Menschenrechte und nicht am Abzugszeitpunkt orientiert.
Thomas Ruttig
Politische und militärische Rahmenbedingungen
Elf Jahre nach der Intervention der westlich geführten internationalen Staatengemeinschaft in Afghanistan befinden wir uns jetzt in der Phase der Transition. In den Vereinbarungen zwischen den westlichen Regierungen – in
diesem Fall interessanterweise vertreten durch die NATO –
und der afghanischen Regierung wird das als Rückübertragung der „Verantwortung“ im politischen wie militärischen Bereich an die afghanische Regierung sowie Herstellung ihrer „vollständigen“ Souveränität definiert. Das
impliziert: Bisher war die NATO hauptverantwortlich für das
Geschehen in Afghanistan – trotz gegenteiliger Beteuerungen, die sich in der Floskel des „Afghan lead“ (afghanische
Führung) niederschlugen, und die Regierung Karzai war
alles andere als souverän.
Im Grunde wird Afghanistan nach 2014 mit einer langen
Reihe halb- und ungelöster Probleme zurückgelassen – ein
Beispiel enormer politischer Verantwortungslosigkeit.
Dabei geht es nicht nur um die zweifelhafte Leistungsfähigkeit der afghanischen Streitkräfte (die man allerdings
auch nicht anhand der Kriterien aus konventionellen NATOHandbüchern messen sollte), sondern mindestens ebenso
um die staatlichen und politischen Institutionen. Wie die
norwegische Afghanistan-Kennerin Astri Strand schreibt:
Nach 2014 droht Afghanistan „ein Land mit schwachen Institutionen und einer Menge bewaffneter Männer“ zu sein.
Das ist eine bedrohliche Mischung.
Inzwischen haben im Transitionsprozess die militärischen
Aspekte die politischen fast vollständig in den Hintergrund
gedrängt. Im Mittelpunkt steht die Diskussion um den
Abzug der etwa noch 100.000 ausländischen Kampftruppen aus Afghanistan und um den Charakter der bereits vereinbarten NATO-Nachfolgemission, „Resolute Support“. Es
wird auch darüber debattiert, ob die Taleban wieder an die
Macht gelangen könnten, ob die quantitativ extrem ausgeweiteten Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte ihnen
nach 2014 Paroli bieten können und wie viele Container
mit Ausrüstungen der ISAF-Truppen in welchem Zeitraum
wie zurück in die Heimat transportiert werden können.
Aber was nicht sein darf, ist auch nicht. Deshalb wird in regierungsamtlichen Berichten weltweit zur Zeit ein Bild über
die Situation in Afghanistan gezeichnet, das nur Ausschnitte der Realität zeigt, viel Problematisches ausblendet und so tut, als ob die „Mission“ erfüllt sei. Es gibt keine
Probleme mehr, nur noch „challenges“, und da ist man natürlich bereits optimistisch und erfolgversprechend an der
Arbeit – während in der Praxis Disengagement praktiziert
wird.
Von dringend notwendigen politischen Reformen in Afghanistan – immer noch eines der ärmsten Länder der Welt
mit seit 2001 kaum verbesserten sozialen Indizes - ist währenddessen kaum noch die Rede. Die Umsetzung solcher
Reformen war jedoch ursprünglich Teil des Deals, wie er
auf den internationalen Afghanistan-Konferenzen im Dezember 2010 in Bonn und im Juli 2011 in Tokio vereinbart
worden war. Dabei war der Ende 2014 geplante Abzug der
NATO-Kampftruppen ursprünglich an Bedingungen geknüpft, was den Gesamtzustand der afghanischen Streitkräfte sowie Verbesserungen in der Regierungsführung betrifft („conditions-based“). (Reform-Forderungen werden im
Übrigen von der Karzai-Regierung inzwischen häufig als
„ausländische Einmischung“ deklariert, obwohl sie von großen Teilen der afghanischen Bevölkerung geteilt werden.
Diese Stärke ihres Arguments wird von den westlichen Re-
Wir befinden uns in Deutschland, deshalb sind die „Fortschrittsberichte“ der Bundesregierung zu Afghanistan dafür
ein treffendes Beispiel. Sie sind zwar zunehmend kritischer
geworden, aber formulieren immer noch viel zu vorsichtig,
um die dringend notwendige Konzentration auf die Frage
hervorzurufen, was bis Ende 2014 noch getan werden
kann, um die Voraussetzungen Afghanistans zu verbessern.
Im letzten Bericht heißt es etwa:
„Gute Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit sind
Ziele, deren vollständige Umsetzung noch aussteht; Amtsmissbrauch und Vorteilsnahme hemmen den Aufbau und
die Entwicklung Afghanistans.“1
1 http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/632316/publicationFile/174653/121128_Fortschrittsbericht_2012.pdf
10
Thomas Ruttig
in der Praxis dominiert die Sharia als Quelle der Rechtsprechung, obwohl sie laut Verfassung nur eine unter mehreren ist. Viele Richter wagen es einfach nicht, sich auf die
säkulare Gesetzgebung zu stützen, um nicht angreifbar zu
werden. Das führt dazu, dass gerade in Sachen Frauenrechte oft selbst von Offiziellen geltendes Recht in Frage
gestellt wird. Inzwischen verlangt der Ulema-Rat auch noch
exekutive Funktionen in diesem Sektor.
Das ist sicherlich richtig, aber viel zu vorsichtig ausgedrückt
und lässt zentrale Elemente der konkreten Sachlage ungesagt. (Hingegen sagt Bundesverteidigungsminister Thomas
de Maizière in einer Talkshow relativ ungeschützt, er traue
der Karzai-Regierung nicht.)
Zum afghanischen Parlament heißt es:
„Das afghanische Parlament hat in seiner noch kurzen Geschichte zunehmend an Selbstbewusstsein gewonnen.
Während sich insbesondere das Oberhaus zunächst als regierungstreue Institution verstand, fordern die Abgeordneten des Unterhauses im Rahmen ihrer Kontrollfunktion den
Präsidenten mittlerweile regelmäßig heraus. Das lässt sich
u. a. an den Debatten zur Haushaltspolitik der Regierung
ablesen. Das Parlament hat diese z. B. dazu genutzt, Rechenschaft von den Kabinettsmitgliedern einzufordern“.
Im Fortschrittsbericht heißt es weiter:
„Die Antikorruptionsbehörde HOOAC hat seit ihrer Gründung eine Reihe von Ermittlungen gegen offizielle Amtsträger eingeleitet.“
Auch das ist richtig, allerdings benötigt sie die Kooperation
des – ebenfalls vom Präsidenten eingesetzten – Generalstaatsanwalts. Der hat aber, nach Erkenntnissen des vom
US-Kongress eingesetzten Special Inspector General for
Afghanistan Reconstruction (SIGAR) im letzten Quartal
2012 „keinerlei signifikante Anti-Korruptions-Anklage oder
-Untersuchung veranlasst.“
In Afghanistan ist die Gewaltenteilung zwischen Exekutive,
Parlament und Justiz unausgewogen. Das Verhältnis wird
von der Übermacht der Exekutive bestimmt und diese Übermacht wächst. Afghanistan ist laut Verfassung ein gemischtes Präsidial- und parlamentarisches System mit
einem sehr starken Präsidenten. Aber das parteilose, deshalb heterogene und wenig systematisch arbeitende Parlament wird oft umgangen (oder manipuliert). Es hat zwar
Rechenschaft von Ministern eingefordert und einige sogar
zum Rücktritt gezwungen, in der Budgetdebatte jedoch
klein beigegeben. Daraus kann man ablesen, dass es zwar
Widerstand gegen bestimmte Elemente der Regierungspolitik gibt (vor allem wenn es um Budgetallokation in die Provinzen der Abgeordneten geht), der aber meist nicht zu Resultaten führt.
HOOAC-Chef Ludin äußerte letzten Herbst, er erfahre so wenige Reaktionen auf seine Arbeit von der Regierung, dass
man sein Amt auch auflösen könne. Afghanischen Medienberichten zufolge hat die Regierung im neuen Budget
keine Gelder für den Kampf gegen die Korruption eingestellt. Im Bericht der Bundesregierung steht auch nichts
über den anhaltenden systematischem Ämterkauf (außer
der allgemeinen Feststellung, dass „Amtsmissbrauch und
Vorteilsnahme“ existiere), vor allem in den Sicherheitskräften (Polizeichefs von Provinzen und Distrikten), die oft
mit erwarteten illegalen Einnahmen aus der Drogenwirtschaft verknüpft sind.
Das Kabinett besteht im Wesentlichen aus Platzhaltern und
Ausführungsgehilfen der aus dem Hintergrund agierenden
Warlords, dazu einer stärker werdenden „Fraktion“ junger
westlich ausgebildeter, aber politisch unerfahrener KarzaiAnhänger oder -Protegées. Eigentliches Machtorgan ist „der
Palast“, mit dem Präsidenten selbst und einem kleinen
Kreis engster Berater, von denen viele keine offizielle Position bekleiden und deshalb über keinerlei demokratische
Legitimation verfügen. Neben einigen offiziellen Beratern
gehören dazu vor allem die Runde der „Jihadi-Führer“ (die
Chefs der inzwischen in Parteien verwandelten Mudschahedin-Fraktionen, die eher militärisch-politische Netzwerke
sind) sowie der – offiziell als Nichtregierungsorganisation
firmierende, aber von der Regierung budgetierte Oberste
Rat der Islamischen Geistlichen (Ulema); beide Kreise überlappen sich, vor allem bei den einflussreichsten Individuen.
Zu den Medien heißt es im Fortschrittsbericht:
„Wichtige Kontrollfunktion hat die im regionalen Vergleich
gut entwickelte Presselandschaft inne; sie wächst immer
mehr in ihre Rolle als vierte Gewalt hinein.“
Das geht vollständig an den letzten Trends vorbei. Die wirklich unabhängigen Medien dünnen wegen des seit mehreren Jahren anhaltenden – und berichteten! –Schwunds an
externer Finanzierung aus (eine Eigenfinanzierung in Afghanistan ist illusorisch). Viele dieser Medien mussten zahlreiche Mitarbeiter entlassen. Hingegen florieren Warlord-finanzierte Medien (die sich ebenfalls „unabhängig“ nennen), die sich auf die undeklarierte und illegale Finanzierung wohl aus Nachbar- und regionalen Staaten verlassen
können. Im Rest der Medienlandschaft greifen Kommerzialisierung, inhaltliche Verflachung und Entpolitisierung
oder, in einigen Fällen, einseitige politische Parteinahme
um sich. Generell dürften gerade die Printmedien (obwohl
weniger verbreitet als elektronische) im regionalen Ver-
Die Justiz ist nicht unabhängig. Ihre wichtigste Institution,
der Oberste Gerichtshof, wird vom Präsidenten ernannt.
Zudem werden die Gerichte politisch instrumentalisiert, vor
allem in zentralen Fragen wie der Wahlgesetzgebung, und
11
Thomas Ruttig
gleich sehr schlecht abschneiden. Mangelnde Professionalität verbindet sich mit mangelnder Transparenz und eingeschränktem Zugang zu Informationen (gerade auf Regierungsseite) sowie wiederholten Zensurversuchen, gewaltsamen Übergriffen und verbreiteter Tabuisierung von
Themen.
Menschen-/Frauenrechten ist ein konstanter Kampf mit
Aufs und Abs um die kulturelle Hegemonie zwischen Konservativen/Islamisten und Moderaten. Die sinkende internationale Aufmerksamkeit für Afghanistan und sinkender
politischer Druck dürften ersteren zu gute kommen. Und
vor allem: Nicht nur der Widerstand gegen Gewalt gegen
Frauen hat zugenommen, sondern auch die Zahl solcher
Vorfälle, sagen afghanische Frauenorganisationen sowie
die AIHRC.
Weiter im Fortschrittsbericht:
„Die afghanische Zivilgesellschaft tritt inzwischen mit großem Selbstbewusstsein als Kontrollinstanz gegenüber der
afghanischen Regierung auf. Ihre Hauptforderungen –
Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte und Korruptionsbekämpfung – decken sich mit denen der internationalen Gemeinschaft.“
Wenn der Fortschrittsbericht der Bundesregierung feststellt:
„Die Menschenrechtslage in Afghanistan hat sich seit dem
Sturz der Taliban erheblich verbessert, bleibt aber trotz aller
Fortschritte schwierig.“
Diese Feststellungen treffen höchstens auf Teile der Zivilgesellschaft zu. Wie bei den unabhängigen Medien herrscht
auch hier zunehmend politischer Druck, ein Trend zur Austrocknung der Finanzierung sowie – im Ergebnis – (erfolgreicher) Kooption von Teilen der Zivilgesellschaft durch die
Regierung, oft in Verbindung mit Mobilisierung auf ethnischer Grundlage.
...heißt das, dass nur ein Minimalziel erreicht worden ist?
Eine Verbesserung der Menschenrechtslage im Vergleich
zu den Taleban müsste sich von selbst verstehen. Allerdings herrscht in weiten Teilen des Landes eine institutionalisierte Warlord-Herrschaft. Gestützt auf ihre Schlüsselpositionen in Sicherheitskräften, Regierungs- und Verwaltungsstrukturen sowie in der Wirtschaft müssen die Warlords und ihre Verbündeten heute gar keine offene Gewalt
mehr ausüben.
Vor allem im Fall der Unabhängigen Menschenrechtskommission (AIHRC) – die eigentlich nicht zur Zivilgesellschaft
gehört, aber wegen ihrer umfangreichen ausländischenUnterstützung und Aufmerksamkeit oft deren Funktionen
übernehmen muss (etwa bei der unabhängigen Wahlbeobachtung, wo die AIHRC führend im Dachverband FEFA
mitarbeitet) – bemüht sich die Regierung, ihre Wirkung einzudämmen. Präsident Karzai hat Mandate der aktivsten
Mit-glieder jahrelang in der Schwebe gehalten (und die internationale Gemeinschaft hat sich nicht nachdrücklich
genug für sie eingesetzt), was dazu führte, dass sie sich zunehmend weniger unterstützt fühlten. Wegen ihrer – offiziell
mandatierten, aber immer noch nicht veröffentlichten –
„Kartierung“ von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zwischen 1978 und 2001 (in die viele heutige
Karzai-Verbündete, gleichzeitig Verbündete des Westens)
verwickelt waren, nehmen direkte Drohungen zu. Die Kommissionsvorsitzende spielt mit dem Gedanken, deshalb ihr
Amt niederzulegen.
Ein Beispiel aus der Provinz Balkh, in der nicht nur das von
der Bundeswehr geführte ISAF-Regionalkommando Nord
stationiert ist, sondern wohin inzwischen ein Großteil der
deutschen Entwicklungsgelder fließt:
„Mit der Regierungsmacht und finanziellen Ressourcen fest
in Attas Händen, kann der Gouverneur von Balkh die Medien kontrollieren, indem er sie entweder direkt besitzt oder
indem er Selbstzensur durchsetzt. Eine Anzahl lokaler Zeitungen ... die der Regierung und den Warlords gegenüber
kritisch waren, verschwanden ohne Erklärung.“2
Laut AIHRC ist von 2011 auf 2012 die Gewalt gegen Frauen
um 28 Prozent auf etwa 4.000 Fälle gestiegen. Das Ministerium für Frauenangelegenheiten dokumentierte 3500
Fälle. Der AIHRC zufolge waren darunter 70 „Ehrenmorde“
und 38 Vergewaltigungen (90 Prozent mit Kindern als
Opfer). Positiv daran ist wohl nur, dass diese Fälle systematischer an die Öffentlichkeit kommen.
Auch folgende Feststellung im Fortschrittsbericht der Bundesregierung ist bestenfalls ambivalent, wenn es über „ermutigende Entwicklungen“ heißt:
„Fälle von Gewalt gegen Frauen haben 2012 zu scharfen
öffentlichen Gegenreaktionen geführt.“
Das ist richtig. Erstmals gab es sogar Demonstrationen. In
einigen Fällen mussten sogar Minister und der Ulema-Rat
nach umstrittenen Äußerungen zurückrudern. Doch das
bleiben nach wie vor Einzelfälle; gerade der Schutz von
Insgesamt herrscht in Afghanistan nur der Anschein von
Demokratie und Pluralismus, die in der Verfassung verankert sind. Zu diesem Bild gehört auch, dass zwar politische
Parteien in hoher Zahl existieren, von den militärisch-politischen Mudschahedin-Netzwerken abgesehen sind sie
aber ohne wirklichen Einfluss geblieben – als Resultat innerer Schwächen, mehr noch aber aufgrund aktiver Aus-
2 Zitat aus einem AAN-Blog; siehe auch der BBC-Bericht ‘At the mercy of Afghanistan's warlords’, 27. Nov. 2012
12
Thomas Ruttig
grenzung (gesetzeswidrig sind bei Wahlen keine Parteienlisten zugelassen) sowie mangelnder internationaler Unterstützung. Trotz institutioneller Weichenstellungen durch
die Bonn 1-Konferenz Ende 2001 ist der demokratische
Prozess inzwischen weitgehend versandet. Regiert wird
nicht aufgrund demokratischer Debatten, sondern auf der
Grundlage von Patronage-Netzwerken einerseits und Ausgrenzung andererseits. Präsident Karzai herrscht (d. h. behauptet die Macht seiner informellen Koalition), regiert
aber nicht, das heißt in weiten Teilen des Landes mangelt
es weiterhin an den basic needs, und das nicht nur wegen
der schlechten Sicherheitslage. Zudem sind zumindest Elemente von State Capture durch mafia-ähnliche Netzwerke,
quer zu Ethnien und Fraktionen zu verzeichnen.
Prozent. Anfang des Jahres musste die Bundesregierung
dem Bundestag gestehen, dass wegen Verzögerungen von
Berichten der afghanischen Seite „etwa zehn Prozent“ der
Angriffe nicht in ihre Statistik eingegangen seien.
Jede landesweite Berichterstattung habe ohnehin „wenig
reale Bedeutung“, wenn sie nicht qualitativ die Lage in
Schlüsselgebieten betrachte, schreibt Anthony Cordesman,
Berater des republikanischen Senators John McCain und
derzeit beim Washingtoner Think Tank CSIS. Das tat SIGAR
John Sopko. Seinem letzten Bericht zufolge „kämpfen die
afghanische Regierung und die Schattenregierung der Taliban weiterhin um Kontrolle über Kandahar“, die Hochburg
der Taleban. Drei Schlüsseldistrikte unmittelbar vor den
Toren der Provinzhauptstadt (wichtige Ziele des US „surge“,
bei dem 2010-2012 zusätzliche 33.000 US-Soldaten eingesetzt wurden) stünden immer noch „weitgehend“ unter
Taleban-Kontrolle. In Kandahar-Stadt selbst explodierten
2012 69 Sprengsätze. In der Nachbarprovinz Helmand unterhalten die Taleban immer noch in „bestimmten Gegenden“ parallele Regierungsstrukturen. Laut Cordesman gibt
es „keinerlei Anzeichen“, dass ISAF und die afghanischen
Streitkräfte „jetzt gewinnen“.
Das Gesamtsystem Afghanistan ist extrem polarisiert: militärisch zwischen Taleban und NATO/afghanischer Regierung und politisch zwischen dem „Karzai-Lager“ und der
„politischen Opposition“, vorwiegend aus früheren Mudschahedin-Führern bestehend. Allerdings gibt es auch bestimmte politische und wirtschaftliche Verflechtungen zwischen beiden politischen (und selbst militärischen) Lagern.
Die Opposition ist aufgrund ihrer menschenrechtsverletzenden Vergangenheit alles andere als unbescholten und
deshalb keineswegs populär. Nicht zuletzt ist sie den Afghanen wegen ihrer misslungenen, von administrativer Unfähigkeit und Fraktionskriegen gekennzeichneten Regierungszeit 1992-1996 als Ursache für Aufstieg der Taleban
bekannt.
In Erwartung des Abzugs der NATO-Kampftruppen Ende
2014 haben die Taleban hingegen ihre Aktivitäten in weniger zentrale Gebiete verlagert. In den Ostprovinzen Kunar
und Nuristan hält die Regierung nur noch einige Garnisonen. In Nuristan bemerkten afghanische Behörden Mitte
Januar das Fehlen von 66 Polizeifahrzeugen und 2700
Schusswaffen, die wohl in Richtung Taleban verschwunden
sein dürften. In der Westprovinz Farah brachten Taleban in
den letzten Wochen fünf örtliche Polizei- und Geheimdienstchefs um, drei weitere Attentate scheiterten knapp.
Im Norden beschossen sie im Januar erstmals das Distriktzentrum von Marmal, nach dem der dortige zentrale
Bundeswehrstandort Camp Marmal benannt ist. Das afghanische Innenministerium meldet, täglich kämen sechs
bis zehn Polizisten bei Anschlägen ums Leben. Fortschritte
in der Sicherheitslage sind also Anzeichen der – wie Cordesman schreibt – „unvermeidlichen Tendenz“ von Regierungen, „ihre Politik zu verkaufen und dabei in Propaganda
abzurutschen“.
Zur Sicherheitslage vermerkt der Fortschrittsbericht der
Bundesregierung:
„Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt schwierig; sie hat
sich im Jahr 2012 weiter leicht verbessert, der bereits im
Vorjahr zu beobachtende Trend des Rückgangs an sicherheitsrelevanten Zwischenfällen (SRZ) setzte sich fort“ (um
ca. zehn Prozent).
Das blendet aus, dass der Vergleichszeitraum nicht nur das
Vorjahr sein kann, sondern auch die Gesamtperiode von
2002 bis 2010, die vor allem die Perzeption der afghanischen Bevölkerung bestimmt. Zwischen 2002 bis 2010 (v.
a. 2005-2010) aber kam es zu einer drastischen Zunahme
der SRZ, d. h. des Ausmaßes und Aktionsradius der Aufständischen. Und 2010 verzeichnete die mit Abstand
höchste Intensität der gewaltsamen Vorfälle seit 2002; seither hat sich dieses Niveau kaum verändert.
Trotz einer Eskalation des Vorgehens gegen die Taleban
sind die „regierungsfeindlichen Kräfte“ also weiter handlungsfähig und immer noch in allen Provinzen aktiv, wenn
auch auf zum Teil sehr unterschiedlichem Niveau. Das gilt
vor allem für die überwiegend paschtunisch besiedelten
Gebiete im Süden, Südosten und Osten des Landes, wo die
Taleban besonders aktiv sind. Der US „surge“ hat nichts gebracht. Zudem verfügen die Taleban nach wie vor über Pakistan als Rückzugsraum, Operationsbasis und politischen
Rückhalt.
Dabei können sich ISAF (auf deren Angaben beruhen die
Berichte der Bundesregierung) und das Verteidigungsministerium des wichtigsten Truppenstellers USA selbst quantitativ nicht einmal darauf einigen, wie sich die Sicherheitslage wirklich entwickelt. Der letzte Pentagon-Bericht
konstatiert für 2012 einen Anstieg „vom Feind initiierter Angriffe“ um ein Prozent; ISAF meldet ein Sinken um sechs
13
Thomas Ruttig
Ein Rückgang der Aktivitäten – etwa in der bis vor kurzem
im Bundeswehr-Verantwortungsbereich befindlichen Provinz Kunduz – ist wahrscheinlich nicht dauerhaft, sondern
durch Ausweichmanöver bestimmt. Nach wie vor gibt es in
Afghanistan kaum Gebiete (inklusive Kabuls), wo man nicht
erwarten müsse, dass die Taleban irgendwann zuschlagen
könnten. Dabei ist es irrelevant, ob sie Territorium halten
können (oder wollen) oder Mittel der asymmetrischen
Kriegführung (Guerilla- und terroristische Taktiken) einsetzen, solange sie die Stimmung in der Bevölkerung beeinflussen.
che Gespräche ebenso ab (und hat ihre Position sogar verhärtet) wie große Teile der Zivilgesellschaft. Hintergrund ist,
dass keine der beteiligten Kräfte wirklich eine Machtteilung
will, weil notwendige Kompromisse mit Einflussverlusten
verbunden wären. Nur öffentlicher Druck in Afghanistan,
unterstützt durch die internationale Gemeinschaft, kann
solch einen Ansatz befördern. Hier aber beißt sich die Katze
wieder selbst in den Schwanz: „Transition“ und nachlassender politischer Wille, sich in Afghanistan weiter zu engagieren, verschlechtern die Rahmenbedingungen.
Zudem ist das Sicherheitsgefühl für die Afghanen und die
Truppen unserer Länder (sowie anderer externer Akteure
wie UN oder NGOs) unterschiedlich. Die Aussagen deutscher Politiker, die Sicherheitslage in Afghanistan habe sich
2012 verbessert, weil kein einziger deutscher Soldat getötet worden ist (an sich natürlich positiv), ist deshalb nicht
nur zynisch, sondern ein deutliches Beispiel, welchen Stellenwert oft die afghanische Bevölkerung genießt: Null. (Die
zivilen Opfer des Konflikts nahmen 2012 weiter zu.)
Die Nato in Afghanistan nach 2014
Während die derzeitige NATO-Mission ISAF Ende 2014 ausläuft, ist bereits vereinbart, dass es eine neue NATO-Mission unter dem Namen „Resolute Support“ geben wird. Wie
viel Personal sie umfassen wird, ist bisher nicht bekannt.
Ursprünglich sollte sie ANTAAM heißen – Afghan Nato Training, Advisory and Assistance Mission – und damit deren
wichtigste Aufgaben umschreiben. Doch nach dem bereits
erwähnten green-on-blue-Angriffen musste die Trainingskomponente der Mission deutlich reduziert werden; daher
vermutlich der vagere Name der Mission. Nach Medienberichten soll die neue Mission die afghanischen Streitkräfte
(ANSF) in wichtigen regionalen Armee- und Polizei-Kommandostellen beraten, mit einer „minimalen Gefechtsrolle“.
Dafür sollen bis zu acht neue Einheiten – sog. security force
assistance brigades mit je 1.400 bis 2.000 Soldaten – gebildet werden.
Friedensprozess
Einen Friedensprozess gibt es bisher nicht, nur Versuche,
ihn in Gang zu bringen. Die sind über einige Vorgespräche
nicht hinausgekommen. Diese stocken immer wieder, erschwert durch die Existenz paralleler, oft rivalisierender Initiativen.
Der von Deutschland initiierte und an die USA übergebene
Qatar-Prozess, ein Versuch, die Taleban-Führung aus ihrer
Abhängigkeit von Pakistan zu lösen, stockt seit März 2012.
Damals waren die im Wahlkampf befindlichen USA nicht in
der Lage, bestimmte Zusagen in einem angestrebten Gefangenenaustausch umzusetzen. Die Taleban zogen sich
zurück. Pakistan versucht, durch gezielte Freilassungen einzelner Taleban (verbunden mit der Manipulation bestimmter Taleban-Fraktionen) sein letztes Wort in möglichen Gesprächen zu sichern. Solange die verschiedenen Stränge
nicht zusammengeführt werden, bleiben die Chancen
selbst für eine enge politische Lösung – das heißt eine
Übereinkunft zwischen afghanischer Regierung (und USRegierung) und Taleban – illusorisch.
Dazu sollen „einige Special Operations Forces-Berater“ aus
verschiedenen NATO-Ländern kommen; aber es ist bisher
unklar, ob diese der regulären NATO-Mission unterstellt
oder gesondert aktiv werden sollen. (Eine Wiederaufnahme
der unmittelbar nach 2001 geteilten Mission – ISAF und
Operation Enduring Freedom (ebenfalls v. a. Special Forces) – scheint wahrscheinlich.) Daneben wird es wohl eine
kleinere, bilaterale US-afghanische Anti-Terror-Streitmacht
„mit einem Auge auf al-Qaeda“ geben, deren Grundlage bereits im vergangenen Jahr gelegt wurde.3
Die nächste Präsidentenwahl
Wenn am 5. April 2014 die nächste Präsidentschaftswahl
stattfinden wird, wollen die dann noch in Afghanistan stationierten ISAF-Truppen – im Gegensatz zu 2009 – keine
Rolle bei deren militärischer Absicherung spielen. Währenddessen hat sich auch die UNO aus dem politischen
Prozess um die Wahlen bereits verabschiedet und will nur
technische und finanzielle Hilfe leisten. Das wird nicht dazu
beitragen, dass die Qualität dieser für die Zukunft Afghanistans weichenstellenden Wahl gesteigert werden kann.
Ein richtiger Ansatz wäre inklusiv, alle relevanten politischen und sozialen Kräfte Afghanistans einbeziehend, einschließlich der Zivilgesellschaft. Daran sowie an einem nationalen Konsens, ob und mit welchem Ziel Taleban-Gespräch geführt werden sollten, fehlt es bisher. Der wurde
durch die vom Präsidenten handverlesene Peace Jirga
2010 nur vorgegaukelt. Die politische Opposition lehnt sol-
3 http://www.aan-afghanistan.org/index.asp?id=3069
14
Thomas Ruttig
Dies genau aber wäre nach den Wahlen von 2009 und
2010 mit ihren massiven Manipulationen dringend notwendig. Gerade diese Wahlen, die erstmals führend von afghanischen Institutionen organisiert worden waren, waren
das beste Beispiel dafür, wie eine Übertragung der Verantwortung ohne entsprechende Vorbereitung aussieht.
„Das Wachstum der afghanischen Wirtschaft ist somit in
erster Linie externen Faktoren und nicht der eigenen Wirtschaftskraft des Landes zuzuschreiben.“
Aber ansonsten fehlen im Kapitel „Wirtschaftliche Entwicklung und Einkommen“ weitere soziale und wirtschaftliche Eckdaten. Stattdessen beschränken sich die Autoren
darauf, Ziele zu formulieren (offensichtlich ein indirekter
Hinweis auf einen Mangel an erwähnenswertem Positiven),
und auf Statistiken, welcher Sektor wie viel zur afghanischen Volkswirtschaft beisteuert, und auf Entwicklungsleistungen der Bundesregierung.
Gegenwärtig sperrt sich Präsident Karzai dagegen, dass
wie 2009 internationale Vertreter in der Wahlbeschwerdekommission (ECC) mitarbeiten. Entsprechend dem gegenwärtig vorliegenden Gesetzesentwurf wird die ECC sogar
ganz abgeschafft, zugunsten eines Wahlsondergerichts,
das Karzai 2010 per Dekret eingerichtet hatte, um die ECC
zu entmachten. Zurzeit versucht er zudem, die noch existierende relative Unabhängigkeit der Unabhängigen Wahlkommission (IEC) weiter einzuschränken. Auch seine Weigerung, einen IEC-Vorschlag aufzugreifen, eine Neuregistrierung der Wähler vorzunehmen und die bisher gebrauchten (und 2009/2010 in großer Zahl zu Manipulationen missbrauchten) Wählerausweise ungültig zu machen,
spricht eher dafür, dass die Manipulationen von
2009/2010 sich 2014 wiederholen werden.
Zu diesen Eckdaten gehört: Afghanistans Pro-Kopf-GDP hat
sich mit US$ 591 fast verfünffacht, liegt aber immer noch
deutlich hinter den Nachbarn (Indien 1389, Pakistan 1201,
Nepal 653, Bangladesh 678). Die oft als Erfolg zitierte Zahl,
dass nun 80 Prozent der Bevölkerung in nicht mehr als
einer zweistündigen Entfernung zur nächsten Gesundheitseinrichtung lebten, wurde inzwischen von der afghanischen Regierung auf 65 Prozent korrigiert. 38 Prozent der
afghanischen Schüler und Studenten sind Mädchen, 30 bis
39 Prozent aller Kinder besuchen keine Schule; nur 37 Prozent der Mädchen und 62 Prozent der Jungen können
lesen und schreiben.
Die Schwäche der existierenden Wahlinstitutionen sowie
die prekäre Sicherheitslage (in der oft ungehindert manipuliert werden kann; 2009 kamen die meisten Karzai-Stimmen aus unsicheren Gebieten ohne hohe Wahlbeteiligung)
werden kaum halbwegs faire Wahlen garantieren
Trotz einer 250-prozentigen Steigerung bei Energieversorgung haben nur zehn Prozent der Land- und 30 Prozent der
Stadtbevölkerung Zugang zu regulärer Energieversorgung
(bei galoppierender Entwaldung und Umweltverschmutzung, weil meist immer noch mit Holz oder mit Dieselgeneratoren Energie erzeugt wird). Über 80 Prozent der Beschäftigten sind in der Subsistenzlandwirtschaft tätig. 7,4
Millionen Afghanen sind so ernährt, dass sie nicht die notwendige Kalorienanzahl erhalten; 8,5 Millionen sind von
solch einer Situation nicht weit entfernt, also akut bedroht.
Das sind 16 Millionen der Gesamtbevölkerung von 25,5
Millionen (laut der Statistikbehörde des Landes CSO für
2012/2013). Nur 27 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu sicherem Trinkwasser, fünf Prozent zu sauberen
Sanitäreinrichtungen.
Erweiterung des Sicherheitsbegriffes
Eigentlich sollte es einen Binsenwahrheit sein: Sicherheit
kann nicht nur militärisch definiert werden. Menschliche
und soziale Sicherheit wie der Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung gehören ebenfalls dazu. Aufgrund der
Sicherheitslage ist der Zugang großer Teile der Bevölkerung
zu solchen Einrichtungen aber gefährdet und wohl rückläufig. Gerade Mädchen und Frauen wird der Zugang von
ihren Familien (auch wegen des sozialen Drucks) nicht
mehr ermöglicht. Schulen, Krankenhäusern und Kliniken
mangelt es vor allem außerhalb der wenigen großen Städte
oft an Ausstattung und Personal, die Qualität des Unterrichts ist sehr niedrig, wenn er überhaupt stattfindet. Viele
der immer noch schlecht bezahlten Lehrer sind abwesend,
nach wie vor existieren „Geisterschulen“, an die Gehälter
ausgezahlt werden, aber die nur auf dem Papier existieren
oder arbeiten. Zudem wird die afghanische Regierung nach
2014 Mühe haben, die sozialen Sektoren aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Zurzeit kommen noch über 95 Prozent
aller Staatsausgaben (mit dem überwiegend außerbudgetär finanzierten Sicherheitssektor) aus externen Quellen,
gleichzeitig stagnieren die Staatseinnahmen.
Generell haben die ausländische Intervention und Finanzierung zwar zu einem Wirtschaftswachstum von durchschnittlich neun Prozent nach 2001 geführt, gleichzeitig
aber zu einer rasanten sozialen Spaltung. Auch wenn darüber kaum statistische Angaben vorliegen (auch nicht im
Fortschrittsbericht), ist es in Afghanistan für jeden sichtbar,
dass eine dünne Schicht extrem reicher Afghanen entstanden ist, die sich immer mehr zu Monopolisten in der
Wirtschaft und im Immobiliensektor entwickeln und ihre finanzielle Macht dem ebenfalls de facto monopolisierten
Zugang zu den Großaufträgen verdankt, die das ausländische Militär vergibt.
Zwar bestätigt auch der Fortschrittsbericht der Bundesregierung:
15
Thomas Ruttig
Offiziell liegt Afghanistan auf dem Human Development
Index von UNDP Platz auf 175 (von 187 Ländern: 2012),
auf dem Gender Inequality Index auf Rang 147 von 148
Ländern (2012).4 Aber zum einen sind die dem zugrunde
liegenden offiziellen Statistiken zweifelhaft, zum anderen
handelt es sich nur um einen Durchschnittswert. Alle allgemeinen sozialen Kennziffern entsprechen immer noch
denen eines der am wenigsten entwickelten Länder (LLDC).
Der Zufluss von über 60 Milliarden US-Dollar seit 2001
sollte hier zu deutlicheren Verbesserungen geführt haben.
sche Kanäle ausgereichten „Entwicklungsgelder“ (hier werden deshalb bewusst Anführungszeichen gesetzt) liegt
dabei im unteren Bereich dieses Spektrums, macht aber
mehr als zwei Drittel der Gesamtsumme aus. Der CarnegieStiftung zufolge beträgt das Verhältnis der Ausgaben in Afghanistan zwischen zivilem und militärischem Sektor seit
2001 drei zu 97 Prozent.
Meine Folgerung aus dem Gesagten lautet: Die Verantwortung für das weitreichende Scheitern des Wiederaufbaus
und der Stabilisierung Afghanistans seit 2001 liegt vor
allem an der Art und Weise des internationalen Engagements, ohne dass den afghanischen Eliten eine erhebliche
Mitverantwortung abgesprochen wird. In Folge dessen
leben die Afghanen, in ihrem breiten politischen Spektrum,
von der Regierung über die Zivilgesellschaft bis zu den „einfachen“ AfghanInnen, heute nicht unter Rahmenbedingungen, in denen sie nur annähernd gleichberechtigt und demokratisch Konzepte für die Zukunft ihres Landes entwickeln können. Es wäre deshalb eine Illusion anzunehmen,
dies würde nach dem Abzug der westlichen Kampftruppen
Ende 2014 geschehen.
Dass diese nicht eingetreten sind, hat viele Ursachen. Hier
seien abschließend nur zwei, miteinander eng verbundene
genannt: Erstens, die Ineffektivität des Einsatzes der Wiederaufbaugelder und zweitens die systemische Korruption,
inklusive massiver illegaler Kapitaltransfers ins Ausland
durch Afghanen. Afghanistan wird auf dem Index von Transparency International auf Platz 180 (von 182 Ländern) geführt. Auf der anderen Seite sind von den seit 2001 zugesagten über 60 Milliarden US-Dollar (einige Zahlen gehen
sogar bis zu 90 Milliarden) nur ca. 45 Milliarden auch ausgezahlt worden; deren „local impact“ betrug laut Weltbank
aber nur 14 und 25 Prozent. Der Impact der über militäri-
4 http://hdrstats.undp.org/images/explanations/AFG.pdf. UNDP verweist darauf, dass aufgrund veränderter Kriterien Vergleiche mit Vorjahren nicht
möglich sind.
16
Sajia Begham
Afghanische Frauen und ihre Rechte
nach dem Sturz der Taliban
schenrechtskommission eingerichtet, die sich mit Frauenrechten auseinandersetzt. Eine weitere Kommission soll
gegen Vergewaltigungen vorgehen.
Sajia Behgam
Einführung
Die Frauen in Afghanistan haben in den vergangenen Jahren viel Gewalt erlebt. Trotzdem haben sie nicht aufgehört,
für ihre Rechte zu kämpfen. Nun versuchen sie, Gleichheit
in der Gesellschaft zu erlangen. Bislang haben sie mit den
Männern Schulter an Schulter einige Ziele erreicht. Im
Laufe der Geschichte haben afghanische Frauen immer
wieder Leiden auf sich geladen und dennoch gekämpft.
Trotz dieser Schwierigkeiten tragen sie eine hohe Verantwortung für den Haushalt, die Erziehung der Kinder und die
Familienwirtschaft. Sie unterstützten ihre Familien während
des Krieges und in politischen Auseinandersetzungen. Sie
partizipieren an politischen Angelegenheiten.
Positive Entwicklungen in der Zivilgesellschaft
Zahlreiche Mädchen und Frauen schafften es, eine Schule
oder Hochschule zu besuchen und ihr Studium abzuschließen. Die Bildungsprogramme des Staates ermöglichten zahlreichen Frauen, innerhalb und außerhalb Afghanistans zu studieren. So gab es Stipendien für Frauen und
junge Mädchen zur Ausbildung im Ausland. 2006 wurde
der Zivilgesellschaft ein Mitbestimmungsrecht bei Frauenrechtsfragen zugesprochen. Die Frauenrechtsaktivistinnen
haben es trotz großer Hürden geschafft, sich für die Gleichberechtigung von Frau und Mann einzusetzen. Nun können
Frauen im Medienbereich arbeiten. Nach langer Zeit haben
sie Zugang zur Kino-(Film)produktion erhalten. Bei Parlamentswahlen haben Frauen hohe Einsatzbereitschaft gezeigt. Frauen haben Räte gegründet und nehmen an gesellschaftlichen Aktivitäten teil. Sie sind mit kleinen Programmen in Handelsaktivitäten eingestiegen. All das wurde
in den letzten zehn Jahren mit der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft erreicht, die zur Verbesserung
der Frauenrechte beigetragen hat.
Wenn wir über die Rechte der afghanischen Frauen nach
dem Sturz der Taliban in den letzten elf Jahren sprechen,
können wir diese Zeit in zwei Bereiche unterteilen: Der
erste Zeitabschnitt 2002 bis 2006 und die zweite Phase,
die 2007 begann und bis heute andauert. In der gesamten
Zeit sammelten wir positive und negative Erfahrungen.
Nach dem Sturz der Taliban 2002 begann die so genannte
„goldene Ära“ der afghanischen Frauen, denn sie erhielten
wieder Zugang zu den Bildungseinrichtungen, konnten in
Hochschulen Wissen erwerben und sogar außerhalb des
Hauses arbeiten. Auf der anderen Seite achtete die internationale Gemeinschaft genau auf die Rechte der afghanischen Frauen, damit sie in den Gesetzgebungen, Bestimmungen und Strategien ihren angemessenen Platz erhielten.
Aber die große Frage lautet: Sind die erreichten Ziele
genug? In welcher Relation steht das Erreichte zu den Fördergeldern der internationalen Gemeinschaft? Viele Programme wurden schlecht koordiniert; dadurch war es
schwierig, bestimmte Ziele zu erreichen. So können wir
feststellen, dass die Rollenveränderung der afghanischen
Frauen oft nur symbolisch ist, aber nicht darüber hinaus
geht.
Wenn wir kurz auf die erreichten Ziele der vergangenen
zehn Jahre eingehen, können wir Folgendes feststellen:
Das Grundgesetz von Afghanistan wurde verabschiedet.
Die Partizipation von Frauen im Parlament wurde gefördert;
Frauen übernehmen nun auch Führungsfunktionen in
staatlichen Einrichtungen. Die Millenium Development
Goals (MDGs – UN Entwicklungsziele bis zum Jahr 2015)
wurden unterzeichnet. Afghanistan hat eine nationale Entwicklungsstrategie und eine Gender-Strategie entworfen
und verabschiedet. Sie spricht Frauen viele Rechte zu und
wurde in die Programme aller Ministerien aufgenommen.
In den verschiedenen Ministerien gibt es Gender-Vertretungen zur Verwirklichung des nationalen Gender-Aktionsplans. Ein wichtiges Ziel ist es, die Gewaltanwendung gegen
Frauen zu verhindern.
Probleme und Herausforderungen
Das Fehlen von Sicherheit und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind die Hauptprobleme der afghanischen Frauen.
Diese führen zur Gewaltanwendung gegen Frauen und verhindern die Entwicklung der Frauenrechte. Afghanistan hat
zwar gute und zahlreiche Gesetze verabschiedet, aber die
meisten werden nicht in der Praxis umgesetzt, insbesondere wenn es um Frauenrechte geht. Staatliche Einrichtungen, afghanische Nichtregierungsorganisationen und
die internationale Gemeinschaft koordinieren ihre Programme nicht richtig, teilweise beeinträchtigt Konkurrenz
untereinander die Arbeit. Viele Projekte sind in einigen wenigen Provinzen konzentriert, obwohl Frauen in allen 34
Provinzen Afghanistans leben. Manche Programme entsprechen nicht den Bedürfnissen afghanischer Frauen, anderen Vorhaben fehlt das Geld. Der afghanische Staat verfolgt keine klare Linie bezüglich des Gender-Programms
und der Frauenangelegenheiten. Die Partizipation von
Frauen ist oft nur symbolisch, das betrifft sogar die Parla-
Außerdem gründete die afghanische Regierung ein Ministerium für Frauen. Es wurde eine Kommission etabliert, die
der Gewalt gegen Frauen vorbeugen soll. Daran sind auch
andere Ministerien beteiligt. Zudem wurde eine Men-
17
Sajia Begham
mentarierinnen. Manchmal sind die Aktivitäten der Frauenrechtsaktivistinnen unkoordiniert. Die Gewalt gegen
Frauen nimmt in allen Lebensbereichen zu.
dass Frauen immer geopfert werden. Sie leiden daran, dass
Familienmitglieder im Krieg getötet wurden. Daher weiß
keine Gruppe der Gesellschaft den Frieden so zu würdigen,
wie Frauen es tun.
Aktuell stellen wir fest, dass die Rolle der Frau in der afghanischen Gesellschaft unbedeutender wird, obwohl
Frauen im „Höchsten Friedensrat“ sitzen. Sie haben dort
aber keine Entscheidungsbefugnisse, wenngleich Frauen
die Hälfte der afghanischen Gesellschaft bilden und die
ersten Kriegsopfer sind. Frauen können bei der Wiederherstellung des Friedens eine entscheidende Rolle spielen
und zur Lösung der Konflikte beitragen. Wenn wir aber an
Dorfbewohnerinnen denken, sehen wir, dass sie keine Konflikte lösen, sondern als Mittel der Konfliktlösung eingesetzt
werden. Auf der anderen Seite muss man hervorheben,
Wenn die internationale Gemeinschaft Afghanistan verlässt, die Taliban wieder an die Macht gelangen und eine
gemeinsame Regierung gebildet wird, werden die Frauen
erneut alle Rechte verlieren und in ihren Häusern eingesperrt. Dann können sie an politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten nicht mehr mitwirken. Zusätzliche Probleme werden auf die Frauen zukommen, dabei braucht
die Überwindung der bereits bestehenden Probleme schon
viel Zeit.
18
Zarghona Ahmadzai
Gewalt gegen Frauen in Afghanistan
Krieg erlebt hat. Fehlende Sicherheit und Krieg führten zur
Stilllegung der humanitären Entwicklungsprojekte, was in
der Folge Hunger verursachte. Alle 18 Sekunden wird in Afghanistan eine Frau zum Opfer von Gewalt. Gründe dafür
sind: Zwangsheiraten, Verkauf von Mädchen, Töten von
Frauen, die so genannten Ehrenmorde und das so genannte Tauschen von Frauen. Wenn zum Beispiel zwischen
Familien ein Disput besteht, wird eine Frau zur Streitschlichtung an die Gegenseite ausgeliefert. All dies sind
Beispiele der bitteren Lebensumstände afghanischer
Frauen. Allein im Oktober 2012 registrierte die Menschenrechtskommission etwa 550 Fälle der Gewaltanwendung
gegen Frauen, insgesamt waren die meisten Gewaltanwendungen in diesem Jahr gegen Frauen gerichtet.
Zarghona Ahmadzai
In Afghanistan dominieren die Männer. Es gibt keine Sicherheit, die Wirtschaft liegt am Boden. Die Umwelt ist zerstört, zahlreiche Krankheiten breiten sich aus. Der afghanische Staat unterstützt die Frauenrechtsprozesse nicht.
Langwierige Probleme wirken sich auf das Leben der
Frauen aus und stehen ihren Bedürfnissen entgegen: Gewaltanwendung in der Familie, Vergewaltigungen und Entführungen sind Probleme, die auf den Schultern der Frauen
ausgetragen werden und nach dem Krieg zugenommen
haben. Obwohl Zwangs- und Kinderheirat zentrale Faktoren sind, die zur Gewaltanwendung in der Familie führen,
bleiben die Gewaltprobleme, die vor allem kulturelle und
traditionelle Wurzeln haben, nicht darauf beschränkt. Es
gibt einige Ursachen, die zu Gewaltanwendungen führen
und die Rechte der Frauen und Mädchen am meisten beeinträchtigen: Die Dominanz der Männer, die Gesetzlosigkeit bzw. die mangelnde Anwendung der Gesetze, die Zerstörung der gesellschaftlichen schützenden Mechanismen,
Hunger und fehlende Sicherheit.
Die Frauen leiden unter den oben genannten Umständen,
obwohl sie eine große Rolle in der Familie und in der Gemeinschaft spielen. Beispielsweise schenken sie der Familie Ruhe und Wohlbefinden. Zusammen mit der Kindererziehung liegt es in der Verantwortung der Frauen, ihren
Familienmitgliedern das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu geben. Frauen ertragen viele Katastrophen und
stellen ihr eigenes Wohl zurück, damit die Zukunft der Kinder und Familie gewährleistet ist. Deshalb bedeutet die Gewaltanwendung gegen Frauen auch Gewaltanwendung
gegen die eigene Familie und Gemeinschaft.
Die Dominanz der Männer und die von Männern dominierten Systeme sind zwei der wesentlichen Faktoren, die die
Gewaltanwendung gegen Frauen hervorbringen. Das liegt
daran, dass die politische und kulturelle Macht in der Gesellschaft nicht gleichermaßen zwischen Männern und
Frauen aufgeteilt ist. Insbesondere wird gegen Frauen während der Kriege und wirtschaftlichen Krisen noch mehr Gewalt angewendet – Vergewaltigungen inbegriffen. Dies verursacht seelische und körperliche Beeinträchtigungen der
Frauen. All diese Faktoren führen dazu, dass Frauen ihre
Ruhe und Gelassenheit verlieren. Sie erleiden Traumata
und Angstzustände, die ihre seelische und körperliche Stabilität beschädigen.
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes haben die Frauen versucht, an verschiedenen Lebensbereichen aktiv teilzunehmen. Sie forderten das Wahlrecht ein, fanden Arbeitsplätze
und erzielten sogar Zugang zu Studieneinrichtungen. Obwohl sie im letzten Jahrzehnt Fortschritte erreicht haben,
war ihre Anteilnahme eher mit Angst und Opfern verbunden. Die Frauenrechte werden in weiten Teilen Afghanistans, insbesondere in den ländlichen Regionen, noch
immer nicht berücksichtigt. So wurde die Nachricht über
die Folter von Sahar Gul, einer 14-jährigen Braut, verbreitet.
Sie wurde von ihrem Ehemann in ein Gefängnis eingesperrt
und gefoltert. Es geht nicht allein um Sahar Guls traurige
Geschichte, sondern um das Schicksal der afghanischen
Frauen, das sich hier widerspiegelt. Auch einer anderen
Frau, die Aisha heißt, wurden die Ohren und die Nase abgeschnitten. Damals war sie 18 Jahre alt und lebte in einer
südlichen Provinz Afghanistans. Es gibt zahlreiche weitere
Beispiele für Gewaltanwendung gegen Frauen. Viele solcher Fälle werden an Medica Afghanistan weitergeleitet.
Heute bedingen die fehlende Sicherheit, traditionelle Gesellschaftsstrukturen, Unkenntnis über Gesetze und rechtliche Regulierungen gesellschaftliche Probleme. Außerdem
mischen sich die mächtigen Männer in alle Angelegenheiten des Landes ein und werden trotz Rechtswidrigkeiten,
die sie begehen, nicht zur Rechenschaft gezogen. Das erschwert die Anwendung der Gesetze. Ein weiteres Problem
ist das Fehlen von Gerichten in etwa 47 Regionen. Deshalb
werden in den Landesteilen die Gewalt- und Rechtsprobleme der Frauen nicht weiter verfolgt.
Medica Afghanistan ist eine nationale, nicht kommerzielle
und unabhängige Organisation, deren Ziel es ist, die Rechte
der Frauen und Mädchen zu verteidigen. Das heißt, sie
schützt die Rechte derjenigen Frauen, die durch Krieg oder
andere Formen der Gewaltanwendung gelitten haben. Medica Afghanistan bestärkt Frauen in ihren Rechten und
kombiniert dies mit der Bildung von Frauen auf gesell-
Es ist klar, dass Kriege und Krisen, insbesondere politische
Krisen, gesellschaftliche Schutzmechanismen zerstören,
wodurch die Frauen am meisten geschädigt werden. Inzwischen ist das Fehlen von Sicherheit ein Teil des afghanischen Alltags in einer Gesellschaft, die einen jahrelangen
19
Zarghona Ahmadzai
schaftlicher, gesundheitlicher und psychosozialer Ebene.
Medica Afghanistan leistet Beratungsdienste für einzelne
Frauen und für Frauengruppen in 15 Stadtteilen Kabuls.
Medica Afghanistan hat bereits Beratungsstellen in den Kabuler Stadtteilen fünf, sieben, elf und 13 sowie in Frauenhäusern, Frauengefängnissen, Kindererziehungseinrichtungen, Bagh Zanana (im Frauenpark), Krankenhäusern
von Rabia-Balchi und in der Abteilung der Stomatologie –
also in der Hals-, Nasen- und Ohrenklinik - gegründet, dort
bietet Medica Afghanistan psychologische Beratungen an.
Diese Beratungen kommen unter anderem denjenigen PatientInnen zugute, die unter chirurgischen Eingriffen und
dermatologischen Verbrennungen in Folge von Gewalt gelitten haben. Darüber hinaus bietet Medica Afghanistan in
den Provinzen von Herat und Mazar-e-Sharif Mädchen und
Frauen Beratungen und Unterstützung. Zur Projektarbeit
von Medica Afghanistan zählt das Engagement von Rechtsanwältinnen, die von Gewalt betroffene Frauen juristisch
vertreten. So war der Rechtsanwalt von Sahar Gul in der
Lage, deren Rechte zu verteidigen. Medica Afghanistan hat
dem Innenministerium empfohlen, Sahar Guls Ehemann
und Schwiegervater zu inhaftieren.
Staatsanwaltschaft, der Menschenrechtskommission in
Kabul und mit Frauenhäusern. Außerdem leistet die psycho-soziale Abteilung von Medica Afghanistan Aufklärungsarbeit für die traumatisierten Frauen und Mädchen,
damit sie sich in gefährlichen Situationen schützen können. Sie zeigt ihnen, wie sie weitere Gewalt verhindern können und welche anderen Anlaufstellen es gibt. Darüber hinaus versucht Medica Afghanistan, bei Familiendisputen
zu schlichten und die Frauen über ihre Verantwortung und
Rechte aufzuklären.
medica mondiale begann, sich 2001 in Afghanistan zu engagieren. Seit 2011 arbeiten wir als eigenständige Nichtregierungsorganisation unter dem Namen Medica Afghanistan. Zu unseren erreichten Zielen zählen: Direkte Dienstleistungen für traumatisierte Frauen und Mädchen, die
Opfer von Gewalt wurden; Verwirklichung eines gesellschaftlichen und gesundheitlichen Programms, durch das
Medica Afghanistan in 2630 Fällen individuell oder in Gruppen beraten hat. Außerdem haben wir gegenwärtig 359
Mandantinnen beraten und unterstützt: 120 in den Stadteilen fünf, sechs, sieben, elf und 13 in der Provinz Kabul.
Von 2003 bis heute haben wir 9123 Fälle wie folgt begleitet: 3172 Strafurteile, 1811 Freisprüche, 1220 abgeschlossene Fälle und 2630 Strafmilderungen. Weitere 76
Fälle sind noch in Bearbeitung. In 1556 zivilen Prozessen
wurden Beratungen geleistet und in 1475 Fällen wurde das
Verfahren abgeschlossen. Weitere 81 Fälle befinden sich
in Bearbeitung. 297 zivile Prozesse wurden geschlichtet
und die Probleme gelöst. Außerdem gab es 278 zivile Prozesse und 19 Strafprozesse, bei denen wir beraten haben.
Insgesamt haben wir 4595 Personen rechtlich beraten.
Dank der Hilfe von Medica Afghanistan wurden 82 Prozent
der Mandantinnen wieder in ihre Familien eingegliedert. Telefonisch und durch persönliche Besuche wurden 77 Prozent der Probleme nach der Wiedereingliederung gelöst.
Nach meinen 20-jährigen Erfahrungen, die ich mit den afghanischen Frauen hinsichtlich der Gewaltanwendung und
deren Folgen gesammelt habe, möchte ich Folgendes darstellen: Gewalt hat schädliche Auswirkungen auf die Psyche und Gesellschaft, sie führt zu Hoffnungslosigkeit, Depression und Angst. Drogenabhängigkeit und Suizid können die Folgen sein. Gewaltanwendung gegen Frauen zerstört ihre Bewegungsfreiheit, sie werden in Häusern eingesperrt und können sich nicht mit ihren Freundinnen, Bekannten und Verwandten treffen. Bildungsverbot, Zwangshandlungen wie Zwangsheiraten – bereits im Kindesalter
– und letztendlich das Auseinanderbrechen von Familien
sind Folgen der Gewaltanwendung gegen Frauen. Das kann
die Beziehung zwischen Mann und Frau spalten oder zu
Scheidungen führen. Ebenso setzt sich Gewalt gegen
Frauen in Gewalt gegen ihre Kinder fort, obwohl Kinder von
ihren Eltern, vor allem von ihren Müttern, viel Zuneigung
brauchen. Ohne Obhut und Schutz führt dies zu psychischen Erkrankungen und gestörten sozialen Bindungen,
was wiederum Drogenkonsum und Kriminalität fördert. Das
geht soweit, dass sich Frauen selbst verbrennen. In der Tat
ist die Selbstverbrennung der Frauen eine Trotzreaktion auf
die Gewaltanwendung. All diese Probleme beeinflussen die
Moral der Gesellschaft sehr negativ.
Zusätzlich haben wir ein Alphabetisierungsprogramm
durchgeführt. Unsere Dienstleistungen umfassten auch
Lehre, Kapazitätenentwicklung und Gerichtsbarkeit. So
wurden 440 Personen psychosozial und gesundheitlich beraten. Überdies wurden 143 Frauenrechtsaktivistinnen ausgebildet, damit sie gegen Vergewaltigungen effektiv vorgehen. Zusätzlich haben wir 35 RichterInnen, über 500 Polizisten und die WärterInnen in den Gefängnissen von Herat,
Kandahar, Mazar-e-Sharif fortgebildet. Medica Afghanistan
hat einen guten Ruf erworben, deshalb leiten andere Einrichtungen zahlreiche Fälle an uns weiter. Dadurch haben
wir von staatlicher und gesellschaftlicher Seite viel Lob erhalten. Wir arbeiten mit verschiedenen staatlichen Einrichtungen zusammen, um nachhaltige Erfolge zu erzielen. Wir
sind in den Einrichtungen des Gesundheitsministeriums
vertreten, wo ein Team sich um die seelische Genesung
und Beratung von Betroffenen kümmert.
Medica Afghanistan praktiziert in den folgenden Einrichtungen Schutzmaßnahmen für Frauen, gegen die Gewalt
angewandt wird: In zehn Polizeirevieren gibt es Beratungsstellen zur Lösung familiärerer Angelegenheiten. Sie gehen
auf die Probleme der beeinträchtigten Frauen und Mädchen ein. Zudem kooperiert Medica Afghanistan mit der
20
Zarghona Ahmadzai
Medica Afghanistan kooperiert auf nationaler und internationaler Ebene mit Organisationen, die in ähnlichen Bereichen tätig sind. Auch das Frauenministerium arbeitet mit
anderen Ministerien gegen die Gewaltanwendung gegen
Frauen. Obwohl wir und andere Organisationen einige Ziele
erreicht haben, wird immer noch vielen afghanischen
Frauen der Zugang zu den gesundheitlichen Diensten vorenthalten. Sie werden nur in den großen Städten angeboten. Wir empfehlen dringend, die Unterstützung auf die
ländlichen Regionen auszuweiten, damit die Gewaltanwendung reduziert wird. Denn die Fortführung dieser Gewalt
hat negative Auswirkungen auf die Friedensbemühungen.
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Gespräch
Zwischen Diplomatie und der Realität
afghanischer Frauen – Sichtweisen zur
deutschen Afghanistanpolitik
grenzt. Es gibt keine perfekte Lösung. Die Verhandelnden
müssen aus Afghanistan selbst kommen. Frauen sollten in
alle Politikbereiche integriert werden. Wir tun, was wir können, um Frauen an Verhandlungen zu beteiligen, aber diese
Entscheidung obliegt letztlich den afghanischen Verhandlungspartnern. Bildung sollte absolute Priorität haben auch für Männer, damit sie verstehen, warum Frauenrechte
wichtig sind. Das Verständnis für Frauenrechte bei den Mitarbeitern afghanischer Behörden muss verbessert werden.
Wir fördern zum Beispiel Projekte zur Ausbildung von Juristen und Polizisten. Zudem werden mehr Polizistinnen rekrutiert, was wiederum nicht ohne die Einbeziehung von
deren Familien in die Planung geht: Wir schaffen Betreuungsangebote für die Kinder dieser Frauen, und wir sprechen mit den Ehemännern, damit sie verstehen, wie wichtig die Arbeit dieser Frauen ist.“
Gespräch mit Erik Kurzweil, stellvertretender Referatsleiter
des Arbeitsstabs Afghanistan/Pakistan beim Auswärtigen
Amt
Gesprächsleitung: Sabine Fründt, freiberufliche Moderatorin
Sabine Fründt: „Welche Erkenntnisse zieht die Bundesregierung aus dem bisherigen Afghanistaneinsatz und wie
werden sie in die jetzige Strategie integriert?“
Erik Kurzweil: „Wir haben bereits viel erreicht. Das betrifft
zum Beispiel den Bildungsbereich, den Gesundheitssektor,
den Zugang zum Rechtswesen und die politische Partizipation. Insbesondere durch Bildung kann viel verändert
werden, deshalb haben wir vor allem in die Mädchenbildung, in die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern und
in Schulen investiert. Die Situation ist heute deutlich besser
als während der Talibanherrschaft. Noch nie war unser internationales Engagement durch eine so intensive Beschäftigung mit der Frauenfrage gekennzeichnet wie in Afghanistan, wir haben viel gelernt.“
Fründt: „Wie kann eine nachhaltige Friedenspolitik erreicht
werden?“
Kurzweil: „Bei Teilen der Taliban sehen wir Verhandlungsbereitschaft. Sie haben auch verstanden, dass es für sie
ohne die Gewährung eines Mindestmaßes an Frauenrechten keine Rückkehr zur Teilhabe an der Macht geben wird.
Wir wissen uns in unseren eigenen Bemühungen einig mit
unseren Partnern: US-Außenministerin Hillary Clinton hat
gerade Frauen- und Menschenrechte stets sehr engagiert
vertreten, nicht nur in Afghanistan.“
Fründt: „Wie können die Erfolge nach dem ISAF-Truppenabzug bewahrt werden?“
Fründt: „Wie wird die Sicherheit von Frauen in der Friedenspolitik erfasst?“
Kurzweil: „Die Taliban werden versuchen, das Rad zumindest teilweise zurückzudrehen, aber die Regierung von Afghanistan wird sich mit Hilfe der internationalen Staatengemeinschaft bemühen, den Forderungen der Taliban Einhalt zu gebieten. Die Einschätzung, nach dem Truppenabzug sei alles verloren, ist nach unserer Überzeugung falsch.
Die internationale Gemeinschaft bleibt mindestens für weitere zehn Jahre in besonderem Maße in Afghanistan engagiert, wobei die zivile Unterstützung hierbei eindeutig den
Schwerpunkt bilden wird. Allein die Bundesregierung wird
zunächst bis 2016 bis zu 430 Millionen Euro jährlich für zivile Hilfe ausgeben. Dadurch gibt es viele Chancen. Diese
Hilfe ist seit der Tokio-Konferenz an überprüfbare Indikatoren geknüpft. Das heißt, auch Afghanistan ist Verpflichtungen eingegangen, deren Einhaltung wir mit Nachdruck anmahnen werden.“
Kurzweil: „Frauenrechte sind Teil von sieben nicht verhandelbaren Kernpunkten, die Voraussetzungen für den Frieden bilden. Es besteht natürlich die Gefahr, dass die Frauenrechte vernachlässigt werden. Die Einbeziehung von
Frauen in den Friedensprozess ist wegen der Taliban
schwierig. Doch Frauen sind im hohen Friedensrat vertreten, zu allen großen Afghanistan-Konferenzen waren
Frauen eingeladen und in allen UN-Resolutionen zu Afghanistan sind Frauenrechte berücksichtigt. Dafür hat sich
Deutschland eingesetzt. In allen hochrangigen politischen
Gesprächen mit der afghanischen Regierung werden Frauenrechte thematisiert. Außerdem hat die Bundesregierung
den Vorsitz in der Internationalen Kontaktgruppe zu Afghanistan inne und kann dadurch Einfluss nehmen. Frauenrechte sind ein Querschnittsthema in der Bundesregierung,
und es gibt viele Beamte, die sich nicht nur im dienstlichen
Auftrag, sondern auch aus ihrer festen persönlichen Überzeugung heraus für die besondere Berücksichtigung von
Frauenrechten in unserer Afghanistanpolitik engagieren.“
Fründt: „Wie stellt die Bundesregierung sicher, dass Frauen
am zukünftigen Friedensprozess adäquat beteiligt werden
und Frauenrechte Bestandteil der Friedenslösung sind?“
Kurzweil: „Wir üben Einfluss auf die afghanische Regierung
aus, dabei sind die Verpflichtungen aus dem Tokyo Framework der Maßstab. Tatsächlich sind andere Druckmittel be-
Fründt: „Die UN-Resolution 1325 wurde im Jahr 2000 verfasst. Erst jetzt erstellt die Bundesregierung einen Natio-
22
Gespräch
nalen Aktionsplan, allerdings nur mit geringer Beteiligung
der Zivilgesellschaft. Wie ernsthaft ist das Bekenntnis zu
Frauenrechten?“
Beitrag aus dem Publikum: „Als Afghanin möchte ich klagen. Aber gegen wen? Wir wollten 2001 keinen Karzai und
Co., keine Warlords. Aber niemand hörte uns zu. Sie kamen
an die Macht. Es hieß, man hätte keine Alternative. Wenn
ich nun höre, die Ausgrenzung von Frauen aus Friedensverhandlungen sei alternativlos, ist das zum Verzweifeln.
Verhandeln Sie mit den Frauen! Fördern Sie die Koordination der Nichtregierungsorganisationen!“
Kurzweil: „Der Nationale Aktionsplan ist sehr umfassend
und wird für die gesamte Bundesregierung bindend sein.
Das betrifft auch den Fortbildungsbereich, etwa zu GenderThemen. Wir sprechen mit lauter Stimme für Frauenrechte.
Der Aktionsplan ist nach Konsultationen mit Vertretern der
Zivilgesellschaft erarbeitet worden.“
Kurzweil: „Wir stehen in engem Kontakt mit der Zivilgesellschaft und besonders auch mit Frauenrechtlerinnen
und Menschenrechtsanwälten in Afghanistan. Wir wollen
die Einbeziehung von Frauen in den Friedens- und Versöhnungsprozess und setzen uns dafür bei allen Konfliktparteien in Afghanistan entschlossen ein.“
Fründt: „Was tut die Bundesregierung, um den Sicherheitsbegriff zu erweitern und alternative Konfliktlösungsstrategien zu unterstützen? Wie trägt sie dazu bei, Bilder
von Männlichkeit zu verändern, die stark mit dem Militär
verknüpft sind?“
Fründt: „Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen waren
Frauen in besonderem Maß Opfer von Gewalt. Wie soll sichergestellt werden, dass dies nach dem Abzug der ISAF
nicht wieder stattfindet?“
Kurzweil: „Der Nationale Aktionsplan zur UN-Resolution
1325 geht weit über Fragen der militärischen Konfliktlösung hinaus. Das Problem sind Konfliktparteien, die keine
konsensualen, integrativen Konfliktlösungsstrategien wollen. Die Bundesregierung hat jedoch Partner in der Welt,
die so wie wir friedliche Lösungen für Konflikte zu fördern
suchen. In Afghanistan arbeiten wir zum Beispiel mit aufgeschlossenen Imamen. Jeder von außen geförderte Prozess ist wirkungsvoller, wenn er lokale Traditionen berücksichtigt. Aber auch Traditionen können verändert und den
Erfordernissen der modernen Welt angepasst werden. Ob
sie das wollen, bestimmen selbstverständlich die Afghaninnen und Afghanen selbst.“
Kurzweil: „Das Problem der Gewalt gegen Frauen in PostKonflikt-Situationen nehmen wir sehr ernst. Wir sind aber
heute zuversichtlich, dass die afghanischen Sicherheitskräfte ab 2015 die Sicherheit gewährleisten können. Wir
werden kein Sicherheitsvakuum hinterlassen.“
23
Dr. Ute Scheub
Warum Gewalt gegen Frauen den
Weltfrieden gefährdet
zu Gewalt führten, sondern ausschlaggebend sei das Gefühl, dazu berechtigt zu sein. Männer könnten nicht so handeln, wenn die Gesellschaften ihr Verhalten nicht tolerieren würden – explizit oder stillschweigend, legitimiert durch
Traditionen, Gesetze oder religiöse Praktiken. Kaufman erinnert daran, dass aggressive Akte, meist gegen andere
Männer, heroisiert und gefeiert werden – ob im Sport oder
Krieg, im Film oder in der Literatur. Dadurch wird Gewalt
„naturalisiert“ und zum „de facto Standard menschlicher
Beziehungen“, um Konflikte zwischen Individuen, Gruppen
oder Nationen zu lösen. Schon deshalb gefährdet häusliche Gewalt längerfristig gesehen den Weltfrieden.
Dr. Ute Scheub
Häusliche Gewalt – das klingt zunächst so harmlos. Aber
häusliche Gewalt ist die weltweit häufigste Form von Gewalt. Sie traumatisiert Menschen und sorgt dafür, dass
stets neue Gewalt generiert wird. Die UN verwies 2008 auf
Statistiken, wonach weltweit jede dritte Frau unter Schlägen, erzwungenen sexuellen Handlungen und anderen Gewaltformen leidet. Nicht einmal in der Hälfte aller UN-Mitgliedsstaaten ist häusliche Gewalt strafbar, Vergewaltigung
in der Ehe auch nur in gut der Hälfte.
Kaufman sieht gleichzeitig ein „Paradox der Männermacht“: Dieselben Mittel, die zur Macht von Männern führten, seien „die Quelle enormer Angst, Isolation und Leiden
auch für uns Männer“, weil machtvolles Handeln eine Art
Körperpanzer und angstvolle Distanz zu anderen erfordert.
Aus Furcht, nicht männlich genug zu sein, gerieten besonders Heranwachsende schnell „in Turbulenzen von Angst,
Isolation, Ärger, Selbstbestrafung, Selbsthass und Aggression.“ In einem solchen emotionalen Zustand werde Gewalt
zu einem Mittel, um „das männliche Gleichgewicht zu stabilisieren“. Täter wählten daher gewöhnlich ein schwächeres Opfer: Kinder, Frauen, Schwule, religiöse oder soziale
Minderheiten oder Migranten. Die Täter seien zumeist Jugendliche in einer Lebensphase, in der sie ihre Identität als
extrem unsicher und fragil erlebten. Um ihr Mannsein zu
beweisen, schöben sie anderen die Rolle des „Unmännlichen“ gewaltsam zu.
Häusliche Gewalt ist nach einer weltweiten Umfrage der
Weltgesundheitsorganisation WHO unter rund 24.000
Frauen sowohl Ursache als auch Folge von Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und bedingt viele chronische
Krankheiten körperlicher und seelischer Art. Zwischen 50
und 71 Prozent der Frauen in Bangladesch, Äthiopien, Peru
und Tansania gaben an, im vergangenen Jahr körperlich
oder sexuell misshandelt worden zu sein; nur in Japan lag
die Quote unter 20 Prozent. Die meisten Opfer resignierten
und suchten nie Hilfe, weder bei der Polizei noch bei Frauenhäusern oder Nichtregierungsorganisationen. Das Risiko
für Frauen, Gewalt zu erfahren, sei in fast allen Ländern der
Welt gleich hoch, so die WHO-Studie.
Frauen, die als Mädchen geschlagen oder vergewaltigt wurden oder beobachten mussten, wie ihr Vater ihre Mutter
schlug, tendieren offenbar dazu, massiven Selbsthass zu
entwickeln und in der Opferrolle gefangen zu bleiben. Studien zeigen: Frauen mit Gewalttraumata werden öfter
schon als Teenager schwanger, nehmen Drogen und Alkohol, haben Essstörungen oder begehen Selbstmord.
Was Kaufman indes nicht erwähnt: In streng patriarchalischen Gesellschaften erfahren Männer von Kindesbeinen
an, dass sie etwas „Besseres“ sind, dass ihr Status höher
ist, dass sie mehr Freiheiten haben als ihre Schwestern,
und dass sie, wenn sie älter sind, sogar über ihre Mütter
bestimmen dürfen. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern prägt in diesen Gesellschaften den Status und
das Prestige. Diese frühe, tief im Unterbewusstsein verankerte Erfahrung dient vielen Männern – und auch Frauen –
als Modell für ihren späteren Umgang mit sozialen Unterschieden. Männerdominierte Gesellschaften sind deshalb
weitaus anfälliger für gewalttätig ausgetragene Identitätsoder Statuskonflikte als geschlechteregalitäre. Weil der
künstlich vertiefte Geschlechterunterschied quasi ansteckend ist, kann er mühelos in andere gesellschaftliche Hierarchien übersetzt werden. Es ist statistisch bewiesen, dass
bewaffnete Konflikte wegen ethnischer, sozialer oder religiöser Differenzen in patriarchalischen Gesellschaften viel
häufiger stattfinden als in eher egalitär organisierten. Männergewalt gegen Frauen gefährdet also letztlich den inneren Frieden von Staaten.
Männer, die als Kinder Gewalt erfuhren, neigen dazu, die
Täterrolle zu übernehmen und selbst gewalttätig zu werden
– auch, um ihre frühere Opferrolle zu verbergen und die
Scham, selbst einmal Opfer gewesen zu sein. Ihr Selbsthass gleicht in seinem Ausmaß wahrscheinlich dem von
Frauen mit Gewalttraumata, aber anders als diese tendieren sie dazu, den Hass nach außen zu projizieren – auf andere Männer oder Frauen, die sie dann zu unterwerfen versuchen. Viele werden alkohol- und drogensüchtig und leben
im benebelten Zustand ihre Gewaltfantasien aus. Dadurch
glauben sie, sich vor ihren destruktiven Erinnerungen
schützen zu können.
Der kanadische Soziologe Michael Kaufman sieht das Patriarchat als „Triade von Gewalt“ – Gewalt gegen Frauen,
gegen andere Männer und gegen sich selbst. Brutales Verhalten böte Männern „eine reiche Palette an Privilegien und
Machtformen“. Es seien nicht nur Machtungleichheiten, die
Umgekehrt wirkt die Einebnung des Machtgefälles zwischen Männern und Frauen stark gewaltmindernd. In einer
24
Dr. Ute Scheub
statistischen Analyse zur friedenspolitischen Entwicklung
von 159 Ländern zwischen 1960 und 1992 fand die USKonfliktforscherin Mary Caprioli heraus: Staaten verfolgen
eine friedliche Außenpolitik, wenn viele Frauen in ihren Parlamenten vertreten sind, wenn diese schon lange das Wahlrecht haben, wenn ein hoher Prozentsatz von ihnen bezahlt
arbeitet und die Geburtenrate niedrig ist. Capriolis Ergebnisse gelten auch umgekehrt: Vor allem jene Länder zetteln Kriege an, die wenige weibliche Abgeordnete, kein
schon länger geltendes Frauenwahlrecht, wenig bezahlte
Jobs für Frauen und eine hohe Geburtenrate aufweisen.
Das Ausmaß an innerer Gewalt drückt sich irgendwann
auch außenpolitisch aus. Auch deshalb gefährdet männliche Gewalt – gegen Frauen, Kinder und andere Männer –
letztlich den Weltfrieden.
sie zu investieren, schafft eine Positivspirale für die Gemeinden.“
Zudem hilft Mädchenbildung Ländern, schneller aus der
Armut herauszukommen. Ein Bericht der Kinderhilfsorganisation Plan International kam im Herbst 2009 zum Ergebnis, dass eine nur einprozentige Steigerung der Anzahl
höher gebildeter Mädchen einer Nation zu einem Wachstum von 0,3 Prozent pro Kopf und Jahr verhelfe. Begründung: „Ein Extrajahr Bildung steigert das Einkommen eines
Mädchens um zehn bis 20 Prozent; es ist ein wichtiger
Schritt, um den Armutszyklus zu brechen.“ Catherina Hinz
von der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung konstatiert,
dass Bildung das beste Verhütungsmittel sei: „Grundschulbildung für Mädchen ist der Schlüssel für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, die Verringerung der
Armut, die Gleichstellung der Geschlechter und die Verlangsamung des Bevölkerungswachstums.“ Alarmierenderweise aber nimmt die weibliche Sekundärbildung in vielen Ländern Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und Osteuropas ab.
Neuere statistische Studien von Erik Melander oder Margit
Bussmann haben diesen Zusammenhang mehrfach bestätigt. Die Greifswalder Professorin Bussmann hat mittels
statistischer Analyse von 110 Ländern im Zeitraum von
1985 bis 2000 herausgefunden, dass der innere Frieden in
einer Gesellschaft durch die politische Repräsentation von
Frauen, ihre ökonomische Teilhabe am Arbeitsmarkt und
ihren Zugang zu Gesundheit und Bildung stabilisiert wird.
Geschlechtergleichstellung befördert laut ihrer Studie außerdem eine gute Regierungsführung, Entwicklung und Demokratie. In ihrem Buch „Gleichheit ist Glück – warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind“ zeigen Kate Pickett und Richard Wilkinson anhand von umfangreichen
statistische Berechnungen, dass Menschen in Gesellschaften mit vergleichsweise viel Egalität – ökonomischer
Gleichheit und Geschlechtergleichheit – gewaltärmer, länger und zufriedener leben, glücklicher und gesünder sind.
Umgekehrt macht erlebte Ungleichheit wütend, aggressiv,
gewalttätig, unglücklich und krank.
Im UN-Weltbevölkerungsbericht von 2005, der dem „Versprechen der Gleichberechtigung“ gewidmet ist, heißt es:
Mädchenbildung und die Beseitigung von Gewalt gegen
Frauen seien „strategische Investitionen“, die „unmittelbar,
langfristig und über Generationen hinweg positive Veränderungen“ bewirkten. Und: „Der Stopp der Gewalt gegen
Frauen ist der Schlüssel, um Armut zu beseitigen. Die
Gleichbehandlung der Geschlechter senkt die Armut, rettet
Leben und verbessert die Gesundheit.“
Dort, wo Frauen gestärkt werden, leben also auch Männer
besser – und Kinder ebenfalls. Dort aber, wo männliche Privilegien geschützt und verteidigt werden, schadet das allen.
Vorteile für Männer sind ein Entwicklungshindernis für
ganze Nationen.
Wissenschaftlerinnen und Entwicklungspolitiker verweisen
darauf, dass Gleichberechtigung ein Schlüsselfaktor für die
Entwicklung von Nationen und Wohlstand ist. „Frauen sind
entscheidend für die ökonomische Entwicklung, eine aktive Zivilgesellschaft und eine gute Regierungsführung, vor
allem in Entwicklungsländern“, schreibt die US-Professorin
Isobel Coleman. Sie führt aus: „Sich auf Frauen zu konzentrieren, ist oft der beste Weg, Geburtsraten und Kindersterblichkeit zu reduzieren, Gesundheit, Ernährung und
Bildung zu verbessern, die Ausbreitung von HIV und Aids
aufzuhalten, robuste und sich selbst erhaltende Gemeindeorganisationen aufzubauen und eine Demokratie von
unten zu ermöglichen.“ Mädchenbildung gehöre zu den Investitionen, die sich in südlichen Ländern „am meisten auszahlen“, zitiert Coleman den früheren Chefökonom der
Weltbank, Lawrence Summers. Gebildete Frauen haben
nämlich weniger Kinder, ernähren diese aber besser und
kümmern sich mehr um ihre Gesundheit und Bildung: „In
Frauenrechte als Kriegsvorwand
Afghanistan hat in seiner Geschichte viel Gewalt erlebt,
aber seit dem Einmarsch der Sowjets reißt sie nicht mehr
ab. Der mehr als 30 Jahre andauernde Krieg hat fast die
gesamte Bevölkerung zutiefst traumatisiert, das soziale Gewebe und die afghanische Kultur fast komplett zerstört. Millionen von Frauen und Männern sind psychisch und physisch krank. Gewalt ist zum Alltagsphänomen geworden.
Menschen haben verlernt, ihre Konflikte gewaltfrei zu
lösen. Viele Männer versuchen, die erlebte Gewalt zu bewältigen, indem sie Frauen und Kinder schlagen und misshandeln. Frauen schlagen ihrerseits Kinder, und Kinder
schlagen Tiere. Jeder versucht, die erlebte Gewalt weiterzugeben, niemand wird sie wirklich los, weil man sich durch
Wiederholung natürlich niemals von Gewalt befreien kann.
25
Dr. Ute Scheub
In westlichen Medien wird gerne behauptet, das läge an
der archaischen Gesellschaft Afghanistans. Das stimmt in
keiner Weise. Der dort praktizierte Islam war lange Zeit liberal und von Sufis weit mehr beeinflusst als von Fundamentalisten oder Salafisten. Auch die Taliban sind – zumindest ursprünglich – kein Produkt der afghanischen Kultur. Der Krieg spülte in den 1980er Jahren Millionen afghanischer Flüchtlinge in pakistanische Lager, darunter
viele Waisenjungen. In den Koranschulen Pakistans wuchsen sie in einer vollständig frauenlosen Umgebung auf –
ohne Mütter, Omas, Schwestern, Tanten. Sie werden zu Taliban herangezüchtet. Wie Frauen aussehen, denken, handeln, wie sie sprechen, lachen oder sich anfühlen – das
wurde für sie zu einem bedrohlichen Geheimnis. Die Frau,
das unbekannte Wesen, Symbol der Sünde und des
Schmutzes, wurde weggesperrt und strengstens kontrolliert. Die Burka sollte die Männer abhalten von der Sünde,
vom Bösen. Die Mullahs lehrten ihre Zöglinge, Frauen seien
unrein und schmutzig, verführerisch, dämonisch, satanisch.
Womöglich ist der extreme Frauenhass der Taliban zudem
ein Ausdruck kollektiver Kriegs-traumatisierung. Traumatisierte scheinen noch mehr als andere Menschen dazu zu
neigen, ihr inneres Chaos auf äußere „Sündenböcke“ zu
projizieren, womöglich, weil der innere Aufruhr sie sonst
„sprengen“ würde. Denken wir an Hitler, der im Schützengraben des Ersten Weltkriegs schwer traumatisiert wurde.
Historischen Quellen zufolge wurde sein mörderischer Antisemitismus erst durch die erfahrene Todesangst im Schützengraben geweckt. Was für Hitler die Juden waren, war für
die Taliban möglicherweise das weibliche Geschlecht.
Zu Beginn der Intervention in Afghanistan gebärdeten sich
westliche Politiker, allen voran George W. Bush, als glühende Feministen. Außenminister Joschka Fischer beklagte
sich bitterlich über die „Entwürdigung der Frau“ in Afghanistan. Bundeskanzler Gerhard Schröder nötigte die rotgrüne Mehrheit im Bundestag zu einer deutschen Beteiligung an der Militäraktion, indem er sie mit der „Vertrauensfrage“ verknüpfte: „Wer die Fernsehbilder von den feiernden Menschen in Kabul nach dem Abzug der Taliban gesehen hat – ich denke hier vor allen Dingen an die Bilder
der Frauen, die sich endlich wieder frei auf den Straßen begegnen dürfen –, dem sollte es nicht schwer fallen, das Ergebnis der Militärschläge im Sinne der Menschen dort zu
bewerten.“
Es war ein beispielloses Menschenexperiment: Was passiert mit Jugendlichen, die in einer strafenden männlichen
Monokultur aufwachsen, in steinzeitlichem Unwissen gehalten und gleichzeitig mit den modernsten Waffen ausgestattet werden? Das Ergebnis: Sie errichten das frauenfeindlichste Regime der Welt. Traumatisierte junge Männer
konnten an einem Sündenbock ihre explosive Wut austoben. Mit der Demütigung von Frauen versuchten sie offenbar, ihre beschädigte Männlichkeit wieder aufzurichten und
ihre eigene Demütigung rückgängig zu machen.
Der Mythos von der Befreiung afghanischer Frauen durch
mutige westliche Militärs ließ sich angesichts der Realität
allerdings nicht lange aufrechterhalten. Schröder und viele
andere westliche Politiker ersetzten ihn in der Folge mit
dem „Mädchenschulen-Argument“, das inzwischen jeder
Interventionsbefürworter im Munde führt. Es ist wie eine
Obsession, die die politische Debatte bestimmt. Ich bin wie
gesagt eine glühende Befürworterin der Mädchenbildung,
und doch bleibt bei mir ein schales Gefühl, wenn ich das
höre. Denn wie viel hätte man mit den hohen Militärausgaben für das weibliche Geschlecht in Afghanistan tun können, und wie wenig Geld ist bei den Frauen gelandet! Ich
hege deshalb den Verdacht, dass das „Mädchenschulen“Argument nur eine modernisierte Form einer uralten Lüge
ist, die männliche Militärs in praktisch allen Ländern der
Welt als Kriegslegitimation aufführen. Sie kämpfen angeblich alle nur, um das Leben ihrer Frauen und Kinder zu beschützen. In Wahrheit wird deren Leben durch Kriegsgewalt
überhaupt erst gefährdet.
Gefördert und finanziert wurde dieses Experiment von den
Saudis und vom mächtigen pakistanischen Geheimdienst
ISI, der damals Premierministerin Benasir Bhutto unterstand, und wohl auch von der damaligen US-Regierung. Die
Taliban eroberten 1994 Kandahar und 1996 Kabul und errichteten ein Terror-Regime, in dem sie die Geschlechtsunterschiede obsessiv überbetonten: Die Männer hatten möglichst lange Bärte zu tragen, die Frauen die Ganzkörperverschleierung.
Woher rührt die unglaubliche Angst der Taliban vor Frauen
und vor Sexualität? Ich kann natürlich auch nur spekulieren. Frauenphobie und Sexualphobie hängen eng miteinander zusammen, alle patriarchalischen Gesellschaften
sind davon gezeichnet. Heterosexuelle Männer geraten im
Patriarchat in einen unauflöslichen innerpsychischen Widerspruch: Einerseits begehren sie Frauen, andererseits
stellt dieses Begehren das Leitbild patriarchalischer Männlichkeit – männliche Autonomie, Unabhängigkeit und Wehrfähigkeit - infrage. Viele Männer „retten“ sich aus diesen
unauflöslichen inneren Turbulenzen, indem sie das Objekt
ihrer Begierde, das sie abhängig zu machen droht, hassen,
abwerten und unterwerfen, im Extremfall auch vergewaltigen, foltern und ermorden.
Nach dem Ende von Kriegen stehen gemeinhin die Fenster
der Möglichkeiten für eine Neuverhandlung der Gesellschafts- und Geschlechterordnung weit offen. Doch bei der
internationalen Konferenz in Petersberg im Dezember
2001 stand die Frauenfrage – trotz der damals schon verabschiedeten UN-Resolution 1325, die die gleichberechtigte Teilnahme von Frauen auf allen Ebenen von Friedensprozessen fordert – schlicht nicht auf der Tagesordnung.
26
Dr. Ute Scheub
und fühlbar weiterentwickelt. In Afghanistan ist das
nicht der Fall, stattdessen müssen die Afghanen und
vor allem die Afghaninnen vor einer Machtbeteiligung
oder Machtübernahme der Taliban zittern, wenn ausländische Truppen abziehen.
Dabei wäre es möglich gewesen, Demokraten und Menschenrechtlerinnen in die Übergangsregierung zu bringen,
um ein Gegengewicht zu den Radikalislamisten zu schaffen. Man hätte den Staat föderal von unten aufbauen können, statt auf eine autoritär-zentralistische Präsidialherrschaft zu setzen, die in diesem geografisch zerklüfteten
Land nicht funktionieren kann. Man hätte die Landwirtschaft fördern müssen, statt sie durch Weizenimporte zu
zerstören und den Boden für den Opiumanbau zu bereiten,
der Taliban und korrupte Warlords alimentiert. All diese gravierenden Fehlentscheidungen wirken bis heute nach. Das
Gewaltmonopol der Nordallianz-Warlords wurde nie gebrochen. Die Gewalt in Familien und Klans wurde nie ernsthaft
bekämpft und breitete sich erneut im Land aus, indem
männliche Heranwachsende das schlechte Vorbild von Vätern und Klanchefs nachahmten. Die Spirale der Gewalt
dreht sich weiter.
2. Traumatisierte Personen erhalten medizinischen und
psychosozialen Beistand. In Afghanistan ist dies kaum
der Fall, es gibt nur wenige Hilfsorganisationen wie
Medica Afghanistan, die in diesem Bereich arbeiten.
3. Täter und Kriegsverbrecher werden in öffentlichen,
medial übertragenen Gerichtsverfahren zur Rechenschaft gezogen und verurteilt. Oder sie sagen in Wahrheitskommissionen aus. In Afghanistan ist dies nicht
der Fall, weil die USA und andere Akteure ihre Hand
weiterhin schützend über frühere Warlords halten.
Von daher bin ich leider pessimistisch. Aber es gibt keine Alternative: Wir müssen weiter um Gleichberechtigung, Frauenrechte und gegen häusliche Gewalt kämpfen. In Afghanistan und weltweit.
Eine Gesellschaft kann ein kollektives Trauma nur dann erfolgreich bearbeiten, wenn drei Prozesse gleichzeitig stattfinden:
1. Ihre Mitglieder können optimistisch in eine bessere
Zukunft blicken, weil sich das Land für alle sichtbar
Alle statistischen Angaben und Quellenhinweise sind folgendem Buch entnommen:
Ute Scheub: Heldendämmerung, Die Krise der Männer und warum sie auch für Frauen gefährlich ist, Pantheon Verlag, München 2011.
konkret:
Bussmann, Marit: Political and socio-economic aspects of gender equality and civil war, in: Sicherheit und Frieden (S+F), 1, 2010.
Caprioli, Mary: Primed for violence, The role of gender inequality in predicting internal conflict, in: International Studies Quarterly, 49, 2005.
Coleman, Isobel: The payoff from women’s rights, in: Foreign Affairs, vol. 83, nol. 3, 2004.
Hinz, Catharina: Bildung - Bevölkerung und Entwicklung, Berlin 2008. www.berlin-institut.org
Michael Kaufman: The seven P’s of men’s violence, in: Men and Masculinities, Toronto, 2009. http://www.engagingmen.net/resource/seven-ps-mensviolence
Melander, Erik: Gender equality and intrastate armed conflict, in: International Studies Quarterly, vol. 49, 2005.
Plan International: Mädchen fördern - Wirtschaft stärken, Hannover 2009.
Pickett Kate/Wilkinson, Richard: Gleichheit ist Glück, Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Tolkemitt bei Zweitausendeins, Leipzig 2010.
UNIFEM: Who answers to women? Gender and accountability, Progress of the world’s women, New York 2009.
United Nations Research Institute for Social Developement (UNRISD): Gender equality, Striving for justice in an unequal world, Geneva 2005
World Health Organisation (WHO): Multi-country study on women’s health and domestic violence against women, Geneva 2005. http://www.who.int/reproductivehealth/publications/violence/en/index.html
27
Podiumsdiskussion
„Erst Frieden, dann Frauenrechte?
Perspektiven, Erwartungen und Anregungen für Afghanistans Zukunft?“
Im Laufe der zehn Jahre hat er sich der Einsatz hin zum Primat des Militärischen entwickelt. Wie kam es dazu? Man
kann sagen, dass sich immer wieder die Strategien gewandelt haben, die wiederum mit den Zuständen vor Ort in
Konflikt gerieten. Sie hatten eine Brutalisierung des Krieges als Resultat, dann wurde wieder auf diese Brutalisierung reagiert. Das hat eine weitere Gewalteskalation im
Land vorangetrieben.
Podiumsdiskussion
Diskutantinnen:
■ Dr. Monika Hauser,
geschäftsführendes Vorstandsmitglied medica mondiale,
Köln
Am Anfang des Einsatzes gab es vor allem Aufbauhilfe. Er
war stark am menschlichen Sicherheitsbegriff orientiert,
der auf das Individuum als Bezugsobjekt fokussiert. Sicherheit, Recht, Entwicklung und politische Partizipation
waren entscheidend. Man hat also einen politischen, wirtschaftlichen und infrastrukturellen Wiederaufbau begonnen, der war aber auf den Norden und den Westen des Landes beschränkt. Es war also anfangs eher ein Stabilisierungseinsatz oder wahlweise eine Wiederaufbau- oder eine
Friedensmission.
Dr. Janet Kursawe,
Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft,
Heidelberg
■
Zarghona Ahmadzai,
Psychologin Medica Afghanistan, Kabul
■
Vida Faizi,
Leiterin des psycho-sozialen Bereichs Medica Afghanistan,
Kabul
■
Dann gab es gleichzeitig eine Zweiteilung im Land: Es gab
die Operation Enduring Freedom, die im Süden unter der
Ägide der USA vor allem zur Anti-Terror-Bekämpfung einen
Krieg geführt hat, in dem die Al-Quaida- (und Taliban-)Führer als wichtigste Zielobjekte ausgemacht wurden. Das weitete sich auf die Taliban aus, die ihnen Unterschlupf gewährt hatten. Diese verschiedenen Missionen haben von
Anfang an im Grunde dazu geführt, dass das Land zweigeteilt wurde. Es deutete sich eigentlich schon ab 2002 und
2003 an, dass es so nicht zu einem erfolgreichen Ergebnis geführt werden kann, weil sich die Bevölkerung im
Süden nicht gleichberechtigt mit der Bevölkerung im Norden empfunden hat.
■ Sajia
Behgam,
Juristin und Frauenrechtlerin Kabul/Erfurt
Diskussionsleitung:
Jörgen Klußmann,
Studienleiter der Evangelischen Akademie im Rheinland,
Bad Godesberg
■
Jörgen Klußmann: Ich möchte alle Diskutantinnen begrüßen. Unser Thema lautet „Erst Frieden, dann Frauenrechte?
Verhindert die Gewalt gegen afghanische Frauen den Frieden in Afghanistan?“. Meine ersten Fragen gehen an Frau
Kursawe von der Forschungsstätte der Evan-gelischen Stu
diengemeinschaft in Heidelberg: „Warum hat das Militärische das Primat in der internationalen Intervention in Afghanistan? Warum hat die militärische Intervention in Afghanistan bisher mehr Schaden als Nutzen angerichtet?
Und was wären alternative Sicherheitskonzepte? Stichwort:
Menschliche Sicherheit gegen vernetzte Sicherheit oder anders gefragt: Gibt es eine Friedenslogik in Afghanistan?“
Dann hat man eine Ausbildungsmission und eine Sektorsicherheitsreform gestartet, die zum Ziel hatte, Sicherheitskräfte – Polizei, Militär und so weiter – für Demokratie und
Menschenrechte zu sensibilisieren und zu trainieren. In Afghanistan sehen wir, dass Menschenrechte und Demokratie in der Ausbildung der Sicherheitskräfte in den Hintergrund geraten sind; es fand eine stärkere Fokussierung auf
Sicherheitsfragen, in Form der Bekämpfung der Taliban,
statt. Dazu gehört auch, dass die Ausbildung der Sicherheitskräfte auf unterer Ebene durch private Sicherheitsfirmen vorgenommen wurde und damit Ausbildungs- und
Qualitätsstandards, die an Menschenrechten orientiert
sind, gar nicht gewährleistet sein konnten.
Dr. Janet Kursawe: „Wenn wir uns den Einsatz anschauen,
sehen wir, dass sich das Primat verschoben hat - zumindest was das ISAF-Mandat betrifft. Auf dem Papier heißt es
immer noch, dass wir die Maßnahmen ergreifen, die nötig
sind, damit alle Afghanen ihre unveräußerlichen Rechte
und ihre Freiheit ohne Unterdrückung und Terror erhalten.
Mit Übernahme des NATO-Mandats 2005/2006 wurden
einzelne Landesteile nach bestimmten Lead-Nations aufgegliedert, sie übernahmen die Führung in den einzelnen
Regionen. Man kann sagen, das gesamte Land stand unter
der ISAF- und NATO-Führung, dann weitete der Krieg sich
aus. Seither sprechen wir im Grunde auch von Counter-In-
Am Anfang hatte der ISAF-Einsatz den menschlichen Sicherheitsbegriffs zugrunde gelegt, dann wurde er immer
weiter vom Politischen dominiert, vom Primat der Politik.
28
Podiumsdiskussion
surgency, also von einer Aufstandsbekämpfung, die mit der
reinen Stabilisierungsmission, mit der die ISAF begann,
nichts mehr zu tun hatte.
bereitstellen mag.
Wenn man es wirklich ernst meint mit dem Individuum,
dann müsste man die Ausrichtung des Einsatzes komplett
umdenken und die militärische Komponente stark zurückfahren. Hingegen sieht man in der finanziellen Aufwendung,
dass die meisten Mittel, die aus den Geberländern kommen, sofort in die Aufstandsbekämpfung gehen. Da müsste
ein Umdenken und eine Strategieänderung stattfinden.“
Gleichzeitig ging mit dieser Ausweitung der NATO-Operation
eine Erhöhung der Truppenstärke einher: ISAF begann
2002 mit etwa 5500 Soldaten. Wir hatten 2011 einen
Höchststand mit 130.000 Soldaten. Hinzu kamen diverse
Einheiten der Operation Enduring Freedom. Parallel zu dieser Aufstockung wurde die Ausrichtung des Einsatzes offensiver. Die Einsatzregeln der Militärs wurden robuster formuliert und es gab nun Möglichkeiten zu präemptiven Angriffen und Operationen.
Klußmann: „Frau Dr. Hauser, warum sind die Frauenrechte
jetzt so existentiell für den Frieden in Afghanistan?“
Dr. Monika Hauser: „Da möchte ich natürlich vorausschicken, dass Frauenrechte in jedem Nachkriegsgebiet umgesetzt werden müssen, weil wir sonst keinen Frieden erreichen. Wir sprechen jetzt über Afghanistan, ein Land mit
jahrzehntelangen Gewalteskalationen, kollektiver Traumatisierung von Frauen und Männern sowie den extremen Regimen der Mujahideen und dann in noch extremerer Weise
der Taliban. Ich würde gerne im Anschluss an meine Vorrednerin kurz einen Punkt aufgreifen: Wenn wir uns die
Konzeptlosigkeit der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan während der letzten zehn Jahre vergegenwärtigen, wird sehr deutlich, dass bei dem patriarchalen Blick
auf Konfliktlösung, nämlich militärisch auf Sieg und Niederlage zu bauen, eine weitere Eskalation verursacht
wurde. Und zwar mit kriegerischen Auseinandersetzungen
und mit neuer Traumatisierung in südlichen Regionen, aber
auch ab 2005/2006 im Norden Afghanistans, wo wir zuvor
eine sehr viel friedlichere Situation hatten.
Zuvor waren bei der ISAF Operationen nur gestattet, wenn
man angegriffen wurde. Dann wurde die Strategie erneut
geändert: die NATO ging dazu über, mit Warlords und deren
Milizen zusammen zu arbeiten. Gleichzeitig fanden immer
noch Gespräche mit Taliban statt, wobei die nicht die gewünschten Effekte hatten. Diese Zusammenarbeit mit den
Milizen ist äußerst skeptisch zu sehen. Hier wurden Kapazitäten bereit gestellt, um so formal lokale Autoritäten dafür
zu rüsten, dass sie in der Lage sind, so schnell wie möglich
Sicherheit in Krisenregionen bereit zu stellen, auch ohne
internationale Hilfe. Sprich, man ging dazu über, den Afghanen stärker die Kampfhandlungen in die Hand zu
geben, nicht nur auf der einen Seite mit den ausgebildeten
Sicherheitskräften, sondern auch auf der regionalen
Ebene, indem in einzelnen Provinzen die dortigen Herrscher mit eigenen Milizen ausgerüstet wurden.
Lokal verwurzelte Schutzmilizen werden ausgebildet, um
die Einwohner mit Sicherheit zu versorgen oder Sicherheit
zu gewährleisten. So ist die Lesart. All diese militärischen
Konzepte, die jetzt gefahren werden, sind im Grunde nicht
förderlich, um menschliche Sicherheit zu fördern, sondern
sie sind ganz allein dem Primat des Militärischen zugeschrieben. Es geht um eine Ideologie: Die Taliban sollen
daran gehindert werden, in Machtpositionen zu kommen.
Dem Kampf gegen die Taliban wird alles andere untergeordnet. Das ist eigentlich im Moment das sehr düstere Resultat.
Wir müssen uns vor Augen halten, dass die Sicherheitsorgane – in erster Linie die Polizei – nicht nach menschenrechtlichen Aspekten ausgebildet worden sind, sondern
sechswöchige Trainings von den Amerikanern und den
Deutschen erhielten, in denen sie gelernt haben, wie sie
mit Waffen umgehen sollen. Hier ging es also um Aufstandsbekämpfung, aber nie um eine menschenrechtliche
Ausrichtung der Polizei. Diejenigen, die gekommen waren,
um auszubilden, die Polizeiausbilder und die deutsche Bundeswehr, welche Menschenrechtsausbildung hatten sie ihrerseits? Wie war der Frauenproporz bei den Ausbildern?
Die UN-Resolution 1325 macht uns hier sehr hilfreiche Vorgaben und bietet Instrumente, wobei der Proporz, also die
Quote, ein ganz wichtiges Element ist. Wenn wir diese Aspekte beachten, sehen wir, dass eigentlich nahezu alles
falsch gemacht worden ist.
Als alternatives Konzept gibt es den menschlichen Sicherheitsbegriff. Er stellt in der Theorie und Praxis Mittel bereit,
um die auf das Individuum bezogene Sicherheit zu gewährleisten oder herzustellen. Das sind vor allem nicht-militärische, politische Maßnahmen der Prävention und der
Beseitigung von Gefahrenquellen gewaltträchtiger Art. Das
sind rechtstaatliche Maßnahmen, die Frauen in die Lage
versetzen, gegen Gewalttäter und Gewalttaten rechtlich vorgehen zu können. Es soll eine Exekutive geben, Streitkräfte
und Sicherheitskräfte, die in der Lage sind, das umzusetzen. Sie sollen das Problem nicht noch verschärfen, weil
die Polizei keine Sicherheit bereit stellen kann oder nicht
Nun zu den Frauen und Frauenrechten in Afghanistan und
zu einer Frauenorganisation wie Medica Afghanistan, die
seit einem Jahr nationalisiert ist und auf die mehr als zehnjährige Arbeit von medica mondiale in Afghanistan aufbaut.
Wir sind sehr stolz auf Medica Afghanistan. Ich möchte anknüpfen an die von Ute Scheub beschriebene Gewaltspi-
29
Podiumsdiskussion
rale. Wir müssen uns vorstellen, dass Frauen, die alltäglich
Gewalt erleben, seit Jahren – wenn nicht gar Jahrzehnten
– kontinuierlich traumatisiert werden. Es sind Frauen im
Krieg während der letzten Jahrzehnte von den „Gegnern“
vergewaltigt worden: von sowjetischen Soldaten, Mujahideen und Taliban, zudem erlebten sie häusliche und familiäre Gewalt. Wenn wir uns das vor Augen halten und den
extremen psychologischen Stress, dem diese Frauen ausgesetzt sind, und wir die Effekte in den Familien sehen,
dass die Frauen ihrerseits die Kinder schlagen, dann können wir uns vorstellen, welche zerstörerischen Folgen das
hat für die neue Generation. Zum Beispiel können sich die
Kinder nicht konzentrieren, soweit sie überhaupt Schulbildung erhalten. Dieser zerstörerische Effekt führt zu einer
Schwächung der nächsten Generation und damit der Gesellschaft insgesamt.
ohne dass dies der Wahrheit entspricht. Das Bewusstsein
über Frauenrechte lässt sich über die eigene Familie entwickeln. Erst nachdem ich selbst zum Bewusstsein gekommen bin, wie ich Frauenrechte in meiner Familie praktiziere, kann ich für andere arbeiten. Wir vermitteln Frauen,
dass sie an Friedensprozessen in ihren Familien teilhaben
können und friedlich Konflikte lösen können. Auf Gemeindebene organisieren wir Veranstaltungen, etwa Mittagessen, zu denen alle zusammenkommen. Die Bitte vieler Afghanen an die Weltgemeinschaft lautet: Wir wollen
keinen Krieg mehr; wir wollen nicht, dass unsere Kinder im
Krieg aufwachsen.“
Die Arbeit der Kolleginnen von Medica Afghanistan dient
dazu, Individuen zu unterstützen. Allerdings muss auch die
Gesellschaft insgesamt ihre kollektiven Traumata bearbeiten. Eine weitere Frage lautet: Wie können Frauen für Frieden gewonnen werden, wenn sie nur Gewalt erleben? Wenn
sie zu Hause tagtäglich nur Gewalt erleben, dann hat der
Friede, mit ihnen persönlich nichts zu tun. Wenn Frauen
nicht integriert werden und keine Möglichkeit haben, zu
partizipieren, dann sind Friedensprozesse völlig losgelöst
und haben keine Bezüge zu ihrem Leben.
Zarghona Ahmadzai: „Der Krieg hat Frauen und Kindern
sehr geschadet, deshalb wollte ich im Traumabereich arbeiten. Zudem bin ich selbst eine Frau, daher kann ich mir
vorstellen, was andere Frauen fühlen und denken. Eine unserer Arbeitsgrundlagen ist die Schweigepflicht, dann vertrauen uns Hilfe suchende Frauen. Wir müssen diskret und
verschwiegen sein, das betrifft auch unsere Korrespondenz
mit dem Gesundheitsministerium. Wir haben Berichte aus
verschiedenen Provinzen über Gewalt gegen Kinder erhalten, sind aber keine Kinderpsychologen. Die Fälle mussten
wir auch übernehmen. Einzelgespräche waren hier sehr
wichtig.
Klußmann: „Frau Ahmadzai, Sie arbeiten auch in der psychosozialen Betreuung. Was motiviert Sie dazu und wie
kann man diese Arbeit am besten organisieren?“
Mein letzter Punkt ist der Zugang zum Justizwesen: Dies ist
ein Schlüsselelement. Deswegen müssen Fachfrauen, etwa
im Gesundheitsbereich, über grundlegende Frauen- und
Menschenrechte informiert sein, damit sie ihre Patientinnen unterstützen können, so dass diese Zugang zum Justizwesen bekommen. Deshalb ist es so wichtig, dass interdisziplinär gearbeitet wird, damit die Juristinnen Frauen vor
Gericht vertreten können. Auf diesem Wege kann eine Frau
ganzheitlich unterstützt werden, die traumatisierten Opfer
können ihre Realität verändern und „change agent“ werden. Das heißt, sie können ihr eigenes Schicksal in die
Hände nehmen und werden vom Opfer zur Überlebenden,
zu derjenigen, die eigene Perspektiven für sich und ihre
Kinder schafft. Wenn wir von einer Veränderung hin zu
mehr Menschlichkeit sprechen, von einer Befriedung –
einem wirklichen Frieden – geht das nur über diesen Weg.“
Wir haben mit unseren Rechtsanwältinnen kooperiert und
auf diese Weise bei vielen Fällen juristische Erfolge erzielt.
Wir haben Frauen zur medizinischen Behandlung in Krankenhäuser geschickt und Fortbildungen für Ärztinnen und
Ärzte über Gewalt gegen Frauen durchgeführt. Analphabetismus ist ein großes Problem; Frauen kennen ihre Rechte
nicht, deshalb haben wir Alphabetisierungskurse angeboten. Auf dem Land sind Bildung und Feldarbeit für die
Frauen Tabubrüche, dennoch kann diese Arbeit das Leid
der Frauen lindern – allerdings ist es körperlich sehr
schwere Arbeit. Angesichts der zahlreichen Probleme ist unsere Hilfe nur wie ein Tropfen auf einen heißen Stein.“
Klußmann: „Frau Behgam, was ist aus Ihrer Sicht als Juristin notwendig, um die Frauenrechte wirklich zu stärken?
Wie können die Frauenbewegung und die internationale
Gemeinschaft dabei helfen?“
Klußmann: „Frau Faizi, Sie sind für die psychosoziale Arbeit bei Medica Afghanistan verantwortlich. Welche Faktoren sind wichtig, damit Ihre Arbeit gelingen kann?“
Sajia Behgam: „Frauen haben unter ganz verschiedenen
politischen Bedingungen versucht, sich zu organisieren. Allerdings war die Kooperation nach dem Krieg erst sporadisch. Dann haben wir versucht, unsere Arbeit besser zusammenzufügen. Im Jahr 2004 und 2005 haben wir unsere Rolle in der Zivilgesellschaft betont und uns bemüht,
Vida Faizi: „Am Anfang hatten wir große Schwierigkeiten.
Wir standen unter dem Einfluss der Taliban. Langsam ergaben sich Fortschritte im Bereich der Frauenrechte. Die
sind jedoch relativ, immer wieder müssen wir erklären, was
wir unter Sharia verstehen und was Sharia genannt wird,
30
Podiumsdiskussion
eine bessere Advocay zu erreichen. Diese Advocacy-Arbeit
haben wir bei den internationalen Konferenzen in Bonn und
London systematisch intensiviert. Wiederholt haben wir unsere Forderungen gegenüber der afghanischen Regierung
vorgebracht, allerdings hat die Regierung sie oft nicht erfüllt. Im Land haben wir erreicht, dass es ein öffentliches
Bewusstsein für Frauenrechte gibt und Frauen sich trotz
massiver Probleme stärker beteiligen. Ohne die Hilfe der internationalen Gemeinschaft hätten wir unsere Ziele nicht
erreicht.”
Kursawe: „Wenn man sich die Kriegsereignisse der letzten
30 Jahre in Afghanistan anschaut, gibt es mindestens genauso viele Männer, die traumatisiert sind. Traumatisierungen, die sie erfahren haben, werden in der Familie
gegen Frauen gerichtet. Also wäre auch Traumaarbeit mit
Männern notwendig.“
Hauser: „Als wir mit einem Ärztinnenprogramm 2004 begonnen haben, sind wir in Kliniken in Kabul und Mazar gegangen und haben dort mit den Chefärzten darüber gesprochen, dass wir mit deutsch-afghanischen Ärztinnen in
Kurzzeiteinsätzen traumatisierte Frauen in afghanischen
Kliniken betreuen und einheimisches Personal sensibilisieren wollen. Ich kann mich gut erinnern, wie diese Chefärzte am Anfang gesagt haben: „Das interessiert uns nicht.
Wir hätten gerne den neuesten japanischen Ultraschall
Nummer so und so“. Wir haben dann deutlich gemacht,
dass das nicht unsere Aufgabe ist.
Klußmann: „Wie kann man Männer überzeugen, etwas zu
verändern? Wie kann man sie einbinden, um Frauenrechte
zu verwirklichen? Gibt es überzeugende Strategien?“
Hauser: „Indem Sie, Herr Klußmann, zum Beispiel mit Ihren
männlichen Kollegen auf Ihrer Ebene das weiter tragen,
was Sie hier gehört haben. Wir brauchen Männer als Verbündete auf allen Ebenen, davon haben wir deutlich zu
wenig. In Afghanistan leisten die Kolleginnen außerordentliche und großartige Arbeit zur Sensibilisierung von Krankenhauspersonal, Polizisten und religiösen Autoritäten. Das
sind Männer in Schlüsselpositionen, die als Multiplikatoren
in ihrer Gesellschaft sehr wichtig sind. Solche Programme
brauchen wir, es ist aber immer eine Ressourcenfrage,
dass eine Organisation wie Medica Afghanistan, die zusätzlich zu allen anderen Aufgaben noch diese anstrengende Sensibilisierungsarbeit mit Männern leistet.
Nach fünf Minuten Erklärungen saßen einige dieser Männer, die zuerst sehr arrogant aufgetreten sind, weinend da.
Sie haben gesagt, sie hätten über 20 Jahre lang nicht gewusst, ob ihre Familie noch vollzählig am Tisch sitzt, wenn
sie abends nach Hause kommen. Sie selber seien verroht
– das waren ihre Worte. Es wäre ihnen als Gynäkologen
zum Beispiel egal gewesen, wenn Frauen während ihres
Nachtdienstes unter der Geburt verblutet wären. Sie wären
deswegen nicht extra in die Klinik gekommen. Sie hätten
gar nicht mehr für eine Person, für eine Frau, mitfühlen können, weil sie so viele Menschen sterben gesehen haben.
Eine ganz deutliche und traurige Aussage war: ‚Erst im Gespräch mit Euch merken wir, dass wir gar keine Menschen
mehr sind.’
Dennoch sind die Kolleginnen hier tätig, weil es sich als
sinnvoll erwiesen hat, komplementär mit den Frauen und
den Männern zu arbeiten. Aber es bräuchte – und das ist
eine deutliche Aufforderung an andere Organisationen –
Männerorganisationen, um die Arbeit mit Männern zu übernehmen. Es gibt sehr ermutigende Beispiele in Südafrika;
Ute Scheub hat ein sehr spannendes Buch („Heldendämmerung“) veröffentlicht, in dem sie solche Ansätze beschreibt. Solche Aufbrüche gibt es mittlerweile weltweit. In
Deutschland wären sie auch verstärkt notwendig. Wir brauchen komplementäre Organisationen zu unserer Arbeit,
denen es um ein Traumaverständnis und um Gleichberechtigung geht. Das betrifft speziell die Sensibilisierungsarbeit mit Polizisten und religiösen Autoritäten.“
Und dann richten internationale Einsätze durch ihre militärischen Eskalationen noch mehr Schaden an. Die Verantwortung der Bundesregierung in den letzten zehn Jahren
hätte von Anfang an ein Prozess der umfassenden Befriedung und zivilen Konfliktbearbeitung sein müssen. Dazu
hätte auch von Beginn an eine Inklusion von Frauen gehört,
um adäquate Programme auf die Beine zu stellen – und so
weitere Eskalationen zu verhindern.“
Faizi: „Noch eine Erläuterung zu den Männern: Wir wissen,
dass sie traumatisiert sind. Aber wir können nicht zugestehen, dass sie Gewalt anwenden. Es ist eine schwierige Aufgabe, aber Männer müssen sich öffnen und äußern können. Wir müssen den Frauen und Kindern helfen. Wir suchen den Dialog mit männlichen Ärzten und bitten sie, mit
Männern zu sprechen, bevor sie diese behandeln. Das
kann Gewalt eindämmen.“
Faizi: „Medica Afghanistan hat mit Mullahs intensive Gespräche geführt, dabei hatten wir verschiedene Meinungen; um so wichtiger ist es, im Dialog zu sein. Die Mullahs
besprechen die Unterredungen zu Hause. Auch Polizisten,
mit denen wir Gespräche führen und Kurse durchführen,
diskutieren zu Hause weiter. Wir machen ihnen klar, dass
Frauen zur Polizei gehen, weil sie Hilfe erwarten. Wir können nicht einflussreiche Männer ignorieren, wir müssen sie
hinzuziehen. Es gibt auch gute Männer.“
31
Podiumsdiskussion
Frage aus dem Publikum: „Die ISAF arbeitet mit den Warlords, die aber keineswegs Menschenrechte achten und
nun mit neuen Waffen kämpfen. Eskaliert dadurch die Situation nicht noch weiter?“
allem aber ist die Bildung wichtig. Sie hilft, ein Gleichgewicht wieder herzustellen. Wenn wir sagen, wir Frauen in
Afghanistan wollen keinen Krieg mehr, meinen wir: Wir sind
sehr erschöpft und müde. Wenn ich die deutsche Wiedervereinigung sehe, ermutigt mich das, für Einigung und inneren Frieden zu kämpfen.“
Kursawe: „Ja, das ist eine große Gefahr. Obwohl die Warlords auf die Verfassung schwören, ist diese ihnen egal. Sie
erhalten finanzielle Beiträge für „Terrorbekämpfung“ und
halten sich dafür „eigene“ Talibangruppen.“
Frage aus dem Publikum: Besteht die Gefahr, dass alles
wieder durch die Taliban zerstört wird?
Behgam: „Unser Anliegen ist es, Druck auszuüben, damit
Frauen an den Verhandlungen teilnehmen.“
Kommentar eines afghanischen Gastes aus dem Publikum:
„Und deshalb verlieren die Menschen das Vertrauen in die
internationale Gemeinschaft.“
Hauser: „Ein Strategiewechsel der Bundesregierung ist notwendig. Es muss um zivilen Wiederaufbau gehen. Angesichts der neuen Leitlinien der Bundesregierung im Umgang mit fragilen Staaten ist es fraglich, welche Folgen die
verstärkte Ausrichtung auf Traditionen auf die Demokratie
und die Frauenrechte haben wird. Wir sind skeptisch und
fragen uns, was die Bundesregierung da genau vorhat.“
Behgam: „Die Situation der ISAF ist schwieriger geworden.
Arbeitet sie mit den Warlords, hat sie Schwierigkeiten. Vermeidet sie eine Kooperation, hat sie ebenfalls Probleme.
Das Land ist gespalten, umso wichtiger wäre eine aktive
Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungen.“
Frage aus dem Publikum: Frauen im Nachkriegsdeutschland fanden in der landwirtschaftlichen Arbeit in der Natur
ansatzweise Heilung. Gibt es das auch in Afghanistan?
Klußmann: „Was ist notwendig, um Frieden herzustellen?“
Behgam: „Wir setzen auf Unterricht und Erziehung, damit
Frauen ihre Rechte kennen und wahrnehmen können. Auch
Männer ändern sich durch die Ausbildung und das Studium.“
Ahmadzai: „Ja, es gibt viele Aufgaben in der Landwirtschaft. Oft ist die Arbeit auf den Feldern und der Lastentransport schwer. Nichtregierungsorganisationen fördern
die Milchverarbeitung und die Hühnerzucht. In den Städten ist das aber nicht möglich.“
Faizi: „Frieden bedeutet nicht nur ein Ende des Krieges,
sondern wir wollen Sicherheit, Möglichkeiten zur Bildung,
Berufstätigkeit und Entwicklung.“
Faizi: „Frauen, die außerhalb der Häuser arbeiten, erhalten mehr Prestige. Frauen, die das nicht tun, leiden mehr.
Deshalb raten wir den Frauen, nach draußen zu gehen. Vor
Ahmadzai: „Wir möchten, dass Frauen in der Welt solidarisch sind, dann können wir gemeinsam etwas erreichen.“
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Schlusswort
Schlusswort
zung der Überlebenden sowie der Kampf für die Verwirklichung ihrer Grundrechte. Dazu zählt vor allem der verbesserte Zugang zu Bildung – als wichtige Voraussetzung
dafür, dass Frauen überhaupt ein Bewusstsein für die eigenen Rechte erlangen.
Dr. Monika Hauser
Liebe Tagungsteilnehmerinnen und –teilnehmer,
liebe Kolleginnen,
Die Beiträge der Kolleginnen von Medica Afghanistan
machten deutlich, dass afghanische Frauenaktivistinnen
durchaus auch religiöse Argumente für ihre tägliche Frauenrechtsarbeit nutzen: Beispielsweise konfrontieren sie religiöse Autoritäten mit Auszügen aus der Sharia, die sich
auf die Rechte und den Schutz von Frauen beziehen. Besondere Bedeutung hat in ihrer Arbeit die Generationenperspektive: Indem Frauen über ihre Rechte informiert werden und an Selbstbewusstsein gewinnen, verändern sie
das hierarchische Geschlechterverhältnis. Auf diese Weise
wird der Gewaltzyklus zwischen Männern und Frauen und
in den Familien nach und nach durchbrochen.
diese Tagung hat gezeigt, dass sich seit 2002 einiges getan
hat in Afghanistan in Sachen Frauenrechte, obwohl viele
Veränderungen vorerst nur auf dem Papier existieren. Deutlich wurde auch, dass das, was erreicht wurde, fast ausschließlich der Verdienst mutiger Frauen ist, wie zum Beispiel der Aktivistinnen des afghanischen Frauennetzwerks
Afghan Women Network, in dem über 300 lokale Fraueninitiativen organisiert sind.
Einzigartig ist das Engagement der Kolleginnen von Medica
Afghanistan, die immer wieder die Realitäten ihrer Klientinnen wahrnehmen, analysieren und sie in praktische Aktionen umsetzen. Ein Beispiel dafür ist der Kampf um die
Verabschiedung eines Gesetzes zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen (Elimination of Violence Against
Women), das 2009 per Dekret erlassen wurde.
So bringen die Kolleginnen letztlich Respekt und Frieden in
die Familien und leisten damit einen wichtigen Beitrag zur
Friedensbildung. Diese Arbeit ist nicht nur „ein bisschen
Frauenförderung“, sondern ein Kernaspekt gesellschaftlicher Transformation und Befriedungsarbeit.
Doch trotz dieser und anderer Gesetze zum Schutz von
Frauen vor Gewalt ist deren Umsetzung das Hauptproblem.
Hier ist noch viel Hartnäckigkeit nötig. Bis zum geplanten
Abzug der Truppen im Jahr 2014 und darüber hinaus haben
Frauenaktivistinnen in Afghanistan und ihre internationalen Unterstützerinnen noch viel zu tun. Wachsamkeit ist angesagt, vor allem – angesichts erklärter Absichten der internationalen Politik, die Taliban an den Verhandlungstisch
zu holen, während Frauen wieder einmal außen vor bleiben.
Herzlichen Dank an die ReferentInnen, die uns mit ihren
engagierten Beiträgen zu weiteren Erkenntnisse und Einsichten angeregt haben. Mein besonderer Dank gilt meinen Kolleginnen Jeannette Böhme, Mandy Seidel und Jannika Röminger und Jörgen Klußmann von der Evangelischen Akademie im Rheinland. Den Dank an Sie für die
rege Teilnahme an den beiden Tagen verbinde ich mit der
Bitte, sich weiter zu informieren zur Situation von Frauen in
Afghanistan und das Gehörte weiterzutragen. Und ich
würde mich auch sehr freuen, wenn Sie die seit 2011 unabhängige Organisation Medica Afghanistan weiter unterstützen würden
Die mutige und zielgerichtete Arbeit von Medica Afghanistan bedeutet die psychosoziale und rechtliche Unterstüt-
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Fotoanhang
Fotografische Eindrücke der Tagung
Zarghona Ahmadzai
© Knut Simon
Erik Kurzweil, Sabine Fründt
© Knut Simon
Sajia Behgam, Dr. Monika Hauser
© Beate Kriechel/medica mondiale
Thomas Ruttig
© Knut Simon
Dr. Ute Scheub
© Beate Kriechel/medica mondiale
TeilnehmerInnen der Podiumsdiskussion
© Beate Kriechel/medica mondiale
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Fotoanhang
Die Dolmetscher Tanin Bashir und
Gholam Djelani Davary
© Knut Simon
Jörgen Klußmann
© Knut Simon
Dr. Janet Kursawe, Zarghona Ahmadzai
© Beate Kriechel/medica mondiale
Aufmerksames und interessiertes Publikum
© Knut Simon
Arbeitsgruppe rund um Sajia Behgam
© Knut Simon
Tagungsteilnehmerin, Sabine Fründt, Sajia Behgam,
Zarghona Ahmadzai, Dr. Monika Hauser,
Vida Faizi, Maria Zemp
©Beate Kriechel/medica mondiale
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