„WIR SIND NIEDERSACHSEN.“

Transcrição

„WIR SIND NIEDERSACHSEN.“
Nejla Gür musste sich innerhalb
von 17 Tagen entscheiden – und
entschied sich für Deutschland.
Nicht aus Not, sondern aus Neugier. Nejla Gür aus der Bergbaustadt
Soma war 19 Jahre alt, wollte die Welt
entdecken und kam 1971 nach Hildesheim. Sechs Jahre lang stand sie bei
Blaupunkt am Band, zwei Jahre lang
zog sie Goldfäden in die ersten Computerchips. Im Wohnheim lebten Hunderte
Frauen, um 22 Uhr wurde die Tür abgeschlossen. Wer zu spät kam, musste
draußen bleiben. Die Chance Deutsch zu lernen, gab es nicht. Nicht mal an
der Volkshochschule – weil das Schichtende nach Kursbeginn lag.
„Integration ist für mich
Respekt, Teilnahme und Kreativität.“
Aber wenn man Menschen kennenlernen will, findet man immer einen Weg
– Hände, Füße, einzelne Wörter oder den Tanz. Mit dem Tanz trat auch eine
deutsche Familie in Nejla Gürs Leben. „Meine Zweitfamilie“, sagt sie heute.
Die Familie Heller ermunterte sie, ihr Hobby zum Beruf zu machen: die Kunst.
Beim Tag der offenen Tür in der Universität Hildesheim kam sie mit Professor
König ins Gespräch. Ihre Mappe lag unten im Auto. Sie selbst holte sie nicht.
Es war ihr Bekannter. Der Professor erkannte ihr Talent und bot ihr eine halbe
Stunde Unterricht pro Woche an. „Seitdem liebe ich Donnerstage“, sagt
Nejla Gür. Tagsüber stand sie weiter am Band. Nachts, während ihre Mitbewohner schliefen, malte sie in der Küche. Nacht für Nacht. Nahm alle Aufgaben in Angriff, die ihr Professor König donnerstags stellte. Und lernte dabei
nicht nur die Töne der Farben, sondern auch der deutschen Sprache kennen.
Sie erweiterte ihren Wortschatz schnell. Nach acht Jahren bei Blaupunkt reichte sie ihre Mappe bei der Hochschule für Bildende Künste (HBK) in Braunschweig ein und fuhr in den Urlaub. Als sie wiederkam, lag die Einladung zur
Aufnahmeprüfung im Briefkasten. Nejla Gür war 27 Jahre alt, an diesem Tag
krank – und bestand. An einem Freitag beendete sie ihren Job am Band, am
Montag drauf begann sie an der HBK. Und entdeckte eine neue Welt. „In
Braunschweig habe ich Menschen gesehen – tagsüber – im Hellen.“ Und
nun stand die Welt ihr wirklich offen. Sie entdeckte die Studienreisen, fuhr
nach Wien, Venedig, Florenz, Paris, London und Madrid. Heute stellt sie selbst
aus – unter anderem in Frankreich, Finnland, Cuba, Türkei, Martinique und
Schanghai. Und sie lehrt an der HBK Braunschweig.
„WIR SIND
NIEDERSACHSEN.“