Soziale Problemeo soziologische Theorie und rnoderne

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Soziale Problemeo soziologische Theorie und rnoderne
SozialeProblemeosoziologischeTheorie und
rnoderne Gesellschaften
Axel Groenemeyer
1. Möglichkeiten und Perspektiveneiner SoziologiesozialerProbleme
L
Entstandenaus der Philosophieder Aufklärung und des Positivismuswird die Soziologie in ihren Anfiingen im 19. Jahrhunderthtiofig als ,Krisenivissenschaft"charakterisiert, deren genuinesThemenspektum in den Sclattenseitengesellschaftlichen Wandels gesehenwird. Mit der industriellen Revolution waren gesellschaftliche Modemisierungsprozesse
verbunden,deren negativetAuswirkungen auf die
Lebenspraxisnach neuenDeutungenund.vot allerg nach tösungen verlangtea.soziale Problemewaren im Kontext gesellsc{aftstheoretischer
Perspektivennicht nur
deutliche Indikatoren für gesellschaftlicheFehlentwickftmge:rund Krisen, sondem
offenbartenauch die zentralenFunliilionsprinzipiengesellschaftlicherBeziehungen
und Strukturen. vor dem Hintergrund der Aufklärungsbewegungund der politischenIdeale von Freiheit, Gleicbheit und Brüderlichkeit wurden Armut, Kinderarbeit, Kriminalität, Alkoholkonsum,Krankheit und psychischenstörungenin denunterensozialenKlassen- zusanrmengefaßt
als ,,sozialeFrage"- r,r* zentalen Bezugspunktder Entwicklungsozialwissenschaftlichei
Diszipinen.
Eine Zusammsil[sssrrngverschiedenerproblemlagen unter d.em Konzept der
,,sozialenFrage" war insofern gerechfertigt, als die industriell kapitalistischeEntwicklung oder allgemeiner,der rapide sozialeWandel, als einheitlicheUrsacheder
als problematischaufgefaßtenEntwicklungur gesehenwerdgnkonnte.Die Entwicklung desWohlfahrtsstaates
schiendabeiauchder soziologischen
Theorieals Garant
für die Herstellunggesellschaftlicfter.Integratior5
und ,,sozialeProbleme"verloren
ihre konzeptionelleSonderstellungfür die Gesellschaftsanalyse.
Ihnen wurde fortan
eher die Rolle pathologischerAusnahmeerscheinungen
zugedacht,deren Thematisierungund Analyse allenfalls im Rahmender angewandtensoziologie gerechtfertigt und ansonsten
eherin denFachhochschulbereich
der Sozialarbeiioderdie Ausbildungsg?inge
der klassischen
Professionen
zu gehörenscheint.
Darüberhinaushandeltes sich bei der Kategorie,,,soziale
Probleme"um einen
Alltagsbegriff, in dem scheinbar völlig unterschiedlicheDinge zusammengefaßt
werden, so daß sich die Frage stellt, ob es überhaupttheoretischheutzutagenoch
sinnvoll ist, von einem einheitlichensoziologischenGegenstandsbereich
sozialer
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Problemezu sprechen.Tatsächlichwar lange unklar und strittig, worin der spezifische Erklärungsbeitag einer Soziologie sozialer Problemeüber die in der Forschung über einzelne soziale Problemehinaus bereits entwickelten Theorien und
Methoden bestehensoll.
HeuEutage ist für hochdifferenzierteGesellschafteneine Bestimmung sozialer
Problemeauf der Grundlageeiner durch die kapitalistisch-industriellenProduktion
verursachten,,sozialenFrage", von der alle Probleme abgeleitetwerden können,
nicht mehr zu rechfertigen. Von einer SoziologiesozialerProblemekaruralsonicht
erwadet werden, daß sie alle aktuellenund potentiellensozialenProblemeauf eine
einheitliche Ursachenzurückführt. Die theoretischeEinheit des Gegenstandsberei
cheseiner SoziologiesozialerProblemeist nicht in einer einheitlichenUrsache,sondern in einheitlichen Konsequenzenzu suchen:soziale Problemewären derurach
diejenigengesellschaftlichen
Tatbestlinde,Bedingungenoder Praxen,die Leiden
und Störungenverursachenoder als solchesaufgefaßtwerden.Es muß also dasProblematische an gesellschaftlichenEntwicklungen, Stnrkturen, Institutionen und
Praktiken zum Ttiemä gemachtwe1$en,um dann die Bedingungenzu analysieren,
unter denendiese'zusozialeq das'hbintzu öffentlichenProblemenwerden.
Die soziologischeDiägnosegesellschaftlicher
Störungenund sozialerProbleme
setzt.immerauchA.::naliinenüber einen,,ungestörten"oder ,,nomalen" Zustandder
Gesellschaftvoraus.Allerdings ist es geradezuein Definitionsmerkrnalvon Gesellschaftenund sozialenBeziehungen,daß ihre Ordnungnicht stabil ist; Gesellschaft
ist die permanenteEntwicklung geregeltersozialerBeziehungen.Damit ist es nicht
nur grundsätzlichproblematisch,Ordnung zu bestimmen,sondem darüber hinaus
auch noch wissenschaftlicheKriterien für eine Abgrenzungzwischen ,,normalem"
und problematischemsozialenWandel anzugeben.Eine Soziologie, die sich mit
problematischengesellischaftlichenBeding"ngen und Entwicklungen bescfuiftigt,
unterliegt deshalbleicht der Neigung, von außenan sie herangetageneWerbnaßstäbeeiner .guten" geselschaftlichenOrdnungzu übernehmen,um darandann das
Problematischean sozialenProblemenzu bestimmen.
Geradeder unmittelbareBezugder SoziologiesozialerProblemezur Politik und
der Rückgriff auf eine Kategorie des Alltagswissens,die an moralischenund ethischenStandardsgebildetwird, fordert von der Soziologieeine Klärung oder zumindest Reflexion der Frage nach ihrem eigenenStandort innerhalb der Gesellschaft
heraus.Der Bezug der SoziologiesozialerProblemeauf gesellschaftlicheWert- und
Moralvorstellungenführt also unmittelbar zu der'Frage, ob und inwieweit die Soziologie gegenüberden ThematisierungensozialerProblemein der Gesellschafteine
eigenständige,wissenschaftlichangeleiteteAnalysebasisentwickeln kann, oder ob
sie nur den gesellschaftlichenDefinitionen sozialerProblemeinnerhalb der Gesellschaftfolgen kann, weil sie selbstBestandteilebendieserGesellschaftist und gegenüber dem Alltagswissen keinen besonderenStellenwert beanspruchenkann.
Damit ist die die Soziologieseit nahezuhundert Jahrenbeschäftigendeund immer
wieder stittige Frage nach dem Wert- und Prodsbezugund damit auch nach der
gesellschaftlichen
Relevanzder Soziologieängesprochen.
Soziologie
sozialerProbleme
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Das Konzept ,,SozialeProbleme"wird hier also,nichtals ein übergreifendesLabel für verschiedene]v{ängellagenin der Gesellschaftaufgefaßt,das verschiedene
speziellenSoziologien(Kriminalsoziologie,Medizinsoziologie,Behindertensoziologie, Drogenkonsumsoziologieetc.) zusammenfaßt,auchwenn der Begriff geradein
Handbüchemhäufig genausogebrauchtwird. Der Gegenstandsbereich
einer Soziologie sozialerProblemeist auch als Zweig der angewandterlSoziologie,in dem die
Produktion und Verrnittlung von Wissenüber konkrete gesellschaftlicheMißstände
und über Aktivitäten zu ihrer Bewältigung im Vordergrund steht, nr eng gefaßt,
1983,S. 10).
obwohldiesesaucheineAufgabeist (siehez.B. Stallberg/Springer
Demgegenübersollen in diesemund den folgendenArtikeln sinige theoretische
Bausteineund Perspektivenin programmatischerAbsicht entwickelt werden, die
auffassoziologischenGegenstandsbereich
,,sozialeProbleme"als eigenstZindigen
sen, an dem die zentralen Funktionsprinzipienmoderner Gesellschaftenauf verschiedenenEbenenanalysiertwerden können. Die Analyse der sozialenKonstitution sozialerProblememuß demnachsowohl die Entstehungs-und EntwicklungsbedingungensozialerProblemeals Fragenach den Prozessen
und Bedingungender
gesellschaftlichenStuktur und dessozialenWandelsthematisieren,als auch dessen
Verarbeitungin der Entwicklung kultureller Muster, symbolischerSinnsystemeund
gesellschaftlicherPraktiken. Die Frage nach der gesellschaftlichenund politischen
VerarbeitungsozialerProblemeverweistdarüberhinausdirekt auf Problemeder gesellschaftlichen Steuerbarkeitund politischen Steuerungsfiihigkeitbzw. auf die
FunktionsweisendespolitischenSysternsmodemerGesellschaftsn.
2. Was sind sozialeProbleme?
Betachtet man die Inhaltsverzeichnisse
einschlägigerHandbücheroder befragt das
Alltagsbewußtseindanach,was sozialeProblemesind, so scheintdaseinzig gemeinsamezwischenihnen zu sein, daß es dabeium unerwänschte,elende,Ekel, Leiden,
Scheußlichkeiten,Störungenund Kummer verursachendeDinge geht, die gleichwohl auch die Neugierdeund die Phantasieanregen.Was soziale Problemeunter
soziologischerPerspektivegenau sind, worin denn das Problematischean ihnen
liegt und wie man sinnvoll so verschiedenartigeErscheinungenwie Armut, Kdminalität, psychischeStörungenund Krieg unter eineKategoriezusammenfassen
kann,
gehörtzu den strittigenFrageneiner SoziologiesozialerProbleme.
Betachtet man den Katalog gängigerDefinitionen sozialerProbleme,so fallen
drei Aspekte oder Ebenender BestimmungsozialerProblemeauf: Erstensbeziehen
sich sozialeProblemeauf bestimmtekonkretesozialeBedingungen,Strukturenoder
Situationen,die als Störung,Widerspruchoder Funktionsproblemder Gesellschaft
analysiertwerden können. Zweites Element der Definition ist die Wahrnehmung,
Benennungoder sozialeKonstnrktion als sozialesProblem,und drittens beinhaltet
die Bestimmung sozialer Problemedie Möglichkeit und Notwendigkeit von Veränderungender Situationund die Entwicklung von Gegenmaßnahmen
und Politik.'
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Axel Groenemeyer
Soziologie sozialer Probleme
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2.1 Soziale Probleme und soziale Situation
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Die meisten Definitionen sozialer Probleme gehen davon aus, da3 soziale Bedingungen, Stukturen und Situationen allein noch keine sozialen Probleme konstituieren. Tatsächlich karur man im historischen Rückblick oder im Vergleich verschiedener Gesellschaften eine Vielzahl von Situationen, gesellschaftlichen Entwicklungen
oder Praxen finden, die aus heutiger Sicht oder vom StandpunlC eines externen Beobachters ohne weiteres als äußerst problematiscfu nngesehen wiirden, die aber innerhalb ihres sozialen und historischen Kontextes keine gesellschaftliche Aufrnerksamkeit erfahren oder als Selbstverständli"tr1si1 hingenoillmen werden, wie z'8.
Sklaverei, Ausrottung von Ureinwohnem, Apartheid oder Frauendiskriminierung.
Genauso kann man eine Vielzahl sozialer Probleme aufzählen, denen eine ,,objektive" Basis in der behaupteten Forrn vollkommen fehlt, wie z.B. Hexenverfolgung
oder die Kommunistenangst der fünfziger Jahre in denUSA.
Infolgedessen wird in den meisten Definitionen davon ausgegangen, daß die Bestirnrngng eines sozialen Problems im wesentlichen nicht als gesellschaftliche Schadenskategorie, sonderr über seine soziale Defini.tion als Problem innerhalb der Gesellschaft zu erfolgen hat. Die soziale Situation, die Lebensbedingungen oder die
Handlungsmuster sollten also nicht als Bestandteil der Definition sozialer Probleme
aufgefaßt werden. Ob und inwieweit sie allerdings die Grundlage oder zumindest
einen bedeutenden Einflußfaktor für den gesellschaftlichen Definitions- bzw' Konstrrktionsprozeß darstellen, ist strittig.
Manchmal wird angenommen, daß soziale Probleme soziale Ursachen haben
müssen (Henshel 1990), bzw. daß sie auf Enfwicklungen der Sozialstuktur und des
sozialen Handelns zurückzuführen oder gar Entscheidungen zurechenbar sein müssen (Hellmann 1994). Diese Einschränkung ist allerdings nicht notwendig, wenn
man daran festhält, daß soziale Probleme über die Vorstellung einer Veränderbarkeit
konstituiert werden; soziale Probleme, gegen die oder deren Auswirkungen gesellschaftliche oder politische Maßnahmen entwickelt werden könnten, brauchen nicht
unbedingt auch soziale Ursachen zu haben, wie z.B. Naturkatastuophen oder Klankheiten. Offensichtlich ist die Zuschreibung sozialer Ursachen auch eher ein Aspekt
der Definition und Konstruktion als soziales Problem und keine feststehende Eigenschaft von Situationen und Zuständen' So dürfte es u'a' ganz entscheidend vom
Stand der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung abh?ingen, ob soziale oder nichtsoziale Ursachen für soziale Probleme angenornmen werden. Ztdem
ist in dieser Bestimmung implüit die Vorstellung enthalten, daß Probleme, die auf
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AxelGroenemeyet,
soziale Ursachenzurückgeführt.werdenkönnen, leichter zu kontrollieren sind als
diejenigen,denen,,natürlichei"ursachenzugrundeliegen. Diese Idee ist allerdings
völlig unbegrändet
Tatsächlich sollte zwischeg der Definition als ,,sozialesProblem" und problematischengesellschaftlichenBedingungenund Entwicklungen unterschiedenwerden. Erst darurkann es zu einer empirischzu beantwortendenFrage gemachtwerden, ob und inwieweit den gesellschaftlichenKonstrrktionen ,,sozialerProbleme"
ein schaden oder eine Funktionsstörungder gesellschaftlichenordnung zugrunde
liegt. Nur so kann die soziologieauch,,scheinprobleme"
identifzierenodergesellschaftlicheB,edingungen
diagnostizieren,
die als ,,latentesozialeProbleme"(noch)
nicht in der Gesellschaftdefiniert oder als relevant erachtetworden sind. Gerade
hierin kann dasbesonderePotentialund die gesellschaftlicheRelevanzeiner Soziologie sozialerProblemegesehenwerden,wenn nicht nur die Definitions- und Konstruktionsprozesse,,erfolgreich" etabliertersozialerProblemenachgezeichnetwerden, sonderndartiber hinaus analysiertwerden kann, unter welchen Bedingungen
bestimmte problematischegesellschaftlicheBedingungennicht als relevante ,,soziale Probleme"thematisiertwerden.
Die Bestimmungvon Situationen,PraxenoderBedingungenals Verursachervon
Leiden oder als Grundlage'fürFunktionsstörungen
ist allerdingsnur relativ zu spezifischen Sollzust?indenoder Idealvorstellungenmöglich; von daher erklärt sich die
besondereBedeutungvon werten und Normen für die Analyse sozialerProbleme.
ProblematischegesellschaftlicheBedingungensind also als Lebensbedingungen,
Situationen.oderHandlungsformenaufzufassen,die gegenkollelrive normative Erwartunguroder'Werteverstoßen(vgl. Hellrnann1994;Lauünann1981).In diesem
ginns sind Konflikte häufig die GrundlagesozialerProbleme.
Die Erwarhrngsenttäuschungen
müssendarüberhinausüber einenlitngerenZeitraumbestehen.Eherkurzfristigbedeutsame
Ereignissestellenkein sozialesProblem
dar; es geht vielmehr um sozialeSituationen,die als mehr oder weniger stabile gesellschaftlicheZuständeaufgefaßtwerden.Einzelereignissenkommt allenfalls eine
symbolisbheBedeutungim Prozeßder Konstruktionund Definition als sozialesProblemzu.
Ob es gelingt, darüber'hinausgehende
Kriterien problematischergesellschaftlicher Bedingungenzu ermitteln,h?ingtdavon ab, inwieweit es überzeugendgelingt,
die Werhnaßstäbeselbsttheoretischzu rekonstruierenund an gesellschaftlicheEntwicklungen zu binden. Eine grobe Orientierunghierfür wäre die Ermittlung von für
bestimmteKulturen, Epochenund Gesellschaftsformationen
grundlegendeund konstitutive Wertideenund Funktionsprinzipien"an derenVerleEung sozialeProbleme
unabhängigvon den KonjunkturengesellschaftlicherThematisierungbestimmtwerdenkörurten(siehehierzu Groenemeyer1996).
2.2 SozialeProblemeals.soziale
De/inition
Hauptaspektder BestimmungsozialerProblemeist die kollektive Definition, darüber bestehtweitgehendEinigkeit. Strittig hingegenist, ob und in welcher Weise
dieseDefinitionen aufkonkrete gesellschaftlicheBedingungenaufbauenoder ob so-
SoziologiesozialerProblene
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ziale Probleme unabhängig davon sozial konstruiert werden. Im ersten Fall steht die
Frage nach den Bedingungen der Wahmehmung, Interpretation rurd Evaluation gesellschaftlicher Sachverhalte sowie die Beziehungen zwischen individuellem Erleiden und der gesellschaftlichen bzw. politischen Thematisierung als ,,sozialös Problem" im Zentrum einer Soziologie sozialer Probleme. Im zweiten Fall werden soziale Bedingungen als soziale Konstruktionen aufgefaßt, denen kein andossl $inn
zukommt als der ihnen von den Gesellschaftsmitgliedem in interaktiven Prozessen
zugeschriebene. Es geht dabei also nicht um Bedingungen der Wahmehmung und
Deutung von sozialen Gegebenheiten, sondem diese werden erst in Prozessen kollektiven Verhaltens als Gegebenheiten geschaffen.
Während in beiden Perspektiven die Konstitution sozialer Probleme als Prozeß
kollektiven Handelns aufgefaßt wird, unterscheiden sie sich grundlegend in der Beurteilung der den Definitionsprozeß leitenden Werftnaßstäbe. In einer radikal konstruktivistischen Perspektive sind allein die Maßstäbe, die in den situativen Interpretationen, Interaktionen und Handhrngen der Gesellschaftsmitglieder zur kollehiven
Durchsetzung von Definitionen sozialer Probleme zum Ausdruck gebracht werden,
fiir die Bestimmung ausschlaggebend. In einer kritischen Perspektive, die den Konstitutionsprozeß im Kontext sozialer Stnrkturen und Institutionen verankert, wird
demgegenüber der Wissenschaft, besonders der Soziologie, eine Korrektivrolle zugedacht, die es ermöglichen soll, die Deutungsmuster und Interpretationen der ,,öffenflichen Meinung" selbst in ihrem Bedeutungs- und Realitätsgehalt zu hinterfragen.
In den meisten Definitionen sozialer Probleme ist die Bestimmung von Akteuren
der Definitionsprozesse problematisch. So bleibt in der Regel ungeklärt, was mit
,,bedeutende Anzahl von Personen" oder als ,,Anzahl bedeutender Personen" gemeint ist. Schetsche(1996) unterscheidetz.B. acht Typen ,,kollektiver AtrJeure" im
Hinblick auf ihre Motive (Werte, Interessen) ihrer sozialen Herkunft und politischen
Bedeutung (S. 39ff.): Behoffene, Advokaten, ExpertenProfessionelle, Problemnutzer (Verbände, Parteien, Interessengruppen), soziale Bewegungen, Moraluntemehmer, Massenmedien und den Wohlfahrtsstaat. Diese kollektiven Akteure seken mit
jeweils unterschiedlichen Defrnitionspotentialen verschiedene Ressourcen (Macht,
Geld, Aufmerksamkeit) ein, um bestimmte Deutungsmuster und Sachverhalte in
öffentlichen und politischen Arenen nt plaziercn. Sozialen Bewegungen und Massenmedienkommt hierbei eine besondereBedeutung zu, und ihnen ist bislang in den
Forschungen zu Prozessen der Konstitution sozialer Probleme am meisten Aufmerksarnkeit gewidmet worden (vgl. Albrecht, ,,Massenmedienund soziale Probleme";
Karstedt, ,,SozialeBewegr ngen", in diesem Band).
Entscheidend für die Konstitution sozialer Probleme ist die Art der Thematisienrng von Sachverhalten. Ein soziales Problem muß abgegrenzt, strukturiert und im
gesellschaftlichen und politischen Raum definiert werden, und dazu muß es einen
identifizierbaren Namen haben. Die Art der Defurition eines sozialen Problems ist
dabei bereits ebenso Identifikation wie auch Grenzmarkienrng von Zuständigkeiten
und Aktivitäten zu seiner Lösung, deshalb können soziale Probleme auch stategisch
genutzt werden und sind häufig das Ergebnis von Interessendurchsetzungen, einge-
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bettet in die mit ibnen verbundenenIdeologien. Damit sind soziale ProblemeBestandteil geseilschaftlicherAuseinanderseEungen
und politischer Konflikte, in denen die Art und dasAusmaß'derThematisierungsozialerProblemeentwickeltwird.
Eine keineswegsselbstverständliche
Grundbedingungfür die Konstitution eines
sozialenProblemsist die Definition einer Situation im Kontext kollektiver Zustlindigkeiten, die,direkt mit der Unterscheidungvon gesellschaftlichenBereichen in
Zwar sind auch individuelle, ,,private
,privat* und ,,öffentlich'! zusammenhängen.
Probleme" typischerweisein gesellschaftlicheBedingungen,Entwicklungen und
Deutungeneingebettet gleichwohl müssensie erst in öffentliche Themenübersetzt
werden, damit sie zu sozialenProbleme,nwerden körmen;hierfür hat Mills (1959)
die Unterscheidung
von,private touble" und,public issus"singeführt.Nicht jedes
,,pdvate Problem" läßt sich in ,public issues"tiberführen, z.B. weil institutionalisierte Werthaltungen,Ideologien oder Deutungsmustereine Interpretationin Kategorien des öffentlichen und politischen Diskurses sozialer Probleme erschweren
oder gar unmöglich machen
Die öffentliche,Thematisierung,,sozialerProbleme"nimmt ihren Ausgangspunkt
an der Konsürrktion und Definition,von Sachverhalten,die Leiden oder Unbehagen
verursachenund mit einer moralischenEntrüstung,Empörung oder einem Gefühl
von Ungerechtigkeitverbundensind. DieseGefühlewerdenabernicht durch soziale
Problemeheworgerufen,sondemeherumgekehrt,Situationenwerdenerst dadurch,
daßsie ebendieseGeftihle hervomrfen,zu sozialenProblemen.Dieseraffektive Gehalt sozialer Problemeist integraler Bestandteileiner BestimmungsozialerProbleme, und die emotionaleEnergie,mit der sozialeProblemeaufgeladensind, kann neben der Anzahl sich betoffen zeigenderMenschen- als ein Indikator der Problemschwerefungieren:je heftiger die öffentlichen Reaktionen,als desto schwerwiegenderwird dasProblem,bewertet,(vgl.
Tallman1976,S. 35ff.).
Eine Mobilisierung und Sicherungvon Unterstützungfür bestimmteProblemanliegen erfordert daherhäufig eine Aktivierung dieser affektiven Anteile sozialer
Probleme über eine Dramatisierung,Moralisierung und Produktion von Mythen
(Gerhards1992;'Schetsche1996,S. 87ff.), die darnit eine Ressourcefür sfiategischeNutzungen im Prozeßder Durchsetzungvon Werthaltungen,Deutungsmuster
und Interessender verschiedenen
kollektiven Akteure darstellen.
GrundlagedieserProzessesind auchhier wiederumdie in einer Gesellschaftverfügbarenkulturellen Muster,Werte und Ideologien.Mißständeund Ungerechtigkeiten werdennicht an:individuellenMaSstäbenund Wertvorstellungengemessen,sondern im Kontext lultureller Standardsverortet, desseakognitive wie auch affektive
Aspel:tesich z.B. für modernewestlicheGesellschaften
u.a. über die Monopolisierung von Gewalt und die,EntwicklungdesWohlfahrtsstaates
im ,,Prozeßder Zivißsation"(Elias 1976)herausgebildet
habenund immerwiederneuherausbilden.
2.3 SozialeProblemeundPolitik,
Das Redentiber soziie Problemeimpliziert die Vorstellung,daßdie Situationnicht
so seinmuß, sondemauchandersseinkönnte.In allen Gesellschaftensind Ereignis'se, Zuständeund sozialeBedingungenbekannt,die unerwünschtsind, Leiden und
sozialerProbleme
Soziologie
2l
Kummer bedeutenoder Störungenverursachen.Aber nw wenn in einer Gesellschaft
die Vorstellung einer gesellschaftlichenVer?inderbarkeitdieserZuständeverbreitet
ist, kann man von sozialenProblemensprechen.Solangedie Lebensbedingrtngen
und das Verhalten als Akte einer höherenMacht oder der Nahr angesehenwerden
wird, sind sie
und dadurcheine Veränderungdurch sozialesHandelnausgeschlossen
mit
keine sozialenProbleme.D.h. nicht, daßesz.B. in vormodernenGesellschaften
gegeben
Probleme
einem Vorherrschenreligiöser Deutungsmusterkeine sozialen
hat, sobaldMaßnahmengegenbestimmteVerhaltensmusteroder Situationenergriffen und institutionalisiertwurden,so war damit ein sozialesProblembetoffen'
der SäAllerdingshat geradedie modemeGesellschaftimZtge von Prozessen
Gevon
kularisierung,der Aufklärung und der Rationalisierungdie ;,Gestaltbarkeit
die
kulturellen
sellschaff' (EversA.{owohry1987) institutionalisiert und damit
Grundlagenfür die Konstitution sozialerProblemein besonderemMaße geschaffen;in diesemSiruresind soziale Problemedas Produkt modernerGesellschaften.Die
kulturellen Werthaltungen,die ein aktives GestaltengesellschaftlicherZuständeermöglichen, sind durchauszwischenverschiedenenGesellschaften,aber auch innerhalb einer Gesellschaftzwischen verschiedenenGruppen unterschiedlich ausgeoder
prägt. So weist z.B. Merton (1976, S. 18ff.) daraufhin, daß Gesellschaften
auf
die
im
Hinblick
einer
Gesellschaft
auch Klassen oder Subkultureninnerhalb
könwerden
Verbreitung fatalistischerund aktivistischerWerbnusterdifferenziert
für sozialeProbleme
nen, womit jeweils unterschiedlicheThematisierungspotentiale
verbundensind.
Diese Überlegungendeutenein methodologischesProblemder Bestimmungsozialer Problemeüber öffentliche Meinung an: häufig zeigen geradediejenigen,die
am gravierendstenvon sozialenProblemenbetoffeu sind, eher fatalistischeWerte,
überlebenswichtigeRationalisierungenund eine starkeBetonungvon privaten Problemen des individuellen Nahraums,so daß eine Soziologie,die ihre Themenauswahl ausschließlichdarauf stätzt, leicht der,Gefahrerliegt, fehlendeProblematisiesoziologischnur an reproduzieren.
und -ressourcen
rungspotentiale
kollekLebenslagen,
stellen
ein
Bindegliedzwischen.sozialen
SozialeProbleme
geselldem
politischen
zwischen
System
bzw.
und
dem
tiven Handlungsmustern
von
Konstitution
und
politischen
Die
Defurition
Diskurs
dar.
schaftlichenund dem
ist
eine
fundamentale
und
Konfliktparteien
Themenund damit auchvon Konflikten
Form politischer Macht und sozialer Kontrolle. Diese Macht bestehtnicht nur in
direkter Beeinflussungvon Handlungen,sie funktioniert in diesemKontext darüber
hinausüber alltäglichereFormender sozialenKontrolle von Informationen,Motiven und selbstAffekten, die bereits eine Artikulierung oder Nichtartikulierung sozialerProblememitbestimmen(vgl. Lukes1974).
Soziale Probleme sind allerdings nicht nur gesellschaftlicheIssues,die in das
politische Systemeingebrachtwerden;die erfolgreicheEtablierungvon Wertenund
Interessenals soziale Problemeist vieLnehr auch an.die Mechanismenund Stukturen der Selektivität desjeweiligen politischen Systemsgebunden.So können sich
jeweils unin z.B. Abhäingigkeitvon der Art der Therratisierungvon Sachverhalten
politische
Probleminwieweit
ergeben,
daraus
Durchsetzungschancen
terschiedliche
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AxelGroenemeyer
bearbeitungenetablierteRessourcenverteilungen
oder die Verteilung neuerRessourcenbeteffen, ob kostenneutaleoderkostenintensiveLösungenoder neueOrganisationen oder Reorganisationen:notwendig
werden,könntenetc. (siehehierzu ausführlicher Groenem€yer,,Die Politili sozialerProbleme"in diesemBand).
Die verwaltungsm?ißige;.bürokratische
Organisationsformstellt selbstein lnstrument des,Herausfilterns
von,Interessenund ProAlemartikulationen
dar. Auch hier
etabliert sich Macht nicht unbedingtüber direkte Entscheidungsbeeinflussung,
sondern viel tiefgreifender über Nichtbearbeitung,fehlendeZustZindigkeitenoder die
Unmöglichkeit der Formulierungvon Issuesin bürokatisch zu verarbeitendenFormen:DieseArten von ,,non-decisioas!'
(BachrachlBaratz
1970)sind häufig genauso
bedeutsamfür.die Konstitution bzw..Nicht-Konstitution sozialerProblemewie die
direLtereInteressenorganisation
(vgl. windhoff-Höritier 1989;winter 1992).Auf
der anderenSeitekörurenorganisationenausdempolitischenSystem(2.B. parteien,
verwaltungseinheiten)selbstsozialeProblemekonstituieren, z.B. zrx Sicherungvon
Ressourcenund Einfluß, so daß für fe1si1. vorhandeneLösungenim politischen
System soziale,Problemeüber die Etablierungvon Diskursen in der Gesellschaft
produziertwerden.
Obwohl in modemenGesellschaftenmit einem Wohlfahrtsstaatdie Bewältigung
sozialer Problemezumindestdem Anspruch nach iruner noch zu 4sn ysrrangigen
Politikzielen zählt und dazu ein Arsenal von Institutionen,Organisationenund Mittel in einem Ausmaß entwickelt wurde, welchesdasjenigefräherer Zeitet bei weitem übersteigl scheinengleichzeitig immer neue soziale Probleme aufzutauchen.
Außerdem.werdenoffenbar'viele,wenn nicht die meisten,wirklich gravierenden
Problemeder Gesellschaft
nicht gelöst.Diesesist nicht nur ein Problemder Steuerungsfiihigkeit und der SteuerbarkeitgesellschaftlicherrTeilsysteme
durch die Politik, häufig führen die Pfoblernbewältigungenselbstzu neuenproblemen, z.T. mit
anderenkollektiven Aliteuren oder Nicht-Akteuren als Hauptbetroffene.Soziale
Problemesind offenbar nicht unbedingt dazuda gelöst zu werden, und politische
Maßnahmenkönnen durchausandereFunktionen erfüllen oder Ziele verfolgen als
ihre Programmatikin bezugauf die Bearbeitungsozialerproblemeangibt.
Die Art der KonstituierungeinessozialenProblemskan:r zu einem objekt shategischerPolitik werden.So sichernnicht nur die bürokratischenMechanismendes
Herausfilternsvon Ansprüchenund die Steuerungvon Konflikten und Konfliktparteien die ,,Handlungsflexibilität" des politisch-administativen Systems, sondem
auch die Möglichkeit der politischen Beeinflussungoder schaffung spezifischer
,,kultureller'und moralischer Milieus sozialer Probleme" (Nedelmann 1986a,
1986b).Von daherbekommensymbolischeoderrhetorischeFormendespolitischen
DiskurseseinebesondereBedeutungfür die Analysesozialerprobleme(vgl. Edelman 1988; Gusfield/lvlichalowicz
I 984).
Auch vor diesemHintergrundwird deutlich, daßeine Bestimmungsozialerprobleme allein über ihre Thematisierungin der öffentlichenMeinung Schwierigkeiten
bereitet:wenn die öffentliche Meinung dasErgebnisder Durchsetzungsymbolischer
Macht, stategischerIssuebildungen
und der Massenmedien
ist, so reflektierenso-
SoziologiesozialerProbleme
23
ziologische Studien auf dieser Basis allenfalls das, was mächtige gesellschaftliche
Gruppen problematisch finden (Hartj en i 977, S.10f')'
Schiießlich sind die spezifischen Defi:ritionen sozialer Probleme auch über administative oder rechtliche Kategorien abgesichert, die nicht nur zu Ansprüchen berechtigen, sondern auch Eingriffe und Kontollen legitimieren und so Ressourcen
absichern. Die Etablierung und Institutionalisierung gesellschaftlichet und politischer Mechanismen und Maßnahrnen in bezug auf soziale Probleme wirkt also auf
die Thematisierung des sozialen Problems in vielfiiltiger Weise zurück (vgl. Gusfield 1981, 1939). Ein wichtiger Aspekt ist hierbei die mit der Institutionalisierung
von Problemlösungen verbundene Etablierung von Normalitätsstandards und Zumutbarkeitsschwellen. Die Soziologie sozialer Probleme muß in wesentlichen Teilen
eine Geschichte ihrer sozialen Kontrolle sein.
Im Folgenden werden die verschiedenen Aspekte und Probleme einer soziologischen Bestimmung und Analyse sozialer Probleme anhand der Theorieentwicklqg
zu sozialen Problemen ausfiihrlicher diskutiert.
Auch wenn die verschiedenen Definitionen sozialer Frobleme jeweils einige Forschungsfragen zu präferieren scheinen, so kann man dennoch davon ausgehen, daß
gerade der Zusammenhang und die theoretische Integration verschiedener Fragen
die Bedeutung einer Soziologie sozialer Protleme ausmachen: Erstens sind unter
einer gesellschaffstheoretischen Perspektive die Bedingungen, Stnrkturen, Ursachen
und sozialen Kontexte problematisierbarer Sachverhalte und sozialer Probleme zu
klären. Zweitens erfordert die Analyse der sozialen Bedingungen und Prozesse, unter denen Sachverhalte zu sozialen Problemen als ,public issue" konstruiert werden,
eine kultursoziologische und handlungstheoretische Perspektive. Drittens müssen
diese Fragestellungen auf die Analyse der institutionellen Bedingungen und Prozesse bezogen werden, mit denen Reaktionen und Politiken erarbeitet werden. In diesem Siure stellt ,,soziale Probleme" für die Analyse sozialer Wirklichkeit ein Bindeglied zwischen gesellschaftlichen Bedingungen, individuellen Erfahrungen, kollektivem Verhalten und dempolitischen System dar'
3. SozialeProbleme und soziologischeTheorie
Eine Schwierigkeit, die Entwicklung der soziologischen Thematisierung sozialer
Probleme nachzuzeichnen,liegt u.a. darin, daß sie wissenssoziologischgnnz ähnlich
zu behandeln ist wie ihr Gegenstand. Auch die Durchsetzung von Perspektiven und
Theorien innerhalb der Soziologie kann als Konstitutionsprozeß von Paradigmen in
einem spezifischen sozialen Feld untersuchtwerden. So müssenz.B. auch soziologische Ansätze einen identifizierbaren Namen haben, der gleichzeitig als prägnantes
Abgrenzungskriterium fungieren kann und in das jeweils aktuelle, modische Vokabular paßt. Perspektiven, die sich einer prägnanten Etikettierung entziehen, haben
es auch im Feld der Soziologie schwerer zu einem ,,soziologischenIssue" zu werden.
24
AxelGroenemeyer
In diesem Sinne konstituiert und unterstützt die Soziologie verschiedeneDiskurse, mit deneneine bestimmtePerspektiveoder eine begrenzte Anzahl konkurrierenderPerspektivenfestgelegtsind, die Relevanzkriteriendarüberenthalten,worin ein sozialesProblem besteht,welche Aspekte als veränderbarnaheliegen,aber
auch welche Art von Interventionenmöglich sind und welche Akteure daflir legitimerweiseeine Zuständigkeit erhaltenkönnen. Dadurch werdenjeweils bestimmte
Politiken denkbarund sinnvoll, währendAlternativen weder im Horizont sinnvoller
Möglichkeiten auftauchennoch legitimierbarsind.
In der Regel sind in der Gesellschaftverschiedenekollektive Akteure mit unterschiedlichenkognitiven und moralischenWertvorstellungenbzw. Interessenan der
ThematisierungsozialerProblemebeteiligt, die sich in Konflikten um die angemessene Behandlung eines sozialen Problems gegeneinanderabgrenzenund um die
,,bessere"Problemdefinitionund Jösung ringen. Diese verschiedenenDiskurse
spannendasHandlungsfeldeinessozialeiProblemsau{ in dem sich möglicheAnsichten,Relevan"ql Praktiken,Interventionenund derenBewertungbewegenkönnen.Die Ennvickhrngdessoziologischen
Diskursesüber sozialeProblemeist somit
kaum ohne Bezug auf diesegesellschaftlichenAuseinandersetzungen
zu rekonstruieren. Theorien sozialer Problemewerden hier also als kognitive schemataaufgefaßt, die über gesellschaftlicheThematisierungenin einemspezifischensoziohistorischenkulturellen Kontext entstandensind und sich über Auseinandersetzungen
mit
Prozessen
sozialenWandelsihresGegenstandsbereichs,
aberauchüberprofessionspolitische und institutionsspezifischeinfrastnrkturelle Bedingungenweiterentwikkeln.
Dabei kann allerdings nur als grobe Generalisierungund in Abgrenzungzu alternativen Diskursen innerhalb oder zwischen verschiedenenGesellschaftenvon
einem einhbitlichensoziologischenDiskurs sozialerproblemeausgegangen
werden,
es gibt allenfalls in sich weiter nt differenzierende,,domainassumptions".wenn im
folgenden verschiedenetheoretischeAnsätze unterschiedenwerd.en,so ist diese
Einteilung artifziell und soll nicht den Eindruck erwecken,als ob es sich hierbei um
tatsächlichvöllig verschiedene
oder sich gegenseitigausschließende
Perspektiven
handele.Allenfalls gibt es verschiedeneorientierungen und perspektivender soziologischenBehandlungvon sozialenProblemen,die sich allerdingsz.T. überschneidenund häufig nur aus Gründender eigenenprofilierung als gegeneinander
abgrenzbardargeste[twerden.Darüberhinausunterscheidensich die theoretischen
Entwicklungenin einzelnenBereichender SoziologiesozialerProbleme(Soziologie
abweichenden
Verhaltens,Kriminologie,Medizinsoziologieetc.)teilweisedeutlich
von der allgemeinerensoziologie sozialerProbleme(vgl. Gerhardt1989; Haferkarrry1977;Pfohl 1994;StallbergL979,1981).
während z.B. Rubingtonund weinberg 1971zwischenSozialpathologie,
sozialer Desorganisation,wertkonfliktansaü, Ansatz abweichendenverhaltens und Labeling Ansatzunterscheiden
(dem folgend auchAlbrecht 1977)und später(1995)
noch einen kritischen und konstruktionistischenAnsatz hinzufügen, gibt es bei
perspektive,die wertSpectorund Kitsuse (L977) nur eine funktional-normative
Soziologie sozialer Probleme
25
konllikt-Schule und den konstnrktivistischenAnsak als Analyse von ,,claims-making activities".
3.1 Die Entwicklungder Soziologieals ,,Krisenwßsenschaft"
einer SoziologiesozialerProbleme- Kriminalität, Devianz,
Zwar sindGegenstände
Krankheit, Armut, Krisen etc. - keine neuenPhänomene,ihte Thematisierungals
,,sozialeProbleme" ist allerdingsein Produkt der modemenGesellschaft.Entwicklungen der Arbeitsteilung oder der sozialenDifferenzierung,die Durchsetzungder
und besondersProzesseder Industialisierung und UrbaniMarktvergesellschaftung
die sich als Armut, Absierungführten zu gesellschaftlichenAnpassungsproblemen,
weichung,Krankheit und Leiden bisher unbekanntenAusmaßesund Konzentation
ausdräckten.Begleitet und vorangetieben wurden digseWandlungendruch kulturelle Entwicklungen, die im allgemeinenals Prozesseder Säkularisierung,Demolratisierung und der Entwicklung von aufklärerischen,humanistischenIdeen sowie
einerneuenwissenschaftlichrationalenKosmologiebeschriebenwerden.
Zusammenrnit den politischen Revolutionenim achtzehntenund neunzehnten
Jalirhundertwurden dasElend und die Leiden der unterenKlassensichtbarund vor
allen Dingen der Achtung für Wert befunden.Mit den Ideen des Humanismusund
den politischen Ansprücheneiner,,Inklusign" aller wurde Armu! und Leiden nicht
nicht veränderbarangesehen,
mehr wie vorher als unausweichlich,gottgegeben-und
sondernzum Thema der Politik und der Wissenschaften.Die Erfolge der naturwissenschaftlichenBeschäftigungmit technischenProblemen stimulierten auch die
Entwicklung wissenschaftlicherPrinzipien der Analyseyon Gesellschaftund gesellschaftlicherVeräinderung.In diesemSinnewar die Beschäftigungmit sozialenProblemen und die Idee sozialerReform eine Basis für die Entstehungder Soziologie
wie Psychiatieund Psychologie.
und anderermodernenSozialwissenschaften
Nebenden Arbeitenvon Karl Marx (1818-1881),die als Prototypeiner Soziowerdenkönneq muß als weiterereuropäischer
logie sozialerProblemeangesehen
Grändervaterder SoziologieEmile Durlüeim (1857-1917)genarmtwerden.Die Beschäftigungmit sozialenProblemenstandhier unter demAnspruchder Entwicklung
Disziplin. Am eindringlichstenwurde diewissenschaftlichen
einer eigenständigen
sesProgrammam Beispielder klassischenStudieüber den Selbstmordvorgefiihrt,
die zu einem Modell für die Analyse sozialerProblemewurde (Durkhekn 1897/
der Soziologieist die Verbinfür die Gränderväter
1983).Geradezucharakteristisch
und empirischerAnalyse;nachMouzelis(1993) schienbei
dung von theoretischer
Beschäftigungmit allgemeiner
diesenKlassikernder Soziologieeine eigenständige
Theorieundenkbarund allenfallsalsPhilosophielegitimierbar.
soziologischer
SozialeProblemewurden in dieseneuropäischenSoziologietaditionenallerdings immer in Verbindung mit Fragen gesellschaftlicherEntwicklungen und in
mit sozialenBewegungenanalysiert.Im
zumindestimpliziter Auseinandersetzung
Unterschiedetwa zur Entstehungssituationder Soziologie in Amerika wurden besondersin Deutschlandund Frankreich soziale Problemeeher als Funktions- und
Folgeproblemeder gesellschaftlichenModemisierung,alq Indikatoren grundlegender Widersprücheund der Kdsenhaftigkeit der gesellschaftlichenEntwicklung the-
26
27
AxelGroenemeyer
SoziologiesozialerProbleme
matisiert.Die Auseinandersetzung
erfolgte hier eher entlang der durch die soziale
BewegungvorgegebenenOrientierungenauf eine grundlegendeallgemeineGesellschaftsreformund nicht auf die Bearbeitungeinzelnerisoliert zu betrachtenderkonkreter sozialerProbleme.
Lektlich ist die Kategorie ,,sozialeProbleme"eine amerikanischeEntwicklung,
die nur zögerlich ab Mitte der siebzigerJahrein Deutschlandrezipiert wurde (siehe
Albrecht L977;Haferkamp1977;Stallberg1979,1981).Ein Ausdruckhiervonwar
z.B.rdie Grändrrngder Sektion,,SozialeProblemeund sozialeKontolle" in der
DeutschenGesellschaftfür soziolögie auf dem soziologentag1976 n Bielefeld.
Währendin Europa mit der Trerurungvon allgemeinersoziologischerTheorie und
angewandter
Soziologieund der Spezialisierung
in verschiedene
Bindestrichsoziologien die Analyse sozialerProblemeeherin isohertenRandbereichenerfolgte, war
die ,,socialproblems';Forschungin den usA weiterhin zenf;alerBestand.teilsoziologischerPraxisund prägtedort nacbhaltigerauchdie soziologischeTheoriebildung
(Rose1971).
Ein wesenflicher Grund für diese unterschiedlicheBehandlung sozialer Problemein der Geschichteder Soziologieist die unterschiedlicheBedeutungsozialer
Bewegungenin den USA und in Europa.Im Gegensatzzu Europamit einer ausgeprägtenTradition der AuseinanderseEung
mit sozialistischenund sozialdemokratischenArbeiterbewegungenhabenderartigesozialeBewegungenin den USA kaum
eineRolle bei der Fornrulierungalternativergesellschaftlicherund politischer Konzeptionenvon Gesellschaftsreformgespielt. Vlrtto"lt waren soziale Bewegungen
hier eherkruzlebig und thematischsehrviel engerauf konkreteMißst?indeund isolierte sozialeProblemebezogen.Eine Auseinandersetzung
mit den in EuropakonfligierendenGesellschaftsmodellen
des Liberalismus,Konsewatismusund Sozialismus hat aufgrunddesFehlensentsprechender
sozialerBewegungenbei der Konstitutionder soziologiein denusA kaumBedeutungerlangenkönnen.Bash(1994,
s. l07ff.) charakterisiertdie europäischeTradition der soziologie in Abgrenzung
zur ,,social problem orientation" als ,,social movement orientation", die über die
gesellschaftlichenAuseinandersetzungen
im ausgehenden
neunzehntenJahrhundert
geprägtwurde. Ihre zenhalenMerknale sind: (a) eine Orieutierungeher auf kollektivistische Erklärungsprinzipier\ (b) eine eherpolitische, konflikttheoretischeFortschrittskonzeption,die kollektive Entwicklung in den Vordergrund stellt, (c) eine
Orientierung auf die bedeutsameRolle kollektiver Akteure, insbesonderesozialer
Klassenund sozialerBewegungen,bei der StnrkturierungsozialerPhtinomeneund
(d) einebesondere
BetonungdeshistorischenCharakters
sozialerPhäinomene.
Im Gegensatzdazu dominierte in der nordamerikanischenSoziologie zw Jahrhundertwendedie Refomrhaltungmit Bezugauf isolierte sozialeProbleme,verbundenmit einemphilosophischen'Pragmatismus.
NachRose(1971)war die erstePhase einermoralisierenden
und an Reform orientiertenSoziologie,die bis etwa 1920
datiert wird, durch das Bemühengekennzeichnet,unmittelbaxePraxisanleitungen
für die Behebungkonkreter sozialerMißständeüber sozialeReforrnund sozialeArbeit zu entwickeln, ohne damit einen starkenwissenschaftlichenoder gar gesellschaftstheoretischen
Anspruchzu verbinden.
In Zuspitzung dieser Differenz auf die Frage'nach der unterschiedlichen Konzeptualisierung sozialer Probleme kann man sagen, daß in der europäischen soziologischen Entwicklungstradition die,,soziale Frage" als das soziale Problem im historischen und gesellschaftstheoretischen Kontext thematisiert wurde, wäihrend in der
amerikanischen Soziologie die sozialenProbleme im Plural als diskrete, ahistorische
,,social affairs" gesehenwurden.
Auch wenn sich im Laufe der zeit tn der amerikanischen Soziologie grundlagentheoretischePerspektiven stärker etablieren konnten, so blieb die soziologische
Orientierung auf soziale Probleme weiterhin eine bedeutsame soziologische Aufgabenstellung. Diese instrumentelle, auf konkrete Reformprojekte ausgerichtete Orientierung der amerikanischen Soziologie war auch bestimmend bei der Etablierung
der Society for the Study of Social Problems 1952 und ihrem offiziellen Publikationsorgan Social Problems in Abgrenzung zur stärker theoretisch oientierten American SociologicalAssociation(vgl. LeelLee L976,5.7).
Gespeist wurde diese Orientierung der amerikanischen Soziologie dutch ihren
spezifischen Entstehungskontext, den Hinkle und Hinkle (1954, S. 7ff.) als kulturelle'Hintergrundannabmen der amerikanischen Soziologie am Ende des neunzehnten Jahrhunderts beschrieben haben: (a) Glaube an natürliche Gesetze, die das Verhalten steuem, (b) Vertrauen in den sozialen Wandel, der svolutionär über eine
Entwicklung der Individuen zu einem Fortscbritt führt, (c) Orientierung an pmgmatischen Interventionen der Verbessenrng und sozialer Refomr und (d) eine individualistische Konzeption von Gesellschaft. Im Zusammenhang dieser Weltanschauung war es möglich, sqziale Probleme als jeweils isolierte Ph?inomene aufzufassen
und ohne Orientierung an umfassendere gesellschaftliche Entwickhrngen zu behandeln.
Daneben wird auch der ahistorische Charakter der amerikanischen Soziologie
hervorgehoben. Gerade in der Orientierung auf soziale Probleme wurde allerdings
Geschichte nicht einfach ignoriert, sondem auf kuve Zeiteinheiten reduziert. ImZusammenspiel mit dem vorherrschenden lndividualismus ist Geschichte in den Analysen sozialer Probleme allenfalls als ,,Mikrogeschichte" relevant. Nicht epochale,
historische Entwicklungen bildeten den Fokus, sondern Lebensgeschichten,Biographien und ,,abweichende Karrieren" sowie die Konzeptualisierung von ,,natural
histories" sozialer Probleme, die in ihrem Zeithonzont kaum mehr als eine Generation umfassen.
Zwar teten diese spezifisch amerikanischen Grundorientienrngen in der Soziologie besonders deutlich in bezug auf die Konzeptualisierung sozialer Probleme als
Sozialpathologieund als soziale Desorganisationhervor, sie lassensich aber auch an
den die Soziologie sozialer Probleme in den siebziger und ach%rgerJahren dominierenden konstruktivistischen Ansätzen aufzeigen.
3.2 Soziale Probleme als soziale und individuelle Pathologie
Inspiriert durch Erfolge bei der Behandlung von Kranl*reiten durch Hygiene und
Medizin lag die Organismusanalogie auch für soziologische Analysen von Gesellschaften nahe. Soziale Probleme sind dernnach Abweichungen von einem normalen,
28
Axel Groenemeyer
,,gesunden"Funktionierender Gesellschaft,die in Analogie zur damaligenAuffassung.in der Biologie und der Medüin,,als harmonischesZusammenwirkenund
Funktionierenvon Teilsystemenangesehenwurde. GesellschaftlicheZuständekönnendemnacheindeutigals ,,gesund"oder,pathologisch",bestimmt
werden(für eine
ausfiihrlicheDiskussionsieheDavis 1975;Rubington/Weinberg1995, S. 15-52).
Die einflußreichstenund gleicbzeitigam differenziertestenentwickeltenGrundlagen
der organismusanalogie
finden sich in der soziologiebei Herbertspencer(18201903),in der amerikanischen
Versionbei William GrahamSumner(1840-1910).
,., ZenhalesMerlanal der Sozialpathologieperspektive
ist die Bestimmungsozialer
Problemeanhandmoralischerund norrnativer Kriterien, yon denen angenoilrmen
wird, daß sie jeder,verntinftigeMensch nachvollziehenund anerkennenkönnen
müßte.Deren ideologischenGrundlagenhat C. Wright Mllls 194: deutlich herausgearbeitetDas,rl-eitbild.derAnalyse,,wieauch der Reforrnbemtihungen
orientierte
sich an einer Idealisierungkleinstädtischer,an protestantisch-puritanisch
religiösen,
von weißen MittelschichtswertenbestimmtenLebensweise.Typischerweisewurden
sozialeProblemein,Zusammenhangmit dem Leben in der Großstadtthematisiert.
soziale Pathologienwaren so diejenigenHandlungen,die gegendie Ideale der Stabilität, der Nüchternheit,desPrivateigentums,gegendie Arbeitsmoralund den Geist
desfreien Unternehmertums,gegensexuelleKeuschheitund die Solidarität der Familie und der Gemeindesowie gege:rdie Disziplinierung des willens verstießen
(Lemert t951a, S. 5). Als Sammelbegriffe
für Verhaltensweisen
oder Lebensbedingrngen, die nicht den V"orstellungeneines,,gesunden"und ,,guten"Lebensentsprachen, wurden weder die moralischenGrundlagennoch das Problematischean sozialen Problemenzum Thernagemacht,sondemals allgemeinanerkanntvorausgesetzt.
Auch wenn die Menpchenin Gruppen leben und Gruppen angehören,so bestimmt letztlich das Individuum mit seinenpersönlichenMotiven und Merkmalen
dasVerhalten.Die Grundlagefür sozialeProbleme.und sozialePathologiensind im
Kontext der sozialpathologischen
Perspektiveindividuelle Krisen, f'ehlanpassungen,
Demoralisierungoder.Desorganisation.Allerdings liegt es nahe,dieseebenfallsauf
organischeUrsachenzurückzuführenund sozialeProblemeals Zeichen degenerierter und kranker Individuen aufzufassen.Eine besondereRolle spieltenhierbei Vorstellungenüber die vererbung abweichendenverhaltens, und in verbindung mit
dem gegenEnde des 19. JabrhundertssehrverbreitetenAnsichten des Sozialdarwinismuserlangteneugenische
VorstellungeneinegroßePopularität(vgl. castel 1983;
Pfohl 1994,s. 137f.;Rafter 1988,1992).DieseAuI'fassungen
hattenihre Blüte bis
zum erstenDrittel des,zwanzigsten
Jalrhunderts;aufgrunddesFehlenseiner empirischen Fundierung des erblichen CharaktersabweichendenVerhaltens, besonders
aber durch die grausameRadikalisierungdieser vorstellungen in den KonzentationslagerdesNationalsozialismussind sie danachmoralischund politisch in Vemrf
geraten.Allerdings karurder Dinfluß biologistischerund soziobiologistischerOrientierungendurchausbis heuteweiterverfolgtwerden,und sie gewinnenseit Mitte der
achtzigerJahrebesondersbei der UrsachenerklärungabweichendenVerhaltenswieder an Boden(velleman/orford1984;walters 1992;wilson/Ilerrnstein1985).
Soziologie sozialer Probleme
29
Eugenischeund biologistischeErkl?irungensozialerProblemebildeten allerdings
bebei deiVerwendung desi(onzepts der Sozia$athologieeher die Ausnahme.So
Handbücher
Problems
Social
der
Basis
ideologischen
zieht sich die Kritik an der
Konzept
von Mills (1943)aucheherauf ein umfassendes,lettlichehertheori_eloses
soziale
versch:iedene
für
Metaplrer
Sarnmelbegriffoder
von Sozialpathoiogie,dasals
oder
,,angnd
Desorganisation"
mit
synonym
,,sozialer
ProblemeVerwendungfand
Erklärungen
1945)'
Sutherland
(siehe
auch
wurde
gewandterSoziologie"gebraucht
theoretisc!9sModell zulreifen dabeiin aei neget nicht auf irgendeinkonsistentes
nach allen Seiten ofeinem
und
Alltagsvorstellungen
rück, sondem operierei mit
fenenMultifaktorenansatz.
In den fiinfziger Jahrengeriet dann das Konzept sozia$athologie außerMode
und wich funktionalistischenKonzepteneiner sozialenorganisation auf der Basis
Begrifflichkeiten, die eine ehertechnische,I"1- und moralfreie
systemtheoretischer
plrspektive versprachÄ. In Abgrenzungdagegengewa1l_derPathologiebegriffin
der 3oziologie dann gegenende der sechzige-rJahrewieder 11 Bedeutung.Dabei
eine R9lle,-alsT"F:ht der Anspruch
spielte aber-wenigerdi" Orgaoismusanalogie
Theorien.So habenTallman und
handlungsleite-nder
nach Entwicklung normatiä,
in Abgrenzungvon
sozialpathologie
der
den
Begriff
McGee(1971)vorgeschlagen,
Problemezu
sozialer
Theorien
normative
für
Soziologie
einer empirischen,,,reinen
wtinscheinen
über
Annahmen
impliziter
oder
expliziter
reservieren,die im Kontext
Tallman
1957;
(siehe
Martindale
argumentieren
baren Zustand von Gesellschaft
in der
z.B.
verstärkt,
wieder
neuerdings
werden
weise
gleicher
1976,S. 10ff.). In
gepopulär
Perspektiven
sozialwissenschaftliche
Bewegung,
kommunitaristischen
zu glben versuchen
macht, die mit wertsetzung"tt kl*" Handlungsanweisungen
Phänomenezusoziale
flir
gesund/krank
Kategorisierung
die
und dabei explizit auf
I
rückgreifen(Etzioni 995).
Zentales Merkmal dieserPerspektivenist es, daß dasProblematischean sozialen Problemennicht zum Thema gemachtwird, sondemals absolut und gegeben
Analysenallgemeinwird. versuche,z.B. über kulturvergleichende
vorausgesetzt
nicht überZusammenhang
diesem
in
konnten
zu
objektivieren,
verbindlicheWerte
nur wemit
die
Bestimmungen,
vagen
zu
sehr
allenfalls
letztlich
zeugen.Sie fiihrten
nig-klaren Begriffen wie ,,authentischeVerhaltensweisen"oder ,,wahreNatur der
peisönlichkeif operierenmußten(vgl. z.B.Dreitzel l972;Kovalis 1964).
Argument gegeneine an Konzeptenvon Gesundheitund
Das schwerwiegendere
Krankheit ausgerichteteSoziologiesozialerProblemeergibt sich aber aus der Relativität von Werten innerhalbeiner differenziertenGesellschaft.Viele sozialeBsdin:
gegungen,die ,,Gesundheit"in einem Bereich der Gesellschaftmarkieren,haben
iade eine ,,pathologie,'in anderenBereichenzur VorausseEung,so daß allein dadurch den mit medizinischenAnalogien operierendenModellen in,normativen Ansätzendie Basisentzogenist (Rosenquist1940).In diesemsinnekann essich allengefalls um eine vage vtetapher handeln,r'velmvon einer ,,lranken Gesellschaft"
sie sind
sprochenwird. SozialePioblemegibt esnx innerhalbvon Gesellschaften,
sich
und
differenzierte
gesellschaftlich
auf
in
bezug
sondern
aiso nicht absolut,
wandelndeWertideenzu bestimmen.
30
AxelGroenemeyer
j.3 , SozialeDesorganisation
als StörungoderZusammenbruchvon
Regeln
Mit der Jahrhu,ndertwende
und verstärktnach dem erstenWeltkrieg beschleunigten
sich in den USA die'Prozesseder Industrialisierungund Urbanisierungdurch tächnische Entwicklungen sowie iÄf,glge.vonMigration und Immigration in einem bislang unbekarurtenMaße. Die Bevölkerungsbewegungen
umfaßten nicht nur die
wellen der EinwanderungausEuropa,- 1930war ein Drittel aller weißenAmerikaner nicht in Amerika geboren- sondemauch die Schwarzenaus den Plantagenim
süden und die der Landarbeiter.Diese Bewegungenführten in den sich rapide entwickelnden Städtennicht nur zu Konflikten zwischen den kulturellen Traditionen
der verschiedenenetlnischen Gruppen,sondernauchzu einemZusammenbruchder
bislang erlernten und akzeptiertenLebensorientierungen
und einem Auflösen der
taditionellen dörflichen oder kleinstädtischenMechanismensozialerKontrolle. Das
Ausmaßder mit diesenEntwicklungenverbundenensozialenProblemewar mit einer am Individuum orientiertenPathologieperspektive
nicht zu erfassen.
Eine der zentalen Fragestellungeri'deramerikanischenSoziologiezur Jahrhundertwendewar die Erkftirung desHandelnsausder Natur oder der Kultur - ,,nature
vs. nurhue". Im Unterschiedzur Perspektiveder Sozialpathologiewurde mit dem
AnsaE der sozialen Desorganisationhier eindeutig Position zugunstender Kultur
bezogen.Die damit verbundeneorientierung an Regelnund sozialerKontolle - ein
KonzeSl das 1895 durch Edward A. Ross eingeführtworden wff -, bedeutetezudem die Möglichkeit der Konstituierung eines genuinenGegenstandes
der soziologie in Abgrenzung zu anderenSozialwissenschaften
und der Medizin. Mit dem
Ansatz der sozialenDesorganislion konntendie Problemeder Gesellschaftin einer
Art und weise definiert und analysiertwerden,für die die soziologie das notwendige Handwerkszeugbereitstellt(Rubington/Weinberg1995).
SozialeProblemesind demnachIndikatorenoder ErgebniseinesVersagensvon
Regelnund sozialerKontolle infolge von Prozessen
zu raschensozialenWandels.
HierausentstehteinerseitspersonaleDesorganisation,
die sich als individuelleVerhaltensunsicherheit,Überlastungund Fehlanpassungmanifestiert und andererseits
eine soziale Desorganisation,bei der die Absti-mmungder Regeln nicht mehr gewährleistetist.
Hauptzentrum
dieserPerspektive
derSoziologie
sozialerProbleme
warzumindest
bis etwa
1940Chicago,
eineStadt,dieinnerhalb
von 100Jahren
voneinemkleinenDorfmit etwa200
Einwohnern
zu einerDrei-Millionenstadt
1930anwuchs.
Hierentstanden
unterderPerspektive dersozialen
Desorganisation
einigederbedeutendsten,
heutealsKlassiker
bewerteten,
empirischen
Arbeitenzu verschiedenen
soziale,n
Problemen,
wie z.B.W.I. Thomas;
F. Znaniecki:ThePolishPeasant
in EuropeandAmerica(1920);N. Anderson:
TheHobo.TheSociologyof theHomeless
TheUnadjusred
Girl (1923);W.F.M.
Man(1923);W. I. Thomas:
Thrasher:
The Gang.A $tudyof l3l3 Gangsin Chicago(1927);L. Wirth: The Ghetto
(1,928);
C.R.Sharr:TheJackroller
(1930),Brothers
in Crime(1938);E. FarisM.H.Dunham:
MentalDisorderin UrbanAreas(1939);C.R. Shaw;H.D. McKay: JuvenileDelinquencyand
UrbanAreas(9a\; W.F. Whyte: StreetComer Society(1943).Eine guteübersichthieran
findet sich bei Faris (1967) (sieheauchdie Liste der Dissertationen
in Chicagobei Harvey
1986,S.2t5ff.).
Soziologie
sozialerProbleme
31
Haupünerkrnal der soziologischenBeschäftig'rng mit sozialen Problemen in
Chicago war ztt{at zunächstweniger die Entwicklung abstakter allgemeinersoziologischerTheorien,sondemdie empirischeAnalyse eng an der Wirklichkeit in den
verschiedenenMilieus der Stadt.Dennoch wiuen und sind auch die theoretischen
Arbeiten im Kontext der sozialenDesorganisation,
wie z.B. C.H. Cooley, Social
Organization(i909), R.E. Park/E.W.Burgess/R.D..McKenzie,
TheCity (1925)oder
W. Ogburn,Social Change(1922)und, allgemeinerG.H. Mead(1980),Geist,Identitöt und Gesellschaftaus der Sicht des Sozialbehaviorismus
als grundlegende,
schulenbildende
Werkezu betrachten(siehez.B. DowneslRock(1988,Kap. 3).
Währendbei CharlesH. Cooley die besondereBedeutungder Primärgruppenbeziehungenund ihre Kontrollfunktionenbetont wurden,zielt die Analyse von William Ogburndirekterauf die FolgenrapidensozialenWandels.SozialeDesintegration ist demnachüber das Auseinanderfallenoder die Desintegrationverschiedener
Elemente oder Sphären der Kultur aufgrund unterschiedlicherEntwicklungsgeschwindigkeitenzu erklären.So entwickelnsich z.B. die Tecbnikund die damit verbundenenForrnender Arbeitsorganisationschnellerals die dazugehörigenkulturellen Orientierungen,und es kommt zu einem ,,cultural lag" und damit zum Zusammenbruchhandlungsleitender
Regelnund normativerStnrkturen.
Von der zugrundeliegendenArgumentationsfigurher ist diesePerspektivedem
Anomiekonzeptvon Durkheim(1893/1988)verwand! auchwenn dort nicht nur der
Pathologiebegriffverwendetwird, sondernsich über die dort vsrwendeteOrganismusanalogieauch eine Einordnungin den Ansatz der Sozialpathologierechtfertigen
ließe. Hier stehenanomischeFolgen der Arbeitsteilung im Modemisierungsprozeß
zur Erklärung gesellschaftlicher,,Pathologien'im Vordergrund,die sich in sozialen
Problemenwie Depression,Armut Suizid oder Kriminalität ausdrücken.Anomie
als soziale Desintegrationwird hier als ZusammenbruchsozialerNormen oder als
Verlust handlungsleitenderPrinzipien und Kontollen infolge der zu raschenEntwicklung der Arbeitsteilungund der Wirtschaft beschrieben.WährendDurkheim in
seinerUntersuchungzur Arbeitsteilung(1893/1988)sozialeDesintegrationals Anomie noch überwiegendin einemMangel an Integrationoder wechselseitiger
Abstimmung der unterschiedlichenArbeitsfunktionensieht, d.h. überwiegendals stönrngenund Abstimmungsproblemevon Leistungszusammenhängen
oder als Desintegration von Teilfunktioen, führt er bei der Analyse der Bedeutungsozialer Integration für dasAufheten sozialerProblemezwei verschiedeneDimensionenein, die
als Integrationund Regulationbezeichnetwerden(vgl. zu denSchwierigkeiteneiner
Unterscheidungdieser Dimensionenz.B. Pope 1976, siehe auch Albrecht 1987,
1994).So unterscheidet
Durlüeim in der Studiezum Selbstrnord(1897/1983)den
Aspekt der Identifftation in sozialenKontextenund den sie konstituierendenNormen (Integration) vom Aspekt der druch soziale Integration ausgeübtensoziale
Kontrolle der Bedtirfnisse (Regulation). Der ,,altruistischeSelbstnord" karur bei
einer starkenIdentifikation mit sozialenNonnen und emotionalenBindungen auftreten, wie es in Gemeinschaftenmit einer sozialenIntegration über eine einheitstiftende Wertorientierungerwartetwird. Der Verlust sozialerIntegration bzw. der
Ausschlußausder Gemeinschaft
ist in diesemFall an den Verlust der Identitätge-
32
Axel,Groenemeyer
bunden.Als Gegentyphierzu kann der ,,egoistischeSelbstnord" aufgefaßtwerden.
Hierbei ist die emotionale,Bindungund Identifikation mit sozialen Beziehungen
eher gering, der Selbstnord letztlich eher eine Folge vereinzelnderIndividualisierung bzw. eines,,Kults der Persönlichkeif'. Mit dem,,anomischenSelbsünord"wird
schließlich der mit sozialer DesintegrationeinhergehendeVerlust sozialer Orientierungenund sozialerKontrollen dör Bedtirfnissethematisiert.Anomie als soziale
Desintegrationbezeichnethier dann dasFehlenoder VersageneinesSystemsmoralischer Orientierungen.Ein vierter Typus sozialerDesintegration,der durch ein Zuviel an sozialer Kontolle gekennzeichnetwerden könnte, taucht als ,,fatalistischer
Selbstnord" nur,in einer Fußnoteauf.
Eine ersteexplizite KonzeptualisierungsozialerDesorganisationim Kontext der
amerikanischenSoziologie sozialerProblemefindet sich in der Untersuchungvon
William L Thomasund.Florian Znanrecki,,ThePolish Peasantin Europeand America" (1920). Anhand von Briefen, Tagebüchernund anderenpersönlichenDokumentenpolnischerImmigrantenrekonstruiertensie die Auswirkungender Migration
auf die individuellerJ:Handhurgsorientierungen.
SozialeDesorganisationwurde hier
defuriertals der schwindendeEinfluß sozialerRegelnauf dasVerhaltender Mitglieder einer Gruppe. Diese-Prozessedrücken sich in einer individuellen Desorientiemng aus, weil die gelerntenRegeln'und Normen in der ,,neuenWelf' nicht mehr
funktionieren.Es fehlen sicherenorrnativeStandards,und damit verbundenentsteht
die Haltung eines ,,anythinggoes", die gleichzeitig eine Unf?ihigkeitder effektiven
Ausübung sozialerKontolle über die Mitglieder der Gruppebedeutetund so einen
Übergang zu abweichendenVerhaltensweisen,die Entwicklung psychischerStönrngenund die Auflösung von Familienstnrkturenerleichtern.
Aufbauend auf diese Ideen einer sozialenDesorganisationwurde das Konzept
von Röbert,E.Park,EmestV. Burgessund RoderickD. McKenzie(L925)mit Konzeptender Ökologie verknüpft, um so besondersdie räumlicheVerteilung sozialer
Probleme erklärbar zu machen.Entsprechendden Prozessender Konkurrenz und
der Symbiose in der Pflarzenökologie wurden gut organisiertemenschlicheGemeinschaftenals,sozialeSymbioseaufgefaßt,in der sich die normativenStrukturen
über die Mechanismender Verdrängungund Assimilation in einem Gleichgewicht
stabilisieren.RaschersozialerWandelinfolge von Industialisierung, Urbanisierung
und besondersvon Immigration störendiesesGleichgewicht.Die Störungenwerden
als Invasion aufgefaßt, dre zu Konflikten um die kulturelle Dominanz in der Gemeinde führt und zunächsteinenZusammenbruchder normativenStnrktur und der
sozialenKonhollen bedingt.,Erstim Laufe der Zeit wkd dann über Prozesseder
Assimilation und Aliftommodationeine syrnbiotischeReorganisationder Gemeinde
um eineneuedominanteOrdnungermöglicht,
Aus diesenProzessender Invasion, des Konflikt, der Akkommodation und der
Assimilation'ergebensich in Städten,patural axeas"von hoher und niedriger Belastungmit,sozialenProblemenund abweichendemVerhaltenentsprechenddesAusmaßesder durch sozialenWandelausgelöstenVerlinderungen.DiesesZonenmodell
konzentrischerKreise um das ökonomischaktivste und expandierendeGeschäftszentrum bildete,im folgenden die Grundlagefür viele empirischeForschungenin
SoziologiesozialerProbleme
33
verschiedenen Bereichen abweichendem Veilralten. Zu denbekanntesten zählen die
klassischen Studien von clifford shaw, Henry McKay und Kollegen (1929) zur Jugendkriminalität, die in den nächsten Jahrzehnten für weitere städte in den usA
wiederholt wurden (Sha#IrdcKay 1969) und die Grundlage für spezielle Reformprograrnme in den belasteten Gebieten bildeten (siehe als Überblicke z.B. Albrecht
1982, 1993; Byrne/Sampson 1986; Pfohl i994, S. 190ff.). Ebenfalls auf der Grundlage dieses ökologischen Modells sozialer Desorganisationwurde von Robert E.L.
Faris und H. Warren Dunham (1939) in Chicago die Verteilung psychischer Störungen untersucht.
Hintergrund des Ansatzes der sozialen Desorganisationist die Idee von Gesellschaft als eines sozialen Systems,dessenTeile miteinander koordiniert sind. Soziale
Desorganisation bedeutet den Zusammenbruch oder die fehlende Abstimmung zwischen verschiedenenWertsystemen oder zwischen den Wertsystemen und der Sozialstruktru. Die Folge hiervon ist einerseits ein Schwächen der sozialen Kontolle
und der sozialen Bindungen und andererseits eine mangelhafte Intemalisierirng der
werte im Prozeß der Sozialisation, beides Aspekte, die in der weiterentwicklung als
Theorie der difförentiellen Assoziation und als Kontrolltheorie z.T. sehr viel später
erst zu zentalen Ansätzen der Erklärung abweichenden Verhaltens werden sollten.
So liegt bereits im Konzept der sozialen Desorganisationdie Erklärungsebene eher
auf Gruppenprozessen, die in Zusammenhang mit verschiedenen Formen abweichenden Verhaltens gebracht werden (siehe die gründliche Analyse bei Komhauser
1978,vgl. auch Bursik 1988).
In Hinblick auf die Analyse sozialer Probleme ist das Konzept sozialer Desorganisation allerdings problematisch, weil es einerseits entweder zu eng konzipiert
wird, insofern es nur ftir die Erklärung abweichenden Verhaltens sinnvoll verwendet
und empirisch getestet werden kann, oder es bleibt auf einer deskriptiven Ebene, wo
soziale Desorganisation selbst als soziales Problem aufgefaßt wird. Betachtet man
die dynamischen Prozesse der räumlichen Verteilung sozialer Probleme, so wird der
Stellenwert sozialer Desorganisation unklar, weil hier meistens Selektionsprozesse
nicht klar genug von Verursachungsfaktoren gefuennt werden. So kann zwar einerseits soziale Desorganisationeine Ursache für des EntstehenabweichenderOrientierungen sein, allerdings köruren sich andererseits erhöhte Raten von Kriminalität oder
psychischen Störungen in bestimmten Stadtgebietenauch dadurch ergeben, daß diese Gebiete bevorzugt von Personen,die bereits abweichendeOrientierungen haben,
als Wohnort gewählt werden. Dann wäre soziale Desorganisation keine Ursache
abweichenden Verhaltens, sondern eher eine Folge der Abweichung. Beide Erklärungshypothesenbrauchen sich zudem nicht auszuschließen,und die in ihnen posfulierten Prozesseder Sozialisation, Kontrolle und Seleltion können sich gegense!
tig verstärken, was empirisch kaum adäquatgeprüft worden ist.
Von sozialer Desorganisationkann man nur roden, wenn man die Bedingungen
der sozialen Organisation und Ordnung bestimmen kann. Hier zeigte sich dann auch
die größte Schwäche dieser Perspehive. So ist der analytische Stellenwert und die
Bedeutung der sozialen Desorganisation unklar geblieben. Gerade in den empirischen Überprüfungen der klassischen Studien zeigte sich, daß soziale Desorganisa-
34
35
Axel Groenemeyer
Soziologie sozialer Probleme
tion typischerweise nicht von Aspekten sozialer Benachteiligung wie niedriger
Schichtzugehörigkeit, Blldung und ethnische Zugehörigkeit getennt wurde. Auch
wurde z.B. der Unterschied und die Beziehung zwischen sozialer Desorganisation
und abweichendem Verhalten nicht hinreichend geklärt. Abweichendes Verhalten
karur die Folge sozialer Desorganisationsein, g€nauso wie umgekebrt soziale Desorganisationdie Folge abweichendenVerhaltens sein kann.
Cohen (1959) hat deutlich gemacht, daß sich abweichendesVerhalten an festgelegten Werten und Normen mißt, während soziale Desorganisation gerade das Fehlen dieser verbindlichen Handlungsregeln thematisiert. Tatsächlich ist abweichendes
Verhalten häufig gerade nicht durch Desorganisation gekennzeichnet, sondem weist
einen Grad der Organisation aufl der z.T. deutlich stuaffer und in der Verhaltenskontrolle effektiver ist als in anderen als konform angesehenenBereichen. Es ltißt sich
auch kaum unterscheiden, wodurch soziale Desorganisation letztlich bestimmt sein
soll, und wo die Grenze zwisbhen ,,nonnalem" und desorganisierendem sozialen
Wandel liegt bzw. unter welchen Bedingungen soziale Desorganisation gaf, notwendigen sozialen Wandel einleiten kann. Bereits Durlüeim (1895/1984, S. 141ff.) hat
am Beispiel der Kriminalität seine allgemeinen Regeln soziologischer Methode illustried, wonach die allgemeine Verbreihrng eines Phänomens und seine Begriindung
in den Bedingungen des'Kollektivlebens als Kriterium für Normalität zu gelten haben. In diesem Sinne ist dan:r z.B. Kdminalität norrnal.
In der Perspektive der sozialen Desorganisation der Chicagoer Schule war die
Bestimmung des problematischen Charakters kein Thema, weil implizit von einem
einheitlichen Wertsystem zur Bestirnmung von Ordnung ausgegangen wurde. Dies
speiste sich allerdings aus den gleichen rückwärtsgewandten Ideologien, die bereits
in bezug auf die Sozialpathologie kritisiert wurden (Mills 1943; Wirth 1940). Die
Kriterien und Werhnaßstäbe, an,denen soziale Desorganisation von Stadtvierteln
und Quartieren beurteilt wetden,.sind zumindest implizit meistens eher aus romantisierenden Vorstellungen dörflichen oder kleinstädtischen gemeinschaftlichen Zusammenlebens enülommen. Sie werden dem modemen Charakter von Städten als
Formen eines pluralen und eher durch soziale Distanz gekennzeichneten Lebenszusammenhangnur selten gerecht.
Betrachtet man die Bedeutung der Perspektive sozialer Desorganisation professionspolitisch als Beitag zur Entwicklung der Soziologie als eigenständigeWissenschaft mit genuinem Forschungsbereich, so kana man sagen, daß die Entwicklung
eines verfeinerten theoretischen und methodischen Instrumentariums in Chicago zu
einem Widerspruch zwischen unmittelbarer Reformorientierung und dem Versuch
der Etablierung einer ,,reinen!' Grundlagenwissenschaftführte (Rose 1971). Mit der
Ideen einer sozialen Desorganisationkorurte dem professionspolitischen Bedürfnis
nach einer von praktischen Konsequenzen unabhängigen Forschung durchaus gedient werden, auch wenn in Chicago die unmittelbare Orientierung der Soziologen
auf gesellschaftliche Reformprojekte stark ausgeprägt war. Allerdings wurde die
empirische Analyse sozialer Probleme von den Fragen der praktischen Anwendung
getennt; nicht mehr moralische Bewertung von Mißständen, sondern wissenschaftlich-objektive Analysen über die moralischen Bewertungen von Mißstäinden sollten
die Soziologie bestimmen. Es wurde zur Aufgabe wissenschaftlicherSoziologie, die
verschiedenen Wertsysteme in einer Gesellschaft neutal und ohne Partei zu ergreifen zu anüsieren. In diesem Sinne geht Rose (1971) davon aus, daß der Niedetgang einer reformorientierten Perspektive und die Kaniere des Konzepts ,,werhleutraler Objektivität" soziologischer Analysen in den USA direkt miteinander verbun-den sind und beides als eine Folge der Professionalisierungder Soziologie angesehen werden kann.
Der rapide soziale Wandel betraf die verschiedenensozialen Gruppen in unterschiedlichem Ausmaß und führte in den zwanziger Jahren zu einer Neuorganisation
der gesamten amerikanischen Sozialstruktur. Verlierer dieses Prozesseswaren Arbeiter und Arbeiterinnen in Industrie und auf dem Lande, kleine Farmer und Migranten. Gewinner waren die sich etablierenden neuen städtischen Mittelschichten
der Professionellen, Angestellten und Manager, deren Orientierungen sich im Laufe
det zwarniger Jahren gegenüber den atavistischen kleinbärgerlichen Ansichten, wie
sie sich z.B. noch in den Temperenzbewegungenausdräckten,durchsetzenkorurten
und zur döminanten Kultur wurden (siehe Groenemeyer, ,,Alkohol, Alkoholkonsum
und Alkoholprobleme", in diesem Band). Die Perspektive sozialer Desorganisation
entsprach durchaus den Problemperspektiven der neuen Mittelschichten, die über
die neuen Formen der Arbeitsorganisation gewohnt waren, Probleme nicht mehr auf
der Basis moralischer Imperative, sondern als rational zu planende Aufgabe anzusehen. In diesem Sinne entsprach der soziologische Diskurs über soziale Probleme
auch veränderten intellektuellen kulturellen Milieus und ihrer Stellung in der urbanen Gesellschaftder USA.
Das Konzept ist in den USA in den ftinfziger Jahren aus der Mode gekommen,
nicht nur weil sich z.T. an der Kritik des Konzepts altemative Erklärungen sozialer
Probleme entwickelt hatten und Chicago für die amerikanischen Soziologie an Bedeutung verlor, sondern auch weil über gesetzliche Einschräinkungen der Immigration und Reorganisationsprozesseder Gesellschaftder Gegenstandselbst an Evidenz eingebüßt zu haben schien.
Trotzkonzeplioneller und theoretischer Schwächenfindet die Idee sozialer Desorganisation in diesem Sinne auch heute noch Verwendung, z.B. in bezug auf die
Erklärung abweichenden Verhaltens in der Dritten Welt und im internationalen Vergleichsstudien (siehe z.B. die Studien von Clinard 1978; Clinard/Abbott 1976;
Weinberg 1976). Für die Erklärung abweichenden Verhaltens wurde das Konzept
allerdings weiterentwickelt und besondersdie sozialpsychologischenMechanismen
der Vermittlung von desorganisierten Gemeindestruktursn auf Prozesse der externen
und internen sozialen Kontrolle differenziert und so der empirischen Analyse zugäinglichgemacht (siehe Albrecht 1982; Byrne/Sampson 1986; Bursik 1988; kritisch
dazu Bottoms 1994).
Obwohl das Konzept sozialer Desorganisation der Chicagoer Schule für Untersuchungen von Ursachen abweichenden Verhaltens in Zusammenhang mit deren
räumlichen Verteilung durchaus einen sinnvollen Beitag leisten l6ann, ist es mit der
Frage nach einer Thematisierung des problematischen Charakters sozialer Probleme
überfordert. Letztlich fehlte den Arbeiten zur sozialen Desorganisation der Chicago-
36
AxelGroenerneyer
er Schule ein konsistenter,theoretischer
und analytischerUnterbau,um tatsächlich
die Organisationeiner Gesellschaftals sozialesSystemund damit auch die BedingungensozialerDesorganisation'als
sozialesProblembestimmenzu können. So
kommt z.B. Mills (1943) zu dem vernichtendenUrteil, daß die Arbeiten in dieser
Perspektiveeine,,,occupationally
fiainedincapacityto rise abovea seriesof ,cases"'
demonstrieren.Eine überauseinflußreicheGrundlagefür diesetheoretischeFundierung entwickeltesich in den vierziger Jahrenin den USA mit dem Stnrkhrrfirnktionalismus.
i.4 SozialeProblemeals Strulctur-und FunktionsproblemsozialerSysteme
Bereitsder Ansatzder Sozialpathologie
und erstrechtdie PerspektivesozialerDesorganisationverfolgten im Frinzip firnktionalistischeArgumentationen,auch wenn
eine entsprechen{eBegrifflichkeit nicht entwickelt war. In bezug auf die Analyse
sozialer Probleme fand diese ihre elaboriertesteFassungim Anschluß an Talcott
ParsonsdurchRobertK. Merton(1971,1.976).
3.4.1 SozialeProblemeund funktionaleAnalyse
In firnktionalistischerPerspektive,wirdvon der Grundannahmeausgegangen,daß
die Gesellschaftaus verschiedpnenmiteinander interagierendenStnrkturen oder
Teilsystemenbesteht die,jeweilsunterschiedlicheBeitäge für den Bestandund die
Arbeitsweise des gesellschaftlichenSystemserfüllen. Spezifischekulturelle oder
Handlungsmusterwerden im Hinblick auf ihre Funktionenbzw. objektiven Konsequenzenfür die Herstellung,oderWiederherstellungdes Systemgleichgewichts
behachtet. Die Bestandserhaltungdes Gesamtsystems
wird hierbei als vermeintlich
neutale, d.h. von Wertsetzungenunabhängige,Bezugsgrößeder Analyse sozialer
Systemeangenommen.,.
Von zentaler Bedeutunghierfür ist:die Erfüllung theoretischbestimmter,,fiüktionalerErfordernisse".Nach ParsonsmußjedessozialeSystemvier Aufgabenzur
Bestandserhalhurgerfiillor: Anpasslng an die externeUmwelt (adaptation), Integration der verschiedenen$ystemelementewie Werte, Rollen, Interessenund Motive der Mitglieder (integration),Erreichungkollektiver Ziele (goal attainment)vnd
die fortgesetzteReproduktionund Kontolle der kulturellem Muster sowie die Reduktion von systemischenSpannungen(latency: pattern maintenance- tension reduction)(Parsons/Bales/Shils
1951).Auf der Grundlageeiner kybernetischen
Perspektive aktivieren Spannungenund Abweichungen innerhalb eines sozialen Sy- sozialeKontrolle -, die dasSystemstemsverschiedeneAnpassungsmechanismen
gleichgewichtsbeständigregulieren.In bezugauf abweichendes
Verhaltensind diesesim wesentlichenSozialisation,ProfiUGratifikation,Überzeugungund als ultima
rano ZwanglGpwalt.Auf institutioneller,Ebenekommen nebender Ökonomie den
(2.8. der;Medizin),der Technologieund der Erziehungeinebesondere
Professionen
Rolle bei der rationalenLö_sungsozialerProblemezu (Parsons1939).
Im Bemtihen,diese abstakten Prinzipien für gesellschaftlicheAnalysen zu nutzen, geht Merton im Urterschied zu Parsonsdavon aus, daß die Bedingungenund
SoziologiesozialerProbleme
3'7
Mechanismen, mit denen soziale Systeme ihren Bestand und ihre Arbeitsweise sichern, nicht theoretisch vorab, sondern jeweils empirisch bestimmt werden müssen
(Merton 1968). Ebenfalls im Unterschied zu Parsonswird zudem angenommen,daß
soziale Integration nicht notwendigerweise auf das Gesamtsystem bezogen werden
muß, sondern auch davon unabhängig für Teilsysteme untersucht werden ka::n. soziale Systeme können demnach durchaus langfiistig Bestand haben, auch wenn sie
in bezug auf das Gesamtsystemdysfunktionale Konsequenzenhaben; soziale Integration ist also eher eine graduelle Eigenschaft sozialer Systeme. Mit diesen Ahnahmen wird versucht, die mit funktionalistischen Argumentationen verbundene
Gefahr tautologischer Aussagen zu vermeide:r: explizit oder irnplizit gehen funktionalistische Analysen häufig automatisch davon aus, daß ein etabliertes Handlungsmuster oder eine Institution bereits deshalb fi.rnktionale Erfordenrisse für das soziale
System erfüIlt, weil es etabliert ist, womit diese Argumentation gegen empirische
Falsifizierung immunisiert ist.
Zrtsätzlich erweitert Merton das Erklärungsschema um latente Funktionen, d.h.
kulturelle oder Handlungsmuster können objektive Konsequenzen haben, die von
den Aktewen nicht beabsichtigq nicht vorhergesehen oder durchschaut werden und
erst über die soziologischeAnalyse manifest gemacht werden. Zenfralflir die empirische Analyse ist daher die Annahme funktionaler Aquivalente, d.h. verschiedene
Institutionen oder Handlungsmuster können in bezug auf das soziale System gleiche
Konsequenzenhaben. Aufgabe der Soziologie ist es zu analysieren,\ryarumsich gerade das vorgefi,rudene Muster etabliert hat. Dieses erfordert darur eine Kausalanalyse, die aber in dieser Perspektive nur sehr vage theoretisch angeleitet wird. Die
unterscheidung zwischen frrnktionaler und kausaler Analyse ist wichtig, um der
Gefahr teleologischer Erkläirungen entgegenwirken, wonach soziale Sachverhalte
nicht aus den ihnen folgenden Konsequenzen erklärt werden können.
Fär die Analyse sozialer Probleme sind in dieser Perspektive zvtei Aspekte von
besondererBedeutung: Erstens können soziale Probleme sowohl positive wie auch
negative Funktionen erfiillen und für verschiedene Gruppen oder Teilsysteme in der
Gesellschaft jeweils unterschiedliche Konsequenzen haben. Zweitens besteht der
Anspruch, soziale Probleme ohne Rückgriff auf a priori Wertentscheidungen aus der
jeweiligen Organisation der Gesellschaftals Muster, die dysfunktional sind, bestimmen zu können und einer technischen Lösung zu zuführen.
Eine derartige Diagnose impliziert einerseits die Vorstellung, soziale Probleme
wären tatsächlich dazu da, gelöst zu werden und andererseits,daß sie auch tatsächlich bewältigt werden können. Dieses muß allerdings keinesfalls erwartet werden,
und es sprechen gute Gründe dafür, daß diese Vorstellung sogar gänzlich falsch ist.
Offenbar überleben Staatenund Gesellschaftennämlich auch, wenn sie die gravierendsten sozialen Probleme ungelöst lassen. Neben diesem eher empirischen Argument, das die Frage nach den Mechanismen des gesellschaftlichen Umgangs mit
Problemen aufwirfq gibt es aber auch einige theoretische Argumente dafür, daß Gesellschaften ohne soziale Probleme nicht denkbar sind. Am bekanntesten hierfür ist
die funktionale Argumentation von Dwlüeim (1895/1984) hinsichtlich der Kriminalität geworden. Demnach erfiillt das abweichende Verhalten und die darauf fol-
38
39
Axel Groenemeyer
SoziologiesozialerProbleme
genden gesellschaftlichen Reaktionen unverzichtbare Funktionen für den Bestand
und das Funktionieren jeder Gesellschaft(vgl. Albrecht 1981; Cohen 1975;Phillipson 1982). So können über abweichendesVerhalten, bzw. über die daran anknüpfenden Reaktionen sozialer Kontolle, Grenzen des Erlaubten markiert und symbolisiert, die Solidarität innerhalb der Gruppe über die Konsürrktion eines gemeins€rmen
Feindes gestärkt oder auch Spannungen abgebaut werden, abweichendes Verhaltens
kann zudem notwendige Systemanpassrmgen einleiten und die Flexibilität in der
Umweltanpassung sichern
Die Frage nach den im einzelnen erfiillten manifesten und latenten Funktionen
sozialer Probleme und ihren Mechanismen ist eine durchaus bedeutsame soziologische Fragestellung, die sehr viel über das Funktionieren modemer Gesellschaften
erhellt. Prinzipiell kann aber hierdurch uur erklärt werden, warum bestimmte Probleme weiterhin existieren und wie sie sich entwickeln, aber nicht, warum sie entstanden sind. Klassische Beispiele für eine funktionale Analyse sind die historische
Studie tiber die Puritaner von Erikson (1966) und die Untersuchung der Funktionen
von Armut in den USA von Gans (1992, vgl. Groenemeyer, ,,Armuf in diesem
Band).
Eine Gesellschaft ohne soziale Probleme setzt voraus, daß alle Individuen einer
Gesellschaft ihren jeweiligen Rollen und sozialen Regeln vollständig angepaßt wären, daß ein vollkommenes Gleichgewicht und eine widerspruchsfreie Organisation
aller gesellschaftlichen Teilsysteme entwickelt werden körurte und daß damit jegliche Veränderung und sozialer Wandel sowohl als Realität wie auch als Wertidee aus
der Weit geschaffen wäre. Letztlich bedeutete die Lösung aller sozialen Probleme
also entweder die absolute Auflösung gesellschaftlichenLebens oder die Abschaffung jeglicher Individualität und Subjektivität, was auf das gleiche hinausliefe.
In Abgrenzung zur';moralischen Perspektive der Sozialpathologie erhebt die
strrkturfunktionalistische Theorie den Anspruch, soziale Probleme als Funktionsproblem sozialer Systeme objektiv und wertfrei bestimmen zu können. Dieses
machte einen erheblichen Reiz dieser Theorie aus, paßte sie doch in ibrer Entwicklung gut in die Zeit der sich entwickelnden Wohlfahrtsstaaten des New Deals und
der keynsianischen, rationalen'Wirtschaftsteuerung. Ihre Blüte in Zusammenhang
mit der Ana$se sozialer Probleme erlebte si,e allerdings erst in den fünfziger und
sechziger Jahren, als auf der Grundlage der von Merton (1938) formulierten und
über Cohens Subkulturtheorie (1955) popularisierten Anomietheorie die verschiedenen groß angelegten Programme des ,,War against Poverty" begründet wurden.
particular group or organization or community or society is disorganized in some
degree, we meim. that the structure of statuses and roles is not as effectively organized as it, then and there, might be. This type of statement, then, amounts to a technical judgment about the workings of a social system. And each case requires the
sociological judge to supply competent evidence that the actual organization of social life can, under attainable conditions, be technically improved (Merton 1971, S.
820).
Während sich soziale Desorganisation auf eine fehlende Abstimmung im Arrangement von Rollen und Status bezieht und als Auseinanderfallen von Werten und
Möglichkeiten ihrer Verwirklichung gefaßt werden, betrifft die Klasse des abweichenden Verhaltens Normverletzungen innerhalb von Rollen. Ein Schlüsselbegriff
für die Analyse abweichenden Verhaltens ist Anomie, deren Bezug zu sozialer Desorganisation allerdings nicht genau geklärt ist. Im Prinzip bedeuten beide dasselbe:
ein Ungleichgewicht von Systemen, entweder als Zusammentruch sozialer Organisation und verbindlicher Zielvorstellungen, deren unzureichende Institutionalisierung als Diskrepanz zwischen Zielvorstellungen und bereitgestellten Mitteln zur
Zielerreichung oder ein gesellschaftlicher Zustand, in dem die Standards eines Systems weniger erfüllt werden, als es bei einer altemativen Arbeitsweise der Fall wäre.
Nach Merton soll es sich bei der soziologischenBestimmung sozialer Probleme
sowohl in bezug auf abweichendesVerhalten wie auch auf soziale Desorganisation
um eine technische Analyse der strukturellen und normativen Funktionsbedingungen eines sozialen Systems und nicht um ein Problem der moralischen Bewertung
handeln (vgl. die ausführliche Diskussion bei Albrecht 1977, L990; Kitsuse/Spector
1973). Auch wenn eingeräumt werden muß, daß soziale Probleme von unterschiedlichen Akteuren und Gruppen unterschiedlich definiert und beurteilt werden können,
so sollen Funktionsbeeinträchtigungendoch von soziologisch geschulten Beobachterlnnen an Hand objektiver Kriterien festgestellt und damit auch unabhängig von
Interpretationen und Bewerhrngen durch Beobachterlnnen und Betroffene als soziales Problem diagnostiziert werden können. Soziale Probleme sollen gerade nicht an
,,subjektiven" Interpretationen gebunden sein; die analyfische Unterscheidung zwi
schen objektiven Kriterien und ,,subjektiver" Deutung eröffrret gerade die Möglichkeit der Kritik sozialer Problemdefinitionen.
Bezugspunkt soll in jedem Fall die Bestandserhalhrngund das Gleichgewicht des
sozialen Systems sein, d.h. von sozialer Desorganisation wird dann gesprochen,
werur funktionale Systemerfordernisse nicht oder nur unzureichend erfüllt werden.
Eine soziologische Analyse sozialer Probleme müßte zu deren Bestimmung aller.Wissen
über die Funktionsweise sozialer
dings über ein abgesichertes,fundiertes
Systeme verfügen und gleichzeitig voraussagen köruren, daß es unter alternativen
Bedingungen besser funktioniert. Mit dieser Bestimmung sozialer Desorganisation
am Vergleichsmaßstab einer möglichen besserenFunktionsweise wird dann allerdings der vermeintlich neutrale Bezugspunkt der Analyse, die Bestandserhaltung des
Systems, selbst zu einen theoretischen Problem, müßte doch entschieden werden,
worin das bessereFunkfionieren liegen könnte und wem das bessereFunktionieren
3.4.2 Soziale Probleme und soziale Integration
Die zentrale Charakterisierung sozialer Probleme als soziale Desorganisation sozialer Systeme im Sinne einer fehlenden Abstimmung verschiedener Teilsysteme
oder -einheiten des sozialen Systems in einer strukturfunktionalistischen Perspektive
faßt das klassische Zitat von Merton zusarnmen: ,,Social disorganization refers to
inadequaciesor failures in a social system of interrelated statusesand roles, such
that the collective purposes and individual objectives of its members are less fully
reahzed than thev could be in an altemative workable svstem. ... When we sav that a
AxelGroenemeyer
SoziologiesozialerProbleme
zugute kommt. Typischerweisebedeutetdie Lösung oder die Bearbeitungsozialer
Problemein modernenGesellschaften,daßgeradedadurchsozialeProblemein anderen Bereichengeschaffenund andereGruppendavon betoffen werden, es also
eherzu einerProblemverlagerung,dennzu einerLösungkommt.
festhält, könnte eine soWenn man am Bezugsproblemder Bestandserhaltung
ziologisch technischeDiagnosevon Funktionsproblemensozialer Systemernöglicherweiseauf dem Niveau von Teilsystemenangeben,welche Elemente, Handhurgsmusteroder Sbrrkturenmit welchen Konsequenzen(Funktionen) verbunden
als sozialesProblem
Konsequenzen
sind, allerdingssetzteine,Bestimmung,dieser
voraus,daß dasreibungsloseFunlctionierendes Systemsnicht geradeselbstdie UrsachedesProblemsist (Gouldner L974).Le%tlichgeht esalso auchdannnicht mehr
um ein rein technischesProblem,sonderr durch die Wahl diesesBezugspunktsder
Analyseist zumindesteine Wertentscheidungfür den Status-quoverbunden.
Eine wichtige Aufgabe für die Soziologiebestehtdarin, nicht nur bereits etablierte sozialeProbleme,zuanalysieren,sondernbislangunbearbeiteteProblernlagen
zu erkennen.Hierfür ryird"von Merton,die Unterscheidungzwischen latentenund
manifestensozialenProblemen- in Analogie zu manifestenund latentenFunktio-- singefüht. Über die Analyse von Funktionsproblemenoder defizitären Be11s11
därfnisbefriedigungenin einer Gesellschaftkann die Soziologiedaztt beitragen,latenteProblemlagenzu erkennen,auchwenn sie in der Gesellschaftnicht oder noch
rricht als.problematischinterpretiert worden sind. Im Gegenzugkönnen auch vermeintliche oder scheinbaresozialeProblemeals solcheerkanntund kritisiert werden,2.8.. indem die Soziologie zeigt, daß eine vermeintlich problematischenGegebenheitdie Bedärfoisbefriedigungund die Funktionsweisedes Systemgar nicht
in der behauptetenWeisebeeintächtigt. Damit könnte die Soziologieein bedeutendeskritischesPotentialgewinnen,undzu einerLeitwissenschaftwerden,eineErwartung, die in den sechzigerJahrenin den USA und ab Ende der siebzigerJahreauch
in Europa'zueiner erheblichenAusweitungsoziologischer
Lebr- und Forschungskapazitätenund zur Aufrahme von Soziologlnnenin politische Reformkommissionen gefiührthat.
Damit stellt sich dasProblemder Definition sozialerProblemeinnerhalbder Gesellsc-haftund derenBezugzur soziologischenAnalyse.Ohnehier auf die Einzelheiten der Argumentationvon Merton einzugehen,liegt es auf der Hand, daßbei Vorund GezwischenSoziologTnnsn
üegeneiner Diskrepanzder Problemdefinitionen
sellschaftletztlich die Soziologiedas nötige Wissen mitbringen soll, um latentein
manifesteProblemezu überfiilren und scheinbareProblemeals solchezu entlarven
(vgl. Albrecht1977,S, 150f.;Kitsuse/Spector
1.973,5.410f.).
Allerdingsist die Soziologie bei der BestimmungsozialerProblemegeradeauf die Werte der Gesellschaftsmitgliederangewiesen,d.h. die empirische Feststellungeiner Diskrepanz
zwischengesellschaftlich,geteilten
Standardsund den Möglichkeiten ihrer Realisieerfolgen.
rung muß über die ,,subjekfiven"Definitionen der Gesellschaftsmitglieder
Dieseskarur- so auchdie Kritik von Manis (1974, 1976)- leEtlich zum Paradox
führen, daß die öffentliche Meinung die Grundlagefür ein sozialesProblem abgibt.
Solägez.B. soziologischkein sozialesProblemvor, wenndie Erwartungenbzw. die
Werte der öffentlichen Meinung hinsichtlich einer rassistischen Diskriminierung mit
der rassistischenWirklichkeit übereinstimmen. Es besteht somit keine Möglichkeit
zu bestimmen, ob oder inwieweit mit den Standards, Werten oder Erwartung nicht
Ideologien oder Idealvorstellungen zum Maßstab für soziale Problem erhoben werden (vgl. Albrecht 1977, S. 153).
Verkomplizied wird dieses Problem noch, wenn man mit Merton (1976) eben
nicht mehr von einem notwendigerweise einheitlichen Wertekanon in einer Gesellschaft ausgeht, sondern realistischerweise zuläßt, daß in differenzierten Gesellschaften die Interessen,Standardsund Werte für verschiedenesoziale Gruppen sehr unterschiedlich sind und häufig miteinander konfligieren. Darur kann sich Fall ergeben, daß innerhalb der öffentlichen Meinung nicht nur von verschiedenen Wertvorstellungen auszugehenist, sondern diese sich auch noch von den Perspektiven
der Betroffenen unterscheidet, so daß es der Soziologie an ,,objektiven" Kriterien
für die Feststellung einer Diskrepanz zwischen Standards und Realität gänzlich
fehlt.
Zusammenfassend kann man also sagen, daß das auch bei Merton grundlegende
Konzept der sozialen Desorganisation und der Anomie vage bleibt und der Anspruch einer ,,technischen" Konzeption sozialer Probleme auf der Grundlage firnktionalistischer Annahmen kaum eingelöst werdep kann, ohne Bezug auf Wertentscheidungenzu nehmen. Wenn Merton (1971, S' 820) mit Blick auf die ältere Perspektive der sozialen Desorganisation konstatiert, daß ,diagnoses of social disorganüation are often little more than moral judgments", dann trifft dies zumindsst teilweise auch auf den Strukturfunktionalismus zu. Allerdings liegt hier der Bezugspunkt einer Bestimmung sozialer Desorganisatiol auf'der Ebene der Gesarntgesellschaft und nicht in den verschiedenenMilieus, was die Analyse erheblich erschwert
und eine Einheitlichkeit von Gesellschaftvoraussetzt,die gerademodernen hochdifferenzierten Gesellschaftennicht angemessenist. Auch wenn notwendige vermittelnden Institutionen zwischen gesamtgesellschaftlicher Integration oder Desintegration und unterschiedlichen Milieus als Bezugspunkt der Analyse sozialer Probleme kaum thematisiert werden, so bietet diese Perspektive dennoch einen (erweiterungsbedürftigen) Ansatz, der allgemeine Bedingungen der Entstehung problematischer Bedingungen in der gesellschaftlichen Entwicklung thematisiert, die zur
Grundlage von Problematisierungen gemacht werden kön:ren.
Allerdings gibt Merton mit den Konzepten,,latenter" und,,scheinbarer" Probleme Fragestellungen vor, die sich einer Soziologie sozialer Probleme auch heute
noch stellen und die nach wie vor ungelöst sind. Entsprechendder oben entwickelten Definition sozialer Probleme stellen Prozessesozialer Desorganisation oder sozialer Desintegration aber nicht unbedingt bereits soziale Probleme dar. Vielmehr
sollten beide Aspekte - die soziologische Analyse sozialer Desorganisation bz'ry.
Desintegration und soziale Probleme deutlich voneinander unterschieden werden.
Nur in der Analyse der Beziehungen zwischen diesen beiden Aspekten können dann
möglicherweise auch ,,latente" und ,,scheinbare"soziale Probleme identifiziert werden.
40
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42
Axel Groenemeyer
3.5 Wert-undKulturkonflikt
Das systemischeModell desStukturfunktionalismusbetontmit seinenAnleihen an
die Kybernetikund die Biologie die Prozesseund Mechanismen,die die Arbeitsweise des Gesamtsystems
regulieren und sichern.Der Schwelpunktliegt auf Reproduktion desSystemsund damit auf Konfomrität; Veränderungenund eine aktive
Gestaltungdes Systemswird tendenziellals Devianz thematisierbar,erhalten aber
den charakter der Ausnahme.Dieseshat dem Modell den vorwurf des utopismus
eingebrachqweil Gesellschaftenin der Realitätgeradenicht als funktionaleEinheit,
sondernüber Auseinandersetzungen
und Konflikte der verschiedenen
mehr oder
wenigerorganisiertenGruppenfunktionieren(2.8. Dahrendorf1967).Es gibt keine
sozialenProblemeder Gesellschaft,
sondernntx in der Gesellschaft.SozialeIntegration ist weniger auf KonsensoderÜbereinkunftgegründet,sondernals ein prekäres Resultat der gesellschaftlichenAuseinandersetzung
um Ressourcenund Macht
anzusehen;Gesellschaftenund gesellschaftlicheInstitutionen werden über Zwang
und Gewalt zusammengehalten.
Die Grundlagenkonfiikttheoretischer'Perspektiven
bei der AnalysesozialerProbleme liegen bei so unterschiedlichenGrändewäternder Soziologiewie Karl Marx
und GeorgSimmel und entsprechenddifferenziertsind auch die Orientierungen,die
als konflikttheoretischzusaürmengefaßt
werden(siehez.B. Turner 1986).Neben
ihrem Bezug auf Marx und Simrneleint sie im Prinzip nicht mehr als die Betonung
divergierenderund konfligierenderInteressenund Werte in der Konstituierung sozialer Probleme.Darüber hinaus finden aber auch Prozessesozialer Ungleichheit,
Ausbeutungund Macht als politische Grundlagevon Konflikten bei der Analyse
sozialer Probleme Berücksichtigung.Kulturelle Differenzierungenund KonJükte
sind nicht nur Grundlagefür das EntstehenproblematisierbarersozialerBedingungen, sondemsie sind vön zentaler Bedeutungfür denProzeßder Definition und öffentlichen Problematisierung,der damit zum spezifischenForschungsthemaeiner
SoziologiesozialerProblemewird.
3.5.1 KulturelleDifferenzierungalsUrsachesozialerProbleme
Bereits in den Arbeiten von Thomasund Znaniecki (1920) war die Idee enthalten,
daß sozialeDesorganis4tionauchüber konfligierendeWertsystemezu beschreiben
ist. Allerdings wurde darausnoch nicht der Schluß gezogen,daßabweichendes
verhalten geradedadurchentstehenkann, daßdie RegelneinesanderenBezugssystems
befolgtwerden.Ethnographischen
Studien,wie z.B. W.F. WhytesStreetCorner Society (1943/1996),habengezeigt"daßvon einemZusammenbruch
der Normenund
Wertein den ,,desorganisierten
Milieus" der Großstadtkeine Redeseinkann.Vielmehr bildeten sich hier eigene Werte- und Norrnensystememit Formen sozialer
Kontrolle, die sehrviel rigider und effektiver funktioniertenals diejenigenin den als
konform angesehenen
Milieus. Viele der als soziale ProblemebezeichnetenSituationen und Verhaltensweisensind in bezug auf das spezifischeMilieu, in dem sie
gezeigtwerden, keineswegsabweichend.Sie folgen den Mustern einer Subkultur,
die von der sieumgebenenGesellschaft
abweicht.
Soziologie sozialer Probleme
43
Bei der Erklärung abweichenden Verhaltens kann also auf individuelle Eigenschaften der Akteure verzichtet werden, weil das Verhalten hinreichend über die
Anpassung an (sub)kulturell und sozialstruktrxell differenzierte Muster in einer Gesellschaft beschriebenwird (Komhauser 1978; Sack 1971). Die dabei zum Tragen
kommenden Mechanismen des Lernens und der sozialer Kontolle wurden als Theorie differentieller Assoziation von Sutherland (Sutherland/Cressey1939) und später
von Akers (1973) zu bedeutsamenallgemeinen Erklärungsfiguren für abweichendes
Verhalten weiterentwickelt.
Auch wenn damit Ansätze eines Werhelativismus thematisiert wurden, so blieben sowohl die frühen Perspektiven des Kulturkonflikts der Chicagoer Schule wie
auch die darauf folgenden Theorien abweichenden Verhaltens auf einer sozialpsychologischen Ebene der Anpassung von Individuen an eine pluralistische Umwelt.
Die gesellschaftlichen Bedingungen und Mechanismen der Strukturierung von
Wertsystemen wurden und werden dabei nicht thematisiert; von daher kann auch
das Problematische an sozialen Problemen und abweichendem Verhalten nür vorausgesetzt,nicht aber zu einer eigenständigen Fragestellung gemacht werden'
3.5.2 Werte- und Kulturkonflikte im Definitionsprozeß sozialer Problem
In seiner allgemeineren Orientierung in bezug auf die Bestimmung sozialer Probleme geht der Wertkonfliftlansatz auf Frank (1925) zurück und findet seine Ausformulierung bei Fuller (1937) bzw. Fuller und Myers (19a1a). Lo Unterschied zu Vorstellungen einer Bestimmung sozialer Desorganisation durch die Soziologie wird
hier die besondere Bedeutung der gesellschaftlichen Definition sozialer Probleme
hervorgehoben und damit die Unterscheidung von ,,objektiven" Bedingungen und
,,subjektiven" Interpretationen eingeführt: Soziale Probleme lassen sich nicht allein
auf spezifische ,,objektive" soziale Bedingungen zurückführen, sondern bedürfen
immer der ,,subjektiven" Bewertung, die das eigentlich Problematische an sozialen
Problemen konstituiert. Das Verbindende zwischen verschiedenensozialen Problemen liegt allein darin, daß sie alle als unerwiinscht, belastend und veränderbar in der
Gesellschaft definiert werden. Von daher muß eine Soziologie sozialer Probleme
diesen Definitionsprozeß ins Zentrum der Analyse stellen. Die Beschreibung und
Erklärung diesesProzessesmacht den besonderenGegenstandeiner Soziologie sozialer Probleme aus.
Werte und Werturteile haben bei Fuller/lvlyers flir soziale Probleme eine dreifache Bedeutung: Erstens sind sie die Grundlage für die Bewerhrng bestimmter Sachverhalte, d.h. auf der Grundlage von Werturteilen werden bestimmte Phänomene als
unerwtinscht und veränderbar definiert; zweitens können sie die Ursache für soziale
Probleme abgeben, werur bestimmte Werte ein abweichendes Verhalten nahelegen,
und drittens sind Werte die Grundlage für Konflikte über die Wahl von Lösungsmöglichkeiten für bereits definierte soziale Probleme. Damit lassen sich drei Gruppen von sozialen Problemen unterscheiden: ,Moralische Probleme" sind solche
FäIle, bei denen sowohl die Definition eines Problems als auch die Entwicklung von
Maßnahmen Gegenstand eines Wertkonflikts sind. Bei ,,ameliorativen Problemen"
besteht zwar weitgehende Einigkeit über den Problemcharakter, aber es gibt Kon-
44
AxelGroenemeyer
Soziologie sozialer Probleme
flilJe über die zu entwickelndenMaßnahmen.Danebengibt es ,,physischeProbleme", die im eigentlichenSinnenicht als sozialeProblemeaufgefaßtwerden,da ihre
Ursachennicht sozialerArt sind,z.B. Naturkatastrophen.
SozialeProblemewerdenalso über die in der GesellschaftvorhandenenMeinungsnbestimmt:.,,^Social'problem
are whatpeople think thqt are." (Fullerilvlyers
l94lb; S. 320). Nicht 6is lsdingungen einesreibungslosen
Funktionierenoder eines Gleichgewichtszustandes
sozialerSystemebilden den Bezugspunktder Analyse
sozialer Probleme, sondern die Entwicklung kultrueller Gruppen in einem Aushandlungsprozeß
von Wertvorstellungen.Die BestimmungsozialerProblemeerfolgt
vorfindbarenLaiennicht über die Soziologie,sondenrüber die in der Gesellschaft
konzeptionenund die öffentlicheMeinung. Von daherist diesePerspektiveals ,plebiscitaryapproach(Westhues1973)oder ,,publicopinion approach"(Manis 1976)
kritisiert worden, auch wenn die Bestimmungund Analyse der ,,objektiven" Basis
sozialer Frobleme nach wie vor Aufgabe der Soziologiebleiben soll und so eher
einedualeBestimmungsozialerProblemevorgenommenwird.
von Werten
Tatsächlichscheintbei diesemAnsatz eine Mehrebenenproblematik
und Weltbildern durch. Einerseitssebt die Mobilisierung für ein spezifischesModell sozialer Probleme die Notwendigkeit zu seiner Legitimation in Form eines
Rückgrifß auf möglichst weitgehendgeteilteWerte und Weltbilder voraus.So müssen soziale Probleme innerhalb einer Logik forrnuliert werden, die nicht nur auf
möglichst weiteichendes Verständnisstößt, sondern derenZielichtung und angestrebteVeränderungUnterstätzungerfalren karur. Andererseitshandelt es sich allerdings um spezifischeModelle und Weltbilder kollektiver Akteure, die nicht allgemeingeteilt werden. So kann es auch als ein typischesMerkrnal sozialerProbleme angesehenwerden,daß die für einenkollektiven Akteur oder eine Gruppeoptimale Lösung eines sozialenProblemsfür einen anderenkollekliven Akteur gerade
zu einemsozialenProblemwird (2.8. Arbeitslosigkeit).
In den meistenFällen der TherratisierungsozialerProblemehandelt es sich tatsächlichbei diesenDifferenzenabernicht um Konflikte um grundlegendeWertideen, sondernum Konflikte um Prioritätenund, davon abgeleitet,um Konflikte um
Ressourcen,in der Regeldurchausauf der BasisallgemeinergeteilterWertideen.Im
Hinblick auf den Grad der in den Konflikten zum Ausdruck kommendenDifferenzen wert- oder interessenmäßiger
Grundlagenmuß man also ehervon einemKontinuum zwischen Interessenkonkurenzen,also Konflilfen auf der Basis vollständig
geteilter Grundorientienrngen(Prioritätenkonflikt, Konflikt um Ressourcenund
Maßnahmen),und Konflikten als Kultukonflikt (,,clashof civilizations") ausgehen.
Im dem von Fuller/IvIyersformuliertenModell desWert- und Kulturkonfliktansatzeswird allerdingsnicht odernur unzureichendanalysiert,wodurch sich öffentlicheMeinungenund Wertideenkonstituieren.Wedersind die genauensozialenund
sozialskukturellenGrundlagender öffentlichenMeinung thematisiert,noch läßt sich
angeben,wmlm offenbarbestimmteGruppenmit ibren Wertenund Interessengrößere Chancenhaben,ihre Definitionen sozialer Problemezu öffentlichen Themen
und zur GrundlagepolitischerProgrammenwerdenzu lassen.
. Die Fragestellungnach den Mechanismen und sozialen B6dingungen des prozesses, mit dem soziale Probleme zu einem öffentlichen Thema, definiert und klassifrziert und in politische Maßnahmen umgesetzt oder nicht umgesetztwerden, ist die
Perspektive, die eine eigenständige Soziologie sozialer probleme neben der Beschäftigung mit eirzelnen Problemen im Rahmen einer Bindestichsoziologie (des
abweichenden verhaltens, der Krankheit, der Armut etc.) rechtfertigt. von anderen
sozialen Phänomenenund Themen der Soziologie unterscheiden sich soziale Probleme genau in ihrer evaluativen Komponente: sie existieren in der Gesellschaftvor
dem.Hintergrund spezifischer Wertvorstellungen, Normerr und Standards und nicht
ohne Rückgriff auf die an dem Prozeß der Thematisierung und Klassifizierung beteiligten Akteure.
Hieraus ergeben sich zwei Forschungsperspektiven,die im prinzip mit jeweils
unterschiedlicher Resonanz seit den sechziger Jahren die Soziologie sozialer Probleme beschäftigen: Erstensgeht es um die Frage der sozialen Konskuktion sozialer
Problem€ in der Gesellschaft. Hierbei handelt es sich um die eher mikrosbziologische Beschäftigung mit den Methoden und prozessen der Entwicklung von wirklichkeit oder Wirklichkeitsdeutungen in einem interaktiven Prozeß. Damit werden
sehr verschiedene Ansätze zusarnmengefaßt, die ihre wurzeln im symbolischen Interaktionismus und der Phänomenologie, sowie z.T. darauf aufbauend, in etlnomethodologischen, kognitivistischen und diskursanalyrischenPerspektiven haben. Daneben sind aber auch psychologischeund sozialpsychologischeAspekte aus Athibutions-, Streß- und Sozialisationstheorienrelevant, auch wenn deren methodologische
Grundlage kaum mit den vorher genannten perspektiven kompatibel is! und sie
bislang in der Soziologie sozialer Probleme eher eine Randposition eirurehmen
(Emerson/\4essinger 1977;FiezelBar-Tal/carroll1979;
Tallman 1976). Zweitens
geht es um die Frage der öffentlichen Konstitution sozialer Probleme in einem politischen Prozeß. Diese Fragestellung ist als direkte Weiterentwicklung konflikttheoretischer und kritischer gesellschaftstheoretischerArgumentationen mit einer Betomrng von Prozessen der Macht Herrschaft und Gewalt konzipiert.
Diese beiden Ansätze sind vielfache verbindungen eingegangen,und die Integration wissenssoziologischerund gesellschaftstheoretischerAnsätze kann als die
gegenwärtig erfolgversprechendstePerspektive einer Soziologie sozialer Probleme
angesehenwerden.
45
3. 6 Mikro soziolo gß che und akteurszentrierte p erspektiven
Grundlegendes Element milrosoziologischer, handlungstheoretischer,akteurszentrierter oder konstruktivistischer Perspektivenist die Annahme, daß sich soziale probleme auf aktives, sinnhaftes Handeln von Akteuren zurückführen lassen. Soziale
Probleme existieren demnach nicht als stabile Sachverhalte oder Sürrkturelemente
einer Gesellschaft, sondern müssenüber die Formulierung von Ansprüchen und Beschwerden als ,,public issues" aktiv konstituiert werden.
46
Axel Groenemever
3.6.1 Symbolischer Interaktionismusund abweichendesVerhalten
In den verschiedenenFeldern der Soziologie sozialer Probleme, insbesonderein der
Kriminologie, der Medizinsoziologie und der Soziologie abweichenden Verhaltens
entwickelt sich in den sechziger Jahren der symbolische Interaktionismus als Labeling Approach zu einer theoretischen Alternative gegenüber dem Stnrkturfunktionalismus. Als Verbindung aus den Ideen des Kulfukonflikts und lerntheoretischer
Überlegungen der differentiellen Assoziation wurden die Prozesse der Normdefuritionen, der Normanwendung und deren Konsequenzen zv zenfalen Forschungsfragen. Abweichendes Verhalten, Krankheit, psychische Störung usw. werden als gesellschaftliche Kategorien aufgefaßt, die auf bestimmte Personen und Verhaltensweisen angewendet werden, Abweichung ist also eine Zuschreibung, die relativ zum
jeweiligen Kontext zur jeweiligen Situation und zum Status der betroffenen Person
erfolgt und keine feststehende Eigenschaft der Hantlungsformen selbst: ,,Gesellschaftliche Gruppen (schaffen) abweichendes Verhalten dadurch .., daß sie Regeln
außtellen, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert, und daß sie diese
Regeln auf bestimmte Menschen anwenden, die sie zu Außenseitem abstempeln. ...
abweichendes Verhalten ist Verhalten, daß Menschen so bezeichnen." (Becker
196311973,S. 8). Becker knüpft damit auch wörtlich an die Formulierung von Fullerllvlyers (19a lb) an.
Der Zusammenhang zwischen abweichendem Verhalten und sozialer Kontrolle
wird also genau entgegengesetzt zur Position des Strukturfunktionalismus thematisiert: soziale Konholle ist keine Reaktion auf abweichendes Verhalten, sondern sie
konstituiert erst das abweichende Verhalten. Die Grundideen dieser Perspektive waren bereits in den dreißiger Jahren voT Tannenbaum (1938) und in elaborierterer
Fassung vom Lemert 1951 formuliert worden. Allerdings entwickelte sich erst in
den sechziger Jalren ein gesellschaftliches und intellektuelles Klima, in dem diese
Perspektive eine weitere Verbreitung finden konnte. Angesichts des Faschismus und
des Krieges in Europa und später der Thematisierung einer Bedrohung durch den
Kommunismus schien die mit der Labeling Perspektive verbundene Werhelativität
nicht sehr athaktiv. Erst mit der Entstehung neuer sozialer Bewegungen und der
sozialen Unruhen an den Universitäten gegen Ende der fünfziger und zu Beginn der
sechziger Jalre in den USA schien es evident, daß die Zuweisung von Kategorien
abweichenden Verhaltens nicht nur vom jeweiligen sozialen Kontext abhäingt, sondern ihnen auch eine politischc Bedeutung zukommen kann; schließlich waren viele
Studentlnnen und Soziologlnnen über ihr Engagement in den sozialen Bewegungen
selbst direkt von der Zuweisung und Aushandlung abweichender Labels betroffen
(Pfohl 1994,S.348).
lm Kontext dieses Ansatzes wurden zwei Themen als besondersrelevant angesehen: zum einen die Frage nach den Bedingungen und Prozessender sozialen Interaktionen, in denen abweichende Labels bestimmten Personenzugewiesen, diese
ausgehandelt oder abgewehrt werden und zum anderen die Entstehung und historische Konstruktion der Labels oder abweichenden Kategorien selbst. Besonders die
zweite Fragestellung ist unmittelbar relevant für die Analyse der Konstitution sozialer Probleme. Eine allgemeine prograrnmatische Ausformulierung fand diese Per-
SoziologiesozialerProblene
47
spektive in dem viel beachtetenAufsatz von Blumer (1971), der genauso wie Bekker direkt an die Überlegungen von Fuller/Ivlyers anknüpft. Seine Hauptthese ist,
daß ,,soziale Probleme hauptsächlich Resultate eines Prozesses kollektiver Definition sind" (1975, S. 102). Die Analyse sozialer Probleme wird damit in den Kontext
einer Soziologie kollektiven Verhaltens gestellt.
Werte, Ziele, Forderungen, Definitionen oder Bedärfnisse, die im Definitionsprozeß zurn Ausdruck kommen, müssen kollektiv artikuliert und z.T. gegen andere
Werte und Definitionen durchgesekt werden. Hierbei spielen Prozesseder Organisierung von Werten und der Formierung von Interessen eine bedeutende Rolle. Gusfield (1963) hat vor diesem Hintergrund die Thematisierungsgeschichtedes Alkoholproblems als Ergebnis ,,s;nnbolischer Kreuzzüge" sozialer Bewegungen untersucht. Ebenfalls in diesem Kontext steht die Studie von Platt (1969) über die Konstituierung der Jugendkriminaütat ah soziales Problem. Von Becker (1963/1973)
stammt der Begriff der ,,Moraluntemehmer" zur Kennzeic.bnung stategischer Interessendurchsetzungenim Prozeß der Etablierung des Marihuanaxauchens als soziales
Problem (vgl. Dickson 1968; Galliher/Walker 1977).
Wenn soziale Kontrolle abweichendes Verhalten konstituiert, so konnte anhand
dieser Studien gezeigt werden, daß die Institutionalisierung von Instanzen sozialer
Kontrolle selbst Mechanismen und Bedingungen folgen ftann, deren Bezug zum
behaupteten Problem nur sehr vage oder überhaupt nicht gegeben ist. Dabei reflektieren diese Studien die in den sechziger Jahren vorherrschenden Ideen über den
Ablauf politischer Prozesse:Macht wurde im wesentlichen als Durchsetzung organisierter Interessen verstanden, was die Frage auf die Mechanismen und Strategien der
Interessenorganisierung und -durchsetzung lenkte. In diesem Sinne wird die Etablierung der Temperenzbewegungen bei Gusfreld und auch die Konstituierung des ,,Marihuana Tax Act" von 1937 bei Becker als Ergebnis einer Politik der Sicherung des
Status und der Ressourcenbestimmter Bevölkerungsgruppen oder Organisationen
analysiert (siehe auch Pfohl 1994, S. 370ff.).
3.6.2 Varianten des Konstruktivismus
Mehr mit dem mikro- oder wissenssoziologischenGrundlagen der Konstitution soziaier Probleme beschäftigen sich Perspektiven,die st?irkerin einer phänomenologischenund ethnomethodologischenTradition entwickelt wurden. Während bereits im
symbolischen Interaktionismus in der Folge von George Herbert Mead und Max
Weber die besondere Bedeutung ,,subjektiver" Interpretation für das Handeln hervorgehoben wurde, gehen phänomenologischeAnsätze in der Tradition von Alfred
Schütz davon aus, daß soziale Wirklichkeit und die Erfahrungen der Akteure über
Typisierungen im Alltagshandeln jeweils erst konstruiert und mit Sinn gefüllt werden (siehe Grathoff 1989). Diese eher sozialphilosophischePerspektivewurde durch
die Arbeit von Peter L. Berger und Thomas Luclrnann ,,Die soziale Konstruktion
von Wirklichkelf' (196611969) als Wissenssoziologie formuliert und fand so eine
breites Publikum. Ethnomethodologische AnsäEe haben die phänomenologische
Perspektive in Richtung auf die Analyse sozialer Interaktionen im Alltag weiterentwickelt und versuchen die Regeln zu rekonstruieren, mit denen die Teilnehme-
Axel Groenemeyer
SoziologiesozialerProblene
rlnnen an Interaktionen jeweils situativ Gesellschaft sbrrkturieren und Sinn aushandeln (siehe Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973). Beide Positionen unterscheiden sich in bezug aufdie Einschätzung der Bedeutung sozialer Strukturen und
Institutionen
Der ,,sozialkonstruktivismus" bei Berger und Luckmann betont, daß soziale
Stukturen, Institutionen aber auch Wissensbeständeüber das Handeln der Mitglieder in einer Gesellschaft sozial konstuiert und rekonstruiert werden. Diese sozial
konstruierte Wirklichkeit fitt dann allerdings den Handelnden als Realität gegenüber und bestimrnt das weitere Handeln mit, d.h. gesellschaftliche Wirklichkeit erhält einen ,,objektiven" Charakter. Wichtige Konzepte sind in diesem Zusammenhang ,,Institutionalisierung", d.h. die Habitualisierung von Handlungsmustem und
sozialen Rollen, ,,Legitimierung" und ,,Objektivierung" als Prozesse der Abstaktion
und Kommunikation von Erfahrungen und Wissensbeständenüber die Sprache sowie ,,Internalisierung" als Grundlage der subjektiven Aneignung gesellschaftlicher
Wirklichkeit. Demgegenüber betont die Etlnomethodologie, daß gesellschaftlicher
Realität keine ontologische Qualität zukommt, sondern sie jeweils in interaktiven
Prozessenneu geschaffen und ausgehandeltwerden muß. Die Bedeutung und der
Sinn bestimmter Außerungen oder Handlungen elgibt sich konsequenterweise nw
über die jeweilige Situation und den jeweiligen sozialen Kontext und kann prinzipiell nicht als ;,Objektivietung" von externen Beobachterlnnen unabhäingig von den in
der Situation Handelnden analysiert werden.
Von diesen Perspektiven lZißt sich noch der kognitions- oder erkennüristheoretische ,,radikale Konstruktivismus'f unterscheiden, der besonders über die Systemtheorie Luhmarurs (1984) auch Eingang in die Soziologie gefunden hat (siehe
Knorr-Cetiria 1989). Demnach kann aus prinzipiellen Grtinden jedes System, sei es
biologisch, psychisöh oder sozial, nur als geschlossenes,,autopoietischesSystem"
aufgefaßt werden. Es gibt keine Informationen aus der Umwelt die in das System
hineindringen, vielmehr werden die Infonnationen innerhalb des System mit den
dort vorhandenen Regeln konstruiert oder ,,selbst produziert" (S. Schmidt 1988,
aufgezeigt haben und auch immer beispielhaft für den Ansatz aufgeführt werden,
gelten meistens die Arbeiten von John I. Kitsuse und Malcolm Spector (Spector/
Kitsuse 1973, 1977) als theoretischeGrundlegung der ,,konstruktionistischen", ,,rekonstruktionistischen" ,,interaktionistischen" oder auch ,,subjektivistischen" Perspektive einer Soziologie sozialer Probleme (siehe z.B. Albrecht 1977, 1990;
Schneider1985).
Im Unterschied etwa zu Becker (1966) und Blumer (1971) gehen Spector/Kitsuse (1973, 1977) nicht davon aus, daß soziale Probleme als ,,Resultate"oder ,,Ergebnisse" von Definitionsprozessen innerhalb der Gesellschaft aufgefaßt werden können, vielmehr existieren soziale Probleme nur über und als diejenigen Aktivitäten,
die sie zu etabliercn suchen: ,,as the activities of individuals or groups making assertions of grievances and claims to some putative conditions" (1973, S. 415, 1977, S.
75). Die Existenz sozialer Probleme hängt also von der dauerhaften Existenz von
Gruppen ab, die bestimmte Bedingungen als Probleme definieren. Die Aufgabe einer Soziologie sozialer Probleme besteht darrn nt erklihen, wie ,,claims-rnaking activities" zustande kommen und aufrecht erhalten werden. Diese Aktivitäten als Forderungen, Beschwerdenund Protest beziehen sich auf Situationen, deren problematischer Charakter über diese Aktivitäten behauptet wird und dadurch zum Ausdruck
kommt. Im Prinzip teilen damit soziale Probleme wesentliche Charakteristika sozialer Bewegungen bzw. können als solche analysiert werden (Mauss 1975, vgl.
Karstedt, ,,SozialeBewegungen", in diesem Band; Troyer 1989).
Die Aufgabe der Soziologie kann es hierbei nicht sein, die Angemessenheitoder
die tatsächliche Existenz der behaupteten Phänomene zu prüfen. Dieses gilt auch fiir
die Aktivitäten selbst, die nur insofern als ,,claims-making" z:tJanalysieren sind, wie
sie als solche von den Akteuren aufgefaßtwerden. Der Soziologie kommt also keine
privilegierte Rolle zu, vielmehr sind wissenschaftlicheErkennürisseselbst als Konstruktionen aufzufassen,die im Prozeß der Definition sozialer Probleme Verwendung finden können und insofem zu einem Teil des jeweiligen Problems werden
(Aronson 1984;Restivo 1988).
Während in der ersten Formulierung dieser Position (Spector/I(itsuse 1973) die
,,c1aims-making activities" vor dem Hintergrund von Gruppenwerten, Interessen,
Erfahrungen und Macht analysiert werden sollen, werden diese in der späteren Version nur noch als Rechtfertigungen oder Rhetorik aufgefaßt, deren Gehalt soziologisch nicht mehr thematisiert werden kann (Best 1995; Lautrnann 1981). Die
Analyse sozialer Probleme wird unter dieser Perspektive also weitgehend zu einer
Analyse von Rhetorik und ,,counter-rhetorics" (Ibana/Kitsuse 1993) über soziale
Probleme (vgl. Best 1987; Brulle 1994; Edelman 1977). Die von den Teilnehmerlnnen an Definitionsaktivitäten entwickelten Typisierungen und Diskursstrategien
werden nicht daraufhin untersucht, wie sie unter bestimmten soziohistorischen Bedingungen produziert werden, sondem wie sie von den Teilnehmerlnnen verwendet
werden, um eine Problemkonzeption auszudrtickenund Ressourcenzu mobilisieren
(IbarraÄCtsuse1993, S. 24).
Lokalisiert man den Beginn der wissenschaftlichen Popularität dieser extrem
werfrelativistischen Position zeitlich mit dem Ende der siebziger Jahre, so erscheint
48
1ee2).
In der SoziologiesozialerProtlemeist die Verbindungzu diesenallgemeinsoziologischenPerspektiveneherlocker und die Begrifflichkeit nicht einheitlich.Zwar
wird im allgemeinendiagnostiziert,daß sich zumindestin den USA die Konstruktionspeßpeldiveals dominanterAnsatz durchgeseEthabe,allerdingswird dann eher
von einem ,,konstuktionistischenAnsatz" gesprochenund sich verwinenderweise
(so Sarbin/IGtsuse
sogarexplizit gegenden Begriff ,,constructivist"ausgesprochen
zu einer kaum
Es
ist
mittlerweile
Gusfield 1984).
1994,S. X; vgl. demgegenüber
des KonVarianten
unterschiedlicher
noch zu überblickendenAusdifferenzierung
der
Sprache
die
Bedeutung
auf
struktivismus gekommen,besondersim Hinblick
und
gesellschaftlicher
Strukturen
und der Institutionalisierungund Objektivierung
1993;
von
Miller/I{olstein
(vgl. z.B. die Beitäge im Sammelband
Wissenbestände
L. Schmidt1996).
Obwohl bereits die obe;rgenanntenStudienvon Becker, Gusfield und Platt bereits in den sechzigerJahrendie sozialeKonsürrktion von Abweichungskategorien
49
50
AxelGroenerneyer'
dreHypotheseplausibel,daßin demAusmaß,in dem espolitischschwierigeroder
unmöglich wird, ,,objektive" Bedingungenzu ändern,die kulturellen und symbolischenAspektesozialerProblemean Bedeutunggewinnen(Nedebnann1986a,S.
17).
Unter dieser konstnrktionistischenPerspektivewurde ein Vielzahl empirischer
Studiendurchgeführt(sieheals Überblickez.B. Best 1995; Dreyer/Schade1992;
Maynard i988; Schneider1985),und der Ansatzwurdezum zentalenFokustheoinnerhalb der Soziologiesozialer Probleme.Diese
retischerAuseinandersetzungen
gingen in zwei Richtungen:zum einenwurden methodologischeEinwändeformuliert, die sich auf eine nicht konsequenteoder widersprüchlicheArgumentationinnerhalb desAnsatzesbezogenund eine radikalereAnwendungkonstruktivistischer
Perspektiveneinforderten(2.8. Woolgar/Pawluch1985b),zum anderenwurde insin Europadaraufinsistiert,daßesAufgabeder Soziologiebleibenmüsse,
besondere
der gesellschaftlichenund politischen Akgegenüberden Konstruktionsleistrurgen
teureeine kritische Position einzunehmen,indem man derenHandlungenan gesellzurückbindet(2.8. Albrecht 1990;Best
schaftlicheStrukturen,Werteund Interessen
1995;Haferkamp1987).
konstrukWoolgarlPawluch(1985a) rekonstruierendie Argumentationsweisen
tionistischer Fallstudien als dreistufrgenProzeß: Zuerct werden bestimmteBedingungen oder Handlungsweisenidentifiziert, die das Thema der Fallstudie bestimmen, dannwerdenverschiedeneDefinitionen bzw. Aktivitäten öffentlicher Rhetorik
beschrieben,um dann schließlichin
über dieseBedingungenoder Handlungsweisen
einem dritten Schritt die Relativität der öffentlichen Definitionen in bezug auf die
,,eigentlich"konstantgebliebenenBedingUngenoder das,,eigentlich"unverändert
gebliebeneAusmaßurid die Verbreitungder BedingungenoderHandlungsweisenzu
betonen. Im Prinzip wird also in den konstrulctiouistischenFallstudien selektiv
durchausauf ,,objektive" Bedingungenzurückgegriffen.Diese theoretischeInkonsistenzbezeichnensie als ,,ontologicalgerrymandering",die allerdingsals eine rhetorische $tategie sozial konstrrktivistischer Analysen unvermeidbarscheint (siehe
L. Schmidt1991).
Dahinter steckt die Fragestellung,ob soziologischeAnalysenund Theoriebilentwickelt
dung prinzipiell nicht nur ,,wertfreil', sondernauch ,,voraussetzungsfrei"
zu
als
Illusion
werden können; sowohl das eine wie auch das anderescheint sich
erweisen(Best1995,S. 343).
Hierauswurden allerdingsunterschiedlicheKonsequenzenin bezugauf die theoretische Weiterentwicklungder konstuktivistischenPosition gezogen.Woolgar/
in Form einen,,rePawluch(1985a,1985b)selbsterwarteneinenErkennürisgewinn
AnalysenübersozialeProbleme
flexivenKonsürrktivismus",d.h.die soziologischen
sollten alsTexte selbstzum GegenstandeinekonstruktivistischangeleitetenAnalyse
werden (vgl. Jaworski 1994;L. schmidt 1996).Allerdings ist hiermit die Gefahr
eines unendlichen Regressesverbunden, wenn dann wiederum diese Texte zur
Grundlageder weiterenkonstruktivistischenAnalyse gemachtwerden.Ibana/Kitsuvor'
se (i993) schlagenim Prinzip eine ähnlicheHinwendwrgzur Diskursanalyse
Sozioso
die
um,,Rückf?illein Objektivismus"känftig zu verrneiden.Letztlich wird
Soziologie sozialer Probleme
51
logie sozialer Probleme reduziert auf ein linguistisches oder erkenntristheoretisches
Problem, und das Ziel der Entwicklung einer empirisch fundierten Theorie wird
aufgegeben zugunsten eines theoretischen Projektes der Bewahrung einer internen
Konsistenz der konstmktivistischen Position. Damit geraten die empirischen Forschungsfragendarxr gänzlich aus dem Blick (siehe die ausführlichereDiskussion bei
L. Schmidt 1991,1996).
Als eine andere mögliche Konsequenz innerhalb des Programms eines ,,strikten
Konstnrktivismus" (Best 1995) deuten WoolgariPawluch (1985b) die Notwendigkeit verändertet ,,Textproduktion" an, die stärker die dialogische oder interaktive
Form der Produktion von Tlpisierungen und Problemdefinitionen berücksichtigt.
Im Prinzip läuft dieser Vorschlag auf eine mehr oder weniger geteue textuelle Reproduktion der Außerungen von Teilnehmerlnnen im Prozeß der Definitionsaktivitäten unter weitgehender soziologischer Enthaltsarnkeit hinaus.
Eine andere Linie des konsürrktivistischen AnsaEes ignoriert weitgehend die
Kritik einer ontologischen Vermengung von Analyseebenen zugunsten eindr stärkeren Orientierung an empirischen Analysen konkreter Problemlagen. Grundsätzlich
wird hierbei die Möglichkeit einer ,,objektiven" Feststellung sozialer Probleme nicht
negiert, wenngleich den ,,objektive" Bedingungen nur bedingten Einfluß auf die Defiaitionsaktivitäten zukommen soll. Best (1995) bezeichnet diese Orientierung als
,,kontextuellen Konstruktivismus", um damit deutlich zu machen, daß die Definitionsaktivitäten immer von bestimmten Personen(gruppen) in einem bestimmten
historischen Kontext stattfinden. Hiennit wird eine konsüuktivistischen Position etikettiert, die in den meisten empirischenFallstudien zur Entwicklung sozialer Probleme zur Anwendung kommt (siehe z.B. die verschiedenenBeitäge im Sammelband
von Best 1995 sowie GoodelBen-Yehuda1994).
Unabhängig von den Diskussionen um eine Soziologie sozialer Probleme wird
ein ähnlicher Ansatz auch von Pierre Bourdieu verfolgt In der 1993 veröffentlichten Studie ,,La misöre du monde" werden auf nahezu 1000 Seiten 58 Gesprächeüber
Alltagsprobleme in verschiedenen Bereichen wiedergegeben und analytisch kommentiert. Hierbei werden interessanteEinsichten, besondersüber die Diskrepanzen
zwischen ,,offiziellen" Definitionen sozialer Probleme und ihren Manifestationen im
Alltag vermittelt, die in theoretisch angeleiteten soziologischen Analysen verloren
gehen; allerdings wird ein Anspruch auf die Entwicklung verallgemeinerungsf?ihiger
theoretischer Aussagen zur Entstehung und Entwicklung sozialer Probleme damit
nicht verbunden (vgl. Bourdieu 1996; Fowler 1996; Grunberg/Schweisguth1996).
Der grundsätzliche Vorteil dieser ,,moderaten" Version konstruktivistischer Perspektiven liegt darin, eine kritische Position gegenüber den Defuritionsaktivitäten
einnehmen zu können und die Soziologie in die Lage zu versetzen,scheinbareund
latente soziale Probleme zu benennen.Unklar bleibt allerdings, an welchen Kriterien
dieseBewertung letztlich erfolgen soll, außer an den jeweils für die Soziologen und
Soziologiruren selbst im Alltagsleben maßgeblichen, was den Umstand ignoriert,
daß die Soziologlnnen durch ihre soziale Position und spezifische Lebenspraxis
nicht unbedingt als typische Mitglieder des kulturellen Systems angesehen werden
könaen (vgl. dazu Bourdieu 1996; Kitsuse 1975). Dadber hinaus wird das, was als
52
Axel Groenemeyer
historischerund sozialerKontext kollektiver Definitionsaktivitätenbezeichnetwird,
nicht genauerbestimmtoderrsystematisch
in die soziologische
Analyseeinbezogen,
sondernaltein derjeweiligen empirischenAnalyseüberlassen.
3.6.3 Kanieremodellesozialer,Probleme
Ein wichtigesHilfsmittel zur Rekonstruktionvon Prozessender Thematisierungund
Definition sozialerProblemestellenKarrieremodelledar, die Entwicklungsprozesse
als Sequenz typischer Handhrngsformenauffassen.Die Begriff einer ,,natural
history" spielt bei allen Autorlnnen, die den KonstitutionsprozeßsozialerProbleme
über sozialesHandeln erklären, eine wichtige Rolle, totzdem ist der theoretische
Stellenvertdefjeweilsunterschiedlich
konzipiertenKarrieremodelle
vielfachunklar
geblieben,und es zeigt sich eine erheblicheBeliebigkeit, was Anzahl und Zuschaitt
der eilzelnen Phasen,StufenoderPeriodenbetrifft.
Ausgehendvon einemBeispiel der Definition einer Wohnwagensiedlungin Defoit als sozialesProblementwickeltenFuller/Ivlyers(1941b)ein Karrieremodellmit
den drei Stufen ,,Bewußtwerdung",,,Festlegungeiner Politik, ,,Reform" und ihre
Lemert hat l95l diesesBeispielreanalysiertund kommt ztxnEr,,D,urchfiihrung".
gebnis, daß in der Konstitution sozialer Probleme durchausStufen oder Phasen
übersprungenwerdenkönnenodermehreregleichzeitig durchlaufenwerden,so daß
eine eindeutigeIdentifizierung schwierig ist. Als Kommentar zum Karrieremodell
von Fuller/Tvlyersfindet sich im gleichenHeft der American Sociological Review
der VorschlageineszwölfstufigenKarrieremodells
von Bossard(1941).
Becker(1966)und Blumer (1971)schlagenjeweils ein fünfstufigesModell vor,
wobei gegenüberdem Modell von Fuller/Ivlyersdie Phaseder Entstehungund Artikulation einesProblernbewußtseins
weiter ausdifferenziertwird: l. das Auftauchen
dessozialenProblemsbz.rv.d.erenWahrnehmung;2. dteLegitimierung dessozialen
Problems,d.h. die öffenllichenAnerkennungals sozialesProblem;3. die Mobilisierung von'Handlungen und Handlungsstategienin politischen Auseinandersetzungen;4. die Erstelhrngeines offiziellen Handlungsplanes
und 5. die Transformation
des offiziellen Handlungsplanesin seinertatsächlichenAusführung @lumer 1975/
1971,S. 106ff.;vgl. Hartjen1977,5.30f.).Demgegenüber
werdenin demvierstufigen Modell von SpectorAGtsuse
(1973) die Phasender Bearbeitungdes sozialen
ProblemsinnerhalbdespolitischenSystemsausdifferenziert:1. Erzeugungeinesöffentlichen und politischen Streitgegenstandes;
2. Reaktionenbei offiziellen Organisationen,der VerwaltungoderöffentlichenInstitutionen;3. Aktivitätenim Hinblick
auf dieseReaktionenoffizieller Stellenund der damit verbundenenUmformulierungen desProblems;4. Aktivitätenin Richtungauf die Veränderungdesgegenwärtigen SystemsderProblembearbeitung
(vgl. Albrecht 1977,S. 166ff.).
Mauss(1975)betontebenfallsstärkerden Prozeßder Auseinandersetzung
zwischen offiziellen Institutionen und den Trägergruppendes sozialen Problems. In
seinemffinfstufigen Modell wird nach dem Grad der Mobilisieruug von Anhäingerschaften für ein sozialesProblem differenziert. Im Unterschiedzum Modell von
SpectorlKitsusewerden allerdingsmögliche EndphaseneinessozialenProblemsim
Sinneeines,*A,blebens"oder ,,Verebbens"der Mobilisierung und der Untersti,itzung
Soziologie sozialer Probleme
53
für das Anliegen heworgehoben und über kooptive und repressive Aktivitäten staatlicher Stellen erklärt.
Eine konzeptionelle Entsprechung finden die Karrieremodelle sozialer Probleme
z,T. rn empirischen Analysen zur Thematisierung von sozialen Problemen in Massenmedien und ihr Einfluß auf die politische Issuebildung. Ausgangspunkt hier war
die Idee eines ,,Aufmerksamkeitszirkels" (,,issue attention circle'), d.h. Themen folgen in ihrer Bedeuhrng sowohl in den Massenmedien als auch für die Politik typischerweise einem Kreislaufmodell (Downs 1972): t. Vorstadium, in dem nur Experten ein Problem bekannt ist; 2. Alarmiede Problementdeckung und euphorischer Enthusiasmus in der öffentlichen Thematisierung; 3. Berechnung und Diskussion von
Kosten und Nutzen der Problembearbeitung und damit verbundene Emüchterung in
der öffentlichen Diskussion; 4. Absinken des öffentlichen Interessesam Problem; 5.
Nach-Problemphase,in der das Problem von der öffentlichen und politischen Agenda verschwindet und anderen Themen in ihrer Bedeutung aufsteigen (als Überblick
vgl. W. Parsons1995,S. 115ff.).
Das zentrale Problem mit derartigen Phasenmodellen besteht daxin, daß sie zunächst keinerlei Erklärungswert besitzen, sie dienen zunächst nur einer beschreibenden sequentiellen Sürrkturierung der Konstitution sozialer Probleme. Allerdings
können offenbar in empirischen Fallstudien die einzelnen Stufen häufig nur unter
großen Schwierigkeiten rekonstruiert werden, so daß auch ihr heuristischer Wert bescbränkt scheint. So kommen z.B. Dreyer/Schade(1992) zum Ergebnis, daß keines
von 13 historischen sozialen Problemen tatsächlich mit dem Stufenmodell von
Spector und Kitsuse beschrieben werden kann. Vass (1986) versucht in einer Untersuchung über die Thernatisierung von AIDS das Modell von Fuller/Jvlyers anzuwenden und kommt zu dem Ergebnis, daß Entwicklungsphasen eines sozialen Problems meistens nicht deutlich abgrenzbar, sondem sehr stark miteinander verknüpft
sind und kaum als isolierbare Stufen analysiert werden können. Darüber hinaus muß
festgehalten werden, daß es sowohl Vorwärts- als auch Rückwäirtsbewegungenin
der Thematisierungsgeschichtegeben kann, daß einzelne Phasenübersprungenwerden oder gar die gesamteEntwicklungsrichtung umgedreht wird.
Der Vorteil von Karrieremodellen liegt darin, daß für die verschiedenenStufen
oder Phasen jeweils unterschiedliche Erklärungsbedingungen und -mechanismen
angenonmlen und analysiert werden können, die die Dynamik der Problemsntwicklung in jeweils spezifischer Weise bestimmen (vgl. Groenemeyer 1990; Hartjen
1977; Ross/Staines 1972; Schetsche 1996). Grundlage hierfür muß allerdings ein
kontingentes Ablaufschema sein, das soziale Bedingungen nicht nur im Hinblick auf
die Erklärung von Entwicklungsgeschwindigkeiten zuläßt, sondem unterschiedliche
Entwicklungsrichtungen und -charakteristika einbeziehen kann.
Ganz auf ein Prozeßmodell verzichten HilgarlrerlBosk (1988), in dem sie den
Prozeß der Thematisierung sozialer Probleme in verschiedenen ,,Arenen" verorten,
die sich durch jeweils spezifische Probleme, Konflikte, Ressourcenund Diskurse
auszeichnen und die miteinander in vielfiiltige Beziehungen stehen. Da es bislang
nicht gelungen ist, allgemeine, empirisch haltbare Karrieremodelle zu entwickeln,
wäre hiermit zumindest ein heuristisches Instrumentarium benannt, das es erlaubt,
54
55
Axel Groenemeyer
SoziologiesozialerProbleme
kontingente Bntwicklungssequenzen sözialer Probleme durch verschiedene Arenen
hindurch zu analysieren. Darüber hinaus erhebt das Arenenkonzept den Anspruch
einer Integration verschiedener theoretischer Ebenen und Perspektiven, und es
knüpft an Diskussionen über Netzwerkstnrkturen in der Politik an (vgl. Kitschelt
1980;Nedelmann 1986b;Renn 1992).
ftann und muß dieses eine empirische Frage sein und darf nicht von vomhereia
durch die Fragestellungausgeschlossenwerden. Selbst wenn man annimmt, daß kollektive Definitionsaktivitäten oder soziale Bewegungen zunächst unabhängig von
den spezifischen, konkreten, sie später identifzierenden problematischen Sachverhalten entstehen,sich also quasi,,selbst erzeugen" (so Japp 1984), so karur das doch
nicht bedeuten, daß es keine erklärenden sozialen Bedingungen für das Entstehen
sozialer Bewegungen oder kollektiver Definitionsaktivitäten gibt. Der Prozeß der
Entwicklung kollektiver Handlungen kann gemeinsame Zielvorstellungen generieren genausowie gemeinsameZielvorstellungen kollektive Handlungen ermöglichen
können, in beiden Fällen ist ein Verzicht auf die Analyse erkläirender Ursachen für
kollektiven Handeln nicht sinnvoll (Albrecht 1990, S. 13ff.).
- Der Verzicht auf eine Analyse sozialstnrktureller Bedingungen, Erfahrungen, Interessenund Werten spiegelt sich in der Auswahl der untersuchtensozialen Probleme wider: es körmen aus prinzipiellen Gränden nur diejenigen Sachverhalte untersucht werden, die bereits mehr oder weniger erfolgreich als soziale Problemb thematisiert worden sind. Werur die Betroffenheit von problematischen Lebensbedingungen mit fehlender Ressourcenausstatilng und fehlender Thematisierungsmacht einhergeht, so kann dieses unter einer mikrosoziologischen Perspektive nicht zum Thema gemacht werden. Gerade auch über die Fähigkeit zur Nicht-Thematisierung oder
zur Unterdrückung der Thematisierung problematischer Sachverhalte kann sich
Macht ausdrticken, Die Perspektive der sozialen Konsürrktion sozialer Probleme
könnte gerade diese Aspekte der,,versteckten" Macht aufdecken, werur Macht und
Herrschaft systematisch einbezogen werden könnten. Durch die Überbetonung der
Orientierung an den Sichtweisen der Akteure geraten die mächtigen politischen und
staatlichenInstitutionen sowie die sozialstnrkturellenBedingungen der Bedeutungszuschreibungen und Situationsdefinitionen aus dem Blick. In empirischen Arbeiten
zur Normgenese, z.B. von Becker (196311973),Gusfield (1963) oder Pfohl (1971)
sind diese Fragen durchaus explizit thematisiert, allerdings um den Preis eines epistemologischen Bruchs in der Argumentation, indem auf ,,nicht konstruierte" Kontextbedingungen zurückgegriffen wird.
- Aus den gleichen Grtinden fehlt es einer mikrosoziologischen konskuktivistischen Perspektive auch an einem Maßstab fiir die Bewertung der Schwere und Bedeuhrng sozialer Probleme: vom Prinzip her sind alle Definitionsaktivitäten gleich
berechtigt und gleich bedeutsam. Gerade der Verzicht auf eine Orientierung an Kriterien außerhalb der an Definitionsaktivitäten beteiligten Akteure bedeutet so den
Verzicht auf gesellschaftlicheund soziologische Relevanzkriterien. Ihren Ausdruck
findet diese Orientierung u.a. ebenfalls in der Auswahl der Untersuchungsgegenstände: während die Analyse der öffentlichen Thematisierung gesundheitlicher Gefahren der Benutzung von Badewannen oder der Verzehr von Margarine, Hyperaktivität bei Kindern, Menopause oder Spielsucht als soziale Probleme von vornherein ihre Überzeugungskraft aus dem konstruierten Charakter dieser Sachverhalte
zieht, gelten andere Probleme wie z.B. Alkoholprobleme, Drogenkonsum oder
AIDS als Beispiele für die Problematisierung unter einer spezifischen professionellen Perspektive; selten oder gar nicht werden unter einer mikrosoziologischen
3.6.4 Grenzen einer Mikrosoziologie sozialer Probleme
Der konstrrktivistische AnsaE gehört zu den wichtigsten Perspekliven einer Soziologie sozialer Probleme. Soziale Probleme .werden als Definitions- oder Typisierungshandlungen thematisiert, und sie existieren nicht unabhäingig davon als Lebensbedingungenoder Merkrnale von Lebenslagen.Diese Perspektivebetont also in
besonderen Maße die milrosoziologischen oder handlungstheoretischen Aspekte der
Entstehung und Entwicklung sozialer Probleme. Insbesondere wird hervorgehoben,
daß soziale Probleme nicht ohne aktives Handeln entstehen und existieren, soziale
Probleme also in diesem Sinne immer ,,gemachf'werden. Die Analyse sozialer Probleme wird so direkt an die Analyse sozialer Konfiolle gebunden, denn soziale Probleme werden erst über alrtives Handeln in Reaktion auf und in Interaktion mit bestimmten Sachverhalten und Handlungsforrnen als solche konstruiert.
Die Rekonstruktion von Alctivitäten und Typisierungen, die soziale Probleme
hervorbringen, zieltim wesentlichen auf die rhetorischen und diskursiven Mittel, die
die Akteure einsetzen, aber nicht auf dessen Wahrheitsgehalt, sozialen Konsequenzen, Interessen oder damit verknüpften Werten. Einerseits erweitert sich hierdurch
das Spektrum soziologischer Fragestellungen und ermöglicht zudem eine eigenständige Fragestellung, andererseits ergeben sich hieraus aber auqh die zentralen Kdtikpunkte und Verktirzungen, die letztlich zu einer ,,halbierten" Soziologie sozialer
Probleme führen (Albrecht 1990):
- Teilnehmerlnnen an Definitionsaktivitäten und sozialen Bewegungen suchen Unterstützung für ihre Position und versuchen zu überzeugen, von daher erklärt sich
die besondere Bedeutung von Diskursstategien, Rhetorik und symbolischer PolitJk,
die in der soziologischen Analysd der Entstehung und Entwicklung sozialer Problerne ihren Niederschlag finden muß. Allerdings l?ißt sich an den produzierten Texten
und Aktivitäten nicht ablesen, warum sie z.B. zu einem bestimmten Zeipunkt und
in einem bestimmten sozialen Milieu oder Kontext entstehen und wodurch ihre
Durchsetzungschancen bestimmt werden. Wenn zu deren Erkläirung auf Werte, Interessen und Erfahrungen zurückgegriffen wird, so können diese nicht mehr im
Rahmen eines strikten Konstruktivismus, der allein auf situativer und textueller
Ebene Erklärungen sucht, analysiert werden. Deutungsmuster, Werte und Interessen
werden durchaus sozial konstruiert, aber in einem bestimmten historischen und sozialen Kontext, der zwar auch sozial konstruiert ist, aber den Akteuren in objektivierter Form, zum Beispiel mit Macht gegenüber titt.
- Der Verzicht auf die Frage nach der Angemessenheit, den Konsequenzen und
Folgen sich durchseEender Definitionen ist nicht gerechtfertigt. Wenn man annehmen will, daß gesellschaftliche Konstrukfionen sozialer Probleme von sozialen Bedingungen, Strukturen oder sie bezeichnende Handlungsmuster unabhängig sind, so
56
Axel Groenemeyer
Konsbrrktionsperspektive Probleme wie ArÄut, Umweltverschmutzung oder Kriminalität behandelt (vgl. Steinert 198i, siehe.die Aufzählung von Fallstudien bei
Pfohl 1994,S.394, Fn. 163).
- Vor dem phänomenologischen Hintergrund der konsürrktivistischen Positionen ist
alles, was wir über die Welt wissen, konstruiert, und es kommt darauf an, diese zu
verstehen und nicht, sie zu bewerten. Von daher kommt der Wissenschaft auch keia
besonderer Status zu; sie ist nur ein ,,claims-maker" unter anderen. Eine strikt konstruktivistische Perspektive ist allerdings gegen die hier vorgetragene Kritik immun,
weil sie prinzipiell davon ausgeht, daß es sich hierbei um eine spezifische Rhetorik
handelt, die auf die Überzeugungskraft eines argumentativen Rückgriffs auf vermeintliche ,,Objektivierung" baut. Im Hinblick auf ihre DurchseEung in öffentlichen Diskursen sind die Konstnrktionen aber durchaus nicht gleichwertig: auch
wenn man davon ausgeht, daß z.B. soziologische oder allgemeiner, wissenschaftliche Analysen soziale Konstruktionen darstellen, so stellen sie doch Konstruktionen
besonderer, in einer in historischen Prozessen gewachsenen Forrn dar, die sie mit
einer höheren Überzeugungskraft und Legitimität ausstatten. Vor diesem Hintergrund ist zum Beispiel'zu erklären,,daßsoziale Bewegungen darauf dringen, daß der
von ihr tlematisierte Sachverhalt ein ,,objektives" Problem sei und kein konstruiertes (siehe z.B. Knapp/\detz-Göckel, ,,Frauendiskriminierung", in diesem Band).
- Damit soll auf ein Mißverständnis der konstruktivistischen Perspektive hingewiesen werden: Wenn soziale Probleme als soziale Konstruktionen thematisiert werden, so heißt diesesnicht, daß sie weniger ,,real" wliren (so z.B. Jones/lvlcFalls/Gallagher i989) oder daß es Sinn machen würde, von ,flur konstruierten" sozialen Problemen im Unterschied zu ,,wirklichen sozialen Problemen" zu sprechen (so z.B.
Schetsche1996, S. 11). In der Tat ginge es nur dann um eine ,,Entlarvung" des ,,nur
konstruierten" Charakters sozialer Probleme, wenn man den Wahrheitsgehalt oder
die Interessengeleitetheit der Konstrukte nachweisen körurte. Dieses setzt allerdings
gerade voraus, daß die Soziologie über eine Möglichkeit der Entwicklung von
Walrheitskriterien unabhängig von den Konstnrktionen durch die Gesellschaftsmitgiieder verfüg! aber genau diese Möglichkeit wird in einer radikal konstruktivistischen Perspektive bestitten; Best (1995, S. 345) spricht in diesem Zusammenhang
von ,,vulgar constructionism". Eine kritische Entlarvung eines ,,nur konstruierten"
Charakters sozialer Probleme, d.h. der Nachweise von Scheinproblemen,geht über
das Programm des milrosoziologischen, radikalen oder strikten Konstruktivismus
hinaus (siehe z.B. Haferkamp 1987).
Wir haben also die scheinbar paradoxe Situation, daß dem als konservativ gescholtenen Strulturfunktionalismus mit seiner Unterscheidungsmöglicbkeit von latenten/manifesten und echten/scheinbaren sozialen Problemen ein kritischeres Potential zukommt als dem mit einer kritischen Attittide angetretenen Definitionsansatz, der da6 sllsldings in leEter Konsequenz die Wirklichkeit in ihrer ungleichen
Verteilung von Thematisierungschancen nur theoretisch reproduzieren kann. Methodisch wird so der kritisierte Positivismus über den Verzicht auf eine kritische
Rolle der Soziologie gerade auf die Spitze getrieben.
Soziologie sozialer Probleme
57
3.7 Konflikttheoretische und kritische Ansötze:SozialeProbleme zwßchen Macht
und ldeologie
Ausgangspunkt kritischer Analysen sozialer Probleme sind durchweg konflikttheoretische Grundannahmen,in denen soziale Probleme auf der Basis einer Ungleichverteilung von Macht und Herrschaft in Auseinandersetzungen und Konflikten konstituiert werden. Es handelt sich hierbei um einen Sammelbegriffverschiedener Perspektiven, in die allgemein konfliktttreoretische, marxistische, feministische und
radikal multikulturelle Orientierungen eingehen und die sich jeweils in ihrer spezifischen Interpretation gesellschaftlicher Machtverhähnisse unterscheiden. Wichtige Gemeinsamkeit kritischer Perspektiven ist ihre explizit normative und politische
Orientierung. Nicht notwendigerweise, aber sehr häufig, ist dieses mit einer direkten
Anbindüng an soziale Bewegungen (Arbeiterbewegmg, Bärgenechtsbewegung,
Studentenbewegmg, Frauenbewegung) gekoppelt, zumindest aber ist die Entwicklung kritischer Perspektiven sozialer Probleme unmittelbar mit dem Entstehep neuer
sozialer Bewegungen in den sechziger Jahren zu erkläiren (Davis 1975, S. 197ff.;
Pfohl 1994, S. 417ff.). In marxistischen Ansätzen werden soziale Probleme n Zusammenhang mit Klassenkonflikten und ökonomischer Ungleicbheit, in feministischen Absätzen in bezug auf patriarchale Machtverhältnisse und in radikalen multikulturellen Ansätzen in bezug auf rassistische und ethnische Diskriminierungen gesehen.
Die in ihren Grundzügen im neunzehnten Jahrhunded entwickelte Position des
historischen Materialismus von Karl Marx und Friedrich Engels ging davon aus, daß
Entwicklungen der verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche letztlich über
Entwicklungen der (Produktions-)Technologie und der Form der ökonomischen Beziehungen erklärt werden können. Die Grundlage gesellschaftlicher Konflilcte bilden
Auseinandersetzungen zwischen der Klasse der Produktionsmittelbesitzer und dem
Proletariat um die Teilhabe an gesellschaftlichenRessourcen.Macht und Herrschaft
sind in diesem Kontext über die Stellung im Produktionsprozeß bestimmt und als
Verfügungsmaclrt über die Produktion anzusehen. Die Grundlage der Entstehung
verschiedener sozialer Probleme und die klassenspezifischeVerteilung der Betroffenheit konnte so als Resultat der Widersprüche kapitalistischer Wirtschaftsentwicklung einerseitsund den damit verbundenenpolitischen Klassenauseinandersetzungen andererseitsrmalysiertwerden. Im Kontext der ,,sozialenFtage" wurden also
verschiedenesoziale Probleme auf einheitliche Ursachen der Entwicklung des politisch-ökononnschen Systems und der ökonomisch bedingten sozialen Ungleichheit
zruückgefiihrt. Im Gegensatz zttrrt Strukturfunktionalismus sind soziale Probleme
also nicht die Folge einer spezifischen und behebbaren Fehlentwicklung gesellschaftlicher Entwicklungen, in denen Ansprüche, Erwartungen und Realisierungschancen auseinanderfallen, sondern sie sind das Ergebnis des normalen Funktionierens kapitalistischer Gesellschaften aufgrund deren internen, unaufhebbaren Widersprüchlichkeit einer privaten Aneignung des gesellschaftlich produzierten Reichtums.
Mit der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates, einer zunehmenden Versorgungssicherheit in bezug auf wichtige Güter und einer darauf aufbauenden Individualisie-
58
Axel Groenemeyer
rung hat allerdings die relative Bedeutung klassenspezifischer Betroffenheiten sozialer Probleme und die Klassengebundenheit von Macht abgenommen, und es wurde zunehmend in Frage gestellt, ob das Zentrum der gesellschaftlichen Entwicklung
überhaupt noch im ökonomischen System zu suchen ist (2.8. Habermas 1973; Beck
1986). In entwickelten modernen wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaften teten neben
den ökonomischen Bestimmungen sozialer Ungleichheit andere politisch vermittelte
sowie geschlechtliche und kulturelle Differerzierungen deutlicher hervor, und eine
Bestimmung und Analyse sozialer Probleme ist nicht mebr allein auf der Basis einheitlicher (ökonomischer) Ursachenzuschreibungen zu leisten. Mit der Verlagerung
des Analyseschwerpunkts auf den Prczeß del Konstitution sozialer Probleme in öffentlichen und politischen Arenen wurde so auch in kritischen Perspektiven der
Aspekt der Definitions- und Thematisierungsmacht stärker betont. Daneben gerät
auch der Staat und die mit ihm verbundenen Instanzen, Institutionen und Organisationen stärker ins Blickfeld einer Soziologie sozialer Probleme.
Im Unterschied etvfa zu der Perspektive des Kulturkonflikts (Fuller/Iv1yers
t94ta), bei der von einer pluralistischen Gesellschaft ausgegangenwird, die jedem
Wertrnuster oder jeder Kultur im Prinzip eine Durchsetzungschance einräumt, gehen
i<ritische Konflikttheorien von einer strukturell fosdingten Ungleichheit des Zugangs
zu Ressourcen und Macht aus. Dabei spielen unterschiedliche Werte allerdings
kaum eine Rolle, sondem soziale Konflikte gehen von widersprüchlichen Interessen
aus, die immer in bezug auf jeweils gruppentypische Handlungsfsdingungen und
Normen ihrer Durchsetang analysiert werden, d.h. Interessen beziehen sich immer
auf eine Position innerhalb einer Interesserrsfiuktur. Im Unterschied zum Ansatz des
Kulturkonflikts werden die kollektiven Interessen oder Werte also nicht empirisch
besfimmt, sondem sind über die Position der Al.teurlnnen innerhalb der Sozialstruktur als ,,objektive" Interessenlagem analysieren(vgl. Bemard 1981).
Kennzeichnend für kritische Persp"ektiven ist damit die Möglichkeit eines Auseinanderfallensvon individuellen, empirisch meßbaren Interessenund den über die
Position in der Sozialstnrktur bestimmten kollektiven Interessen. Diese können
durch fehlende Information, ,,falschem Bewußtsein" oder fehlerhafte Interpretation
der eigenen Situation ,,latenf' bleiben und möglicherweise erst unter der Annahme
vollständiger Information und im Rahmen eines rationalen herrschaftsfreien Diskurses bewußt (gemacht) werden. Hieraus ergibt sich die besondere Bedeutung des
Konzepts der ,,Ideologie" in kritischen Perspektiven.
Im Zentrum der Analyse sozialer Probleme steht die Frage nach den Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen oder makrosoziologischen Bedingungen der
ungleichen Verteilungen von Ressourcenund Macht und den milrosoziologischen
Bedingungen der Konstitution von Wissen und Ideologien über soziale Probleme.
Es geht also in kritischen konllikttheoretischen Ansätzen um den Zusammenhang
von Sozialstruktur, Wissen und Herrschaft.
Macht wird nicht nur über die Kontolle von Ressourcen, die Beeinflussung von
Entscheidungen oder über Gewalt ausgeübt, subtilere Formen der Macht beziehen
sich auf die Konstitution von verinnerlichten Selbstverständlichkeiten des Wissens
über gesellschaftliche Realitäten. Die Beziehungen zwischen Macht und Wissen
SoziologiesozialerProbleme
59
köruren auf drei Ebenen analysiert werden: kognitiv, moralisch und körperlich
(Pfohl 1994, S 410ff.). Auf der kognitiven Ebene werden Auffassungen und Erklänrngen über die Wirklichkeit entwickelt, die jeweils spezifischen historisch gewachsenen Rationalitätskriterien folgen. Hierbei handelt es sich um ein ,,natürliches" Wissen, das als kognitive Selbstverständlichkeitbehandelt wird und, meistens
unhinterfrag! dem Alltagshandeln zugrunde liegt. Diese Konstrultionen von Wirklichkeit können allerdings durchaus verätrdert werden. In ähnlicher Weise funktionieren die Beziehungen zwischen Macht und Wissen auf der moralischen und körperlichen Ebene. Moralisches Wissen bezieht sich auf unhinterfragte Bewertung von
Situationen und deren Abbildung in Affekte. So sind z.B. bestimmte Kategorien
sozialer Probleme ,,automatisch" mit affektiven Reaktionen einer Empörung oder
Ablehnung gekoppelt, noch bevor eine kognitive Reflexion möglicherweise zu einer
and'erenBewerhrng der Situation kommt. Dieses ,,moralische Wissen" ist vielfach
über körperliche Reaktionen unterstätzl Empörung, Ekel, Scham und Peinlicbkeit
angesichtssozialer Probleme bezeichnen in diesem Sinne Beispiele flir Formen eines ,,körperlichen Wissen" über soziale Probleme (vgl. Elias 1976; Tumer 1987).
Das Zusammenwirken dieser drei Ebenen konstituiert verirurerlichte Selbstverständlichkeiten eines ,,.Wissens"über soziale Probleme, in dem ihr Charakter als
Ausdruck sozialer Ungleichheit und Ergebnis sozialer Konflikte nicht mehr sichtbar
ist. Die Konstitution sozialer Problem wird also nicht nur über die Kontrolle der
politischen Agenda oder die Beei:rflussung von Definitionsaktivitäten gesteuert,
sondern darüber hinaus auch grundlegender über die Kontolle der Art und Weise
wie Interessen, soziale Kategorien und selbst Gefühle konstruiert werden (vgl. Lukes 1974). In der marxistischen Diskussion hat Antonio Gramsci für die damit implizierte Form der Organisierung von Zustimmung und Legitimation als Verinnerlichung von Macht ohne Rückgriff auf Gewalt und Zwang den Begriff der ,,hegemonialen Herrschaft" eingeführt (vgl. Banett 1991, S. 51ff.). Eine Hauptquelle von
Macht Klassen besteht demnach darin, eine spezifische Sicht der Welt zu einem
dominierenden Wissen werden zu lassen. In Anlehmrng daran wurde von Connell
(1987) in bezug auf das Geschlechterverhälürisund geschlechtstypischePerspektiven und Interpretationen sozialer Wirklichkeit das Konzept ,,hegemonialer Männlichkeit" geprägt.
Im Unterschied zu klassisch orthodoxen marxistisch-lenistischenPositionen wird
Ideologie also nicht mehr als ein über die ökonomische Basis bestimmtes ,,Klassenbewußtsein" bescluieben, sondem als Diskursform, die nicht mehr nur an Klassenpositionen gebunden ist und grundlegendere Wissensformen wie das Unbewußte,
Bewertungen, Affekte und den Körper einbezieht: Ideologie betrifft die gesamte
Handlungsorientierung, -fiihigkeit und -motivation, d.h. die ,,Subjektivität" von Akteurlnnen (vgl. Giddens 1983).
Im Abgrenzung zur radikal konstuktivistischen Perspektive verweist allerdings
der Ideologiebegriff auch darauf, daß die Interpretationen und Konstruktionen der
Akteure durchaus ,,falsch" sein können, entweder als nicht der Wirklichkeit adäquat
oder als interessengeleiteteKonstruktion, die den Kollektivinteressen widerspricht
und zur Legitima.tion von Herrschaft beitägt. So ist Ideologie z.B. auch bei Haber-
60
61
Axel Groeneneyer
SoziologiesozialerProbleme
mas (1968) nicht von,Ideologiekritik zu trennen, rveil die Kennzeichnung von Ideen
und Auffassungen als ideologisch impliziert, daß diese von sozial mächtigen Interessen geleitet sind und einem rationalen, herrschaftsfreien Diskurs nicht standhalten.
Wissen wird dann als ideologisch bezeichnet, wenn es eine Legitimationsfunktion
von Herrschaft erftillt oder erfüllen kann. Damit geht der kritische Ideologiebegriff
auch über die wissenssoziologische Auffassungen in der Tradition Karl Mannheims
hinaus, nach der jegliches Wissen über die Wirklichkeit durch die jeweiligen lokalen
Kontexte und Erfahrungen:der Akteure beeinflußt wird.
Die Keru:zeichnung von Perspektiven als ideologisch setzt allerdings die Möglichkeit einer externen, ideologiefreien Position voraus, von der aus Ideologien bestimmt und kdtisiert werden können. Für dieses Problem sind verschiedene Lösungen vorgeschlagen worden: Im orthodoxen Marxismus-Leninismus wird hierfür auf
die Partei als Klassenorganisation verwiesen; ganz ähnlich wird in feministischen
und radikalen multikulturellen Bewegr".gen häufig die für Kritik privilegierten Erfahrungen unterdrückter sozialer Gruppen (Frauen, ethnische Gruppen) hervorgehoben. Demgegenüber kommt in anderen Ansätzen der Wissenschaft eine besondere
Rolle bei der Aufkltirung über Ideologienzu, sei es als Verweis auf die spezifischen
Verfahrensregeln der wissenschaftlichen Wissensproduktion (so z.B. bei Manis
1976) oder über,die Annahme einer ideologiefreien Position der Intellektuellen (bei
Mannheim). 41161dingsist die Gegenüberstellungvon Ideologie und Wissenschaft
insofem problematisch, als Wissenschaft selbst zur Ideologieproduktion beihagen
kann: Ideologie'ist keine Eigenschaft von Wissenssystemeq sondern von Aspekten
innerhalb verschiedener Wissenssysteme. Von daher wird Ideologie sinnvollerweise
über die in ihr zum Ausdruck kommenden partiellen Interessen identifiziert, die in
einer historischen und empirischen wissenssoziologischen Rekonstnrktion der Entstehung und Entwickluüg analysiert werden können (vgl. Giddens 1983, S. 186ff.).
Hierzu unterscheidet Giddens (1983, S. 193ff.) drei Hauptformen, mit denen in
.
modemen Gesellschaften Herrschaft ideologisch untermauert wird: über die Repräsentation partikularer Interesseneinzelner Gruppen als Universalinteresse,über die
Negierung von Widersprüchen und Konflikten und durch die Reifikation oder Naturalisation von Wirklichkeit, d.h. durch die Negierung ihres Charakters als historische soziale Konsürrktion. Die ,,Medikalisierung sozialer Probleme" (Conrad/
Schneider 1980) könnte als eine ideologische Auffassung in diesem Sinne interpretiert werden, sofern mit dem Krankheitskonzept dessenpolitische, konfliktuelle und
evaluative Grundlagen ,,verschwinden" und in eine individuell zu behandelnde Pathologie umgewandelt werden (Haines 1979, siehe auch Manning 1985). Für Fallstudien der ideologischen Konstruktion von Abweichungskategorien aus dem Bereich Krankheit/Gesundheit sei auf die Überblicke bei Armstong (1983) und Gerhardt (1989, S. 249ff.) verwiesen; für den Bereich der Stafrechtsnornen bieten Hester/Eglin (1992, S. 47ff,) eine ZusammenstellungeinschlägigerFallstudien.
Die Funktion von Ideologien geht allerdings über die Legitimierung der Herrschaft einer sozialen Gruppe über eine oder mehrere andere hinaus. Häufig korrespondieren Ideologien mit Imperativen und Leitideen, die für das Funktionieren
zentraler gesellschaftlicher kstitutionen von Bedeutung sind, wie z.B. in modernen
Gesellschaften Auffassungen über PrivatheiVÖffentlicbkeit, Fortscbritt, Individualismus, Freiheit u.ä.. Ideologien über soziale Probleme bzw. über die ihrer Konstitution zugrunde liegenden Werte korrespondieren zudem mit über Traditionen vermittelte kulturellen Tiefenstrukturen oder Codes, deren z.T, religiöse Wurzeln sich
über lange historische Zeiträume hadiert haben, wie z.B. grundlegende Arlffassungen über die Bedeutung von Arbeit, Gerechtigkeil Individuum. Allerdin$s stiften
Ideologien auch soziale Kohäsion und Integration innerhalb einer Gesellschaft, indem sie Mitgliedschaften bestimmen und über Abweichungskategorien und 'erklärungen Kriterien der Inklusion und Exklusion vermitteln oder Feindbilder konstituieren, gegen die man sich moralisch verbändet.
3.8 Zusammenfassung:I4/erteund Interessen alsBezugspunlcteeiner Soziologie
sozialer Probleme
F,in zentralesProblem der soziologischenAnalyse sozialer Probleme liegt in $er Bestimmung dessen,was an sozialen Problemen problematisch ist. Die Soziologie sozialer Probleme beschäftigt sich also mit der Frage nach den Bedingungen und Prozessen, die bestimmte Phänomene in der Gesellschaft als störend und veräinderbar
erscheinen lassen und Aktivitäten zu ihrer Veränderung veranlassen. Grundlage sozialer Probleme sind enttäuschte Erwartungen kollektiver Akterue mit strukturellen
oder institutionalisierten Bedingungen, die vor dem Hintergrund spezifischer Wertideen und Interessen ,Notwendigkeiten" der Veränderung einer Situation zu einer
öffentlichen Thematisierung bringen.
In Arbeiten zur Soziologie sozialer Probleme ist es vielfach geübte Praxis, die
Argumentation auf eine Kontroverse zwischen ,,subjektivistischen" und ,,objektivistischen" Ansätzen zu zuspitzen. Demnach lassen sich die Perspektiven und Theorien sozialer Probleme zwei allgemeinen Positionen zuordnen, die jeweils unterschiedliche Auffassungen über den Stellenwert und die Möglichkeiten der soziologischen Analyse ,,sozialer Probleme" beschreiben: In Ansätzen, die der Mertonschen Perspektive nahestehen,wird der Soziologie die Aufgabe (und Möglicbkeit)
einer theoretischen und empirischen Reflexion gesellschaftlicher Schadenskategorien zugedacht, die den Konstnrktionen kollektiver Akteure in der Gesellschaft überlegen ist. Damit beansprucht die Soziologie mit ihren Analysen den Status einer
,,richtigen", ,,o,bjektiven"Diagnose problematischer gesellschaftlicherBedingUngen,
an der dann die gesellschaftlichen Thematisierungs- und Mobilisierungsaktivitäten
für ,,sozialeProbleme" in Hinblick auf ihre Angemessenheitund ,,Richtigkeit" überprüft werden können. Demgegenüber wird der Soziologie in interaktionistischen
oder konstruktivistischen Ansätzen ausschließlich der Status eines kollektiven Akteurs neben anderenim Prozeß der Konstruktion sozialer Probleme zugedacht.Demnach untelscheiden sich soziologische Kategorisierungen nicht grundsätzlich von
denen anderer kollektiver Akteure, und ihre ,,Richtigkeif' erweist sich nur an ihrer
tatsächlichen Durchsetzungsf?ihigkeit im Mobilisierungsprozeß. Während die erste
Position im Prinzip die Möglichkeit einer ,,sozialtechnologischen"Analyse und Lösung sozialer Probleme postuliert, geht die zweite Position von einem ,,Wertrelati-
62
Axel Groenerneyer
SoziologiesozialerProbleme
vismus" aus,,mit dem ablaufendeMobilisierungsprozessenur soziologisch begleitet
werden können.
Zwar scheint es mittlerweile unstittig, daß soziale Probleme über kollektive
Akteure in die öffentliche und politische Arena gebracht werden müssen und so
überhaupt erst als soziale Probleme konstituiert werden; es kann geradezu als ein
Spezifikum einer soziologischen Beschäftigung mit dem Konzept n,sozialeProbleme" gelten, daß die zentale Fragestellung immer auf-die soziologische Rekonstruktion des Prozessesund der gedingungen hinausläuft, mit dem diese Kategorie als
sozial bedeutsames Phänomen definiert worden ist. Strittig ist allerdings zwischen
den hier referierten Perspektiven sowohl die Frage, ob den gesellschaftliche Thematisierungen sozialer Probleme sirurvollerweise eine ,,objektive" gesellschaftliche
Basis zugeschrieben werden kann, als auch die Frage, ob soziologische Kriterien
entwickelt werden können, an denen die Thematisierungsaktivitäten bewertet werden können. Hierzu wurde von Merton die Frage nach den Möglichkeiten der Diagnose und Analyse von ,,Scheinproblemen", ,,latenten Problemen" und altemativen
Thematisierungsformen sozialsr Probleme aufgeworfen, die allerdings auf der Basis
der konstruktivistischer Perspektivur gar nicht gestellt werden kann.
Die Möglichkeit dieser Fragestellung ergibt sich aus einer Unterscheidung zwischen soziologisch analysiertenund diagnostiziertenproblematischenBedingungen,
die als Probleme sozialer Desintegration und Desorganisation behandelt werden,
und sozialen Problemen als spezifische Form der Aktivitäten kollektiver Akteure Erwartungsenttäuschungenzu problematisieren. Die Beziehung zwischen ,,sozialen
Problemen" und,,problernatischen gesellschaftlichenEntwicklungen" ist dabei kontingent. Nur so ka:rn analysiert werden, daß es Thematisierungen sozialer Probleme
gibt, denen möglicherweise keine problematischen gesellschaftlichen Bedingungen
(mebr) zugrunde liegen, genauso wie es problematische gesellschaftliche Bedingungen gibt, die nicht oder noch nicht den Bedingungen entsprechendals ,,soziale Probleme" erkannt oder anerkannt sind. Tatsächlich wurden ,,soziale Probleme" und
problematische gesellschaftliche Bedingungen in der Soziologie häufig entweder
miteinander gleichgesekt, oder die Analyse wurde auf den Definitionsprozeß bereits
erfolgreich identifizierter n,sozialerProbleme" beschränkt.
Eine Soziologie sozialer Probleme ist mit den kulturellen Grundlagen von Gesellschaftenbeschäffigt, insofern kollektive Erwartungen an gesellschaftlichenWerten und Leitideen ausgerichtetsind. Dieser Wertbezug kommt in den hier referierten
Ansätzen in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck, und seine problematische Behandlung hat die Soziologie sozialer Probleme als soziologischesUnternehmen lange Zeit obsolet werden lassenund in die als wissenschaftlichunergiebig angesehene
Ecke angewandterSoziologie abgedrängt.Die ideologischen Grundlagen der frühen
Sozialpathologen, die Orientierung am gesellschaftlichen Status-quo einer Bestimmung sozialer Probleme als sozialer Desorganisationoder als unreflektierte öffentliche Meinung und Laienkonzeption im Rahmen des Wert- und Kulturkonflikts können kaum eine soziologisch überzeugende Konzeptualisierung sozialer Probleme
abgeben.
Die lange Zeit herausragende Bedeutung des Stukturfunktionalismus mit sei
nem Versprechen einer ,,technischen", an objektiven Kriterien und Funktionserfordernissen von GesellschaftenausgerichtetenAnalyse erklärt sich zum großen Teil
aus dem Unbehagenmit normativen Ansätzen. Bei einer Bestimmung sozialer Probleme als Funktionsproblem wird die Orientierung an Wertvorstellungen zunächst
negiert, um dann allerdings als empirisch zu bestimmender Tatbestand, an dem die
Diskrepanz zu ihren Realisierungsmöglichkeiten gemessen wird, in die Analyse
wieder einzugehen.
Mit der empirischen Bestimmung aktueller Wertorientierungen als öffentliche
Meinung ist allerdings ein Wertrelativismus verbunden, der in radikal konstruktivistischen Ansätzen auf die Spitze getieben ist, indem die rhetorischen und semantischen Aspekte der Diskurse über soziale Probleme zum zentalen Bestimmungsmerkmal gemacht werden. Dem wiederumbegegnen ein Teil der kitischen Ansätze
mit einem explizit normativen Anspruch, der über die Orientierung an sozialen Bewegungen begrändet oder über als universell geltende Werte abgesichert'werden
soll.
Eine Orientienrng an öffentlicher Meimrng ermöglicht einer Soziologie sozialer
Probleme die Rekonstruktion von Thematisierungskarieren und liefert so wichtige
Erkenntnisse über Prozesseder Konstruktion und DurchseEung von Deutungs- und
Wertrnustem über die Mobilisierung kollektiver Akteure in der Gesellschaft.Gerade
die Thematisierung und Konstruktion sozialer Probleme als Prozeß verweist darauf,
daß dieses immer in einem in spezifischer Weise institutionalisierten und sürrkturierten sozialen Kontext stattfindet, der - als Resultat vorangegangener Konstruktionen und Praktiken kollektiver Akteurlnnen aufgefaßt - den Akteuren aber in ,,objektivierter" Form als Handlungsressourceoder -beschrä:rkung gegenüberhitt. Dies
wird in den Fallstudien auf der Basis eines ,kontextuellen Konstruktivismus" zwar
durchaus gesehen,aber nicht theoretisch einbezogen,sondern der Bmpirie des Einzelfalls überlassen.
Die Kriterien und Wertrnaßstäbe, an denen soziale Probleme identifiziert werden
und an denen sich eine Mobilisierung aufhängt, werden bei der Konzeptualisierung
und Analyse sozialer Probleme von den referierten Perspektivenin unterschiedlicher
Weise einbezogen:
- In Ansätzen, die mit dem Konzept einer Pathologie von Gesellschaftenarbeiten
werden die Wertrnaßstäbeabsolut gesetztund als gegebenvorausgesetzt.Das Problematische an sozialen Problemen wird als evident angesehenund nicht analysiert.
Diese normative Position gilt tendenziell in gleichem Maße für frühe Arbeiten der
Chicagoer Schule, die das Konzept der sozialen Desorganisation verwenden und,
aktueller, für kommunitaristische Positionen sowie teilweise auch flir kritische Perspektiven, die sich normativ an den Wertvorstellungen sozialer Bewegungen orientieren. Darüber hinaus ist allerdings ein Großteil der soziologischen Beschäftigung
mit einzelnen, als soziale Probleme bezeichneteGegensttinde,z.B. in der Medizinsoziologie, Devianzsoziologie, Kriminologie oder Sozialpolitikforschung, in diesem
Sinne als normative Position zu kennzeichnen. In der Regel wird in der problemaals evident vorausgesetzt.Im Vortische Charakter ihres Forschungsgegenstandes
63
64
Axel"Groenemeyer
dergrund stehen dann eher Fragen nach Atiologie oder der Entwicklung und Bewerhrng von Maßnahmen sozialer,Kontolle auf der Grundlage gegebener und oftmals administativer Problemzuschreibungen.
- Im Strukturfunktionalismus werden Wertideen als objektiv gegeben vorausgesetzt. Geteilte Norrnen und Werte sind in dreser objektivistischen Position die
Grundlage gesellschaftlicher Integratior5 und sie werden zugunsten des Anspruchs
einer eher technischen Funktionsbestimmung als empirisch gegeben behandelt und
in funktionaler Beziehung zur Gesellschaftsstruktur analysiert.
- Demgegenüber läßt sich der Wertkonlliktansatz und spätere Arbeiten der Chicagoer Schule und des synbolischen Interaktionismus, aus denen sich Ansätze des Labeling-Approach und diverse Subkulturtheorien entwickelten, als Wertkonfliktpositionkennzeichnen. Wertideen und Perspektiven der Thematisierung sozialer Probleme werden hier als Resultate eines konflikthaften Durchsetzungsprozesseskollektiver Akteure auf der Basis von Gruppeuinteressen behandelt, allerdings ohne diese
Interessen selbst aufgesellschaftliche Entwicklungen und Stnrkturen zu beziehen.
- Ist mit dieser Position bereits eine Tendenz zu einem Wertrelativismus gegeben,
so wird dieser in konstruktivistischen Perspektiven auf die Spitze getieben, so daß
man sie als wertrhetorische Position kennzeicbnen kann. Werlideen sind in dieser
Position reduziert auf.eine moralische Rhetorik der Durchsetzung von Weltbildern,
die soziologisch rekonstruiert und reproduziert, aber nicht kritisch analysiert werden
körnen.
- Dies gtlt z.T. auch für kritische Perspekliven, in denen entweder die Bedeutung
von Wer,tideen grundsätzlich negiert wird und diese als ideologische Verschleierung
von Interessen behandelt werden, wie z.B. im klassischen Marxismus, oder ihnen
wird eine eigene Bedeutung zugeschrieben, die aber nicht ohne Rückgriff auf die
Position ihrer Träger, und Trägerinnen innerhalb der gesellschaftlich Süuktur und
der Entrvicklirng sozialer Bewegungen zu analysieren ist. Insofem treten je nach
Perspektive eher der rhetorische oder der Konfliktcharakter in den Vordergrund.
Das Kennzeichen des sozialen und politischen Charakters sozialer Probleme ist
es, daß sie sich weder über technische Erwägungen noch über willkärliche Setzungen rekonstruiören lassen, sondern daß um die sie regulierenden Wertrnaßstäbe
geshitten wird. Bereits Weber (192211988, S. 153) hat darauf hingewiesen, daß
hierbei sowohl Interessen als auch Weltanschauungeneine Rolle spielen, die sich
allerdings in einer historischen Rekonstruktion zum Thema soziologischer Analyse
gemacht machen lassen, So sind die leitenden Wertideen als Maßstäbe der Wünschbaren und Norrnalitätsstandards als Maßstäbe des Zumutbaren gesellschaftlicher
Zustände selbst soziale Konskuktionen, die über lange historische Entwicklungen
tradiert werden und damit einen selbstverständliche Hintergrund der Thematisierung
sozialer Probleme abgeben(vgl. Groenemeyer 1996,1997).
Bereits die Notwendigkeit zur Mobilisierung für eine Veränderungsbereitschaft
setzt den Möglichkeiten einer willktirlichen Interessendurchsetzung oder öffentlichen Thematisierung problematischer Sachverhalte Grenzen in verschiedenen Formen. Die öffentliche Thematisierung und Mobilisierung für soziale Probleme ist auf
Legitimation angewiesen, die nur unter Rückgriff auf geteilte ,,Weltbilder" oder
Soziologie sozialer Probleme
65
,,kollektive Handlungsrahmet' nt eneichen ist. Der Begriff Weltbild umfaßt hier
verschiedene Aspekte: die Konstnrktion sozialer Probleme beinhaltet zunächst zurmndest die werhnä3ige Unterscheidung von relevant/irrelevant und erwünschVunerwünscht. In diesem Sinne sind mit jeder Definition sozialer Probleme Wertentscheidungen verbunden, die sowohl Ansprüche rurd Rechte wie auch Kriterien der
Zumutbarkeit leiten. Die Konstruktion sozialer Probleme erfolgt also über die Interpretation einer Diskrepanz zwischen an kulturellen Wertideen ausgerichteten normativen Erwartungen und den Erfahrungen mit gesellschaftlichen Sachverhalten.
Grundlagen für die Thematisierung und Mobilisierung sozialer Probleme liegen
dabei bereits auf der kognitiven Ebene der Konstuktion von Wissen und Bedeutung
von Situationen. Hierbei spielen Interpretationen und Athibutionen von Ursachen
und Zusammenhängen sozialer Situationen und Phänomenen eine Rolle, die einem
möglicherweise als diffus belastend erlebten Sachverhalt erst Sinn geben und darüber vor allem auch die Zuschreibung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten ermöglichen. Damit eng verbunden sind affektive Aspekte, insofern problematische Bedingungen als ungerecht, empörend oder bedrohlich erfahren werden. Von
zenhaler Bedeutung sind hier also Vorstellungen von Gerechtigkeit. Die öffentliche
Mobilisierung und Legitimierung problematischer Bedingungen als soziale Probleme ist immer an die Wahmehmung einer Möglicbkeit zur Veräinderung gebunden,
die z.B. nicht nur die Entwicklung entsprecheuder Orientierungen einer Veränderungsmögtichkeit und Gestaltungsbereitschaftvon Gesellschaft bei den Individuen
voraussetz! sondern auch entsprechender Institutionen und Mittel, also eines gewissen Standes funktionaler Differenzierung bedarf. Dieser Zusammenhang zwischen
kognitiven Interpretationen und moralischen und affeltiven Bewertungen kann mit
dem Konzept der ,,Diskursforsration" umschrieben werden. So wäre die Thematisierung sozialer Probleme an die erfolgreiche Etablienrng von Problemdiskursen in der
Öffentlichkeit gebunden.
Die jeweilige Art der öffentlich thematisierten Modelle sozialer Probleme wird
nur in seltenen Ausnahmef?illen von der gesamten Gesellschaft geteilt werden. Gerade aufgrund der Mobilisierungsnotwendigkeit durch kollektive Akteure werden
soziale Probleme immer auf der Basis spezifischer Weltbilder konstruiert, die als
Gruppenideologien gekennzeichnet werden können. Diese können bereits stabil
durch die Konstitution der kollektiven Akteure vorgegeben sein (2.8. professionelle
Gruppen, politische Parteien) oder sich erst im Laufe des Mobilisierungsprozesses
konkretisieren (2.8, soziale Bewegungen). Allerdings werdsn die Weltbilder nur
selten unmittelbar von anderen direkt oder indirekt betoffenen kollektiven Akteuren vollständig geteilt werden. Von daher ist der Erfolg oder Mißerfolg der Konsffuktion sozialer Probleme von der jeweiligen Akteurskonstellation abhängig. In
diesem Sinne ist die Konstituierung sozialer Probleme auch als Konflikt zu analysieren.
Die Mobilisierung für soziale Probleme ist damit an Ressourcengebunden und
insofern spielen politische Prozesseder Entwicklung von Macht eine entscheidende
Rolle, die sich allerdings nicht auf die unmittelbare politische Durchsetzung von
lnteressen und Wertideen bescbränkt. sondern sich bereits auf der Ebene der Ver-
67
Axel Groenemeyer
SoziologiesozialerProblerne
breitung und Etablierung kultureller Diskurse-oder Weltbilder in ihren verschiedenen Aspekten manifestiert.
Die öffentliche Thematisierung sozialer Probleme ergibt sich also nicht automatisch aus einer.Eigenlogik,;objeltiverr' Mängellagen oder der gesellschaftlichen
Entfaltung moralischer,Diskurseauf der Basis geteilter Weltbilder, sondern erst über
die macht- und interessengestützte Politik kollektiver Akteure, ihre politischen Ressourcen und institutionalisierten Handlungsmöglichkeiten. Allerdings konstituieren
sich kollektive Akteure ebenfalls über die Existenz bzw. Entwicklung zumindest allgemein geteilter Weltbilder, die sich in gemeinsamen Interessen oder der Zuschreibung gemeinsamer Betoffenheiten ausdrücken müssen. Die Konstruktion sozialer
Probleme setzt also die,Entw'icklung eines kollektiven Handlungsrahmens voraus:
Auf der Grundlage geteilter Behoffenheiten im Sinne von Ungerechtigkeit, Empörung oder Bedrohung in bezug auf in bestimmter Weise wahrgenommene und interpretierte gesellschaftliche Bedingungen entwickeln sich Elemente einer kollektiven
Identität und eine Handlungs- und Veränderungsbereitschaft. Die Voraussetzungen
hierfif werden durch die Entwicklungen des Modeneisierungsprozesses geschaffen
(2.B. aktivistische Orientierungen, politische und staatliche Institutionen) und kön'spezifischen kulturellen (nationalen, subkulturellen,
nen insofern in ihrer jeweils
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SozialeProbleme und sozialeBewegungen
SusarmeKarstedt
1. Soziale Probleme und sozialeBewegungen:Ein Programm
und seine Folgen
Kürzlich wurde vorgeschlagen, daß der Staat soziale Bewegungen gegen das Problem,,Alkohol am Steuer" nicht nur fürdenl sondern sogar selbst inaugurieren solle
(Jacobs i989; vgl. McAdam/Ir4cCarthylZald 1988, S.720). Das theoretische Prografirm der ,,Soziologie sozialer Probleme", das mit der kritischen, gegen die ,professionelle Ideologie der Sozialpathologen" (Mills 1943) gerichteten ,,epistemologischen Wende" durch Blumer (1971) und vor allem Spector und Kitsuse begann
(Kitsuse/Speotor I 973; Spector/IGtsuse I 973, 1977), ist inzwischen offensichtlich
paradigmatisch so fest verankert, daß es sich nahtlos in eine ,,sozialtechnologie"
sozialer Probleme einfügen läßt (Gusfield 1981a). Zu diesem erstaunlichen Erfolg
eines Paradigmas, dessen Verfechter soziale Probleme als eine Form kollektiven
Verhaltens auffassen (Blumer 1971; Mauss 1975; SpectorÄ(itsuse 1973), dürften
zwei parallele gesellschaftliche und wissenschaftlich-paradigmatische Entwicklungen in den vergangenen 20 Jahren beigetagen haben, die eng miteinander verknüpft
sind.
Mit der Theorie der ,,Mobilisierung von Ressourcen"wurde bei der Analyse sozialer Bewegungen eine neue Richtung eingeschlagen; deren Verheter (McCarthylZald 1987a, 1987b; Oberschall 1913; Za\dlfush Garner 1987) erklärten die bis
dahin die Theorie kollektiven Verhaltens und sozialer Bewegungen bestimmende
Frage nach der Beziehung zwischen strukturellen Bedingungen und problematischenLebenslagen einerseitsuqd der Entstehung sozialer Bewegungen andererseits
für mell' oder weniger irrelevant. Vielmehr - so ihre These - schafft sich das ,,Angebot" der ,,Industrie sozialer Bewegungen" (social movement indushies, McCarthylZald 1987a) und der ,,Bewegungsorganisationen"(social movement organrzations, McCarthylZald I987a; ZaldlAsh Gamer i987) erst jene ,,Probleme" (grievances), die dann als Zielsetzung aufgegriffen werden: ,,Die Definition von Problemen
(grievances) wird expandieren, um den finanziellen Möglichkeiten und dem Personal zu entsprechen,das zur Verfügung steht" (McCarthy/Zald 1987a; vgl. Gamson 1987, S. 6), womit das Aufteten von sozialen Problemen ,,keine Beziehung zu
einer vorab existierenden gesellschaftlichen Problemstruktu (grievance structure)
haf' (ebenda).Dieser auch als ökonomisch bezeichneteAnsatz mit seiner Betonung
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Die Deutsche Bibliothef - CP-Einheitsaufnahme
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Handbuch so-iale Probleme / Günter Albrecht . . . (F[rcg.).'Westdt.
Opladen ; \üriesbaden:
Verl., 1999
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ISBN 3-53r-r2i,1,7-o
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Bausteineeiner TheoriesozialerProbleme...
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Theorieund moderneGesellschaften..............
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Druck und buchbindcrische Verarbeitung: Druckerci Hubert & Co., Göttingen
Printed in Germany
ISBN 3-531-12117-O
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AIDS alssoziales
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Ethnische
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Gesundheit
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Gewaltin derFamilie...................
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Gewaltund Sport RechteRowdiesin rechterGesellschaft?
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Jugend
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Körperbehinderung
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Kdminalitätund Delinquenz
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PolitischeGewalt Rebellion,Revolution,
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Pornographie
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Prostitution.
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590
Psychische
Behinderung
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SexuelleAuffülligkeit - Perversion
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SexuellerMißbrauchvon Kindem
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Sui2id...........
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Umweltprobleme.............
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Verkehr als sozialesProblemunterbesondererBerücksichtigung
der SicherheitdesStraßenverkehrs
.....699
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Angewandte
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Sozialforschung
und sozialeIndikatoren
MethodischeProblemederErforschungsozialerProbleme.....
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Die AnalysevonZeiteihen
883
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Evaluationsforschung,.......
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907
V.
Soziale Probleme, soziale Kontrolle und gesellschaftliche
Intervention
...........919
KonzeptundFormensozialerIntervention.
Helfer,HelfenundAltruismus
SozialeDienstleistungsberufe
und Professiorralisierung
.............921
............941
.....955
983
Sachregister.
Autorinnen und Autoren
.....................
1011
Vorwort
Soziale Probleme haben genauso wie auch die Soziologie sozialer Probleme immer
eine Geschichte, die manchmal eher zufiillig verläuft, oft aber die Form einer Karriere annirnmt. Dies gilt auch für diesesHandbuch. Als 1976 auf dem Soziologentag
in Bielefeld die Sektion ,,Soziale Probleme und soziale Konholle" in der Deutschen
Gesellschaft flir Soziologie gegrändet wurde, gehörten Forschungen über soziale
Probleme noch keineswegs wieder zum Kenrbereich der Soziologie. In Deutschland
waren zu dieser Zeit noch nicht lange die clreißig Jahre ,,Wirtschaffswunder" vergangen, in denen eine Vielzahl sozialer Probleme über einen Ausbau sozialstaatlicher Maßnahmen anmindcst abgefedert wurden, was im öffentlichen und auch wissenschaftlichen Bewußtsein haufig mit ibrer L:ösung gleichgeseffi worden war. Von
Ausnahmen abgesehen,wurden erst zu Beginn der siebziger Jahre soziale Probleme
überhaupt wieder zu einem öffentlichen Thbma, zunächst über journalistische Arbeiten, dann aber auch zunehmend innerhalbider Soziologie.
Wenn soziale Probleme überhaupt zum wissenschaftlichen Thema gemacht wurden, darur geschah dies überwiegend mit einer un:nittelbaren Anbindung an prakti
sche Erfordernisse. So wurden in anderen Disziplinen einzelne Probleme immer
thematisiert, wie z.B. in der Kriminologie und der. Sozialpolitikforschrurg, für die
der Problem- und Praxisbezng geradent konstitutiv ist und die häufig auf zentale
Konzepte und Perspektiven der Soziologie zurückgegriffen haben, oder in der Psychologie und Medizin, in die soziologische Perspektiven erst späirlich eingedrungen
waren.
Offenbar entstand in Deutschland erst Mitte der siebziger Jahre ein öffentliches
Klima, in dem soziale Probleme grundlegender und auch soziologisch analysiert
werden konnten. Einen besonderen Einfluß auf die soziologische Behandlung sozialer Probleme hatten dabei die us-amerikanischen Diskussionen und Kontoversen, die nun auch hier rezipiert wurden. Dementsprechend stand zu Beginn der Diskussionen in der Sektion ,,Soziale Probleme und soziale Kontolle" die Frage nach
der soziologischen Bestimmung des Gegenstandsbereichsund dem Selbstverständnis einer soziologischen Analyse sozialer Probleme. Diese äberwiegend theoretisch
geführten Diskussionen waren durchsus singebettet in den da:nals innerhalb der
Soziologie vorherrschenden Theorienpluralismus und seine Suche nach Vergleichs'
kriterien für Theorien.
Nach dieser, gemessenam Ausstoß an Papieren'und Artikeln, produktiven Phase
der Auseinandersetzung um den Sinn einer Soziologie sozialer Probleme und um
,,Objektivismus" und,,Konstruktivismus" innerhalb einer Soziologie sozialer Probleme sind diese Diskussionen Anfang der achEiger Jatue zumindest in Deutschland nahezu vollständig verebbt. Die Hauplprotagonisten der Diskussion wandten
sich wieder der Analyse von Spezialproblemen oder allgemeineren Fragestellungen
der Soziologie zu, ohne daß letztlich befriedigend erkläirt worden w?ire, worin denn