Das Ich, das Licht und die Klappkistenbühne
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Das Ich, das Licht und die Klappkistenbühne
Kultur 34 az | Samstag, 24. März 2012 Stimmen wider die Dunkelheit Das Ich, das Licht und die Klappkistenbühne VON NIKOLAUS CYBINSKI Theodorskirche Das «larynx./.vokalensemble» sang Lamentationen und Responsorien zur Passionszeit. «Und von der sechsten Stunde an ward eine Finsternis über das ganze Land bis an die neunte Stunde», so übersetzte Luther das Geschehen unmittelbar vor dem Tod Jesu. Es sind Augenblicke der Gottferne, die der Gekreuzigte beklagt, und in der Theologie wurden diese «tenebrae» (Finsternis, Dunkelheit) zur Metapher dieser Verlassenheit. Sie war das Thema des Konzertes des «larynx./.vokalensembles» unter Jakob Pilgrams Leitung in der Theodorskirche. Roxy «What you want is not what you get» von den Lumpenbrüder productions ist ein wunderbar kluges, leichtes, witziges Stück Generationentheater. Klage und zugleich Trost Um zu verstehen, worum es bei den Lamentationen und Responsorien geht, ist ein kurzer theologischer Exkurs nötig: In den klösterlichen Nachtgebeten (Matutin) der drei Kartage Gründonnerstag bis Ostersamstag wurden je neun Psalmen und die Klagen des Propheten Jeremia gesungen, worauf die entsprechenden Responsorien (Antwortgesänge) erklangen. Nach jedem Gesang wurde eine Kerze gelöscht, bis völlige Dunkelheit eintrat und die Not Jesu am Kreuz konkret erfahrbar machte. Das Bühnentrio erprobt verschiedene Arten, den Kastendeckel zu schliessen. VON VERENA STÖSSINGER Ja, einfach ist es nicht. Älter zu werden und sich mit etwa dreissig Jahren zu überlegen, was aus den kindlichen Erwartungen geworden ist. Den grossen Träumen, die selbst Berufswünsche wie Lokomotivführer und Lehrer noch erleuchten konnten. Mit dieser Ernüchterung; trotz – oder vielleicht auch wegen – der Vielfalt der Möglichkeiten, der Tatsache, heisst das, dass heutzutage «eigentlich» alles möglich ist. «An dem, was wir erreichen könnten, müssen wir scheitern, weil ein Leben nicht reicht, um all das zu verwirklichen, was möglich wäre», schreiben die Lumpenbrüder programmatisch zu ihrem neuen Stück mit dem Titel «What you want is not what you get», das sie am Donnerstagabend im Roxy zeigten. Und das ist ein durchaus erkennbares Lebensgefühl. Dieser Ernüchterungszustand, dem keiner entkommt. Wie macht man nun aber aus einer sozialpsychologischen Zustandsbeschrei- bung einen geniessbaren Theaterabend? Sogar einen genüsslichen? Distanznahme zum eigenen künstlerischen Tun. Auf einer Metaebene. Patrick Gusset, Oliver Goetschel und ihre (ein kleines bisschen künstBerührende Spiel-Sprache Das Team um Laurent Gröflin (Re- lichere) Partnerin Yoshii Riesen, die gie), Christian Hansen (Autor) und Pa- drei Schau-Spieler ihrer selbst, trick Gusset (Schauspieler) setzt zum schimpfen zunächst auf Produktionseinen geschickt auf erprobte theater- zwang und -pflicht, um deren Setzunästhetische Zugriffe und verfügt zum gen – die ja auch Beglückungen sind anderen über eine umwerfend wirk- – dann doch lustvoll anzunehmen. same, das heisst: Sie spielen nämlich einfallsreiche und gern, die drei, was direkte, berührenimmer, und sie de Spiel-Sprache. spielen gut und Über viel List, viel schreiten ihr leise Charme und eine beunruhigendes uneitle, sehr körThema in beruhiperliche Bühnengend schönen Numeroberungslust und mern und wohltu-präsenz. end gekonnten Brü«Dies ist kein Lumpenbrüder productions chen ab. Aber was Schauspiel, und Ihwären sie ohne das re Schaulust wird Licht, das willkürnicht befriedigt», bekommen wir lich seine Ruhm-Spots und Erleuchdabei gleich zu Beginn zu hören – tungsquadrate auf die leere Bühne «glotzt nicht so romantisch», hätte wirft und nach dem man sich richten der alte Brecht gesagt –, der Abend muss, will man gesehen werden, und beginnt nämlich mit der kritischen ohne die Kastenbühne, diesen wun- «An dem, was wir erreichen könnten, müssen wir scheitern, weil ein Leben nicht reicht, um all das zu verwirklichen, was möglich wäre.» ZVG derbaren Klippkasten (Bühne: Chasper Bertschinger)? Ebenen und Emotionen Er steht da, quadratisch, aussen sind schwarze Klappwände, innen vier bunte, vorhangverkleidete Dreieck-Bühnchen. Räumchen zur schönen Selbstdarstellung, und insgesamt ist der Kasten doch ein Objekt, an dem man sich vorzugsweise blamieren kann. Das Bühnentrio erprobt etwa verschiedene Arten, den schwarzen Deckel zu schliessen, und steht sich dabei selbst im Weg – wie ja im Leben offenbar auch; Spiele werden gespielt, «Schere Stein Papier» zum Beispiel und «Hirsch gegen Hase»; Verhaltensänderungen erprobt, Tänze getanzt, Lieder gesungen und Texte rezitiert («Du siehst, wohin du siehst, / nur Eitelkeit auf Erden. / Was dieser heute baut, / reisst jener morgen ein») – Altes und Neues mischt sich, Tempi und Temperaturen, Ebenen und Emotionen, Show und Ehrlichkeit. Sehr schön. Abseits der (ganz) grossen Namen Stimmen-Festival Das Programm wurde im Burghof Lörrach vorgestellt. Eine kursorische Übersicht. VON NIKOLAUS CYBINSKI Sei es, dass sie an Zugkraft eingebüsst haben, sei es, dass sie unbezahlbar geworden sind: Das kommende Stimmen-Festival vom 11. Juli bis 6. August verzichtet, sieht man von Bobby McFerrin ab, auf die (ganz) grossen Namen und setzt bewusst auf «Eigenproduktionen, originäre Festivalprojekte und speziellere Themen, auf musikalische Entdeckungen und Überraschungen». Ein grosser Name indessen dominiert zumindest den Beginn; denn der thrakische Sänger Orpheus, dessen Gesang, wie bekannt, Steine, Bäume und wilde Tiere rührte, wird zu einer Art Namenspatron, der dem Festival das Motto «Orpheus und wir» liefert. Doch als Prolog inoffiziell vom 6. bis zum 8. Juli eröffnet, wird das Festival mit «Eurydikes Lamento» als begehbarer Installation im Lörracher Burghof. Es geht dabei nicht um Monteverdis Oper «L’Orfeo», sondern um das von Ann Allen konzipierte Crossover, zu dem auch vom 3. bis 6. August im Römischen Theater Augusta Raurica «stella orfeo» gehört, die Zusammenarbeit der Basler Madrigalisten mit der italienischen Compagni Aterballetto in der Choreografie von Mauro Bigonzetti zur Musik von Antonluigi Galeandro und Hans Werner Henze. Im Riehener Wenkenpark sind am 13. und 14. Juli «Jetsam5» (Walti, Moni und Celine Huber) mit Lizz Wright und Raul Midon sowie die «Trembling Bells» und «The Low Anthem» zu hören. «Stimmen-Freund aus den USA» Bobby McFerrin, der «StimmenFreund aus den USA», kommt mit «WEB3» am 16. Juli in den Burghof, und ihm folgen am 25. und 26. Juli die «Fratelli Manusco» und «Light in Babylon» und am 29. Julieta Venegas. «Eigenes und Fremdes» bietet am 27. Juli ein Abend im Rosenfelspark mit «Kazalpin», Marco Käppeli, Patricia Dräger, Christian Hartmann und Albin Brun, «musikalisches Urgestein» aus der Schweiz. Und Fortunat Frölich aus Graubünden hat in «Chanta, o unda» die Begegnung eines Graubündner Chores mit Sängerinnen aus Rabat verarbeitet. Das Lörracher Stimmen-Festival ist längst ein regionales geworden, das zeigen die Konzertorte Augusta Raurica, Wenkenpark Riehen, Les Dominicains Guebwiller. Auch thematisch ist es seit Jahren grenzüberschreitend. «Lörrach singt» (14. Juli, 10 bis 21.30 Uhr in der Lörracher Innenstadt) ist in Wirklichkeit «Die Regio singt», denn zahlreiche schweizerische Laienchöre sind regelmässig dabei. Und im «Voicelab» werden zurzeit 40 Studierende aus Baden und der Nordwestschweiz von 17 Dozenten unterrichtet. Schliesslich wird am «Höhenweg der Stimmen», der von der Burg Rötteln über den Tüllinger führt, auch das «larynx./.vokal- Eröffnung am 11. Juli «stella orfeo» vom 3. bis 6. August im Römischen Theater Augusta Raurica mit der Compagnia Aterballetto (Mauro Bigomzetti, Choreographie) und den Basler Madrigalisten (Fritz Näf, Leitung). Beginn 10.30 Uhr. Wenkenpark Riehen am 13. Juli Lizz Wright & Raul Midon und am 14. Juli Trembling Bells und The Low Anthem, jeweils 20 Uhr. Eröffnung des Festivals am 11. Juli um 20.30 Uhr im Lörracher Burghof mit Michel Godard «Monteverdi – A trace of grace». ensemble» aus Basel teilnehmen. So wird auch das 19. Festival voller Überraschungen sein und Highlights bringen, auch wenn die grossen Namen fehlen. Ihre Abwesenheit hat die Fantasie der Programmmacher, zu denen auch Niggi Ullrich von «kulturelles bl» gehört, durchaus beflügelt. Das Schiff blieb im Dunkel, sodass man sich, auch bei nur rudimentärem Textverständnis, ganz der Musik überlassen konnte. An diese liturgische Tradition der einstigen «Finstermetten» (die um 1800 aufgegeben wurde) erinnerte nun «larynx» mit seinen A-cappellaGesängen von Antonio Lotti, Giovanni Pierluigi Palestrina, Tomás Luis de Victoria, Carlo Gesualdo di Venosa, Gregorio Allegri, Felice Anerio und Antonio Caldara in der im Altarraum mit Kerzen erleuchteten Theodorskirche. Das Schiff blieb im Dunkel, sodass man sich, auch bei nur rudimentärem Textverständnis, ganz der Musik überlassen konnte. Sechs Gesänge Gesualdos waren die «Anker», um die herum, beginnend mit einem «Crucifixus á 8» Lottis und folgend mit der «Lectio prima» aus Palestrinas «Lamentationes Jeremiae», und endend mit dessen «lectio ultima» und dem «Crucifixus à 16» Caldaras, das Programm konzipiert war und seine Mitte in de Victorias «Tenebrae factae sunt» fand. Die Dunkelheit, auch die im Kirchenschiff, wurde zum spürbaren Erleben. Dass jetzt Stimmen wider sie erklangen, machte klar, was diese, ein halbes Jahrtausend alte Musik einst wollte und bewirkte: Klage und zugleich Trost zu sein. Schafft sie das heute noch? Bewegung der Seele Das 16-köpfige professionelle Vokalensemble hatte keine Mühe, die zumeist elegische Feierlichkeit der Gesänge spannend zu halten. Dafür sorgten zum einen seine präzisen dynamischen Nuancen und zum andern die Individualität der Stimmen, die sich zwar gelegentlich ausleben durfte (Soprane, Tenor), sich zugleich aber immer wieder zu einem schönen Gesamtklang zusammenfand. Dass Intonation und Artikulation perfekt glückten, muss nicht besonders erwähnt werden. Feierlichkeit, das lehrten diese Gesänge, ist, theologisch verstanden, Bewegung der Seele, ihr Sich-Öffnen auf die Botschaft hin. Und ästhetisch ist sie nicht nur etwas Schönes, sondern immer noch Erhebendes. Wie sehr sie in unserer Zeit allerdings verletzbar ist, machten die Trams hörbar, die über den Wettsteinplatz fuhren.