Historisches Lernen und Geschichte in der Grundschule – eine

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Historisches Lernen und Geschichte in der Grundschule – eine
ZEIT leben - GESCHICHTE lernen
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Historisches Lernen und Geschichte in der Grundschule
Historisches Lernen und Geschichte in der Grundschule – eine
Einführung
Eine zentrale Dimension des Phänomens „Zeit“und seiner Vierlfalt ist das
„historische Lernen“und die Anbahnung von „Geschichtsbewusstsein“in der
Grundschule.
Gegenwärtige Probleme bei der Anordnung von Lehrplaninhalten
Historisches Lernen hat in der Grundschule eine lange Tradition, in der jedoch seit
1955 durch die didaktische Auslegung und Verallgemeinerung der von Heinrich Roth
und Jean Piaget formulierten Entwicklungsphasen beim Kinde in einigen Lehrplänen
der Bundesrepublik bis heute ein „lehrplanmäßiger Bruch“ (Schorch 1982) zwischen
dem zweiten und dritten Schuljahr vorhanden ist. Der Bruch basiert auf der
entwicklungspsychologischen Annahme, dass bei Grundschulkindern durch die
Inhalte „Tag, Woche, Jahr, Uhr und Kalender“ zunächst das Zeitverständnis gefördert
werden müsse, bevor vom dritten Schuljahr an Geschichtsbewusstsein angebahnt
werden könne. „Geschichte“ als Lerninhalt der Grundschule wurde von der
Geschichtsdidaktik und ihrem Verständnis von chronologisch geordnetem Wissen
über Geschichte lange Zeit als „Verfrühung“angesehen. Die Notwendigkeit der
Überwindung des eindimensionalen Nacheinanders in der Anordnung der
Lehrplaninhalte und des lehrplanmäßigen Bruchs ist wiederholt beschrieben (Schaub
1996, 1998, 1999) und in Bezug auf die entwicklungspsychologischen Grundlagen
für historisches Lernen ausführlich begründet worden (Schaub 1999). Heutige
Erkenntnisse über die Entwicklung und Sozialisation von Kindern erfordern, die
Vielfalt der Zeit in Natur, Kultur und Gesellschaft über das zweite Schuljahr hinaus zu
thematisieren sowie historisches Lernen und Geschichtsbewusstsein vom
Vorschulalter an anzubahnen.
Was ist „historisches Lernen“, „Geschichte“ und „Geschichtsbewusstsein“?
Im „Perspektivrahmen Sachunterricht 2002“ der Gesellschaft für Didaktik des
Sachunterrichts (GDSU) geschieht „historisches Lernen (...) im Spannungsfeld
zwischen
• der Erfahrung des Wandels, die Kindern zugänglich ist, und
• den inhaltlichen und methodischen Angeboten aus der Perspektive der
Geschichtswissenschaft.“ (GDSU 2002, S. 17)
Beim „historischen Lernen“ im Sinne „der Erfahrung des Wandels, die Kindern
zugänglich ist“, muss aber das „alltägliche historische Lernen außerhalb der Schule“
in einer von „Geschichtskultur“ geprägten Umwelt vom „didaktisch angeleiteten und
zielgerichteten historischen Lernen“in der Grundschule unterschieden werden.
Während das aus der alltagsweltlichen Begegnung mit Geschichte entstehende
„Geschichtsbewusstsein“ mit richtigen, einseitigen oder auch falschen und
ideologischen Informationen, Deutungen und Bewertungen angehäuft sein kann, ist
vom wissenschaftlich begründeten historischen Lernen in der Schule die bewusste
Förderung der Entwicklung eines „reflektierten Geschichtsbewusstseins“
anzustreben. (vgl. Bergmann 1996, S. 328; von Reeken 1999, S. 9; Schreiber 1999,
S. 15) Der Erwerb von Kompetenzen zum Aufbau eines reflektierten
Geschichtsbewusstseins wird heute als das wesentlichste Ziel historischen Lernens
angesehen.
Autor: Prof. Horst Schaub
© Cornelsen Verlag 2002
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ZEIT leben - GESCHICHTE lernen
Historisches Lernen und Geschichte in der Grundschule
„Geschichte“ als Gegenstand des Bewusstseins wird heute nicht mehr als etwas
nur Vergangenes verstanden, das als „chronologisch geordnetes System von
Wissensbeständen“ verfügbar ist und „empfindungslos Erfahrungen und Leiden von
Menschen der Vergangenheit registriert und inventarisiert.“ (Bergmann) Vielmehr ist
Geschichte eine immer wieder neu aufbrechende Auseinandersetzung mit jenem
Vergangenen, das für uns in unserer Situation bedeutsam ist oder werden kann.
(Bergmann 1996, S. 325f.)
Für von Reeken ist Geschichte „ein Konstruktions- und Rekonstruktionsprozess von
Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart mit der Zielsetzung, in Gegenwart
und Zukunft die eigene Fähigkeit zum Verständnis gesellschaftlicher und individueller
Prozesse zu vertiefen und Handlungskompetenzen zu gewinnen.“ (von Reeken
1999, S. 7)
Nach Schreiber ist „‘Vergangenheit‘eine eigene Wirklichkeit, die aber nicht mehr
unmittelbar zugänglich ist, sondern nur als Wissen, als Bewusstsein von dieser
Wirklichkeit, als Geschichtsbewusstsein eben, gegeben sein kann.“(Schreiber 1999,
S. 16)
Pandel hat das Phänomen „Geschichtsbewusstsein“ unter dem Gesichtspunkt von
Geschichtlichkeit/Zeitlichkeit und Gesellschaftlichkeit durch sieben (bzw. nach
Bergmann acht) aufeinander verweisende Doppelkategorien und Dimensionen näher
zu bestimmen versucht.
Doppelkategorien
Dimensionen
Basiskategorien, die sich auf die Geschichtlichkeit/Zeitlichkeit beziehen:
1.
früher
-
heute/morgen
Zeitbewusstsein
2.
wirklich/historisch
-
erfunden/fiktiv/imaginär
Wirklichkeitsbewustsein
3.
statisch
-
veränderlich
Historizitätsbewusstsein
Soziale Kategorien, die sich auf die Gesellschaftlichkeit beziehen:
4.
wir
-
ihr/sie
dentitätsbewusstsein
5.
oben
-
unten
politisches Bewusstsein
6.
arm
-
reich
ökon.-sozial. Bewusstsein
7.
richtig/gut
-
falsch/böse
moralisches Bewusstsein
und die von Bergmann vorgeschlagene achte Dimension:
8.
männlich
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-
weiblich
Geschlechtsbewusstsein
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Historisches Lernen und Geschichte in der Grundschule
Die Kategorien und Dimensionen der Geschichtlichkeit/Zeitlichkeit sind wie folgt zu
verstehen:
1. Zeitbewusstsein bezieht sich auf die lineare historische Zeit einmaliger
unwiederholbarer Ereignisse im zeitlichen Verlauf von Vergangenheit (früher),
Gegenwart (heute) und Zukunft (morgen). Es geht um die Erkenntnis von
inhaltlich sinnerfüllter historischer Zeit als Voraussetzung für die Fähigkeit, Zeit zu
gestalten und Zeitperspektiven zu entwickeln.
2. Wirklichkeitsbewusstsein bezeichnet die Fähigkeit, Dinge, Personen oder
Sachverhalte als „wirklich“(historisch) oder „erfunden“ (fiktiv) zu unterscheiden
und zu erkennen, dass historische Quellen und deren Erschließung die wichtigste
Grundlage für die Trennung zwischen real und fiktiv sind.
3. Historizitätsbewusstsein ist die Fähigkeit, historischen Geschehen in seiner
Prozesshaftigkeit, Veränderlichkeit und Veränderbarkeit zu sehen sowie zwischen
Möglichkeiten des Wandels und der Veränderung einerseits und der Kontinuität
und Erhaltung andererseits zu unterscheiden.
Mit den Kategorien und Dimensionen der Gesellschaftlichkeit: wird zum Ausdruck
gebracht, dass Geschichtsbewusstsein auch immer das Bewusstsein von
Gesellschaftlichkeit einschließt und mit diesem vernetzt zu sehen ist.
Beginn, Themen-/Inhaltsbereiche und Methoden historischen
Lernens in der Grundschule
Mit der Förderung der Kategorien und Dimensionen des Zeit-, Wirklichkeits- und
Historizitätsbewusstseins müsste nach Auffassung von Bergmann historisches
Lernen in der Grundschule beginnen. Dabei könnten die Zugriffsweisen auf die
historisch-gesellschaftliche Wirklichkeit durch drei Grundmuster erlernt werden, und
zwar
a) durch die Anknüpfung an lebensgeschichtliche Erfahrungen der Kinder und ihre
Verarbeitung,
b) durch historische Erzählungen über Ereignisse und Vorgänge in der vergangenen
Wirklichkeit,
c) durch historische Fragen an die Vergangenheit,
- die aus den lebensgeschichtlichen Erfahrungen von Kindern hervorgehen oder
- über die Lebensgeschichte der Kinder hinaus auf Überreste der Vergangenheit,
die in der Gegenwart sichtbar sind, bezogen werden.
Zur Auswahl historischer Themen- und Inhaltsbereiche
Zur Überwindung des „lehrplanmäßigen Bruches“ muss historisches Lernen vom
ersten Schuljahr an beginnen. Die Auswahl der Inhalte geht deshalb vor allem am
Anfang von der unmittelbaren Lebenswelt der Kinder aus. Schreiber (1999), Schaub
(2002) und GDSU (2002) schlagen z.B. folgende Themen- und Inhaltsbereiche vor,
die in den „Vorschlägen für den Unterricht“ im Mittelpunkt stehen werden:
• Dokumente schaffen zu Ereignissen in der Lebens- und Klassengeschichte der
Kinder (Schulanfang, Beginn eines neuen Schuljahres u.a.)
• Meine eigene Lebensgeschichte
• Familiengeschichten im 20. und 21. Jahrhundert
Autor: Prof. Horst Schaub
© Cornelsen Verlag 2002
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Historisches Lernen und Geschichte in der Grundschule
• Geschichte des Stadtteils, des Wohnorts und der Region
• Der Wandel von Lebensverhältnissen durch Erfindungen von
Alltagsgegenständen (z.B. Waschen früher und heute)
• Historische Aspekte verschiedener Kulturen (z.B. Indianer) und Epochen (z.B.
Mittelalter)
• Vom Anfang der Welt und der Geschichte des Lebens auf der Erde
Bei der konkreten Auswahl von Themen und Inhalten ist darauf zu achten, dass sie
für das historische Lernen didaktisch bedeutsam, ergiebig, zugänglich und
exemplarisch sind. Dabei ist wichtig, dass die Bearbeitung historischer Inhalte nicht
nur situativ und die Reihenfolge nicht beliebig ist, sondern dass sich im anbahnenden
Geschichtsbewusstsein Strukturzusammenhänge entwickeln, an die neues Wissen
und neue Fähigkeiten „andocken“ können.
Zur Auswahl historischer Methoden (Beispiele)
Bei der Auseinandersetzung mit historischen Themen und Inhalten sollen die Kinder
auch methodische Kompetenzen erwerben. Beispielhaft sind zu nennen:
• Zusammentragen und Interpretation geeigneter Materialien (Quellen, Dokumente)
• Quellenvergleiche vornehmen und verschiedene Quellentypen unterscheiden
lernen
• Eigene Dokumentationen und Präsentationen erstellen
• Vorbereitung von Erkundungen (z.B. in Museen)
• Herstellen von Zeitleisten
• Handlungsorientierte Rekonstruktion von historischen Lebensverhältnissen (z.B.
Waschen früher und heute)
• Rollenspiele zur Darstellung historischer Situationen vorbereiten und durchführen
Damit den Kinderm die Bedeutung verschiedener historischer Methoden bewusst
wird, sollte ihre Anwendung in einer Art Metaunterricht reflektiert werden.
Literaturtipps zum Historischen Lernen
Bergmann, Klaus: Historisches Lernen in der Grundschule. In: S. George/I. Prote (Hrsg.):
Handbuch zur politischen Bildung in der Grundschule. Schwalbach/Ts.: Wochenschau
Verlag 1996, S. 319-342.
Reeken, Dietmar von: Historisches Lernen im Sachunterricht. Didaktische Grundlegungen
und unterrichtspraktische Hinweise. Seelze: Kallmeyer 1999.
Schaub, Horst: Entwicklungspsychologische Grundlagen für historisches Lernen in der
Grundschule. In: Schreiber, W. (Hrsg.): Erste Begegnungen mit Geschichte. Grundlagen
historischen Lernens (Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik, Band 1 (in 2
Teilbänden). München und Neuried: Ars una 1999, 1. Teilband, S. 215-252.
Schaub, Horst: Zeit und Geschichte erleben. Berlin: Cornelsen Scriptor 2002.
Schreiber, Waltraud (Hrsg.): Erste Begegnungen mit Geschichte. Grundlagen historischen
Lernens (Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik, Band 1 (in 2 Teilbänden). München
und Neuried: Ars una 1999.
Autor: Prof. Horst Schaub
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