WOGE e.V. / Institut für soziale Arbeit e.V. · Handbuch der Sozialen
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WOGE e.V. / Institut für soziale Arbeit e.V. · Handbuch der Sozialen
WOGE e.V. / Institut für soziale Arbeit e.V. · Handbuch der Sozialen Arbeit mit Kinderflüchtlingen 1 WOGE e.V. Institut für soziale Arbeit e.V. (Hg.) Handbuch der Sozialen Arbeit mit Kinderflüchtlingen 3 Diese Publikation wurde gefördert durch terre des hommes, PRO ASYL, das Diakonische Werk der EKD und den Paritätischen Wohlfahrtsverband. 2., bearbeitete und ergänzte Auflage 2000 1999 © Votum Verlag GmbH Grevener Straße 89-91 · D-48159 Münster www.votum-verlag.de Umschlaggestaltung: KJM Werbeagentur, Münster Druck: Fuldaer Verlagsagentur, Fulda ISBN 3-933158-08-7 Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Handbuch der Sozialen Arbeit mit Kinderflüchtlingen / WOGE e.V./ Institut für soziale Arbeit e.V. (Hg.). – Münster : Votum, 2. Aufl. 2000 ISBN 3-933158-08-7 4 Inhalt Vorwort der HerausgeberInnen 9 Sprache Renate Holzapfel 107 Ethnizität Claudia Martini 115 Ethnische und nationale Minderheiten Claudia Martini 117 1. Kindheit und Jugend in den Herkunftsländern Kolonialismus Martha Mamozai 118 Kinder der Dritten Welt – Handlungspotentiale und Überlebenstrategien Manfred Liebel 36 2. Flucht und Migration Kindersoldaten Boia Efraime Junior Ursachen und Dimensionen Franz Nuscheler 127 Asylpolitik in Europa Claudia Roth, Petra Hanf 137 Schengener und Dubliner Abkommen Roland Appel, Katrin Sandmann 141 146 Zur Einführung: Soziale Arbeit Zwischen Welten Rüdiger Hänlein, Karoline Korring, Sebastian Schwerdtfeger 14 Familie Jaqueline Crawford 46 51 Jugend Hans-Heiner Rudolph 58 Geschlecht Leonie Herwartz-Emden 64 Einwanderungspolitik Michael Bommes, Albert Scherr Politik und Gesellschaft Gisela Wuttke 72 Literatur Rosemarie Peter Asyl- und Flüchtlingspolitik in der Bundesrepublik Deutschland Volker Maria Hügel 155 75 Härtefallkommissionen Volker Maria Hügel 172 87 Fluchthilfe Forschungsgesellschaft Flucht und Migration e.V. 182 Religionen – Der Buddhismus Renate Holzapfel 93 3. Kinder auf der Flucht Religionen – Der Hinduismus Renate Holzapfel 97 Kinderflüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland Heiko Kauffmann Religionen – Eine Einführung Renate Holzapfel 80 Religionen – Afrika Renate Holzapfel Religionen – Der Islam Renate Holzapfel 187 102 5 Aufnahmeländer Anna Büllesbach 197 Statistik Karin Weiss, Oggi Enderlein 205 Interessenvertretung Herbert Leuninger 212 Bundesbehörden Stephan Keßler 318 Kindertransporte Rebekka Göpfert 217 Kommunale Behörden Angelika Stein 323 Botschaften Florentine Heiber 329 4. Recht und Gesetz Illegalität Thomas Hoffmann-Schiller 313 6. Behörden und Institutionen Gesetzliche Grundlagen Bertold Huber 223 Ausländerbehörde Sabine Kriechhammer-Yagmur 333 Asylbewerberleistungsgesetz Harald Löhlein 246 Jugendamt / ASD Wolfgang Killguß 340 Kinderrechte Beate Schmidt-Behlau 252 Datenschutz Klaus-Wilhelm Thiel 345 Minderjährigkeit / Vorgezogene Volljährigkeit Silke Jordan 258 Einwanderungsgesetz Günter Rieger 261 5. Aufnahmebedingungen 7. Psychosoziale Entwicklung Persönlichkeitsentwicklung Elisabeth Rohr, Beate Schnabel 351 Identität Reinhild Zenk 359 369 Asylverfahren Bertold Huber 269 Alter Oggi Enderlein, Peter Rieker, Karin Weiss Altersfeststellung Gerhard Schulz-Ehlbeck 275 Mädchen Susanne Rabe-Rahmann 378 Aufenthaltstitel Friedburg Maier 283 Sexualität Petra Zimmermann 385 Flughafenverfahren Bernd Mesovic 289 Ehe Maria Ringler 389 Umverteilung Cornelia Gunßer 295 Doppelidentität Reinhild Zenk 394 Perspektiven Helga Jockenhövel-Schiecke 301 Bewältigungsstrategien Michael Langhanky 400 Abschiebung Hubert Heinhold 305 Kriminalität / Kriminalisierung Friedhelm Peters 405 6 8. Schule und Ausbildung Arbeit Stephan Keßler Schule / Schulbesuch Peter Rieker Sprachkurse Gisela Apitzsch 414 420 428 9. Betreuung und Versorgung in Arbeitsfeldern der Jugendhilfe Interkulturelle Pädagogik Marianne Krüger-Potratz 507 Ethik und Moral Micha Brumlik 516 Toleranzkompetenz K. Peter Fritzsche 526 Psychosoziale Gruppenarbeit Mariagrazia Bianchi Schaeffer 532 Mono- oder multiethnische Unterbringung? Peter Rieker, Karin Weiss 539 Jugendhilfe Erwin Jordan, Remi Stork 435 Hilfeplanung Silke Pies, Christian Schrapper 547 Unterbringung Heide Kallert 442 Jugendhilfeplanung Joachim Merchel 554 Erstversorgungseinrichtungen Claus Goldbach 449 Teamarbeit / Kollegiale Beratung Peter Berker 559 Erziehungsbedarf Silke Jordan 454 Supervision Ulrike Marwedel 566 Vormundschaft Wolfgang Brinkmann 457 Vereinsvormundschaft Sabine Able 462 11. Krankheit und Psychische Störungen Krankheitskonzepte in anderen Kulturen Walter Andritzky 571 473 Psychische Störungen Peter Kurzendörfer 576 Straßensozialarbeit Meent Adden 479 Traumatisierung Salah Ahmad, Eva Rudolph 581 Fachkräfte Joachim Merchel 486 Finanzierung Fritz Finger Sucht Christian Haasen, Mehmet Ali Toprak 589 491 Psychosomatik Angela Eberding, Renate Schepker 594 Ressourcen Petra Wünsche 599 Psychotherapie Mariagrazia Bianchi Schaeffer 606 Pflegefamilien Thomas Gittrich 468 Adoption Rolf P. Bach 10. Sozialpädagogische Konzepte und Arbeitsansätze Hilfekulturen und Organisationsansätze in Europa Rudolph Bauer 498 7 Institutionelles Management psychischer Probleme Thomas Heise 613 Kinder- und Jugendpsychiatrie Hubertus Adam, Jochen Walter 619 DolmetscherInnen Joachim Sobotta, Suncica Karmisevic 625 12. Gesellschaftliche Barrieren Integration / Segregation Georg Hansen 631 Diskriminierung/Dominanzkultur Birgit Rommelspacher 633 Ethnie / Ethnozentrismus Georg Hansen 638 Exil Tahereh Agha 642 Rassismus Sheila Mysorekar 648 Xenophobie K. Peter Fritzsche 655 Anhang Lexikon 661 Adressen 664 Die Autorinnen und Autoren 671 8 VORWORT Vorwort 1. Kinderflüchtlinge als Thema für ein Handbuch der Sozialen Arbeit Das Arbeitsfeld Soziale Arbeit mit Kinderflüchtlingen stellt aufgrund der relativ geringen Anzahl von ‘minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen’ in der Bundesrepublik Deutschland und der teilweise extrem speziellen Anforderungen dieses Arbeitsfeldes eher eine Ausnahmesituation dar. Seine Nischenexistenz führt dazu, daß auch die sozialpädagogische Fachliteratur, die sich auf Fragen der Unterstützung und Betreuung der Kinderflüchtlinge bezieht, nach wie vor sehr begrenzt ist. Aufgrund der Komplexität des Arbeitsfeldes besteht jedoch in der Praxis ein hoher Bedarf an sachlicher Information, fachlicher Orientierung und wissenschaftlicher Reflexion. Wie in vielen sozialen Handlungsfeldern beschränken sich diese Nachfragen nicht nur auf die eigene sozialpädagogische bzw. sozialarbeiterische Disziplin. Ebenso ist das Erklärungswissen von Gesellschafts- und GeisteswissenschaftlerInnen, die Deutungsfähigkeit von PsychologInnen, die Rechtskenntnis von JuristInnen und das spezifische Know how von Flüchtlingsorganisationen von Bedeutung. Aus diesem Grunde haben wir renommierte ExpertInnen, die in Praxis oder Wissenschaft in den unterschiedlichen Disziplinen mit den Lebens- und Problemlagen von Kinderflüchtlingen befaßt sind, gebeten, aus Ihrer Perspektive zu einem umfassenden Verständnis dieses Handlungsfeldes der Sozialen Arbeit beizutragen. Wenn in den Beiträgen dieses Handbuches entgegen dem üblichen Sprachgebrauch von Kinderflüchtlingen und nicht von ‘unbegleiteten minderjährigen Flücht- lingen’ (‘UMFs’) oder ‘minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen’ (‘MUFs’) die Rede ist, so geschieht dies mit Bedacht. Wir möchten diese Publikation nämlich nicht zuletzt auch dafür nutzen, den eigentlich verständlichen, prägnanten und nicht diskriminierenden Begriff des Kinderflüchtlings – der internationalen Diskussion folgend – stärker in der (deutschen) fachlichen Debatte zu verankern. Wir wollen damit deutlich machen, daß Kinderflüchtlinge ‘sie selbst’ sind, junge Menschen, die ihr (Über-)Leben selbständig gestaltend in die eigenen Hände nehmen. Indem der Begriff die Betonung auf ihren Status als ‘Kind’ legt, wird offenbar, daß Kinderflüchtlinge eben Kinder sind, eine Tatsache, die u. E. in der politischen Diskussion aber auch in der Praxis der Sozialen Arbeit häufig zu wenig berücksichtigt wird. 2. Das Projekt ‘NETZWERK’ zur Unterstützung und Beratung der BetreuerInnen psychisch gefährdeter unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge Hamburg ist eine der bundesdeutschen Großstädte, die eine hohe Zuzugs- und Unterbringungzahl von Kinderflüchtlingen aufweisen. Entsprechend groß ist auch die Zahl derer, die, aus welchen Gründen auch immer, psychosomatische Störungen oder psychische Auffälligkeiten zeigen. Aufgrund der Unsicherheit im Umgang mit diesen Kindern und Jugendlichen und des notwendigen Handlungsbedarfs wurde im April ‘97 das Projekt Netzwerk initiiert. Als Modellprojekt mit einer zunächst zweijährigen Laufzeit, die inzwischen um ein weiteres Jahr verlängert wurde, wird es durch die ‘Stiftung Deutsche Jugend9 VORWORT marke’, ‘terre des hommes’ und das ‘Amt für Jugend’ der Hamburger Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung finanziell gefördert. Das Projekt bietet allen in der Arbeit mit Kinderflüchtlingen Tätigen, insbesondere den MitarbeiterInnen in den Wohneinrichtungen, Beratungsgespräche an, wenn die Kinder und Jugendlichen psychische oder psychosomatische Auffälligkeiten zeigen oder besondere Hilfe und Unterstützung benötigen. Es vermittelt gegebenenfalls weiterführende, fachspezifische Beratung, organisiert interdisziplinäre Fallkonferenzen und ist bei der Erstellung und Umsetzung spezieller Hilfeplanung beteiligt. Dabei ist ein zentraler Aspekt der Arbeit, nicht mit vorgefertigten Lösungsschablonen aufzuwarten, sondern jeden Fall auf seine spezifische Charakteristik zu untersuchen, individuell passende Lösungsstrategien zu entwickeln und in diese das Wissen und die Hilfe von erwachsenen, hier lebenden MigrantInnen aus den Herkunftsländern der Kinderflüchtlinge mit einfließen zu lassen. 3. Entstehung des Handbuches Das vorliegende Handbuch entstand im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des Netzwerks durch das Institut für soziale Arbeit e.V. (ISA) in Münster. In der gemeinsamen Reflexion der Arbeit des Netzwerks wurde deutlich, daß das Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit mit Kinderflüchtlingen einerseits überregional sehr heterogen ist und andererseits in den meisten Regionen von der Jugendhilfe konzeptionell und materiell randständig behandelt wird. War ursprünglich noch geplant, daß Netzwerk und ISA im Rahmen ihrer Kooperation alleine ein Handbuch erarbeiten, in dem die vorgefundene Praxis reflektiert und Anregungen zur Qualifizierung der Sozialen Arbeit gegeben werden sollten, so wurde recht schnell 10 deutlich, daß aufgrund der regionalen und insbesondere der thematischen Vielfalt dieses Arbeitsbereiches die Kompetenzen beider Institutionen nicht ausreichen würden, um eine solche Arbeitshilfe angemessen zu erstellen. Deswegen wurde umgedacht: Aus der praktischen Beratungsarbeit des Netzwerks wurden die zentralen Themen formuliert, welche den haupt- und ehrenamtlichen Fachkräften in der Arbeit mit Kinderflüchtlingen zu schaffen machen. Anschließend wurden bundesweit kompetente AutorInnen gesucht, die zu diesen Themen schon gearbeitet hatten oder aber zu einer Bearbeitung prädestiniert schienen. Die nun vorliegenden Texte sind strukturell, stilistisch und sprachlich sehr unterschiedlich gestaltet, da die AutorInnen je auf ganz eigenständige Art und Weise an die Aufgabe herangegangen sind und sie zumeist ihre Herkunft aus den unterschiedlichen Disziplinen, aus Praxis oder Wissenschaft auch nicht verleugnen konnten bzw. wollten. Zudem sind einige Beiträge ursprünglich als Vorträge für eine bundesweite Fachtagung in Hamburg (‘Über-Leben’) konzipiert und gehalten worden.1 4. Anliegen des Handbuches Das Handbuch unterstützt die Fachkräfte der Sozialen Arbeit – und darüber hinaus auch MitarbeiterInnen aus medizinischen und psychologischen Arbeitsfeldern, von Nichtregierungsorganisationen (NROs), Behörden, Justiz und Politik – bei der Aufgabe, die besondere Situation von Kinderflüchtlingen zu verstehen und sie angemessen zu betreuen. Es informiert über Lebensbedingungen und Erfahrungen in den Herkunftsländern, über Anlässe für Flucht und Migration, über Umstände und Erfahrungen auf der Flucht selbst, über die unterschiedlichen Möglichkeiten der Betreuung, Versorgung und Unterstüt- VORWORT zung, über gesellschaftliche Barrieren in der Aufnahmegesellschaft und die vielfältigen Restriktionen, denen die Arbeit aufgrund der herrschenden Politik sowie von Seiten der Justiz und der Behörden unterliegt. Das Handbuch greift viele unterschiedliche Themenstellungen und Fragen auf. Es kann sowohl als Nachschlagewerk zu speziellen Fragen wie auch als Lesebuch dienen. Es schildert die Realität dieses Arbeitsfeldes und zeigt zugleich Wege auf, wie kleinere oder größere Verbesserungen möglich sind. Es ergreift Partei für die Kinderflüchtlinge und versucht zu einer reflektierten und zugleich nicht resignierenden Praxis Sozialer Arbeit zu ermutigen. Soweit möglich, werden allgemeine Denkanstöße gegeben und zugleich spezielle, regional unterschiedliche Herangehensweisen in den einzelnen Städten und Ländern aufgezeigt. Es will gemäß der Zielsetzung des Netzwerks Anregung geben, von anderen Personen, Institutionen und Projekten zu lernen und sich nicht mit der bestehenden Praxis abzufinden. In diesem Sinne geben die einzelnen Beiträge nicht in jeder Hinsicht die Meinung der HerausgeberInnen wieder. Wir verstehen diese vielmehr als Anregung und Impuls, über die Realität der eigenen Arbeit und Sichtweisen hinauszublicken und dadurch ggf. verändernd auf sie einzuwirken. 5. Arbeiten mit dem Handbuch Als LeserIn gibt es zahlreiche Möglichkeiten, mit diesem Handbuch zu arbeiten. Man kann es natürlich einfach von vorne nach hinten lesen. Es gibt aber auch die Möglichkeit, nach der Lektüre des Inhaltsverzeichnisses einzelne Beiträge auszuwählen, die von besonderem Interesse sind und sich beim Lesen durch die zahlreichen Querverweise zu inhaltlich weiterführenden Texten weiterleiten zu las- sen. Wir haben die Beiträge inhaltlich in mehrere Kapitel sortiert (siehe Inhaltsverzeichnis). Die einzelnen Kapitel sind so aufgebaut, daß am Anfang der Kapitel die eher einführenden, allgemeineren Beiträge zu finden sind und speziellere Fragestellungen in den nachfolgenden Texten bearbeitet werden. Als weitere Hilfe haben wir im Anhang ein ‘Lexikon der Textbeiträge und Suchbegriffe’ aufgenommen, in dem in alphabetischer Reihenfolge alle Textbeiträge und die wichtigsten inhaltlichen Stichwörter aufgeführt werden. 6. Aufbau des Handbuches In dem einleitenden Beitrag ‘Soziale Arbeit Zwischen Welten’ beschäftigen sich die MitarbeiterInnen des Netzwerks mit alltäglichen Fragen und Problemen der pädagogischen Arbeit mit Kinderflüchtlingen. Sie beschreiben einerseits beispielhaft biographische Vorerfahrungen und Erlebnisse in der Aufnahmegesellschaft. Andererseits skizzieren sie das Arbeitsfeld mit seinen Herausforderungen und Spannungsfeldern aus der Perspektive der BetreuerInnen in Jugendhilfeeinrichtungen. Sie zeigen auf, daß die Fachkräfte in diesem speziellen Arbeitsfeld neben ihrem sozialpolitischen Engagement dringend Anschluß an die sozialpädagogischen Fachdiskurse einer lebensweltorientierten Jugendhilfe gewinnen müssen, um – angesichts der engen politischen Vorgaben – fachlich konzeptionell Spielräume entwickeln zu können. Darüber hinaus gehen sie der Frage nach, was von fachlicher Seite unternommen werden kann, um Jugendlichen in Krisensituationen erfolgreich beiseite stehen zu können. Bei der Bearbeitung dieser Frage greifen sie auf die zahlreichen Erfahrungen zurück, die sie im Rahmen der bisherigen Beratungstätigkeit für Fachkräfte in der Stadt Hamburg gesammelt haben. Im Anschluß an diese Einführung wer11 VORWORT den in dem Kapitel ‘Kindheit und Jugend in den Herkunftsländern’ detaillierte Hintergrundinformationen über die Herkunftsgesellschaften der Kinderflüchtlinge in der sog. Dritten Welt präsentiert, die zum Verstehen ihrer biographischen Vorerfahrungen von Bedeutung sind. Da die Beiträge die vielschichtigen Probleme häufig nur anreißen und regionale Besonderheiten nur bedingt aufgreifen können, werden in diesem Kapitel zudem zahlreiche Informationen für vertiefende Lektüre und Information gegeben. In dem Kapitel ‘Flucht und Migration’ werden die Ursachen und Dimensionen von Flucht und Vertreibung geschildert und die politischen Leitlinien der deutschen Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik sowie Alternativen dazu vorgestellt. Aufgrund der Relevanz europäischer Regelungen zur ‘Flüchtlingsabwehr’ werden diese ebenfalls skizziert und der wachsende Stellenwert von Fluchthilfe verdeutlicht. In dem darauf folgenden Kapitel ‘Kinder auf der Flucht’ können sich die LeserInnen über die Entwicklung der Kinderflüchtlingszahlen in der Bundesrepublik, über den Umgang mit ihnen in anderen Ländern und über Ansätze ihrer Interessenvertretungen informieren. Erinnert wird auch an die große Zahl von Kindertransporten, mit denen während des Nationalsozialismus in Deutschland jüdischen Kindern die Flucht in andere Länder gelang. Im Kapitel ‘Recht und Gesetz’ werden u. a. die wichtigsten gesetzlichen Grundlagen für die Arbeit mit Kinderflüchtlingen benannt. Zudem wird über die Grenzen eines Einwanderungsgesetzes informiert und der politische Umgang der Bundesrepublik mit Kinderrechten diskutiert. Ein weiterer Beitrag beschäftigt sich mit denjenigen, denen letztlich alle rechts- und sozialstaatlichen Ansprüche entzogen sind: den illegalisierten Kinderflüchtlin12 gen, die nach Ablauf ihrer Aufenthaltsgenehmigung heimlich in unserem Lande leben. In dem Kapitel ‘Aufnahmebedingungen’ werden die verschiedenen Verfahren und einige besondere Probleme in der Aufnahme und Verteilung von Kinderflüchtlingen erörtert. Es werden die unterschiedlichen Aufenthaltstitel erklärt, die Perspektiven von Kinderflüchtlingen diskutiert und die Voraussetzungen und Bedingungen der Abschiebung aus kritischer Perspektive beleuchtet. In einem eigenständigen Kapitel werden dann die zentralen ‘Behörden’ vorgestellt, mit denen Kinderflüchtlinge in der Bundesrepublik zu tun haben. Dabei werden zum einen ihre Aufgaben und Funktionen vorgestellt und zum anderen ihre Spielräume aufgezeigt, die trotz zahlreicher gesetzlicher Regelungen verbleiben. Ein weiterer Beitrag erklärt zudem die Bedeutung und die Schwierigkeiten des Datenschutzes. Im Anschluß daran beschäftigen sich die nächsten Kapitel mit weiteren Kernbereichen der Sozialen Arbeit mit Kinderflüchtlingen. Hierzu gehören die ‘Psychosoziale Entwicklung’ von Kinderflüchtlingen unter den besonderen Bedingungen des Lebens im Exil, die – ständig abnehmenden – Möglichkeiten ihrer Entwicklung in ‘Schule und Ausbildung’, die ‘Betreuung und Versorgung in den Arbeitsfeldern der Jugendhilfe’ sowie verschiedene ‘Sozialpädagogische Konzepte und Arbeitsansätze’. Im vorletzten Kapitel beschäftigen sich die Beiträge mit ‘Krankheit und psychischen Störungen’, da professionelles soziales Handeln gerade in diesen extremen Situationen gefordert ist. Einige Texte beschäftigen sich mit dem Entstehen von Krankheiten und psychischen Störungen, andere mit den Möglichkeiten der Heilung bzw. therapeutischen Hilfen. Zudem werden die unterschiedlichen Herangehens- VORWORT weisen von spezialisierten Institutionen wie beispielsweise psychosozialen Zentren und jugendpsychiatrischen Einrichtungen geschildert. Das Handbuch wird im letzten Kapitel mit Beiträgen abgerundet, die sich mit den ‘Gesellschaftlichen Barrieren’ und deren Überwindung beschäftigen. Die Texte wollen zur selbstkritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Reaktionen und individuellem Verhalten anregen, zum besseren Verständnis der Probleme im Exil beitragen und zu einem gelingenderen Einleben in der Aufnahmegesellschaft verhelfen. Zur Unterstützung der Arbeit mit dem Handbuch befindet sich im ‘Anhang’ noch das ‘Lexikon der Textbeiträge und Suchbegriffe’. Für die konkrete praktische Arbeit werden zudem in einem ‘Adressenverzeichnis’ Hinweise auf AnsprechpartnerInnen in wichtigen regionalen und überregionalen Institutionen gegeben. Im abschließenden ‘Verzeichnis der Autorinnen und Autoren’ können die LeserInnen nachschlagen, in welchen Arbeitsfeldern und mit welchen Schwerpunkten die AutorInnen dieses Handbuches beschäftigt sind. 7. Schluß und Dank Dieses Handbuch wäre nicht zustande gekommen, ohne die tatkräftige Unterstützung vieler Institutionen und Einzelpersonen. Unser Dank gilt zunächst den AutorInnen, die trotz teilweise erheblicher anderer Belastungen (und ohne ein Honorar erwarten zu dürfen) intensiv an der Erstellung ihrer Beiträge gearbeitet haben. Darüber hinaus gilt unser Dank der ‘Stiftung Deutsche Jugendmarke’, dem Kinderhilfswerk ‘terre des hommes’ sowie dem Amt für Jugend der Stadt Hamburg, die in den vergangenen zwei Jahren die Arbeit des ‘Netzwerkes’ durch ihre finan- zielle Unterstützung ermöglicht haben. Zudem bedanken wir uns bei ‘terre des hommes’, ‘Pro Asyl’, dem ‘Diakonischen Werk der EKD’ und dem ‘Paritätischen Wohlfahrtsverband’, die durch ihre finanzielle Unterstützung das Erscheinen dieses Handbuches möglich machten. Insbesondere gilt unser Dank auch den Mitgliedern des Projektbeirats des Projekts, die unsere Überlegungen zum Handbuch von Anfang an begleitet haben und durch vielfache Anregungen und Mitwirkung gelingen ließen. 8. Die HerausgeberInnen Das Handbuch wurde von den MitarbeiterInnen von Netzwerk und ISA gemeinsam konzipiert und redaktionell begleitet. In besonderer Weise waren daran Karoline Korring und Sebastian Schwerdtfeger als ProjektmitarbeiterInnen des Netzwerks, Rüdiger Hänlein als Mitarbeiter von WOGE e.V. sowie Gisela Wuttke, Remi Stork und Christian Schrapper als MitarbeiterInnen des ISA beteiligt. Über Rückmeldungen zu diesem Handbuch würden wir uns sehr freuen. Schriftliche Kommentare, Lob, Tadel und Anregungen können an das Hamburger Netzwerk, c/o WOGE e.V., Bahrenfelder Straße 244, 22765 Hamburg adressiert werden. Anmerkung 1 Die bundesweite Fachtagung ‘Über-Leben – Situation und Perspektiven der Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen’ wurde vom 30.9. bis 2.10.1998 von Netzwerk und ISA in Hamburg veranstaltet. Die Tagungsdokumentation kann beim Netzwerk bezogen werden. 13 ZUR EINFÜHRUNG Soziale Arbeit Zwischen Welten 1. Verschiedene Biographien von Kinderflüchtlingen „Wie heißt du?“ „Wie alt bist du?“ „Wie und wo kommst du her?“ – wird Bubaquar gefragt, als er an dem Schreibtisch einer Sozialarbeiterin in der Erstversorgungseinrichtung/Clearingstelle für Kinderflüchtlinge steht. Er wiederholt, was er auch am Tag zuvor auf der Ausländerbehörde schon mal jemandem geantwortet hat, der ihm die gleichen Fragen stellte: Name, Geburtsdatum, Herkunftsland. Er nennt nicht seinen eigentlichen Namen und auch nicht sein tatsächliches Geburtsdatum – er ist jemand anderes geworden. Bubaquar wollte weg von zu Hause, denn dort, wo er herkommt, sah er keine Chancen. Das Land in dem er lebte, ist korrupt und hat sich immer noch nicht erholt von dem Bürgerkrieg, der zwar offiziell die Kolonialzeit beendet, aber keine funktionierenden Strukturen gebracht hat. Bubaquar hat zwar den Krieg selbst nicht mehr erlebt, kämpfte aber jeden Tag auf der Straße um einen ‘pocket-money-job’. Er war gut in der Schule, hätte gerne einen qualifizierten Job gehabt. Statt dessen trug er an einem Tag Zementsäcke, am nächsten Tag war er Bote für den Stoffhändler und am übernächsten Tag fand er gar nichts. Dann war das ‘nach Hause kommen’ besonders schlimm, da die Familie auf jeden Penny dringend angewiesen ist. Sie bewirtschaften zwar eine kleine Farm, aber der Ertrag reicht nicht für alle; der Großvater ist krank, die Medikamente sind sehr teuer und seine jüngeren Ge14 schwister sollen auch zur Schule gehen. Aber dafür fehlt das Schulgeld. Bubaquar hörte von der Möglichkeit, nach Europa zu kommen. Er erfuhr, daß man am besten als ‘blinder Passagier’ dorthin gelangt, daß es schon einige geschafft haben, es aber auch ein sehr gefährlicher Weg ist, da die Seeeleute die blinden Passagiere verprügeln und sogar über Bord werfen, wenn sie sie entdecken. Natürlich kostete die Überfahrt zunächst viel Geld, der ‘connection-man’ war nicht billig, aber dafür sah er die Möglichkeit, richtig Geld zu verdienen und die Familie wirklich zu unterstützen. Von ihm bekam er Hilfestellung, um auf ein Schiff zu gelangen und Tips für seinen weiteren Weg! Wenn er in Deutschland ankommt, soll er sich einen anderen Namen zulegen und sagen, daß er 14 Jahre alt ist und aus Sierra Leone kommt. Damit hätte er bessere Chancen, tatsächlich auch in Deutschland bleiben zu können. Er soll sagen, daß seine Eltern tot sind und er keinen Kontakt zu seinen Geschwistern hat. Sein guter Vorsatz, seine Familie finanziell zu unterstützen reiche lange nicht aus. So legt er sich eine zweite Identität zu und erzählt als Prince seine Geschichte. Sie ist seine Antwort auf die oben genannten Fragen, die alltäglich sind in der Sozialen Arbeit und mit denen ein erster Kontakt zum Gegenüber hergestellt wird. Und plötzlich werden diese zu Fragen, auf die die Antwort ein Risiko sein und ein Dilemma auslösen kann. Bubaquar jedoch beschäftigen ganz andere Fragen als die SozialarbeiterInnen: „Wer ist diese Frau, die die gleichen Fragen stellt, wie der Mann auf der Aus- S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N länderbehörde? Kann ich ihr mehr vertrauen? Und wenn ja, wie weit?“ Und: „Wer sind die Menschen in den verschiedenen Institutionen und wie unterscheiden sie sich?“ „Welche Funktion haben die Wohneinrichtungen – ob das auch so eine Art Behörde ist?“ Fast alle AusländerInnen, ganz gleich welcher Nationalität und welchen Alters, machen ihre ersten Erfahrungen in der BRD mit der Ausländerbehörde. Dort begegnen ihnen hauptsächlich: Ablehnung, Mißtrauen, Entwürdigung und Kriminalisierung. Für die Jugendhilfe bedeutet das, im Weiteren gegen diese ersten Erfahrungen ‘anarbeiten’ zu müssen, ständig mit der Vorsicht und dem Mißtrauen der Jugendlichen konfrontiert zu sein. In der Erstversorgungseinrichtung teilt Prince sein Zimmer mit John. Die beiden unterhalten sich stets in Englisch. John ist meist sehr schweigsam, will mit niemandem so richtig etwas zu tun haben. Man merkt ihm an, daß seine Seele nicht richtig hier ist und nachts schläft er sehr unruhig. Prince versucht immer wieder, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Viel erzählt John nicht, aber Prince erfährt, daß John aus Boathe in Sierra Leone stammt und den Krieg erlebt hat. Sein Dorf wurde zerstört, alle BewohnerInnen brutal mit Macheten auseinandergetrieben. Ein Bruder wurde erschlagen, John verschleppt, von den Rebellen gefangen genommen und mußte für sie arbeiten. Aber ob und wo seine Eltern und Geschwister leben, weiß er nicht. An dieser Stelle hört er immer auf zu sprechen und beide sitzen still da. Und Prince nimmt sich dann immer vor, besonders schnell viel Geld für seine Familie zu verdienen. Für die BetreuerInnen ist es das Zimmer mit den ‘Beiden aus Sierra Leone’. Eventuell ahnen sie, daß das bei einem von beiden nicht stimmt, doch ist dies wichtig? Wenn sie wüßten, daß Prince aus einem sogenannten ‘sicheren Herkunftsland’ kommt und eigentlich Bubaquar heißt, was wüßten sie dann über ihn und seine Lebenssituation dort, über seine Wünsche und Hoffnungen? Und wenn sie von John hören, er komme aus Sierra Leone und sei bei den Rebellen gefangen gewesen, können sie ermessen, was er erlebt hat? Können sie seine Bilder erahnen, die er in der Nacht sieht? Shoukrija, aus Afghanistan, ist die älteste Tochter eines Getreidehändlers, der ein gut gehendes Geschäft auf dem Bazar von Kabul hatte. Sie besuchte eine höhere Schule und träumte davon, Kinderärztin zu werden. Bei einer Bombardierung Kabuls während des Bürgerkrieges wurde das Geschäft des Vaters zerstört und die Mutter sowie ein jüngerer Bruder getötet. Der Rest der Familie flüchtete zum Bruder des Vaters auf’s Land in eine Region im Norden, die noch nicht von den Taliban beherrscht wird, während Shoukrija zu entfernten Verwandten nach Deutschland geschickt wurde. Auf abenteuerlichen Wegen gelangt sie in die BRD und lebt zunächst bei einer Cousine ihrer verstorbenen Mutter. Diese erkundigt sich bei einem Rechtsanwalt bezüglich des weiteren Vorgehens. Da Shoukrija laut ihrer afghanischen Papiere 15 Jahre alt ist, rät der Anwalt, daß ein Vormund bestellt wird, der für sie einen Asylantrag als ‘unbegleiteter minderjähriger Flüchtling’ stellen soll. Aufgrund der restriktiven, fundamentalistischen Politik der Taliban-Regierung räumt er ihr gute Chancen ein, vorläufig nicht abgeschoben zu werden, auch wenn ihr Asylantrag möglicherweise nicht anerkannt würde. Von ihrem Vater hat Shoukrija seit ihrer Flucht aus Afghanistan gelegentlich Briefe bekommen, in denen seine Hoffnung zum Ausdruck kommt, daß sie eines Tages zurückkehren wird. Aus Erzählungen in der Familie und den Medien erfährt sie mehr und mehr darüber, wie ein Leben für sie 15 ZUR EINFÜHRUNG als Frau im heutigen Afghanistan aussehen würde. Gleichzeitig erlebt sie, welche Möglichkeiten ihr in der Bundesrepublik Deutschland offen stehen. Als es in der Familie ihrer Tante immer häufiger Auseinandersetzungen und Schwierigkeiten gibt, sorgt die Vormünderin für den Umzug in eine Clearingstelle. Dort gibt es häufig Streit mit Shoukrija, der sich meist an kleinen Dingen entzündet, aber doch zeigt, daß sie hin- und hergerissen ist zwischen ihrer Zugehörigkeit zur Familie, den Lebensbedingungen in der Heimat und ihrer Lebenssituation hier in der Bundesrepublik Deutschland. Die Vormünderin setzt daraufhin die Unterbringung nach § 34 KJHG durch. Seit einigen Wochen wohnt sie in einer Mädchen-Wohngruppe für minderjährige Flüchtlinge. Die Auseinandersetzungen mit der und über die Familie, die zurückgelassen wurde und mit der hiesigen Lebensrealität, einer völlig anders funktionierenden Gesellschaft mit ganz anderen Rollendefinitionen und Wertmaßstäben, haben häufig Konsequenzen, insbesondere psychische Folgen, die unabsehbar sind und sich für (fast) alle erst sehr viel später zeigen. In den meisten Fällen spielen sich diese Auseinandersetzungen nur im Innern der jungen Menschen ab, da sie meist nicht offen geführt und nur in sehr wenigen Ausnahmefällen anderen mitgeteilt werden. Ali-Hassan kommt aus Bingöl, dem kurdischen Teil der Türkei. In seinem Dorf, neben dem Gehöft seines Vaters, stehen Panzer, obwohl im Fernsehen immer gesagt wird, daß es keinen Krieg gebe. Er lernte damit zu leben, Angst zu haben vor unerwarteten Gefechten zwischen Soldaten und Partisanen. Er lernte, daß seine Familie Kurden sind, daß es diese aber offiziell nicht geben darf, lernte in der Schule Türkisch zu sprechen, seine kurdische Sprache aber nur zu Hause und mit Freunden. Er war mit 13 kein Kind mehr, hatte 16 die Schule vor einem Jahr beendet und wollte, wie sein älterer Bruder, als heranwachsender Mann in die Berge gehen und kämpfen oder als ein vollwertiges Mitglied seiner Familie zu deren Einkommen beitragen. Seine Eltern schickten ihn nach Deutschland. Inzwischen wohnt er seit 5 Monaten in einer Erstaufnahmeeinrichtung/Clearingstelle. Aber Arbeiten, was er vorrangig wollte, ist nicht erlaubt! Die einzige Möglichkeit, die sich anbietet, ist der Drogenverkauf im Straßenhandel. Zur Schule gehen und Deutsch lernen ist möglich – aber auch das nützt nicht viel. Die BetreuerInnen erzählen zwar immer, daß es wichtig ist, zur Schule zu gehen und Deutsch zu lernen, wenn er jedoch nachfragt, wie es danach weitergeht, bekommt er unklare Antworten. Und keine/r der anderen BewohnerInnen weiß etwas davon, daß es danach die Möglichkeit für eine Berufsausbildung oder gar die Möglichkeit für einen Arbeitsplatz gibt. Mit dem Geld, das Ali-Hassan bekommt (ca. 400 DM Sozialhilfe bzw. die Lebensmittelpakete und das Taschengeld), würde die Familie zu Hause längere Zeit zurecht kommen, aber hier reicht es nicht einmal für das Nötigste – und um noch etwas nach Hause zu schicken, erst recht nicht. Und das, während er all das, was er bisher nur aus den internationalen Fernsehsendungen kannte und sich erträumt hatte, ständig direkt vor Augen hat, es jedoch nicht kaufen kann. Ali-Hassan gerät immer mehr in den Konflikt zwischen dem Druck, den die Drogenszene auf ihn ausübt, dem Wissen um die Ungesetzlichkeit seiner Tätigkeit, zwischen seinem eigenen Pflichtbewußtsein der Familie gegenüber und den Erwartungen seiner Eltern, mit seinem ‘Lohn’ zum Einkommen der Familie beizutragen. In der Erstaufnahmeeinrichtung hat es mit den BetreuerInnen und auch mit dem Vormund wegen des Drogendeals mehrfach Auseinandersetzungen und Gespräche gegeben, aber der S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N Junge ist nicht in der Lage, ihnen seinen inneren Konflikt zu schildern. Plötzlich – und vermutlich unerwartet – sind viele der Jugendlichen sehr direkt mit den zwei Seiten unserer Wohlstandsgesellschaft konfrontiert: Während in der Heimat nicht selten ‘die Armut’ war und im fernen Europa ‘der Reichtum’, erleben sie nun, daß es hier sehr wohl beides nebeneinander gibt. Und das auch noch auf dem Hintergrund, daß daheim nun alle davon ausgehen, daß man, da ja nun in Europa, selbst jetzt auch zu ‘den Reichen’ gehört. Daß dem nicht so ist, will keiner hören und schon gar nicht glauben! 2. Hoffnungsträger und Überlebende Bubaquar und John, Shoukrija und AliHassan stehen stellvertretend für junge Menschen, die sich mit den beschriebenen äußeren und inneren Konflikten auseinandersetzen müssen. Ihre individuellen Lebensgeschichten dürfen nicht als Typisierungen mißverstanden werden! Kinderflüchtlinge, das sind jene, die sich ‘auf den Weg’ gemacht haben, auf der Suche nach einer besseren Lebensperspektive, die von ihren Eltern aus Liebe oder Angst und Sorge fortgeschickt oder die von Soldaten, Rebellen oder Regierungen davongejagt wurden, die ihren ganzen Mut aufgebracht haben, um loszugehen, dem Leben und der Zukunft entgegen, ungeachtet der vielen Unsicherheiten, Strapazen und Gefahren, die sich ihnen entgegenstellen würden, um hierher zu kommen ( Flucht und Migration: Dimensionen und Ursachen). Sie sind – Abenteurer, weil sie die Courage haben, sich auf den Weg zu machen, den Mut, in die Fremde zu gehen und die Furchtlosigkeit, sich dem Unbekannten, dem Fremden zu stellen. – Hoffnungsträger, weil die ganze Hoff- nung der Familie auf ein Überleben auf ihnen lastet. Vielleicht hat die ganze Familie lange gespart und das Geld zusammengesammelt, um den ‘connection-man’ zu bezahlen, der die Papiere besorgen und die Verbindungen herstellen kann, um ihnen den Weg nach Europa zu ermöglichen. – Botschafter, weil sie in einer kleiner werdenden Welt uns unbekannte oder fremde Gesellschaften und Kulturen, Handlungs- und Denkweisen verkörpern und näherbringen. – Brückenköpfe, weil sie als erste losgeschickt wurden, in der Hoffnung, daß eines Tages ein Bruder, eine Schwester oder die Mutter nachkommen und man irgendwo auf der Welt wieder zueinander finden kann. – Überlebende, weil sie Gewaltsituationen, Hunger und Elend entkommen sind. Vielleicht gibt es keine Familie mehr, da diese auseinander gerissen oder getötet wurde in einem der vielen Kriege und militärischen Auseinandersetzungen. Sie sind die, die weiterleben mit den Bildern der Ermordeten im Kopf, ganz gleich, ob es die Eltern, FreundInnen oder Nachbarn waren. Oft sind es die Fähigsten und Motiviertesten ihres Jahrgangs, die bereit sind, das größte Risiko einzugehen und die das Leben in der Fremde, im Exil auf sich nehmen, auf der Suche nach einer besseren Zukunft hier in Europa. Hier angekommen, werden sie schnell zu ‘Menschen ohne Perspektive’, da internationale Abkommen zum Schutz von Kinderflüchtlingen von der Bundesregierung nur eingeGeschränkt angenommen werden ( setzliche Grundlagen, Kinderflüchtlinge, Kinderrechte) und eine Bleibeperspektive ihnen meist nur in Verbindung mit dem Asylverfahrensgesetz zusteht. Eine Einreise und ein dauerhafter Aufenthalt nach den Kriterien des Ausländergesetzes ist nur in wenigen Ausnahmefällen möglich 17 ZUR EINFÜHRUNG ( Aufenthaltstitel). Die Konsequenz ist, daß fast alle Kinderflüchtlinge gezwungen sind, durch ihre gesetzlichen VertreterInnen einen Antrag auf Asyl zu stellen. Fortan bestimmen die Kriterien des Asylverfahrensgesetzes ( Asylverfahren) und des Asylbewerberleistungsgesetzes den Lebensalltag der Jugendlichen. Aus der Hoffnung auf eine bessere Zukunft wird ein für Jugendliche unverständlicher und undurchschaubarer Verwaltungsakt mit vielen Restriktionen und Verboten. In Anhörungen beim Bundesamt für Flüchtlinge werden Bubaquar, John, Shoukrija, Ali-Hassan und all die anderen sich und ihr Hiersein immer wieder rechtfertigen und offiziell erklären müssen. Bei den regelmäßigen Besuchen bei der Ausländerbehörde wird ihnen immer wieder verdeutlicht, daß es noch lange nicht sicher ist, ob sie hier bleiben können oder ob sie doch wieder zurückgeschickt werden. Stehen sie dann irgendwann und irgendwo vor uns, sind sie inzwischen für die Politik zu EinwanderInnen oder AsylbewerberInnen geworden, in den Medien zu Wirtschaftsflüchtlingen, EinschleicherInnen und DealerInnen, für die Polizei zu jungen Menschen, die sich Doppelidentitäten zulegen ( Doppelidentität) und ‘mittelbare Falschbeurkundungen’ begehen, für MedizinerInnen und TherapeutInnen zu traumatisierten Kriegsopfern und auf dem Papier zu ‘zum Aufenthalt Berechtigten’, zu ‘Geduldeten’ oder ‘Illegalen’ ( Illegalität), die den vielfältigen Bemühungen der Bundesrepublik gegenüber stehen, sie spüren zu lassen, daß sie unerwünschte, ungebetene Gäste sind, derer man durch Gesetze, Verfügungen oder Dienstanweisungen Herr zu werden sucht. Aber sie stehen nicht nur einer ablehnenden, ihnen fremden und unverständlichen Verwaltung gegenüber, sondern auch einem ihnen nicht vertrauten Versorgungs18 system, das den gesellschaftlichen Auftrag hat, sich ihrer anzunehmen. Für beide Seiten – Verwaltungs- und Versorgungsinstitutionen – sind sie: – Unbegleitete, weil sie ohne hier Eltern hier sind, – Minderjährige, weil sie jünger als 18 Jahre sind, – Flüchtlinge, weil sie ihre Heimat verlassen haben – sei es aus politischen, wirtschaftlichen, religiösen Gründen oder warum auch immer. 3. Soziale Arbeit zwischen Anspruch und Auftrag Neben den Grenzschutzbehörden und der Ausländerbehörde gehört die Jugendhilfe zu den institutionellen Systemen, die sich auf die Anwesenheit der Kinderflüchtlinge eingestellt hat. Basierend auf nationalen wie internationalen Rechtsgrundlagen ist die Jugendhilfe ganz allgemein verpflichtet, „Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen“ (§ 1 Kinder- und Jugendhilfegesetz [KJHG]). Bezogen auf die besondere Lebenslage der Kinderflüchtlinge ist dies so zu interpretieren, – daß entweder dafür gesorgt werden soll, daß die Betroffenen wohlbehalten und sicher zurückkehren können (allerdings nur, wenn im Sinne des Kindeswohls eine Rückkehr in gesicherte Verhältnisse gewährleistet und die Aufnahme und die Versorgung in der Familie sichergestellt ist) oder aber – daß sie hier so zu behandeln sind, wie alle anderen Kinder hierzulande auch, da in § 6 KJHG ausländische Kinder ausdrücklich als Anspruchsberechtigte der Jugendhilfe mit genannt sind ( Gesetzliche Grundlagen). Zudem sind die soziale Integration und die Eingliederung in die Arbeitswelt für alle „jungen Menschen, die zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind“ (§ 13 KJHG) Ziele der Hilfen nach dem KJHG. Dafür gilt als Methodenorientierung nach wie vor der lebensweltorientierte Ansatz, der bereits im „Achten Jugendbericht über Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe“ (1990) diskutiert wurde. Prävention, Regionalisierung, Alltagsorientierung, Partizipation und Integration/Normalisierung werden dort als Strukturmaximen pädagogischer Arbeit benannt und haben sich in der Praxis, trotz kritischer Diskussion (vgl. hierzu z. B. Kunstreich 1998 a, S. 395 ff) durchgesetzt. Doch in der Arbeit mit Kinderflüchtlingen werden diese zentralen ‘Orientierungen’ strukturell durch entgegengesetzte politische Intentionen und gesetzliche Regelungen unterlaufen. Der Auftrag der Jugendhilfe gerät in das Spannungsfeld widersprüchlicher Interessen unserer Gesellschaft, die in den entgegengesetzten Intentionen des KJHG und der Ausländer- und Asylgesetzgebung zum Ausdruck kommen. Der umfassende Anspruch der Jugendhilfe und das Recht auf Erziehung sind nicht vereinbar mit einer Lebenslage, die über längere Zeit von der Ausweisungsandrohung bestimmt ist. Der gesellschaftliche Auftrag, Kindern und Jugendlichen bei der Verarbeitung von Erlebtem zu helfen, auf Integration hinzuarbeiten, Lebensperspektiven zu vermitteln, wird konterkariert durch die restriktive Handhabung des Aufenthaltsrechts, durch die fehlende Gleichbehandlung der Kinderflüchtlinge und nicht zuletzt durch die ablehnende und rassistische Haltung der Gesellschaft gegenüber denen, die sie für ‘die Fremden’ hält. Deutlich wird dies, wenn man im Zehnten Jugendbericht nachliest, was zur Arbeit mit jungen Flüchtlingen ausgesagt wird: Die ExpertInnenkommission benennt die spezifischen Probleme der Kinderflüchtlinge und hält es für geboten, „unter Ergänzung bzw. Abänderung be- stehender Rechtsordnungen und Vereinbarungen (u. a. Genfer Flüchtlingskonvention, Haager Minderjährigen-Schutzabkommen) die Grundlagen eines Flüchtlingsrechts für Kinder zu schaffen“ (Zehnter Jugendbericht 1998, S. 172). Dies wies die letzte Bundesregierung in ihrer Stellungnahme mit ausschließlich juristischen Begründungen „als mit der geltenden Rechtslage nicht vereinbar“ (ebd., S. XIX) zurück, ohne sich darüber hinaus inhaltlich zu positionieren. Diese Auffassung, daß die Rechte von Kindern und Jugendlichen, wie sie im KJHG und im internationalem Recht definiert sind, gegenüber dem Asylverfahrensrecht nachrangig zu bewerten seien, ist allerdings juristisch keineswegs letztinstanzlich geklärt. Deutlich wird jedoch dadurch, daß Integration von politischer Seite nicht gewollt und pädagogische Orientierung am Kindeswohl zweitrangig ist. Es gilt für Kinderflüchtlinge also um so mehr, was die Kommission im Hinblick auf das multikulturelle Zusammenleben von Kindern und Jugendlichen in Deutschland insgesamt formuliert: daß die Ansätze interkultureller Pädagogik einschneidend „durch die frühere und heutige Ausländerpolitik konterkariert“ werden (ebd., S. 106). Mit anderen Worten: In bezug auf Kinderflüchtlinge heißt die politische und gesellschaftliche Maxime Segregation statt Integration. Dabei ist es dann auch nicht mehr verwunderlich, daß es für dieses Arbeitsfeld selbst in Großstädten, in denen mehrere Hundert oder sogar Tausend Kinderflüchtlinge leben, keine dezidierte Jugendhilfeplanung gibt ( Jugendhilfeplanung). Nur: Kann Segregation ein Arbeitsauftrag und Ziel sozialpädagogischer Arbeit sein? Mit Recht wehren sich die KollegInnen in der Praxis dagegen und bestehen darauf, ihre Jugendhilfearbeit nicht von den für die Jugendhilfe insgesamt gültigen Maximen und Standards abkoppeln zu 19 ZUR EINFÜHRUNG lassen. Grundlage der Sozialen Arbeit ist auch in diesem Arbeitsbereich das KJHG und dessen Aufträge, die u. a. in den oben genannten Strukturmaximen lebensweltorientierter Sozialpädagogik verdeutlicht werden. Und diese gilt es immer wieder aufs Neue einzufordern! So könnte unter Prävention in diesem Fall verstanden werden, u. a. angemessene Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen und das Stadtteilumfeld von Aufnahmeeinrichtungen auf die Ankunft junger Flüchtlinge vorzubereiten und die Akzeptanz zu fördern. Regionalisierung soll verhindern, daß Jugendliche aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen werden. Das sind junge Flüchtlinge zwar per se, aber es könnte der Auftrag dafür sein, sie in dem von ihnen gesuchten Umfeld nach Möglichkeit zu belassen bzw. Möglichkeiten der soziokulturellen Anbindung zu suchen. Und dies muß eine Absage an eine prinzipielle Quotenverteilung bedeuten ( Umverteilung). Partizipation allerdings kann als Prinzip nur greifen, wenn eine aufenthaltsrechtliche Absicherung gegeben ist und Gleichberechtigung gesellschaftlich gewollt wird. Integration/Normalisierung meint, daß die Gesellschaft „Lebensmuster finden und praktizieren (muß), die jenseits von Anpassung und Marginalisierung den eigensinnigen, unterschiedlichen Lebenskonstellationen und Perspektiven aller, die in ihr leben, gerecht werden“ (Achter Jugendbericht 1980, S. 92). Dabei führen die AutorInnen den Begriff der Normalisierung ein, als Alternative zu dem früheren Konzept der Integration, das oft auf Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft abzielte. Sie fordern von der Jugendhilfe, „daß die besonderen Schwierigkeiten und Aufgaben, wie sie sich aus dem Leben zwischen Kulturen und im Widerstreit von Kulturen ergeben, als Lebensbewältigungsstrategien gesehen werden müssen ( Bewältigungsstrategien). Ausländi20 sche Heranwachsende brauchen Bedingungen, Lebensbezüge und Lebensräume, um in der Bewältigung ihrer Entwicklungs- und Orientierungsaufgaben im Zusammenprall verschiedener kultureller Orientierungen handlungsfähig zu bleiben und eine stabile Identität zu entwickeln“ (ebd., S. 92). Alltagsorientierung bedeutet, präsent zu sein im Erfahrungsraum der Jugendlichen und zielt darauf ab, es den Jugendlichen in jeder Lebenslage zu ermöglichen, ohne große Hürden Hilfen abzufordern, ja überhaupt Hilfsangebote und Beratung zu finden. Dazu ist eine große Nähe zum sozialen Erfahrungsraum der Kinder und Jugendlichen notwendig und ein ganzheitlicher Blick, der den Menschen nicht in einzelne Problemdefinitionen segmentiert, sondern ihn in seiner Vielfältigkeit samt seinen Belastungen, Beschränkungen aber auch Möglichkeiten wahrnimmt. Die Orientierung am Alltag der Kinderflüchtlinge bedeutet zudem für die BetreuerInnen, sich nicht mit den vielfältigen Restriktionen im Alltagsleben der Kinderflüchtlinge abzufinden. Das gilt beispielsweise, wenn sie es für falsch und unvertretbar halten, daß Schulbesuch und Arbeit für Kinderflüchtlinge nicht möglich oder erlaubt sind oder wenn Jugendliche abgeschoben werden. Diese nicht akzeptierbaren Rahmenbedingungen des Alltags fordern uns immer wieder heraus, an die Öffentlichkeit zu gehen. Engagement auch in politischer Hinsicht ist notwendig, um Freiräume für die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen (und auch für unser professionelles Handlungsfeld) zu schaffen. Es besteht jedoch in der sozialpädagogischen Praxis – angesichts der Dominanz der politischen Vorgaben – die Gefahr, daß die Lösung der alltäglichen (Über-)Lebensprobleme der Kinderflüchtlinge in den Hintergrund gerät. Wenn wir uns auch gegen die objektiv belastende, politische Si- S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N tuation wehren, müssen wir dennoch gleichzeitig die subjektive Lebenssituation der Betreffenden als deren tatsächliche Lebensgrundlage akzeptieren. Das bedeutet, daß Soziale Arbeit auch in scheinbar ausweglosen Situationen Handlungsmöglichkeiten entwickeln muß und nicht unter dem Druck der Verhältnisse handlungsunfähig werden darf. Zudem kann die einseitige Fixierung auf die ausweglose Alltagssituation die eigene Perspektivlosigkeit verstärken und das erforderliche Engagement auf beiden Ebenen, der politischen und der lebensweltlichen, lähmen. Eine Verselbständigung und Abspaltung einzelner Anteile der Betreuungsarbeit sollten wir jedoch vermeiden. Halten wir also trotz der restriktiven Bedingungen an der Notwendigkeit und der Möglichkeit von lebensweltorientierter Pädagogik fest, ist, methodisch betrachtet, der Aufbau pädagogischer Beziehungen, die auf Vertrauen, Achtung und Respektieren des Gegenüber ausgerichtet sind, in diesem Arbeitsbereich so zentral wie in allen anderen Arbeitsfeldern Sozialer Arbeit. Denn der Erfolg des beruflichen Handelns von SozialarbeiterInnen hängt wesentlich davon ab – so der Achte Jugendbericht (1990, S. 168) – „ob sie fähig sind, pädagogische und helfende Beziehungen im Alltag von Kindern, Jugendlichen (...) zu strukturieren und zu gestalten“. Auch vor dem Hintergrund zunehmender Professionalisierungsdebatten wird an der Bedeutung des pädagogischen Bezugs nach wie vor festgehalten. Beziehungsbildung findet in der Arbeit mit Kinderflüchtlingen in ungünstiger Umgebung zwischen heterogenen Partnern statt. Pädagogische Beziehungen sind jedoch nach Giesecke (vgl. 1997, S. 112 ff) immer partikular, indem sie auf einzelne Ziele ausgerichtet, immer nur Beziehungen unter anderen und insbesondere zeitlich begrenzt sind. Dennoch begegnen sich die PartnerInnen als ganze Menschen, so daß sich Vertrauen in der pädagogischen Beziehung unter Aufrechterhaltung der notwendigen Distanz entwickeln kann, wenn die Erfahrungen der pädagogischen PartnerInnen als „subjektiv sinnvoller Text der bisherigen Lebensgeschichte“ (ebd., S. 118) und damit als gleichrangig angesehen werden. Diese Gleichrangigkeit bezeichnet Giesecke als „Kernstück der pädagogischen Beziehung“, aus der „zunächst der Respekt vor dem anderen bisher gelebten Leben“ resultieren sollte (ebd., S. 119). Eine solche Haltung muß sich auf der anderen Seite der tatsächlichen Unterschiede in der Hierarchie gesellschaftlicher Machtpositionen bewußt sein und diese nicht nivellieren wollen. Unsere Erfahrung ist, daß gerade im Hinblick auf Dauer und Perspektive die pädagogischen Beziehungen in unserem Arbeitsfeld besonders offen und kaum planbar sind. Gerade die Phase der Beziehungsaufnahme erfordert daher von den BetreuerInnen ein hohes Maß an Offenheit, ein intensives Bemühen, unbekannte Lebenswege zu verstehen und das Akzeptieren von Unklarheiten. Mit einer Haltung des Respekts können wir versuchen, ein Klima des Vertrauens herzustellen, und ein positives Ankommen in diesem Land anzubieten, so weit das in unseren Kräften steht. Während z. B. in Erstversorgungseinrichtungen behördlicherseits oft keine pädagogische Betreuung geplant oder vorgesehen ist, weil ja die Dauerhaftigkeit des Aufenthalts noch nicht geklärt ist, muß der Beginn von pädagogischer Betreuung genau in dieser Phase erster Kommunikation ansetzen, wenn eine Unterstützung und Orientierungshilfe für die Jugendlichen geleistet werden soll. Denn pädagogische Beziehung muß gerade am Anfang – und das ist hier die Ankunft in den Aufnahmeeinrichtungen – Vertrauensgrundlagen schaffen ( Erstversorgungseinrichtungen). Die Kinder und Ju21 ZUR EINFÜHRUNG gendlichen haben einen Anspruch auf den pädagogischen Bezug – und er ist möglich und hilfreich im ‘Hier und Jetzt’, auch wenn die Dauer und die Perspektive nicht absehbar sind. Hilfreich ist es in diesem Zusammenhang, an Erfahrungen und Überlegungen aus der interkulturellen Pädagogik anzuknüpfen, denn wir müssen uns sehr weitgehend davon freimachen, unser Gegenüber auf eine bestimmte Kultur, Ethnie oder Identität festzulegen ( Interkulturelle Pädagogik). Wenn wir akzeptieren, daß diese Kategorien immer Veränderungen unterliegen und soziale Konstruktionen sind, können wir auch anerkennen, daß sich die Kinderflüchtlinge nicht nur auf die Herkunftskultur und die Kultur des Zufluchtslands beziehen, sondern daß sie sich in Zwischenwelten bewegen und daß es nicht nur diese oder jene Identität sondern ‘flüchtige Identitäten’ gibt ( Persönlichkeitsentwicklung). So entpuppen sich manche Probleme unseres Arbeitsbereichs als ‘besondere Scheuklappen’, die es aufzulösen gilt, wie z. B. ein statischer Kulturbegriff, die Vorstellung von unveränderlichen Identitäten, die Festschreibung von ethnischen Zugehörigkeiten, aber auch verallgemeinernde Einordnungen der Kinderflüchtlinge als Opfer oder als Traumatisierte. Im Gegensatz dazu erfordert die Arbeit mit Kinderflüchtlingen in besonderem Maße eine Haltung des Verstehens, „die der Offenheit, Unabgeschlossenheit und Sperrigkeit gegebener Lebensverhältnissen gerecht werden“ soll (Auernheimer 1996, S. 31) und des Respekts gegenüber den Anderen und deren Lebensweisen. 4. Grundwidersprüche der Betreuung 4.1 Vom Umgang mit den Heimlichkeiten In der Praxis führt das komplexe und widersprüchliche Geflecht von gesellschaftli22 chen und pädagogischen Aufträgen zu grundlegenden Diskrepanzen, mit denen MitarbeiterInnen, die mit Kinderflüchtlingen arbeiten, regelmäßig zu kämpfen haben. Dies gilt insbesondere dann, wenn fortschrittliche, weiterentwickelte pädagogische Konzepte eines lebensweltorientierten Ansatzes auf gesellschaftliche und administrative Rahmenbedingungen treffen, die den zu Betreuenden gegenüber abwehrend eingestellt sind. Hinzu kommen die in vieler Hinsicht verschiedenen gesellschaftlich-kulturellen Sozialisations- und Orientierungserfahrungen von BetreuerInnen und Betreuten. Jugendhilfe hat es in diesem Bereich immer zu tun mit Jugendlichen, die ‘unterwegs’ sind und sich erst kurz in der BRD aufhalten und über deren bisherige und aktuelle Lebenswelten meist nur allzu wenig bekannt ist. Ausgehend davon, daß für sie ein erzieherischer Bedarf vorliegt, wird und muß Soziale Arbeit auftragsgemäß versuchen, diesen Jugendlichen ein unmittelbares Beziehungsangebot zu machen ( Erziehungsbedarf, Hilfeplanung). Dies ist auf einer allgemeinen Ebene schwierig, weil verschiedene Sozialisationsbedingungen, unterschiedliche Formen verbaler und non-verbaler Kommunikation sowie verschiedene (Geschlechts-) Rollenverständnisse aufeinander treffen und zudem in der Regel keine gemeinsame Sprache die Vermittlung zwischen diesen Welten vereinfacht. Diese Schwierigkeiten der interkulturellen Kommunikation zu überbrücken, ist eine Herausforderung an die Offenheit und Flexibilität der BetreuerInnen, für die dieses Handbuch Hinweise geben kann. Das spezifische und zugleich gravierendste Problem für die in jeder Pädagogik bedeutsame Beziehungsbildung im vorliegenden Arbeitsbereich ist die Tatsache, daß wir regelmäßig nicht wissen, wer die Kinderflüchtlinge sind oder zumindest nicht sicher sein können, daß sie sind, was wir glauben oder was sie uns S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N glauben machen. Die Kinder und Jugendlichen wissen zumeist bereits bevor sie mit deutschen Behörden zu tun haben, daß bestimmte Lebensgeschichten die Aufenthaltschancen erhöhen, daß es Herkunftsländer gibt, für die Duldungen ausgesprochen werden und andere, für die bei Vorliegen politischer Verfolgung Chancen auf Anerkennung als Asylberechtigte bestehen. Ebenso spricht sich herum, daß das Lebensalter entscheidenden Einfluß auf die Lebensbedingungen hat, da es darüber entscheidet, ob eine betreute Jugendwohnung oder ein Sammellager, ob das Leben in der Stadt, in der sie angekommen sind oder der Region, in die sie umverteilt werden, die mittelfristige Lebensperspektive bestimmen. Da die Jugendlichen zunächst ihren Aufenthalt in der BRD absichern wollen, müssen sie ihre Lebensgeschichte in Einklang mit den Anforderungen des Asylverfahrens bringen. Bubaquar, zum Beispiel, lebt als der ‘14jährige Prince aus Sierra Leone’ in der Clearingstelle. Sein Heimatland gilt als ‘Sicheres Herkunftsland’ ( Asylpolitik BRD/Europa) und sein Asylantrag wäre gleich als ‘offensichtlich unbegründet’ abgelehnt worden. Die Hinweise, die er auf dem Weg in die Bundesrepublik erhalten hat, gaben ihm die Orientierung, hier mit einer zweiten Identität größere Chancen auf einen sichereren Aufenthalt zu haben. Das ist sein Ziel. Er versucht, durch seine Flexibilität seiner Familie eine existenziell notwendige finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen und will natürlich auch selber daran teilhaben. Für die Betreuungsverhältnisse bedeutet das: Wir haben es mit einem ‘offiziellen Lebenslauf’ zu tun, der gleich zu Beginn des Asylverfahrens ohne innere Widersprüchlichkeiten angegeben werden muß. Diesen gilt es überall, insbesondere gegenüber allen offiziellen und halboffiziel- len Personen, durchzuhalten. Daher kann es sein, daß es die BetreuerInnen zu Beginn ihres Beziehungs- und Hilfeangebots mit ‘verschiedenen Heimlichkeiten’ ihres Gegenübers und einer ‘konstruierten Realität’ zu tun bekommen. Die klassischen Fragen pädagogischer Beziehungsaufnahme, die wir eingangs aufgeführt haben, können somit lediglich als Mittel zur Kontaktaufnahme dienen, die Antworten darauf als Informationen darüber, mit welchen der möglichen ‘Identitäten’ in dem jeweiligen Zusammenhang und der jeweiligen Situation kommuniziert werden kann. Damit ist ein grundlegender Interessenkonflikt zwischen dem Beziehungsinteresse Sozialer Arbeit und einem strategischen Interesse der Jugendlichen nach Absicherung des Aufenthalts umrissen, der Folgeprobleme nach sich zieht, je näher die BetreuerInnen in ihrer Arbeit mit der Zeit an die Jugendlichen herankommen. Denn sie werden natürlich auf einzelne Details der Lebensgeschichte, auf Merkmale tatsächlicher oder vermeintlicher Persönlichkeit ihres Gegenübers eingehen, und ein Vertrauensverhältnis anbieten und fördern. Je mehr sie darauf insistieren, zu verstehen suchen und sich bemühen ‘Stimmigkeit’, Kohärenz oder Identität zu erkennen, desto schwieriger kann es für die Jugendlichen werden, ihre verschiedenen Rollen aufrechtzuerhalten. Während Soziale Arbeit sich ‘ein Bild machen’ will, weil sie meint, wissen zu müssen, mit wem sie es zu tun hat und signalisiert, ‘ihr könnt euch öffnen’, muß ihr Gegenüber – wenn gewisse Einblicke weiter verweigert werden sollen – ihrerseits etwas anbieten, mit anderen Worten es entsteht ein Druck, Geschichten, ‘verkehrte Identitäten’ sogar noch auszubauen, mit der Gefahr, die Selbstkontrolle über die verschiedenen Persönlichkeitsanteile zu verlieren und Abspaltungsleistungen zu produzieren ( Doppelidentität). 23 ZUR EINFÜHRUNG Ein anschauliches Beispiel für diese strukturell bedingten Interessenkonflikte bietet die Problematik der Altersangabe: Das pädagogische Interesse, das Alter der betreuten Jugendlichen zu kennen, ist bedingt durch den Wunsch, sich in der Arbeit an ihrem Entwicklungsstand, an ihren Fähigkeiten und auch an altersbedingten Schwierigkeiten zu orientieren. Es kollidiert mit dem wiederum primär strategischen Interesse der Jugendlichen, z. B. etwas länger unter 16 Jahre alt bleiben zu wollen, um in der Stadt bleiben zu können oder einen besseren Übernachtungsplatz zu haben. Damit wird die Kommunikation über die eigentlich so banale Frage ‘Wie alt bist du?’ absurd, weil auf beiden Seiten die Frage in völlig gegensätzliche Bezugssysteme eingeordnet ist. Die Folgen allerdings können weitreichend sein, da sich für die Betreuung die Frage stellt, wie mit den Jugendlichen umzugehen ist: nach Einschätzung des Entwicklungsstands im Widerspruch zum offiziellen Alter, wodurch wiederum signalisiert wird, daß diese Version nicht ernst genommen wird, oder umgekehrt nach dem Papier, wodurch Situationen entstehen, in denen die Jugendlichen in ihrer Persönlichkeit nicht ernst genommen werden ( Alter). Darüber hinaus ist die Frage nach dem Alter im interkulturellen Kontext nicht immer leicht zu beantworten. Manchmal wissen Menschen ihr Geburtsdatum tatsächlich nicht, da in einigen Gegenden der Geburtstag eines Kindes kein bemerkenswertes Datum ist. Andere sehen den Zusammenhang von Alter, Entwicklung und Status anders oder benutzen andere kalendarische Zeitrechnungen (wie z. B. in Äthiopien). Ähnliche Dilemmata ergeben sich hinsichtlich der Herkunft (Nationalität, Sprache) aber auch hinsichtlich der Frage, ob es verwandtschaftliche Beziehungen in Deutschland gibt. Soziale Arbeit mit Kinderflüchtlingen muß die Tatsache akzeptieren, daß sie 24 sich beim Aufbau des pädagogischen Bezugs auf schwankendem Boden bewegt, auch wenn nicht vergessen werden darf, daß es ein ernsthaftes Beziehungsinteresse auch von seiten der Jugendlichen gibt. Ein Bedürfnis nach sozialer Nähe und Anbindung wird allerdings oft erst deutlich, wenn sie einige Zeit in den Einrichtungen sind und nach der ersten Klärung des Aufenthaltsstatus ein wenig Ruhe eingekehrt ist. Dann gilt es, geeignete Voraussetzungen für eine Vertrauensbildung zu schaffen. Es sollte versucht werden, die Kinder und Jugendlichen anzunehmen, ohne auf einer Öffnung zu beharren, Akzeptanz auch dessen zu signalisieren, was nicht ausgesprochen wird und durch Zuwendung emotionale Sicherheit anzubieten, ohne eine eindeutige Position zu erzwingen. Mit anderen Worten: es müssen Möglichkeiten entwickelt werden, „distanzierende Hilfen“ (Achter Jugendbericht 1990, S. 87) zu leisten, die auch ‘heimliche Lebenswelten’ bewußt erhalten. Natürlich kann Sozialarbeit nicht auf die Frage nach der Identität verzichten, denn sie muß Anknüpfungspunkte finden und sie soll und will gerade bei Jugendlichen in emanzipatorischem Sinne zur Identitätsentwicklung beitragen. Dennoch muß dabei das Recht auf eine konstruierte Identität und deren Darstellung nach Außen gewahrt bleiben. Der aus diesen Konfliktlinien resultierende Spagat setzt eine professionelle Haltung mit selbstkritischer Reflexion auf hohem Niveau voraus, die z. B. auf konstruierte Wahrheiten nicht moralisch wertend oder mit Entzugsdrohungen reagiert ( Ethik und Moral in der Sozialen Arbeit). 4.2 Die eigenen Uneindeutigkeiten Soziale Arbeit mit Kinderflüchtlingen bewegt sich also auf einem schmalen Grat und läuft zugleich ihrerseits Gefahr, Doppelbotschaften auszusenden. So versucht S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N sie, die Jugendlichen dazu zu motivieren, zur Schule zu gehen, einen Ausbildungsabschluß zu machen, etwas zu lernen und begründet dies mit den besseren Chancen, die auf diesem Wege entstehen. Aber die BetreuerInnen wissen, daß viele Jugendliche schon abgeschoben werden, bevor Schul- oder Ausbildungsabschlüsse erreicht werden und auch die Jugendlichen bekommen dies sehr bald mit, so daß ein Erklärungsnotstand entsteht. Mit der Entwicklung von Perspektiven soll die Motivation zur konstruktiven Persönlichkeitsentwicklung geschaffen werden, ohne daß – wie in anderen Bereichen der Sozialen Arbeit – ‘Chancen gegen Leistung’ angeboten werden können. Ähnlich unklare Haltungen vermitteln wir leicht, wenn wir versprechen, uns für das Hier-Bleiben der Jugendlichen einzusetzen, und damit den Eindruck erwecken, die Betroffenen hätten hier legale Perspektiven. Dies kann dann von heute auf morgen in die gegenteilige Botschaft umschlagen, daß es plötzlich keine Chance auf einen legalen Aufenthalt mehr gibt. Doppelbotschaften entstehen auch, wenn zum Beispiel signalisiert wird, daß wir die Lebensgeschichten der Kinderflüchtlinge glauben, wir aber durchblicken lassen, daß wir Zweifel haben, weil wir schon so viele Geschichten gehört haben. Die Uneindeutigkeit solcher Signale wirkt verunsichernd und arbeitet dem Vertrauen in der pädagogischen Beziehung entgegen. Zumeist steckt von pädagogischer Seite dahinter, daß wir mit der eigenen Ohnmacht und dem extrem eingegrenzten Handlungsspielraum nicht angemessen umgehen. Es ist schwierig und muß doch immer wieder versucht werden, die eigene Haltung zu reflektieren und sich der eigenen Möglichkeiten und Grenzen, aber auch der eigenen Erwartungen und Motivationen für die Arbeit in diesem Bereich bewußt zu werden ( Ethik und Moral in der Sozialen Arbeit). Es geht also um den rationalen Aspekt des pädagogischen Prozesses, nämlich darum, die eigene Rolle so klar wie möglich zu bestimmen und das eigene Handeln auf den verschiedenen Handlungsebenen im Spannungsfeld zwischen Pädagogik und gesellschaftlichen Zwängen transparent und nachvollziehbar zu machen, um auch den Jugendlichen eine realistische Einschätzung ihrer Situation vermitteln zu können. Und dieser „rationale Aspekt (...) sollte nicht durch emotionale Ansprüche unterlaufen werden“ (Giesecke 1997, S. 122). Hierfür sind sicherlich immer wieder Kollegiale Beratung und Supervision hilfreich und notwendig ( Teamarbeit/ Kollegiale Beratung, Supervision). 4.3 Wenn die Papiere ungültig werden ... Die Frage der Aufenthaltsperspektive konfrontiert uns regelmäßig mit ähnlichen Interessenkonflikten, wie wir sie im Zusammenhang mit der Einschätzung des Lebensalters erörtert haben: Alle in der Jugendhilfe mit Kinderflüchtlingen Beschäftigten wissen, daß nur die Wenigsten der Jugendlichen einen dauerhaft sicheren Aufenthaltsstatus in der BRD erhalten und daß deshalb häufig versucht wird, auch ohne Papiere hierzubleiben und zu überleben ( Illegalität). Für die Jugendlichen in den Einrichtungen gehört diese Realität früher oder später zum Alltag und zur Auseinandersetzung mit ihrer Perspektive elementar dazu. Die Ungewißheit, wie lange sie bleiben können und was danach kommt, begleitet die Jugendlichen vom Beginn ihres Aufenthalts an. Auch für die BetreuerInnen taucht die Problematik nicht erst auf, wenn klar wird, daß ein legaler Aufenthalt in der BRD nicht mehr gewährleistet werden kann, sondern schon dann, wenn es überhaupt um eine Orientierung für den weiteren Lebensweg geht. Während das Interesse der Jugendlichen darauf ausgerichtet ist, möglichst lange in 25 ZUR EINFÜHRUNG der BRD zu bleiben, immer in der Hoffnung, irgendwann und irgendwie hier Fuß fassen zu können, geht es den PädagogInnen darum, daß die Kinder und Jugendlichen ein eigenständiges Leben auf einer legalen Basis führen können. Die frustrierende Standarderfahrung besteht dann allerdings darin, daß die bereits vorher sehr offene Betreuungsperspektive abrupt und von fachfremder Seite (Ausländerbehörde etc.) und auch ohne Einbeziehung fachlicher Überlegung – also unter Ausschluß der Orientierung am Kindeswohl – durch Verweigerung der Gewährung eines legalen Status abgebrochen wird. Die dadurch entstandene Situation entspricht zum Teil der allgemeinen Problematik der Beendigung von Maßnahmen der Jugendhilfe oder von pädagogischen Angeboten, doch muß in diesem Fall der Widerspruch zwischen dem offiziellen Auftrag (Einweisung in eine Sammelunterkunft für Erwachsene; Vorbereitung auf die Abschiebung bzw. Ausreise) und den am Kindeswohl orientierten Verpflichtungen als besonders eklatant bezeichnet werden: Die jungen Menschen werden in ungeschützte und unbetreute Lebensverhältnisse mit völlig offenen Perspektiven entlassen, wenn sie auf Sammelunterkünfte verteilt werden und insbesondere wenn sie von der Beendigung des legalen Aufenthalts bedroht sind. Ali-Hassans Asylverfahren wird letztinstanzlich abgelehnt und er wird zur Ausreise aufgefordert. Mit Ablauf seiner Duldung endet sein Aufenthaltsrecht in der Jugendhilfe. In den letzten Monaten gab es häufigere Diskussionen zwischen ihm und dem Vormund, da er mehrfach Strafanzeigen wegen Drogendealens erhielt. Er erzählte dabei erstmals davon, daß seine Eltern darauf angewiesen sind, daß er Geld nach Hause schickt. Die Aufforderung, zurück in die Türkei zu fliegen, ist für ihn unfaßbar, weil er nicht mit lee26 ren Händen bei seinen Eltern auftauchen mag. Deshalb will er versuchen, sich ohne Papiere durchzuschlagen und verläßt die Einrichtung. Mit hohem Fieber taucht er eines Tages in ‘seiner’ Erstversorgungseinrichtung wieder auf. Die BetreuerInnen geraten in einen Zwiespalt: Welches Verhalten ist angemessen, wenn der Jugendliche nicht legal in der BRD bleiben kann? Es fällt ihnen dann oft schwer, diese Zuspitzung der Situation nicht auch als persönliches Scheitern zu empfinden und zu akzeptieren, daß sie die Jugendlichen nur noch bei der Qual der Wahl zwischen oft gleichermaßen aussichtslosen Optionen beraten können. Ist es möglich, eine persönliche Distanz zu der Ausweglosigkeit der Situation zu schaffen, nachdem monatelang an der Entwicklung einer Beziehung gearbeitet wurde? Sicher muß die Entscheidung, wie es weitergehen soll, in der Hand der Betroffenen liegen, aber ebenso gewiß sollte gemeinsam versucht werden, verschiedene Perspektiven wie Rückkehr, Migration in ein weiteres Land, illegaler Aufenthalt, in ihrer jeweiligen Problematik zu bearbeiten. Wenn das Betreuungsverhältnis beendet ist, kann es durchaus sein, daß die faktische Existenz der Jugendlichen ihre formal-rechtliche Existenzberechtigung überlebt, und weiterhin z. B. besuchsweise Kontakt in den Einrichtungen besteht. In diesem Fall wird natürlich das Verhalten der BetreuerInnen gegenüber ihren Ehemaligen von den anderen Betreuten beobachtet und bewertet, wie formal oder wie menschlich sie behandelt werden. Daß derlei Beobachtungen wieder ihre Rückwirkungen haben auf die aktuell aufzubauenden Beziehungen liegt auf der Hand und macht die Verwobenheit der in diesem Abschnitt verhandelten Interessenkonflikte und die Komplexität dessen, was als „solidarische Professionalität“ (Kunstreich) bezeichnet wird, mehr als deutlich. Auch in diesem Zusammenhang S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N kann zur Klärung und Rückversicherung die Kollegiale Beratung ein hilfreiches Instrument sein, gerade weil sich Soziale Arbeit an dieser Stelle in Grenzbereiche des vorgegebenen rechtlichen Rahmens begibt. Denn sofern es pädagogische Aufgabe ist, Unterstützung dabei zu bieten, wie es weiter gehen kann, muß auch die Option ‘illegalen Aufenthalts’ in die professionelle Beratung einbezogen werden. 4.4 Ein heikles Thema: Rückkehr Auch die Frage einer Möglichkeit der Rückkehr sollte nicht aus der – notwendig offenen – Betreuungsperspektive ausgeklammert werden. Aus unserer Beratungsarbeit kennen wir Beispiele, in denen recht schnell klar ist, daß die Betreffenden eigentlich keine Chance haben, mit einem Leben hier zurecht zu kommen, weil ihre Bewältigungskräfte den Bedingungen des Lebens im Exil nicht gewachsen sind. Insbesondere wenn Kinder weggeschickt wurden, kann es sein, daß die Eltern eine für das Kind falsche Entscheidung getroffen haben. Wenn dafür Anzeichen vorhanden sind, stellt sich aber die Frage, wer das von hier aus sicher entscheiden kann, ohne sich anzumaßen, über Lebensverhältnisse zu urteilen, deren Alltagsproblematik uns nicht in aller Tragweite bekannt sein können. Um den familiären und lebensgeschichtlichen Hintergrund der betreffenden Kinder zu erhellen, bedarf es eigener Recherchen mit Hilfe zuverlässiger Kontaktpersonen im Herkunftsland. Dies erfordert einen zeitlichen Rahmen, der in der gegenwärtigen Rechtslage nicht gewährt wird. Es wird auf alle Beteiligten Druck ausgeübt, sofort Asylanträge zu stellen, sodaß gleich zu Beginn auf zwei konträren Ebenen agiert werden muß. Die Uneindeutigkeit und Doppelbelastung der entstehenden Situation kann geradezu dazu führen, daß für diejenigen Kinder, die vielleicht wirklich bald zurückkehren könnten, die Situation nicht geklärt werden kann und die Rückkehr verhindert wird. Der behördliche Rückführungsdruck verhindert so eine Rückkehr im Sinne des Kindeswohls. Sinnvoll im Sinne der Kinderrechtskonvention wäre es dagegen, diese Fragen gleich zu Beginn des Aufenthalts in der BRD zu klären. Voraussetzung hierzu ist allerdings zwingend die schnelle Gewährung einer längerfristigen Aufenthaltsgenehmigung für Kinderflüchtlinge, z. B. eine Aufenthaltsbefugnis ( Aufenthaltstitel). Am Ende eines Asylverfahrens stellt sich die Rückkehr-Frage neu ( Perspektiven). Rechtzeitig, bevor die letztinstanzliche Ablehnung des legalen Aufenthalts droht, muß geklärt werden, ob und unter welchen Bedingungen der oder die Betreffende sich im Herkunftsland wieder zurecht finden könnte – besser als hier mit illegalem Status – und wie und in welchen Schritten eine Rückkehroption umzusetzen wäre. Denn viele Jugendliche halten dem enormen Druck nicht stand, der mit dem bevorstehenden oder tatsächlichen Leben ohne Papiere verbunden ist. Bedacht werden muß sehr sorgfältig, wohin die Jugendlichen nach z. T. mehrjährigem Aufenthalt in der BRD zurückgehen können. „Eine Rückkehr wird es für einen Menschen im Exil nie geben. Die Koordinaten verändern sich, sowohl was seine persönliche Entwicklung als auch die Entwicklung seiner Ursprungsheimat angeht“ (Schami 1998, S. 55). Auch hier gilt es, zu versuchen, eine Kontaktaufnahme und vorherige Klärung der Situation im Herkunftsland zu ermöglichen. Doch selbst in Fällen eines ‘freiwilligen’ Rückkehrwunsches zeigen Erfahrungen aus der Beratungstätigkeit erhebliche Schwierigkeiten, wenn keine bzw. unzutreffende Papiere vorhanden sind und sich deshalb kein Konsulat für zuständig erklärt, wegen der zwischenzeitlich konstruierten Identität 27 ZUR EINFÜHRUNG die ausreisende Person nicht gleich der Eingereisten sein kann oder wenn Botschaften sich weigern, Grenzübertrittspapiere auszustellen. Für illegal Eingereiste besteht dann die Gefahr einer Verhaftung wegen illegaler Ausreise. Mit derlei Grauzonen muß in ‘the best interests of the child’ umgegangen werden, sie erfordern erheblichen Improvisationsaufwand, die Inanspruchnahme versierter Beratungsstellen und leider manchmal das Eingeständnis, daß wir selbst auch nicht mehr weiter wissen und keinen vertretbaren Ausweg sehen ( Kinderflüchtlinge, Kinderrechte). 4.5 Solidarische Professionalität statt professioneller Ohnmacht Wiederum erweist sich hiermit Pädagogik als eingezwängt zwischen den politischen und rechtlichen Bedingungen. Um nicht in ‘professioneller Ohnmacht’ zu versinken, halten wir es für erforderlich, als Teil professioneller Praxis auch im politischen Raum zu agieren, um die grundlegenden Widersprüche zwischen Ausländerrecht und Jugendhilfeauftrag in die öffentliche Debatte einzubringen und BündnispartnerInnen in Fachwelt, Behörden und Stadtteil zu gewinnen ( Interessenvertretung). Die Erfahrung aus anderen Bereichen Sozialer Arbeit zeigt, daß sich neue, im Interesse der Betroffenen erweiterte Handlungsmöglichkeiten oft erst ergeben, wenn durch Grenzüberschreitungen die Begrenztheit und Unwirksamkeit bisher praktizierter Regelsysteme kritisiert und diese Diskussionen in der öffentlichen Auseinandersetzung thematisiert werden. So haben beispielsweise im Drogenbereich Angebots-Modelle, deren juristische Grundlagen noch nicht geklärt waren, die Auseinandersetzung um akzeptierende Drogenarbeit voran gebracht, und damit zur Legalisierung der betreffenden Ansät28 ze beigetragen. In ähnlicher Weise sieht sich Soziale Arbeit mit Kinderflüchtlingen konfrontiert mit der Notwendigkeit, sich auch öffentlich zu den gewollt ausgegrenzten Lebenswelten der illegalisierten Kinderflüchtlinge zu äußern und für diejenigen, die die Welt legalen Aufenthalts verlassen, um Verständnis zu werben. Dies betrifft z. B. in besonderer Weise die Straßensozialarbeit mit Kinderflüchtlingen, die per definitionem als aufsuchende und akzeptierende gedacht und geplant ist und selbstverständlich Kinder ohne Aufenthaltspapiere in ihre Arbeit mit einbezieht ( Straßensozialarbeit). Im Hinblick auf die Ungewißheit, die ‘Heimlichkeiten’ und die prekären Lebenswelten wird Soziale Arbeit mit Kinderflüchtlingen ‘Kritische Soziale Arbeit’ sein müssen, die „ihren gedanklichen Ausgangspunkt bei den vielfältigen Gestaltungsformen der Sozialitäten, bei der aktiven Aneignung von Überlebenspraktiken, bei dem gewitzten Widerstand der Subjekte (nimmt) – genauso wie bei deren Leid und ohnmächtigen Rückzug“ (Kunstreich 1998, S. 24). 5. Erfahrungen im Umgang mit Krisen und Konflikten 5.1 Auffälligkeiten und das Sortieren von Problemen In den vorhergehenden Kapiteln beschäftigten wir uns mit Fragen der pädagogischen Arbeit und dem Spannungsfeld, in dem sie zu leisten ist. Dabei darf nicht in den Hintergrund geraten, daß die Jugendlichen trotz der verallgemeinerbaren Probleme mit individuellen Einzelschicksalen angekommen sind. Sie haben belastende und außergewöhnliche Lebenserfahrungen im Gepäck. Hier finden sie jedoch Bedingungen vor, die nicht geeignet sind, zur Ruhe zu kommen, die weder entwicklungsfördernd sind, noch Raum bieten, S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N Probleme zu verarbeiten und zu bewältigen; Bedingungen, die vielmehr die vorhandenen inneren Zerrissenheiten fördern. Die Erfahrung hat uns gezeigt, daß Jugendliche, sobald sie sich ein wenig eingerichtet haben, häufig Auffälligkeiten zeigen, die von psychosomatischen Beschwerden wie unerklärlichen Bauchoder Kopfschmerzen, Schlafstörungen oder Bettnässen über autoagressives Verhalten oder Aggressionen nach außen bis hin zu psychotischen Ausnahmezuständen reichen können ( Psychische Störungen, Psychosomatik). Erst nach einiger Zeit scheint der Zeitpunkt gekommen zu sein, an dem die aufgestauten individuellen Krisen ausagiert werden können. Bubaquar/Prince wohnt seit mehreren Monaten in der Erstversorgungseinrichtung, als er anfängt, über Kopfschmerzen und über „Schmerzen, die durch den ganzen Körper wandern“, zu klagen. Er sucht mehrere Ärzte auf, die jedoch keine akute Erkrankung feststellen können. Seine Schulbesuche werden unregelmäßiger und er zieht sich immer mehr zurück. Gleichzeitig verhält er sich provokativ und es kommt immer häufiger wegen Kleinigkeiten zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen. In einem längeren Gespräch mit einem Betreuer äußert er erstmals sein Gefühl der Perspektivlosigkeit. Er bekäme nirgends Unterstützung, keiner würde ihm helfen, weder die Ärzte noch die BetreuerInnen in der Einrichtung. Als in der Teamsupervision sein Fall besprochen wird, werden die Wechsel zwischen seinen aggressiven und depressiven Verhaltensauffälligkeiten sehr deutlich. Seitens der Einrichtung wird ein Gespräch mit dem Vormund und dem Amt für Soziale Dienste organisiert, als dessen Ergebnis beschlossen wird, für ihn eine Unterbringung nach § 34 KJHG zu beantragen. Bevor es zu dem Umzug kommt, begeht Bubaquar einen Suizid-Versuch, infolge dessen er in der psychiatrischen Ab- teilung des örtlichen Krankenhauses aufgenommen wird. Kinderflüchtlinge mit psychischen Auffälligkeiten befinden sich meist in einer ‘Lebens-Sackgasse’, aus der sie allein nicht mehr herausfinden. Ihnen wird deutlich, daß es hier in diesem Land für sie kein Weiterkommen, aber auch kein Zurück gibt. Wie gut wäre es, wenn es gelingen könnte, mit der Person hinter dem Paravent der zweiten Identität, unabhängig davon, ob dieser Bubaquar oder Prince ist, ins Gespräch zu kommen und ihr zu helfen, ihre Lage zu reflektieren, um sich neu orientieren und neue Entscheidungen treffen zu können. In der Phase der ersten Auffälligkeiten hätte es vielleicht geholfen, mit einem vertrauten Gegenüber die Probleme und die Lebenssituation zu sortieren, um damit einen neuen Entscheidungsprozeß vorzubereiten oder einzuleiten. Dabei ist es wichtig, an Vertrautes anzuknüpfen, das sich finden kann in gegenseitiger Akzeptanz und Sympathie, persönlicher Achtung, in einer gemeinsamen Sprache oder der gemeinsamen Herkunft mit einem erfahrenen Erwachsenen. Leider werden solche Momente schnell verpaßt, die Situation spitzt sich zu, bis sie für beide Seiten, Betroffene und BetreuerInnen, nicht mehr aushaltbar ist und, obwohl sie wahrscheinlich nicht im engeren Sinne psychisch krank sind, geraten die Kinder und Jugendlichen plötzlich in die Psychiatrie. Wenn sich solche Anknüpfungspunkte jedoch rechtzeitig finden und vertrauensvoll ausbauen lassen, kann manchmal Zuspitzungen und Eskalationen vorgebeugt werden, die sonst später therapeutische oder psychiatrische Behandlung erforderlich machen. Ähnlich wie in anderen Bereichen der Jugendhilfe tut die „Geschäftigkeit moderner Jugendhilfe“ (Blandow 1997, S. 180) der Lösung von Schwierigkeiten individueller Probleme oft nicht gut, da mittlerweile nicht selten eine Haltung anzutreffen 29 ZUR EINFÜHRUNG ist, die Probleme standardisiert erkennt und auf eine passende Lösung sinnt, häufig in Form einer vorhandenen Maßnahme, die das Problem auffängt und es damit aus dem Blickfeld befördert. So führt sich das differenzierte Jugendhilfe- und auch Therapiesystem durch die sozialtechnische Weiterreichung von vorgesehenen Problemkonstellationen leicht auch selbst ad absurdum und es droht „moderne Jugendhilfe an ihrer eigenen Progressivität zu ersticken“ (ebd., S. 183). Statt dessen sollte sich die soziale Arbeit mit Kinderflüchtlingen auf eine „therapeutische Dimension pädagogischer Praxis“ einlassen (Oevermann 1997, S. 146 ff). Das bedeutet, daß sie für psychische Krankheitsbilder sensibilisiert ist und im Hinblick auf potentielle psychische Krisen präventiv arbeitet. Allerdings steht eine genaue Bestimmung des Verhältnisses von Pädagogik und Therapie in der professionellen Arbeit für unseren Bereich sicher noch aus. 5.2 Verschiedene Vorstellungen von Heilung Shoukrija wohnt in einer Mädchen-Wohngruppe für Kinderflüchtlinge. Sie besucht regelmäßig die Schule und hat einen engen und guten Kontakt zu den Betreuerinnen. Trotzdem verfällt sie immer wieder in Phasen der Zurückgezogenheit und Traurigkeit. Sie leidet an Appetitlosigkeit und verliert immer mehr an Gewicht. Sie entwickelt Angstzustände und traut sich nicht mehr aus dem Haus. Eine ihr angebotene Therapie bricht sie nach dem dritten Besuch ab, mit dem Hinweis, daß sie von der Therapeutin auf ihre Familie und ihre Situation zu Hause angesprochen worden sei. Sie kann oder will sich nicht mehr erinnern. In Zusammenarbeit mit einer bei einem Frauenprojekt arbeitenden Therapeutin organisiert die Betreuerin eine sich regelmäßig treffende sozialthera30 peutische Gruppe afghanischer Mädchen, an der auch Shoukrija teilnimmt. Dort entsteht über gemeinsames Kochen, Gespräche und gemeinsames Feiern eine Atmosphäre, in der nach und nach Vertrauen, Zugehörigkeitsgefühle und ein wenig Geborgenheit spürbar werden. Hier gelingt es ihr nach einiger Zeit erstmals, ihre Gefühle von Heimweh, Fremdheit und Trauer zu äußern, aber auch, über ihre Wünsche und Hoffnungen zu sprechen. Johns Verhalten wird zunehmend auffälliger. Er fängt an zu trinken, hat immer die ein oder andere Bierdose neben seinem Bett. Häufiger wirkt er erstaunlich aufgekratzt. Die ‘professionelle Nase’ errät, daß er Marihuana und häufiger auch Kokain raucht. Die KollegInnen in der Einrichtung wenden sich an eine Drogenberatungsstelle. Dort wird Hilfe angeboten, wenn John sich freiwillig bei ihnen meldet. Er geht jedoch nicht hin. Ein zufällig angestellter Dolmetscher findet Zugang zu John. Bei Kinderflüchtlingen wie Shoukrija und John mit extremen Kriegserlebnissen muß überlegt werden, mit welchen therapeutischen oder Heilungs-Settings ihnen geholfen werden kann ( Institutionelles Management psychischer Probleme, Kinder- und Jugendpsychiatrie). Hierbei ist aber zu berücksichtigen, welche eigenen, für uns oft ungewohnten Vorstellungen die Betroffenen von Krankheit und Heilung haben und welche Erwartungen gegenüber TherapeutInnen und ÄrztInnen vorhanden sind. Oft treffen wir beim Gang zum Arzt oder Therapeuten auf eine Erwartung an ‘den Heiler’ als eine Autorität, die den ganzen Menschen sieht und – unausgesprochen – die Hoffnung auf vertraute Heilungsrituale, die die Jugendlichen hier nicht finden können, es sei denn in ‘einheimischen’ Kreisen ethnischer Gruppen. Unsere Erfahrungen zeigen, daß die hier üblichen schulmedizini- S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N schen Behandlungsmethoden die Kinderflüchtlinge mit Krankheitssymptomen häufig nicht erreichen. Notwendig in der Betreuung und Behandlung scheint uns ein ausreichendes Wissen um die Krankheits- und Heilmethoden der Herkunftskulturen, nicht um sie unmittelbar anzuwenden, sondern um als Verständnisbrücke zu dienen und zur Entwicklung adäquater Heilungsmethoden beizutragen. So gaben Dawes und Honwana von der Universität Kapstadt in einem Vortrag auf dem Kongreß über „Kinder, Krieg und Verfolgung“ 1996 in Maputo die Anregung, daß es zu bedenken gilt, ob eine Methode, die im Gespräch oder Spiel individuell Erlebtes bewußt und nacherlebbar macht, nicht selbst eine Überforderung ist für Menschen, die Heilung im Zusammenhang mit bestimmten Ritualen gewohnt sind oder für die eine Strategie des Vergessens oder der Wiederaufnahme in eine soziale Gruppe eher angemessen wäre. Sie veranschaulichen die Bedeutung verschiedener Verständnisse von Krankheit und Heilungsmethoden am Beispiel eines Kindersoldaten in Mosambik, der durch ein Ritual, in dessen Verlauf alle Kleidung aus seiner Soldatenzeit verbrannt wurden, innerlich und äußerlich gereinigt, durch Impfung gegen böse Mächte geschützt und dann in die Dorfgemeinschaft reintegriert wurde ( Kindersoldaten). Diese Rituale wurden öffentlich vollzogen, denn das ‘Trauma’ war ein soziales Problem des ganzen Dorfes, und sie symbolisierten den Abbruch der Verbindung zur Vergangenheit. „Während moderne psychologische Methoden die verbale Äußerung des Traumas betonen, wird hier die Vergangenheit unter Verschluß gebracht. (...) Über die Vergangenheit zu sprechen oder sie ins Gedächtnis zu rufen wird nicht unbedingt als Voraussetzung für Gesundung“ gesehen, vielmehr glaubt man, „dadurch für den Einfall heimtückischer Kräfte Raum zu bieten“ (Dawes/ Honwana 1997, S. 61). 5.3 Seelisches Leid oder Trauma? Auf den Bedarf und die Möglichkeiten der Therapie für traumatisierte Kinder und Jugendliche wird in verschiedenen Artikeln dieses Handbuches aus unterschiedlicher Sicht eingegangen ( Psychische Störungen, Traumatisierung) weshalb wir das Thema an dieser Stelle nicht vertiefen wollen. Es scheint uns jedoch eine Anmerkung angebracht: In der Fachöffentlichkeit und der Medienwelt ist häufig von ‘Traumata’ die Rede, insbesondere von Kindern, die in Folge von Kriegserlebnissen traumatisiert wurden. Dieser Diskurs vermittelt den Eindruck, daß bestimmte Gruppen – wie eben die Kinderflüchtlinge – generell mit psychischen Störungen belastet, ‘traumatisiert’ hierher kommen. Wir gehen jedoch davon aus, daß dies nicht für alle Kinderflüchtlinge zutrifft, obwohl sie sich zumeist aus belasteten Situationen auf den Weg gemacht haben. Aber sie haben glücklicherweise nicht alle derart extreme Erlebnisse hinter sich, daß generell von einem posttraumatischen Belastungssyndrom (PTSD) ausgegangen werden muß. Diese Differenzierung halten wir für besonders wichtig im Hinblick auf diejenigen Kinder, die tatsächlich mit einem Trauma leben müssen. Die Unterscheidung anhand der Symptomatik, die bei den Kindern beobachtet wird, ist jedoch nicht leicht zu treffen, und die Definitionen, die die Traumaforschung (vgl. hierzu Fischer/ Riedesser 1998, S. 58 ff; Weltgesundheitsorganisation 1993, S. 169 f, 234 f) für ‘traumatische Situationen’ sowie ‘kumulative’ oder ‘sequentielle’ Traumatisierungen anbietet, sind in der Praxis oft nicht sehr hilfreich und verführen leicht zu ungenauer Interpretation, denn aufgrund mangelnden Vertrauens und fehlender Verständigungsmöglichkeiten sind die erforderlichen Differenzierungen für die 31 ZUR EINFÜHRUNG Diagnostik erschwert. Wir wünschen uns in diesem Bereich einen kritischen Diskurs auf der Basis eines präzisen Verständnisses – ohne das Leid psychischer Verletzungen weniger ernst nehmen zu wollen. Mit den verschiedenen Erscheinungsformen, in denen Auffälligkeiten zu Tage treten, fühlt sich die pädagogische Praxis oft überfordert und sieht in den Symptomen allzu schnell Zeichen von ‘Traumatisierung’. Damit verbunden ist die Hoffnung, die Bearbeitung und die Auseinandersetzung mit den Auffälligkeiten an andere ExpertInnen, sprich TherapeutInnen abgeben zu können. Aus dem subjektiven Gefühl, Probleme vor sich zu haben, deren Bewältigung zu schwierig sind und deren Lösung viel Kreativität und neue Ideen verlangen, bietet sich die Zuordnung zu einem anerkannten ‘diagnostischen Label’ als scheinbarer Ausweg an. Hinzu kommt die Schwierigkeit, daß die Konzepte der Traumaforschung nicht unumstritten sind. So wird zum Beispiel problematisiert, daß sich die Traumatherapie ausschließlich in westlich-medizinischer Sichtweise auf das Erleben des Individuums bezieht, Traumatisierung statt dessen aber vielmehr auch als soziales Ereignis aufzufassen sei ( Traumatisierung, vgl. auch die Kritik des PTSDKonzepts bei Becker 1997, S. 25 ff). Die Strittigkeit dieser Konzepte legt es nahe, mit der vorschnellen Zuweisung des Etiketts ‘Traumatisierte’ vorsichtig zu sein, und die sozialen (also auch lebensgeschichtlichen und kulturellen) Kontexte und individuellen Besonderheiten der auffälligen Kinder und Jugendlichen zu beobachten und nach angemessenen Betreuungssettings zu suchen. Damit stellt sich auch immer die Frage, ob vorhandene Symptome nicht als ‘normale’ Bewältigungsstrategien und angemessener emotionaler Ausdruck schmerzhafter Erfahrungen aufgefaßt werden müssen, denn: 32 „Schmerz oder Leiden sind nicht per se eine psychische Störung“ (Summerfield 1997, S. 12) und verrückte Reaktionen sind oft normale Antworten auf ‘ver-rückte’ Lebenssituationen. Die Fixierung auf die Suche nach dem traumatisierenden Schlüsselerlebnis läßt häufig Besonderheiten der jeweiligen aktuellen Situation in den Hintergrund treten. Unsere Erfahrung hat gezeigt, daß einzelne Jugendliche, die offensichtliche psychosomatische Schwierigkeiten hatten und bei denen traumatische Erfahrungen vermutet wurden, von ihren Lebenssituationen hier im Exil schlicht überfordert waren. Dies insbesondere deshalb, weil sie sich gezwungen sahen, einmal erzählte Lebensgeschichten durchzuhalten und mit diesen ‘Lügen’ dann nicht mehr leben konnten, weil sie sie daran hinderten, ihre eigentlichen Schwierigkeiten und Erlebnisse zu thematisieren. Werden die – wie wir im letzten Abschnitt gezeigt haben – strukturell bedingten Überforderungssymptome therapeutisch analysiert und bearbeitet, ohne die aussichtslose aktuelle Lebenssituation mit einzubeziehen oder wenn konstruierte Geschichten Therapiegrundlage bleiben, kann es sogar noch zu einer Verstärkung der Symptome kommen. Wie bereits hinsichtlich der pädagogischen Beziehung dargestellt, werden auch an die therapeutische Beziehung hohe Ansprüche gestellt: Verschiedene Haltungen zu Heilung und Krankheit sollten einbezogen werden und es werden nur Therapieansätze weiterhelfen, die an Vermittlungspunkten zwischen den unterschiedlichen Anschauungen ansetzen bzw. neu entwickelt werden. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, wie sehr und in welcher Form die TherapeutInnen in die Bemühungen um eine Absicherung des aufenthaltsrechtlichen Status der Betroffenen mit einbezogen werden können und wol- S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N len. Während einige diese Außenbezüge in den Rahmen der Behandlung ganz bewußt als vertrauensbildende Maßnahme mit einbeziehen, wird dies von anderen generell abgelehnt mit dem Hinweis darauf, derlei Außenbezüge störten das therapeutische Setting. Die Zuspitzung dieser ablehnenden Position besteht darin, die Nichtbehandelbarkeit der KlientInnen zu erklären, wenn kein sicherer Aufenthaltsstatus gegeben ist, wodurch ein Großteil der Kinderflüchtlinge aus dem Behandlungsangebot fällt. Die ungünstige allgemeine Situation darf jedoch nicht zu einer Absage an sozialpädagogische und therapeutische Hilfsangebote führen, sondern unter Einbeziehung der aktuellen Lebenslage muß gemeinsam nach neuen Wegen gesucht werden. 6. Resümee Soziale Arbeit hat es in dem beschriebenen Berufsfeld mit jungen Menschen zu tun, die vieles hinter sich haben, die oft schreckliche Erlebnisse verarbeiten müssen und die hier unter besonders restriktiven Bedingungen leben. Sie sind nicht vorübergehend ausgerissen, sondern haben sich zur Flucht entschieden und die Stärke bewiesen, es bis hier zu schaffen. Aber sie befinden sich in einem Lebensabschnitt, in dem nach unserer Vorstellung junge Menschen sich in der gesellschaftlichen Umgebung orientieren und nach einem sinnvollen Platz in der Gesellschaft suchen. Auch wenn in manchen Herkunftsgesellschaften Jugendliche bereits früher zur Erwachsenenwelt gehören, ist doch die Phase der Identitätsbildung bei den meisten Kinderflüchtlingen von biographischen Brüchen, Fluchterfahrungen, erzwungenem Wandern zwischen verschiedenen sozialen Gefügen etc. geprägt. Die meisten – nicht nur die Opfer von Krieg und politischer Verfolgung wie Becker beschreibt – „sahen sich gezwungen, frühzeitig die Kontrolle für ihre Umwelt zu übernehmen. Sie mußten sehr schnell verstehen und erwachsen werden. (...) Sie mußten auf ihre eigenen Bedürfnisse nach Schutz verzichten, um sich anderer bedrohter und verletzbarer Objekte in ihrem Umfeld anzunehmen. Sie verwandelten sich in kleine Erwachsene, die lernten, scheinbar kohärent und logisch zu funktionieren und mit Angst, Chaos, Verwirrung und innerer Leere umzugehen“ (Becker 1997, S. 25). Im vermeintlichen Zufluchtsland angekommen, läßt sich beobachten, daß fast alle unter der Perspektivlosigkeit, der Unsicherheit und den fehlenden Betätigungsmöglichkeiten leiden, und daß die Situation, in der sie sich in Deutschland wiederfinden, strukturell verunsichernd und verstörend wirkt, die Identitätsbildung behindert und weitere Identitätsbrüche hervorruft. Die erforderliche Ruhe und der angemessene Schutz zur Verarbeitung des Erlebten und zur weiteren Persönlichkeitsentwicklung wird ihnen verweigert und sie machen zum zweiten Mal in ihrem Leben die Erfahrung mit einer Gesellschaft, die ihre Probleme nicht löst, ihre Erwartungen nicht einlöst und sie zugleich ihre Probleme auch nicht selbst lösen läßt. Die Art und Weise, wie unsere Gesellschaft mit jugendlichen Flüchtlingen umgeht, läuft der Zielsetzung des KJHG entgegen, widerspricht internationalen Abkommen und muß mitverantwortlich gemacht werden für die Entwicklung psychischer Auffälligkeiten bei den Betroffenen. Denn es scheint unter diesen Verhältnissen geradezu eine gesunde Reaktion zu sein, krank zu werden. Diese Bedingungen bedeuten im Hinblick auf die beschriebenen, strukturellen Zwiespältigkeiten besondere Herausforderungen für eine kritisch-reflektierte, lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Dabei können wir auf die Integrationsleistungen, die Potentiale, das Durchhaltevermögen und Improvisationstalent der Kinder und 33 ZUR EINFÜHRUNG Jugendlichen vertrauen. Und wir brauchen Empathie und ein Bewußtsein der Erklärungsbedürftigkeit unserer eigenen Selbstverständlichkeiten und Normen, eine behutsame Art, Unterschiedlichkeiten miteinander zu verbinden, ebenso wie eine respektvolle Art, auch Grenzen der eigenen Toleranzfähigkeit deutlich zu machen. Wir können uns auf das Wagnis einlassen, Mut zu machen in aussichtslosen Situationen, Beistand und Unterstützung zu geben, auch wenn Vertrauen sich nicht an den gängigen Gewißheiten festhalten kann. Denn: pädagogischer Bezug ist in jeder Lebenslage möglich. Auf Dauer fixierte Beziehungsarbeit bleibt hingegen allzu oft Konstrukt und Illusion. Wir müssen uns auf Menschen einstellen, die in Bewegung sind, und sie auch dort ‘abholen’, nicht wo sie stehen, sondern wo sie sich bewegen. Krisen sind Anzeichen, daß etwas anders werden muß und zugleich Chance, etwas anders machen zu können. Über das Verstehen der Krisensymptomatik können individuelle Betreuungssettings entwickelt werden, die dem Jugendlichen helfen, sich selbst neu zu erfahren und sich neu zu orientieren. Damit kann oft eine Stabilisierung unterhalb der therapeutischen Ebene erreicht werden. In diesem Sinne müssen wir für viele Schwierigkeiten des Arbeitsfeldes wirklich neue Lösungen finden. SozialarbeiterInnen/SozialpädagogInnen sind – nach einer Formulierung von Rosenfeld (vgl. Achter Jugendbericht, S. 169) „‘soziale Erfinder’ von sozialen Problemlösungen unter schwierigen gesellschaftlichen Bedingungen“. Dies gilt in unserem Arbeitsfeld in besonderem Maße. Dazu bedarf es hauptsächlich zweierlei: Zunächst eines selbstkritischen und reflektierten pädagogischen Verhaltens, das vermeidet, Illusionen zu schaffen und dennoch versucht, Freiräume zu erkämpfen, das wirkliches Interesse an den Jugendlichen entwickelt und doch professionelle 34 Distanz aufrechterhält und das auch öffentlich für sie Stellung bezieht, ohne sich im politischen Terrain zu verfangen. Ausserdem müssen wir nicht nur zu einer Haltung des Respekts gegenüber Anderen erziehen, wie es die interkulturelle Pädagogik fordert, sondern wir müssen eine Haltung des Respekts gegenüber den Kindern und Jugendlichen zu allererst selbst einnehmen. Dies erfordert Offenheit gegenüber Uneindeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten, es bedeutet, Neugier zu bewahren gegenüber dem Heterogenen und nicht Zusammenfügbaren; es erfordert, sich immer wieder neu um Verstehen zu bemühen und schließlich die Fähigkeit, andere Einstellungen, Erfahrungen und Orientierungssysteme anzuerkennen, ohne Ambivalenzen einzuebnen. Hierzu bedarf es mit Sicherheit auch der Unterstützung von hier lebenden MigrantInnen. Kinderflüchtlinge haben individuelle Schicksale, aber ihre Migration ist auch Ausdruck einer Globalisierung gesellschaftlicher Problemlagen, die letztlich nur in der Perspektive eines weltweiten Problembewußtseins gemeinsam angegangen werden können. In diesem Sinne betont Auernheimer (1996, S. 245): „Wichtig wären Toleranz, Neugier, Interesse füreinander, die Bereitschaft voneinander zu lernen, und die Fähigkeit, sich produktiv auseinanderzusetzen. Es ginge um die gemeinsame Kontrolle der gesellschaftlichen Entwicklung“. Für eine solche internationale Perspektive wären Kinderflüchtlinge mit ihrer Kenntnis verschiedener Teilwelten, mit den Stärken und Erfahrungen, die sie mitbringen, prädestiniert. Sie haben zwar schwer an ihren Erfahrungen zu tragen, aber sie sind auch äußerst motiviert. Viele ihrer Probleme werden von der Aussichtslosigkeit und Ausgrenzung im Zufluchtsland verursacht, und ließen sich lösen, wenn das Zufluchtsland sich entschließen könnte, zum Gastland für Kinderflüchtlinge im Sinne des Kindeswohls S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N zu werden. Literatur Zitierte Literatur: Achter Jugendbericht: Bericht über Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe. Hrsg. von dem Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Bonn 1990. ronto, Seattle 1993. Zehnter Jugendbericht: Bericht über die Lebenssituation von Kindern und die Leistungen der Kinderhilfen in Deutschland. Hrsg. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Bonn 1998. Tips zum Weiterlesen: Auernheimer, Georg: Einführung in die interkulturelle Pädagogik. Darmstadt 1996. Institut für berufliche Bildung und Weiterbildung e.V. (ibbw) (Hg.): Arbeitshilfen für die Beratung von Flüchtlingen. Fernlehrgang. ‘Themen – Lehrbriefe’ Bezug: ibbw, Weender Landstr. 6, 37073 Göttingen. Becker, David: Prüfstempel PTSD – Einwände gegen das herrschende ‘Trauma’-Konzept. In: medico international (1997), S. 25-48. Pax Christi, Asyl in der Kirche e.V., Internationale Liga für Menschenrechte (Hg.): Ausländische Kinder allein in Berlin. Berlin 1998. Erhältlich bei Pax Christi Berlin. Blandow, Jürgen: Über Erziehungshilfekarrieren. Stricke und Fallen der postmodernen Jugendhilfe. In: Jahrbuch der Sozialen Arbeit 1997, S. 172-188. Münster 1997. Peltzer, Karl/Aycha, Abduljawad/Bittenbinder, Elise (Hg.): Gewalt & Trauma. Psychopathologie und Behandlung im Kontext von Flüchtlingen und Opfern organisierter Gewalt. Frankfurt/Main 1995. Combe, Arno/Helsper, Werner: Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt 1997. Pfleiderer, Beatrix/Greifeld, Katarina/Bichmann, Wolfgang: Ritual und Heilung. Eine Einführung in die Ethnomedizin. Berlin, 2. vollst. überarbeitete und erweitere Neuauflage 1994. Dawes, Andy/Honwana Alcinda: Kulturelle Konstruktionen von kindlichem Leid. In: Medico International (1997), S. 57-67. Fischer, Gottfried/Riedesser, Peter: Lehrbuch der Psychotraumatologie. München, Basel 1998. Giesecke, Hermann: Pädagogik als Beruf. Grundformen pädagogischen Handelns. Weinheim, München 1997. Psychosoziales Zentrum für ausländische Flüchtlinge Düsseldorf (Hg.): Kindheit und Exil. Zur psychosozialen Situation und Therapie minderjähriger Flüchtlinge. Düsseldorf 1992 [Broschüre]. Erhältlich beim PSZ Düsseldorf. Quekelberghe, Renaud van: Klinische Ethnopsychologie. Heidelberg 1991. Kunstreich, Timm: Grundkurs Soziale Arbeit. Sieben Blicke auf Geschichte und Gegenwart Sozialer Arbeit. Band I. Hamburg 1998. Stroux, Marily/Dohrn, Reimer: Blinde Passagiere: es ist leichter, in den Himmel zu kommen als nach Europa. Frankfurt/Main 1998. Kunstreich, Timm: Grundkurs Soziale Arbeit. Sieben Blicke auf Geschichte und Gegenwart Sozialer Arbeit. Band II. Hamburg 1998 a. Wirtgen, Waltraut (Hg.): Trauma – Wahrnehmen des Unsagbaren. Heidelberg 1997. medico international (Hg.): Schnelle Eingreiftruppe ‘Seele’: Auf dem Weg in die therapeutische Weltgesellschaft; Texte für eine kritische ‘Trauma-Arbeit’. Frankfurt a. M. 1997. Oevermann, Ulrich: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns. In: Combe/Helsper (1997), S. 70-182. Zentrale Dokumentationsstelle der Freien Wohlfahrtspflege für Flüchtlinge e.V. (ZDWF) (Hg.): Ratgeber – soziale Beratung von Asylbewerbern. Bonn, Siegburg 1997. Erhältlich bei der ZDWF. Rüdiger Hänlein, Karoline Korring, Sebastian Schwerdtfeger Schami, Rafik: Damals dort und heute hier. Freiburg/ Brg. 1998. Summerfield, Derek: Das Hilfsbusiness mit dem ‘Trauma’. In: medico international (1997), S. 9-24. Weltgesundheitsorganisation: Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F) Klinisch-diagnostische Leitlinien. Bern, Göttingen, To- 35 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN 1. Kindheit und Jugend in den Herkunftsländern Kinder der Dritten Welt – Handlungspotentiale und Überlebensstrategien1 Der Beitrag befaßt sich kritisch mit den hier vorherrschenden Vorstellungen von Kindheit bzw. Kindheit in der Dritten Welt, in der die Kinder selbst fast ausschließlich als bemitleidenswerte Geschöpfe, niemals aber als denkende und handelnde Personen in Erscheinung treten. Mit dieser ebenso eurozentristischen wie erwachsenenzentrierten Sicht werden die Kinder der Dritten Welt auf ein Schema reduziert, das ihnen keinen Raum läßt zur persönlichen Entfaltung und Selbstbestimmung. Der Autor plädiert für eine Anerkennung der Überlebensstrategien von Kindern, die auch ihre marginalen und illegalen (ökonomischen) Tätigkeiten umfaßt. Er wirbt um Verständnis gerade auch jener Kinder, die nicht ‚hilflos’ erscheinen, und begründet, warum die Unterstützung der Kinderbewegungen in der Dritten Welt ein verändertes partizipatorisches Verständnis von Kindern und Kindheit(en) – nicht zuletzt auch im Hinblick auf unsere Konzeptionen von Pädagogik und Sozialer Arbeit – fördern könnte. Im Mai 1998 hatte ich Gelegenheit, 5 Kinder – 3 Mädchen und 2 Jungen – aus Nicaragua auf einer Pressekonferenz in Berlin in einem aufschlußreichen Dialog mit deutschen JournalistInnen zu erleben. Sie 36 waren offenkundig verblüfft, wie selbstbewußt und eloquent diese zwischen 12 und 16 Jahre alten Kinder sich präsentierten und ihre Sache vertraten. Noch verblüffter aber waren sie, als die Kinder nicht nur berichteten, sie müßten arbeiten, um sich und ihre Familien am Leben zu erhalten, sondern daß sie dies auch gerne täten und darauf stolz seien. Auch von der aggressiv und ungeduldig vorgebrachten Frage einer offenbar genervten Journalistin: „Ja, und wenn deine Mutter allein genug Geld nach Hause brächte, da würdest Du doch wohl froh sein, nicht mehr arbeiten zu müssen?“ ließ sich das angesprochene 12-jährige Mädchen keineswegs beirren: „Wieso denn?“, sagte sie, „Selbst etwas zu verdienen macht mich doch stolz. Ich lerne, mit Geld umzugehen. Es bringt mir Unabhängigkeit.“ Auch die anderen Kinder betonten unisono, daß sie das Recht hätten zu arbeiten wie erwachsene Menschen auch. Natürlich würden sie sich nicht alles gefallen lassen, sie würden sich wehren, wenn sie schlecht behandelt würden. Sie bestünden darauf, daß man sie respektiere und nicht ihre Würde verletze. Auch wollten sie selbst bestimmen können, was und wie sie arbeiten. Und spielen und zur Schule gehen wollten sie auch. Wenn es ihren Familien mal besser ginge, hätten sie hierzu auch mehr Möglichkeiten. Sie könnten sich auch eher bessere Arbeiten aussuchen und müßten nicht mehr jede Drecks- H A N D L U N G S P O T E N T I A L E U N D Ü B E R L E B E N S S T R AT E G I E N arbeit machen. Aber mit der Arbeit aufhören, nein, da wären sie ja ganz schön blöd ... Wie viele andere Menschen hierzulande waren die JournalistInnen offenbar tief durchdrungen von Vorstellungen von Kindheit, die konträr stehen zu dem, was die Kinder aus Nicaragua von sich erzählten. Nach diesen bei uns dominierenden Vorstellungen soll ein Kind spielen und, wenn es alt genug ist, die Schule besuchen. Aber arbeiten? Nein! Das würde einem Kind ja die Kindheit rauben. Ein Kind brauche Schutz, Fürsorge, Liebe, bis zu einem gewissen Grad auch einen Freiraum, wo es sich spielend erproben und kennenlernen könne, aber der ‚Ernst des Lebens’, der komme noch früh genug, damit sollten Kinder noch nichts zu tun haben. Sie sollten erst gefordert werden, wenn sie reif seien. Und das zu entscheiden, sei Sache der Erwachsenen; sie gelten als zuständig für das Wohl des Kindes. Wie am Beispiel der Pressekonferenz deutlich wurde, versperren die hier dominierenden Vorstellungen von Kindheit den Blick auf die Realität der weitaus meisten Kinder der Dritten Welt. Unter Realität verstehe ich nicht nur die Lebenslagen der Kinder, sondern auch, wie sie selbst diese erleben, beurteilen und in ihrem Alltag damit umgehen. Ich nenne das bei uns vorherrschende Kindheitsmuster eurozentristisch, da es unter spezifischen historischen Voraussetzungen in den letzten 300 Jahren in Europa entstanden ist, aber mit dem Anspruch auftritt, universelle Gültigkeit für alle Regionen dieser Erde zu haben und mit Macht durchzusetzen versucht wird. Dies hat zur Folge, daß Kindheitsverläufe, die nicht dem europäischen – im Kern bürgerlichen – Muster entsprechen, negativ bewertet und als unzeitgemäß, rückschrittlich oder gar barbarisch und unzivilisiert etikettiert werden. Wenn z. B. mit Blick auf die Dritte Welt von ‚Kindern oh- ne Kindheit’ gesprochen wird, mag das gut gemeint sein, es bedeutet aber, von vornherein auszuschließen, daß Kindheiten auch anders verlaufen könnten, als uns üblich oder wünschenswert erscheint. Aus eurozentristischer Perspektive erscheinen Kindheitsverläufe in der Dritten Welt, gemessen am europäischen Vorbild, als ausschließlich defizitär und bemitleidenswert. Diese arrogante Sichtweise wird mit Blick auf Kindheiten in der Dritten Welt noch dadurch negativ verstärkt, daß sie nicht nur eurozentristisch, sondern auch erwachsenenzentristisch ist. Sie idealisiert zwar die Kindheit als die schönste Zeit des Lebens, läßt den Kindern aber wenig Möglichkeiten, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Schon gar nicht ist vorgesehen, daß Kinder eine wichtige und verantwortliche Rolle im Leben der Gesellschaft spielen ( Jugend). Es soll ihnen gut gehen, doch was ‚gut’ ist, das behalten sich die Erwachsenen vor zu entscheiden. Kinder gelten in erster Linie als Investition in die Zukunft. Ihr Leben wird programmiert mit dem Ziel, später das ökonomische Wachstum zu beflügeln und den Wohlstand zu sichern. Daran wird ihre Gegenwart gemessen, nicht an dem, was die Kinder selbst aus und in ihrer Gegenwart machen oder machen wollen. Solange sie Kinder sind, werden sie nicht als kompetente, sondern als bedürftige Wesen betrachtet. Wie Alexandra König (1998) auf eindrucksvolle Weise belegt hat, bestimmen solche Vorstellungen von Kindheit das Selbstverständnis und Handeln auch der weitaus meisten deutschen Kinderhilfsorganisationen und des UN-Kinderhilfswerks (UNICEF). Deren Broschüren, Faltblätter und Spendenaufrufe sind voll von Daten und Darstellungen, die die Situation der Kinder in der Dritten Welt als eine einzige Manifestation des Elends erscheinen lassen. Sie machen darauf aufmerksam, 37 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN daß unzählige Kinder in extremer Armut leben müssen, daß sie unter meist unmenschlichen Bedingungen arbeiten, daß sie unter Kriegen und Umweltzerstörungen leiden, daß sie die Schule nicht besuchen können, daß sie Gewalt und Mißhandlungen ausgesetzt sind, daß sie vom Land in die Städte oder gar in andere Länder fliehen müssen, daß sie hungern – und unter elenden Bedingungen sterben. All dies ist wahr. Und mir geht es auch nicht darum, diese traurigen und empörenden Realitäten negieren zu wollen. Im Gegenteil. Ich halte es für wichtig, sie in aller Klarheit und so anschaulich wie möglich zu benennen und dabei auch, was oft versäumt wird, auf die globalen Ursachen aufmerksam zu machen und damit auch unsere Mitverantwortung anzusprechen. Was ich allerdings für fatal halte und wogegen ich mich wende, ist die Art und Weise, in der die Realität der Kinder verzerrt wird. Die Kinder kommen nur als bedauernswerte Opfer vor, die unser Mitleid verdienen, nicht aber als denkende und handelnde Personen, die unsere PartnerInnen sein könnten. Wenn gar suggeriert wird, das Elend der Kinder kulminiere darin, daß sie keine Kindheit in dem üblichen Sinne hätten, dann vermittelt dies ein sehr schiefes Bild der Realität der Kinder und wird vor allem dem, was diese Kinder bewegt und ihnen wichtig ist, nicht gerecht. Ich sehe ein Problem darin, von den Kindern der Dritten Welt zu sprechen. Ihre Situation weist von Land zu Land, von Region zu Region, von Land zu Stadt, ob Jungen oder Mädchen etc., immense Unterschiede auf ( Politik und Literatur, Religion, Ethnizität, Gender). Ich will mich daher, um wenigstens ein Minimum an Gemeinsamkeiten zu gewährleisten, auf die Kinder konzentrieren, die von UNICEF als ‚Kinder in Überlebensstrategien’ definiert werden. Darunter werden arbeitende Kinder und sog. 38 Straßenkinder subsumiert, die „marginalen Tätigkeiten der Einkommensbeschaffung“ (UNICEF) nachgehen. Diese Kinder haben eine wesentliche Gemeinsamkeit darin, daß sie nicht damit rechnen können, von anderen versorgt zu werden. Ihre Familien, sofern sie überhaupt noch für sie existieren ( Familie), leben in der Regel in großer Armut. Die Kinder sind meist schon von ihrem 9. oder 10. Lebensjahr an, auf dem Land mitunter noch früher, darauf angewiesen, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Nicht selten sind sie die einzige Einkommensquelle ihrer Familie, oder sie sind, vor allem im Falle der Mädchen, allein für den Haushalt und die Betreuung der jüngeren Geschwister verantwortlich, um so ihrer Mutter zu ermöglichen, außerhalb des Hauses einer bezahlten Arbeit nachzugehen oder landwirtschaftlich tätig zu sein. Die Situation dieser Kinder ist oft sehr belastend und überfordert nicht selten ihre Kräfte. Ich habe mich immer wieder gefragt, was gleichwohl die meisten Kinder befähigt und dazu bringt, in dieser schwierigen Situation nicht den Mut und die Lust zum Leben zu verlieren, und woher sie die Kraft nehmen, täglich aufs neue ihre Situation zu bewältigen und nach Auswegen zu suchen ( Bewältigung). Ich bin darauf gestoßen, daß die Kinder ihren Lebensmut, je nach Situation, vor allem aus dem Gefühl schöpfen, – gebraucht zu werden, etwas Nützliches und Notwendiges zu tun, ihren Familien zu helfen und dafür Anerkennung zu finden; – sich mit anderen Kindern gemeinsam die Situation erleichtern zu können, zu entlasten, sich nicht ohnmächtig zu fühlen, wobei oft auch eine Rolle spielt, daß sie von Erwachsenen bzw. pädagogischen Projekten unterstützt werden, die sie als Subjekte mit eigenem Willen und Fähigkeiten ernst nehmen. Im Laufe der Jahre, die ich mit Kindern H A N D L U N G S P O T E N T I A L E U N D Ü B E R L E B E N S S T R AT E G I E N vor allem in Lateinamerika verbracht habe, wurde mir deutlich, daß die weitaus meisten dieser Kinder nicht ein Problem darin sehen, für den Lebensunterhalt arbeiten zu müssen, sondern, daß sie oft gezwungen werden, unter unwürdigen und ausbeuterischen Bedingungen zu arbeiten und – was nicht minder wichtig ist – daß ihre lebenserhaltenden Tätigkeiten nicht als Arbeit anerkannt und sie, wenn sie ihrem Lebensunterhalt auf der Straße nachgehen, diskriminiert und bedroht werden. Ich will den Versuch unternehmen, zu begründen, warum die Anerkennung arbeitender Kinder ‚in Überlebensstrategien’ auch die sog. marginalen oder illegalen Tätigkeiten und somit auch die Tätigkeiten von sogenannten Straßenkindern einbeziehen muß. Den marginalen Tätigkeiten wird die Anerkennung als Arbeit vor allem mit der Begründung verweigert, daß sie im Unterschied zu (ehrlicher) Arbeit der Sphäre der Delinquenz angehören, sei es, weil sie gegen bestehende Gesetze verstossen, sei es, weil sie ‚mangelhaft’ oder ‚sozial schädlich’ seien. Egal, ob die Begründung eher auf legalistische oder auf moralische Kategorien zurückgreift, sie wird der spezifischen Wirklichkeit der Arbeit von Kindern nicht gerecht ( Arbeit). Die Unterscheidung von legalen und illegalen Tätigkeiten ist bei Kindern zumindest aus drei Gründen fragwürdig: 1. Bis zu einer bestimmten Altersstufe ist jede Form von Kinderarbeit verboten, also illegal. 2. Die Strafgesetze, die es rechtfertigen, von delinquenten im Unterschied zu nicht-delinquenten Tätigkeiten zu sprechen, gelten für Kinder nicht. 3. Da Kindern i.d.R. der legale Zugang zu Erwerbsarbeit verwehrt ist und sie unter Bedingungen oder zu einem Verdienst arbeiten müssen, der zum Leben nicht ausreicht, bleibt ihnen häufig nichts anderes übrig, als auf geächtete Tätigkeiten auszuweichen. Wer bei den Überlebensstrategien von Kindern Arbeit und marginale Tätigkeiten einander gegenüberstellt, übersieht, daß das Lebens- und Handlungsfeld der Kinder insgesamt marginalisiert ist und die Kinder je nach Situation mal die eine, mal die andere Tätigkeit ausüben, oft sogar mehrere auf einmal. Durchaus üblich ist es, daß z. B. ein Junge, der auf dem Parkplatz Autos bewacht, sein Einkommen mit kleineren Diebstählen aufbessert. Gerade weil die Arbeit von Kindern im vorherrschenden Bewußtsein generell geächtet ist, bestenfalls geduldet, andererseits aber skrupellos in Anspruch genommen wird, kann sich bei den Kindern keine strukturierte Arbeitssphäre mit allgemein anerkannten Regeln entwickeln. „Alles unterliegt raschen Veränderungen, kann sich täglich sowohl im positiven als auch im negativen Sinne wandeln.“ (Schimmel 1993, S. 79) Nehmen wir als Beispiel die städtische informelle Ökonomie, in der nicht nur der größte Teil der Kinder Arbeit findet, sondern auch den sogenannten marginalen Tätigkeiten nachgeht. Wie die Kinder hier tätig werden, um zu überleben, richtet sich nicht nach festliegenden Regeln, Gesetzen oder Berufsbildern, sondern allein nach den generell vorhandenen Bedingungen. Nicht wenige Tätigkeiten werden erst durch die Kinder selbst erfunden. „Wer am Rande der Großstadt an einem der Müllberge lebt, wird unter Umständen Glas- oder Metallsammler oder versucht auf irgendeine andere Art, durch den Abfall der Stadt zu überleben. In barrios (Stadtvierteln), die weit weg von einem öffentlichen Wasserhahn liegen, wird man Wasserträger, und im dichten Großstadtverkehr nutzt man die Rotphasen an den Kreuzungen, um die Windschutzscheiben der Autos zu putzen. Wo sich überhaupt keine Arbeitsmöglichkeit bietet, wird sie manchmal geschaffen, z. B. indem die Kinder Hindernisse an den Ausfallstraßen 39 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN aufbauen, die sie gegen ein Entgelt wieder beseitigen.“ (ebd.) Selbst das Betteln, das als Inbegriff von Nicht-Arbeit oder gar Faulheit gilt, ist alles andere als eine bequeme Strategie des Überlebens, sondern in der Mehrzahl der Fälle letzter Ausweg. Unter den bettelnden Kindern, die ich kenne, habe ich keines getroffen, das sich aus freien Stücken dieser Art von Tätigkeit zuwandte. Im Normalfall wehren sich die Kinder, „so lange es irgend geht, gegen diese Arbeit oder versuchen sie durch im Prinzip sinnlose Tätigkeiten zu tarnen. Das flinke Scheibenwischen an Kreuzungen z. B., das dem Fahrer selten klare Sicht verschafft, dem Kind aber unter Umständen ein paar Pfennige, ist im Prinzip so eine verdeckte Form des Bettelns. Ähnliches gilt für das Bitten um Essensreste in Restaurants oder Imbißstuben, wofür als Gegenleistung erboten wird, die Teller, von denen die Reste gegessen wurden, zu spülen. Ein Angebot, auf das die Restaurantbesitzer sicherheitshalber meist verzichten, das aber den Kindern erspart, sich schämen zu müssen. Die älteren Kinder, denen es nicht mehr gelingt, sich durch diesen einfachen Trick zu beruhigen, greifen zu einer anderen Taktik. In kleinen Gruppen ziehen sie zu den Restaurants, gebärden sich, als wollten sie die Gäste stören, in der Hoffnung als Beschwichtigung einige Essensreste zu erhalten.“ (a.a.O., S. 94 f.) Das Betteln ist eine Überlebensstrategie, zu der die meisten Kinder nur greifen, wenn ihnen keine Alternative bleibt oder einfällt. Zu betteln ist ihnen unangenehm, und sie unternehmen alles Erdenkliche, um den Eindruck einer eigenen sichtbaren Aktivität oder Leistung zu erzeugen. Auch das Klauen oder die Prostitution ist fast immer der letzte Ausweg oder eine Tätigkeit, die andere Arbeiten, die ihre Existenz nicht sichern, ergänzt. Im Unterschied zum Betteln sind diese ‚margina40 len’ Tätigkeiten eine ‚aktive’ Überlebensstrategie. Sie sind zwar stärker noch als das Betteln sozial diskriminiert und mit hohen Risiken belastet, vermitteln den Kindern aber den Eindruck, selbst aktiv zu sein und tatsächlich etwas zu leisten. „Wenn man zu stehlen beginnt, fühlt man sich nicht mehr als Sklave“, sagen sie (vgl. Kothes 1993). Bei Diebstählen entwickeln viele Kinder eine beachtliche Geschicklichkeit, die, mit großem Einfallsreichtum gepaart, zu äusserst virtuos gestalteten Handlungen führen kann. „Vor allem die lanceros, die Taschendiebe, und die descuidistas, also jene, die für Verwirrung sorgen, um dann blitzschnell zuzugreifen, sind wahre Artisten. Letztere inszenieren zum Teil kleine Schauspiele, um eine günstige Gelegenheit zu schaffen: Sie spielen wüste Schlägereien (bei denen im Eifer des Gefechts manchmal auch wirklich zugeschlagen wird), sie wälzen sich in furchtbaren Kämpfen am Boden, mimen Betrunkene, die jeden Moment Gefahr laufen, in einen Marktstand hinein zu fallen, suchen laut weinend nach ihrer Mutter oder zetteln mit einem Marktstandbesitzer Streit an, damit ihre Kollegen an den Nachbarständen unbemerkt stehlen können“ (Schimmel 1993, S. 97). Wenn ich dafür plädiere, auch die sogenannten marginalen Tätigkeiten von Kindern als Arbeit zu begreifen und anzuerkennen, leugne ich nicht die physischen, psychischen und moralischen Risiken, die mit diesen Tätigkeiten verbunden sind. Auch bezwecke ich damit nicht, Diebstahl, Prostitution oder Betteln als lohnenswerte Aktivitäten zu preisen. Meine Überlegung ist vielmehr folgende: Die ‚marginalen’ Tätigkeiten sind ebenso eine Realität wie andere Formen von Kinderarbeit, und sie tragen ebenso wie diese dazu bei, vielen Kindern und ihren Familien das Überleben zu ermöglichen. Ebensowenig wie die, inzwischen von UNICEF und der Interna- H A N D L U N G S P O T E N T I A L E U N D Ü B E R L E B E N S S T R AT E G I E N tionalen Arbeitsorganisation (ILO) notgedrungen anerkannten, Formen von Kinderarbeit lassen sich die ‚marginalen’ Tätigkeiten durch Verbote, Diskriminierung oder Repression eindämmen. Im Gegenteil. Die Verbote tragen nur dazu bei, daß sich immer wieder neue Grauzonen entwickeln, in denen die Kinder nicht nur arbeiten, sondern ihre Arbeit auch noch leugnen und verbergen müssen. Dadurch wird es ihnen erheblich erschwert, den Anspruch auf ein Mindestmaß an Schutz, Regelung und Respekt vor ihren Bedürfnissen und Rechten einzufordern. Mein Plädoyer zielt darauf ab, Verständnis für jene Kinder zu entwickeln, die von ‚marginalen’ Tätigkeiten leben (müssen), und ihnen die Gewißheit zu geben, daß ihre Tätigkeit überlebenswichtig ist und positive Seiten hat. Dadurch soll es ihnen erleichtert werden, sich ihrerseits als – unter den herrschenden Umständen – Teil aller arbeitenden Kinder zu verstehen und sich gemeinsam mit ihnen für bessere Lebensbedingungen und Arbeitsregelungen einzusetzen, die dazu beitragen, die ‚marginalen’ Tätigkeiten ebenso wie andere Formen der Arbeit, die die Kinder unzumutbaren Risiken aussetzen, langfristig überflüssig machen. Neben dem ‚pädagogischen’ Argument hat mein Plädoyer eine logische Basis darin, daß die Arbeit von Kindern altersspezifische Bewertungsmaßstäbe erfordert, aus zwei Gründen: Die Arbeit von Kindern hat, selbst wenn sie der Arbeit von Erwachsenen ähnelt, für die Kinder andere Bedeutungen, und sie wird i.d.R. vorübergehend, d. h. nur im Kindesalter ausgeübt. Im Grunde wissen wir, daß ein 10jähriger Junge, der vom Klauen lebt, nicht im selben Sinne wie ein Erwachsener als Dieb oder ‚kriminelles Subjekt’ zu bezeichnen ist. Wer es für sinnvoll hält, die ‚normwidrigen’ Handlungen von Kindern (noch) nicht unter Strafe zu stellen, sollte auch bereit sein, die ‚marginalen’ Tätigkeiten als zeitweilige Notlösungen zu akzeptieren. Sie werden nur dann zur dauerhaften Lebensform, wenn es der Gesellschaft der Erwachsenen an Bereitschaft mangelt, den Kindern in ihrem weiteren Leben andere Auswege zu eröffnen und mit ihnen gemeinsam Alternativen zu entwickeln. Doch die Anerkennung der ‚marginalen’ Tätigkeiten als Arbeit ist nicht nur deshalb wichtig, weil den Kindern in der Situation der Not nichts anderes übrig bleibt, sondern auch, weil noch in den normwidrigsten und risikobeladensten Tätigkeiten selbst Elemente möglicher Alternativen enthalten sein können. Wer versucht, die Arbeit aus der Sicht der Kinder wahrzunehmen, wird feststellen, daß die Kinder in ihrer Arbeit nicht nur eine unausweichliche Notwendigkeit, eine Last oder gar ein zu erbringendes Opfer sehen, sondern immer auch eine Gelegenheit, sich zu erproben und neue Wege zu finden. Bloß ausführende Tätigkeiten sind ihnen meist zuwider, mögen sie noch so viel einbringen. Beinahe immer verknüpfen sie diese mit eigenen Einfällen und Initiativen. Die ‚marginalen’ Tätigkeiten sind für Kinder nicht nur deshalb attraktiv, weil sie ‚schnelles Geld’ versprechen (dies natürlich auch), sondern weil sie eigene Initiativen erfordern und in ihren Abläufen nicht rigide festgelegt sind. Die Kinder ziehen Tätigkeiten vor (so weit sie eine Wahlmöglichkeit haben), bei denen Arbeits- und Freizeit nicht strikt getrennt sind, oder sie suchen während der Arbeit nach Möglichkeiten, miteinander zu spielen und sich zu vergnügen. Kinder der Dritten Welt sind nicht nur sehr erfinderisch im Suchen und Finden von Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten, sie entwickeln auch Formen gegenseitiger Hilfe. Dies habe ich z. B. bei 13/14jährigen Kindern erlebt, die jahrelang vom Müllsammeln und dem Verwerten von Resten lebten. Sie haben sich eines Tages, unterstützt von ihren Müttern, zusammengetan, 41 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN um eine Musikgruppe zu bilden und auf diese Weise Geld zu verdienen. Als Instrumente griffen sie auf alle möglichen Dosen, Fässer und Gerümpel zurück, dessen sie habhaft werden konnten. Kaum ein Kind, das auf der Straße seinen Lebensunterhalt verdient, findet sich nicht mit anderen Kindern zusammen. Diese Spontancliquen haben meist den Zweck, sich besser vor Gefahren und schlechter Behandlung zu schützen, sich ein Dach über dem Kopf zu sichern und gemeinsam Spaß zu haben. Für Kinder, die keine Familie haben, werden die Cliquen zu einer Art Familienersatz, die ihnen das Gefühl vermitteln, nicht alleine zu sein und soziale Anerkennung zu finden. Nicht selten vermitteln diese Cliquen den Kindern die nötige psychische Stabilität, um ihr schwieriges Leben zu meistern (vgl. Liebel 1998). In einigen Ländern Lateinamerikas und Afrikas sind inzwischen sogar soziale Bewegungen von Kindern entstanden, die nicht auf einzelne Stadtviertel oder Strassenzüge begrenzt sind, sondern sich über das ganze Land erstrecken. Sie sind möglich geworden, weil das Leben der Kinder eingebettet ist in eine Alltagskultur, in der die Kinder schon früh Verantwortung für spezifische Aufgaben übernehmen und Anerkennung für ihre Leistungen finden. Eine ebenso wichtige Rolle spielt, daß in diesen Ländern Gruppen und Organisationen von Erwachsenen entstanden sind, die die Kinder auf ihre Rechte aufmerksam machen und sie dabei ermutigen und unterstützen, diese einzufordern ( Interessenvertretung). Oft geschieht dies im Rahmen pädagogischer Projekte, deren MitarbeiterInnen den Kindern mit Respekt begegnen und ihnen erleichtern, ihren eigenen Fähigkeiten und Handlungspotentialen zu vertrauen (vgl. Liebel 1994, 1997, Schibotto 1993). Die Kinderbewegungen entwickeln sich in Gestalt informeller Netzwerke, bei de42 nen nicht formelle Mitgliedschaft oder ein bestimmtes Programm, sondern gemeinsame Aktivitäten das verbindende Element sind. Die Aktivitäten umfassen ein breites Spektrum. Sie reichen von gemeinsamen Ausflügen und Sommerlagern (Zeltlagern), über Treffen und Workshops bis hin zu öffentlichen Manifestationen, Kampagnen und Protestaktionen. Charakteristisch für die Kinderbewegungen ist, daß sie sich nicht als ‚politische Kampfmaschinen’ entwickeln, die lediglich auf Disziplin und Strenge setzen, sondern daß es sich um eine Art Erlebnisgemeinschaften handelt, bei denen die ernsthafte und verbindliche Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten ihrer Lebenssituation verbunden ist mit spielerischen und vergnüglichen Aktivitäten. Die soziale Atmosphäre und die Kommunikationsformen auf den Treffen und in den Kindergruppen unterscheiden sich deutlich von Veranstaltungen und Zusammenschlüssen, bei denen Erwachsene den Ton angeben. Einmal ‚in Bewegung’ geraten, erweisen sich die Kinder als allergisch gegenüber autoritären Umgangsformen und hierarchischen Strukturen. Das gilt im Verhältnis zu Erwachsenen ebenso wie untereinander. In allen Ländern, in denen Bewegungen entstehen, gehört der Anspruch, respektiert zu werden und sich gegenseitig zu respektieren, zu den Grundelementen der sich organisierenden Kinder. Diskriminierende Verhaltensweisen von Jungen gegenüber Mädchen, von älteren gegenüber jüngeren Kindern, die den Alltag der Kinder prägen, werden in den Bewegungen selbst immer wieder in Frage gestellt. Auch wenn für viele Kinder die Rede von der Solidarität häufig ein Fremdwort ist, mit dem sie wenig anfangen können, ist die gegenseitige Hilfe und das Füreinander-einstehen eine Selbstverständlichkeit. Soweit in den Kinderbewegungen eher formelle Strukturen entstehen, werden sie H A N D L U N G S P O T E N T I A L E U N D Ü B E R L E B E N S S T R AT E G I E N flexibel gehandhabt und haben basisdemokratischen Charakter. Wahlen werden sehr ernst genommen und nicht als Formalität betrachtet. Wenn die Kinder ihre RepräsentantInnen oder ihre Leitungsgremien wählen, legen sie in aller Regel bestimmte Kriterien zugrunde, die für die Funktionsweise ihrer Organisation wesentlich sind und die egalitäre Beziehungen und Strukturen gewährleisten. Sie zeigen sich an Strukturen interessiert, die nicht nur repräsentativ, sondern auch partizipativ sind und der persönlichen Initiative und Einflußnahme Spielraum lassen. Die gewählten VertreterInnen werden häufig und freimütig kritisiert und an ihre Verpflichtungen erinnert. RepräsentantInnen, die die übernommenen Aufgaben nicht erfüllen, werden sehr rasch und ohne große Umstände durch andere ersetzt. Die sich organisierenden Kinder entwickeln sehr konkrete Vorstellungen davon, was in ihrem Leben anders und besser sein könnte. Um auf ihre Probleme aufmerksam zu machen, für ihre Rechte einzutreten und ihren Vorstellungen Nachdruck zu verleihen, erfinden sie eine Fülle von oft recht phantasievollen Aktionen. Die Kinder organisieren z. B. Kampagnen, machen Straßentheater, rücken MinisterInnen, BürgermeisterInnen und anderen ‚Autoritäten’ auf die Pelle, treffen sich mit JournalistInnen und machen eigene Zeitungen und Radioprogramme. Auf ihren Treffen erarbeiten sie konkrete Vorschläge, wie ihre Situation zu verbessern sei und setzen diese zum Teil auch selbst um. So haben sie z. B. örtliche Solidaritätsfonds geschaffen, um schwer kranken Kindern eine medizinische Behandlung zu ermöglichen, oder sie haben bei Schuldirektoren das Recht auf kostenlosen Schulbesuch durchgesetzt. Manchmal setzen sie auch LehrerInnen unter Druck, mit der diskriminierenden Behandlung der Kinder, die sich eine Schul- uniform nicht leisten können oder in geflickten Hosen oder ohne Schuhe zur Schule kommen, Schluß zu machen. In anderen Fällen sammeln sie Geld, um es besonders bedürftigen Kindern zu ermöglichen, sich Schulsachen zu kaufen. Mitunter haben die Initiativen der Kinder auch schon dazu beigetragen, ihre Lebenssituation und Erfahrungen als arbeitende Kinder im Unterricht ernster zu nehmen. Wenn Kinder sich organisieren, stellen sie früher oder später die bei vielen Erwachsenen verbreitete Haltung in Frage, über ‚ihre’ Kinder nach Gutdünken zu verfügen. Sie setzen sich beispielsweise öffentlich mit Eltern oder anderen Personen auseinander, die die Kinder nötigen, Dinge zu tun oder unter Bedingungen zu arbeiten, die ihre Würde verletzen oder ihre Gesundheit gefährden. Ein häufiger Anlaß der Kritik ist auch, wenn Eltern den freien Willen ihrer Kinder nicht respektieren und ihre Bewegungsfreiheit willkürlich beschränken. Nicht selten verwehren Eltern beispielsweise ihren Töchtern, sich an Treffen und Aktivitäten der Kinderbewegung zu beteiligen. In diesen Fällen müssen sie mit ‚Hausbesuchen’ anderer Kinder rechnen, die die Eltern daran erinnern, daß auch ihr Kind „Rechte hat“. Über diese Intervention sind die Eltern oft so perplex, daß sie nachgeben oder ihre Haltung überdenken. Eine bemerkenswerte Form der kollektiven Selbsthilfe, die seit einigen Jahren in Nicaragua und El Salvador praktiziert wird, ist die sog. Weihnachtsgeld-Kampagne. Kinder, die auf der Straße Zeitungen, Kaugummi etc. verkaufen, Schuhe putzen oder andere Dienste anbieten, erhöhen in den Wochen vor Weihnachten ihre Preise oder bitten um einen zusätzlichen Betrag. Auf Märkten mobilisieren die Kinder Händler und Marktfrauen für Patenschaften, oder sie veranstalten in ihren Stadtvierteln Solidaritätsfeste und Tombolas. Das ‚Weihnachtsgeld’ verstehen die 43 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN Kinder jedoch nicht als Almosen, sondern als Anerkennung für eine Arbeitsleistung. Häufig wird das Geld nach selbst gewählten und gemeinsam festgelegten Kriterien untereinander aufgeteilt. Manche Kinder übergeben das Geld ihren Müttern, andere kaufen davon Spielzeug oder Schulsachen oder legen sich davon einen eigenen Schuhputzkasten oder Bauchladen zu. Die in den Kinderbewegungen organisierten Mädchen und Jungen fordern ein Recht auf Arbeit und gleichzeitig Schutz vor extremer Ausbeutung, Mißhandlung und sexuellem Mißbrauch. Die Anerkennung ihrer Arbeit ist Voraussetzung für die Selbstachtung der Kinder und auch für die Entwicklung von Selbstbewußtsein und Solidarität untereinander. Durch das Zusammensein mit anderen Kindern und Erwachsenen, die sie darin unterstützen, erfahren sie häufig zum ersten Mal freundschaftliche solidarische Beziehungen. Auf ihren Treffen und Begegnungen, in Ferienlagern und Workshops können sie die Regeln weitgehend selbst bestimmen, nach denen sie leben und agieren. Sie lernen, den anderen zu respektieren und machen die befreiende Erfahrung, selbst respektiert zu werden. In den Kinderbewegungen ist die Auseinandersetzung mit ihrer Lebenssituation eng mit spielerischen und kulturellen Ausdrucksformen verwoben. Auf den von den Kindern organisierten Treffen werden Ideen, Wünsche und Forderungen freigesetzt, die unter den im Alltag der Kinder herrschenden Bedingungen schwerlich hätten entstehen können. Ihre Erfahrungen und Wünsche artikulieren die Kinder z. B. in Wandbildern, eigenen Liedern oder Theaterstücken. Mitunter veranstalten sie Festivals, Ausstellungen oder Karnevalsumzüge. Auf diese Weise sind im Laufe der Jahre Umrisse einer eigenen Kultur der arbeitenden Kinder entstanden, auf die diese mit Recht stolz sind. Ich habe die Realität der Kinder aus einer Perspektive dargestellt, die hierzulan44 de ungewohnt und gewiß nicht einfach nachzuvollziehen ist. Mir ging es nicht darum, ein neues Ideal von Kindheit zu konstruieren und den Eindruck zu vermitteln, Kinder der Dritten Welt hätten ihre Nöte und Gefährdungen bereits abgeschüttelt. Worauf es mir ankam war, darauf aufmerksam zu machen, daß es unter bestimmten Voraussetzungen Kindern selbst in extremen Notlagen gelingen kann, das Leben in die eigene Hand zu nehmen und Menschenwürde und Respekt für sich zu beanspruchen. Dies anzuerkennen bedeutet, den Kindern nicht länger mit einer Haltung fürsorglicher Wohltätigkeit zu begegnen, auf Hierarchien im Umgang mit ihnen zu verzichten und ihre weitestgehende Partizipation in der Gesellschaft zu akzeptieren und zu fördern. Es bedeutet aber auch, sich der eigenen Kindheit nochmals zu versichern und die Verhältnisse und Behinderungen, die diese Kindheit geprägt haben, kritisch zu hinterfragen. Die Art und Weise, wie Kinder der Dritten Welt sich mit ihren Lebenssituationen auseinandersetzen, könnte für unser Verständnis von Kindheit und unsere Konzeption von Pädagogik und Sozialer Arbeit durchaus lehrreich sein. In dem, was sich als ‚andere Kindheit’ in der Dritten Welt abzeichnet, scheinen mir vor allem drei Aspekte wichtig zu sein: 1. Kindsein muß nicht heißen, beschütztes und versorgtes Objekt des Wohlwollens Erwachsener zu sein, sondern kann bedeuten, ein ökonomisches und soziales Subjekt zu sein, das Kompetenzen für gesellschaftliche Verantwortung besitzt. 2. Kindsein muß nicht heißen, getrennt und marginalisiert von der Gesellschaft zu existieren, sondern kann bedeuten, in der Gesellschaft zu partizipieren und eine aktive Rolle zu spielen. 3. Kindsein muß nicht heißen, auf eine in den Händen älterer Generationen liegende Zukunft zu warten, sondern H A N D L U N G S P O T E N T I A L E U N D Ü B E R L E B E N S S T R AT E G I E N kann bedeuten, bereits als Kind eine menschenwürdige und lebenswerte Gegenwart zu beanspruchen. Eine so verstandene ‚andere Kindheit’ ist auch in der Dritten Welt noch lange nicht allgemeine Realität, da auch hier weiterhin paternalistische Strukturen dominieren und die dortigen – in Abhängigkeit und Armut gehaltenen – Gesellschaften nur mühsam existieren können. Aber eine ‚andere Kindheit’ ließe sich als implizite Botschaft aus den realisierten Handlungspotentialen und Überlebensstrategien der Kinder selbst entschlüsseln ( Ressourcen). Dies könnte durchaus auch Relevanz haben für den Umgang mit Kinderflüchtlingen hier. Ich greife nur drei Aspekte heraus: Bevor die Kinder und Jugendlichen zu uns flüchten, haben sie in der Regel bereits gelernt, ökonomisch und sozial wichtige Aufgaben zu erfüllen und eine gewisse Selbständigkeit zu erlangen. Ihre kulturelle Erfahrung ist die, nicht einfach versorgt zu werden, sondern im Leben früh Verantwortung zu übernehmen. Was sie erfahren und gelernt haben, wird bei uns jedoch nicht gefragt und aufgegriffen, sondern negiert und entwertet. Schule bedeutet für die zu uns geflüchteten Kinder und Jugendlichen nicht einfach, bessere Bildungsmöglichkeiten zu haben, sondern sie sehen sich in der Schule auch in einen Zustand versetzt, der sie erneut unselbständig, eben zu ‘Kindern’ im bei uns dominierenden Verständnis macht. Ihre meist positive Wertschätzung (körperlicher) Arbeit sollte ernst genommen und mit eigenen Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten verknüpft werden. Auch die hierzulande übliche ‚Freizeit’ mit ihrer Beliebigkeit und Konsumorientierung ist den zu uns geflüchteten Kindern und Jugendlichen fremd. Nicht nur, weil sie in der Regel nicht über die materiellen Ressourcen verfügen, die sie bräuch- ten, um diese Freizeit zu goutieren. Ihren Lebenserfahrungen und wohl auch Wünschen käme entgegen, Betätigungsmöglichkeiten zu finden, die ihnen das Gefühl vermitteln, anerkannte und nützliche Mitglieder dieser Gesellschaft zu sein. Anmerkung 1 Dieser Beitrag wurde auf der Fachtagung von Netzwerk und ISA im September 1998 in Hamburg als Vortrag gehalten. Daraus resultiert auch der besondere Vortragsstil des Beitrags. Literatur König, Alexandra: Bedürftige oder kompetente Kinder? Zur Kritik der Kampagnen des Kinderschutzes aus der „Ersten Welt“, in: M. Liebel/B. Overwien/A. Recknagel (Hg.): Arbeitende Kinder stärken. Plädoyers für einen subjektorientierten Umgang mit Kinderarbeit., Frankfurt/M. 1998, S. 173 ff. Kothes, Christoph: Ein Leben auf der Straße. Unterdrückte Kindheit. In: Christliche Initiative Romero (Hg.): Unser Leben ist kein Spiel. Straßenkinder in Lateinamerika. Münster 1993, S. 4 ff. Liebel, Manfred: Wir sind die Gegenwart. Kinderarbeit und Kinderbewegungen in Lateinamerika. Frankfurt/ Main 1994 Ders.: Kinderrechte und Kinderbewegungen in Lateinamerika, in: Neue Praxis, 27. Jg., H. 2/1997, S. 117 ff. Ders.: „Straßenkinder“ – soziale Subjekte mit gemeinsamen Interessen? In: Institut für soziale Arbeit (Hg.): 5 Jahre „Straßenkinder“ im Blick von Forschung und Praxis – eine Zusammenschau, Münster 1998, S. 73 ff. Schibotto, Giangi: Unsichtbare Kindheit. Kinder in der informellen Ökonomie, Frankfurt/M. 1993 Schimmel, Kerstin: Straßenkinder in Bolivien. Darstellung und Problematisierung vorhandener Betreuungsangebote unter besonderer Berücksichtigung der Lebensbedingungen der Straßenkinder in Cochabamba. Diss. an der Pädagogischen Hochschule Flensburg, Flensburg 1993 Manfred Liebel 45 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN Kindersoldaten Im folgenden Artikel sollen die Auswirkungen von Kriegsereignissen, aber auch einige (zum Teil gescheiterte) Versuche zur psycho-sozialen Reintegration am Beispiel eines ehemaligen Kindersoldaten aufgezeigt werden, die im Falle des jugendlichen Carlos schließlich zur Emigration führten. des Gungunhane setzten Kinder als Krieger ein. Schon bei Shakespeare erzürnt sich Llewellyn in „Heinrich V.“ nach der Schlacht von Agincourt darüber, daß die Franzosen Jungen getötet hätten, die der englischen Armee als Waffenträger dienten. 2. Carlos – Ein Kindersoldat „Ein alter Mann und ein Junge gehen die Straße entlang. Sie folgen ihr gleichförmig trottend als wäre dies von Geburt an ihre einzige Aufgabe gewesen, vom nirgendwo zum irgendwo, stetig in Erwartung des kommenden, niemals ankommend, on the road.“ (Mia Couto:“Terra sonámbula“, S.9) 1. Einleitung Die genaue Zahl der Kindersoldaten auf der Welt ist unbekannt. Einige Statistiken sprechen allein für das Jahr 1988 von 200.000. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es weltweit 150 größere und 400 kleinere Kriege, fast alle auf den Territorien der Entwicklungsländer. In den achtziger Jahren wurde die Zahl der Zivilopfer bei kriegerischen Auseinandersetzungen auf 85 % geschätzt (Werning 1998). Auf das auslaufende 20. Jahrhundert zurückblickend wurde konstatiert, daß dies anfänglich von FortschrittsoptimistInnen als „Jahrhundert der Kinder“ proklamierte, für Millionen Kinder unwiderruflich zu einem Jahrhundert des Leidens und Elends wurde (Fischer/Riedesser 1998). In der Geschichte der Menschheit gibt es verschiedene Hinweise auf den Einsatz von Kindern als Krieger, Soldaten, Waffenträger, Spione. Verschiedenste Autoren wie Aries (1962), Hietamen (1983), Garbarino und Kostelyn (1993) – vgl. auch Straker 1998 – beschreiben diese Praktiken sowohl für Afrika als auch Europa. Die Heere der Zulus unter Shaka, auch die 46 Der Darstellung des folgenden Fallbeispiels liegen Aufzeichnungen zugrunde, die als Ergebnis einiger psychotherapeutischen Sitzungen mit einem ehemaligen Kindersoldaten zustande kamen. Sie ist eine Zusammenstellung einiger sehr kurzer Teile der Sitzungen sowie seiner eigenen Darstellungen. Zum besseren Verständnis werden des weiteren einige rückblickende Überlegungen angestellt. Carlos Leben ist zunächst geprägt von einer glücklichen, frühen Kindheit. Er wird in einem Dorf 300 km nördlich Maputos, der Hauptstadt Mosambiks, geboren. Sein Vater hat drei Frauen und elf Kinder. Carlos ist Erstgeborener der ersten Frau des Vaters. Bei seiner Geburt erhält er seinen traditionellen Namen, den seines Großvaters Kochana. Dieser Name wird ihm bei einer Zeremonie, nach Deutung des Orakels ‘Tilholo’ durch den Heiler des Dorfes verliehen, gemäß dem darin vom verstorbenen Großvater geäußerten Wunsch. Im Süden Mosambiks ist die Weitergabe eines Namens an ein Kind traditionell von äußerster Wichtigkeit, da so symbolisch eine Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten hergestellt wird. Das Kind, das den Namen eines Ahnen erhält, wird nun durch ihn beschützt und in gewisser Weiser lebt auch der Verstorbene im neuen Leben fort. Auch Carlos fühlt sich auf diese Weise beschützt. Als Carlos 9 Jahre alt ist, wird sein Dorf Ziel eines Massakers, bei dem unzählige Menschen ums Leben kommen. Carlos sieht seinen Vater vor seinen Augen ster- K I N D E R S O L DAT E N ben. Er und seine drei Geschwister werden von den matsangas entführt. Gemeinsam mit einem Bruder kommt er in ein Militärlager. Die Schwester wird von den Soldaten ständig sexuell mißbraucht. Carlos weiß bis heute nicht, ob sie den Krieg überlebt hat. Von den anderen als Frau eines Soldaten anerkannt, könnte sie vielleicht am Leben geblieben sein. Carlos wird einer militärischen Ausbildung unterworfen, wird Soldat. Er kämpft 4 Jahre lang und weiß heute nicht mehr, wieviele Leben er auslöschte. Vor den Kämpfen trinken sie in Wasser aufgelöstes Schießpulver, um Mut zu bekommen. Stets behält er eine Kugel in seiner Hosentasche. Diese Kugel ist für ihn selbst bestimmt. Bei einem Angriff auf einen Autokonvoi wird er verwundet und von den Regierungstruppen gefangen genommen. Während der Verhöre wird er gefoltert und gezwungen, die Regierungssoldaten zu den Stützpunkten der Rebellen zu führen. Dabei gelingt es ihm eines Tages zu flüchten. Carlos ist nur nachts unterwegs, am Tage versteckt er sich. Von den Feldern stiehlt er sich etwas zu Essen. Es gelingt ihm so, nach dreitägiger Flucht die Grenze nach Südafrika zu überqueren. Er kommt dort in ein Flüchtlingslager. Nach dem Krieg kehrt er freiwillig, und ohne auf den offiziell von der UNHCR (United Nations High Commission for Refugees) für die Flüchtlinge organisierten Transport zu warten, nach Mosambik zurück. In der Hoffnung, die Fragmente seines Lebens wieder zusammenzusetzen, gelangt er in sein Dorf: „Ich wollte meine Geschwister wiedertreffen, wenn sie noch lebten. Ich wollte zu den Plätzen gehen, wo die Mitglieder meiner Familie umgekommen waren. Ich wollte die Hütten meiner Familie wiederaufbauen und wieder Ziegen aufziehen.“ ... Er will die Familie wieder zusammenführen und den Platz seines Vaters, seines Großvaters einnehmen. „Ich habe es satt, Flüchtling zu sein, zu essen ohne zu arbeiten.“... Inmitten des Chaos, das der Krieg hinterlassen hat, sucht Carlos nach Ordnung und Sicherheit. Doch zu dem Chaos, das ihn umgibt, kommt noch das, das in ihm herrscht. Während des Krieges hat er Erfahrungen gemacht, die seine schlimmsten Phantasien übertreffen. Als Vierzehnjähriger kehrt Carlos nun in sein Dorf zurück, um die Wirklichkeit auszutesten, denn er will nicht glauben, daß all seine Referenzpunkte, seine Großmutter, seine Eltern, seine Geschwister, die Nachbarn, die Hütten, die Plätze, an denen er spielte, seine Ziegen, daß all dies vernichtet sein soll. Carlos gelingt es jedoch nicht, die extremen Veränderungen in seiner Umwelt zu bewältigen. Dies führt zu einer Erschütterung der Wahrnehmung der äußeren Welt und – „als Begleiterscheinung – zu einer Erschütterung der Identität seines Selbst“ (Grinberg/Grinberg 1990). 2. Psycho-soziale Betreuung und Psychotherapie Das saftige Grün von Carlos Dorf hält zweierlei Bedrohungen verborgen: äußerlich Antipersonenminen, die alles zur Einöde werden lassen; innerlich ein Wiedererwachen von Carlos Verlusterleben. Er muß sich erneut dem Verlust seiner Eltern, der Familie, seiner Tiere, seiner Hütte etc. stellen. Schuldgefühle, seine Familie nicht beschützt zu haben, brechen in ihn hervor. Inhalte früherer entwicklungsphasenspezifischer Phantasien erleben eine Aktualisierung, besonders die seinem Vater gegenüber. Die Realität findet Anschluß an seine phasenspezifische, libidinöse und aggressive Phantasiewelt. Dadurch entsteht eine sog. maligne Verlötung von Innen- und Außenwelt, die seiner Rückehr und Reintegration entgegenwirkt (vgl. Riedesser u. a. 1998). 47 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN Carlos bezieht sich im therapeutischen Rückblick auf seine Kindheit auf das Karingana wa Karingana, ein Ritual, bei dem die Alten eine Nacht lang allen Anwesenden am Feuer Geschichten erzählen: „Ich habe gern da gesessen und den Geschichten gelauscht. Ich erinnere mich gut an alle diese Geschichten.“ Und Carlos beginnt, die Geschichte eines armen Jungen zu erzählen, der eine Prinzessin heiraten will. Und obwohl es der arme Junge in Carlos Geschichte schafft, dem König seine Intelligenz und Kreativität zu beweisen, die Rivalen schlägt und die Angebetete heiratet, ist in den Augen und dem Gesichtsausdruck von Carlos keine Befriedigung zu erkennen, sondern nur Traurigkeit und große Distanz zum Erzählten. Seine Haltung zeigt Passivität, Desillusion, Pessimismus und versteckte Kritik mir als Therapeut gegenüber: „Wozu soll das hier gut sein, Geschichten zu erzählen?“; Carlos glaubt nicht an die Zukunft. Ein Trauma wird in der Wissenschaft als „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten verstanden, das mit dem Gefühl von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ (Fischer/Riedesser 1988 ). Viele Kinder und Jugendliche, die in Kriegsgebieten leben, sind sogar einer Retraumatisierung ausgesetzt, d. h. sie leiden unter mehrfach wiederholten Psychotraumen, die die Widerstandsfähigkeit der Betroffenen schrittweise untergraben und somit besonders destruktiv auf die seelische Gesundheit wirken. Der amerikanische Psychologe Winnicott definiert ein Trauma als ein Erlebnis, welches die Kontinuität der individuellen Reifung und Entwicklung unterbricht. In der Therapie bieten beispielsweise Märchen die Möglichkeit, im Spiel traumatische Erlebnisse anschneiden zu können. Die Kinder erschaffen in 48 ihnen normalerweise eine enge Verbindung zu den durchlebten traumatischen Momenten, zu ihren Träumen, Vorstellungen und auch ihrem Selbstbild. Wir haben in unserer eigenen psychotherapeutischen Arbeit beobachtet, daß Kinder und Jugendliche dabei oft auf ihre früheren, positiven Erinnerungen zurückgreifen, daß sie trotz alledem noch Vertrauen in sich selbst haben, sich in ihren Geschichten mit den positiven Charakteren identifizieren und den Geschichten in den meisten Fällen ein positives Ende zuerkennen. Dies ist für uns immer ein positives Indiz dafür, daß sie noch über vielerlei beschützende Faktoren in sich verfügen. Carlos verläßt notgedrungen sein Heimatdorf und geht in das Dorf Mandhakaze, wo er in der Folgezeit in einem Kinderzentrum lebt. Das erste Ziel der psychosozialen Intervention besteht darin, ihm in einer ihm anscheinend feindlich gesinnten Welt ein Gefühl von Sicherheit und Routine zu verschaffen. Carlos beginnt die Schule zu besuchen, gibt aber bald wieder auf, da er mit 15 Jahren der Einzige inmitten Siebenjähriger ist. Obwohl er weder schreiben noch lesen kann, entspricht sein geistiger Entwicklungsstand dem eines 15jährigen Jugendlichen, wodurch er in der Klasse nicht gut angesehen ist. Die Schule bleibt nicht der geeignete Ort, seine individuellen Erfahrungen anbringen zu können. So läßt man ihn in eine Ausbildung als Tischler wechseln. Für Carlos und andere ehemalige Kindersoldaten ist es sehr wichtig, Modalitäten aufzubauen, um sich in die Zukunft hereinversetzt sehen zu können: Hoffnung schöpfen zu können, Erwartungen an die Zukunft zu haben, aus der passiven und pessimistischen Grundhaltung herauskommen zu können, um so wieder innere Freiheit zu gewinnen. Es gestattet außerdem ein Ende der Zensur, die ihnen während der Gefangenschaft als Soldat und/ oder Flüchtling untersagte, anders zu K I N D E R S O L DAT E N denken, als von der Umwelt diktiert wurde. Die TherapeutInnen, die SozialarbeiterInnen und die kommunalen Persönlichkeiten spielen in diesem Prozeß ebenfalls eine wichtige Rolle, da sie als positive Modelle fungieren, als Referenz für das geschwächte Ego der Kinder. Der durch den Krieg hervorgerufene ideologische Druck schuf Mechanismen zu einer Pseudoidentifizierung dieser Kinder in einer ‘Soldatenidentität’. Diese Pseudoidentifizierung schützt den Kindersoldaten davor, sich solche Fragen zu stellen wie: „Wer bin ich?“ und „Was will ich“? Diese Identifizierung liefert dem Soldaten eine bequeme Antwort, eine ‘prêt à porter- Identität’, die ihn vor unangenehmen Fragen zu seiner Zukunft und seiner Verantwortung für sein Handeln schützt. Das Bild, das die Therapeuten von Carlos und anderen Kindern gewinnen, trägt dazu bei, das Bild, das er selbst von sich gewonnen hat, zu korrigieren. In der Arbeit mit Carlos versuchen die Therapeuten, die Bruchstücke der Identifizierung, die er zugunsten der des Soldaten aufgegeben hat, herauszufinden (vgl. Efraime Jr. 1996). Carlos hat sein Selbstvertrauen, das in seine Eltern, Freunde und in die Gemeinschaft und – in Erweiterung dessen – in all diejenigen, die eine gewisse Autorität darstellen könnten, verloren. Während des Krieges hat er Erfahrungen sowohl als Opfer als auch erzwungenermassen als Täter gemacht, wobei es eine große Diskrepanz zwischen den bedrohenden Faktoren der erlebten Ereignisse und der Fähigkeit, diese Situation bewältigen zu können, gibt. Infolgedessen kommt es zu einem Gefühl großer Hilflosigkeit und Verlassenheit, zur Erschütterung des Selbstverständnisses und dem Verständnis der Welt. Das Ziel der psycho-sozialen Intervention besteht darin, Carlos einen sicheren Raum zu schaffen, ihn vor zusätzlichen traumatisierenden Faktoren zu schützen und ihm die Möglichkeit zur kognitiven Orientierung zu bieten, um ihn seinen möglichen Wahrnehmungsverzerrungen sowie deren Ausgestaltung mit individuellen Phantasien nicht allein zu überlassen (vgl. Fischer/Riedesser 1998). Dieses Ziel wird jedoch nicht erreicht: Carlos kann aufgrund seines Alters und aufgrund fehlender Bereitschaft seitens der Regierung, Klassen zur speziellen Förderung von Kindern und Jugendlichen einzurichten, die wegen des Krieges über Jahre hinweg die Schule nicht besuchen konnten, nicht in die Schule integriert werden; die Tischlerausbildung muß wegen fehlender Finanzierungsmöglichkeiten zur Weiterführung des Projekts abgebrochen werden und das Projekt zur Arbeit mit ehemaligen Kindersoldaten und -milizionären wird 1995 abgebrochen. Trotz allem schafft es Carlos als einer von wenigen Jugendlichen, einen Platz in einem Ausbildungszentrum in Maputo zu erhalten. Dieser Einschnitt bedeutet für ihn neuerlich einen Vertrauensbruch gegenüber seinem Therapeuten und den Erwachsenen im allgemeinen. Die Verbindung Klient/Therapeut wird zerbrochen. Trotzdem hat Carlos versucht, ein bißchen Würde wiederzuerlangen, was einhergeht mit der Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen. So will er gern in Manjacaze bleiben, verfügt jedoch allein nicht über die dazu notwendigen Mittel. Die einzige Hilfe, die ihm die Therapeuten zukommen lassen können, bedeutet jedoch von neuem eine Entwurzelung: ein Alternativplatz in der Stadt Maputo. Carlos reagiert darauf mit einer Depression, die mit einer extrem arroganten und selbstherrlichen Haltung gegenüber den anderen alterniert. In Maputo nimmt er sehr unregelmäßig an den Therapiesitzungen teil, bleibt zwar im Projekt, allerdings mit einem anderen Therapeuten. Bei den Therapiesitzungen taucht ein sehr wirkungsvollen Faktor auf. Es ist die Möglichkeit für Carlos, die Verbindung 49 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN mit einer ihm innewohnenden Person herzustellen, die ihn beschützen kann. Diese Person ist sein Großvater Kochana. Bei der Deutung der im Kontakt mit seinem Großvater durchlebten traumatischen Ereignisse sucht Carlos die Hilfe des Therapeuten, so bei Fragen wie „Liegt im Tod der Eltern eine Bedeutung?“; „Wie eine Bedeutung für Tod und Schmerz finden, den er erzwungener Weise verursachte?“; „Wo liegt der Sinn darin, daß er selbst nicht auch gestorben ist?“; Warum hatte er nicht den Mut, die Kugel, die er für sich selbst aufbewahrt hatte, auch zu nutzen und seinem Leid ein Ende zu machen?“; „Warum hat er es nicht geschafft, sich wieder an einem neuen Ort anzusiedeln und dauerhafte Freundschaften zu schließen, da immer, wenn er begann sich sicher zu fühlen, es einen ihm feindlich gegenüberstehenden Einschnitt gab?“ Durch die Therapie lernt Carlos wieder, das Leben zu lieben und wertzuschätzen. So hat ihn sein Großvater beschützt und ihm geholfen, weiterzuleben. Im Schutze seines Großvaters gelingt es Carlos, sich den Erinnerungen an seine Kindheit, dem Schmerz über die erlebten Verluste zu stellen. Carlos erkennt seine Unfähigkeit, seinem Vater zu helfen, ihm vor dem Tode zu beschützen als etwas von ihm Unbeeinflußbares an und kann so sein Schuldgefühl aufarbeiten. Zu dem Zeitpunkt, als wir mit ihm die Greueltaten aufarbeiten, die man ihn zwang, als Soldat zu begehen, und als er gerade anfängt, sich in seiner Position als Opfer zu erkennen, das zum Töten und Zerstören gezwungen worden war, erhält Carlos die folgenden drei Informationen: 1. Daß die Regierung die Wehrpflicht für alle Jugendlichen zwischen 18 und 23 Jahren wiedereinführt, unabhängig davon, ob sie schon als Kindersoldat dienen mußten oder nicht. Das bedeutet, daß Carlos wieder eingezogen werden würde! 50 2. Daß das Ausbildungszentrum, in dem er lebt und arbeitet durch fehlende Mittel und Fehlmanagement vor der Schließung steht, und er so kurz davor, wieder auf der Straße zu landen. 3. Daß sein Kunsttherapeut einen Studienplatz erhalten hat und das Land für fünf Jahre verlassen würde. Dies führt bei Carlos zu erhöhten Angstgefühlen. Er erzählt mir noch einmal die Geschichte aus dem Karingana wa Karingana, die des armen Jungen, der die Prinzessin heiraten möchte. Nur ist die Version jetzt eine andere: so schafft es der Junge trotz seiner Intelligenz, Hingabe und Kreativität nicht, die Rivalen zu besiegen. Immer wenn er glaubt, sie besiegt zu haben, erscheinen neue. Er erzählt mir diese Geschichte, als wäre sie einer seiner Träume gewesen. Ich verstehe nicht gleich ihre volle Bedeutung. Ich glaube schon daran, daß Carlos sich in eine Gasse ohne Ausweg gedrängt fühlt und keine Lösung für seine Probleme sieht. So bitte ich ihn, doch mit dem ihn beschützenden Großvater zu sprechen. Carlos schließt die Augen und bleibt so einige Zeit bewegungslos sitzen. Er berichtet mir jedoch nicht, was der Inhalt des Zwiegesprächs mit seinem Großvater ist. Am Ende der Sitzung, als ich mit ihm den nächsten Termin verabreden möchte, sagt mir Carlos, daß er nicht wisse, ob er wiederkäme. Er öffnet einen Umschlag und holt eine Munitionskugel hervor – seine Kugel –, drückt sie in meine Hand und holt auch ein blaues Dokument heraus und zeigt es mir: „Das ist mein Paß. Ich gehe nach Südafrika oder vielleicht in ein anderes reiches Land, wo ich gut leben kann, ohne Angst, jeden Morgen, beim Erwachen. ...“ 3. Kindersoldaten in Deutschland Die Zahl der ehemaligen Kindersoldaten, die in Deutschland leben, ist nicht bekannt. In Deutschland lebende Kinder- FA M I L I E soldaten haben zusätzlich zu den im Krieg erlebten traumatischen Erlebnissen unter solchen Belastungen wie Trennung, Entwurzelung und unsicherem Aufenthaltsstatus zu leiden. Sie tauchen auch nur dann in ambulanter therapeutischer Behandlung auf, wenn sie bereits eine „lärmende Symptomatik“ aufweisen. Bei der Anamneseerhebung ist es von großer Bedeutung, alle Belastungsfaktoren als eine Entwicklungslinie nachzuzeichnen, d. h. aus der Vorkriegszeit, den Erlebnissen während des Krieges, der Migration und des Lebens in Deutschland. Es muß erreicht werden, ihre Bedeutsamkeit für die Entstehung der Symptomatik und für die Therapie herauszuarbeiten. Oft wird aber die Anamneseerhebung von den Betroffenen als bedrohlich erlebt. Dies geht einerseits auf vorherige Erfahrung im Umgang mit Behörden zurück, anderseits auf Unverständnis der Rolle des Psychotherapeuten. Erst später, im Laufe der Therapie, bildet sich langsam der psychodynamische Hintergrund heraus und der Leidensdruck kann zum Thema werden (vgl. Walter 1998). Das therapeutische Konzept muß zunächst davon ausgehen, daß es für diese Kinder und Jugendlichen am wichtigsten ist, einen sicheren Raum zur Verfügung zu haben. Ohne sicheren Aufenthaltsstatus sind belastende Ereignisse kaum zu besprechen, und so bleiben diese Kinder und Jugendlichen ihren Wahrnehmungen und Phantasien meist allein überlassen. Oft sind Regressionen im Sinne von Verlieren bereits erlernter Fertigkeiten ein Bemühen, in der Hoffnung auf einen Neuanfang in den sicheren Hafen früherer prätraumatischer Entwicklungsphasen zurückzukehren. Regressionen können auch einen Hilferuf an die Umwelt bedeuten. Literatur Efraime Jr., B. (Hsg ): Assistencia Psico-Social às Vítimas da Guerra. Afya, 1996 Fischer, G./Riedesser, P.: Lehrbuch der Psychotraumatologie. Reinhardt. München/Basel 1998 Grinberg, L./Grinberg, R.: Psychoanalyse der Migration und des Exils. Verlag Internationale Psychoanalyse 1990 Herzog, J.: Übermittlung eines Holocaust Traumas an die zweite Generation. In: Psyche, 50 (6), 1996 Riedesser, P./Fischer, G./Schulte-Markwort, M.: Zur Entwicklungspsychologie und -pathologie des Traumas. In: Streeck-Fischer, A. (Hg.): Adoleszenz und Trauma. Vandenhoeck & Ruprecht 1998 Straker, G./Moosa, F.: Child Soldiers in South Africa: Past, Present and Future Perspectives. In: Children, War and Persecution – Rebuilding Hope 1998 Werning, R.: Children in Situations of Armed Conflict: Reflections on a Burning Issue. In: Children, War and Persecution – Rebuilding Hope 1988 Boia Efraime Junior Familie Im folgenden werden Kennzeichnungen unseres Familienbegriffs unter besonderer Berücksichtigung ethnologischer Forschungen dargestellt sowie ein kulturgeschichtlicher und sozioökonomischer Abriß über die Herausbildung patriarchaler Familienstrukturen und ihrer Gewaltverhältnisse vorgenommen. Sichtbar wird dadurch der Antagonismus von Familie und Kultur, virulent besonders in der Adoleszenz, und die Ungleichzeitigkeit von Tradition und Anpassung unter den Bedingungen von Migration. 1. Begriffsklärung Von Familie zu sprechen, ist erst sinnvoll, wenn es sich dabei nicht nur um Paare oder Gruppen von Erwachsenen handelt, 51 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN sondern auch Kinder einbezogen sind. Die kulturell unterschiedlichen Vorstellungen von der Zeugung und Erziehung von Kindern warfen denn auch diejenigen Fragen auf, die ein wissenschaftliches Interesse an Familie erst hervorgebracht haben. Daß es in allen Gesellschaftsformen familienartige Verbindungen gegeben habe, wird von den soziologischen, ethnologischen und historischen Forschungszweigen als zentrales Forschungsergebnis herausgestellt. Die Enzyklopädia Britanica definiert Familie daher wie folgt: eine Gruppe von Personen gebunden durch Heirat, Blutsbande oder Adoption in einem Haushalt lebend und untereinander gemäß ihren sozialen Positionen als Ehemann und -frau, Mutter und Vater, Sohn und Tochter, Bruder und Schwester interagierend. (Übersetzung J.C.) Familie ist nicht gleichzusetzen mit Haushalt, der beispielsweise auch Bedienstete umfassen kann, und nicht mit Verwandtschaft, die meist aufgeteilt in verschiedenen Haushalten lebt. Gemeinhin wird Familie nicht ohne verheiratetes Paar aufgefaßt, aber der Kern der Familie ist die Eltern-Kind Beziehung, die auch ohne eheliche Bindung existiert. In den meisten menschlichen Gesellschaften sind Kernfamilien, bestehend aus zwei Ehegatten und deren Kindern, miteinander zu größeren und komplexeren Aggregaten verbunden, wie die polygame Familie, die erweiterte Familie oder die joint family. Die polygame Familie bezeichnet eine Gruppe, die aus zwei oder mehr als zwei Kernfamilien besteht, die durch eine polygame Heirat miteinander verbunden sind und daher entweder den Vater oder die Mutter miteinander gemeinsam haben. Die erweiterte Familie besteht aus zwei oder mehr Kernfamilien, die durch eine Ausweitung der ElternKinder-Beziehung miteinander verbunden sind und einen gemeinsamen Wohnsitz haben. Derselbe Begriff wird auf die Ver52 bindung der Kernfamilie eines verheirateten Erwachsenen mit jener seiner leiblichen Eltern angewandt. Die joint family wiederum umfaßt die Familien mehrerer Geschwister, die auf demselben Landstück oder in demselben Haus leben und arbeiten, aber nicht die zeitliche Fortdauer haben wie die erweiterte Familie (Panoff/ Perrin 1982). Die Tendenz zur Pluralisierung von Lebensformen in modernen Gesellschaften beeinflußt auch die Familienbildung. Sukzessive Familienbildung, wenn nach erfolgter Scheidung ein Elternteil durch Wiederverheiratung und weiterer Kinder die Familie erweitert und die ehemaligen Partner und Großeltern mit einbezieht. Einelternfamilien, meist Mutter und Kinder, sind keine Seltenheit. Ob die zunehmende Fragmentierung der Familienbildung zu ihrer Auflösung führt, wie angesichts der verstärkten Individualisierung und Pluralisierung von Lebensläufen kontrovers diskutiert wird, kann nur die Zukunft beantworten. Nach dem Familienbericht der Bundesrepublik von 1994 sind nur noch 1/3 der Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland (Ost und West) Familienhaushalte im Sinne der ZweiEltern-Kind-Einheit (Notz 1996). 2. Historische und sozio-ökonomische Einflüsse auf die Entstehung der modernen Familie Neue Erkenntnisse der historischen Familienforschung entmystifizieren die traditionelle Vorstellung von der Evolution der Familie vom Mehrgenerationenverband zur Kernfamilie. F.-X. Kaufmann (1990) weist darauf hin, daß, obgleich die Epoche der Industrialisierung zu ihrer Verbreitung beitrug, die Wurzeln zur Entstehung der modernen Gattenfamilie mit ihren Grundzügen Monogamie, geringe Kinderzahl, Polarisierung der Geschlechterrollen schon in früheren Zeiten zu finden sind. FA M I L I E Bereits die frühe antike Stadtkultur bildete durch die Zurückdrängung der Bedeutung von Blutsverwandtschaft eine wesentliche Voraussetzung sowohl zur Demokratie wie für die Entstehung des Christentums, das in seiner Betonung der Konsensualehe (Liebesheirat) das Filiationsprinzip (Abstammungsregeln) von Sippenverbänden untergrub. Mit der Epoche der Aufklärung und Industrialisierung fand ein fundamentaler Wandel statt, der die vormalige Vielgestaltigkeit familialer Formen und Rechtsnormen (Höpflinger 1987) zugunsten einer Homogenisierung zur heute bekannten modernen Familienform vorantrieb. War zuvor der Familienverband zumeist eine Produktions- und Konsumstätte, die neben Blutsverwandten in ihrem Haushalt zu ihren Mitgliedern ebenso Gesinde und Lehrlinge zählte, fand im Prozeß der Entflechtung von ökonomischen, politischen, religiösen und familialen Bezügen (strukturale Differenzierung) eine Einschränkung der familialen Form auf die Gattenfamilie und – im vorherrschenden Denken der Nationalökonomie – die Konsumeinheit statt. Frauen und Kinder wurden aus dem Produktionsbereich herausgedrängt – ein Umstand, der dem Mann die Individualisierung seines Lebenslaufes ermöglichte, für Frauen aber Einschränkungen und Unterdrückung ihrer Produktivkräfte nach sich zog (Beck-Gernsheim 1987) und für Kinder die „Erfindung“ ihres besonderen Status mit sich brachte (Lenzen 1985). Die vormoderne Familie kennt hingegen sowohl die individuelle Statuserfüllung in den für die Reproduktion notwendigen Rollen als auch die Alters- und Geschlechtersolidargruppen, auf die sich z. T. die Funktionen „mütterlicher“ und „väterlicher“ Rollen verteilen. So verteilen sich beispielsweise die Funktionen eines Vaters idealtypisch auf Mutterbruder, Vaterbruder und Pate (Schwägler 1978). Noch im 19 Jh. wurden etwa in England die 8bis 10jährigen Söhne zum Erlernen eines Handwerks in fremde Familien gegeben. Und bei Töchtern war es üblich, diese ebenfalls zum Erlernen der umfangreichen Hauswirtschaft in die Fremde zu schicken (Meyer-Renschausen 1996). Der Stabilitätsgrund einer modernen Familie liegt meistens nicht mehr im Aufrechterhalten eines Betriebes oder einer Dynastie, sondern allein in dem Willen der Ehegatten, der durch Zuneigung, aber auch durch ökonomische Zwänge gegeben ist. Die moderne Familie lebt auf Kinder zentriert. Ihre Aufgaben umfassen v. a. die quantitative und qualitative Nachwuchssicherung, die Erhaltung von Humanvermögen und die Aufrechterhaltung der Solidarität zwischen den Generationen (Kaufmann 1990). Die moderne abendländische Familie ist einerseits eine gesellschaftliche Institution im Sinne staatlicher Herrschaftsansprüche, die im Denken der Aufklärung ein vertragsrechtliches Selbstverständnis aufweist, das die Individuen als Subjekte von Rechten und Pflichten ansieht. Staatliche Institutionen (Schule, Kirche, Militär, Medien) ergänzen die Erziehung in der Primärgruppe. Andererseits bildet die moderne Familie seit der Romantik gegen die Anforderungen der zunehmenden Rationalisierung und Technisierung der Gesellschaft widerständische Ideale von Intimität und Vertrautheit. Allerdings haben sich die innerfamiliären Machtverhältnisse, sowohl zwischen den Ehegatten als auch zwischen Eltern und Kindern, die ehemals vorrangig ökonomisch bestimmt waren, auf eine subtilere emotionale Ebene verlagert. Drei Ambivalenzerfahrungen stellen sich für heutiges modernes Familienleben nach Kaufmann (1990). Dem weithin wirksamen Konsens über den Wert der Familie als bürgerliches Ideal wird zunehmend widersprochen. Der Geburtenrückgang wird z. T. durch Kohorteneffekte und 53 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN dem Wandel der Ansprüche und Leitbilder erklärt. Die Dauerhaftigkeit und Stabilität von Familien sinken, der Zwang zur Variabilität wächst. Inzwischen bedeuten zwei Kinder 50 % Wohlstandseinbuße. Die Kosten für den Nachwuchs werden individualisiert, die Kosten für die Alten kollektiviert. Dies betrifft die zweite Ambivalenzerfahrung. Einerseits ist die Auffassung von Familie als Privatsache von Bedeutung, andererseits sind die Ansprüche an staatliche Unterstützung ein heiß umkämpftes gesellschaftliches Feld. Die dritte Ambivalenzerfahrung betrifft die Einbindung von Frauen in die Erwerbstätigkeit bei schwindenden Solidarpotentialen. 3. Sozio-kulturelle und -ökonomische Ursachen von Gewalt in der Familie Gunnar Heinsohn weist in seinem Handbuchartikel (1981) auf einige konstituierende Merkmale der Familie in jüdischchristlich-islamischen Kulturkreisen: In Kontrast zu Gesellschaften, die die Fortpflanzung nach den Interessen der Frauen konzipieren, d. h. geringe Kinderzahl, eigenmächtiges Verhüten, steht am Beginn der Hierarchisierung und Spezialisierung in komplexen Gesellschaften der Übergang des Kindestötungsrecht von der Mutter auf den Vater. Frauen wurden getötet, wenn sie mit ihren tradtionellen Fortpflanzungstechniken fortfuhren. „Die körperliche Pein bei Schwangerschaft und Geburt, sowie die sexuellen Interessen sollen bei der Entscheidung über die Fortpflanzung nun keine Rolle mehr spielen dürfen. In dem verbindlichen Urtext für die drei Religionen Judentum, Christentum, Islam hat dieses patriarchalische Beenden der Rücksicht auf die weibliche Natur seine berühmteste Formulierung gefunden: „Unter Schmerzen sollst du Kinder gebären, deine Begierde soll auf deinen Mann sich richten, er aber wird über 54 dich herrschen“ (1. Buch Moses, 3,16). Allerdings wird das jüdische Patriarchat die erste Gesellschaft, in der Recht auf Kindestötung nicht einfach auf den Mann übergeht, sondern generell untersagt wird. Für seine christliche Abspaltung sollte das 2000 Jahre später von entscheidender Bedeutung werden“ (Heinsohn 1981, S. 320). Geschichtsträchtig ist der Umstand, daß als Folge des Verbotes von Kindestötung und Abtreibungspraktiken ein enormes Bevölkerungswachstum in Gang kam, das das Problem der Erbfolge bzw. der Ressourcenverteilung aufwarf und freigesetzte Söhne die Klasse der Soldaten bildete, als Knechte oder Kolonisatoren im Kampf um Grundeigentum oder anderer Güter. Mit dem Verlust der Selbstbestimmung der Frauen über die Fortpflanzung ging zwangsläufig der Verlust ökonomischer Teilhabe, Mobilität und weiteren medizinischen Wissens einher. Die Unterordnung der weiblichen Domänen unter die männlichen zeitigt schwerwiegende Folgen für die sozialen Positionen von Männern und Frauen, der Erziehung von Mädchen und Jungen sowohl in der Familie wie in der Gesellschaft. Die Trennung der Lebensräume in privat und öffentlich mit ihrer je geschlechtsspezifischen Zuweisung wirkt heute noch fort ( Geschlecht). Daß die durch Gewalt und Zwangsverhältnisse geregelte Reproduktion der Familie häufig zu psychischen Störungen ihrer Mitglieder führt, ist mit Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals in wissenschaftlicher Form von Sigmund Freud publik gemacht worden. Die Verdammung der Sexualität durch religiöse Dogmen und eine repressive Moral, die die Unterordnung von Frau und Kindern unter das männliche Familienoberhaupt fordert, bilden die gesellschaftliche Matrix von Freuds Erforschung seelischer Erkrankungen vor allem von Frauen und Kindern. Heutige Männerforscher weisen zunehmend auf die psychischen Kosten FA M I L I E hin, die die gesellschaftlichen Anpassungsleistungen den Männer aufbürden (z. B. Schnack/Gesterkamp 1996). 4. Der Antagonismus zwischen Familie und Kultur Die Allgemeingültigkeit des Inzestverbotes erklärte Lévi-Strauss durch den unauflöslichen Widerspruch zwischen Familie und Kultur. Das Inzesttabu zwingt die Familie dazu, Angehörige freizugeben, um durch Ehebündnisse die gesellschaftliche Entwicklung in Gang zu halten. Der Ethnologe Mario Erdheim folgt dieser Analyse in seinen weiteren Forschungen zur Bedeutung der Adoleszenz und der Xenophobie ( Xenophobie) für den Kulturwandel. „Der Einblick in fremde Kulturen ermöglichte also der Ethnologie, Familie und Kultur als zwei unterschiedliche und unvereinbare Systeme zu erkennen. Die Familie ist der Ort des Aufwachsens, der Tradition, der Intimität im Guten und im Bösen, der Pietät und der Verfemung. Die Kultur hingegen ist der Ort der Innovation, der Revolution, der Öffentlichkeit und der Vernunft. Die Kultur ist auch der Ort, wo in der Auseinandersetzung mit dem nichtfamiliären Fremden etwas Neues entstehen kann“ (Erdheim 1998, S. 17). Die Lebensphase im Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenstatus spielt hierbei eine herausragende Rolle, in der manifest wird, welche Antagonismen eine Kultur prägen, d. h. mit welchen z. T. widersprüchlichen Anforderungen die Jugendlichen, die ihre Ursprungsfamilie verlassen haben, um eine neue Familie zu gründen, konfrontiert sind. Diese Antagonismen sind je nach Kultur sehr unterschiedlich aufzufassen und äußern sich in sehr unterschiedlichen Anforderungen an die Heranwachsenden. Sei es in traditionellen Gesellschaften durch mehr oder weniger drastische und schmerzhafte Rituale, die einen abrupten Wechsel zwi- schen Kindheit und Erwachsenenstatus markieren (Initiationsrituale) oder durch eine zeitlich langwährende Ausbildungszeit in modernen Gesellschaften – immer geht es im Kern darum, durch die Begegnung mit dem Fremden die Ablösung von der Herkunftsfamilie und die Indienstnahme durch die Gesellschaft zu bewerkstelligen. „Die Tendenz der Familie, sich gegen außen abzuschließen und – falls dies gelingt – ‘der Ungewißheit, der Angst und dem Haß’ zum Opfer zu fallen (LéviStrauss 1956, S. 94), ist gerade aus inzestuösen Familien bekannt“ (Erdheim 1998, S. 24). Es bleibt nicht ohne Einfluß auf das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft in der Moderne, daß die Phase der Adoleszenz sich zeitlich ausdehnte. Familien werden immer später gegründet und immer häufiger gar nicht. Der Statuserwerb durch die Gründung einer Familie ist gegenüber dem Statusgewinn durch einen gutbezahlten Job erheblich abgewertet. Es kommt zu einer ‘Familiarisierung der Kultur’. „Von den kulturellen Institutionen wird (...) erwartet, daß sie Leistungen wie Liebe, Intimität und Wärme erbringen, die eigentlich in den Bereich der Familie gehörten. Der Chef soll besorgt sein wie ein Vater und der Kollege verfügbar wie eine Mutter. In diesem Szenario hat das Fremde nichts zu suchen, es erscheint lediglich als bedrohlicher Störfaktor, denn man sucht nur Verwandte und Gleichgesinnte“ (Erdheim 1998, S. 18). 5. Familie und Migration Ob Migration aus Existenzsicherungsgründen erfolgte, politisch motiviert war oder Ergebnis von der Einschätzung besserer Lebensmöglichkeiten ( Exil), ist für die innerfamiliäre, subjektive Sichtweise und Erfahrung relevant. Der Migrationsstatus gilt nicht nur für die Erwachsenen, 55 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN Kinder und Jugendlichen, die im Herkunftsland geboren, sondern ebenso für jene Kinder, die nach der Migration der Eltern im Einreise-Land geboren wurden. Objektiv gilt der Status solange unabhängig von Nationalität und Geburtsort, solange keine Einbürgerung der Familie erfolgt. Die besonders problematische Situation von unbegleiteten Kindern ist von Sadri (1991) sehr detailliert aufgearbeitet worden. Drei Strukturmerkmale kennzeichnen nach Karsten (1985) die Migrationskindheit in Europa: Erstens besteht durch staatliche Maßnahmen im Aufenthaltsund Arbeitserlaubnisverfahren eine „prinzipielle und faktische Unsicherheit der Lebensmöglichkeiten der Eltern als immer nur zugestandene und grundsätzlich aufkündbare, und damit auch der Kinder“ (S. 204). Zweitens besteht eine historische, gesellschaftliche und individuelle Ungleichzeitigkeit, die objektiv gegeben und subjektiv erfahren wird. Die „historische Ungleichzeitigkeit“ ist eine Folge der ökonomischen Entwicklung in den Metropolen kapitalistischer Gesellschaftsformationen (im Norden, d.Hg.) im Verhältnis zu den Peripheriestaaten (im Süden, d.Hg.). Die daraus resultierende internationale Arbeitsteilung fördert dabei die Arbeitsmigration und ist als „normal“ anzusehen. Individuell wird die Unterschiedlichkeit der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung der Herkunfts- und Einwanderungsländer als Ungleichzeitigkeit erfahren. „Der Wechsel in eine hochindustrialisierte spätkapitalistische Gesellschaft löscht die auf ganz anderen gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen gewonnenen Handlungs-, Denk-, Erfahrungs- und Verhaltensmuster nicht aus, noch werden diese im individuellen Lebenszusammenhang unmittelbar substituiert. Sie bestehen weiter und unterliegen einem mehr oder weniger starken Veränderungsprozeß unter den Lebens56 bedingungen im Einwanderungsland“ (Karsten 1985, S. 205). Im Widerspruch stehen dabei gesellschaftliche Bedingungen wie Arbeitszusammenhänge, Infrastruktur, Bildungssystem und innerfamiliäre Normen, wie das Geschlechterverhältnis, Erziehung und Zeitauffassung. Als drittes Strukturmerkmal ist die „gesellschaftliche Geringschätzung“ zu nennen, „die gleichzeitig Folge von migrationsbedingtem Rechtsstatus, gesellschaftlicher Situation, Ungleichzeitigkeit im Lebenszusammenhang und Legitimation zu deren Verfestigung ist“ (Karsten 1985, S. 206). Sowohl die politisch verordnete Unmündigkeit und prekäre Rechtsstellung als auch die Wahrnehmung der „Dritten Welt“ als rückständig dienen im Zirkelschluß zur Verfestigung der Situation. „Die pädagogische Zuwendung und eine eher abwehrend-abschätzige Haltung gegenüber der ‘Ausländerkultur’ zusammengenommen ergeben ein kaum zu rechtfertigendes Überordnungsgefühl gegenüber den in der Hierarchie darunter stehenden Migranten, das eine fatale Ähnlichkeit zu ‘Kolonisierungsstrategien’ aufweist“ (Karsten 1985, S. 208). Die Familie in der Migration erfährt weitere z. T. widersprüchliche Bestimmungen. Das Organisationsprinzip „Familie“ wird durch Ansiedlungsstrategien von Kommunen einerseits unterstützt, für die MigrantInnen mit dem Vorteil, die Konfrontation der Vergangenheit in der Herkunftskultur mit der Gegenwart der fremden Kultur abpuffern zu können. Andererseits werden MigrantInnen für das Negativimage der „Ghettobildung“ verantwortlich gemacht (Eickhoff 1996). Ein anderer Widerspruch betrifft die Wendung der gesellschaftlich produzierten Erfahrungen zum innerfamiliären Konflikt. Die in der Vergangenheit erfolgreichen Handlungsund Denkstrategien, die durch die gelungene Migration eine Bestätigung gefunden haben, werden nicht schnell aufgegeben. FA M I L I E Besonders den Migrationskindern erscheinen die Verhaltensweisen der Eltern traditionsverhaftet und widersprüchlich gegenüber den Anforderungen an sie als Heranwachsende in einer fremden Kultur, was häufig zu großen Konflikten zwischen den Generationen führt. Wir sollten als InländerInnen aber nicht vorschnell auf eine Pädagogik der „Einbahnstraße“ setzen, in dem Sinne, daß nur eine Entwicklung zur Anpassung an die kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen positiv zu werten wäre. Richard Sennett spricht in seinem Buch „Der Flexible Mensch“ (1998) davon, daß wir alle im Zuge der fortschreitenden Rationalisierung von Ökonomie und Lebensstilen mehr oder weniger zu ImmigrantInnen werden. Die Anforderungen der Arbeitswelt zwingen zunehmend zur Mobilität, Familien verstreuen sich, Nachbarschaften wechseln, Scheidungen nehmen zu, Arbeitsverhältnisse werden zunehmend unsicherer. Dauerhafte, vertrauensfördernde Beziehungen sind unter diesen Bedingungen sowohl zwischen ArbeitskollegInnen als auch zwischen Familienmitgliedern immer schwerer aufzubauen und zu halten. Literatur (Hg.) Handbuch psychologischer Grundbegriffe, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 317-333 Karsten, Maria-Eleonora: „Migrationskindheit in der Bundesrepublik Deutschland. Kein Beitrag zur Ausländerpädagogik“. In: Hengst (Hg.) Kindheit in Europa Zwischen Spielplatz und Computer, Frankfurt a.M. 1985, S. 201-220 Lenzen, Dieter: Mythologie der Kindheit. Die Verewigung des Kindlichen in der Erwachsenenkultur, Reinbek bei Hamburg 1985 Meyer-Renschhausen, Elisabeth: „Migrantinnenschicksal als Dienstmädchenschicksal oder Gemeine Landflucht mit ordinären Folgen“ (Vortrag auf einer Tagung 1996 in Köln) Notz, Gisela: Verlorene Gewißheiten? Individualisierung, soziale Prozesse und Familie, Frankfurt a.M. 1996 Panoff, Michel/Michel Perrin: Taschen-Wörterbuch der Ethnologie. Begriffe und Definitionen zur Einführung, Berlin 1982 Sadri, Mir Hafizuddin: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Probleme und Möglichkeiten der Integration zwischen Rechtspolitik und Pädagogik, München 1991 Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998 Schnack, Dieter/Thomas Gesterkamp: Hauptsache Arbeit? Männer zwischen Beruf und Familie, Reinbek bei Hamburg 1996 Schwägler, Georg: „Der Vater in soziologischer Sicht“. In: Tellenbach, Hubertus (Hg.) Das Vaterbild im Abendland. Bd. 1. Rom, frühes Christentum, Mittelalter, Neuzeit. Stuttgart 1978, S. 149-165 Jaqueline Crawford Beck-Gernsheim, Elisabeth: Das halbierte Leben. Männerwelt Beruf. Frauenwelt Familie, Frankfurt a.M. 1987 Eickhoff, Antje: „Wo die wilden Kerle wohnen? Annäherungen an das Ghetto“. In: Ortswechsel – Blickwechsel. Frauenräume in der Migration. FREIRÄUME Bd.9, hrsg. von FOPA Berlin. Bielefeld 1996, S. 108118 Erdheim, Mario: „Adoleszentenkrise und institutionelle Systeme. Kulturtheoretische Überlegungen“. In: Apsel, Roland et al. (Hg.): Ethnopsychoanalyse Bd. 5: Jugend und Kulturwandel, Frankfurt a.M. 1998, S. 930 Heinsohn, Gunnar: „Familie“. In: Rexilius/Grubitsch 57 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN Jugend In der Diskussion um die Entwicklungszusammenarbeit als Beitrag zur globalen Zukunftssicherung gewinnen die Problematik und Potentiale von Jugendlichen als eigener Zielgruppe weltweit an Bedeutung. Mädchen und Jungen unter 18 Jahren als stärkste Bevölkerungsgruppe in den Entwicklungsländern sind von wachsender Verelendung, Migration, Arbeitslosigkeit und Ausschluß aus dem Bildungsprozeß besonders betroffen. Erfahrungen aus der deutschen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit verbinden die Beratung jugendpolitischer Institutionen und die Fortbildung von Fachkräften und JugendpromotorInnen mit partizipatorischen und präventiven Jugendförderungsansätzen im Bereich lebensweltbezogener Bildung, Beschäftigungsförderung und Gemeindeentwicklung. 1. Perspektivenwechsel: Jugend wird zur eigenen Zielgruppe ‘Jugend’ war für die deutsche staatliche Entwicklungszusammenarbeit lange Zeit kein Thema. Vielmehr ging man davon aus, daß die Förderung von Familien und Frauen genügen würde, um Jugendliche zu erreichen. Mittlerweile findet weltweit ein Umdenken statt. Jugendliche werden zunehmend mit ihrem Potential für gesellschaftliche Gestaltung als eigene Zielgruppe anerkannt. Auch in der Flüchtlingsarbeit und entwicklungsorientierten Nothilfe bekommen Jugendliche ein ernstzunehmendes Gewicht. Vier Gründe erklären das neue Problembewußtsein: In den Entwicklungsländern sind 40-50 % der Bevölkerung jünger als 16 Jahre (vgl. UN Weltbevölkerungsbericht 1998). Kinder und Jugendliche sind von strukturellen Problemen und ihren Begleiterscheinungen wie wachsende Verelendung, Migration, Arbeitslosigkeit und Ausschluß aus dem Bildungsprozeß besonders betroffen. Mädchen und Jungen sind angesichts der Auflösung traditioneller Strukturen, zuneh58 mend auch aufgrund von AIDS, häufig nicht mehr in den Familienverband eingebettet, sondern bereits früh auf sich selbst gestellt. Und ihre nicht immer sichtbare ökonomische Ausbeutung nimmt zu. Die großen internationalen Organisationen wie UNICEF, UNESCO, Weltbank, FAO haben Jugendliche deshalb mittlerweile als wichtigste Zielgruppe definiert. Dies schlug sich auch in einer Reihe von UN-Weltkonferenzen und Beschlüssen der letzten Jahre nieder. Auch die deutsche staatliche Entwicklungszusammenarbeit betont nunmehr die Bedeutung von Jugendlichen für die laufenden und neuen Vorhaben. In dem Strategiepapier des BMZ zur ‘Jugendförderung und Überwindung von Kinderarbeit’ (BMZ 1997), das mit deutschen Nichtregierungsorganisationen (NRO) diskutiert wurde, heißt es: „Die Interessen von Kindern und Jugendlichen sind generell in der Entwicklungszusammenarbeit zu berücksichtigen“. Ziel der Förderung ist die nachhaltige Verbesserung der Lebenssituation und Perspektiven der Mädchen und Jungen. Dabei wird dem besonderen Potential von Jugendlichen zur Selbsthilfe und Selbstorganisation Rechnung getragen. Als ‘soziale AkteurInnen’ sollen sie zugleich TrägerInnen der gesellschaftlichen Entwicklung sein. Ein weiteres Ziel der verstärkten Förderung der jungen Generation ist die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention ( Kinderrechte). Zielgruppe der Jugendförderung in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sind vor allem sozial benachteiligte Mädchen und Jungen sowohl aus städtischen als auch aus ländlichen Gebieten, wobei der Schwerpunkt auf die Altersgruppe der 12- bis 18jährigen gelegt wurde. Gerade diese Altersgruppe hatte bislang wenig Berücksichtigung gefunden und fiel aus den Programmen der Grundbildung, Beruflichen Bildung und Beschäftigungsförderung heraus. JUGEND 2. Lebenslagen von Jugend im sozio-kulturellen Kontext Die Betrachtungsweise von Jugend in Entwicklungsländern ist in hohem Maße von unserem westlich-europäischen Jugendkonzept geprägt. Jugend gilt hier als fest umrissene und geregelte Übergangsphase im Sinne eines „sozialen Moratoriums“ (Erikson). Eine Übertragung dieses Jugendkonzepts auf die Länder Afrikas, Lateinamerikas und Asiens sowie Osteuropas führt daher nur zur Feststellung von Defiziten („haben noch nicht“, „sind noch nicht“) sowie stark fürsorgeorientierten Projektansätzen. Dabei greift auch für West- und Osteuropa die Vorstellung von Jugend als einem sozialen Schonraum inzwischen zu kurz. Längst macht auch hier die dramatische Zunahme von arbeitsund orientierungslosen Jugendlichen auf ein gesellschaftliches Zukunftsloch aufmerksam (vgl. Jugendwerk der Deutschen Shell-AG 1997). In der sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Jugendforschung wird heutzutage von einem Verständnis von ‘Jugend’ in soziokultureller (Lebenslage, Alter, Geschlecht, Ethnie, Sozialraum) und sozialhistorischer Perspektive ausgegangen. Von der Jugend kann also weder für die Bundesrepublik Deutschland noch für die Länder der Dritten Welt gesprochen werden. Jugend nimmt in unterschiedlichen Gesellschaften und Kulturen verschiedene Gestalt an. Dabei ist zunächst die altersmäßige Abgrenzung nicht einfach. Die Kinderrechtskonvention gilt für Mädchen und Jungen bis zu einem Alter von 18 Jahren. In manchen Ländern werden sogar junge Menschen bis zu 25 oder mehr Jahren einbezogen. In den Partnerländern der Entwicklungszusammenarbeit wird aber zunehmend nicht mehr nur von Kindern gesprochen, sondern zwischen Kindheit, Adoleszenz und Jugend differenziert. Dabei geht es nicht um vordergründige Begriffsveränderungen und Definitionen, sondern um eine Blickschärfung für die dahinter stehende kulturspezifische Bedeutung und unterschiedlichen Lebenssituationen. Die soziale Einordnung eines zehnjährigen Mädchens, das die Grundschule besuchen kann und von ihren Eltern versorgt wird, muß z. B. ganz anders ausfallen als die eines zehnjährigen Mädchens, das infolge des Todes ihrer Eltern aufgrund von AIDS oder Bürgerkriegen bereits eine Familie führt und die Rolle der „Erwachsenen“ übernommen hat. Zur Eingrenzung der Zielgruppe Jugend ist also nicht nur das Alter der Kinder und Jugendlichen, sondern vielmehr deren Lebenslage maßgebend. Das Konzept der Lebenslage legt nämlich bei der Betrachtung der Lebensbewältigung von Jugendlichen dreierlei zugrunde: Den sozialstrukturellen Hintergrund (Verfügbarkeit von ökonomischen und sozialen Ressourcen), die lebensweltlichen Bedingungen (Familie, Peer Group, Schule und Arbeitswelt) sowie die biographisch-individualitätsorientierte Dimension. Der Begriff ‘Lebenswelt’, von Schütz in die sozialwissenschaftliche Grundlagendebatte eingeführt, bezieht sich auf die ‘alltägliche Welt’ des Zusammenlebens von Menschen, deren Interpretationen und Handeln, mit den diese ihre historische und kulturspezifische gesellschaftliche Wirklichkeit zu bearbeiten, sicherzustellen und zu verändern trachten (Rudolph 1997, S. 49 ff). Folgende Problembereiche beeinflussen die spezifischen Lebenslagen Jugendlicher: – Landjugend und Migration, unter besonderer Berücksichtigung der ethnischen Gruppen in ihren sozialen und kulturellen Umbrüchen: Die Lebenslage der Landjugend wird als ein Komplex von ökonomischer und soziokultureller Benachteiligung beschrieben. Der Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, Arbeit, Einkommen und frei verfügbarer Zeit 59 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN ist noch eingeschränkter als bei der städtischen Jugend. – Lernen und Überleben in städtischen ‘informellen’ Sektor: Auf der Straße leben und arbeiten weltweit ca. 200 Mio. Kinder und Jugendliche – manche vorübergehend, andere dauernd. Auf sich allein gestellt und ohne Rechte, entwickeln sie ganz eigene Orientierungsmuster und Organisationsstrukturen, häufig unter den äußeren Bedingungen von versteckter und offener Gewalt in Familie und sozialem Umfeld (Zitat aus: Rudolph/Conto 1993, S. 76 ff): „Die Straße ist mein Zuhause. Ich kenne viele Kinder, die z. B. Schuhe putzen oder Süßigkeiten verkaufen. Sie sind meine Freunde, wir spielen oft zusammen. Manchmal, wenn ich ein gutes Geschäft mache, teile es alles mit meinen Freunden. Die verdienen es, sie sind alle gut zu mir...“ (Carlos, 10) „Ich schlafe manchmal draußen mit einigen Freundinnen, oder wenn ich Glück habe, verbringe ich die Nacht mit einem Kunden in einer Pension. Andere Male läuft das Geschäft nicht so gut und ich kann kein Zimmer bezahlen. Dann schlafe ich auf der Straße. Es ist nicht so einfach, weil die Männer mich häufig belästigen und nichts zahlen wollen...“ (Helena, 16) „Seit einigen Monaten nehme ich an der Kooperative ‘Nino-Nina’ teil. Dort bekomme ich in vieler Hinsicht Unterstützung. Ich kann weiter die Schule besuchen, ich arbeite weniger. Klar, ich verdiene etwas weniger, aber dafür habe ich jemanden, der mir hilft, weiter voranzukommen. Es ist so, in der Kooperative haben wir gelernt, daß wir Kinder auch ein Recht auf ein gesundes Leben haben und dieses Recht müssen wir uns erkämpfen. Ich bin froh, in der Kooperative der arbeitenden Kinder teilnehmen zu können, ich meine, wir sind organisiert, verbessern unsere Arbeitstechniken, um später in der Konkurrenz besser dazustehen, das ist 60 auch ein Prinzip unserer Kooperative. Jetzt kann ich auch an den Mahlzeiten der Kooperativen teilnehmen, wir haben besseres Essen als das, was wir zu Hause hätten. Andererseits können wir die arbeitenden Kinder, andere Kinder, die in ähnlichen Situationen sind, motivieren, zu uns zu kommen, an dem Programm teilzunehmen. Wir denken, wenn wir Kinder zusammenhalten, erreichen wir, daß unsere Rechte respektiert werden.“ (Nilson, 13) – Ökonomische Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen: Arbeitende Kinder und Jugendliche müssen häufig gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen bei sehr niedriger oder gar keiner Entlohnung in Kauf nehmen. Die vielen Formen der ökonomischen Ausbeutung von Mädchen und Jungen lassen sich laut ILO und UNICEF im wesentlichen den folgenden Typen zuordnen: Arbeit (von Mädchen) in privaten Haushalten, Zwangsarbeit und Schuldknechtschaft, kommerzielle sexuelle Ausbeutung (insbesondere von Mädchen), Kinderarbeit in Industrie und Landwirtschaft, Arbeit auf der Straße und (überfordernde) Arbeit für die Familie. Nach der Kinderrechtskonvention sollte Arbeit von Kindern, die sich noch im schulpflichtigen Alter befinden (unter 15), unter Verbot gestellt werden. In der aktuellen Diskussion wird jedoch meist zwischen der notwendigen familiären Hilfe und den ausbeuterischen Formen der Kinderarbeit unterschieden. Auch die Bedeutung von Arbeit und Selbstorganisation für Kinder und Jugendliche wird verstärkt diskutiert ( Kinder der Dritten Welt). – Kinder und Jugendliche in Krisenregionen: Allein in den achtziger Jahren wurden 2 Mio. Kinder durch direkte Folgen von kriegerischen Auseinandersetzungen getötet und 4 bis 5 Mio. schwer verletzt. Weitere 12 Mio. Kinder und Jugendliche haben ihr Zuhause JUGEND verloren. Die Situation in den neunziger Jahren stellt sich noch gravierender dar. Bei den heute stattfindenden kriegerischen Auseinandersetzungen sind rund 90 % der betroffenen Bevölkerung ZivilistInnen (Frauen, Kinder und Jugendliche). Vor dem Hintergrund von Armut und Gewalt, bewaffneten Konflikten und Flüchtlingsbewegungen werden Kinder und Jugendliche einerseits zu Opfern, andererseits aber auch zu TäterInnen – mit der Konsequenz von psychischer Traumatisierung. Beispiele lassen sich in Ruanda, Mosambik, im ehemaligen Jugoslawien und anderen Ländern finden. Auch die Problematik der sog. Kindersoldaten gehört dazu ( Kindersoldaten). Es wird deshalb in Entwicklungsländern zunehmend von einem Zusammenbruch von traditionellen Familien und Sozialstrukturen und mithin auch Orientierungsmustern gesprochen. Armut, Krieg und das Sterben der Elterngeneration führt häufig zu einem neuen Generationenvertrag zwischen Kindern und Jugendlichen auf der einen Seite und ihren Großeltern auf der anderen Seite. – Fehlende staatliche Verantwortung und ungleiche Verteilung der Ressourcen: In vielen unserer Partnerländer führt die Politik der offenen Märkte, der Privatisierung sowie der Zurücknahme sozialstaatlicher Aufgaben auch zu einer Einschränkung der öffentlichen Mittel für Soziales und Bildung. Dies betrifft vor allem Kinder und Jugendliche aus ärmeren Bevölkerungsschichten, für die die Chancen auf hinreichend Ernährung, medizinische Versorgung, Allgemeinbildung, Qualifizierung, Arbeit und Wohnung ohnehin sehr schmal sind. Die Vertiefung der Kluft zwischen Bevölkerungswachstum und verfügbaren Ressourcen trifft diese Gruppe am schwersten. 3. Förderstrategien und – ansätze Die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH ist weltweit eines der größten Dienstleistungsunternehmen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit. Sie befindet sich im Bundesbesitz und arbeitet gemeinnützig. Die Arbeit der GTZ besteht im wesentlichen in der Planung und Durchführung des deutschen Beitrags zu Projekten und Programmen in den Partnerländern des Südens und Ostens. Hauptauftraggeber ist das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Die Technische Zusammenarbeit hat die Aufgabe, die Leistungsfähigkeit von Menschen und Organisationen zu erhöhen, indem sie Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt, mobilisiert oder die Voraussetzungen für deren Anwendung verbessert. Oberstes Prinzip in der Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern ist stets, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Wichtige Erfahrungen im Jugendbereich wurden in Pilotvorhaben der Deutschen Technischen Zusammenarbeit (TZ) in Uganda, Indien, Guatemala mit sektorübergreifenden Ansätzen entwickelt bzw. werden in Vorhaben z. B. in Ruanda, Kenia, Uganda (Bildung in städtischen Armutsgebieten), Nepal, Sri Lanka, Chile und Venezuela erprobt. Zu den Strategien und Instrumenten einer nachhaltigen und partizipatorischen Jugendförderung gehören: (1) Beratung von Ministerien und jugendpolitischen Institutionen bei der Entwicklung und Umsetzung von Politiken auf nationaler und regionaler Ebene; (2) Vernetzung vorhandener Ansätze im Jugendbereich und Fortbildung für MitarbeiterInnen der staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen; (3) direkte Fördermaßnahmen für Jugendliche mit Schwerpunkt auf Prävention, die an ihrem starken Selbsthilfepotential ansetzen. Zu dem Schwerpunkt präventive Jugendarbeit ge61 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN hören Maßnahmen auf Stadtteil- oder Gemeindeebene in dem Bereich StraßenSozialarbeit, (mobile) außerschulische und schulische Grundbildung, beschäftigungswirksame Berufsbildung und Freizeitgestaltung. Die Erfahrungen aus TZVorhaben zeigen, daß die Herausforderung gerade in der sinnvollen Integration dieser Komponenten liegt (GTZ 1997). Jugendförderung in der deutschen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit geschieht auf zwei Ebenen: (1) Sektorübergreifende Querschnittsorientierung: Dabei geht es um eine breitenwirksame Berücksichtigung von Problemen und Potentialen von Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichen Vorhaben und Sektoren. Zu diesen gehören Jugendpolitik und Jugendrecht, Beschäftigungsförderung und informeller Sektor, lebensweltorientierte, insbesondere außerschulische Bildung und Ausbildung, Jugendgesundheit, AIDS und Drogenprävention, Not- und Flüchtlingshilfe, Demobilisierung und soziale Reintegration, Umwelt- und Ressourcenschutz, Kommunalentwicklung. (2) Jugendspezifische Vorhaben: Darunter sind Projektansätze zu verstehen, die meist mehrere Sektoren einbeziehen und aus konkreten Problemlagen für Mädchen und Jungen entwickelt werden. Diese wenden sich an besonders gefährdete Gruppen, z. B. jugendliche Flüchtlinge, arbeitende Kinder und Jugendliche, Straßenkinder, AIDS-Waisen, Kinderprostituierte. Dem Genderprinzip entsprechend soll das geschlechterspezifische Verhältnis thematisiert werden, um die besondere Benachteiligung für Mädchen zu überwinden ( Geschlecht). Bei Bedarf sollen auch Maßnahmen mit Jungen (z. B. Strassenjungen, arbeitende Jungen, Jugendbanden) duchgeführt werden. 62 4. Beispiele aus der Praxis Das Projekt Lebensweltbezogene Bildung und Beschäftigungsförderung im Gemeinde- und Jugendzentrum, Argentinien Im Rahmen eines Aktionsforschungsprojektes mit Jugendlichen aus den Sectores Populares in Villa María/Villa Nueva, Argentinien, entstand die Idee eines Gemeindezentrums, Centro Communitario y Juvenil de Capacitación y Recreación (Cencar). Das im wesentlichen in Eigenregie und Selbsthilfe errichtete Zentrum hat zum Ziel, die Situation des Gemeinwesens und der Jugendlichen zu verbessern. Leitmotiv ist der Gedanke, daß menschliche Bedürfnisse nicht nur Defizite, sondern vor allem individuelle und kollektive Potentiale darstellen. Der Ansatz des Zentrums, basierend auf den Forderungen der Weltkonferenz ‘Bildung für Alle’ (1990), geht von drei Handlungsfeldern aus: der beruflichen Bildung und Arbeit, der außerschulischen Grundbildung, Bewußtseinsbildung und des gemeinwesenorientierten Lernens sowie der Kreativität, Rekreation und Kommunikation. Das Projekt Jugendpolitik und Prävention, Guatemala Im Mittelpunkt des Projektkonzepts steht die Prävention. Dabei geht es darum, Regierung und NROs bei der Einführung des neuen Politikfeldes ‘Jugendpolitik’ zu beraten, die ProjektpartnerInnen in Öffentlichkeitsarbeit und ‘social marketing’ zu schulen sowie in städtischen Armutsgebieten ein Netz an Jugend- und Elternorganisationen aufzubauen. Diesen Basisgruppen werden konkrete Maßnahmen der Jugendhilfe in den Bereichen außerschulische Bildung, aufsuchende Sozialarbeit, Berufliche Ausbildung und Gesundheit angeboten. Die Aktivitäten des Projekts kreisen dementsprechend um Themen wie Straßenleben, Kinder- und Ju- JUGEND gendarbeit, Jugendgewalt sowie Kinderund Jugendrechte. Neben der dezentralen Verankerung der Querschnittsaufgabe ‘Jugendpolitik’ in sektoral gegliederten staatlichen Strukturen hat sich besonders die Fortbildung von Jugendlichen zu JugendpromotorInnen bewährt. Jugendliche als eigentliche ExpertInnen der Veränderung ihrer Lebenswelt, ist der Kerngedanke des multisektoralen Vorhabens. 5. Ausblick Ähnliche Ansätze und Erfahrungen der Deutschen Technischen Zusammenarbeit liegen vor in Asien, z. B. im Vorhaben Verbesserung der Situation arbeitender Kinder und Jugendlichen, Nepal und Indien oder in Afrika, z. B. Förderung von Kindern und Jugendlichen in besonders schwierigen Lebenslagen (Straßenkinder/ Jugendliche, AIDS-Waisen), Grundbildung in städtischen Armutsgebieten, Uganda sowie im Projekt Beschäftigungsförderung für benachteiligte Jugendliche in Ruanda. Wichtige Faktoren einer nachhaltigen Jugendförderung sind: Zugang zur Lebenswelt, Partizipation am gesamten Projektzyklus und Stärkung der aktiven Teilhabe der Jugendlichen als soziale AkteurInnen am sozialen politischen und kulturellen Leben, Verbindung von (außer-)schulischer Bildung, beschäftigungswirksamer Berufsbildung und gemeinwesenorientiertem Handeln, neue Formen der Zusammenarbeit zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen, Fortbildung der MitarbeiterInnen bei der Umsetzung partizipativer Konzepte und präventiver Aspekte der Jugendarbeit, Arbeit mit JugendpromotorInnen. Wichtige Bereiche, an denen in Zukunft verstärkt gearbeitet werden sollte, sind: Verbindung von Jugendpolitik (Makroebene) und konkreter Jugendarbeit (Mikroebene), qualitative Forschung im Sinne von Rekonstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit aus der Sicht der Jugendlichen, angepaßtes und qualitatives Monitoring und Evaluationssystem zur Wirksamkeit der Jugendarbeit, Vernetzung der Organisationen und verbesserter Austausch von Erfahrungen. Vor dem Hintergrund von Bevölkerungswachstum, Arbeitslosigkeit, Armut und Begrenztheit der natürlichen Ressourcen wird gerade im Hinblick auf die Jugendarbeit ein Nachdenken über den Beitrag von Bildung als soziale und kulturelle Integration notwendig sein. Dabei muß an das im Bericht der UNESCO Bildungskommission von Delors (1996) formulierte Prinzip ‘Learning to live together’ erinnert werden. Die Aufgaben einer entwicklungsorientierten Nothilfe wie Krisenprävention, Demobilisierung, soziale Integration und letztlich auch Versöhnung erhalten hier durch den Bezug auf die junge Generation eine besondere Brisanz. Dies gilt auch für Kinderflüchtlinge, die in Deutschland leben. In dem Zusammenleben mit Kindern und Jugendlichen hier können sich neue Formen und Inhalte des Lernens ergeben ( Interkulturelle Pädagogik). Kinderflüchtlinge bringen Erfahrungen, aber auch Fertigkeiten ein, die für deutsche Jugendliche und ihrem gesellschaftlichen Umfeld häufig unbekannt sind und vielleicht noch zu entwickeln wären ( Ressourcen). Der Verweis auf die Jugendlichen und ihr spürbares Selbsthilfepotential ( Bewältigung) darf allerdings nicht von der eigenen Verantwortung gerade der Erwachsenen ablenken. Auch dem Rückzug des Staates, besonders in Ländern der Dritten Welt, aus dem Sozial- und Bildungsbereich muß Einhalt geboten werden. Wie der Staat mit Jugendlichen als Mehrheit der Bevölkerung umgeht, ist eines der wichtigsten Maßstäbe von ‘Good Government’. Letztlich bedarf es aber einer Umverteilung sozialer, ökonomischer und politischer Macht. Das Fazit liegt vor allem in der Erkenntnis, daß 63 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN ohne den Bezug zum Erfahrungswissen, den Fähigkeiten und letztlich der Phantasie und Kreativität der sozialen AkteurInnen, insbesondere der Jugendlichen, kein nachhaltiger gesellschaftlicher Veränderungsprozeß möglich sein wird, weder im Norden noch im Süden. Literatur BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit): Jugendförderung und Überwindung der Kinderarbeit, Strategiepapier, Bonn 1997 GTZ (Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit): Lernen aus Erfahrungen: Die Zielgruppe Jugend in der Technischen Zusammenarbeit; Autorin J. Kotowski-Ziss, Publikationsreihe Themenfeld Jugend, Nr. 4, Eschborn 1997 Jugendwerk der Deutschen Shell-AG (Hg.): Jugend und Politik, Opladen 1997 Rudolph, H.-H./Conto de Knoll, D.: Förderung von Straßenkindern in Guatemala, Projektprüfungsbericht im Auftrag der GTZ, Eschborn 1993 Rudolph, H.-H.: „Jetzt reden wir!“ Jugend, lebensweltbezogene Bildung und Gemeindeentwicklung in Lateinamerika, Forschungsreihe: Erziehung und Gesellschaft im internationalen Kontext; Bd. 12, Frankfurt a. M. 1997 Tips zum Weiterlesen: GTZ: Jugend in der Entwicklungszusammenarbeit. Ansätze und Perspektiven im Themenfeld Jugend, Publikationsreihe Themenfeld Jugend, Nr. 3, Eschborn 1997 GTZ: AKZENTE. Im Blickpunkt: Jugend, Heft 4/97, Eschborn 1997 Hans-Heiner Rudolph 64 Geschlecht Im folgenden Beitrag werde ich die jüngste theoretische Entwicklung in der feministischen Theorie skizzieren: Geschlecht wird als sozial konstruierte Kategorie untersucht und nicht als natürliche Differenz vorausgesetzt. Von dieser Denkweise ausgehend, werde ich darlegen, welche Konfrontationen sich im Bereich der geschlechtsspezifischen Weltsichten und Verhaltensweisen bei Flüchtlingen und MigrantInnen ergeben und was eine sinnvolle Praxis für die Soziale Arbeit im Hinblick auf diesen spezifischen Erfahrungshintergrund zu bedenken hat. 1. Geschlecht als Strukturkategorie und als interaktive Kategorie – methodologische Prämissen Seit Mitte der 80er Jahre wird in der englischsprachigen Forschung die Notwendigkeit hervorgehoben, Geschlecht als analytische Kategorie zu entwickeln. Geschlecht wird in der englischen Terminologie als ‘gender’ bezeichnet, womit gemeint ist, daß es sich um das soziale Geschlecht handelt, wohingegen sich der Begriff ‘sex’ in der englischen Sprache auf das biologische Geschlecht bezieht. Der Begriff Gender wird auch in der deutschen Wissenschaftssprache benutzt, um deutlich hervorzuheben, daß man sich auf das soziale Geschlecht bezieht. Mit dieser neuen Perspektive wurde die eher langweilige Forschung, die der Frage nach festgeschriebenen Unterschieden zwischen den Geschlechtern nachging, abgelöst. Entgegengesetzt wurde der (blossen) Unterschiedssuche eine ‘Historisierung’ und ‘Dekonstruktion’ der Bedingungen des geschlechtlichen Unterschieds: geforscht wird nach der ‘Herstellung’ von Geschlecht. Lange Zeit wurde ‘Geschlecht’ in den Sozialwissenschaften als askriptives – zugeschriebenes – Merkmal behandelt, als etwas der sozialen Praxis grundsätzlich Entzogenes, als ‘natürliche’ Gegebenheit GESCHLECHT bestimmt. Konstatiert wurde, daß Geschlecht dem historischen Wandel unterworfen war. Was also jeweils als männlich bzw. weiblich galt, war durch historische Bedingungen veränderbar, doch die Zweigeschlechtlichkeit als solche wurde allem Gesellschaftlichen vorausgesetzt (vgl. Irene Dölling und Beate Krais 1995). Erst die feministische Theoriedebatte und die empirische Frauenforschung haben ein Bewußtsein dafür entstehen lassen, daß Geschlecht für die sozialwissenschaftliche Analyse nicht einfach ein natürliches Datum wie die Augenfarbe darstellt, sondern selbst gesellschaftlich produziert wird. Eine solche Sichtweise auf die Geschlechterverhältnisse unterstellt, daß Geschlecht im alltäglichen Handeln immer wieder neu konstruiert wird. Ganz generell wird der Blick darauf gelenkt, daß soziale Strukturen und Institutionen in der sozialen Praxis durch das Handeln der sozialen Subjekte ‘gemacht’, konstruiert und reproduziert werden. Die Regeln, nach denen Geschlecht konstruiert und die Geschlechterdifferenz als relevante Differenz verhandelt wird, sind, so die obige Prämisse, nur im alltäglichen Erleben rekonstruierbar. Da diese Regeln als (binäre) soziale Codierungen dem Alltagshandeln immanent sind, sind sie schwer faßbar. Um festzustellen, wie diese Regeln in diversen thematischen Bereichen wirken, ist es für die Wissenschaft daher unerläßlich, empirische Forschungen durchzuführen. Die Thematisierung von Geschlecht ist in wissenschaftlichen Untersuchungen, ebenso wie in der alltäglichen Interaktion zwischen Individuen, in allen denkbaren gesellschaftlichen Bereichen quasi regelhaft determiniert und bringt folgende thematische und kommunikative Konsequenzen mit sich: 1. Geschlecht wird meist als Differenzereignis thematisiert, d. h. Männlichkeit und Weiblichkeit werden als essentiell verschiedene Konzepte diskutiert. 2. Geschlecht wird in einer polarisierenden Perspektive, vornehmlich als sich gegenseitig ausschließende Charaktereigenschaften von Männern und Frauen betrachtet. 3. Mit der Zuordnung und der Benennung von Geschlecht ist eine Hierarchisierung in Status, Position und biographischen Möglichkeiten verbunden. 4. Mit der Thematisierung von Geschlecht werden Stereotypen und Geschlechterbilder abgerufen und im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Glaubenssystemen (engl.: ‘gender belief systems’) definiert. 5. Geschlecht wird mit der Prämisse der Vergeschlechtlichung von Arbeit verknüpft – denn Geschlecht wird in unterschiedlichen Formen der geschlechtlichen Arbeitsteilung geschaffen und bestätigt. 2. Geschlecht in Interaktionen und Kontexten Wie die o. g. Determinanten des Geschlechterdiskurses in der sozialen Praxis reflektiert und für das Verständnis der Flucht- und Migrationssituation produktiv eingesetzt werden können, zeige ich im folgenden an der Handhabung einiger theoretischer Prämissen. 1. ‘Gender’ ist ein in Beziehungen stehendes Konstrukt – relational und weniger essentiell. Gender ist keine statische Kategorie, sondern eine flexible und seine Bedeutung entfaltet sich nur im Kontext. Die bedeutet für die Interaktion in der sozialen Arbeit, an der Kontexthaftigkeit jeder Äußerung, sowie an ihrer prozeßhaften Konstitution anzusetzen. Gender muß im gesellschaftlichen, kulturellen und gruppenbezogenen Kontext des Klientel verstanden werden. Somit sind auch die Konstruktionen von Geschlecht beider Seiten in der Sozialen Arbeit zu reflektieren. Wird Gender 65 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN vor dem Hintergrund dieser Denkweise als Organisationsprinzip des täglichen Lebens angesehen, veranlaßt dies zur Analyse der auf der Seite der SozialarbeiterInnen oder TherapeutInnen selbst vorhandenen geschlechtsbezogenen Erfahrungen. Hierzu zählen beispielsweise die Erfahrungen mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung ebenso wie Familienstrukturen, biographische Möglichkeiten, Reproduktionsregeln, Bedingungen der Kindheit, Erziehung etc. Dazu bedarf es neuer Fragen und Herangehensweisen. Es muß ein selbstreflexiver Ansatz unter Berücksichtigung einer kritischen Analyse der etablierten Diskurse entwickelt werden ( Supervision). 2. Eine auf Kommunikation und Interaktion, Prozesse und Kontexte ausgerichtete Reflexion ist weitreichender als Überlegungen dazu, wie Männer und Frauen, Jungen und Mädchen als Subjekte sind und wie sie sich ggf. unterscheiden. Das sog. Gender-Denken adäquat zu nutzen, sollte bedeuten, Überlegungen zu den Geschlechterverhältnissen, Geschlechterbeziehungen und geschlechtsspezifischen Aufgabenbereichen sowie allen weiteren geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, kritisch in Frage zu stellen. So muß bei der Sozialen Arbeit mit Kinderflüchtlingen bzw. Jugendlichen aus anderen Gesellschaften jeweils mit einbezogen werden, welcher Glaube in diesen Gesellschaften darüber existiert, was die Aufgaben und Eigenschaften der Geschlechter jeweils sind und wie diese Glaubenssätze und Vorstellungen den Verlauf von Interaktionen beeinflussen. Dieses sog. Glaubenssystem – ‘gender belief system’ (vgl. Kay Deaux und Mary E. Kite 1987) – findet sich auf allen Ebenen eines gegebenen gesellschaftlichen Systems wieder: in Glaubenssätzen des Rechtssystems ebenso 66 wie in der Familienpolitik oder in schulpolitischen Verlautbarungen; es dominiert die Medien ebenso wie die alltäglichen Strukturen und Interaktionen. Gender manifestiert sich in den Glaubenssätzen der Menschen, die Realität konstruieren. 3. So muß die Analyse von Gender immer berücksichtigen, daß im Zusammenhang mit Geschlecht fundamentale Tabus in Gesellschaften vorherrschen, die substantieller Bestandteil des ‘gender belief systems’ sind. Tabus spielen im Zustandekommen sexueller Tabus offensichtlich eine große Rolle, aber in ähnlicher Weise finden sich Tabus bei der geschlechtlichen Arbeitsteilung. Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in privaten und gesellschaftlichen Bereichen kann in diesem Sinne verstanden werden als das Ergebnis von Tabus – und weniger als die Ursache für die Differenz zwischen Männern und Frauen (vgl. Beth B. Hess und Mary Ferree 1987). Differenz wird kreiert und belohnt, nicht die Gleichheit. 4. Die Analyse von Gender muß neben diesen Tabus die herrschenden Differenzen in Prestige und Macht für das Leben von Frauen- und Männern offenlegen. Gender ist assoziiert mit Macht und Herrschaft. Geschlecht erscheint als Strukturkategorie, als ein für MigrantInnen sowohl in der Herkunftsals auch in der Aufnahmegesellschaft erfahrenes und determiniertes Konzept. Gender ist strukturell und weniger individuell. Frauen und Männer unterscheiden sich sehr stark im Zugang zu Ressourcen und in ihren Chancen für ihre persönliche Entwicklung. In jeder Gesellschaft finden sich historische und gegenwärtige Variationen zwischen Männern und Frauen in ihren Potentialen, aber auch in ihren Aspirationen, Einstellungen und Verhaltensweisen sowie in ihren biographischen GESCHLECHT Optionen und materiellen Möglichkeiten. Es ist von daher unerläßlich, die Analyse auf die Machtaspekte des ‘gender’-Systems zu richten (vgl. Bernice Lott 1990; Rhoda K. Unger 1991 und Deniz D. Kandiyoti 1988). 5. Gender in Zusammenhang mit Flucht und Migration zu reflektieren, führt zur Konfrontation mit Grenzsituationen, die die Erfahrungen sowie die Interaktion mit den Klientel bestimmen. Kinderflüchtlinge befinden sich in einer sehr schwierigen psychischen Situation. Kriegerische Konflikte, Verfolgung, Terror und Gewalt bilden ihren Erfahrungshintergrund ( Ursachen und Dimensionen). Im schlimmsten Fall addieren sich dazu Folter und Vergewaltigungen – traumatische Erfahrungen, die im hiesigen Kontext mitverhandelt, thematisiert, verarbeitet und rekonstruiert werden ( Traumatisierung). Das Konzept von Geschlecht, das in einer solchen Situation – den sog. ‘points of change’ (vgl. Beth B. Hess und Mary Ferree 1987, S. 10) – sichtbar wird, ist demzufolge ein situationsspezifisch determiniertes, interaktives Konzept. Es ist ‘verwoben’ in Überlebenseinstellungen und -strategien oder in ‘symbolischen Rüstungen’ (vgl. Deniz Kandiyoti 1988). 6. ‘Gender’ zu verstehen, verlangt darüber hinaus die Antizipation von Veränderungen über eine Zeitspanne. Veränderungen für MigrantInnen ergeben sich auf verschiedenen Ebenen: geschlechtspezifische Erfahrungen der Herkunftsgesellschaft verquicken sich mit den individuellen Erfahrungen der Flucht und Migration sowie im weiteren mit den Determinanten für Gender, die das Aufnahmeland aufweist. Unumgänglich ist es demnach, an den alltäglichen Bedingungen vor der Flucht anzusetzen (vgl. Rachel T. Hare Mustin und Jeanne Marecek 1990) und hiervon ausgehend die Mehrschichtigkeit der Erfahrungen zu explorieren. Die Prozeßhaftigkeit der Kategorie ‘Geschlecht’ ist der Schlüssel für das Verständnis von Verhaltensweisen, die ‘gendered’ sind. Persönlichkeitsmerkmale spielen in diesen Interaktionen nur eine sekundäre, d. h. untergeordnete Rolle (vgl. Rhoda K. Unger 1990, S. 116). Ausgangspunkt für die Interpretation von Verhalten und Interaktion kann nur der Horizont der Handelnden selbst sein. 3. Geschlechterbeziehungen in Herkunfts- und Einwanderungsland – Ausgangspunkt für die Soziale Arbeit Um genauer zu verstehen, welche Problematik sich in bezug auf die Dimension der geschlechtsbezogenen Selbsttypisierung im Selbstkonzept von einwandernden Kindern und Jugendlichen im Aufnahmeland Bundesrepublik ergibt, ist es notwendig, nicht nur die gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse des jeweiligen Herkunftslandes zu kennen, sondern in der Mikroperspektive die verschiedenen (selbst) erfahrenen Ausdrucksformen von Macht und Autorität in den Blick zu nehmen. Das heißt für die Soziale Arbeit, davon auszugehen, daß das Klientel andersartige, ausgeprägte Vorstellungen zum eigenen geschlechtsbezogenen Verhalten hat, wie auch zu Männlichkeit und Weiblichkeit, zu Familienformen, Liebesmustern, Vorstellungen von Eltern-Kind-Beziehungen, Alltagstheorien von Erziehung, Kindheitskonzepten, aber auch zu der Gestaltung von Generationenverhältnissen, von Freundschaften bzw. peer group-Beziehungen ( Jugendkultur). Den Ausgangspunkt für die Geschlechtsidentität und alle geschlechtsbezogenen Einstellungen von Individuen bildet das jeweilige Geschlechterverhältnis in Gesellschaften. Kinderflüchtinge kom67 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN men i.d.R. aus gesellschaftlichen Kontexten, die einen anderen Entwicklungsstand aufweisen als die bundesdeutsche Gesellschaft, sich meist auf dem Weg von der Tradition in die Moderne befinden und daher noch Elemente von einfachen bzw. nicht-industrialisierten ‘kleinen’ Gesellschaften sowie – trotz anhaltender Verstädterungsprozesse – rurale Lebensformen aufweisen. Sozial polarisierte Lebensverhältnisse und -niveaus kennzeichnen diese Gesellschaften, was für Kinder und Jugendliche, insbesondere Mädchen, bedeutet, daß Bildung keine universale Option ist, sondern ein seltenes Privileg. Das erfahrene Konzept von Geschlecht bildete sich somit auf dem Hintergrund von Lebensformen, deren Basis der erweiterte Haushalt ist, in dem die Lebenswelten der Geschlechter, so Fatima Mernissis, ‘territorial’, d. h. räumlich segregiert sind (so z. B. in der Türkei, Algerien, Marokko). ‘Segregierte’ Geschlechterverhältnisse sind strukturell und kulturell in Welten und Räume für Männer und für Frauen separiert (vgl. Leonie Herwartz-Emden 1995 c). Für die weibliche Lebenswelt bedeutet eine solche separierte Geschlechterwelt, daß ein eigener ‘kultureller Raum’ (Maya Nadig 1987 und 1989 a und b) für die Frau zur Verfügung steht., der ihr eine durchaus machtvolle Position offeriert und ggf. Aspekte von Geschlechtersymmetrie (vgl. zu dem Begriff Ilse Lenz 1990) enthält. Dazu zählen weibliche Netzwerke und Unterstützungssysteme, auch die sog. ‘multiple’ Mutterschaft (zusätzliche gewählte ‘Mütter’) sowie die gesamte Gestaltung der Mutter-Kind-Beziehung (vgl. Leonie Herwartz-Emden 1995 a). Somit finden sich als Ausgangspunkt für die kindliche Entwicklung grundsätzlich andere Bedingungen ( Familie). Die Lebensbasis und -form der westlichen Welt ist hingegen hochindustrialisiert und hochurbanisiert und weist ein vergleichsweise hohes Wohlstands- und 68 Bildungsniveau auch für die Frau auf. In der ‘integrierten’ Geschlechterwelt des Westens – so kann das Geschlechterverhältnis im Gegensatz zur ‘territorialen’ Gestaltung bezeichnet werden – dominiert im Vergleich dazu die Gestaltungsform der Kleinfamilie auf der Basis einer ‘singulären’ Mutter-Kind-Beziehung (vgl. ebd.) bzw. der individuell zu tragenden Alleinverantwortlichkeit der Frau für das Kind und der daraus resultierenden Vereinbarkeitsproblematik zwischen Beruf, Bildung, Familie. Das vergleichsweise ‘integrierte’ Geschlechterverhältnis in westlichen, modernen Gesellschaften zeichnet sich gegenüber der ‘segregierten’ Geschlechterwelt aufgrund der hohen Bildungsbeteiligung der Frau durch erweiterte biographische Möglichkeiten für Frauen aus. Zugleich weist es aber einen fundamentalen Widerspruch auf zwischen dem ideologischen Gleichheitsdiskurs und der andauernden faktischen Ungleichheit der Geschlechter bzw. der Benachteiligung der Frau ( Mädchen). Die Lebens- und Beziehungsformen und damit die Aufwachsbedingungen der Kinderflüchtlinge aus den jeweiligen Herkunftsgesellschaften sind insofern anders als im Westen, als sie in der Regel so angelegt sind, daß der aufwachsenden Generation strukturell und potentiell der erweiterte Haushalt zur Verfügung steht (wenn auch oft, je nach Herkunftsschicht, nicht in der alltäglichen Versorgung). Die Mutter-Kind-Beziehung ist ebenfalls strukturell in die Gruppe integriert; ihre Psychodynamik deutlich anders konturiert. Für Kinder und Jugendliche beinhaltet ein solch sozialisierter Kontext von Mutterschaft bzw. Elternschaft, daß sie über ein vergleichsweise weit gefächertes Bezugssystem in der weiblichen Erwachsenenwelt verfügen. Ihnen werden große Bewegungsmöglichkeiten zugestanden. Sie sind aber zugleich, in viel größerem Umfang GESCHLECHT als die meisten Kinder in der Bundesrepublik, in zentrale Aufgabenbereiche, Verantwortungen und Verpflichtungen im familiären Alltag eingebunden. Anders als bei westlichen Kindern entwickelt sich auch ihre geschlechtsspezifische Identität. Einem türkischen Kind beispielsweise wird eine gänzlich andere Geschlechtstypisierung vermittelt als einem in der westlichen Gesellschaft sozialisierten: Das geschlechtsspezifische Selbstkonzept ist nicht mit den polarisierten Eigenschaftspaaren in den Dimensionen Instrumentalität (= Männlichkeit) versus Expressivität (= Weiblichkeit) abzubilden, sondern umfaßt ausgeprägte Anteile von Androgynität für beide Geschlechter, eine höhere Expressivität des Mannes sowie wünschenswerte Instrumentalitätsmerkmale für die Frau (Ergebnisse mit der BEMSkala im interkulturellen Vergleich, vgl. Leonie Herwartz-Emden und Manuela Westphal 1998). Die Selbstkonzepte von Männern und Frauen sind andersartig dimensioniert und weniger dichotomisiert. Westdeutsche Frauen entwerfen ein durch expressive Eigenschaften der Frau dominiertes Frauenbild, hingegen zeichnet sich das Frauenbild der Migrantin aus der Türkei durch den Anspruch auf die machtvolle Position der Frau in der Familie aus. Typische Geschlechtscharaktere sind also nicht im westlichen Sinne gegensätzlich konstruiert. Geschlechtsunterschiede lassen sich innerhalb der Instrumentalitätsdimension finden und eine ganze Reihe expressiver Merkmale erscheinen für beide Geschlechter erstrebenswert (siehe für die Türkei auch Cigdem Kagitcibasi und Diane Sunar 1997 sowie für Migrantinnen in Deutschland Leonie Herwartz-Emden,1995 b). Vor dem Hintergrund der letztgenannten Überlegungen wird besonders deutlich, daß die Selbstkonzepte und geschlechtsspezifischen Orientierungen und Einstellungen von migrierten Kindern und Jugendlichen mit dem hiesigen hierarchischen Modernitäts- und Emanzipationsdiskurs und einer polarisierten Beurteilung – zwischen Tradition und Moderne – nur schwerlich einzufangen sind. Aufgabe der Sozialen Arbeit sollte vielmehr sein, anknüpfend an ihrer je spezifischen Ausgangslage und den je spezifischen Sozialisationsmustern, eine Vermittlungsfunktion bei der Interpretation der hiesigen geschlechtsspezifischen Welt und den kindlichen oder jugendlichen Erfahrungen zu übernehmen, die dem Entwurf von neuen Orientierungen zuträglich ist. Im Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kinderflüchtlingen ( Persönlichkeitsentwicklung) und die dazu notwendigen pädagogischen Hilfen stellen ihre nicht-dichotomisierten, komplexen Konstruktionen von ‘Geschlecht’ ein Potential dar, an das in der Sozialen Arbeit unbedingt angeknüpft werden sollte. Das heißt, in diesem Bereich sind, jenseits von Stereotypisierungen, Fähigkeiten und Qualitäten zu entdecken, die beispielsweise für die Bildungsmotivation und -karriere der Kinder und Jugendlichen genutzt werden könnten. Zugleich muß eine kulturrelativistische Beurteilungsweise je kritisch überprüft werden, da ihnen die universalen Gerechtigkeits- und Emanzipationsideale nicht vorbehalten werden dürfen (insbesondere gilt dies für die Situation von Mädchen). Es hilft beispielsweise wenig, in kulturalistischen Deutungen gefangen zu bleiben, um Fehlverhalten oder Konflikte der Kinder und Jugendlichen aus Arbeitsmigrantenfamilien zu erklären. So deutet Schiffauer (1983) die brutale Mißhandlung und Gruppenvergewaltigung eines Mädchens durch türkische Jugendliche im Zusammenhang mit der Gültigkeit des sogenannten Ehrkonzeptes der türkischen Herkunftsgesellschaft, dem die Jugendlichen verhaftet seien und das zu ‘Mißverständnissen’ in der Interpretation der Verhal69 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN tensweisen des Mädchens durch die jungen Männer verleitete. Geschlechtsspezifische Verhaltensweisen in Zusammenhang mit Migration und Flucht zu erklären, setzt vielmehr eine Analyse in bezug auf das Zusammenwirken der Faktoren ‘Geschlecht’ und ‘Ethnizität’ ( Ethnizität) voraus bzw. der Funktionsweise von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen. Geschlechtsspezifische Erfahrungen sind sehr eng mit den familiären Orientierungen und Bindungen, dem emotionalen ‘Innenleben’ von Kindern und Jugendlichen verbunden. Ihre familiären und geschlechtsbezogenen Erfahrungen und Erwartungen müssen bekannt werden, um sie in die Soziale Arbeit einbeziehen zu können. Hier kommt zusätzlich, eine angemessene Einschätzung erschwerend, zum Tragen, daß in die Bundesrepublik flüchtende Kinder häufig aus Ländern kommen, in denen Kinder gehalten sind, zu arbeiten und in verantwortlicher Weise zum ökonomischen Überleben des gesamten Haushaltes beizutragen oder ihre eigene Existenz zu sichern. In der Bundesrepublik angekommen, werden sie mit einem Kindheitsmuster konfrontiert, in dem Kinder nicht nur unselbständig sind, von Erwachsenen lange Zeit abhängig, sondern von Erwachsenen dominiert und kontrolliert ( Kinder der Dritten Welt). Die Flucht hebt die Verantwortung des flüchtenden Kindes für die Familie und die Bindung an die Herkunftsfamilie nicht auf, sondern verstärkt sie – denn das Überleben im Westen soll insbesondere der hinterlassenen Familie zugute kommen ( Kinderflüchtlinge). Konflikte, Spannungen und Widersprüche zwischen den Sozialisationsmustern des Herkunftskontextes und den Bedingungen des Aufnahmekontextes ergeben sich zwangsläufig. Zur Stabilisierung und Balancefindung in der weiteren Identitätsentwicklung der Kinder und Jugendlichen ist es demnach auch aus dieser Perspekti70 ve unumgänglich, die Komplexität ihrer Bedingungen zu erfassen und ihre je spezifischen Erfahrungen genau auszumachen. Darüber hinaus ist von Bedeutung , daß Erziehung in traditionellen und/oder ruralen Kontexten meist eine wenig intentionale Erziehung ist. Sie findet vielmehr in öffentlichen Sphären statt und ist in der institutionalisierten Form, als schulische Bildung, nicht selten durchdrungen von kolonialen Ideologien und westlich dominierten Einflüssen. In bezug auf die geschlechtsspezifische Erziehung bedeutet dies für Jugendliche und Schulkinder, daß sie bereits alltägliche und ideologische Differenzen zwischen der Bildungseinrichtung und lokaler Kultur zu vereinbaren hatten bzw. ihnen die Integration verschiedener Geschlechterbilder als eine vertraute Entwicklungsaufgabe erscheint ( Interkulturelle Pädagogik). Es kann aber auch bedeuten, daß sie eine vereinheitlichende, religiös fundierte geschlechtsspezifische Erziehung durchliefen ( Religion). Für Kinderflüchtlinge liegen genau in diesem Bereich bedeutsame Herausforderungen für die von ihnen zu erbringende Akkulturationsleistung. Literatur Deaux, Kay/ Kite, Mary E.: Thinking about Gender, in: Hess, Beth B.; Ferree, Myra Marx (Hg.): Analyzing Gender. A Handbook of Social Science Research, Newbury Park/Beverly Hills/London u. a. 1987, S. 92117 Dölling, Irene/Krais, Beate (Hg.): Ein alltägliches Spiel: Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt a.M. 1997 Gümen, Sedef/Herwartz-Emden, Leonie/Westphal, Manuela.: „Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie als weibliches Lebenskonzept: Eingewanderte und deutsche Frauen im Vergleich“, in: Zeitschrift für Pädagogik (Schwerpunktheft zu Fragen der Migration und Remigration), 1/1994, S. 63-80 GESCHLECHT Hare-Mustin, Rachel T./Marecek, Jeanne : On Making a Difference, in: Dies. (Hg.): Making a Difference. Psychology and the Construction of Gender, New Haven/London 1990, S. 1-21 Kagitcibasi, Cigdem/Sunar, Diane:“ Familie und Sozialisation in der Türkei.“ In: Familien in verschiedenen Kulturen. Hg. von Nauck, Bernhard/Schönpflug, Ute, Stuttgart 1997, S. 145-161 Herwartz-Emden, Leonie: „Mutterschaft und weibliches Selbstkonzept. Eine interkulturell vergleichende Untersuchung.“ Weinheim und München 1995 a Kandiyoti, Deniz: Bargaining with Patriarchy, in: Gender and Society, 2. Jg., Nr. 3 (1988), S. 274-290 Herwartz-Emden, Leonie: „Konzepte von Mutterschaft und Weiblichkeit. Ein Vergleich der Einstellungen von Aussiedlerinnen, Migrantinnen und westdeutschen Frauen.“ in: Zeitschrift für Frauenforschung 3/ 1995 b, S. 56-70 Herwartz-Emden, Leonie: „Geschlechterverhältnisse und Mutterschaft in einfachen und modernen Gesellschaften“, in: Neue Sammlung , 35. Jahrgang, Heft 3/1995(c), S. 47-64 Herwartz-Emden, Leonie: „Erziehung und Sozialisation in Aussiedlerfamilien: Einwanderungskontext, familiäre Situation und elterliche Orientierung“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 7-8/97, 7. Februar 1997, S. 39 Herwartz-Emden, Leonie: „Ausländische Familien in Deutschland – Stereotypen und Alltagsrealitäten“ in: Lernen in Deutschland. Zeitschrift für Interkulturelle Erziehung. Journal of Intercultural Education. Heft 1/1997, S. 10-22 Herwartz-Emden, Leonie: „Die Bedeutung der sozialen Kategorien Geschlecht und Ethnizität für die Erforschung des Themenbereiches Jugend und Einwanderung“, in: Zeitschrift für Pädagogik, Jahrgang 43, Heft 6/1997, S.895-913 Herwartz-Emden, Leonie/Westphal, Manuela: „Konzepte mütterlicher Erziehung in Einwanderer- und Migrantenfamilien – Ergebnisse einer interkulturellen Studie“, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie (ZSE) 1997, 17. Jg./ Heft 1/ 1997, S. 56-73 Lenz, Ilse: Geschlechtersymmetrie als Geflecht von Frauen- und Männermacht. Zu den Minangkabau in der vorkolonialen Epoche, in: Lenz, Ilse/Luig, Ute (Hg.): Frauenmacht ohne Herrschaft. Geschlechterverhältnisse in nichtpatriarachlischen Gesellschaften, Berlin 1990, S. 280-305 Nadig, Maya: Die gespaltene Frau – Mutterschaft und öffentliche Kultur, in: Brede, Karola (Hg.): Was will das Weib in mir? Freiburg im Breisgau 1989 a, S. 141-161 Nadig, Maya: Frauen in der Kultur – Macht und Ohnmacht. Zehn ethnopsychoanalytische Thesen, in: Kossek, Brigitte/Langer, Dorothea/Seiser, Gerti (Hg.): Verkehren der Geschlechter. Reflexionen und Analysen von Ethnologinnen, Wien 1989 b, S. 264-271 Wiener Nadig, Maya: Mutterbilder in zwei verschiedenen Kulturen. Ethnopsychoanalytische Überlegungen, in: Braun, Christina von/Sichtermann, Barbara/Nadig, Maya u. a.: Bei Licht betrachtet wird es finster. FrauenSichten, Frankfurt a. M. 1987, S. 81-104 Schiffauer, Werner: Die Gewalt der Ehre. Erklärungen zu einem deutsch-türkischen Sexualkonflikt. Frankfurt am Main 1983 Unger, Rhonda K.: Imperfect Reflections of Reality. Psychology Constructs Gender, in: Hare-Mustin, Rachel T.; Marecek, Jeanne (Hg.): Making a Difference. Psychology and the Construction of Gender, New Haven/London 1990, S. 102-149 Leonie Herwartz-Emden Herwartz-Emden, Leonie/Westphal, Manuela: „Frauen und Männer, Mütter und Väter: Empirische Ergebnisse zu Veränderungen der Geschlechterverhältnisse in Einwandererfamilien“ in: Zeitschrift für Pädagogik, Themenheft, 5/1998 Hess, Beth B./Ferree, Myra Marx (Hg.): Analyzing Gender. A Handbook of Social Science Research, Newbury Park/Beverly Hills/London u. a. 1987 Hess, Beth B./Ferree, Myra Marx : Introduction, in: Dies.: Analyzing Gender. A Handbook of Social Science Research, Newbury Park/Beverly Hills/ London u.a.: 1987, S. 9-30 71 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN Politik und Gesellschaft Wer Kinderflüchtlinge betreut, berät oder gar über sie entscheidet, muß sich über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse des Heimatlandes im Klaren sein. Dazu bedarf es, über die aufmerksame Lektüre und Wahrnehmung von Presseberichten und Nachrichtenmagazinen hinaus, Kenntnis auch über die einschlägigen Nachschlagewerke und Informationsquellen. Diese sollen im folgenden vorgestellt und kommentiert werden. 1. Lexikon Dritte Welt Das von Dieter Nohlen herausgegebene Lexikon Dritte Welt gilt in der fachpolitischen Diskussion als Standardwerk und enthält in komprimierter Form vielfältige Informationen über Länder, Organisationen, Theorien, Begriffe und Personen. Es ist als Nachschlagewerk und Arbeitsmittel konzipiert und vermittelt den Anspruch, durch eine Kombination von Länderanalysen, organisationskundlichen und begrifflich-systematischen Stichwörtern umfassend über den fraglichen Gegenstand zu informieren. Darüber hinaus finden sich im Anhang eine Übersicht über Zeitschriften, Materialien und Periodika zum Themenfeld Entwicklungspolitik/Dritte Welt sowie eine Anzahl von Tabellen, die eine vergleichende Analyse bestimmter Regionen, Länder und Problembereiche erlauben. Das Lexikon Dritte Welt erschien erstmals 1980 und wurde seither mehrfach überarbeitet und aktualisiert. Sein Wert liegt im Überblick, in der präzisen Information und der klar strukturierten Darstellung. Infolge der sich z. T. rasant wandelnden Entwicklungen insbesondere in den Konfliktzonen dieser Welt befindet man sich mit der Lektüre jedoch nicht immer auf dem aktuellsten Stand. Wer sich ein differenziertes und zugleich wirklich72 keitsnahes Bild über die Lage in einem bestimmten Land, in einer bestimmten Region machen will – und das kann im Einzelfall lebensrettend sein –, muß sich daher um weitere Quellen bemühen. Das Lexikon Dritte Welt kann in einigen Bundesländern über die Landeszentrale für politische Bildung bezogen werden. (Quelle: Dieter Nohlen (Hg.): Lexikon Dritte Welt, Reinbek b. Hamburg 1994) 2. Ländermappen der Deutschen Stiftung für internationale Entwicklung Die Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung (DSE) in Bonn ist „eine Institution des entwicklungspolitischen Dialogs und der Fort- und Weiterbildung für Fach- und Führungskräfte aus Entwicklungs- und Transformationsländern. Darüber hinaus bereiten sich in der DSE deutsche Fachkäfte auf ihren Aufenthalt in einem Entwicklungsland vor“ (DSE Faltblatt). Die DSE verfügt über die größte entwicklungspolitische Dokumentations- und Informationsstelle in der Bundesrepublik Deutschland. Die Zentrale Dokumentation (ZD) steht allen Interessierten offen. Es finden sich dort deutsch- und fremdsprachige Monographien, Graue Literatur, Hochschulschriften, Jahresberichte, Zeitschriften, Informationsdienste, Zeitungen und Umfrageergebnisse. Öffnungszeiten der Bibliothek und der Pressedokumentation: Mo. und Do. 9.00 bis 16.00 Uhr sowie Fr. 8.00 bis 12.00 Uhr. Es stehen Leseplätze und Kopiergeräte zur Verfügung. Darüber hinaus können Informationen auf Anfrage zusammengestellt werden. Diese beziehen sich auf: – Bereitstellung von entwicklungspolitischem und länderkundlichem Informationsmaterial – Auswahlbibliographien zu entwicklungspolitischen Themen POLITIK UND GESELLSCHAFT – Auswahlverzeichnisse aus der Institutionenkartei – Individuelle Recherchen in den Literatur- und Forschungsdatenbanken sowie in der Pressedokumentation – Beratung bei der Benutzung von Bibliothek und Pressedokumentation – Versand von DSE-Veröffentlichungen Wer also qualifizierte Informationen zu einem bestimmten Land sucht – vielleicht auch in Ergänzung bereits ausgewerteter Quellen –, kann sich über die DSE z. B. Ländermappen über bestimmte Zeiträume oder Themenbereiche zusammenstellen lassen. Diese Leistungen sind nicht gebührenfrei, aber auch nicht unerschwinglich. (Adresse: Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung – Zentrale Dokumentation –, Hans-Böckler-Str. 5, 53225 Bonn, Tel. 0228/4001-0) 3. Handbuch der Fluchtländer Die wohl umfassendsten, detailliertesten und aktuellsten Informationen über die Herkunftsländer der Kinderflüchtlinge finden sich in dem von der Zentralen Dokumentationsstelle der Freien Wohlfahrtspflege für Flüchtlinge (ZDWF) e.V. in Siegburg herausgegebenen Handbuch der Fluchtländer, einem 2-bändigen Loseblattwerk, das fortlaufend aktualisiert und fortgeschrieben wird. Wer mit dem Handbuch arbeitet, hat also darauf zu achten, daß die jeweiligen Aktualisierungen aufgenommen bzw. überfällige Informationen ausgetauscht bzw. entfernt werden. Die BenutzerInnen sind aufgerufen, ihre Anregungen, Ergänzungen und Aktualisierungen mitzuteilen, damit das Handbuch ständig erweitert, ergänzt und auf aktuellem Stand gehalten werden kann. Von Afghanistan bis Zaire werden alle Fluchtländer dieser Welt vorgestellt, und zwar jeweils anhand von Basis-Informationen über die Situation im Land, asylre- levanten politischen Entwicklungen sowie der Beschreibung der Asylsituation in der Bundesrepublik Deutschland bzgl. wesentlicher Asyl-Entscheidungen und Quellen zu weiteren Dokumenten. Darüber hinaus wurden detaillierte Berichte über die Menschenrechtslage im Fluchtland – z. B. vom Hohen Flüchtlingskommissariat (UNHCR), dem US Department of State und ‘amnesty international’ – aufgenommen, die einen differenzierten Blick auf die Gesamtsituation im Herkunftsland erlauben. Soweit möglich, wird der besonderen Situation von Kindern auf der Flucht ebenfalls Rechnung getragen. „Dieses neue Handbuch der Fluchtländer wendet sich in erster Linie an all diejenigen, die Flüchtlinge im Asylverfahren beraten. Dies sind die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die den Asylsuchenden im immer komplizierteren und engherzigeren Rechtsverfahren zur Seite stehen. Dies sind die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in den Beratungsstellen, die sich trotz immer knapper werdender Mittel und härterer Restriktionen nicht entmutigen lassen. Und dies sind die ungezählten ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in kirchlichen, sozialen, gewerkschaftlichen, politischen und unabhängigen Gruppen und Flüchtlingsinitiativen, denen das Schicksal vor Verfolgung, Hunger, Krieg und Unterdrükkung nach Deutschland geflohener Menschen nicht gleichgültig ist“ (Handbuch, Vorwort). Als Nachschlagewerk ist das Handbuch der Fluchtländer für eine qualifizierte Soziale Arbeit mit Kinderflüchtlingen unverzichtbar und sollte daher allen Initiativen und Institutionen verfügbar sein. (Quelle: Handbuch der Fluchtländer, hrsg. von: Zentrale Dokumentationsstelle der Freien Wohlfahrtspflege für Flüchtlinge e.V., Postfach 1110, 53701 Siegburg, Tel. 02241/50001) 73 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN 4. Journalisten-Handbuch Entwicklungspolitik Das Journalisten-Handbuch Entwicklungspolitik wird jährlich vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) herausgegeben und aktualisiert. „Absicht und Ziel des Handbuches ist es, den Benutzer in die Lage zu versetzen, schnell und exakt Basisinformationen über die Entwicklungspolitik Deutschlands sowie internationaler Institutionen zu erhalten“ (Journalistenhandbuch 1996, S. 2). Das Journalisten-Handbuch bereitet in handlicher Form Informationen zu folgenden Bereichen der Entwicklungspolitik auf: – Grundsätze – Organisation/Instrumente – Entwicklungspolitik im Parlament – Leistungen an die Partnerländer – Bilaterale Zusammenarbeit – Finanzielle Zusammenarbeit – Technische Zusammenarbeit – Personelle Zusammenarbeit – Bereiche der Zusammenarbeit – Nichtstaatliche Organisationen – Bilaterale Wirtschaftsbeziehungen – Europäische Union – Multilaterale Institutionen – Zentrale Probleme der Entwicklungsländer – Weltwirtschaftsordnung – Länder und Zusammenschlüsse sowie – Anschriften/Informationen Darüber hinaus enthält das Journalisten-Handbuch ein Stichwortverzeichnis und eine Vielzahl von Tabellen, die die entwicklungspolitischen Leistungen und Maßnahmen des BMZ sowie die globalen Entwickungstrends ins Verhältnis setzen. Informationen über Länder, mit denen die Bundesrepublik Deutschland keine Entwicklungszusammenarbeit fördert oder nicht mehr fördert, finden sich im Journalisten-Handbuch nicht. Dabei handelt es sich häufig um Länder, die aufgrund ei74 ner besonders krisenhaften Entwicklung (vorübergehend) nicht mehr gefördert werden oder aus der Zusammenarbeit ausscheiden, darunter auch Fluchtländer. Das Journalisten-Handbuch vermittelt dennoch eine Fülle von Informationen über die Entwicklungen, Verhältnisse und Probleme in den Ländern wirtschaftlicher Zusammenarbeit, wobei hier insbesondere die Adressen und Institutionenverweise wertvoll sind. Das Journalisten-Handbuch kann kostenlos beim BMZ angefragt werden. (Adresse: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Friedrich-Ebert-Str. 40, 53113 Bonn, Tel. 0228/535-0 bzw. Außenstelle Berlin, Kurstr. 40, 10117 Berlin, Tel. 030/2038-0) 5. Spuren – Hintergrund und Fakten zu den Weltflüchtlingsbewegungen Der Bundesverband Deutsche Jugend in Europa in Bonn hat einen Band seiner Spuren den Kindern und Jugendlichen in Krisen und Kriegsgebieten gewidmet. Er soll hier beispielhaft aufgenommen sein, da er neben einigen thematisch relevanten Beiträgen zum Thema Kinderflüchtlinge auch Länderberichte enthält, die allerdings relativ allgemein gehalten sind. Diese Länderberichte bestehen aus Presseberichten, die sich mit dem Phänomen Kinder auf der Flucht befassen, darunter: – Kinder und Jugendliche in Europa – Kinder und Jugendliche in den USA – Kinder und Jugendliche in Südamerika – Kinder und Jugendliche in Afrika – Kinder und Jugendliche im Nahen Osten – Kinder und Jugendliche in Asien Ziel dieses Bandes ist es, „aufgearbeitete Materialien über Hintergründe und Fakten der gegenwärtigen Weltflüchtlingsbewegungen zur Verfügung zu stellen, und zwar insbesondere für den Einsatz im Bereich der außerschulischen politischen L I T E R AT U R Bildung von Jugendlichen“ (Spuren 3, S. V). (Quelle: Spuren – Hintergründe und Fakten zu den Weltflüchtlingsbewegungen, Band 3: Kinder und Jugendliche in Krisen und Kriegsgebieten, hrsg. vom Bundesverband Deutsche Jugend in Europa, Prinz-Albert-Str. 1 a, 53111 Bonn, Tel. 0228/224081) Weitere ausgewählte Literaturhinweise zu den Herkunftsländern von Kinderflüchtlingen entnehmen Sie bitte dem Beitrag zum Stichwort Literatur ( Literatur). Gisela Wuttke Literatur – Nohlen, Dieter/Nuscheler, Franz (Hg.): Handbuch der Dritten Welt. Verlag J.H.W. Dietz Nachfolge GmbH, Bonn 1993 – Band 4: Westafrika und Zentralafrika – Band 5: Ostafrika und Südafrika – Band 6: Nordafrika und Naher Osten – Steinbach, Udo/Hofmeier, Rolf/Schönborn, Mathias (Hg.): Politisches Lexikon Nahost/Nordafrika. Beck Verlag, München 1994 2. Bibliographie Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. (Hg.): Quellen. Bibliographie. Zeitgenössische Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika in deutscher Übersetzung. Frankfurt a.M. 1998 Mit den folgenden Literaturangaben sollen zwei Ziele verfolgt werden: zum einen Hintergrundinformationen zu den Hauptherkunftsländern zu vermitteln, und zum anderen soll weiterführende Literatur aus authentischer Feder in Form von Romanen, Autobiographien, Erzählungen, Märchen und Gedichten den Zugang zu den jugendlichen Flüchtlingen erleichtern. 3. Herkunftsländer 1. Grundlegende Nachschlage- und Standardwerke zum Weiterlesen: – Hussain, Taha: Jugendjahre in Kairo. Autobiographischer Roman. Edition Orient, Berlin 1986 – Mahfus, Nagib: Die Kinder unseres Viertels. Roman. Unionsverlag, Zürich 1995 – Saadawi, Nawal El; Hamidas: Geschichte. Erzählung. dtv, München 1994 – amnesty international: Jahresberichte, Fischer Verlag, Frankfurt a.M. – Der Fischer Weltalmanach: Zahlen, Daten, Fakten 99, Fischer Verlag, Frankfurt a.M. – SPIEGEL Almanach ‘99: Alle Länder der Welt, Zahlen Daten Analysen, SPIEGEL-Buchverlag; Hamburg – Ende, Werner und Steinbach, Udo (Hg.), unter red. Mitarb. von Gundula Krüger: Der Islam in der Gegenwart, Beck Verlag, München 1996 Ägypten (Nord-Afrika) – Büttner, Friedemann/Klostermeier, Inge: Ägypten. Beck Verlag, München 1991 – Ende/Steinbach: Der Islam in der Gegenwart – Steinbach/Hofmeier/Schönborn: Politisches Lexikon Nahost/Nordafrika Afghanistan (West-Asien) – Ende/Steinbach: Der Islam in der Gegenwart – Hübel, Helmut: Afghanistankrieg. Das 75 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN Ende des Kalten Krieges im Orient, Oldenbourg Verlag, 1995 – Klieber, H.: Afghanistan. Geschichte, Kultur, Volkskunst, Teppiche. Landsberger Verlagsanstalt, Landsberg 1989 zum Weiterlesen: – Doubleday, Veronica: Die Kluge, Die Bedrückte, Die Unabhängige. Drei Frauen in Afghanistan. Rowohlt Verlag, Reinbek 1989 – Lorenz, Manfred (Hg.): Afghanische Märchen. insel Verlag, Frankfurt a. M. 1990 Albanien (Südost-Europa) – v. Kohl, Christine: Albanien. Beck Verlag, München 1998 zum Weiterlesen: – Kadaré, Ismail: Chronik in Stein. Kindheitsroman. München 1992 Aserbaidschan (Vorder-Asien) – s. Rußland und GUS-Staaten zum Weiterlesen: – Elçin: Das weiße Kamel. Roman aus Baku. Unionsverlag, Zürich 1994 Bosnien-Herzegowina (Südost-Europa) – Bali, Smail: Das unbekannte Bosnien, Europas Brücke zur islamischen Welt. Böhlau Verlag, Köln 1992 – Fritzler, Marc: Stichwort Bosnien. Heyne Verlag, München 1994 zum Weiterlesen: – Filipovic, Zlata: Ich bin ein Mädchen aus Sarajevo. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch-Gladbach 1992 – Rathfelder, Erich: Sarajevo und danach. Beck Verlag, München 1998 Ghana (West-Afrika) Algerien (Nord-Afrika) – s. Nigeria – Herzog, Werner: Algerien. Zwischen Demokratie und Gottesstaat. Beck Verlag, München 1995 zum Weiterlesen: – Ama Ata, Aidoo: Die Zweitfrau. Eine Liebesgeschichte. Roman. Lamuv Verlag, Göttingen 1998 – Awoonor, Kofi: Schreckliche Heimkehr nach Ghana. Lembeck Verlag, Frankfurt a. M. 1985 – Darko, Amma: Das Hausmädchen. Roman. Schmetterling Verlag, Stuttgart 1998 zum Weiterlesen: – Ghalem, Ali: Die Frau für meinen Sohn. Roman. Lenos TB, Basel 1994 – Mimouni, Rachid: Die Stammesehre. Roman. Kinzelbach Verlag, Mainz 1996 Armenien (Vorder-Asien) – Hofmann, Tessa: Annäherung an Armenien. Beck Verlag, München 1997 – Hofmann, Tessa: Armenier und Armenien. Heimat und Exil. Rowohlt Verlag, Reinbek 1994 – weitere Hintergrundinformationen s. Rußland und GUS-Staaten zum Weiterlesen: – Krakuni, Zareh: Von den Steinen Armeniens. Gedichte. Edition Orient, Berlin 1990 76 Georgien (Vorder-Asien) – s. Rußland und GUS-Staaten Iran (Vorder-Asien) – Halm, Heinz: Der Schiitische Islam. Von der Religion zur Revolution. Beck Verlag, München 1994 – Steinbach/Hofmeier/Schönborn: Politisches Lexikon Nahost/Nordafrika zum Weiterlesen: – Ahmad, Mahmud: Die Rückkehr. Ro- L I T E R AT U R – – – – man. Glaré Verlag, Frankfurt a. M. 1997 Doulatabadi, Mahmoud: Der leere Platz von Ssolutsch. Familienroman. Unionsverlag, Zürich 1996 Said: Der lange Arm der Mullahs. Notizen aus meinem Exil. Gedichte und Texte. Beck Verlag, München 1996 Siege, Nasrin: Der Tag des Regenbogens. Märchen, Mythen und Geschichten. Verlag Brandes & Apsel, Frankfurt a. M. 1995 weitere Infomationen siehe „Quellen“ Jugoslawien (Südost-Europa) – Fritzler, Marc: Stichwort Das ehemalige Jugoslawien. Heyne Verlag, München 1994 – Libal, Wolfgang: Die Serben. Blüte Wahn und Katastrophe. Europa Verlag, Wien 1996 Kosovo -– Provinz – v. Kohl, Christine/Libal, Wolfgang: Kosovo. Gordischer Knoten des Balkan. Europa Verlag, Wien 1992 zum Weiterlesen: – Özakin, Aysel: Die Zunge der Berge. Beziehungsroman. Goldmann Verlag, München 1997 Kasachstan (Zentral-Asien) – s. Rußland und GUS-Staaten, sowie Ende/Steinbach: Der Islam in der Gegenwart, a.a.O. Kirgisistan (Zentral-Asien) – s. Rußland und GUS-Staaten, sowie Ende/Steinbach: Der Islam in der Gegenwart, a.a.O. zum Weiterlesen: – Aitmatow, Tschingis: Kindheit in Kirgisien. Unions Verlag, Zürich 1997 Kongo, Demokratische Republik (ZentralAfrika) – s. Nigeria zum Weiterlesen: – Mayamba, Pierre Kembo: Verlorene Gefühle. Leben zwischen zwei Heimaten. Haag und Herchen Verlag, Frankfurt a. M. 1995 Liberia (West-Afrika) – Körner, Peter: Macht und Interessenpolitik in der ECOWAS-Region und der Krieg in Liberia. Hamburg 1997 Nigeria (West-Afrika) – Nohlen/Nuscheler: Handbuch der Dritten Welt Nr. 4 zum Weiterlesen: – Becker, Friedrich (Hg.): Afrikanische Märchen. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1989 – Emecheta, Buchi: Zwanzig Säcke Muschelgeld. Familienroman. Unionsverlag, Zürich 1991 – Nwapa, Flora: Efutu. Roman über ein Frauenschicksal. Lamuv Verlag, Göttingen 1997 – Saro-Wiwa, Ken: Sozaboy. Antikriegsroman. dtv, München 1998 – Soyinka, Wole (1986 Nobelpreis): Ake. Jahre der Kindheit. Autobiographie. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1989 – weitere Informationen siehe „ Quellen“ Rumänien (Südost-Europa) – Verseck, Keno: Rumänien. Beck Verlag, München 1998 – Wagner, Richard: Sonderweg Rumänien. Bericht aus einem Entwicklungsland. Rotbuch Verlag, Berlin 1992 zum Weiterlesen – Müller, Herta: Hunger und Seide. Essays über Rumänien u. a., Rowohlt Verlag, Reinbek 1995 77 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN – Sabin, Stefana (Hg.): Rumänien erzählt. 17 Erzählungen. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1991 Rußland und GUS-Staaten (Ost-Europa und Asien) – Brunner, Georg: Nationalitätenprobleme und Minderheitenkonflikte in Osteuropa. 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Taschenbuch Verlag, Mannheim 1995 Rosemarie Peter 79 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN Religionen – Eine Einführung Dieser Aufsatz soll Denkanstöße für die Begegnung mit anderen Religionen vermitteln. Aufgegriffen wird die Frage nach dem Wesen und Anlaß von Religion, ebenso wie die Relation zwischen Religion und Kultur. Gibt es gemeinsame Grundzüge religiösen Denkens? Was sind Gemeinsamkeiten der großen Weltreligionen? Auf einzelne Religionen bzw. Glaubensrichtungen wird in den nachfolgenden, getrennten Aufsätzen eingegangen, jeweils mit Schwerpunkt auf Herkunftsländern von Kinderflüchtlingen. Religionen und ihr Kontext füllen Bibliotheken. Hier kann nur versucht werden, zu weiterer, vertiefender Lektüre anzuregen. Die Natur des Menschen ist immer die gleiche; was sie trennt, sind ihre Bräuche. (Konfuzius, 551 – 478 v. Chr.) 1. Was ist Religion? Religion ist ein universales Phänomen. Alle Völker der Erde kennen ein ‘Absolutes’ oder einen persönlichen Gott. Diese Annahme übermenschlicher Macht wird vermutlich benötigt, um die eigene Existenz zu erklären und sich der universellen Menschheitsfrage nach dem Ursprung der Welt zu nähern. Für die menschliche Existenzsicherung unerläßlich erscheinen vor allem die Pflege der Beziehungen zu abwesenden Verwandten und Gruppenangehörigen sowie Ahnen, Geistern und Göttern und die Abwehr von Kontakten zu Fremden, Unheilsgeistern und feindlichen Gottheiten. „Beides geschieht in der Hauptsache mit Mitteln der Magie und Religion...“ (Müller 1987, S. 237). Religion ist ein System von Glauben und Praktiken, die einer Gesellschaft zentrale Werte übernatürlicher Kräfte vermitteln können, ihren Mitgliedern Rückhalt bieten und Identität schaffen. Religion ist integrativ und gleichzeitig ausschließend. Sie formt 80 soziales Verhalten und wirkt sich auf den Alltag und ‘common sense’ aus, ähnlich wie Träume im Unterbewußtsein nachwirken. Damit verbundene Rituale, Mythen und Symbole unterliegen vielfältigen Variationen (vgl. Geertz 1972), entsprechend der Vielfältigkeit der Kulturen, denen sie jeweils angepaßt sind, in deren Kontext sie sich einfügen und deren Wandel sie sich anpassen. Wanderbewegungen, Flucht, Vertreibung und Migration bewirken Veränderungen und Abwandlungen von Einstellungen und Lebensweisen ebenso, wie globale Modernisierungserscheinungen. Insbesondere in der Erfahrung von erzwungener oder freiwilliger Neuorientierung durch Migration, kann der Rückgriff auf religiöse und mystische Orientierungen eine Bedeutung im Leben der Betroffenen erlangen, die über die im Herkunftsland gewohnte hinausgeht. Religion kann in ihrer sozialen Komponente als Zuflucht und Rückzugsmöglichkeit an Gewicht gewinnen. Als Grenz- und Differenzbestimmung gegenüber anderen kommt es häufig zur Neudefinition, Konkretisierung oder Neuformulierung von Inhalten religiösen und mystischen Denkens. Kritik oder Angriffe von Außenstehenden verstärken solche Tendenzen. 2. Kinder und Religion Kulturelle und religiöse Anschauungen von Kinderflüchtlingen sind dem Bereich existentieller Erfahrungen zuzuordnen, der sich dem freien Austausch mit Betreuenden i.d.R. für lange Zeit verschließt. Oft sind es nur besondere Speisewünsche, die Aufschluß über religiöse Orientierungen geben. Ohnehin sind die Beziehungen zum Herkunftsland sehr unterschiedlich und schwer durchschaubar. Im allgemeinen muß davon ausgegangen werden, daß das Wissen dieser Kinder und Jugendlichen über eigene religiöse Hintergründe RELIGIONEN – EINE EINFÜHRUNG oft eher fragmentarisch ist, eher ein Gegenstand ‘impressionistischer Erinnerung’ als ein erfahrener und verinnerlichter Sozialisierungsvorgang. Sie ließen ihr gewohntes Umfeld zurück, in dem sich das Lernen von ‘legitimer Kultur’ (Durkheim) ihrer Herkunft hätte fortsetzen und stabilisieren können, sei es implizit und diffus wie gemeinhin innerhalb der Familie, oder explizit und spezifisch ausgerichtet wie im Rahmen der Schule. Für Kinder kann religiöse Erfahrung zwiespältig sein, sie kann identitätssichernd oder bedrohlich wirken. Sie beinhaltet die Erfahrung von Differenz: als eine hilfreiche oder strafende ‘Übermacht’, die letztlich eher bedrohlichen Charakter haben kann, da sich ihr selbst Erwachsene beugen. Dazu kommt, daß viele Flüchtlinge – auch ältere Kinder und Jugendliche – Religion als Anlaß für Ausgrenzung und Verfolgung von Minderheiten in ihrer Heimat erlebten. In der Begegnung und Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aus anderen Kulturen darf nicht vergessen werden, daß Kindheit und Jugend unterschiedlich definiert wird. Die Dauer der Kindheit, wie auch der Eintritt ins Jugend- bzw. Erwachsenenalter, sind von religiösen, sozialen und individuellen Voraussetzungen und Lebensbedingungen abhängig. Man denke dabei nur an Situationen, in denen Kinder zum Familieneinkommen beitragen müssen. Dem Übergang ins Erwachsenenalter widmen fast alle Religionen Rituale, die gleichzeitig die Aufnahme und Akzeptanz als Mitglied der Gemeinschaft signalisieren. Dazu gehören auch Beschneidungsrituale, auf die weiter unten eingegangen wird. 3. Religion und Kultur Religiöses Denken und religiöse Praxis sind eng mit dem jeweiligen Umfeld verbunden und in allen Religionen und Glau- bensrichtungen anzutreffen. Das gilt für den christlichen Glauben ebenso, wie für den Hinduismus, den Islam und andere Religionen. Kulturelle Verhaltensweisen, aus der Herkunft tradiert und alltäglich beeinflußt, spiegeln sich darin ebenso, wie geschichtliche Erfahrungen1. Sie schlagen sich im sozialen Verhalten nieder. Ein gutes Beispiel, da ihre Wirksamkeit mitunter öffentlich ist, sind geschlechtsspezifische Verhaltensregeln. Darunter fällt mitunter die Beurteilung dessen, was männliche oder weibliche Reize, was Reinheit oder Unreinheit ausmacht und deshalb (scheinbar) moralischer Regeln innerhalb einer Gesellschaft oder religiöser Handlungsanweisungen bedarf. Kulturell definiert und religiös beeinflußt ist so die Einschätzung und der Umgang mit menschlicher Haarpracht, sei sie unter dem Arm, auf der Brust oder auf dem Kopf! In vielen Beschneidungsritualen (s. u.) nimmt der Umgang mit dem Körper- und Kopfhaar eine herausragende Rolle ein. Seine Entfernung symbolisiert hier den Übergang und die Reinigung aus einem Stadium von Unreinheit und Tod (vgl. Swantz 1986, S. 282). Kinder wachsen in dergleichen gesellschaftliche Konzepte hinein. Sie gehen jedoch mit dem gesellschaftlichen Reservoir an Werten, Handlungen und Glaubensvorstellungen auf eine Weise um, die nur zu ihnen gehört und die Teil ihrer oft unterschätzten Autonomie ist (vgl. Hardmann 1993, S. 60 ff). Schließlich sind sie – ausserhalb von Extremsituationen wie Krieg und Gewalt – weder passive Objekte, noch hilflose ZuschauerInnen in einer sie bedrängenden Umwelt. Die verbreitete Unterschätzung kindlichen Potentials dürfte nicht zuletzt auch auf religiöse Lehren und Traditionen zurückzuführen sein, denen weitgehend gemeinsam ist, daß sie Kinder häufig erst mit dem Eintritt in die Pubertät als volles Mitglied der jeweiligen Gemeinschaft betrachten. 81 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN 3.1 Beschneidung Zur Verbreitung von Beschneidungspraktiken gibt es keine genauen und überprüfbaren Daten. Frauenrechtsorganisationen oder Aktionsgruppen gegen weibliche – inzwischen auch gegen männliche – Beschneidung müssen sich weitgehend auf Schätzungen berufen. Beschneidungen sind nicht grundsätzlich religiös begründet. Historisch gesehen ist diese Praxis bereits in Malereien aus dem pharaonischen Ägypten dokumentiert. Als Gründe für die heute praktizierte männliche Beschneidung kurz nach der Geburt werden religiöse und/oder hygienische Gründe angeführt. So werden im Judentum männliche Kinder am 8. Lebenstag beschnitten, als religiöses Symbol des Bundes Gottes mit Abraham. Darüber hinaus ist in vielen Gesellschaften, wie z. B. in den USA, die Beschneidung männlicher Kinder üblich. Hygienische, soziale und moralische Gründe werden dafür herangezogen. In Gesellschaften, in denen die Beschneidung religiös und/oder mythisch begründet wird, bleibt das Individuum vor der Pubertät und insbesondere vor der Beschneidung ohne soziale oder magische Konsequenz. Hier verlieren die Heranwachsenden mit dem Abschluß der damit verbundenen Rituale viele der Freiheiten, die sie bis dahin genießen konnten (vgl. Rachewitz 1968, S. 15 ff). Ihre Kindheit ist praktisch beendet. Die Beschneidung von Kindern oder Heranwachsenden beiderlei Geschlechts ist besonders in islamischen Gemeinschaften weit verbreitet. Im Koran ist jedoch keine spezifische Handlungsanweisung dafür nachweisbar. Insbesondere weibliche Beschneidung2 ist eindeutig auf Unterdrückung oder Zerstörung weiblicher Lust und Lebensfreude ausgerichtet. Sie wird in unterschiedlichen Formen praktiziert, die bis zu massiver Verstümmelung mit Todesfolge reichen. Dabei werden die kleinen Schamlippen und/oder die Klitoris 82 (Sunna-Beschneidung) beschnitten oder entfernt. Bei der ‘Pharaonischen Beschneidung’, der Infibulation3, werden zusätzlich zur Klitoris auch die kleinen und die großen Schamlippen der meist dreibis achtjährigen Mädchen abgetrennt und dann die gesamte Vaginaöffnung so zugenäht, daß nur eine kleine Öffnung verbleibt: „Die Narben der Infibulation sind das Siegel der Familienehre und der Ehre der Patrilineage“ (Boehringer-Abdalla 1987, S. 71). Im Nordsudan beispielsweise wird diese Beschneidung von einer traditionellen Geburtshelferin ausgeführt, nicht von einer ausgebildeten Hebamme, und ohne Betäubung. Om Naeema, eine ägyptische Muslima, erinnert sich an ihre Beschneidung als den Tag, an dem sie dachte „der Himmel würde über ihr einstürzen“ so stark war der Schock der Schmerzen.4 Besondere Zuwendung der Erwachsenen, Kleider, Schmuck, Süßigkeiten und magische Glückssymbole sollen die Mädchen von den Schmerzen der rituellen Operation ablenken. Die Beschneidung ist Anlaß für ein großes Fest, für Verwandte, Nachbarn und FreundInnen. In afrikanischen Gesellschaften, wo Beschneidungen auch bei Angehörigen christlicher und anderer Glaubensrichtungen praktiziert werden, wird diese Praxis mit althergebrachten afrikanischen Denkweisen begründet. Diese Vorstellungen gehen davon aus, daß der Mensch von Geburt an ein doppeltes Geschlecht habe. Erst die Beschneidung macht den Menschen eindeutig männlich oder weiblich und damit auch fruchtbar. Seine Rolle und Zugehörigkeit innerhalb seiner Gesellschaft wird erst durch diesen Eingriff klar definiert. In vielen Gesellschaften sind Beschneidungspraktiken nach wie vor tief verankert. Ohne Beschneidung droht den Betroffenen immer noch Ächtung, Ehelosigkeit und Verlust zukunftssichernder Ein- RELIGIONEN – EINE EINFÜHRUNG bindung in verwandtschaftliche, gesellschaftliche und religiöse Netzwerke. Verbunden damit und daraus resultierend befürchtet die Generation der Erwachsenen, der beschneidenden Akteure, den Verlust von Ansehen, die Gefährdung der Alterssicherung durch die Kinder und deren Enkel. Dies alles trägt dazu bei, daß selbst in der Migration die Beschneidungspraxis nicht oder nur sehr zögernd aufgegeben wird, wie eine Befragung von Somalis in der Schweiz ergab (vgl. Beck-Karrer 1996, S. 119 ff). Gesetze zum Verbot von Beschneidungen, wie im Fall des Sudan oder neuester Bestrebungen in Westafrika5, haben angesichts unzureichender Aufklärung bisher wenig Wirkung gezeigt. In Anbetracht der befürchteten Folgen eines Verzichts auf Beschneidung und damit eines von den Normen abweichenden Verhaltens, beugen sich Betroffene – mitunter gegen besseres Wissen – nach wie vor dem gesellschaftlichen Druck. Öffentliche Kampagnen und Aufklärung werden nur sehr langfristig dieser Praxis entgegenwirken6. Mit dem Eintritt der Menstruation unterliegen Mädchen besonderen Verhaltensvorschriften, die oft religiös begründet oder sanktioniert werden. Sehr verbreitet ist die Zuschreibung magischer, vorrangig negativer Außenwirkung von weiblicher Menstruation. Entsprechende Verhaltensregeln enthält zum Beispiel der Koran. Sie sind jedoch auch anderen Religionen nicht fremd. Die Bindung körperlicher Verfassung an die Möglichkeiten der Religionsausübung scheint sich auch in der christlichen Kirche lange Zeit „zäh behauptet“ zu haben (Douglas 1988, S. 82). So wurde eine Frau mit einer dreiwöchigen Fastenbuße belegt, wenn sie während der Menstruation eine Kirche betrat oder an der Kommunion teilnahm. Die Bedeutung ritueller Verunreinigung durch Blut fand auch im Bußbuch des Erzbischofs Theodore von Canterbury (668 – 690) seinen Niederschlag. 4. Ethik Die religiöse Unterweisung von Kindern und Jugendlichen und damit verbundene ethische Fragen, rücken auch in Deutschland immer stärker ins Zentrum des öffentlichen Interesses. Zahlreiche Religionen sind heute nicht mehr auf ihre Ursprungsgebiete beschränkt. Selbst in Westeuropa ist eine zunehmende Vielfalt von Glaubensrichtungen zu verzeichnen. Diese Verschiedenartigkeit spiegelt sich in gesellschaftspolitischen Debatten wider. Wie ist zu verhindern, daß Kinder wegen ihres Glaubens benachteiligt werden? Welche Möglichkeiten gibt es und welche Formen und Inhalte kommen möglichst vielen Betroffenen entgegen? Gibt es gemeinsame Grundlagen, auf deren Ebene eine Verständigung möglich wäre? Ist allgemeine Religionskunde oder Ethikunterricht heute angemessener, als der herkömmliche Religionsunterricht? Wer darf die Kinder und Jugendlichen darin unterweisen? Erleichtern könnte die Debatten, wenn man sich auf gemeinsame Ebenen besinnt, auf denen ein Treffen möglich wäre: schließlich sind ethische Anweisungen in allen großen Weltreligionen formuliert. Ungeachtet der Unterschiede in den religiösen Deutungssystemen sind die konkreten ethischen Forderungen bei allen mehr oder weniger die gleichen (vgl. Antes 1988, S. 155 ff). Aus christlicher Sicht lassen sie sich im Grundtenor durch die Zehn Gebote zusammenfassen. Zentral in dieser Diskussion ist weiterhin die Frage nach dem Einfluß religiöser Unterweisung auf die Identitätsbildung von Kindern. Wie ist ‘Beheimatung’ von Kindern in einer Religion gegenüber der informierenden Begegnung mit anderen Religionen zu gewichten? (Vgl. Schweitzer 1997, S. 266 ff). In der Sozialisationsforschung sind hier noch viele Fragen offen. Eindeutig scheint jedoch, daß der Religion eine wesentliche Funktion in der Identitätsbildung zukommt. Ob diese durch frü83 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN he Begegnung mit anderen Religionen positiv beeinflußt wird, oder ob vor dieser Begegnung Wissen und Sicherheit im ‘Eigenen’ anzustreben ist, darüber herrscht wohl auf längere Sicht Uneinigkeit. Die aktuelle Debatte christlicher und islamischer ReligionsvertreterInnen in Deutschland läßt dies vermuten. 5 z. B. von Frauenrechtsgruppen der Elfenbeinküste/ Westafrika (FR 2./3.10.1998); Verabschiedung eines gesetzlichen Verbots in Togo (FR 5.12.1998). 5. Ein Schlußwort Tips zum Weiterlesen Herkunftsorientierte Netzwerke bieten ZuwanderInnen und Flüchtlingen Rückhalt und Versicherung der eigenen Identität. Glaubensgemeinschaften sind vielfach Teil dieser Netzwerke. „Religion bedarf der religiösen Gemeinschaft und das Leben in einer religiösen Welt bedarf des Anschlusses und Kontakts mit dieser Gemeinschaft“ (Berger/Luckmann 1966). Die Einbindung in eine Religion vermittelt Zugehörigkeit und kann den Streß scheinbarer Verlassenheit und Ausweglosigkeit reduzieren. Zudem kann sich die meditative Wirkung religiöser Praxis günstig auf das psychische Wohlbefinden auswirken, eine Erkenntnis aus Langzeitstudien (vgl. Wess 1998), deren Konsequenz für Flüchtlinge in ihrer belasteten Situation von besonderer Bedeutung ist. 6 z. B. AG „Genitalverstümmelung“ der Terre des Femmes e. V., Konrad-Adenauer-Str. 40, 72072 Tübingen; Literatur Loo, Marie-José van de/Reinhart Margarete, (Hg.): Kinder: ethnologische Forschungen in fünf Kontinenten. 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Geertz (1968, 1991). 2 Beispiele der Verbreitung weiblichen Beschneidung (aus Beck-Karrer 1996): Dschibuti und Somalia je 100 %; Äthiopien, Sierra Leone, Mali je 90 %, Burkina Faso je 70 %, Elfenbeinküste, Kenia je 60 %, (...) Zaire, Uganda je 5 %. 3 Sie gilt z. B. im Sudan bereits seit 1946 als illegal, ist jedoch nach wie vor weit verbreitet. 4 Om Naeema, deren männlicher Beschneider zwar eine Betäubung verwendete, die jedoch schnell nachließ. In: Atiya 1991. 84 Andaç, Muzaffer: Der Islam und türkisch-islamische Erziehungsmethoden: Erziehung ist Liebe, Meditation (Zikir) ist der Weg zur Liebe. Münster 1995 Antes, Peter: Ethik und Politik im Islam. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1982 Antes, Peter: Religiöse Deutungssysteme und Ethik. In: Religionswissenschaft: eine Einführung. H. Zinser (Hg.), Berlin 1988 Atiya, Nayra: Khul-Khaal. Om Naeema. Fischerwoman. In: Five Egyptian Women Tell Their Stories. Cairo 1991. S. 129-177 Barth, Fredrik: An Analysis of Culture in Complex Societies. 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Gesund und gelassen mit Gebet und Gottesdienst. S. 6-8 Tageszeitung Berlin, TAZ, Reportage 28.1.1997: Bullion, Constanze v.: „Brothers“ auf Zeit Renate Holzapfel RELIGIONEN – AFRIKA Religionen – Afrika Der folgende Beitrag geht exemplarisch auf religiöse Bewegungen in Afrika ein. Im Mittelpunkt stehen Christentum und Islam (siehe auch „Religionen – Der Islam“). Dabei kommt zum Ausdruck, welch große Vielfalt der riesige afrikanische Kontinent zu bieten hat. Die allgemein übliche und auch hier vorgenommene Aufteilung in Afrika südlich bzw. nördlich der Sahara erscheint besonders im Zusammenhang von Glaubensfragen angemessen, da sich das nördliche Afrika sehr viel stärker am arabischen Raum orientiert, als dies im Süden der Fall ist, auf den hier Bezug genommen wird. Eine besondere Rolle spielt zudem der Nordosten (z. B. Äthiopien), auf den besonders eingegangen wird. Die Thematik der Beschneidung wird im Aufsatz Religionen – eine Einführung aufgegriffen. Hinweise auf lokale Einflüsse und kulturelle Varianten sollen Hilfestellung leisten, das Verständnis religiöser Phänomene in Afrika zu erleichtern und vertiefende Informationen gezielt aufzugreifen. 1. Religiöse Bewegungen südlich der Sahara 1.1 Geschichtlicher Hintergrund und Strukturen Bereits einige Jahrhunderte ehe das Christentum Mitte des 15. Jahrhundert Westafrika erreichte, hatte der Islam in einigen begrenzten Gebieten Fuß gefaßt. Bis dahin waren Naturreligionen, vielfach auch als traditionelle Religionen bezeichnet, verbreitet. Die Bezeichnung ‘Naturreligionen’ bezieht sich auf Glaubenspraktiken von meist isoliert lebenden Gemeinschaften, denen Naturvorgänge unbeherrschbar und vielfach bedrohlich erscheinen und deren gesamte Existenz – sozusagen omnipräsent – von Religion durchdrungen ist. Auflösung erfuhr diese Spannung erst in dem Maß, in dem Menschen lernten, Naturvorgänge zu beherrschen. Erst dann waren sie in der Lage, Religiöses und Profanes zu trennen (vgl. Thiel 1988). In den Naturreligionen wird die Religion in allen Bereichen des Lebens benötigt, die außerordentlich stark von Ritualen beherrscht werden. Damit wird eine Gruppenbindung und -bestätigung erreicht, die entlastende und existenzsichernde Wirkung hat, der insbesondere gegenüber der scheinbaren Übermacht der umgebenden Lebenswelt, dem umgebenden Kosmos und gegenüber der Außenwelt große Bedeutung zukommt. In frühen Forschungen als ortsgebunden und statisch angesehen, haben ‘traditionelle’ Religionen bei genauer Betrachtung eine hohe Flexibilität bewiesen. Sie ermöglichten Kontakte mit anderen Kulturen und überdauerten auch Flucht und Migration (vgl. Clarke 1986, S. 11). In vielen Teilen Afrikas beeinflußte Religion bzw. mystisches Denken alle Lebensbereiche, einschließlich der Kunst. Darstellungen von Göttern, heiligen Königen sowie Kultgegenständen aus Bronze, Terrakotta, Holz usw., heute im Original und in Nachbildungen vielfach Objekte touristischer Vermarktung, wurden als Teil religiöser Praxis gefertigt. Im Blick auf ihre Geschichte wird die enge Verbindung zwischen Religion und Politik, Ökonomie und sozialer Organisation afrikanischer Gesellschaft nach wie vor gerne übersehen. Die Verknüpfung unterschiedlichster Interessen zeigt sich auch im Engagement mancher christlicher Missionare nicht nur in der Politik, sondern auch in Handel und Kommerz (vgl. Clarke 1986, S. 11). Der Zugang zu den Mächtigen konnte die Missionierung erleichtern. Entschied sich eine Führungsperson zum Glaubensübertritt, zog diese meist zahlreiche weitere Übertritte nach sich. Konvertierungen zu Islam oder Christentum waren für viele afrikanische Führer keine private, individuelle Entscheidung. Das Wohlergehen und die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung der Mitglieder des jeweiligen Stammes oder Volkes stand mit diesem Schritt und der Vor87 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN bildfunktion der Person im Zusammenhang. Trotz der Konvertierung wurden jedoch oft traditionelle Religionen oder zumindest damit verbundene Praktiken weiterhin beibehalten. Eine starke Motivation dafür liegt – unter anderem – in der Bedeutung der Ahnen, deren Zustimmung zu diesem Schritt nur schwer sicherzustellen, jedoch aus gesamtgesellschaftlicher Sicht notwendig geworden wäre. Die zusätzliche Aufrechterhaltung traditioneller Glaubenselemente und -praktiken erschien so als sinnvolle und konsensfähigste Lösung, ganz abgesehen von der Schwierigkeit, unter den lokalen Gegebenheiten so grundlegende Veränderungen größeren, oft schwer erreichbaren Bevölkerungsgruppen zugänglich und verständlich zu machen. Inzwischen entstand eine lebhafte Diskussion darüber, ob und inwieweit es traditionellen afrikanischen Glaubensrichtungen gelang, Weltreligionen, wie zum Beispiel das Christentum zu ‘domestizieren’, oder ob diese die alten Glaubenssysteme erheblich verändert oder möglicherweise ersetzt haben (vgl. ebd., S. 226). Insgesamt war der Islam erfolgreicher darin, Konvertierungen herbeizuführen, da er weniger rigoros in vorhandene Gewohnheiten eingriff, als dies durch das Christentum der Fall war. Wesentlich war, daß die neu gewonnenen Gläubigen die fünf Grundpfeiler islamischen Glaubens ( Religionen – Der Islam) beachteten. Für die zum Christentum Konvertierten griff der neue Glaube viel gravierender in den Alltag ein und die Missionare zeigten über lange Zeit wenig Toleranz gegenüber Traditionen, die nach ihrer Meinung nicht mit dem Christentum zu vereinbaren waren. Geisterbesessenheit (siehe unten) wurde lange als eine moralisch abwertende Randerscheinung bei muslimischen afrikanischen Gesellschaften betrachtet, die lediglich von marginalisierten Gesellschaftsmitgliedern – und oft nur von Frau88 en – praktiziert wird. In der Praxis1 zeigt sich jedoch, daß Geisterbesessenheit und ihre Praktiken verbreitet sind. Ihre AnhängerInnen vertreten die Auffassung, daß kein Widerspruch darin besteht, ein guter Muslim oder eine gute Muslima zu sein und gleichzeitig Geister zu akzeptieren und zu feiern. 1.2 Neuere Religiöse Entwicklungen in Afrika Mit der Ankunft der neuen Religionen Christentum und Islam im Afrika südlich der Sahara, entstand dort eine Interaktion mit einheimischen (traditionellen) religiösen Bewegungen. So tendiert afrikanisierter Islam noch heute stark zu eigenen Formen. Die schwarzafrikanische Version einiger großer islamischer Sekten brachte zum Beispiel Formen der Anthropolatry hervor, in denen der Vorsitzende einer Bruderschaft Zentrum der Anbetung ist (z. B. bei den Muriden im Senegal). Es entstanden neue Bruderschaften, wie die der Hamalisten im Sudan, die soziale und politische Reformen anstrebten (vgl. Alexandre 1974, S. 193 ff). Neuere Einflüsse und Veränderungen bereits vorhandener religiöser Bewegungen sind deutlich erkennbar. Im Hinblick auf Inhalte und Ziele kann von fünf Hauptgruppen gesprochen werden (vgl. Turner 1988, S. 945 ff), wobei jedoch durch geringe Institutionalisierung noch starke Wandlungen eintreten können: – Eng an einheimische Traditionen angelehnt, mit Elementen anderer Glaubensrichtungen, wie Monotheismus (Gott oder Allah); islamisch beeinflußte neue Besessenheitskulte oder in Ostnigeria der ‘Godianismus’, der das Christentum ablehnt und sich um einen neuen, einen ‘Gott von Afrika’ ägyptischen Ursprungs zentriert. – Bewußt angestrebte Synthese aller Traditionen um eine neue afrikanische Re- RELIGIONEN – AFRIKA ligion zu bilden; christliche Komponenten überwiegen islamische Anteile. – Versuch einheimische Traditionen zu verlassen, ohne jedoch islamische oder christliche Inhalte in offiziell anerkannter Form zu vertreten; z. B. Vernachlässigung des Koran, des Fastens und Betens in einem Kult der Elfenbeinküste, in Nigeria die God’s Kingdom Society, die Weihnachten durch ein Tabernakelfest ersetzt. – Afrikanisierte Bewegungen wollen entweder islamisch oder christlich sein, haben ihr Hauptgewicht jedoch auf praktische Relevanz statt auf orthodoxe Konformität gelegt; z. B. die von Hamallah 1925 gegründete islamische Bruderschaft, deren heilige Stadt Nioro und nicht Mekka ist; christliche Beispiele dieser Form sind in Nigeria ‘Aladura’-Kirchen2, sog. ‘spirituelle’ Kirchen in Westafrika, Botswana und anderen Gebieten und ‘Zionisten’ in Südund Zentralafrika. – Orthodoxe Bewegungen wollen dem Islam oder dem Christentum folgen und in diesem Sinn ihre Gemeinschaften erneuern, jedoch unabhängig von äusserer Beeinflussung und unter afrikanischer Führung. Im Islam sind dies mahdistische (Verkünder von Welterneuerung) Bewegungen. Im Christentum sind die Beispiele seit ca. 1880 zahlreicher. Am bekanntesten ist die Kimbanguist Church in Zaire, die 1970 in den Ökumenischen Weltrat der Kirchen aufgenommen wurde. Neuere islamische Bewegungen scheinen sich auf Westafrika, insbesondere Senegal zu konzentrieren. Neue Bewegungen christlicher Orientierung sind vor allem in Ghana, Nigeria, Südafrika und Zaire anzutreffen, wo das Christentum am längsten etabliert war. Die Zahl dieser Bewegungen wird auf bis zu 20.000 geschätzt! Allein in Ghana waren in den 70er Jahren etwa 500 bekannt. Eini- gungsbestrebungen z. B. der Aladura-Kirchen waren in der Vergangenheit wenig erfolgreich. Befürchtungen, daß in einer stark zentralisierten Organisation das persönliche Engagement sowohl gegenüber dem Glauben und seinen Praktiken, als auch der Mitglieder untereinander leiden würde, zählten zu den Hindernissen, die diesen Bestrebungen immer wieder im Wege standen. Viele dieser afrikanischen Bewegungen haben inzwischen auch in Deutschland – insbesondere in Großstädten – Orte der Glaubensausübung gefunden, wo sich ein mitunter sehr lebhaftes Gemeindeleben abspielt. 2. Nordostafrika 2.1 Die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche „Die äthiopische Kultur ist eine kirchliche Kultur...“ (Falkenstörfer 1986, S. 73). Diese Feststellung eines Kenners des Landes erscheint vermessen, angesichts der Vielfalt von 70 bis 80 Völkern oder Stämmen unter den ca. 54 Mio. EinwohnerInnen des Landes. Religionsgemeinschaften wie der Islam, der Protestantismus und traditionelle Volksreligionen konnten nie die Bedeutung der äthiopisch-orthodoxen Kirche erreichen, sie trugen eher dazu bei, daß selbst eine so bedeutende Volksgemeinschaft wie die ca. 25 Mio. Oromos (Galla) Nordostafrikas untereinander gespalten war. Die orthodoxe Kirche blieb über Jahrhunderte staatlich subventionierte Religion und ein wichtiger, oft entscheidender Faktor für das äthiopische Nationalbewußtsein (vgl. Schneider 1970, S. 36). Ihr Wirken schlug sich in bedeutenden künstlerischen Werken nieder, im Handwerk, in der Malerei und in der Musik. Säkulare Kunst entwickelte sich erst im 19. Jahrhundert. Staatsreligion wurde das Christentum schon im 4. Jahrhundert n. Chr. im Königreich Aksum.3 Zusammen mit der amhari89 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN schen Sprache, der „Sprache des Königs“ (Eshete 1982, S. 11), verbreitete es sich insbesondere ab dem 13. Jahrhundert nach Süden. Abgesehen von einer eher lockeren Verbindung mit dem Koptischen Patriarchat von Alexandrien (aus Ägypten kam stets der Erzbischof), entwickelte sich die Äthiopische Orthodoxe Kirche relativ isoliert und eigenständig, insbesondere zwischen 650 und 1268 n. Chr. während der Ausbreitung des Islam. Basierend auf den zentralen christlichen Lehren, sind jedoch vorchristliche Elemente semitischen und kuschitischen Ursprungs deutlich (vgl. Hammerschmidt 1970, S. 42 ff). Alle drei Hauptreligionen Äthiopiens, Christentum, Islam und Judentum, beeinflußten sich gegenseitig sehr stark. Das Klosterleben spielte schon früh eine große Rolle. Eine große Besonderheit der äthiopischen Kirchenlandschaft sind die zahlreichen, äußerst beeindruckenden Felsenkirchen, von denen einige schon im 12. Jahrhundert und früher aus dem gewachsenen Felsen gehauen wurden. Die oft riesigen Gebäude und ihre Zugänge sind ohne Ortskundige mitunter schwer zu entdecken. Sie sind Anziehungspunkt für TouristInnen, haben jedoch ihre Bedeutung als Stätten aktiver Religionsausübung behalten. Insbesondere an bedeutenden religiösen Festtagen sind sie Treffpunkte hoher kirchlicher Würdenträger und Schauplätze elaborierter Zeremonien, die in den Kirchen selbst und auf großen Plätzen in der Nähe stattfinden. Hier verdeutlicht sich dann augenfällig die ganz besondere Ausprägung äthiopischen christlichen Glaubens.4 Eindrucksvoll sind die religiösen Gesänge, die beherrschten, in relativ langsamem Rhythmus zelebrierten Reihentänze der Würdenträger mit ihren Tanzstöcken und einer Art Schellen, von Trommeln begleitet. Diese Feste sind gleichzeitig Anziehungspunkte für die wandernden Musiker, deren viersaitiges Hauptinstrument die religiösen Gesänge 90 begleitet, jedoch ebenso zur Unterhaltung der vielen FestbesucherInnen außerhalb der Zeremonien genutzt wird. Berühmt sind diese Musiker für ihre spontanen und sehr beliebten Spottlieder. Das koptisch-äthiopische Jahr beginnt am 29. August des Julianischen Kalenders und ist in zwölf Monate mit je dreißig Tagen aufgeteilt sowie einem dreizehnten Monat mit fünf Tagen – in Schaltjahren sechs Tagen. Eines der bedeutendsten religiösen Feste – Timkat (Temqat/Taufe Jesu) – wird am 6. Januar gefeiert, nach dem Gregorianischen Kalender am 19. Januar. 2.2 Äthiopien nach der Revolution 1974 Seit dem 19. Jahrhundert hatten sich neue Missionskirchen gebildet, die jedoch nicht die Bedeutung der äthiopisch-orthodoxen Kirche mit ca. 20 Mio. Gläubigen erlangten. Nach der Revolution wurden viele dieser Kirchen geschlossen, ihre Mitglieder diskriminiert und einige in Haft genommen.5 Der Landbesitz der Kirchen wurde als Folge der Landreform enteignet. Die Orthodoxe Kirche ging mit dem Verlust des Status einer Staatskirche dazu über, eine bewußte Mitgliedschaft mit Mitgliedsausweis und Jahresbeitrag einzuführen. Muslime, mehr als ein Drittel der Bevölkerung, blieben ohne Bedeutung und ihre drei wichtigsten Festtage (Opferfest, Fastenbrechen, Geburtstag Mohammeds) wurden erst nach der Revolution am 22. März 1975 gesetzliche Feiertage. Die lange Tradition rechtlicher und gesellschaftlicher Herabsetzung spiegelt das Sprichwort: „Der Himmel hat keine Säulen, und der Moslem hat kein Land“ (vgl. Falkenstörfer 1986, S. 70 f). Es stammt aus Tigre, der Heimat des heutigen Staatspräsidenten. Nachdem sich die Euphorie der ersten Revolutionsjahre etwas gelegt hatte, er- RELIGIONEN – AFRIKA fuhren orthodoxe Kirchen sowie Moscheen einen starken Zuspruch, insbesondere von Jugendlichen. Mit der Einrichtung von Sonntagsschulprogrammen sollte dieser Zustrom auf Dauer gebunden werden. Angesichts des hohen Nachholbedarfs im Bereich schulischer Bildung ein durchaus attraktives Angebot: zum Zeitpunkt der Revolution wurde die Analphabetenrate auf 93 % geschätzt; 71,2 % der schulfähigen Kinder hatten keinen Zugang zu einer Schule (vgl. Eshete 1982, S. 43). Das Alphabetisierungsprogramm war seither sehr erfolgreich und die schulische Versorgung ist erheblich verbessert. 2.3 Eritrea Immer schon war der Kampf um den Zugang zum Roten Meer für Eritrea und Äthiopien Anlaß für Konflikte und Kriege. Ende des 19. Jahrhunderts von der italienischen Kolonialmacht gegründet und ‘Eritrea’, ‘Land am Roten Meer’ genannt, blieb das Gebiet fünfzig Jahre lang bis 1941 italienische Kolonie. Die Geschichte des Landes ist über mehr als 2.000 Jahre eng mit der äthiopischen Geschichte verbunden, teilweise identisch mit ihr. Auch die kultur- und stammesgeschichtliche Vielfalt ist ähnlich der Äthiopiens. Seine Hauptsprache, Tigrinya, stammt vom Geez, der Sprache des Reiches von Axum, ab, das sich zeitweise weit in den heutigen Sudan ausdehnte. Nachdem Italien in der Folge des letzten Weltkrieges alle Kolonien aufgeben mußte, bildete Eritrea auf Beschluß der UNO eine Förderation mit Äthiopien. Die ohnehin kaum vorhandenen Möglichkeiten zur schulischen Bildung eritreischer Kinder reduzierten sich weiter durch äthiopische Machtausübung: Sie bewirkte 1960 das Verbot eritreischer Sprachen, die Einführung von Amharisch als Unterrichtssprache und reduzierte die Schulbildung auf eine kleine Schicht Privilegierter. Sichtbarer Widerstand gegen äthiopische Herrschaftsansprüche kam 1962 von der zunächst stark islamisch geprägten Eritrean Liberation Front, ELF. Damit begann ein langer Krieg, während dem Tausende als Flüchtlinge das Land verließen. Heute zählt Eritrea ca. 3,5 Mio. Einwohner. Etwa jeweils die Hälfte der Bevölkerung sind Muslime bzw. Christen. Von den Christen werden wiederum ca. 95 % der koptisch-orthodoxen Kirche zugerechnet, etwa 5 % sind katholischen bzw. protestantischen Glaubens. AnhängerInnen ‘afrikanischer’ Religionen werden nach offiziellen Angaben mit 1 % angegeben6, eine Zahl, die jedoch mit großen Vorbehalten zu betrachten ist. Seit Mai 1993 ist Eritrea ein selbständiger Staat und versucht den Wiederaufbau möglichst ohne fremde Hilfe und neue Abhängigkeiten. Angesichts der Zerstörungen, der erforderlichen Reintegration von ca. 70.000 demobilisierten EPLF-KämpferInnen (Etritrean People Liberation Front) und der Repatriierung zurückgekehrter Flüchtlinge aus dem Sudan eine schwere Aufgabe. Über die Grenzen verschiedener Religionszugehörigkeiten hinaus, gab es in Eritrea lange eine ausgeprägte Beschneidungspraxis für Jungen und Mädchen, sowohl bei Muslimen als auch bei Christen7. Wieweit die EPLF ihr erklärtes Ziel erreichte, weibliche Beschneidung abzuschaffen, kann nicht eindeutig festgestellt werden. In Eritrea könnte eine entsprechende Kampagne durchaus erfolgreicher verlaufen, als dies in anderen Ländern der Fall ist, da dafür u. U. auf gut vernetzte Organisationsstrukturen aus dem Bürgerkrieg zurückgegriffen werden könnte. Bisher erwiesen sich entsprechende Gesetze – wie zum Beispiel im Sudan – jedoch gegenüber den damit verbundenen sozialen Konsequenzen als weitgehend wirkungslos ( Religionen – Eine Einführung). 91 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN 3. Besessenheit und Geisterglaube – ‘Zar’ Die Abgrenzung zwischen Besessenheitskulten, dem Auftreten von Trancezuständen und religiösen Glaubensinhalten ist undeutlich. Im folgenden soll kurz auf einen Besessenheitsglauben aus dem Nordosten Afrikas eingegangen werden, der starke Verbreitung hat. BetreuerInnen von Kindern und Jugendlichen aus dieser Region berichten von Zwischenfällen, die eine Information zum Thema angebracht erscheinen lassen. Insbesondere aus dem Sudan und aus Äthiopien liegen zahlreiche Berichte vor, die darauf hinweisen, daß der ‘Zar-Kult’ bzw. ‘Zar-Glaube’ nach wie vor große Bedeutung hat. Es wird sogar davon ausgegangen, daß dieses Phänomen in den letzten Jahren starke Ausbreitung fand. ‘Zar’ bezeichnet den Glauben und die Praktiken, die mit einer besonderen Art von Geister-/Besessenheitsglauben verbunden sind. Susan Kenyon berichtet von einer vom Krankenhaus fast aufgegebenen Patientin im Sudan, deren Heilung sie kurz vor der bereits terminierten Operation beiwohnte. Die Leiterin einer örtlichen Zar-Gruppe, die ‘umiya’, vollzog die Behandlung und Heilung mit Räucherduft und einem kleinen Metallkreuz als äußere Requisiten. Diagnostiziert hatte die umiya die Krankheit von Fatima als ‘Krankheit des Zar’, und genauer ‘des Zar des Kreuzes’. Fatima war nach dem Befund der umiya von dem christlichen, äthiopischen Geist Bashir besessen, der die lebensbedrohenden Symptome verursacht hatte. Während der ‘Behandlung’ sprach Bashir durch Fatima. So teilte er mit, er wolle keine Operation. Einige Tage später war Fatima geheilt entlassen worden (vgl. Kenyon 1995). Fälle von Besessenheit scheinen in Zeiten von sozialem Streß häufiger aufzutreten. Auffallend ist, so Kenyon, daß die 92 Mehrheit der Geister männlich ist, während sich unter den Besessenen viele Frauen befinden. Ebenfalls sind die AkteurInnen für die Durchführung der Rituale meist Frauen. Gründe dafür, daß sich unter der AnhängerInnenschaft der Besessenheitskulte so „außergewöhnlich viele Frauen“ (Douglas 1974, S. 129 f) finden, könnten durchaus in einer schwachen gesellschaftlichen Position zu suchen sein, die oft nur über die ihrer Männer bzw. Väter definiert ist. In Gesellschaften, in denen Frauen durch eine rigide gesellschaftliche Arbeitsteilung in der Regel von zentralen Institutionen der Gesellschaft ferngehalten werden, stehen sie unter starkem Klassifikationsdruck. Das macht sie empfänglich für religiöse Bewegungen, so die Sozialanthropologin Mary Douglas, in denen sie ihre Erfahrungen als Angehörige einer ‘Randgruppe’ gewissermassen ausgleichen, durch eine demonstrative spirituelle Unabhängigkeit. Zu deren äußerer Manifestation gehört ein von den Konventionen abweichendes Erscheinungsbild ebenso wie die bereitwillige Suspendierung der Körperkontrollen. Viele Kulturen haben ihre eigenständigen metaphysischen Konzepte entwickelt. Sie setzen sich aus unterschiedlichen Elementen zusammen, können aus dem einem religiösen Kontext entnommen sein und in ein anderes, total unterschiedliches religiöses System integriert sein. Diese Umstände erschweren Außenstehenden das Eindringen und Verständnis der daraus neu gebildeten Zusammenhänge. So ist es vielfach nicht möglich, Besessenheit und Geisterglauben unter einem soziologischen Gesichtspunkt als ‘gute’ und ‘böse’ Geister zu betrachten. Die Vermischung unterschiedlichster Konzepte und Schwierigkeiten ihrer Übersetzung, insbesondere gegenüber Außenstehenden, komplizieren diese Phänomene (vgl. Swantz 1986). RELIGIONEN – DER BUDDHISMUS Anmerkungen 1 Z. B. Larsen, 1998, S. 61-75 auf Zanzibar zwischen 1984 und 1997 2 Die wiederum aufgespalten sind, darunter in drei Hauptkirchen: ‘Cherubim’, ‘Seraphim’ und ‘Church of the Lord’ (Clarke 1986, 211 f) – Aladura kommt aus der Yoruba-Sprache und wird mit ‘Gebetsgemeinschaft’ übersetzt. 3 Den heutigen Nordprovinzen Äthiopiens, Tigre und teilweise Eritrea. 4 eigene Beobachtungen, insbesondere in Lalibela 5 Z. B. Gudina Tumsa, Oromo, Generalsekretär der Äthiopischen Evangelischen Kirche Mekane Jesus, 1979 verschleppt und hingerichtet. (Falkenstörfer 1986) Sein Schwiegersohn, der Bauunternehmer Alemayehu Ketema, ist seit August 1997 ohne offizielle Anklage inhaftiert, „obgleich die Zentral- als auch die Regionalregierung schriftlich bestätigt haben, daß gegen ihn nichts vorliege.“ (Frankfurter Rundschau 29.6.1998). 6 Alle Angaben aus Munzinger-Archiv ‘Internationales Handbuch’ 1998. 7 Bei den Mädchen im überwiegend christlichen Hochland wurden die Schamlippen beschnitten, während bei der moslemischen Bevölkerung im Tiefland auch die Vagina zugenäht wurde (Eritrea Hilfswerk in Deutschland e.V. 1982). Literatur Siehe „Religionen – Eine Einführung“ Renate Holzapfel Religionen – Der Buddhismus Die Wurzeln des Buddhismus liegen im Hinduismus ( Religionen – Der Hinduismus). Auch hier haben sich unterschiedliche Richtungen entwickelt. Deren Vielfalt macht es erforderlich, einen Schwerpunkt in der untenstehenden Darstellung bei den Herkunftsländern von Kinderflüchtlingen zu setzen. Anregungen für weiterführende Lektüre finden sich im Literaturverzeichnis. Angesichts der zunehmenden Verbreitung buddhistischer Philosophie und Lebensweise in Europa gibt es in Deutschland inzwischen ein umfassendes Angebot zum Thema, zu beziehen unter anderem von der Deutschen Buddhistischen Union mit Sitz in München. 1. Hintergrund und Struktur Entstehungsgeschichtlich ist der Buddhismus eine aus dem Hinduismus kommende Reformbewegung, deren Stifter den Ehrennamen Buddha, der Erleuchtete, erhielt. Er ging davon aus, daß er nicht der einzige ‘buddha’ der Religionsgeschichte sei, sondern daß in jedem Zeitalter ein Buddha erscheine um die unwandelbare Lehre (dharma) zu verkünden. Zunächst nur eine Reaktion auf „mangelnde Anpassungsfähigkeit des Hinduismus auf die wirklichen Lebensbedingungen“ (Köster 1986, S. 10), verbreitete sich der Buddhismus von Indien aus in alle angrenzenden Länder und darüber hinaus. Im Unterschied zum Hinduismus, dem der Mensch durch Geburt angehört, kann der Buddhismus als missionierend bezeichnet werden. Buddha wurde mit dem bürgerlichen Namen Siddharta Gautama in Nordindien1 geboren (ca. zwischen 624 bis 448 v. Chr.). Mit Buddhas Geburt, Leben und Sterben sind zahlreiche Überlieferungen und Legenden verbunden. Siddharta führte zunächst ein sorgloses Leben. Im Alter von 93 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN sechzehn Jahren heiratete er zwei Prinzessinnen. Als er neunundzwanzig war, wurde sein Sohn geboren. Nach dessen Geburt legte er erstmals die gelben Asketengewänder altindischer Tradition an. Dreimal verließ er den Palast für längere Zeiträume, um Erleuchtung zu finden und begegnete Alter, Leiden und Tod. Beim vierten Mal meinte er, mit einem bettelnden Asketen das Heilmittel gegen die drei unausweichlichen menschlichen Übel gefunden zu haben. Er nennt sich nun Gautama und unterzieht sich mit fünf seiner Schüler einer extremen Selbstkasteiung. Als dieser Weg sich in seinen Augen als Trugschluß erweist, bricht er ein rigoroses Fasten. Seine Schüler verlassen ihn zunächst. Erleuchtung fand er schließlich, als er mit etwa fünfunddreißig Jahren einen ‘mittleren Weg’ zwischen Überfluß und Askese wählte, der Extreme vermeidet. Buddha starb im Alter von etwa achtzig Jahren. Seine Nachfolge ging an Mahakasyapa und nicht an Ananda, seinen getreuen Schüler aus fünfundzwanzig Jahren. Letzterer hatte als Diener – wohl aus Zeitmangel – nie die Techniken der Meditation erlernt. Er konnte somit kein Heiliger werden und nicht in das Nirvana, das Verlöschen und Ausscheiden aus dem Kreislauf der Wiedergeburten, eingehen. Dieses erlösende Verlöschen, das Nirvana zu erreichen, ist höchstes Ziel im Buddhismus. Eine Annäherung ist nur durch Meditation möglich. Aus dem Glauben an die Nichtexistenz eines unvergänglichen Selbst folgt die Forderung, selbst-los zu handeln und sich allen Wesen in Güte zuzuwenden. So ist der Buddhismus kein System von Glaubenswahrheiten, sondern vor allem ein zu betretender Pfad. Die „vier edlen Wahrheiten“ des Buddhismus zeigen Wege zum Pfad der Erleuchtung und den ‘Weg der Mitte’, der zum Auslöschen des Leidens führt: – Alles ist Leiden… 94 – der Anfang des Leidens ist das Begehren, die Gier… – die Vernichtung des Begehrens bringt das Verlöschen des Leidens… – die vierte Wahrheit zeigt den achtgliedrigen Pfad oder den Weg der Mitte auf, der zum Auslöschen des Leidens führt… Bereits Buddha gründete Orden von Mönchen und Nonnen, die „Sangha“, die den Kern der Gemeinschaft bilden. Bereits im Kindesalter kann das Noviziat beginnen, wobei der günstigste Zeitpunkt für die Aufnahme in den Orden über die Astrologie bestimmt wird. Die Ordinierung kann im Alter von zwanzig Jahren erfolgen. Für Ordinierte gelten die sog. vier großen Verbote: Geschlechtsverkehr, Diebstahl, Mord und Anmaßung von Vollkommenheit. Die spätere Spaltung der Mönchsgemeinde, war der Anfang eines Systems buddhistischer Sekten. Die Vielfalt buddhistischer Schulrichtungen hat in der Gestalt des „Erwachten“, Buddhas, ihr gemeinsames Zentrum. Zu unterscheiden ist zwischen dem Buddhismus der Mönche und der Laien sowie zwischen dem Hinayana- und Mahayana-Buddhismus, ähnlich wie zwischen dem Hinduismus der oberen und dem der niederen Kasten zu unterscheiden ist (vgl. Köster 1986, S. 10). Weitere zentrale Begriffe im Buddhismus sind die sogenannten ‘Fahrzeuge’, mit denen die verschiedenen Schulrichtungen benannt werden. Die Anhänger des Mahayana, des ‘Großen Fahrzeugs’ – auch ‘nördlicher Buddhismus’ genannt –, prägen den Buddhismus vor allem in China und Japan, dessen Ideal nicht nur für die eigene Erlösung arbeitet, sondern Mitleid für die Befreiung aller Wesen zeigt, für deren Weg zum Nirvana der Beistand göttlicher Wesen erhofft werden darf. Von Anhängern des Mahayana eher abfällig als Hinayana, ‘Kleines Fahrzeug’, benannt, bezeichnen dessen Anhänger ih- RELIGIONEN – DER BUDDHISMUS re Richtung lieber als ‘Theravada’, den ‘Weg der Alten’. Zentral ist hier das Streben des Menschen nach der Verwirklichung des Ideals des Heiligen aus eigener Kraft und die Erlangung des Nirvana für sich selbst. Da dies nur wenigen gelingt, muß sich die Mehrheit mit der Verbesserung der eigenen Ausgangsposition für die Wiedergeburt begnügen. Der Theravada-Buddhismus versucht den ursprünglichen Lehren und Praktiken Buddhas zu folgen. Er bewahrt die ursprünglichen Schriften, den ‘Pali-Kanon’. Dieser gilt im Theravada-Buddhismus als Heilige Schrift. Die Texte des Mahayana werden abgelehnt oder ignoriert. Umgekehrt sind jedoch Theravada-Texte Teil religiöser Unterweisung in Verbreitungsgebieten des Mahayana, wie Tibet, Mongolei, China, usw. Um den Buddhismus – und den Hinduismus – zu verstehen, muß man sich vor Augen halten, daß nicht vom christlichabendländischen Personbegriff individueller Ethik ausgegangen werden darf. Religiöse Erziehung im Buddhismus, wie auch im Hinduismus, ist als Austausch zu sehen, so der Religionswissenschaftler Köster, als zwischenmenschlicher Prozeß während eines ‘Hineinwachsens’ in religiös-soziale Bindungen und Gegebenheiten (ebd., S. 146 f). Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist in Buddhas Lehren nicht uneingeschränkt elterlicher Autorität überlassen und liegt nicht automatisch beim Familienoberhaupt. Zwar gilt die Vernachlässigung alter und gebrechlicher Eltern als verwerflich und die Achtung vor ihnen wird als wichtigste aller mitmenschlichen Tugenden bezeichnet. Weichen Eltern jedoch von den Lehren ab, so sollen die Kinder sie zu den Geboten zurückführen. Elterliche Autorität begründet sich somit weniger sozial als spirituell (vgl. Gerlitz 1980, S. 309 ff). 2. Der Buddhismus in Südostasien In Sri Lanka, Burma und Thailand, bis vor kurzem auch in Laos und Kambodscha dominiert der Buddhismus das religiöse, politische und gesellschaftliche Leben (vgl. Johnson 1988, S. 726 ff). Insbesondere in Burma, Thailand, Laos, Kambodscha und Vietnam wurde Buddha nicht als der Prediger der Weltentsagung angesehen, sondern als der Herrscher schlechthin; „von daher erklärt sich die Symbiose zwischen Buddhismus und politischer Macht“ (Eliade 1990 a, S. 277 f). Durch diese Verbindung vermittelte der Buddhismus, insbesondere den Völkern Indochinas, über Jahrhunderte ein festes Bewußtsein eigener Identität. Es überdauerte, wenn auch geschwächt, Kolonialzeit und Modernisierung. Durch die Kolonialherrschaft Frankreichs und Englands, aber auch von Portugal und Holland, drangen völlig fremde Wertvorstellungen in diese Gesellschaften ein und brachten den Buddhismus in eine fundamentale Krise. Die Vertreter christlicher Missionierung sprachen der buddhistischen Lehre jede Legitimität ab. Sie begründeten dies unter anderem mit dem ihnen unverständlichen Inhalt der buddhistischen Lehre, nach der eine menschliche Seele nicht existiert (vgl. Köster 1986, S. 91). Die mit der Kolonialisierung eingeführte Trennung von Religion und Staat verschärfte diese Entwicklung. Westliche Bildungskonzepte und Alphabetisierung haben das Monopol religiöser Autorität der Sangha, der buddhistischen Gemeinde, geschwächt. Kritik an der Abkehr und Selbstentfremdung von der eigenen buddhistischen Kultur führte jedoch auch, wie im Falle von Ceylon, dem heutigen Sri Lanka, zu nationalistischen Bestrebungen und Erneuerungsbewegungen. Ein herausragender Vertreter dieser Modernisierung war Anagarika Dharmapala (1864 – 1933). Er versuchte seinen Einsatz für den Buddhismus mit singhalesischem Na95 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN tionalismus zu verbinden. Die von ihm gegründete Maha Bodhi-Gesellschaft strebte eine weltweite buddhistische Missionierung an (ebd., S. 114). 2.1 Sri Lanka Die Bevölkerung Sri Lankas, früher Ceylon, wuchs seit 1871 von ca. 2,4 Mio. auf heute etwa 18,6 Mio. (Munzinger Archiv 1998). Gegenüber den anderen Religionen dominiert der Einfluß des Buddhismus, dem rund 70 % der Bevölkerung angehören. Es sind überwiegend Singhalesen, die sich zur buddhistischen Lehre bekennen. 15,5 % der Bevölkerung sind Hindus, meist Tamilen (siehe unten), 7,6 % Muslime und 6,9 % Christen. Dem Theravada-Buddhismus von Sri Lanka wird nachgesagt, die einzige legitime, orthodoxe Form des Buddhismus zu sein2. Etwa im 2. oder 3. Jh. v. Chr. von Missionaren im Auftrag König Ashokas auf die Insel gebracht, erhielt er sich dort in seiner ursprünglichen Form nahezu unverändert. Von Ceylon aus verbreitete sich der Buddhismus nach Indochina, Indonesien, nach Kaschmir, in den östlichen Iran, nach Zentralasien, China, Korea, und Japan und im 8. Jahrhundert nach Tibet (vgl. Eliade 1990 a, S. 264 ff), wo er in veränderten Formen heute noch anzutreffen ist. Eine Besonderheit des Theravada-Buddhismus ist die Möglichkeit der ‘Verdienstübertragung’. Sie wurde schon früh in der Geschichte dieses Buddhismus anerkannte Praxis. Im allgemeinen werden fast alle öffentlichen buddhistischen Zeremonien als Gelegenheit angesehen, gegenseitige Verdienste zu erlangen, z. B. wenn die Laien den Mönchen Speisen bringen und die Mönche im Gegenzug predigen bzw. aus den Schriften rezitieren. Ausgenommen sind die Zeremonien bei einem Todesfall, die dazu dienen sollen, dem Verstorbenen Verdienste sozusa96 gen zu übertragen und mit auf den Weg zu geben. Der Bau von Stupas3, ebenso wie Wallfahrten und Reliquienverehrung, wurde auf Ceylon schon früh praktiziert. Ursprünglich Grab- und Gedenkhügel für Buddha-Reliquien, werden sie inzwischen auch für Mönche errichtet. Verehrt werden im allgemeinen jedoch lediglich die mit Buddha verbundenen Stupas. Der Buddhismus bzw. die Ordensgemeinschaften (Sangha) in Ceylon/Sri Lanka konnten sich stets der Unterstützung durch die Regierenden gewiß sein. Die Unterstützung durch die Staatsmacht führte dazu, daß die Klöster wohlhabende Grundbesitzer wurden. Mönche wurden in der Politik tätig und einflußreich. Überwiegend wirkten sie jedoch als Gelehrte und Prediger in den Dörfern. Auch auf Sri Lanka passen sich die Religionen modernen Erfordernissen an. Inzwischen betreiben Buddhisten, Hindus und Muslime Einrichtungen „ähnlich den Sonntagsschulen der christlichen Missionare kolonialer Zeit, um alles erdenklich mögliche zu tun, ein Kind unter den Einfluß der ‘Kirche, des Pansala, des Tempels oder der Moschee’ zu bringen.“4 2.2 Tamilen Vor mehr als 2.000 Jahren ist die Ankunft der ersten Tamilen auf Ceylon belegt. Seit der Eroberung durch südindische Tamilen 200 v. Chr. und dem Sieg der Singhalesen 161 v. Chr. ist die Entwicklung der Insel durch den Dualismus zwischen Singhalesen und Tamilen gekennzeichnet. Die Mehrheit der tamilischen Bevölkerung besiedelte die nördlichen und östlichen Provinzen. Die Zahl dieser ‘Ceylon-Jaffna-Tamilen’ wird heute mit etwa 12,6 % der Gesamtbevölkerung angegeben. Von der britischen Kolonialmacht wurden die sog. ‘Indien-Kandy-Tamilen’ nach Ceylon geholt, wo sie vor allem als Plantagenarbeiter im Hochland von Kandy ein- RELIGIONEN – DER HINDUISMUS gesetzt wurden. Sie entstammten meist einer unteren hinduistischen Kaste – den Paria (Tamil: „Trommler“) – aus Tamilnadu, an der südöstlichen Küste Südindiens. Dieser Hintergrund trägt zu der Kluft zu den besser gebildeten JaffnaTamilen bei, die vielfach höheren Kasten angehören. Heute stellen die ‘Indien-Tamilen’ etwa 5,5 % der Bevölkerung. Ihre rechtliche Position ist nicht gesichert, was sich in groß angelegten ‘Rückführungen’ und lange schwebend gehaltenen Staatsangehörigkeitsfragen äußert. Die Niederschlagung und Bekämpfung der Wünsche der Jaffna-Tamilen nach Eigenständigkeit bzw. Anerkennung von Minderheitsrechten sind historischer und aktueller Teil der Politk und Ursache bewaffneter Auseinandersetzungen. In seinen Lebenserinnerungen beschreibt Crossette-Thambiah, langjähriger Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation, aus seiner ganz persönlichen Sicht die Machtverhältnisse nach der Unabhängigkeit, die bis heute nachwirken: „Etwa 80 % der Bevölkerung sind Singhalesen, meist Buddhisten, und jeder ehrgeizige singhalesische Politiker wurde ein eifriger Vertreter singhalesischen Buddhismus. Es wurde eine Hypothek, ein Tamile zu sein (...)“. Crossette-Tambiah bezeichnet sich selbst als „Sohn eines zum Christentum konvertierten ‘Hindu Jaffna Tamilen’“5. Um die Jahrhundertwende geboren, besuchte er die Missionsschule St. John’s in Jaffna. Dort wurde Englisch gesprochen und der Gebrauch seiner tamilischen Muttersprache bestraft. Heute noch ist eine scharfe Abgrenzung zwischen einzelnen Sprachgruppen – insbesondere Singhalesen und Tamilen – deutlich erkennbar. Anmerkungen 1 Um 1200 n.Chr. verschwand der Buddhismus aus Indien (vgl. Hardy 1988, S. 627 ff). 2 Basierend auf der frühen Verschriftlichung der Regeln im sogen. Pali-Kanon, in der indischen PaliSprache zwischen 29 und 17 v. Chr. verfaßt (vgl. Hardy 1988, S. 569 ff). 3 ‘Stupa’ aus dem Sanskrit (‘Verehrungshügel’); kuppelartige Bauten. 4 Crosette-Thambiah ca. 1975 zu Ceylon (Sri Lanka); vgl. ebenfalls Falkenstörfer 1986 zu Äthiopien. 5 Auf Jaffna, im Norden Sri Lankas, dominiert der Hinduismus. Die relativ wenigen Buddhisten sind stark vom Hinduismus und dem Kastendenken beeinflußt, so Crosette-Thambiah (1975, S. 31). Literatur Siehe „Religionen – Eine Einführung“ Renate Holzapfel Religionen – Der Hinduismus Im folgenden werden die Grundlagen des Hinduismus erläutert, eingebunden in historische Hintergründe und neuere zeitgeschichtliche Einflüsse. Eine kurze Darstellung des Sikhismus wie des Neohinduismus befindet sich am Ende dieses Aufsatzes. Auf den Buddhismus wird in einem gesonderten Aufsatz ( Religionen – Der Buddhismus) eingegangen. 1. Religion oder Kultur? Der Hinduismus ist weniger eine Religion, sondern eher ein Kosmos religiöser Inhalte von unüberschaubarer Fülle und Vielfalt, entwickelt aus jahrtausendealten Anschauungen und religiösen Praktiken. Er 97 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN ist eine ‘gewachsene’ Religion, die andere Glaubensrichtungen wesentlich beeinflußte. Seine stärkste Verbreitung erreichte der Hinduismus im Mittelalter, als er auch das gesamte Indochina und Indonesien beeinflußte. Das Vordringen des Islam löschte diesen Einfluß, wie auch den des Buddhismus in Indien, im Iran, Zentralasien und Indonesien. Die indische Religionsgeschichte beginnt in der Überlieferung mit der Ankunft von indoeuropäischen Hirtennomaden um 1500 v. Chr., die sich Arier – die Edlen – nannten. Mit den arischen Eroberungen verbreitete sich in enger Interaktion mit lokalen Traditionen allmählich auch deren Kultur und Religion. Ihr Kern, die Veden (das heilige Wissen), werden übereinstimmend als Grundlage aller nachfolgenden Entwicklungen des Hinduismus gesehen. ‘Hindu’ wird häufig synonym mit Inder bzw. Indien verwendet, wie der Hinduismus immer wieder als ‘ethnische Religion’ des indischen Subkontinents diskutiert wird (vgl. Holzapfel 1995, S. 54 ff). Übersehen wird, daß es sich dabei um eine undifferenzierte und verfälschende Vermischung von Nationalität, Glaubenszuordnung und pauschalisierender Kulturvorstellung handelt. Zwar ist die Mehrheit der Bevölkerung der Republik Indien dem Hinduismus zuzurechnen, Hindus sind jedoch in vielen anderen Staaten und anderer Nationalität anzutreffen. Größere Gruppen leben in Großbritannien und in der Karibik, in afrikanischen Ländern und in Nordamerika. Der Hinduismus variiert vom homogenisierten Hinduismus in der Karibik zu eher fragmentierten Kongregationen in Südafrika und Fiji. 1.1 Grundzüge/Struktur Angesichts der Komplexität und der sehr verschiedenen Strömungen der unter dem Sammelbegriff ‘Hinduismus’ zusammen98 gefaßten Glaubensinhalte, können hier nur wenige zentrale Elemente beispielhaft herausgegriffen werden. Die Zahl der Gottesvorstellung ist unüberschaubar, auch wenn sich einige Hauptströme herausgebildet haben. Nach hinduistischer Auffassung gibt es viele Wege zu Gott. Dem Individuum steht es daher frei, die Form seiner Glaubensausübung selbst zu wählen, je nach persönlichem Geschmack, Zeit und dem jeweiligen Anlaß (vgl. Michaelson 1987, S. 32 f). Konzeptionen der westlichen Welt, sehen Religion in Verbindung mit institutionalisierten Aktivitäten, in geweihten Gebäuden mit offiziellen bzw. ordinierten Religionsvertretern. Für den Hindu ist das eigene Zuhause ein wichtiger Ort Gottes in dem zahlreiche Zeremonien stattfinden. Die Tendenzen zu einem organisierten Hinduismus als Tempelreligion1, sind in der Diaspora, fern dem Herkunftsland des Hinduismus, erheblich. Längerfristig ist dadurch eine gewisse ‘Standardisierung’ und eine Reduzierung hinduistischer Vielfalt zu beobachten. Die Orientierung am Glaubensschwerpunkt des erreichbaren Tempels bzw. seiner Verwaltung führt zu Modifizierungen und/ oder Angleichungen unterschiedlicher Glaubenspraktiken. In der hinduistischen Diaspora wird der Tempel zum gesellschaftlichen Mittelpunkt. Er wird zum Treffpunkt, auch für die jüngeren, nachwachsenden Generationen und läßt somit insbesondere die Älteren auf Kontinuität in der Glaubensgemeinschaft hoffen. Glaubensinhalte beziehen sich auf ein grundlegendes Streben, sich aus dem Kreislauf der Wiederverkörperungen zu befreien und die Einheit mit dem Göttlichen zu realisieren. Metaphysische Leitideen sind ‘Dharma’, eine Kausalitätslehre des Ablaufs des Weltprozesses ohne Anfang und ohne Ende. Dharma ist das sittliche Gesetz, eine kosmische Ordnung, die die Normen für menschliches Verhalten und Handeln setzt, mit einer unerbitt- RELIGIONEN – DER HINDUISMUS lichen Vergeltungskausalität aller guten und bösen Taten. Es gibt jedoch keine ausformulierten Definitionen von Dharma im Sinn universal akzeptierter Normen. Dharma kann als normatives Denken, als Idealisierung, nicht als gesellschaftliche Realität erklärt werden. Dharma ist die praktische Umsetzung von Moksha (Erlösung aus der Wiedergeburt), das alle Lebensregungen ordnet und somit das Schicksal eines jeden bestimmt, als die notwendige Konsequenz der Taten eines früheren Daseins (vgl. Kakar 1981). Viele noch heute praktizierte Rituale und Traditionen sind auf vedische Überlieferungen – Rig-, Sama-, Yajur- und Atharva-Veda – zurückzuführen, die bereits zwischen 1400 und 400 v. Chr. verschriftlicht wurden. Zentral für die religiöse Praxis der Arier war das Opfer in Ritualen, die um und durch das Feuer (Agni) durchgeführt wurden. Der nomadische Ursprung dieser Religionsausübung kommt hier deutlich zum Ausdruck, insbesondere in Verbindung mit Feuer, mit der Gastfreundschaft am Feuer und mit dem Opfer in der Form von Speisen (vgl. Hardy 1988, S. 575). Das Opfermal wurde mit einer Gruppe und den sog. ‘Devas’ geteilt, unsichtbaren Wesen, stärker als Menschen. Es gibt etwa 1.000 überwiegend männliche Devas die angerufen werden können und mit Naturphänomenen, wie Feuer, Wasser, Gewitter, etc. verbunden werden. Das rituelle Feuer, Agni, ist ein Deva und dient der Kommunikation mit anderen Devas. Insbesondere in zentralen Ritualen, wie Hochzeit oder Tod, spielt das Feuer nach wie vor eine herausragende Rolle. Für die Hindus besteht der gesamte Kosmos aus derselben Ursubstanz, verkörpert in den drei ‘Gunas’, in unterschiedlicher Mischung. Ein kompliziertes System von kastenorientierten Essensvorschriften und Reinheitsgeboten leitet sich aus dieser Vorstellung ab. Das damit zusammenhängende Verbot, von Fremden Essen anzunehmen, ist stark verinnerlicht, wenn es auch durch Mobilität und damit veränderte Verhaltensweisen gelokkert ist (vgl. Ebel 1988, S. 91 ff). Der Körper und die Physiologie sind in den Dienst des religiösen Strebens gestellt und Yoga mit seinen vielfältigen Formen ist Teil religiöser Praxis, in der rechtes Handeln (Orthopraxie) wichtiger ist als rechter Glaube (Orthodoxie). Teil religiöser Praxis sind ebenfalls Pilgerreisen zu den heiligen Stätten. Im Hinduismus gibt es einen reichen Schatz an zum Teil religiös erhöhten Mythen und Legenden, die auch die moderne indische Filmindustrie sehr erfolgreich zu nutzen weiß. Von großer Bedeutung sind die Heldengedichte ‘Ramayana’ – die Taten des Rama (4.-3. Jh. v. Chr.), und die ‘Mahabharata’ – der Große (Kampf) der Bharatas (5. Jh. v. Chr. bis 4. Jh. n. Chr.) in der Krishna und Vishnu zentrale Akteure sind. 1.2 Gesellschaftsordnung Ein Hauptmerkmal des Hinduismus ist nach wie vor das Kastensystem. Es teilt die Gesellschaft in vier Ebenen (Varnas): die Priester (Brahmanen), die Krieger (Kshatriyas), die Kaufleute (Vaishyas) und die Dienenden/ Leibeigenen (Shudras). Im vorkolonialen Indien wurde die soziale Identität einer Person in erster Linie durch die Kaste und das Heimatdorf bestimmt, nicht durch die Religion. Erst durch die Kategorisierung durch die Kolonialverwaltung, deren Ziel die Schaffung getrennter Wählergruppen für religiöse Minderheiten war, rückte die Religion und die Frage „Wer ist Hindu?“ in den Vordergrund. Seit der Volkszählung 1901 wird in zehnjährigem Abstand eine Registrierung nach Kasten durchgeführt, die eine Politisierung religiöser Identifikation mit sich brachte. Eine herausragende neuere Bewegung ist die ‘Hindutva’ (Hindutum)-Be99 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN wegung, mit starken nationalistischen Tendenzen und Zielen wie „Militarisierung des Hinduismus“2. Ihren AnhängerInnen gelten muslimische Landsleute als Nachfahren und AnhängerInnen einer Invasorenreligion. Hindu wird man durch Geburt in eine der Kasten. Deshalb ist der Hinduismus nicht missionierend. Wie die gesellschaftlichen, sind auch die familienbezogenen Konzepte außerordentlich stark hierarchisch. Selbst ein geringer Altersunterschied reicht für eine formale Autorität. Dem ältesten Bruder als künftigem Familienoberhaupt kommt eine besonders starke Position zu3. Traditionell entscheidet das älteste männliche Familienmitglied in wichtigen Familienangelegenheiten. Weibliche Autorität hängt meist von der hierarchischen Position ihres Ehemannes ab. Wo die Mutter oder Großmutter eine starke Persönlichkeit hat, ist es jedoch durchaus nicht selten, daß sie letzte Entscheidungen fällt. Strenge Hierarchien und die strikte Einhaltung von Traditionen sind heute in Familien der oberen Gesellschaftsschichten weniger ausgeprägt, ebenso wie im urbanen Kontext, angesichts des engeren Zusammenlebens und der Erfordernisse der modernen Arbeitswelt4. Unterschiedliche Kulturen stehen den Entwicklungsphasen ihrer Mitglieder unterschiedlich gegenüber. In den gehobenen Kasten des hinduistischen Indiens ist die frühe Kindheit das ‘golden age’ der individuellen Lebensgeschichte, anders als in Deutschland oder Frankreich, so der Psychoanalytiker Sudhir Kakar. Die Vorstellung vollständiger Unschuld und des Kindes als Geschenk der Götter sieht Kakar tief im hinduistischen Weltbild verwurzelt, ebenso wie das Konzept der ‘Zweiten Geburt’, wonach ein Kind sich vom (lediglichen) Individuum erst dann zum Teil seiner Gesellschaft entwickelt, wenn es zwischen fünf und zehn Jahren alt ist5. 100 1.3 Rituale und Feste Es gibt eine Fülle lebensbegleitender Zeremonien bereits während der ersten Lebensjahre eines Kindes, wie z. B. anläßlich des ersten Haarschnittes im Alter zwischen zwei bis vier Jahren. Besondere Riten sind die samskaras, die ‘Weihen’ anläßlich der Geburt, der Heirat und des Todes, weshalb dabei fachkundige Priester benötigt werden. Der häusliche Schrein ist jedoch Zentrum religiöser Alltagspraxis, vorrangig durch den Familienvorstand. Der populäre Hinduismus kennt zahlreiche Feste, die Jahreszeiten oder Ereignisse des Lebens zelebrieren und deren Zeitpunkte vom Mondkalender und astrologischen Kriterien bestimmt werden. Auch in den Festen und ihrem Verlauf gibt es erhebliche regionale und soziale Unterschiede. Rituale des Lebenslaufs können sich sogar zwischen Familien gleicher Kaste und Ortsansässigkeit gravierend unterscheiden. Ausgedehnte Feste sind Holi, im Februar/März vor Beginn des hinduistischen neuen Jahres und Diwali, das Lichterfest im Dezember. Die Feste und Rituale haben einen stark gruppen- und familienfestigenden Charakter. Im Vordergrund steht dabei vielfach der Vollzug und nicht die konzentrierte Aufmerksamkeit, was manche Feier in den Augen von TeilnehmerInnen – z. B. aus christlicher religiöser Tradition – mitunter etwas chaotisch erscheinen läßt. So kann es durchaus vorkommen, daß der Brahmane – der Pandit – bei der Durchführung einer Hochzeitszeremonie nicht einmal von dem neben ihm sitzenden Brautpaar und deren Zeugen verstanden wird, weil die Hochzeitsgäste und deren Kinder einen so hohen Geräuschpegel von Gesprächen und Gelächter entfalten, daß der Eindruck entsteht, daß die Zeremonie an sich von den meisten überhaupt nicht wahrgenommen wird6. RELIGIONEN – DER HINDUISMUS 2. Sikhismus Der Sikhismus ist ein relativ moderner Zweig des Hinduismus mit einem Hintergrund islamischer Einflüsse (vgl. Hardy 1988, S. 533 ff). Er war immer schon eng mit politischen Entwicklungen im Punjab verbunden. Obwohl dort zur Zeit seiner Gründung eine außerordentliche religiöse Vielfalt bestand, nahm der Islam im Punjab des 15. Jahrhunderts – von den Sultanen in Delhi aus gesteuert – eine dominante Stellung ein. Begründet wurde der Sikhismus von Baba Nanak (1469 – 1538), der nach einem mystischen Erlebnis im Alter von etwa dreißig Jahren den Sikhismus begründete. Nanak schlug einen kompromißlosen Monotheismus vor, erklärte eine Inkarnation Gottes für unmöglich (islamische Züge). Eine ekstatische Vereinigung mit Gott ist möglich und die Gurus der Sikhs haben sie erlangt. An Guru-Unterweisungen können Männer und Frauen gleichberechtigt teilnehmen. Vor Gott sind alle gleich, wodurch Kasten unnötig sind. Die Auflösung des ‘British Empire’ 1947 war mit der Teilung des Punjabs zwischen Indien und Pakistan und einer massiven Bevölkerungsbewegung zwischen den beiden Hälften der Provinz verbunden. Die gesamt Sikh-Bevölkerung des westlichen Distrikts sah sich zur Migration nach Indien gezwungen. Die Partei Akali Dal erreichte dann 1966 die Errichtung des Staates Punjab in Indien, ohne jedoch bis heute das angestrebte unabhängige ‘Khalistan’ zu erreichen. Zentral im modernen Sikhismus ist das Gurdwara Management Committee (SGPC), das die wichtigsten Tempel im Punjab verwaltet. Die Mitglieder werden unter Laien gewählt. Die Offiziellen des Tempels sind angestellte Bedienstete. Ein ähnliches System wird auch in der Diaspora praktiziert. Etwa 10 Mio. Sikh leben größtenteils im Punjab und angrenzenden Gebieten, ca. 1 Mio. vor allem in Nord- amerika und Großbritannien (vgl. Shackle 1988, S. 714 ff). 3. Neohinduismus Der Neohinduismus wird als indische Nationalbewegung bezeichnet, die sich bemühte, westliche Werte zu integrieren und indische Weisheit dem Westen zu öffnen7. Damit verbundene Namen sind der bengalische Reformator Rammohan Roy (1774 – 1833), der als „Vater des modernen Indiens“ bezeichnet wird (Richards 1988, S. 705 ff). Er gründete 1828 die Brahmo Samaj-Gesellschaft, die eine Neuinterpretation hinduistischer Tradition ermöglichte. Ihm folgten Mystiker und Reformer, wie Rabindranath Tagore (1841 – 1941) und Vivekanda8, ein Schüler Ramakrishnas (1836 – 86), und Mohandas Karamchand Gandhi (1869 – 1948). Vivekanda sah den Hinduismus als Religion des Geistes und der Vollkommenheit im Gegensatz zu den westlichen Religionen der Wörter, des Buchwissens. Diese Entwicklung brachte eine starke Sensibilität für soziale Fragen und Reformen, technische Aufgeschlossenheit und pädagogischen Erneuerungswillen mit sich. Der Neohinduismus führte zu einem „Bruch zwischen Religion und Kultur“ (Antes 1973, S. 101), der für Indien als unvermeidbar eingeschätzt wird, da im Wandel der Gesellschaft Gewohnheiten, die bisher stets mit dem eigentlichen Leben eines Hindu identifiziert wurden, in Frage gestellt wurden. Die daraus resultierende Verunsicherung führte zu neuen Formen der Glaubensausübung, andererseits aber auch zu einer Rückbesinnung und Restauration des Alten. Die Spaltung verhinderte, daß der Neohinduismus zu einer Massenbewegung werden konnte, auch wenn er eine allgemeine Modernisierung des Hinduismus begünstigte. 101 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN Anmerkungen Religionen – Der Islam 1 Vgl. Knott 1987 zur Neuinterpretation von religiösen Traditionen in der Diaspora; ebenfalls Vertovec 1992, S. 108 ff. Im folgenden Abschnitt soll auf Grundzüge des Islam eingegangen werden. Ein Blick auf geschichtliche Hintergründe und lokale Besonderheiten wird einen Eindruck islamischer Vielfalt vermitteln. Die mitunter stark divergierenden Auslegungen islamischer Glaubensgrundsätze können hier nicht dargestellt, lediglich angedeutet werden. Dabei ist es nicht möglich, allen Richtungen gerecht zu werden. Schwerpunkte wurden bei den Herkunftsländern der Kinderflüchtlinge gesetzt, wobei in dem Abschnitt „Religionen – Afrika“ gesondert auf den Islam afrikanischer Prägung eingegangen wird, ebenso wie auf Geisterglaube und Besessenheitskulte. Zum übergreifenden Thema der Beschneidung, enthält das Kapitel „Religionen – Eine Einführung“ einen Abschnitt und Literaturhinweise. Der folgende Beitrag soll zu weiterer, vertiefender Lektüre anregen. 2 Randeria in der Frankfurter Rundschau, 1.11.1996 ebenfalls in ‘Religion-Macht-Gewalt’, Ffm 1996. 3 Auch als Spielgefährte kommt er für den jüngeren Bruder normalerweise nicht infrage (vgl. Holzapfel 1995, S. 60 ff). 4 Diese Entwicklung war schon in den 60er Jahren weit fortgeschritten (vgl. Goode 1970). 5 1981, S. 5 ff: die kulturelle Vorstellung von der Natur des Kindes als wesentlicher Teil primärer Sozialisation. 6 Vgl. Vertovec 1992, S. 179; Holzapfel 1995: Die Hochzeit der Töchter. 7 Vgl. Köster 1986. 8 Vivekandas Verhältnis zum Westen wird widersprüchlich beurteilt: Köster (1986, S. 26) bezeichnet seinen Neohinduismus als antiwestlich und antichristlich, während Eliade (1991) von „Verdiensten“ spricht, den Hinduisdmus dem Westen geöffnet zu haben. Literatur Siehe „Religionen – Eine Einführung“ Tips zum Weiterlesen Naipaul, V.S.: A House for Mr. Biswas. London 1969 (eine Erzählung, die Einblicke in hinduistische Rituale, Mythen und Traditionen vermittelt) Kakar, Sudhir: The Inner World – A Psycho-analytic Study of Childhood and Society in India. Oxford 1981 Renate Holzapfel 102 1. Eine kurze Einführung Der Islam – d. h. „Hingabe, Gott ergeben“ – ist eine monotheistische Religion. Sie wird von den Muslimen als eine „Weiterentwicklung“ jüdischer und christlicher Glaubenslehre gesehen. Er versteht sich als Wiederherstellung des reinen und unverfälschten Monotheismus, wie er in der Religion des Abraham bereits hervortrat und wie er zuletzt durch den Propheten Mohammed als reines Gotteswort verkündet wurde. Nach muslimischem Verständnis setzt Mohammed (ca. 570 – 632 n. Chr.) die lange Reihe der biblischen Propheten fort und beendet sie. Jesus – wie auch Moses – gelten im Islam als Propheten und Vorläufer des großen Propheten Mohammed. Er ist als ‘Siegel der Propheten’ der letzte, der für jetzt und alle Zeit die Fülle der göttlichen Offenbarung durch den Erzengel Gabriel erhalten hat. Die Zeitspanne von 622 – 661 n. Chr. gilt für die Mehrheit der Muslime als Maßstab für eine ausschließlich vom Islam geprägte Lebens- und Staatsgemeinschaft. Es RELIGIONEN – DER ISLAM war die Zeit der vier ‘rechtgeleiteten Kalifen’, Abu Bekr, Omar, Othman und Ali, dem Vetter und Schwiegersohn des Propheten. Unter Othman wurde der Koran („Wort Gottes“) mit seinen 114 Suren schriftlich fixiert. Bereits unter Ali kam es zur Spaltung in Sunniten und Schiiten, die auch heute noch unter den mehr als 80 verschiedenen islamischen Sekten und Fraktionen mit 80 bzw. 15 % der Gläubigen die größten Gruppen sind. Ihre Differenzen beschreiben sie normalerweise als politisch, nicht religiös, soweit es sich um islamische Doktrin und Rituale handelt (vgl. Corrigan u. a. 1998, S. 207). Schiiten erkennen nur die Staatsführung des Ali (656 – 661) und seine Leitung der ‘umma’, der politisch-religiösen Gemeinde, als verbindlich an. Sie vertreten die Lehrmeinung, daß der Nachfolger im Amt der Gemeindeleitung nicht allein politische Führerschaft, sondern auch göttliche Leitungsgabe besitzen soll, wie sie der Familie Mohammeds vorbehalten sei. Im Iran und im Irak stellen Schiiten die Mehrheit der Bevölkerung. Innerhalb der Schiiten gibt es wiederum verschiedene Lehrgebäude und unterschiedliche, untereinander gespaltene Gruppierungen. Sunniten erkennen die Entscheidungen aller vier Hauptschulen des Islam an. Sie wollen dem vorgebahnten Weg Mohammeds, der ‘Sunna’, insbesondere dahingehend folgen, als Mohammed keinen Nachfolger für die Gemeindeleitung einsetzte und der zu wählende Nachfolger lediglich politische Führerschaft, nicht aber göttliche Leitungsgabe beanspruchen könne. Im mystischen, weltabgewandten Islam – wie im Sufismus – steht die jeweilige Bruderschaft im Zentrum. Insbesondere in den klassischen Bruderschaften ist das Gleichheitsprinzip des Islam aufgehoben (vgl. u. a. Gellner 1985). Eine der Abspaltungen vom Islam sind die Aleviten, benannt nach dem Schwiegersohn Mohammeds, Ali. Dieser Glau- bensrichtung gehören ca. 20 Mio. Menschen in der Türkei1 an, das ist etwa ein Drittel der Bevölkerung. Ihr Glaube ist weltoffen, gegen Gewalt und Nationalismus eingestellt. Es wird wenig Wert auf äußere Formen des Islam gelegt, denn „Gottes Licht ist im Menschen“2. Dies ist auch eine der Ursachen dafür, daß sich viele muslimische Glaubensrichtungen von den Aleviten distanzieren und Ihnen absprechen, Muslime zu sein. Aleviten haben keine Moscheen, sondern Gemeindehäuser, die im Gegensatz zu den Gotteshäusern der Sunniten auch Frauen offenstehen. Schlachter, Jäger und Politiker sind dort nicht willkommen, letztere um die strikte Trennung zwischen Politik und Religion zu unterstreichen. Aleviten pilgern nicht nach Mekka, halten sich nicht an den Ramadan und an das Schweinefleischverbot. 2. Grundprinzipien (Säulen) und Schriften des Islam Der Koran3 ist für Muslime das Wort Gottes, vom Erzengel Gabriel dem Propheten Mohammed überbracht. Er gilt in traditioneller Sichtweise nur in arabischer Sprache als ‘Buch Gottes’. Im Koran sind alle Lebensbereiche thematisiert, was seine starke sozialisierende und persönlichkeitsbildende Wirkung als Hilfe zur praktischen Lebensbewältigung verstärkt. Wo Klärung erforderlich erscheint, wird auf die authentische Tradition, die ‘Hadith’, zurückgegriffen, die schriftliche Sammlung der Aussagen und Handlungen des Propheten Mohammed. Das Verhalten des Propheten, ‘Sunna’, wird als beispielhaft betrachtet. Wie der Koran sind auch die Hadith unveränderlich, ihre Interpretation und Anwendung jedoch nicht (vgl. Corrigan 1998, S. 466). ‘Sunna’ und der Koran bilden die ‘Scharia’, das islamische Rechtssystem, das das gesamte Leben der Gläubigen re103 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN gelt. Für die Interpretation der Scharia sehen Schiiten im Gegensatz zu Sunniten lediglich Führer aus dem Haus des Ali legitimiert. Muslimische Glaubenspraxis besteht aus den sogenannten ‘fünf Säulen des Islam’ (vgl. u. a. ebd.): – Das Glaubensbekenntnis (schahãda): „Ich bezeuge, es gibt keine Gottheit außer Allah; ich bezeuge, Mohammed ist der Gesandte Allahs.“ – Das fünfmalige tägliche Gebet (salãt), vorgeschrieben morgens, mittags, nachmittags, abends und vor dem Schlafengehen. Unerläßliche Regeln sind dabei die persönliche Reinigung und die Ausrichtung nach Mekka. – Die Almosensteuer (zakãt), ist die jährliche Sozialabgabe, gleichbedeutend mit dem Gebet (Koran Sure 2, Vers 110), die mindestens 2,5 % des Besitzes betragen soll. – Das Fasten (möglichst) im Monat Ramadan, der sich wie alle muslimischen Feste nach dem Mondjahr (354 Tage) richtet, wodurch er gegenüber dem Kalenderjahr jährlich 11 Tage früher beginnt. Einen Monat lang muß von Sonnenauf- bis -untergang auf Essen und Trinken, Rauchen und sonstige leibliche Genüsse verzichtet werden. – Die Pilgerfahrt (Haj) nach Mekka im 12. Monat des islamischen (Mond-)Jahres. Sie sollte einmal im Leben durchgeführt werden und unterliegt strengen Richtlinien im Hinblick auf Kleidung, Handlungsvorschriften und Ablauf. Ist dies nicht möglich, kann auch ein Vertreter beauftragt werden. 3. Kultur und Geschichte des Islam Vor dem Auftreten Mohammeds waren die Araber der arabischen Halbinsel in stark fragmentierte und streitlustige Gruppen aufgeteilt, die sich gegenseitig überfielen. Insbesondere gegen den Polytheismus der vorislamischen Araber stellte sich der Ko104 ran vehement, der gleichzeitig die christliche Dreieinigkeit als polytheistisch verurteilte. Erst die starke monotheistische Doktrin mit dem ‘Befehl’ den Islam zu verbreiten, ermöglichte eine politische Einheit und ein gemeinsames Anliegen, die die gemeinsame Hochsprache, das klassische Arabisch, nicht erreicht hatte (vgl. Corrigan u. a. 1988, S. 140). Mekka und Medina, die heute bedeutendsten Städte islamischer Religionsausübung und Ziele der berühmten alljährlichen Pilgerreisen, waren bereits zur Zeit Mohammeds bedeutende Zentren. Die Geburtsstadt Mohammeds, Mekka mit seinem Heiligtum der Kaaba, rund um den berühmten schwarzen Meteoriten erbaut, war schon im 6. Jh. n. Chr. das religiöse Zentrum Zentralasiens und eine der wichtigsten Handelsstädte (vgl. Eliade 1991, S. 241). Der Islam fand rasche Ausbreitung unter anderem auch deshalb, da vorhandene Strukturen und Praktiken leichter als bei einer Konvertierung zum Christentum beibehalten werden konnten. Die relative Gleichgültigkeit der islamischen Gesetze gegenüber alltäglichen Variablen und Verhaltensweisen, sofern sie nicht in unmittelbarem Widerspruch zu den Grundvorschriften stehen, führte dazu, daß im Islam starke lokale Unterschiede vorhanden sind. So konnten afrikanische Stammesrituale, hinduistische Traditionen auf Java oder politisch-religiöse Strukturen Marokkos mit der Übernahme des Islam vereinbart werden. Kultur-, landes- und häufig sogar familien- bzw. klanspezifische Unterschiede existieren ebenso, wie neuere Entwicklungen mit regionalen und kulturellen Besonderheiten. Marokko und Indonesien sind gute Beispiele unterschiedlicher Geschichte und Entwicklung des Islam. Beide verneigen sich gen Mekka, doch in entgegengesetzten Richtungen. Sie sind Antipoden der muslimischen Welt, nicht nur geographisch, sondern auch in mancher Beziehung in ihren nachweisbaren RELIGIONEN – DER ISLAM Spuren vorislamischer Kultur (vgl. Geertz 1991). Die Grundpfeiler des Islam, insbesondere das vorgeschriebene Gebet (‘Salãt’), werden jedoch selbst in kulturell sehr differenzierten Ländern weltweit in erstaunlicher „Uniformität“ (Corrigan u. a. 1998, S. 476) praktiziert. Reibungen islamischer Glaubensausübung mit örtlichen Traditionen gibt es vor allem mit fundamentalistisch orientierten Muslimen. 3.1 Der Islam und die Familie Alle monotheistischen Glaubensrichtungen, die sich auf Abraham berufen (Juden, Christen, Muslime), sehen sich kritischer Beurteilung ihrer Einstellung zu Frauen, ebenso wie gegenüber sexuell gleichgeschlechtlich orientierten Menschen, ausgesetzt. In den männer-dominierten Religionen scheint die Auseinandersetzung mit diesen Themen derzeit eher zur Spaltung, als zu einem generellen Umdenken zu führen. Im Hinblick auf muslimisch regierte Länder, wird nach allgemeiner Einschätzung die Rolle der Frauen auf lange Sicht eher im Sinne traditioneller Koranauslegung gesehen werden, wonach Männern eine gottgewollte Superiorität zukommt (Koran 4:34, 2:222). In traditionell orientierten Familien beginnt die geschlechtsspezifische Erziehung früh. Ihre Ideale gleichen weitgehend der anderer traditioneller Gesellschaften, wo Mädchen hausfixiert und die Jungen für die Rolle des Ernährers und Beschützers der Familie erzogen werden. Die muslimische Idealvorstellung betrachtet die Familie als die Grundlage muslimischen, privaten und kommunalen Lebens, ohne die die muslimische Gemeinschaft nicht überleben kann (vgl. Corrigan u. a. 1998, S. 476). Zentral ist die Familienehre. Fehltritte werden als Schande für die ganze Familie gesehen, weshalb die Sorge um einen einwandfreien Lebenswandel Familienangelegenheit ist. Konflikte ent- stehen besonders dort, wo Modernisierung und Industrialisierung bewahrende Abgrenzungsstrategien erschweren oder zunichte machen. Hier sehen sich die Abweichler von traditionsorientierten Familienwünschen den größten Belastungen ausgesetzt: entscheiden sie sich gegen die Tradition, verlieren sie den bedingungslosen Rückhalt der Familie samt ihrem Sicherheit versprechenden Netzwerk. Eingetauscht wird dafür eine selbstbestimmte Unabhängigkeit mit ungesicherter Zukunft in einem oft feindlich und ausgrenzend eingestellten Umfeld. Religiös verantwortlich sieht der Islam das Individuum erst mit dem Erreichen der Geschlechtsreife. Ab sieben Jahren sollen Kinder nach Mohammeds Empfehlung allmählich in den Islam eingeführt werden. Inwieweit es sich hier um eine Verpflichtung oder eine Möglichkeit handelt, wird unterschiedlich ausgelegt. Jedenfalls entstanden Koranschulen für Kinder erst ca. 300 Jahre nach Mohammed (vgl. Köster 1986, S. 176). Dort wurden die Anfangsgründe des Lesens, Schreibens und der Grammatik vermittelt, Texte des Koran gemeinschaftlich rezitiert und auswendig gelernt, Geschichten und Sprichwörter aus der Überlieferung erläutert und memoriert. Muzaffer Andaç, islamischer Erziehungswissenschaftler hat zwiespältige Erinnerungen an die Koranschule, wo er „die richtigen Gebete“ lernte, jedoch die Strenge des Lehrers ihn abschreckte. Religiöses Erleben ist in seinem Gedächtnis eng mit seinen Eltern verbunden: dem Besuch der Moschee mit dem Vater während des Ramadan und des Opferfestes, die mütterlichen Erinnerungen ans Beten beim Schlafengehen. Wo religiöse Handlungen wie die Gebetsverrichtung im Islam nicht unauffällig, sondern überall und öffentlich erfolgen, erfährt und sozialisiert sich ein Kind in und mit alltäglicher Frömmigkeit stärker, als dies im allgemeinen durch stille devotionale 105 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN Handlungen – z. B. das Beten im christlichen Glauben – der Fall ist (vgl. Andac 1995, S. 272). Beschneidung (Khitãn) ist generelle Praxis in muslimischen Familien. Im Koran wird sie nicht erwähnt und der Ursprung dieser Praxis ist in manchen Gebieten auf vorislamische Praktiken zurückzuführen (vgl. Rachewitz 1969, S. 170 f). Vollzogen wird sie i.d.R. bis zum 7. Lebensjahr, spätestens jedoch vor der Menarche. Damit verbundene Rituale können regional große Unterschiede aufweisen. Trotz starker Widerstände auf internationaler Ebene, ist die Beschneidung von Mädchen in stark traditionell ausgerichteten Gesellschaften – z. B. Sudan, Somalia, Ägypten – noch verbreitet ( Religionen – Eine Einführung). 3.2 Der Islam und die politische Ordnung Etwa 1/6 der Weltbevölkerung sind Muslime. Lediglich in Ländern bzw. Kontinenten wie Australien und Südamerika konnte der Islam bisher nicht einschneidend Fuß fassen. In Ländern mit überwiegend muslimischer Bevölkerung hängt es vom Grad der Säkularisierung des Staates ab, ob und inwieweit die Scharia angewandt wird. Unterschiedliche Auslegungen darüber, ob und inwieweit der Prophet Mohammed zwischen weltlichem und religiösem Gesetz und dessen Repräsentanten unterschied, ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Islam. Wie in den meisten Religionen gibt es eine Auseinandersetzung zwischen Traditionalisten und Modernisten. Wo eine verstärkte Rückbesinnung auf islamische Prinzipien und Lebensweise zu beobachten ist, kann diese mitunter in engem Zusammenhang mit kolonialen Herrschaftsstrukturen und einem Bemühen um kulturelle Identität und Eigenständigkeit gesehen werden. Religion war und ist eine gemeinsame Ebene des ‘Identitätsmanagements’ (vgl. Robins 106 1973, S. 1199-1222), die Sammelbecken und Basis für Kräfte sein kann – über die Grenzen stammes- bzw. herkunftsgeschichtlicher Differenzen hinaus. In Beispielen wie Algerien, Afghanistan und dem Sudan zeigt sich die Instrumentalisierung von Religion in greller Deutlichkeit. Immer geht dies zu Lasten schwächerer Gruppen, wie Frauen, Kinder und Minderheiten, wie den Berbern in Algerien4. Im Sudan befindet sich der arabisierte und muslimische Norden in einem lange bestehenden Gegensatz zum schwarzafrikanischen Süden, der durch westliche Kolonialmächte teilweise christianisiert worden war, in dem sich jedoch auch traditionelle Glaubensrichtungen naturverbundener, animistischer Religionen deutlich behaupten konnten. Oft wird von einem Religionskrieg gegen den Süden gesprochen. Die Hintergründe sind jedoch vielfältiger. In Südostasien ist eine zunehmende Betonung islamistischer Ideale zu beobachten, eine Bewegung, die jedoch bisher durch das Bestreben gebremst wurde, für westliche Investoren aus vorrangig christlichen Ländern attraktiv zu bleiben. In Indonesien, Malaysia, Süd-Thailand und den Philippinen leben etwa 20 % der muslimischen Weltbevölkerung (vgl. Corrigan 1998, S. 465). Anmerkungen 1 In Deutschland ca. 700.000 (Sinan Erbektas, Förd. der Alevitengem., Worms, in Ffm 26.11.1998, 11. Interkulturelle Konferenz), insgesamt leben derzeit ca. 2,7 Mio. Muslime in Deutschland, ca. 2,1 Mio. davon mit türkischer Staatsangehörigkeit (Dr. N. Elyas, Zentralrat der Muslime, Eschweiler, ebd.). 2 Sinan Erbektas, zum esotherischen Schwerpunkt alevitischen Glaubens (Ffm 26. 11. 1998). 3 Das Wort Qur’an kommt von qara’a, d. h. „lesen, rezitieren“ (Eliade 1991:243). 4 Arabisierung am 5. Juli 1998. SPRACHE Literatur Siehe „Religionen – Eine Einführung“ Tip zum Weiterlesen: Geertz, Clifford: Religiöse Enwicklungen im Islam: beobachtet in Marokko und Indonesien. Frankfurt a. M. 1991 Renate Holzapfel Sprache Sprache ist Vielfalt. Ob gesprochene Sprache, Körpersprache, Gebärdensprache, Bildersprache, die Möglichkeiten sich anderen mitzuteilen sind fast unerschöpflich. Ob es jedoch gelingt, sich seinen Mitmenschen verständlich zu machen, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Zwar wird davon ausgegangen, daß es Universalien gibt, die scheinbar allen Sprachen gemeinsam sind. Mit ihnen wird „grammatische Kompetenz“ (Noam Chomsky) in Verbindung gebracht, eine angeborene Fähigkeit, die bereits Kindern ermöglicht, komplizierte Sprachstrukturen zu erlernen. Die Fähigkeit zur Kommunikation geht jedoch über biologische Voraussetzungen hinaus. Es sind die sozialen Bedingungen der menschlichen Existenz, kulturelle Hintergründe und individuelles Verhalten, die Sprache ganz wesentlich beeinflussen. Auf einige dieser Aspekte, auf Sprache als Spiegel und gestaltendes Medium von Kultur, auf Sprache als individuelle „Hülle für die Bilder im Kopf“ (Frankfurter Rundschau 1998), soll im folgenden aufmerksam gemacht werden. Thematisiert wird außerdem die Mehrsprachigkeit, insbesondere im Blick auf die Herkunftsländer von Kinderflüchtlingen in Deutschland. 1. Identität und Sprache Sprache hat einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung eines Menschen von frühester Kindheit an, auf die Entwick- lung von Identitätsgefühl und auf kommunikative Fähigkeiten. Sprache bindet an Ursprünge und baut Brücken, sie isoliert und mobilisiert. Eine fremde Sprache zu hören, in einem fremdsprachigen Umfeld in neue Sprachmelodien einzutauchen, kann beflügeln (Urlaubseuphorie) oder bedrücken. Bedrückend ist die Situation dann, wenn Orientierung fehlt, sei es in einem Fachjargon, dem sich man/frau nicht gewachsen fühlt oder in einer fremden Sprache, die ein angestrebtes Ziel entrückt. Sprache verweist auf soziale Zugehörigkeit und Differenz. Zuwendung, Ab- und Ausgrenzung läßt sich über Sprache vermitteln oder verdecken. Identifizierende und/oder distanzierende sprachliche Strategien existieren in allen Sprachen und in allen gesellschaftlichen Bereichen. Am ‘richtigen’ Sprachgebrauch entscheiden sich Lebensläufe. Selbst die Fähigkeit des Scherzens ist eine sprachliche Fertigkeit. Erfolgreich zu scherzen setzt Kenntnis von Zusammenhängen, von Regeln und von Grenzen einer Gesellschaft voraus. Dies gilt auch für die Chance, einen Scherz zu verstehen oder ihn sogar lustig zu finden. Anhand der Sprache werden Freund und Feind unterschieden: „Man denke nur daran, wie wenig sich auf dem Balkan die dortigen Sprachen unterscheiden und doch um soviel, daß man damit Freund und Feind erkennen – und niedermachen kann“ (Löffler 1998, S. 11 f). 1.1 Kulturschock: sichtbar unverstanden Selbst wenn sie noch sehr jung sind, beherrschen zahlreiche Kinderflüchtlinge bei Ihrer Ankunft in Deutschland mehr als eine Sprache. Deutsch zählt selten dazu. In ihren Herkunftsländern wird die deutsche Sprache kaum den notwendigen Weltsprachen zugerechnet, deren Beherrschung ökonomischen und gesellschaftlichen Aufstieg verspricht. Ohne ausreichende sprachliche Mittel werden unbegleitete 107 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN Minderjährige mit Erfahrungen konfrontiert, die selbst bei einer Begleitung durch die Eltern bzw. Erwachsene problematisch sind. Gegenüber den fremden Institutionen, deren VertreterInnen und den Besonderheiten amtlicher Sprach- und Umgangsformen, erfahren sich auch Erwachsene als hilflos und ausgeliefert. Einen ‘Kulturschock’ erleben Kinder und Jugendliche bei ihrer Ankunft häufig nicht nur in bezug auf ihre Möglichkeiten zu verstehen und verstanden zu werden: plötzlich gehören sie einer ‘sichtbaren Minderheit’1 an. Sie stellen fest, daß sie wegen ihrer biologischen Charakteristiken auffallen, daß sich Vorurteile und Distanzierung auf ihr Äußeres zurückführen lassen. Als ‘RepräsentantInnen’ einer biologisch oder national definierten Gruppe wahrgenommen zu werden, nicht einfach als Kinder oder Jugendliche, erleben sie dann oft zum ersten Mal (vgl. Holzapfel 1998). Wie sie dies verarbeiten, hängt von verschiedenen Faktoren, wie Alter2, Herkunft, individuellem Hintergrund und erfahrenem Beistand, ab. 2. Mehrsprachigkeit in den Herkunftsländern Viele Kinderflüchtlinge kommen aus Ländern großer Sprachenvielfalt. So wird zum Beispiel allein für Afrika eine Zahl von ca. 2.000 Sprachen, für Neuguinea und die umgebenden Inseln ca. 700 Sprachen, genannt3. Es gibt Regionen, wie etwa im Nordosten Nigerias, in denen in jedem Dorf eine andere Sprache gesprochen wird, wohlgemerkt Sprache, nicht Dialekt! Mehrsprachigkeit ist dort der Normalfall, wie in vielen wenig oder nichtindustrialisierten Ländern, wo selbst die Ärmsten ohne ausgedehnte Schulbildung i.d.R. mehr als eine Sprache sprechen und/oder verstehen. Die viersprachig aufwachsenden Kinder in Bombo, Uganda 4: 108 In Bombo mit seinen rund 10.700 Einwohnern, sind drei afrikanische Sprachen anzutreffen. Es handelt sich um Nubi, ein arabisch-basiertes Kreol sowie um Ganda und Swahili, zwei Bantusprachen. Alle Nubi sprechen Swahili und Ganda, größtenteils auch Englisch. Die Ganda sprechen Nubi, meist auch Englisch, das bereits im Kindergarten vermittelt wird und in der ersten Grundschulklasse bereits Unterrichtssprache ist. Die viersprachig aufwachsenden Kinder setzen alle Sprachen ein, wobei Englisch beim Zählen Vorrang hat, Ganda, Nubi und teilweise Swahili beim Spiel eingesetzt wird. Die Kinder setzen die Sprachen gezielt ein, d. h. sie passen sich Sprachpräferenzen der anderen Kinder an. Eine nicht-bevorzugte Sprache wird dann gebraucht, wenn dem Gegenüber Dominanz oder Zurechtweisung vermittelt werden soll. In den meisten Herkunftsländern der Kinderflüchtlinge dominiert nach wie vor die Sprache einer ehemaligen Kolonialmacht, allen voran Englisch, aber auch Französisch oder Portugiesisch. Angesichts der Vielfalt einheimischer Sprachen liegt es auf der Hand, daß die Dominanz der Kolonialsprachen nicht nur in der – scheinbaren und tatsächlichen – Brückenfunktion zu Aufstieg und ‘Fortschritt’ begründet ist. Zwar vollzog sich vor allem in den 70er Jahren in einigen dieser Länder eine Rückbesinnung auf die eigene Kultur und auf den Wert der eigenen Sprachen. Es gelang jedoch nur wenigen, eine eigenständige Sprachentwicklung anzustoßen und diese auch durchzuhalten. Nach wie vor erweist sich überall die Beherrschung der Weltsprachen Englisch bzw. Französisch als wichtiger Türöffner selbst im banalsten Alltag, jenseits der Welt höherer Schulbildung, internationaler Geschäfte und Wissenschaft. Wo sich Landsleute aufgrund unterschiedlicher Sprachen oder Dialekte nicht verstehen (im doppelten Wortsinn), dient die ehemalige Kolonial- SPRACHE sprache als lingua franca, schon deshalb, weil sie angesichts von Vorbehalten gegenüber der Vorherrschaft eines lokalen Stammes und seiner Sprache mitunter als das ‘geringere Übel’ erscheint. Sprache diente auch lokalen Stämmen und Volksgruppen immer schon als Politik- und Machtinstrument. Negative Auswirkungen sprachlicher Repressionen sind weltweit zu beobachten. Die Folgen spiegeln sich auch in der Herkunft und den Zahlen von Flüchtlingen aus sprachlichen Minderheiten. 3. Schwein gehabt? Sprache in der Kultur – Sprachkultur Das Verständnis einer Sprache vermittelt unzweifelhaft auch Einsicht und besseres Verständnis einer bis dahin fremden Kultur. Wer sich jemals die Mühe machte, eine Sprache über die Grundbegriffe hinaus zu erlernen, kennt die Erfahrung der veränderten Perspektive und Einsicht. Sie macht bisher eher exotisch und fremdartig erscheinende Metaphern und Redensarten zugänglich und logisch. Intensive Beschäftigung mit einer fremden Sprache läßt Worte und Begriffe verstehen, die nicht eindeutig übertragbar sind. Symbole und sprachliche Kategorien des Welterfassens lassen sich kaum verlustlos übersetzen. Offenkundig wird dies bei abstrakten Begriffen, wie z. B. beim buddhistischen ‘Nirvana’. Ähnliches gilt für Redewendungen. Jemandem zu unterstellen ‘Schwein gehabt zu haben’, wird zwar im Deutschen durchaus positiv gesehen, einem Muslim bzw. einer Muslima wird diese Unterstellung weniger Freude bereiten! Die Regierung der USA hat sich die Erkenntnis des Zusammenwirkens von Sprache und Kultur zunutze gemacht und regierungsgestützte Programme für das Sprachtraining von ImmigrantInnen eingeführt um deren Amerikanisierung zu beschleunigen. Die Aneignung von Sprach- fertigkeiten wird inzwischen mit der Aneignung amerikanischer Werte assoziiert und einem gleichzeitigen Rückgang herkunftsbedingter Werte (vgl. Strand 1985). Ähnliche Beobachtungen, jedoch aus anderer Perspektive, registrierte Professor Babalola in Nigeria bereits in den 70er Jahren (vgl. Babalola 1983). Als Folge der offiziellen, auf Englisch fixierten Sprachund Bildungspolitik Nigerias, beklagte er die zunehmende Gleichgültigkeit gebildeter Nigerianer, die mit ihrer Muttersprache zusehends auch die Kenntnis ihrer Traditionen verlören. Selbst bei den wichtigsten Lebensstationen, wie Namengebung von Kindern, Hochzeit oder Beerdigungszeremonien, gäben sie ein ‘armseliges’ Bild ab, so Babalola. In Sprache finden Hierarchien, Rituale und Umgangsformen Ausdruck und Tradierung. Unterschiedliche Wertschätzung in unterschiedlichen Gesellschaften kann beispielsweise schon allein in der Gewichtung von Gesprächigkeit gegenüber dem Schweigen zum Ausdruck kommen. Begrüßungs- und Höflichkeitsformen zeigen starke Varianten. So ist es in vielen Sprachen – anders als hierzulande – unüblich oder gar beleidigend, sofort zur Sache zu kommen, noch ehe man sich z. B. im einzelnen des Wohlergehens des Gesprächspartners bzw. der Gesprächspartnerin und des jeweiligen Umfeldes versichert hat. Damit verbunden sind elaborierte Sprachrituale. Es gibt Regionen, in denen für Einzelobjekte mit zentraler Bedeutung (z. B. Wasser) mehrere, am jeweiligen Zusammenhang orientierte Bezeichnungen existieren, wo es im Deutschen nur ein einziges Wort gibt. Eine Volksgruppe auf den Philippinen, für die der Fischfang lebensnotwendig ist, kennt einunddreißig verschiedene Wörter für die Tätigkeit ‘fischen’. Jedes dieser Worte bezeichnet eine besondere Art und Weise des Fischens. Dagegen fehlt dort eine pauschale Be109 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN zeichnung für ‘fischen’ (vgl. Harris 1991, S. 75 f). Auch der sprachliche Umgang mit Zeit und Raum variiert. In agrarischen oder nomadisierenden Gesellschaften ist die exakte Kenntnis der Zeit überflüssig. Wichtig ist die Natur sowie tages- und jahreszeitliche Abläufe. So orientieren sich die Bantusprachen an der Gleichmäßigkeit äquatorialer Tage und Nächte: Mit nur geringen Schwankungen wird es etwa um 6 Uhr morgens hell und abends um 6 Uhr dunkel. Dementsprechend wird die Uhrzeit mit jeweils 12 Tages- und 12 Nachtstunden angegeben. In Swahili ist somit das europäische 6 Uhr morgens bzw. abends jeweils saa kumi na mbili = 12 Uhr, unser 7 Uhr morgens oder 7 Uhr abends ist jeweils saa moja = 1 Uhr, usw. Ein besonders Kapitel und Quelle von Mißverständnissen sind Körpersprache und sprachbegleitende Gestik. So wird die Vermeidung von Augenkontakt hierzulande in der Regel negativ interpretiert. In sehr vielen Gesellschaften gilt jedoch der anhaltende direkte Blick – insbesondere gegenüber älteren oder höherstehenden Personen – als Beleidigung und Anmassung. Nicht ‘Verschlagenheit’ motiviert hier das Verhalten, sondern Einhaltung der Konventionen des eigenen kulturellen Hintergrundes. Ähnliches gilt für die Gestik beim Übergeben eines Gegenstandes, wobei stets beide Hände mindestens andeutungsweise genutzt bzw. für den Empfangenden sichtbar werden. Es sind mitunter hierzulande als subtil und unbedeutend erachtete Details, die in einer anderen Kultur als bedeutend und aussagefähig beurteilt werden. 4. Sprachwechsel und Entfremdung Migration und Flucht ist häufig mit einem Wechsel der Sprache verbunden. Dieser Wechsel wird erleichtert und schneller vollzogen, wenn er sich vor einem Hintergrund abspielt, in dem der Muttersprache 110 geringer Status beigemessen wurde, die neue Sprache jedoch sehr hohes Ansehen genießt (vgl. Hymes 1979, S. 56 f). Davon abgesehen ist das Interesse an der Pflege und dem Erhalt der eigenen Herkunftsbzw. Muttersprache im allgemeinen bei Erwachsenen stärker, als bei ihren Kindern. So liegt in der Sprache ein erhebliches innerfamiliäres Konfliktpotential, mit dem die meisten MigrantInnen konfrontiert sind. Dabei spielt es keine erhebliche Rolle, ob es sich um Flüchtlinge, ArbeitsmigrantInnen, legale oder illegale ZuwanderInnen handelt, um ZuwanderInnen nach Deutschland oder ausgewanderte Deutsche5. Unterschiedliche Wünsche zum Erhalt von Rückkehrchancen und Angst vor Entfremdung sind dabei wesentliche Motive. Mit der Herkunftssprache wird zudem – oft eher unreflektiert – versucht, eine ‘Weltauffassung’ weiterzugeben, die in Sprache als Spiegel und Trägerin von Kultur beinhaltet ist. Die Angst vor Entfremdung, nicht nur von der Herkunftskultur sondern auch von der Familie und den eigenen Landsleuten ist nicht unbegründet. Kinder sind meist besser als Erwachsene in der Lage, Möglichkeiten des Spracherwerbs zu nutzen und damit schneller mit der neuen Sprache und dem neuen Umfeld vertraut zu werden. Ein Vorsprung, der dazu führen kann, daß Kinder von ZuwanderInnen und Flüchtlingen zu DolmetscherInnen selbst in solchen Situationen werden, die sie weit über ihr Alter hinaus belasten (vgl. Holzapfel 1995). Selbst wenn keine räumliche Trennung erfolgte, trägt das sprachliche Auseinanderleben zu einem vorgezogenen Verlust bis dahin wichtigster Bezugspersonen bei, insbesondere im Hinblick auf deren Autorität und Status als Fixpunkte zuverlässiger Orientierung. Entfremdung bewirken weiterhin unterschiedliche Spracherfahrungen von Kindern bzw. Jugendlichen und ihren Eltern bzw. engen Bezugspersonen. Sie SPRACHE kann selbst dann eintreten, wenn der Ortswechsel gemeinsam erfolgte. Es liegt auf der Hand, daß mit unterschiedlichen Erfahrungen unterschiedliche Veränderungen von Einstellungen, einhergehen. Dies wird deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, daß Sprache das Bild erzeugt, das wir uns von der Realität machen und daß Sprache wiederum dieses Bild konstruiert. In der Folge dieser auseinanderdriftenden Sicht von Wirklichkeit stehen diese Erwachsenen und ihre Kinder oft im gegenseitigen Widerspruch6. Mit den ‘Bildern im Kopf’ verändern sich Vokabular und Horizonte. Spracherhalt ist ein Bindeglied zur Herkunft. Die Pflege der Herkunftssprache verspricht Wahlfreiheit und läßt eine Rückkehr möglich erscheinen. Eine Illusion, wie sich selbst bei freiwilliger Auswanderung zeigen kann, denn Entfremdung schlägt sich auch in der Sprache nieder. Eine Rückkehr und Wiederherstellung des verlassenen Zustandes ist utopisch. Migration verändert den individuellen Radius und Kontext, erzeugt Distanz, nicht nur des Denkens (vgl. Holzapfel 1996 b). Rückkehr als Möglichkeit ist jedoch eine psychische Entlastung, die nicht zu unterschätzen ist. Ihre geringe Wahrscheinlichkeit insbesondere für geflüchtete Menschen, stellt eine erhebliche, zusätzliche Belastung dar (vgl. Grinberg 1990). 5. Institutionalisierter muttersprachlicher Unterricht Im europäischen wie im internationalen Vergleich des institutionellen Umgangs mit Herkunfts- bzw. Muttersprachen wird ein zwiespältiger Umgang mit dem Thema deutlich. Nach wie vor bleibt es weitgehend den Eltern und/oder den InteressenvertreterInnen nationaler oder religiöser Herkunftsgemeinschaften überlassen, Muttersprache zu erhalten und zu pfle- gen. Auch in anderen europäischen Einwanderungsländern ist diese Frage nicht eindeutig geregelt. Den prototypischen Fall in England stellen Kurse dar, die von den großen – hinduistischen oder islamischen – Religionsgemeinschaften örtlich organisiert werden und vom ersten Grundschuljahr bis zum Abschluß der Sekundarstufe II reichen. Die Angebote des Staates erscheinen eher subsidiär, die Finanzierung ist nicht langfristig gesichert. Frankreichs bildungspolitische Grundsatzposition sieht die Verantwortung für Herkunftssprachenunterricht grundsätzlich bei den Regierungen der Herkunftsstaaten, mit denen entsprechende Verträge geschlossen wurden. Auf diese Weise bestimmt z. B. die algerische Regierung entsprechende Lehrinhalte in Frankreich. Schweden geht dagegen unzweideutig von einer Verantwortung des staatlichen schwedischen Bildungssystems für den Herkunftssprachenunterricht von Einwandererkindern aus. Dieser sog. ‘Familiensprachuntericht’ erreicht einen hohen Versorgungsgrad (vgl. Reich 1994). 6. Sprachstile und Sprachspiele Wer in einem mehrsprachigen Umfeld lebt, kann über eine erweiterte Auswahl von Ausdrucksmöglichkeiten verfügen. Der Umgang damit ist ebenso individuell verschieden, wie situationsabhängig. Jedoch können selbst Puristen und Anhänger von Sprachdisziplin kaum vermeiden, spontan auf ein unmittelbar in den Sinn kommendes, anderssprachiges Wort zurückzugreifen. Manche pflegen diese Möglichkeit, manche verdammen sie. Jedenfalls ist das Individuum bereits von Kindesbeinen an in der Lage, Sprache flexibel einzusetzen. Man denke an den Wechsel zwischen Hochdeutsch und Dialekt, um Bildung zu beweisen oder sich anzubiedern! Derartige Situationen, in denen Sprachwechsel unreflektiert aber auch 111 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN manipulativ eingesetzt wird, kennen alle. Oft vollzieht sich der Sprachwechsel – das ‘Codeswitching’ – spontan, kann sich auf einzelne Worte oder Sätze beziehen. In einer angeregten Unterhaltung von zwei jungen Mädchen aus Eritrea hörte sich das so an, daß im angeregten TigrinyaRedefluß immer wieder deutsche Begriffe auftauchten wie: „Ich weiß schon“, „20 Mark“, „Samstag“! Dieser Sprachwechsel vollzog sich so spielerisch, daß keinerlei Abweichung oder Dissonanz von der Sprachmelodie und Intonation des Tigrinya entstand. Die beiden Mädchen waren nach Deutschland gekommen, als ihre muttersprachlichen Kenntnisse gefestigt waren. Jetzt, Jahre später, wird ihr Alltag mehr und mehr mit deutschen Begriffen besetzt, für die ihnen in ihrer Muttersprache kein Äquivalent verfügbar ist. Nach Jahren im fremdsprachlichen Umfeld mehren sich die Situationen und Zusammenhänge, für deren Bezeichnung sie ihre unmittelbare muttersprachliche Kompetenz verlieren, wo deren Vokabeln und Ausdrucksweisen nicht mehr spontan verfügbar sind oder nie angeeignet wurden. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge verlieren ihre muttersprachliche Kompetenz schneller als diejenigen, die mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen sind. Verbreitetes Analphabetentum, mangelhafte Schreibfertigkeit wegen eines kurzen oder abgebrochenen Schulbesuchs kommen erschwerend dazu. Je nach Unterbringungsort und -art bestehen nur sehr begrenzte oder keine Möglichkeiten, Grundfertigkeiten in einer Herkunftssprache weiterzuentwickeln, der von ‘AußenseiterInnen’ möglicherweise ohnehin wenig Ansehen zugestanden wird. Häufig stoßen die Kinder und Jugendlichen auf Kritik, sobald sie sich im anderssprachigen Umfeld in ihrer Herkunftssprache unterhalten. MitbewohnerInnen und BetreuerInnen, fühlen sich durch die fremde Sprache ausgeschlossen 112 oder gar angegriffen. Wenn sich ‘Mindersprachige’ durch ‘Mehrsprachige’ bedroht fühlen ist die Gefahr groß, eine Stärke – Sprachfertigkeit – abzuwerten, statt sie positiv und letztlich für alle gewinnbringend einzusetzen. Sicherlich kann der Rückzug in eine Sprache durchaus als ‘Waffe’ dienen. Als eigener Sprachcode für ihre Binnenkommunikation7 eingesetzt, wird Sprache hier gegenüber den Erwachsenen zum Schutzwall, eine Bastion, die von Anderssprachigen nicht ohne weiteres durchdringbar ist. Und was Gefühle betrifft, sie gehen nicht alle an und lassen sich zudem am besten in der Muttersprache ausdrücken, zumindest über einen langen Zeitraum sprachlicher Umorientierung hinaus. Kreative Sprachspiele von Kindern und Jugendlichen untereinander sind wichtiger Bestandteil der Persönlichkeitsentwicklung Heranwachsender. Ihr mitunter aggressiver Charakter ist Teil des Experimentierfelds Sprache, in dem mitunter ‘Schlüsselworte’ und ihr Verständnis über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe entscheiden. Oft nur fragmentarisch und deshalb von Gruppenfremden besonders schwierig zu entschlüsseln, sind diese ‘Codes’ stark vom hohen Stellenwert der Massenkommunikationsmittel beeinflußt (vgl. Schoblinski u. a. 1993). Die Abweichungen von der ‘Normalsprache’ Erwachsener und die kulturelle Bezogenheit der Sprachstile Heranwachsender erschweren insbesondere den jungen Flüchtlingen auf lange Zeit den Zugang zu Gleichaltrigen. 7. Schlußbemerkungen Für die Stabilisierung persönlicher und kultureller Identität, insbesondere unbegleiteter Minderjähriger, scheint die Chance zur Pflege der Muttersprache einen positiven Beitrag zu leisten. Eine Gelegenheit dafür bietet sich für die geflüchteten SPRACHE Kinder und Jugendlichen in herkunftsorientierten Vereinigungen und Netzwerken. Nicht immer ein einfaches Unterfangen. Abgesehen von behördlichen Einschränkungen, setzen sich Differenzen aus dem Herkunftsland auch in der Diaspora fort8 und gar manche Gruppierung von Landsleuten – regional, religiös und/oder ideologisch definiert – erweist sich bei genauerem Hinsehen als wenig geeignete Anlaufstelle. Nach allen Erfahrungen erscheint eine Wohnsituation ideal, die Sprachgemeinschaften ermöglicht, die aber auch gleichzeitig das Erlernen und die Sprachpraxis der deutschen (und anderer) Sprachen erleichtert ( Sprachkurse). Deutsch wird dann das unumgängliche Medium der Verständigung und Kommunikation über die eigene Gruppe hinaus. In einer Unterbringung, in der Deutsch als gemeinsame Sprache noch nicht ausreichend entwikkelt ist, besteht allerdings eine erhebliche Gefahr der Vereinzelung in der Gruppe (vgl. Nimsch 1997). Das gemeinsame Schicksal allein hat keine ausreichende Bindungskraft, wie sich immer wieder zeigt. Ein großes Problem stellen die aufenthalts- und ausländerrechtlichen Beschränkungen für die Motivation der Heranwachsenden dar, selbst dort, wo die Möglichkeit zum deutschen Sprachunterricht und fortgesetzter sprachlicher Förderung gegeben ist, diese auszuschöpfen. Angesichts der Schwierigkeiten beim Schulbesuch, der praktisch unzugänglichen Ausbildungsmöglichkeiten und der geringen Aussicht auf regelmäßige, legale Berufsausübung ist wenig Anreiz gegeben, sich oft ungewohnten Lernprozessen unterzuordnen. Auch die Aussicht auf – freiwillige oder erzwungene – Rückkehr oder Weiterwanderung ermutigt nicht unbedingt, die deutsche Sprache gründlich zu erlernen, deren Sprachgebiet doch sehr begrenzt ist. Eine gezielte Erweiterung und Förderung der kommunikativen Kompetenz der Flüchtlinge in der deutschen Sprache ist unerläßlich. Dies muß für alle ZuwanderInnen hohe Priorität erreichen. Auch ein scheinbar ‘vorübergehender Aufenthalt’ rechtfertigt diese Investition in Kinder und Jugendliche. Sie kollidiert keinesfalls mit der Aufrechterhaltung der Rückkehrvoraussetzungen, die im sozialpädagogischen Diskurs breiten Raum einnimmt. Sprachförderung bietet in einem interkulturellen Ansatz des Austausches und der Förderung kultureller Stärken intellektuelle Entfaltungsmöglichkeiten. Gegenseitige Neugier und Offenheit für das Gegenüber zu erzeugen, sollte vorrangiges Anliegen aller sein. Für einen Sprachunterricht bedeutet dies einen Verzicht auf die Überbetonung einer vom Leben losgelösten Grammatik zugunsten der Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten. Davon profitieren können auch die ‘immer schon Hiergewesenen’. Jungen Flüchtlingen in Deutschland wird in einigen Bundesländern nicht einmal Schulpflicht zugestanden und die deutsche Asyl- und Ausländerpolitik ist weit vom Grundsatz entfernt, daß Kinder und Jugendliche grundsätzlich zu fördern sind ( Schule). Es bleibt zu hoffen, daß die Einsicht um sich greift, daß ‘Entwicklungshilfe’ auch im Inland stattfinden kann. Sie kann auch darin bestehen, die Fähigkeit – und Chance – von (verstehender) Kommunikation in Deutschland zu fördern, und zwar derjenigen, die immer schon hier waren und derjenigen, die möglicherweise wieder weggehen. In einer immer stärker vernetzten Welt gilt es PartnerInnen zu finden. Sprache gehört dazu! 113 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN Anmerkungen 1 Die Situation der ‘visible minority’ wird insbesondere im Kontext karibischer und asiatischer Einwanderer in Kanada diskutiert. 2 In unterschiedlichen Kulturen (und gesellschaftlichen Schichten) wird Kindheit/Jugend unterschiedlich definiert. 3 Unentdeckte, aussterbende Sprachen und der mitunter fließende Übergang Sprache/Dialekt ergeben derzeit, weltweit geschätzt, etwa 5.000 Sprachen. 4 Vgl. C. Khamis (1994), die mit ihrer Studie Neuland beschritt, insbes. im Hinblick auf Mehrsprachigkeit afrikanischer Kinder. 5 Holzapfel 1996 a, S. 86 f, S. 125 f, S. 194 f: selbst scharfe Disziplinarmaßnahmen werden herangezogen, um die Verwendung der Muttersprache im eigenen Haus zu erzwingen. 6 Vgl. Grinberg 1990, S. 113 ff aus der Sicht des Psychoanalytikers. 7 Ähnlich den bei Zwillingen oder etwa gleichaltrigen Kindern gemachten Beobachtungen; vgl. Hymes 1979, S 82 f. 8 Zum Beispiel Glaubensdifferenzen, z. B. gleiche nationale Herkunft jedoch unterschiedliche Sprachund Stammesgruppen. Literatur Babalola, Solomon Adebaye Q.: The Role of Nigerian Languages and Literatures in Fostering National Cultural Identity. In: Grundlagen zur Literatur in englischer Sprache. West- und Ostafrika. Arens, W. u. a. (Hg.). München 1983, S. 148-151 Daniels, Karlheinz/Pommerin, Gabriele: Die Rolle sprachlicher Schematismen im Deutschunterricht für ausländische Kinder. In: Die Neueren Sprachen. Jg. 78, 6 (1979). Frankfurt (M). S. 572-585 Frankfurter Rundschau: Sprache ist nur die Hülle für die Bilder im Kopf. Der tuwinische Schriftsteller und Stammesfürst Galsan Tschinag ... 7.11.1998 Harris, Marvin: Menschen. Wie wir wurden, was wir sind. Stuttgart 1991 Holzapfel, Renate: Leben im Asyl. Netzwerke und Strategien einer afghanischen Flüchtlingsfamilie in Deutschland. Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie (Hg.): Notizen 51. Frankfurt (M) 1995 114 Holzapfel, Renate: „Ich bin halt ein Frankfurter Child.“ Kanada-Auswanderer erzählen. Amt für Multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt am Main (Hg.). Frankfurt 1996 a Holzapfel, Renate: Bleiben oder nicht? Zur Rückwanderungsmotivation deutscher Auswanderer in Kanada. (1996 b) In: Niederschrift über die 45. Jahrestagung des Bundesverwaltungsamtes für die Leiterinnen und Leiter der Auskunfts- und Beratungsstellen für Auslandtätige und Auswanderer. Bundesverwaltungsamt Köln, Hg. Köln 1996, S. 80-90 Holzapfel, Renate: Kinder aus asylsuchenden und Flüchtlingsfamilien: Lebenssituation und Sozialisation. Unter Berücksichtigung der Lage unbegleiteter minderjähriger Kinderflüchtlinge. Expertise zum 10. Kinder- und Jugendbericht des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Bonn 1998. (Expertise i. Ersch.) Hymes, Dell: Soziolinguistik. Zur Ethnographie der Kommunikation. Frankfurt (M) 1979 Illich, Ivan: Vom Recht auf Gemeinheit. Hamburg 1982 Khamis, Cornelia: Mehrsprachigkeit bei den Nubi. Das Sprachverhalten viersprachig aufwachsender Vorschul- und Schulkinder in Bombo/Uganda. Hamburger Beiträge zur Afrikanistik. Band 4. E. Wolff (Hg.). Hamburg 1994 van de Loo, Marie-José/ Reinhart, Margarete (Hg.): Kinder: ethnologische Forschungen in fünf Kontinenten. München 1993 Löffler, Heinrich: Sprache als Mittel der Identifikation und Distanzierung in der viersprachigen Schweiz. In: Sprache als Mittel von Identifikation und Distanzierung. R. Reiher, U. Kramer (Hg.), Frankfurt (M) 1998, S. 11-38 Nimsch, Margarethe, Hessische Ministerin für Umwelt, Energie, Jugend, Familie und Gesundheit: Schriftlicher Bericht zum Berichtsantrag betreffend minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Ausschußvorlage JGA/14/34. Drucksache 14/1643. Wiesbaden, 18.2.1997 Reich, Hans H.: Unterricht der Herkunftssprachen von Migranten in anderen europäischen Einwanderungsländern. In: Muttersprachlicher Unterricht – ein Baustein für die Erziehung zur Mehrsprachigkeit. Im Gespräch 9. HG. Hessisches Kultusministerium, Wiesbaden. September 1994, S. 31-50 Schoblinski, Peter/Kohl, Gaby/Ludewigt, Irmgard: Jugendsprache. Fiktion und Wirklichkeit. Opladen 1993 Strand, Paul J.: Indochinese refugees in America. Duke Univ. Press, 1985 Renate Holzapfel E T H N I Z I TÄT Ethnizität Ausgangspunkt ist die Begriffsklärung von Ethnizität, ethnischer und kultureller Identität aus ethnologischer Sicht. Es folgt eine Betrachtung der Bedeutung von Ethnizität und ihrer Veränderung bei Flüchtlingen im allgemeinen und Kinderflüchtlingen im besonderen. Hierbei werden die Gewichtung primordialer und situationaler Aspekte von Ethnizität sowie die Einflußfaktoren aus Aufnahme- und Herkunftsgesellschaft ausgeführt. 1. Ethnizität als Teil kultureller Identität Ethnizität und ethnische Identität sind häufig synonym verwendete Begriffe. Zu unterscheiden ist zwischen Ethnizität, mit der die Charakteristika einer Gruppe von außen beschrieben werden, und ethnischer Identität als aus der Psychologie übernommenes Konzept, das die ethnische Komponente individueller und von Gruppenidentität beschreibt. Ethnische Identität wird im Interaktions- und Kommunikationszusammenhang ethnischer Gruppen herausgebildet. Als solche werden Gruppen angenommener gemeinsamer Abstammung, Sprache, Religion, Kultur bezeichnet, die sich entlang eines oder mehrerer dieser Merkmale in Abgrenzung zu anderen Gruppen definieren und von anderen als solche definiert werden ( Ethnie). Ihre Angehörigen teilen grundlegende kulturelle Werte, die im Gemeinschaftsleben erlernt, geformt und verändert werden (Barth 1969). Sie stellen Einheiten unterhalb der nationalstaatlichen Ebene dar und überschreiten in vielen Regionen administrative Grenzen (z. B. Dänen im deutsch-dänischen Grenzgebiet, Basken in Frankreich und Spanien, Hausa in Westafrika). Im Zuge von Nationalisierung, Migration und weltweiter medialer Verbreitung von Information und Ideen hat sich die re- lative Geschlossenheit ethnischer Gruppen zunehmend gelöst. Andere Identitätsangebote oder -zwänge beeinflussen Ethnizität. Um diese Zusammenhänge zu erfassen, wird das umfassendere Konzept der kulturellen Identität verwendet, das ethnische Identität als wichtige Form beinhalten kann, daneben auch andere Zugehörigkeiten wie diejenigen zu Regionen, Nationalstaaten, sozialen Gruppen oder Lebensstilgruppen. 2. Ethnizität bei Flüchtlingen Die besondere Situation von Flüchtlingen hinsichtlich von Ethnizität liegt in ihrer Gruppenzugehörigkeit als mögliche Ursache für ihre Flucht. In den Hauptherkunftsländern von Flüchtlingen spielen ethnische und religiöse Zugehörigkeit eine weitaus größere Rolle für die Bestimmung der Position in einer Gesellschaft. Ethnisch definierte Konflikte, die Verfolgung und Vertreibung von Angehörigen ethnischer Minderheiten, die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen, sind heute Hauptursachen für Fluchtmigration ( Dimensionen und Ursachen). Flüchtlinge haben ihre Zugehörigkeit bereits als problematisch und unter Umständen lebensgefährlich erfahren. Die Fremdzuschreibung als Angehörige einer ethnischen Gruppe kann aus diesen Gründen abgelehnt werden. Flüchtlinge suchen dann nach überethnischen und -nationalen Identitätsangeboten (Brieden 1996). Neben der Sorge um die zurückgebliebenen Angehörigen kann auf der anderen Seite eine stärkere Politisierung der ethnischen Zugehörigkeit erfolgen. Als Folge von Fluchtgründen und der notwendigen Eingliederung in die fremde Aufnahmegesellschaft wird Ethnizität in Frage gestellt. Kulturelle Wertvorstellungen, Geschlechterrollen ( Geschlecht) und soziale Beziehungen müssen den neuen Lebensumständen entsprechend ver115 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN ändert werden. Bei Flüchtlingen müssen diese Veränderungen häufig schnell und angesichts einer wenig planbaren und vorhersehbaren Zukunft geleistet werden. Dies erfolgt nicht in Form einer identischen Übernahme von kulturellen Modellen der Aufnahmegesellschaft. Ihr Einfluß auf Ethnizität von Flüchtlingen liegt in ihren Fremdzuschreibungen. Einen stärkeren Einfluß üben die anderen Angehörigen der ethnischen Gruppe aus. Veränderungen erfolgen im Interaktionszusammenhang mit diesen Angehörigen im neuen Umfeld und in Hinblick auf die Kompatibilität veränderter Identitätsmodelle mit denjenigen der zurückgelassenen Angehörigen (Camino, Krulfeld 1994). 3. Ethnizität bei Kinderflüchtlingen Jeder Mensch wächst in einen Zusammenhang gemeinsamer Sprache, Kultur, Religion, Wertvorstellungen, Verwandtschaft oder weiter zurück reichender Abstammung hinein ( Familie). Sie verleihen ethnischer Identität einen ‘primordialen’ Charakter (Geertz 1995), der sich in der hohen Affektivität der Zugehörigkeit und einer psychologisch grundlegenden Bedeutung der sprachlichen, kulturellen und religiösen Vorstellungen ausdrückt, die wiederum ihren Ausdruck in kulturellen Formen – Lebenspraktiken, Ritualen, Verhaltensweisen etc. – finden. Ethnische wie kulturelle Gruppen zeichnet gleichzeitig ihr situativer Charakter aus, das heißt, ihre Angehörigen reagieren in ihren (Gruppen-)Selbstdefinitionen und Verhaltensweisen auf die Umgebung und ihre Veränderungen. So kann Ethnizität zur Durchsetzung von Interessen inner- und außerhalb der Gruppe, zur Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen, zur Legitimation von territorialen oder Machtansprüchen strategisch eingesetzt werden, wofür bestimmte Elemente hervorgehoben, andere zeitweise unterdrückt 116 werden. Ethnizität ist also wandelbar und wird bei strategischem Handeln eingesetzt. Bei Kindern ist davon auszugehen, daß der primordiale Charakter ihrer kulturellen und ethnischen Zugehörigkeit dominanter ist als der situative. Sie begreifen sich in aller Regel als Teil einer Familie und Gruppe, deren kulturelle und religiöse Wertvorstellungen sowie kulturellen Praktiken ihr einziges bisher erfahrenes Orientierungssystem darstellt. Ethnische und kulturelle Identität können bei ihnen einen höheren Grad an Selbstverständlichkeit und Allgemeingültigkeit haben als bei Erwachsenen. Gleichzeitig zeichnen sich Kinder und Jugendliche durch eine größere Offenheit für die Integration nichtethnischer Zugehörigkeiten, wie z. B. Lebensstilgruppen, aus ( Jugendkultur). Im Umgang mit Ethnizität auch bei Kinderflüchtlingen ist zu berücksichtigen, daß Gesellschaften unterschiedliche Vorstellungen über Identität, Kindheit und Heranwachsen haben. Die westeuropäische Vorstellung geht von einem Individuum aus, das im Lebensablauf verschiedene wählbare Rollen einnehmen kann ( Persönlichkeitsentwicklung). Die Fähigkeiten werden in einer vergleichsweise langen Kindheits- und Jugendphase erlernt; ethnische Zugehörigkeit spielt kaum eine Rolle. Andere Kulturen kennen häufig ein Modell, das ausgeht von der Familie oder Gruppe, die Teil eines ethnisch definierten Gesellschaftsmosaik ist. Das Individuum nimmt darin eine festgelegte, lebenslange Position ein, z. B. die des ältesten Sohnes, dessen Leben von der Verantwortung für die jüngeren Geschwister bestimmt wird, oder die der jüngsten Tochter, die alle Entscheidungen unter die Prämisse der Versorgung der Eltern stellt. Eigenkulturelle Identitätsmodelle können deshalb nicht fraglos auf Angehörige anderer Gesellschaften und Gruppen übertragen werden (Rouse 1995). Insbesonde- E T H N I S C H E U N D N AT I O N A L E M I N D E R H E I T E N re Kinderflüchtlinge werden mit einem Auftrag geschickt, der aus ihrer Herkunftsfamilie und -gruppe stammt und nur aus dieser heraus verstanden werden kann ( Kinderflüchtlinge). Literatur Barth, Fredrik (Hg.): Ethnic Groups and Boundaries, Boston 1969 Brieden, Thomas: Konfliktimport durch Immigration, Hamburg 1996 Camino, Linda A.; Ruth M. Krulfeld (Hg.): Reconstructing Lives, Recapturing Meaning. Refugee Identity, Gender, and Culture Change, Basel 1994 Geertz, Clifford: Linien der Ethnizität, in: Dichte Beschreibungen Rouse, Roger: Questions of Identity: Personhood and Collectivity in Transnational Migration to the United States, in: Critique of Anthropology 15 (4) 1995 Claudia Martini Ethnische und nationale Minderheiten Zwei Arten von Minderheitenbegriffen lassen sich unterscheiden: Der umfassende sozialwissenschaftliche Minderheitenbegriff beschreibt (a) eine zahlenmäßig kleinere Gruppe, (b) eine zahlen- und machtmäßig unterlegene Gruppe oder (c) eine machtunterlegene, aber zahlenmäßig stärkere Gruppe in einem Sozialgebilde, wobei sich die Gruppe durch konstitutive Merkmale von der Mehrheit unterschiedet. Hierunter können fast alle gesellschaftlichen Gruppen fallen – von ethnisch, kulturell, religiösen Minderheiten bis hin zu sozialen oder politischen Minderheiten. Im folgenden Beitrag werden die Begriffe der ‘ethnischen’ und ‘nationalen’ Minderheit erläutert. 1. Ethnische Minderheit Der Begriff der ethnischen Minderheit beruht auf dem wissenschaftlichen Konzept der Ethnie oder ethnischen Gruppen. Dieses entstammt der Kulturanthropologie, die damit – als Weiterentwicklung des ‘Stammes’-Begriffs – Gruppen angenommener gemeinsamer Herkunft, Sprache und Kultur in nicht-europäischen Gesellschaften beschreibt, die dort Grundlage der Gesellschaftsorganisation sein können. Mit dem Aufkommen von ethnischkulturell definierten Konflikten in Nationalstaaten und in Folge von Zuwanderung werden ethnische Minderheiten auch in Europa ausgemacht (Klemens 1995; Hansen, Schmalz-Jacobsen 1995 und 1997). Ethnische Minderheiten unterscheiden sich von der Mehrheitsbevölkerung einer Gesellschaft durch tatsächliche und oder vermeintliche Merkmale wie Herkunft, Sprache, Religion, Kultur. Allein die Existenz von Unterschieden genügt nicht für eine gesellschaftspolitisch relevante Rolle einer Minderheit. Entscheidend für die Herausbildung eines (Gruppen-)Bewußtseins sind die Fremddefinition, die Selbsteinschätzung der Angehörigen und der Erhalt oder die aktive Konstruktion eines Gruppenbewußtseins in der Interaktion der Gruppenmitglieder ( Ethnie). Dazu dienen insbesondere die Hervorhebung und Pflege der gemeinsamen Kultur, Sprache und Religion, dort wo sie sich von anderen Minderheiten oder der Mehrheit unterscheiden. 2. Nationale Minderheit Der juristische Begriff der nationalen Minderheit ist enger gefaßt und bezeichnet alteingesessene nationale, sprachliche, kulturelle oder religiöse Gruppen. International werden rechtliche Minderheiten(schutz-)fragen vorrangig bezüglich nationaler Minderheiten diskutiert und ver117 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN traglich verankert. Dies sind ethnische/ kulturelle/sprachliche Gruppen, die bereits bei Staatsgründung das Territorium besiedelten, folglich mit der Staatsgründung Staatsangehörige wurden und ein weitgehend geschlossenes Siedlungsgebiet bewohnen. Meist ist die Existenz nationaler Minderheiten auf Grenzverschiebungen (z. B. Dänen in Deutschland) und den Zerfall multi-ethnischer Reiche in Nationalstaaten zurückzuführen. Die heute international wichtigen Abkommen sind das Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten, die UN-Minderheitenschutzdeklaration und die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen. Frühere internationale Konventionen verbrieften insbesondere die Freiheit von staatlicher Unterdrückung. Mit den o. g. Konventionen wird unter Minderheitenschutz auch das Recht auf Förderung insbesondere im sprachlich-kulturellen Bereich verstanden. In der Bundesrepublik Deutschland ist mit der Verfassungsdiskussion im Jahre 1994 auch der Minderheitenstatus für zugewanderte Gruppen nicht-deutscher Herkunft sowie mehrheitlich nicht-deutscher Staatsangehörigkeit in die Diskussion eingebracht und abschlägig beschieden worden. Das bedeutet, daß weiterhin nur die nationalen Minderheiten der Dänen, Friesen und Sorben einen rechtlichen Minderheitenschutz genießen, der in den Landesverfassungen verbrieft ist. Die Minderheit der deutschen Sinti und Roma fällt wie die o. g. Gruppen unter das Rahmenübereinkommen des Europarats und erfährt wie die religiöse Minderheit der deutschen Juden besondere Unterstützung, ohne jedoch regionale Minderheitenrechte innezuhaben. Literatur Frowein, J.; R. Hofmann; S. Oeter (Hg.): Das Minderheitenrecht europäischer Staaten. Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht u. Völkerrecht, Band 108, Teil 1, 1993 Hofmann, R.: Minderheitenschutz in Europa. Überblick über die völker- und staatsrechtliche Lage, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 52 (1992), S. 1-69 Klemens, Ludwig: Ethnische Minderheiten in Europa. Ein Lexikon, München 1995 Schmalz-Jacobsen, Cornelia; Hansen, Georg (Hg.): Lexikon ethnischer Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland, München 1995 Schmalz-Jacobsen, Cornelia; Hansen, Georg (Hg.): Kleines Lexikon der ethnischen Minderheiten in Deutschland, München 1997 Claudia Martini Kolonialismus Dieses Handbuch richtet sich an Menschen, die sich der Arbeit mit Kinderflüchtlingen widmen. Herkunft und Schicksal dieser Kinder aber sind eng verknüpft mit dem Kolonialismus, der eingewoben ist bis zum heutigen Tage in das komplexe Ursachengeflecht der Hintergründe jener Kriege, Revolten, Katastrophen und anderen unmenschlichen Bedingungen, denen diese Kinder entflohen sind. Es braucht sehr viel mehr als Nahrung, Kleidung und ‘guten Willen’, um die Traumata der Flüchtlinge beheben zu helfen. Die Kenntnis dessen, was sich in der entfernt erscheinenden Epoche des Kolonialismus zugetragen hat, gehört unabdingbar dazu – in deren Interesse, aber auch in unserem eigenen. – Urteilen Sie selbst... 1. ‘Afrika den Afrikanern’? Warum sich überhaupt alter Zeiten erinnern, längst versunkener Epochen? Warum sich mit Geschichte befassen, noch da- 118 KO LO N I A LI S M U S zu eines Kapitels, das ohne Relevanz scheint, heute – für uns? Keinerlei Glanz und Gloria, denen nachzutrauern lohnte, keinerlei Erblasten, die es aufzuarbeiten gälte, die Bundsrepublik Deutschland, ein unbeschriebenes Blatt in Sachen Kolonialismus, wie viele irrtümlich meinen. Andere wiederum profitieren von unserem notorischen Kurzzeitgedächtnis und kreieren verhängnisvolle Trends: daß es ‘politisch korrekt’ scheint, entweder die Verantwortung unserer Länder für den Zustand der Erde zurückzuweisen und koloniale Gewalt und Eroberung, Sklavenhandel, kontemporäre politische Einmischung, Bevormundung, technologische Besserwisserei, Geschäftemacherei, ökologische Verursacherrolle etc. herunterzuspielen, zu verharmlosen, zu negieren, oder gar – diesmal unter dem Mäntelchen der Menschenrechte – einen ‘neuen Kolonialismus’ zu fordern, ungeniert, den ‘humanitären’ diesmal. So geschehen, z. B. im SPIEGEL Nr. 91/1992. Der Zeitpunkt war gut gewählt. Nach dem ost-westlichen Paradigmenwechsel konnten jetzt ungestraft die Eliten der ‘Entwicklungsländer’ gebrandmarkt und als ‘Buhmänner’ verurteilt werden, darunter auch jene früheren Komplizen und Statthalter ausländischer Mächte und Interessen, die jahrzehntelang von den ‘westlichen Industrienationen’ gefördert, finanziert und für ihre Bündnistreue belohnt wurden, in klingender Münze, wohlklingenden ‘Entwicklungsprojekten’ aber auch mit dem Aufbau und der Ausrüstung ihrer Macht-, Herrschafts- und Unterdrückungsapparate. Mit dem Fortfall des Ost-West-Konfliktes sind die alten Kumpane überflüssig, ja lästig geworden, die ‘Unfähigkeit der Führung’ kann sorglos denunziert werden, ohne der eigenen verhängnisvollen Rolle zu gedenken. Noch einen Schritt weiter gehen andere, zum Beispiel, im Magazin der renommierten „Süddeutschen Zeitung“ vom 20.11.1992, in dem skrupellos gefordert wird: ‘Überlaßt Afrika nicht den Afrikanern!’ Dieser markige Spruch erinnert fatal an den deutschen Expeditionsleiter Eugen Zintgraff, der zu Beginn dieses Jahrhunderts das berühmte ‘Afrika den Afrikanern, aber uns die Afrikaner!’ geprägt hatte. Damals wie heute bemühen die Kolonialapologeten hehre Gründe für ihre Ungeheuerlichkeiten. Waren es damals ‘die Kultur’ oder der ‘richtige Glaube’, so haben wir ZeitgenossInnen demzufolge heute ‘das Recht’ auf unserer Seite, den afrikanischen Kontinent ‘in die Gehschule der Demokratie zu zwingen’. Lassen wir uns nicht von wohlklingenden, aber vordergründigen Ausreden blenden, schlagen wir nach im traurigen Kapitel des Kolonialismus, frischen wir Gedächtnis auf – und befinden dann, wer welches Recht auf seiner/ihrer Seite hat. 2. Gorée, eine Insel gegen das Vergessen In nur 20 Minuten bringt ein Schiff heute die BesucherInnen vom Festland Dakars, der Hauptstadt der Republik Senegal in Westafrika, auf die Insel ‘Gorée’. Sie ist nur etwa 1000 m lang und 300 m breit, trotzdem reißt der Besucherstrom kaum ab. Wenige Franc CFA nur kostet die Überfahrt für TouristInnen, noch billiger ist sie für Einheimische. Es sind vornehmlich AfrikanerInnen, ganze Schulklassen, die hier einem der dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte nachspüren, dem europäischen Handel mit ‘Schwarzhäuten’. Jahrhundertelang befand sich die Insel im Besitz wechselnder europäischer Mächte: Portugal, Holland, England, Frankreich, jahrhundertelang wurden von hier Sklavinnen und Sklaven in die ‘Neue Welt’ verschifft. SklavInnen gibt es, seit es Kriege gibt und Menschen Gewalt gegen Menschen anwenden. Ohne die durch ‘Sklavenar119 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN beit’ geschaffenen materiellen Werte hätte es vielleicht nie die Blüte der griechischen Geisteswelt, der Wissenschaften, Philosophie und Künste gegeben, und auch die Macht des römischen Imperiums stand und fiel mit seiner auf Sklavenarbeit gegründeten Produktionsweise. In vielen Teilen Europas bildete die Sklaverei eine Epoche lang die Grundlage der Produktionsweise, woraus sich im Feudalismus die Leibeigenschaft entwickelte. Auch in nordafrikanischen Ländern gab es Sklaverei lange vor der Ankunft der ersten europäischen Sklavenhändler, bei mohammedanischen Völkern ebenso wie in den fernen Kulturen Chinas, Burmas, Indiens oder Amerikas. Doch niemals zuvor in der Geschichte war der Sklavenhandel in einer derartigen Größenordnung, mit einer derartigen Brutalität, aus derart gewissenloser Gewinnsucht betrieben worden, wie von den Europäern vom 15. bis in das 19. Jahrhundert. Ein ganzer Kontinent wurde ausgeblutet, sein wichtigster Besitz geraubt: Männer und Frauen im besten Alter, sein Potential, die Kinder, getötet oder versklavt oder nie geboren. In den derart heimgesuchten Gebieten Afrikas begannen die Handwerke zu stagnieren, denn die Wirtschaft drehte sich nur noch um den Raub und den Handel mit der von den Europäern begehrten ‘Ware Mensch’. Es gab nur Sklavenhändlervölker oder versklavte. Völker, die den Europäern nicht in die Hände arbeiten wollten, wurden selber zum Objekt der Menschenjäger: Ohne Gewehre waren sie den neuen ‘Feuerwaffen’ der Europäer und deren afrikanischen Komplizen hoffnungslos unterlegen. Sie brauchten also Feuerwaffen, um sich gegen die Übergriffe von Sklavenjägern erfolgreich wehren zu können. Gewehre aber gab es nur von den Europäern und diese tauschten Feuerwaffen nur gegen SklavInnen. Ein teuflischer, ein tödlicher Kreislauf. 120 Der große Totentanz hatte begonnen mit der ‘Entdeckung’ Amerikas durch Christoph Kolumbus und dem Gold Haitis, das die Spanier ‘Hispaniola’ nannten. Nachdem die ansässige indianische Bevölkerung entweder im Kampf getötet, durch eingeschleppte Krankheiten und Zwangsarbeit geschwächt oder dezimiert worden war, beauftragten die Spanier infolgedessen die Portugiesen mit ihren einschlägigen Erfahrungen, ihnen afrikanische ArbeitssklavInnen zu besorgen. Mit der Ausweitung portugiesischer und spanischer Eroberungen in Amerika stieg der Bedarf an Arbeitskräften entsprechend an. Der Sklavenhandel nahm eine neue Dimension an, als auch Briten, Holländer und Franzosen Kolonien in Nordamerika und in der Karibik in Besitz nahmen und den Anbau von Zuckerrohr, Indigo und Baumwolle im großen Stil einführten. Außerdem stieg in Europa die Nachfrage nach Zucker gewaltig an, so daß die Zukkerrohrplantagen ständig vergrößert wurden, wofür aber immer mehr ArbeitssklavInnen benötigt wurden. Und so funktionierte das lukrative ‘Dreiecksgeschäft’: Menschen aus Afrika gegen Manufakturprodukte aus England für die Plantagen von Amerika, bezahlt mit Zucker oder Wechseln, fällig in England. Englands Schiffsbau, Eisen-, Textil- und Rüstungsindustrien boomten, Handel, Banken, Transportunternehmen und Versicherungen erlebten einen nie gekannten Aufschwung. Ein neuer Markt entstand durch die Frage: wie ernährt man seine Sklavenarbeiterschaft am billigsten? Die britisch-neufundländische Fischindustrie begann, Fisch haltbar zu machen und als Sklavennahrung in die Karibik zu verschiffen. Die enormen Gewinne der neuen Bourgeoisie aber wurden investiert und bildeten einen wichtigen Teil jenes Kapitals, das nötig war, um die große industrielle Entwicklung Englands zu starten. Insgesamt, so schätzen HistorikerInnen KO LO N I A LI S M U S vorsichtig, sind in den vier Jahrhunderten des Sklavenhandels mehr als 10 Millionen Menschen geraubt, verschleppt und versklavt worden, andere sprechen von 60 Millionen. Ihre genaue Zahl ist nicht mehr zu ermitteln. Viele von ihnen haben Amerika niemals erreicht. Sie fanden den Tod bei der Gefangennahme, auf den Märschen zu den Sammellagern für die SklavInnen, in den Lagern oder auf der Überfahrt. Wurden zum Beispiel Wasser oder Nahrung knapp, wurden die Schwächsten aussortiert und über Bord geworfen. Auch Widerstand kostete ungezählten AfrikanerInnen das Leben: durch Selbsttötung, Revolten und Meutereien suchten Tausende, der Sklaverei zu entgehen. In den entvölkerten Landstrichen aber brach die Versorgung der Zurückgebliebenen zusammen, war das Wissen ganzer Generation ausgelöscht. Es sind diese Bilder, die die BesucherInnen von Gorée vor Augen haben, wenn sie heute die fensterlosen Zellen des ehemaligen Sklavenhauses besichtigen, und sich in dem kleinen Inselmuseum Details, Zusammenhänge und Hintergründe erklären lassen. Die BewohnerInnen der Insel, heute ein Naturschutzgebiet, unternehmen alles, die Erinnerung an dieses dunkle Kapitel in der Geschichte ihres Kontinents wachzuhalten. 3. Kolonialer Landraub und neue Grenzen Nach dem vier Jahrhunderte währenden Sklavenhandel war Afrika geschwächt und zerrissen. Im Europa des 19. Jahrhunderts entfachten die Berichte waghalsiger europäischer Forscher und Abenteurer aus dem Innern Afrikas neue Begehrlichkeiten. Der Engländer Livingston z. B. berichtete vom Abbau von Mangan und Kupfer in Katanga, der Franzose René Caillié von Karawanen beladen mit Gold, Elfenbein und Straußenfedern, im südli- chen Afrika wurden Gold und Diamanten gefunden. Gleichzeitig erlebte Europa eine gewaltige strukturelle Veränderung: die ‘industrielle Revolution’ und damit einhergehend neue Bedürfnisse. Die neuen mechanisierten Industrien verlangten nach Rohstoffen aus tropischen Regionen. So nimmt es nicht wunder, daß die wichtigsten Industrienationen Europas des 19. Jahrhunderts identisch waren mit den wichtigsten Kolonialmächten: Großbritannien, Frankreich, Belgien und später das Deutsche Reich unter Bismarck. „Im Jahre 1880“, so Professor Ki-Zerbo (1981), Historiker und alternativer Nobelpreisträger aus Burkina Faso, „hatten die Europäer kaum ein Zehntel des afrikanischen Kontinents in Besitz genommen – zwanzig Jahre später war der gesamte Rest vereinnahmt. Man nahm, weil man glaubte, daß es notwendig wäre, um frühere Eroberungen zu schützen; später nahm man, weil alles zum Greifen nah lag; noch später nahm man, um den Nachbarn zuvorzukommen; zum Schluß nahm man, um zu nehmen... Die Methoden waren nahezu überall gleich: Bluff und erpreßte ‘Verträge’ wechselten mit der gewaltsamen Beseitigung jeglichen Widerstandes, oft in schrecklichen Massakern...“ Vor allem in der Anfangsphase änderten sich die Grenzen in den Kolonien ständig. Umkämpfte Gebiete kamen hinzu oder gingen verloren. Miteinander konkurrierende Kolonialmächte führten Kriege gegeneinander oder schlossen Verträge. Als das politische Klima günstig war, teilten die Kolonialmächte in einem ‘Gentlemen’s Agreement’ den Kontinent Afrika mit dem Lineal unter sich auf, ohne auf gewachsene Entwicklungen, ethnische Strukturen und kulturelle Zusammenhänge auch nur die geringste Rücksicht zu nehmen. Dadurch wurden Völker auseinandergerissen, die bis heute getrennt blieben. Fast immer wurden aus den künstlich gezogenen Kolonialgrenzen – nach 121 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN deren staatlicher Unabhängigkeit – die Grenzen der modernen Nationalstaaten und bilden eine der Ursachen für kriegerische Auseinandersetzungen bis in unsere Tage. 4. Entstehung der kolonialen Wirtschaftsweise Mit der Erschließung des inneren Afrikas und seiner widerrechtlichen Inbesitznahme durch die europäischen Mächte im 19. Jahrhundert wurde fruchtbarstes afrikanisches Land geraubt, das tropische Klima genutzt, um Kulturen im großen Stil anzupflanzen, die für die Industrien Europas wichtige Rohstoffe lieferten: Sisal, Baumwolle, Kautschuk und ‘Genußmittel’ wie Kaffee, Kakao und Tee. In den waldreichen Gegenden Afrikas ließen die Kolonialisten Bäume roden und trieben lukrativen Handel mit kostbaren Rot- und Ebenhölzern. In Kamerun z. B. hatten wenige Jahre deutscher Ausbeutung genügt, den Bestand an Gummibäumen in der Küstenregion zu erschöpfen. Der forcierte Raubbau tropischer Wälder gefährdete bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch den restlichen Baumbestand im Innern des Landes. Der deutsche staatliche Kommissar Rohrbach, zuständig für das Ansiedlungswesen in ‘Deutsch-Südwest’, brachte die einseitige Ausrichtung der Ökonomien in den Kolonialgebieten auf die Bedürfnisse der europäischen Industrieländer auf den Punkt: „... daß die afrikanischen Kolonien nicht um ihrer selbst, nicht um der Eingeborenen willen da sind, sondern ganz und gar um der weißen Völker willen, die sie in Besitz genommen haben.“ Neben der rigorosen Ausbeutung von natürlichen Ressourcen gehörten die Einführung von Lohnarbeit und Geldwirtschaft zu den wichtigsten ökonomischen Maßnahmen. Dieser Prozeß ging von den europäischen Stützpunkten aus und leitete über das Gefälle zwischen ‘Mutterland’ 122 und Kolonie hinaus eine ungleiche regionale Entwicklung auch innerhalb der Kolonialgebiete ein. Ausgangs- und Endpunkte von Straßen und Eisenbahntrassen waren die Fundorte der Rohstoffe, die Siedlungs- und Geschäftszentren der Weißen, nicht die der einheimischen Bevölkerung. Neue Städte wurden gegründet, alte Siedlungsgebiete versanken in Bedeutungslosigkeit. Die Kolonialisten waren darüber hinaus interessiert, nicht nur eigene Plantagen zu betreiben, sondern zur Deckung ihres Bedarfs an landwirtschaftlichen Rohstoffen auch die einheimische Landwirtschaft zur Produktion heranzuziehen. Das geschah zumeist durch eine Mischung aus Anbauzwang und Zwangsarbeit. Außerdem wirkte sich die Einführung von Steuern für die Kolonialverwaltung für die Kolonialländer günstig aus. Steuern mußten in der Regel in Geld entrichtet werden, in den Besitz von Geld aber gelangte nur, wer den Europäern entweder Produkte oder die eigene Arbeitskraft verkaufte. Geld wurde auch erstrebenswert, um an den ‘Errungenschaften der Zivilisation’ teilhaben zu können: billigste Massenware, in die Kolonien importiert, auch Schnaps und Feuerwaffen, lockten. 5. Zur Rolle traditioneller Stammesführer Der Landraub durch die Kolonialisten gab sich oft einen pseudo-legalen Anstrich. Die Deutschen beispielsweise schlossen bisweilen nachträglich sogenannte ‘Schutzverträge’ mit früheren Besitzern ab, oft aber auch mit Stammesführern, die selbst gar keine Besitz-, sondern lediglich Verfügungsrechte über das Land besaßen: zumeist befand sich der Boden im gemeinsamen Besitz eines Dorfes oder Familienverbandes. Auch für die Eintreibung von Steuern, die Durchsetzung des Anbauzwangs und die Gestellung von Zwangs- KO LO N I A LI S M U S arbeiterInnen, wurden in der Regel die Stammesführer verantwortlich gemacht. Sie verloren dadurch das Vertrauen der Menschen in ihren Einflußgebieten, und wenn diese sich wehrten, Aufstände anzettelten oder kriegerische Revolten, suchten die traditionellen Führer zu deren Niederschlagung nur allzu oft Hilfe und Unterstützung bei der Kolonialverwaltung, um an der Macht zu bleiben. Diese Form der politischen Herrschaft wurde als ‘indirect rule’ (indirekte Herrschaft) besonders in britischen Kolonien erfolgreich praktiziert. 6. Von der Selbstversorgung zur Unterernährung Zum Anbau von Nahrungsmitteln für die Bevölkerung blieb jetzt oft nur noch der geringste Teil des Bodens von schlechtester Qualität. Hatte es vor der Kolonialzeit außer in Zeiten von Kriegen oder Naturkatastrophen für jedes Mitglied eines afrikanischen Gemeinwesens ausreichende Versorgung mit dem Nötigsten gegeben, so hatte sich dies mit dem Landraub der Kolonialisten schnell geändert. Auf dem verbliebenen Land sollten zudem auch nicht konsumierbare Produkte für den Verkauf an die Kolonialisten angebaut werden, sog. ‘Cash Crops’. Auch das traditionelle ausgeklügelte System der Arbeitskräfte geriet aus dem Gleichgewicht. Durch Kolonialkriege und Zwangsarbeit wurden die Männer rekrutiert, auch zur Lohnarbeit in den Städten oder auf entfernte Plantagen. In der Folge mußten die Frauen auch noch die Arbeiten der Männer übernehmen. Gleichzeitig wurden Frauen aber auch zu Zwangsarbeiten herangezogen, so daß auf diese Weise die ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln nicht mehr gewährleistet war. Die Ernährungslage der einheimischen Bevölkerungen verschlechterte sich rapide. 7. Die ökonomische Ausgrenzung der Frauen Ein riesiges Angebot an billigsten in Europa produzierten Massenwaren überschwemmte die Kolonien. Viele Fertigkeiten, vom Töpfern über die Produktion von Jagdwerkzeugen, von der Weberei bis zur Rindenstoffherstellung, stagnierten, gerieten in Vergessenheit, starben schließlich aus. Das bedruckte Baumwolltuch aus Deutschland oder England ersetzte Handgewebtes, europäische Kochtöpfe verdrängten die einheimischen Tontöpfe, Pappkoffer traten an die Stelle von handgeflochtenen Körben, Gewehre lösten die traditionellen Jagd- und Kriegswaffen ab, Seife, Regenschirme, Kerosinlampen, Nähmaschinen und europäische Betten hielten Einzug, wurden ‘modern’. Da viele der traditionellen Handwerke von Frauen ausgeübt wurden, traf sie die Herabsetzung, Minderschätzung und Verdrängung aus den Handwerken ganz besonders. Den Frauen wurden in der Folgezeit auch keine neuen Arbeitsgebiete zugänglich gemacht, die den Prestigeverlust wieder ausgeglichen hätten. Lohnarbeit wurde in erster Linie für Männer angeboten, wo Frauen bezahlte Arbeit fanden, erhielten sie ein im Vergleich zu Männern niedrigeres Entgelt. Den Frauen jedoch, deren Männer sich in entfernten Orten für Lohnarbeit verdingten, fielen jetzt auch noch andere Aufgaben zu: neben der Nahrungsmittelproduktion und der Sorge für die Kinder, Alten und Kranken der Gemeinschaft, auch schwere Arbeiten wie Rodungen, die traditionell von Männern ausgeführt wurden. Dort, wo der Anbau von Handelsgewächsen und Verkaufsprodukten eingeführt wurde, waren es ausschließlich Männer, die von den Kolonialisten in neuen Pflanzungsmethoden unterwiesen wurden. Unbeachtet der Struktur der traditionellen Arbeitsteilung mit den Frauen als landwirtschaftlichen Produzentinnen, wurden 123 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN von nun an die Männer zu den Adressaten des ‘Modernen’. Frauen, die traditionell auf den Feldern des Mannes mitgearbeitet hatten und bestimmte Rechte auf die Ernte dieser Felder hatten, verloren diese, wenn der Mann die Ernte verkaufte. Der Gelderlös ging an ihn. Auch die neuen Berufe standen nur für Männer offen. Die Frauen landeten mit der Bürde für die Haus- und Subsistenzwirtschaft, die zwar das Überleben der Gemeinschaften garantierte, aber nicht entlohnt wurde, im unbezahlten Sektor der Kolonialwirtschaften, und viele von ihnen sind bis heute darin verblieben. Diese Bereiche haben bis heute kaum an Wichtigkeit, dafür aber weiter an Ansehen und Anerkennung verloren: Wo Geld zählt, ist unbezahlte Arbeit nichts ‘wert’. Der Abzug vor allem junger Männer aus den Dörfern hatte noch andere weitreichende Konsequenzen für die soziale Stellung der Frauen: Heiratsfähige junge Frauen fanden kaum noch Männer, gerieten in Konkurrenz um sie, waren schnell ‘zu alt’ geworden, wurden verspottet, fielen den Familien zur Last und begannen deshalb, mit den Männern in die Städte und in einen neuen Beruf zu ziehen, den es vorher nicht gab: die Prostitution. Eine neue Krankheit begann sich auszubreiten: die Syphilis. In Kamerun wurde sie ‘memfawu’ genannt, ‘wer gab es dir?’ Auch für die verheirateten Frauen verschlechterte sich vieles. Die lange Trennung von Eheleuten durch Wanderarbeit, Zwangsarbeit oder Militärdienst brachte ihnen nicht nur mehr Arbeit, sie zeigte auch andere Wirkung: es folgten Verdächtigungen wegen Ehebruch und Untreue. Ehescheidungen wurden häufiger, Männer ‘infizierten’ sich im Kontakt mit EuropäerInnen häufig mit dem ‘Kulturbazillus’ und begannen, die ‘altmodische’ Mutter, Ehefrau oder Freundin im Dorf geringschätzig zu belächeln. Alkoholismus, Streitigkeiten und Schläge für die Ehefrauen – auch das Errungen124 schaften der ‘weißen Zivilisation’. Die traditionelle Morgengabe gab es jetzt in Geld. Um an Geld für die neuen begehrten Waren zu gelangen, verfiel mancher Mann auf die Idee, seine Tochter oder jüngere Schwester zu ‘verheiraten’, wodurch das Heiratsalter in vielen Gegenden sank. Frauen, die ihren Männern in die Städte folgten oder sich christlichen Missionierungen beugten, bot jedoch die neue monogame Ehe kaum Vorteile: Die Frau lebte nun allein mit ihrem Mann. Mitfrauen sowie deren Hilfe und Gesellschaft bei der Arbeit fielen weg. Ohne Mitfrauen entfiel auch die mehrjährige sexuelle Pause nach der Geburt eines Kindes. Frauen wurden schneller und öfter schwanger, die Abstände zwischen Geburten kürzer. Auch finanziell wurde die Frau abhängig von ihrem Mann. Die Folge dieser neuen Familienstruktur für die Frau: Mehrarbeit, Isolation und Abhängigkeit vom Mann. 8. Die kulturelle Dimension des Kolonialismus „Als der Weiße hierher kam, hatten wir das Land und der Weiße die Bibel. Jetzt haben wir die Bibel und der Weiße das Land“ (Sprichwort im südlichen Afrika) Christliche Missionierung, die Einführung europäischer Schulsysteme und ‘moderner’ Medizin werden gemeinhin als Beispiele für die ‘Segnungen’ des Kolonialismus angeführt. Dabei dienten Mission und Schulen in erster Linie der Kolonialmacht: Zunächst ebneten die Missionen Handel, Militär und Kolonialverwaltung den Weg, später, als es galt, die zerstörte nationale Identität der unterjochten Völker durch eine neue zu ersetzen, halfen Militärdienst, christliche Ideale und europäische Lerninhalte, daß sich die ‘Untertanen’ mit ihrer neuen Herren identifizierten und ihnen nacheiferten. Die säkularen Schulprogramme hatten darüber hinaus die Aufgabe, brauchbare Kolonial- KO LO N I A LI S M U S kader zu erziehen. Unterrichtssprache war die Sprache der Kolonialmacht, einheimische Sprachen waren nicht zugelassen. Die Schulsysteme folgten jenen der jeweiligen Kolonialmacht. Unterrichtet wurde ‘Nützliches’, zusammengestrichene Kopien europäischer Bildungsprogramme, zu deren Gunsten die Geschichte, Kultur und das traditionelle Wissen Afrikas geopfert wurde. Und so lernten die kleinen Mossi Obervoltas von den Eroberungen der Gallier, ‘ihrer Vorfahren’, bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Mit der ‘modernen’ Medizin bekamen ‘Gesundheit’ wie ‘Krankheit’ eine neue, aus dem kulturellen Zusammenhang gerissene Bedeutung, wurden traditionelles Wissen um Heilmethoden und Medikamente ausgegrenzt und verschüttet. Auf der anderen Seite der Erdkugel aber fanden die Geschichten aus den Kolonien reißenden Absatz, vor allem in Form von Abenteuergeschichten und Erlebnisberichten, später auch Filmen, und mit ihnen wurde eine wahre Flut von rassistischen Vorurteilen verbreitet, wurden Mythen geschaffen und Hirne konditioniert ( Rassismus). sten Stunde (Leopold Senghor, Sekou Touré oder Julius Nyerere) versuchten, eine eigenständige Entwicklung in Gang zu bringen. Der ‘dritte Weg’ aber scheiterte. Die neuen Führer der ehemaligen Kolonien traten ein schweres Erbe unter ungünstigsten Voraussetzungen an. Die ungleiche ökonomische Entwicklung einzelner Regionen auch innerhalb der neuen Staatengebilde, die im Zeitalter des Kolonialismus eingeleitet wurde, verschärfte sich unter Bedingungen der Mangelökonomien und deren kompromißloser Eingliederung in die globalen Wirtschaftsstrukturen noch. Als Folge davon schritt die interne Kolonisierung voran, brachen alte und neue ethnische Rivalitäten auf. Fortgeführte äußere politische Einflußnahme und die Übernahme nicht angepaßter Politikmodelle, globale Wirtschaftsinteressen ohne Rücksicht auf lokale soziale oder ökologische Konsequenzen, die Marginalisierung ganzer Regionen und Bevölkerungsgruppen, ethnische Rivalitäten und zunehmend korrumpierbare Eliten haben in einer unheiligen Allianz mit den im Kolonialismus begonnenen strukturellen Eingriffen zum Niedergang der nachkolonialen afrikanischen Staatswesen entscheidend beigetragen. 9. Das Ende der Ära des historischen Kolonialismus Das Ende der kolonialen Ära kam nicht unvorbereitet. Oft ging die nationale Unabhängigkeit mit einem Wechsel der Eliten – in Afrika oft synonym für die Eliten einer anderen ethnischen Gruppe – einher, in einigen Ländern von langer Hand vorbereitet von den ehemaligen Herren, die sich ihre ehemaligen Kolonien auch nach der formellen Unabhängigkeit als politische und wirtschaftliche Einflußzonen zu bewahren wußten. Im Klima des ‘Kalten Krieges’ hatten die neuen Staaten nur die Wahl, sich dem einen oder anderen Block anzuschließen, oder aber, wie einige der charismatischen Führer der er- Literatur Tips zum Weiterlesen: Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/Main 1967 sowie Frantz Fanon: Schwarze Haut – weiße Maske, Frankfurt/Main 1985 (in beiden Büchern befaßt sich der Arzt und Autor aus Martinique vor allem mit den psychologischen Aspekten von Versklavung und Kolonisation) Joseph Ki-Zerbo: Die Geschichte Schwarz-Afrikas, Frankfurt am Main, 1981 (ein umfassendes Standardwerk aus der Sicht eines afrikanischen Historikers, M.M.) Martha Mamozai: Schwarze Frau, weiße Herrin, 2. Auflage, Reinbek bei Hamburg 1989 (über die Rolle 125 KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN der deutschen Frauen im Kolonialismus, Auswirkungen auf die kolonialisierten Frauen und die Verwandtschaft von deutschem Kolonialismus und Faschismus) Walter Rodney: Afrika. Die Geschichte einer Unterentwicklung, Berlin 1975 (eine politische Aufarbeitung des kolonialen Eingriffs und seiner Folgen bis heute, verfaßt von einem Politiker aus Tansania, M.M.) Klaus Schichte: Krieg und Vergesellschaftung in Afrika, Münster 1996 (ein neuerer Beitrag zur Konfliktforschung der Ursachen für die Kriege in Afrika) Martha Mamozai 126 URSACHEN UND DIMENSIONEN 2. Flucht und Migration Ursachen und Dimensionen1 Die meisten Ursachen für Flucht und Migration von Kindern und Jugendlichen sind nicht kinderspezifisch. Deshalb behandelt der Beitrag allgemeine Ursachen von Flucht und Migration, geht aber auch auf spezifische Folgen für Kinder und Jugendliche ein. Er stellt auch Fragen nach erkennbaren Tendenzen und Prognosen zum internationalen Migrationsgeschehen sowie nach Lösungsmöglichkeiten für ein weltweites Problem, das aus Sicht der potentiellen Zielländer schon in den Katalog „neuer Bedrohungen“ aufgenommen wurde (vgl. Weiner 1993). Wie der Bundestagswahlkampf von 1998 zeigte, ist kaum ein anderes Problem innenpolitisch so brisant und umstritten wie die Ausländer- und Asylpolitik, obwohl inzwischen mehr AusländerInnen aus- denn einwandern. Offensichtlich ist das Wissen über Dimensionen und Ursachen der internationalen Migration erschreckend gering. 1. Bilder und Zerrbilder vom Fluchtgeschehen Wir sehen im TV die Bilder aus dem Kosovo: Aus zerschossenen Dörfern fliehen zu Fuß und auf allerlei Transportmitteln Frauen mit vielen Kindern und einigen alten Leuten. Die Männer führen Krieg und schlagen auf „Feindseite“ Menschen in die Flucht. Die Flüchtlinge fliehen über Grenzen oder in Wälder, wo sie auch internationale Hilfsorganisationen nur schwer ausfindig machen können. Für die Kinder ist für absehbare Zeit zu Ende, was bisher ihr Leben geprägt hatte. Die psychischen Langzeitschäden einer solchen Entwurzelung im Kindesalter sind sicherlich größer als physische Mangelerscheinungen, vor allem dann, wenn die Kinder Zeugen oder sogar Opfer von Gewalt geworden sind. Wir sehen noch schrecklichere Bilder aus Afrika, jüngst aus dem Süden des Sudan: Wieder ausgemergelte Frauen mit vielen Kindern, von denen viele von Hunger und Krankheiten gezeichnet sind und kaum eine Überlebenschance haben. Junge Männer sehen wir auch hier selten. Sie führen Krieg und sind meistens gut genährt, weil sie Hilfsorganisationen erpressen oder überfallen, bevor diese zu den Flüchtlingslagern durchkommen – falls sie überhaupt durchkommen. Hier wie dort sind Frauen und Kinder nicht allein hilflose Opfer von Bürgerkriegen, sondern auch Instrumente zynischer Vertreibungs- und Aushungerungsstrategien. Die humanitäre Nothilfe von außen ist auch immer wieder mit der Kritik konfrontiert, die Kriege zu verlängern und den Kriegsparteien den Willen zum Frieden zu nehmen, weil sie nicht nur die Notleidenden, sondern auch sie durchfüttert. Weil die UN-Organisationen mit beiden Seiten verhandeln müssen, um überhaupt tätig werden zu können, werden sie mal von dieser, mal von jener Seite der Parteilichkeit und Komplizenschaft bezichtigt. Wir sehen diese Bilder aus Kriegsge127 F L U C H T U N D M I G R AT I O N bieten nur – wenn wir sie überhaupt noch sehen und ertragen wollen –, wenn zufällig ein Fernsehteam eingeflogen kam. Aber auch dann sehen wir nur Ausschnitte der Wirklichkeit. Was da zufällig vor die Kamera geriet und von Redaktionen auf Sendemaß geschnitten wurde, ist eben eine gefilterte und zurechtgeschnittene Information. Meistens vollzieht sich das Fluchtgeschehen unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, versteckt im Busch, in Wäldern oder städtischen Slums, dazu meistens im Zwielicht der Illegalität, die ständige Unsicherheit schafft und den Zugang zu staatlichen Dienstleistungen verwehrt. Illegalität verweigert das Recht, Rechte zu haben. Wenn Teams des UNHCR oder anderer Hilfsorganisationen am Ort des Geschehens auftauchen, können auch sie das Ausmaß der Fluchttragödie nur schätzen. Sie kommen auch nur dorthin, wo es Flugpisten oder Straßen für Geländewagen gibt. Es war ja lange nicht bekannt, ob sich 200.000, doppelt soviele oder gar eine Million Flüchtlinge aus Ruanda vor verschiedenen marodierenden Soldatesken irgendwo in den Regenwäldern Ost-Zaires zu verstecken versuchten. Der UNHCR und die Hilfsorganisationen melden möglichst hohe Zahlen an ihre Zentralen, um möglichst hohe staatliche Zuschüsse oder Spenden zu mobilisieren. Hilfsorganisationen brauchen Katastrophen, um ihre Existenz zu rechtfertigen und Spenden zu bekommen. Menschliche Katastrophen haben viele Facetten, Täter und Opfer, Gewinner und Verlierer und innerhalb der Opfer und Verlierer wiederum ganz unterschiedliche Grade der Betroffenheit und des Leidensdruckes. 2. Kinder und Jugendliche tauchen in den Statistiken nicht auf Nach Berichten des UNHCR nahm in den letzten Jahren zwar die Zahl der grenzü128 berschreitenden Flüchtlinge ab, weil viele nach dem Ende von Bürgerkriegen zurückkehren konnten bzw. mußten, aber gleichzeitig stellte er im letzten Zweijahresbericht 1997/98 fest: „Es sind viel mehr Menschen als jemals zuvor betroffen. Das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) hat heute die Aufgabe, sich um 22 Mio. Menschen auf der ganzen Welt zu kümmern, etwa die Hälfte davon sind Flüchtlinge im traditionellem Sinne, d. h. Menschen, die ihr Herkunftsland auf der Flucht vor Verfolgung, bewaffneten Konflikten oder Gewalt verlassen haben. Hinzu kommt eine sehr große Zahl von Menschen, die von der internationalen Gemeinschaft keinen Schutz und keine Unterstützung in irgendeiner Form erhalten und zumeist innerhalb der Grenzen ihres Herkunftslandes bleiben. Insgesamt kann man mit einiger Berechtigung von etwa 50 Mio. Menschen ausgehen, die weltweit Opfer von Flucht und Vertreibung sind. Viele von ihnen leben in Regionen, die während des Kalten Krieges nicht im Vordergrund der Flüchtlingsproblematik standen: auf dem Balkan, im Kaukasus, in Zentralasien und anderen Teilen der früheren Sowjetunion.“ Der letzte Satz dieses Berichts deutet nicht nur eine regionale Verlagerung, sondern auch eine Rückkehr des Flüchtlingsproblems nach Europa an. Es ist nicht vorwiegend ein Nord-Süd-Problem, sondern zunehmend auch ein Ost-West-Problem, wobei die Vorwärtsverteidigung der EU mittels Drittstaatenregelung und Rücknahmeabkommen nach dem St. FlorianPrinzip dafür sorgte, daß das mit schweren Wirtschafts- und Sozialkrisen belastete Osteuropa zu einem Stauraum für MigrantInnen aus ganz Asien wurde. Das Migrationsproblem war und blieb aber – entgegen allen Horrorszenarien von „neuen Völkerwanderungen“ aus dem Süden gen Norden – vorwiegend ein Süd-Süd- URSACHEN UND DIMENSIONEN Problem, sofern man den Balkan und die GUS-Region nicht als neuen Süden an der Peripherie von Kerneuropa begreift. Noch etwas fällt bei genauerer Lektüre des UNHCR-Berichts auf: Kinder und Jugendliche verschwinden hinter den Zahlenwerken. Nach Erkenntnissen des UNHCR sind rund drei Viertel aller Flüchtlinge Frauen und Kinder. Wenn er also die Zahl der grenzüberschreitenden Flüchtlinge und der Binnenflüchtlinge, die sich in einer ähnlichen existentiellen Notlage befinden, ob sie nun Staatsgrenzen überschritten haben oder nicht, auf etwa 50 Mio. schätzt, dann müssen wir von rund 25 Mio. Kindern und Jugendlichen auf der Flucht ausgehen. Die Berichte des UNHCR weisen aber weder Zahlen über Kinderflüchtlinge aus noch behandeln sie die spezifischen Probleme von Kindern und Jugendlichen auf der Flucht. Sie bilden also nur Teilmengen in statistischen Gesamtmengen. Sie tauchen als besondere Problemgruppe allenfalls in UNICEF-Berichten oder in Berichten von speziellen Kinderhilfsorganisationen (wie terre des hommes) auf. In Flüchtlingslagern, die vom UNHCR verwaltet werden, bemüht sich in der Regel UNICEF um Sonderprogramme für Kinder, ist aber nur bei einer Verfestigung der Flucht- und Notsituation in der Lage, eine Grundbildung zu organisieren. Flüchtlingskinder verlieren mit dem Grundrecht auf Bildung auch langfristige Lebensperspektiven. Es wird zwar ein großer juristischer und definitorischer Aufwand getrieben, um den unterschiedlichen Status von Flüchtlingsgruppen zu bestimmen, aus dem sich unterschiedliche Ansprüche auf Hilfeleistungen ableiten, aber Kinder bilden immer nur den Anhang von Erwachsenen. Teilweise wird bei der Zählung nur eine durchschnittliche Familiengröße zugrunde gelegt. Dann sind Kinder nur noch eine statistische Rechengröße. 3. Kindersoldaten: Phänomen einer „neuen Barbarei“? Im Notzustand der Flucht werden viele Menschen- und Kinderrechte verletzt, die in den Menschenrechtspakten und in der Kinderrechtskonvention kodifiziert sind. Ein früherer UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (Aga Khan) hat die Fluchtsituation zutreffend als eine Negation aller grundlegenden Menschenrechte bezeichnet. Die Berichte des UNHCR greifen den von UNDP geprägten Begriff der ‘menschlichen Sicherheit’ bzw. Unsicherheit auf, um zu verdeutlichen, welche existentiellen Unsicherheiten Flucht und der Status der Illegalität, in dem sich auch viele jugendliche MigrantInnen auf der Suche nach Perspektiven befinden, schaffen. Wenn man einen Blick in die Kinderrechtskonvention wirft, die Kindern geradezu eine heile Welt verheißt, wird deutlich, was Kindern auf der Flucht genommen oder vorenthalten wird. Auch die Millionen von Straßenkindern müssen sich unter härtesten Bedingungen durch das Leben schlagen, aber sie haben eher als Flüchtlingskinder die Chance, ihre Situation zu verändern, sich selbst zu versorgen, eine Schule zu besuchen und bei einer Hilfsorganisation Unterschlupf zu finden. Einen groben und besonders perversen Verstoß gegen Kinderrechte stellt der Mißbrauch von Kindern als Soldaten her ( Kindersoldaten). Nach Schätzungen von UNICEF gibt es derzeit rund 300.000 Kindersoldaten im Alter unter 18 Jahren. Viele sind jünger als 15 Jahre, also unterhalb der Altersgrenze, bei der die Kinderkonvention ein Rekrutierungsverbot verfügt. Die meisten von ihnen sind in afrikanischen und asiatischen Kriegsgebieten im Einsatz, teilweise als Boten, Spione oder Minendetektoren, teilweise auch als Kanonenfutter in vorderster Front, Mädchen als Sexsklavinnen für die Soldateska. Kindersoldaten sind zugleich Täter und Opfer, die – anderer Lebenschancen beraubt – 129 F L U C H T U N D M I G R AT I O N nichts anderes gelernt haben als zu schießen und zu töten. Die Manipulierbarkeit und die noch wenig entwickelte Hemmschwelle gegenüber dem Töten verstärken die Versuchung von Armeen und Rebellenorganisationen, Kinder für den Kriegseinsatz zu rekrutieren, teilweise mit Gewalt aus den Dörfern zu verschleppen. Im Norden Ugandas soll die ‘Lord´s Resistance Army’ 8.000 Kinder aus den Dörfern entführt und zu Kindersoldaten gemacht haben. Sie werden teilweise als Vorhut in Gefechte geschickt, in der Erwartung, daß die Regierungstruppen nicht auf Kinder schießen. Für viele Kindersoldaten ist es aber auch eine schiere Überlebensfrage, sich Kampfverbänden anzuschließen, von denen sie sich in zerstörten Kriegs- und Hungergebieten Schutz und Nahrung erhoffen. Gewalt und Armut sind also Hauptursachen für diese Verrohung von Kindern. Viele der nur in Schnellkursen ausgebildeten Kindersoldaten werden getötet oder zu Krüppeln gemacht. Bei vielen bleiben nicht nur Verwundungen und Geschlechtskrankheiten, vor allem HIV-Infektionen, sondern auch Angstzustände, Depressionen und moralische Verkrüppelungen zurück. Wir wissen aus der Begleitforschung zur Demobilisierung von Bürgerkriegsarmeen, daß es besonders schwierig ist, Kindersoldaten umzuerziehen, weil ihnen die Knarre Selbstbewußtsein und ein Auskommen durch Mord, Raub und Plündern verschafft hatte. Sie haben häufig keine Schule besucht und keinen Beruf erlernt. Wenn ihnen die Gemeinschaft keine Sicherheit und keine Lebensperspektiven bietet, organisieren sie sich wieder in Banden und schlagen sich mit Gewalt durchs Leben. Aber für die Mobilisierung von Soldaten ist erfahrungsgemäß eher Geld vorhanden als für ihre Demobilisierung. Das ist seit eh und je und überall die Logik des Kriegsgeschäftes. Wenn gelegentlich schon von einer 130 „neuen Barbarei“ (Jean-Christophe Rufin), einem Pandämonium (Daniel Moynihan), also einem Ort, wo Dämonen ihr Unwesen treiben, oder von einer Wiederkehr des hobbesianischen „Kampfes aller gegen alle“ (Peter J. Opitz) die Rede ist, dann haben wir auch Bilder von Kindersoldaten vor Augen. Aber dieses Pandämonium ist noch nicht über die ganze Dritte Welt hereingebrochen, wie Ulrich Menzel (1998) jüngst in einem furchterregenden Katastrophenszenario suggerierte. Wer dem zivilisatorischen Ärgernis des Soldatentums von Kindern nicht nur achselzuckend zuschauen will, sollte sich an der von der „Koalition für die Beendigung des Einsatzes von Kindersoldaten“ organisierten Kampagne beteiligen. Sie wird von sehr ehrenwerten NGOs wie Amnesty International, Human Rights Watch, Terre des Hommes, Rädda Barnen und dem Jesuit Refugee Service unter der Stimmherrschaft von UNICEF gesteuert. Der Erfolg der internationalen Kampagne gegen Antipersonenminen, die 161 Staaten (allerdings nicht die ‘Weltführungsmächte’ USA, Rußland und China) dazu bewegte, sich auf eine völkerrechtlich bindende Konvention zu verständigen, macht Mut. 4. Verwirrende Begriffe und Zahlen Statistiken über das weltweite Flucht- und Migrationsgeschehen verstecken millionenfache Einzelschicksale hinter fürchterlich banalen Zahlenreihen. Aber wir brauchen solche Zahlen ebenso wie klärende Definitionen, weil es aufgrund ungenauer Begriffe eine Verwirrung von Problemwahrnehmungen gibt. Mitte der 90er Jahre wiesen die internationalen Statistiken rund 125 Mio. als grenzüberschreitende MigrantInnen aus. Von ihnen waren nur 25 Mio. Flüchtlinge nach UNHCR-Kriterien. Die Mehrzahl muß der Gruppe der „irregulären Wanderer“ (nach UN-Sprachregelung) zugerechnet werden, die weder URSACHEN UND DIMENSIONEN über den Flüchtlingsstatus noch über Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse verfügen und deshalb kollektiv als ‘Illegale’ stigmatisiert werden. Bei dieser Großgruppe vermengen sich die Definitionskriterien, weil auch die Elends- oder Umweltflucht aus Zwang erfolgen kann, aber nicht den juristischen Tatbestand der Verfolgung erfüllt. Unter den „illegalen“ bzw. „irregulären“ MigrantInnen befinden sich auch viele Jugendliche. SchulabgängerInnen ohne Chance auf einen existenzsichernden Job bilden eine Gruppe mit besonders hoher Migrationsbereitschaft, die in unseren Breitengraden als Merkmal von Mobilität und Modernität gilt. Dies gilt auch für südliche Breitengrade. Untersuchungen in Dörfern des Sahel-Raumes förderten zutage, daß Jugendliche durch die Migration in die westafrikanischen Küstenregionen den Nachweis für ihre Tüchtigkeit und Männlichkeit erbringen. Die gelegentlich hysterische Panikmache über die „neuen Völkerwanderungen“ oder den „globalen Marsch“ (nach einem Buchtitel von Peter Opitz) übersieht, daß die große Mehrheit dieser „Illegalen“ innerhalb von Regionen unterwegs ist, die gemeinhin zur Dritten Welt gezählt werden. Die Süd-Süd-Migration ist weit grösser als die Süd-Nord-Migration. Auch die allermeisten Flüchtlinge verbleiben in ihren Herkunftsregionen und werden dort vom UNHCR und von anderen Hilfsorganisationen mehr oder weniger notdürftig versorgt. Die Staatengemeinschaft hat das Weltflüchtlingsproblem im engeren Sinne, wie es in den Berichten und Statistiken des UNHCR auftaucht, bereits ziemlich erfolgreich domestiziert und regionalisiert, nämlich durch den Aufbau und die Versorgung von Flüchtlingslagern in den Grenzregionen. Viele Grenzregionen Afrikas und des Mittleren Ostens sind übersät von solchen notdürftigen Lagern. Nur et- wa ein Zehntel der Flüchtlinge hat es geschafft, sich auf verschiedenen Wegen bis in den Norden durchzuschlagen – hat dort aber immer weniger Chancen, Asyl zu finden. Das schrittweise erweiterte ‘Schengen-Europa’ hat die Mauern um die ‘Festung Europa’ erhöht, befestigt und verdichtet. Die italienische und spanische Marine kreuzt im Mittelmeer, um Bootsflüchtlinge aus dem Maghreb abzufangen. Die fiktive Dramaturgie des Filmes „Der Marsch“ ist bereits tägliche Realität. Der von manchen Politikern und Medien – besonders in Wahlkampfzeiten – horrifizierte „Sturm auf Europa“ aus den Armuts- und Konfliktregionen der Welt blieb aus, weil entweder die Wanderungswege gen Norden oder via Osten gen Westen versperrt sind oder die MigrantInnen zur interkontinentalen Wanderung gar nicht fähig sind. Erfahrungsgemäß gehen nicht die Armutsgruppen, sondern Angehörige der Mittelschichten, die teure Passagen und Schlepperdienste bezahlen können, auf die transkontinentale Wanderschaft. Auch hier kommen nicht die Elendsgestalten an, die wir von Bildern aus Flüchtlingslagern kennen. Die meisten jugendlichen MigrantInnen kommen im Rahmen der Familienzusammenführung. Ein kleinerer Teil nutzt die verschlungenen Wege der Kettenmigration, die Verwandtschaftsgruppen flechten. Einige Tausend kommen auf eigene Faust (was viel Mut beweist) oder werden von den Eltern allein losgeschickt, sei es aus purer Not oder in Erwartung, am erhofften Glück teilhaben zu können. 5. Schubfaktoren für Migration Die MigrationsforscherInnen verdichten das komplexe Bündel von Ursachen und je persönlichen Motiven von Migration in der grobschlächtigen Dichotomie von Sogund Schubfaktoren. Sie machen die Sogfaktoren an materiellen und immatriellen 131 F L U C H T U N D M I G R AT I O N Anreizen fest, die von den Zielländern ausgehen: also besseren Lebensbedingungen und/oder Schutz vor politischer Verfolgung. Wir müssen uns aber vor allem mit den Schubfaktoren beschäftigen, weil Menschen in der Regel nicht ohne Not ihre Heimat verlassen. Schubfaktoren für internationale Migration sind die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern, die als bedrohlich empfunden werden: Sie reichen von materieller Not (Arbeitslosigkeit, Armut, Hoffnungslosigkeit) über soziale Diskriminierung und Umweltzerstörungen bis hin zu direkten Lebensbedrohungen durch Kriege und/oder politische Verfolgung. In den letzten drei Jahrzehnten haben bewaffnete Konflikte zwischen und innerhalb von Staaten, vor allem aber Bürgerkriege, sowie schwere Menschenrechtsverletzungen durch repressive Regime die größten Fluchtbewegungen (im Sinne des engeren Fluchtbegriffes) ausgelöst. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts, der Beilegung mehrerer Regionalkonflikte und ‘Stellvertreterkriege’ sowie dem Zusammenbruch vieler Diktaturen, die nun den von außen unterstützten Demokratiebewegungen nachgeben mußten, verband sich zunächst die Hoffnung auf eine Minderung der durch Krieg, Gewalt und Repression verursachten Fluchtbewegungen. Diese Hoffnung hat sich zwar in Zentralamerika, im Südlichen Afrika und in Äthiopien erfüllt. Gleichzeitig brachen neue Konflikte auf, nun auch wieder mitten in Europa, so daß sich die Zahl der vom UNHCR registrierten Flüchtlinge von 1991 bis 1995 verdoppelt hat. Zwar hat die Zahl der „politischen Flüchtlinge“ mit Asylanspruch abgenommen, aber die Zahl der Bürgerkriegsflüchtlinge deutlich zugenommen. Die Hoffnung wäre trügerisch, daß die innerstaatlichen Konflikte eingedämmt werden können, weil sich die ihnen zugrunde liegenden Ursachen eher ver132 schärfen werden und bisher alle Vorschläge zur Gewaltprävention versagt haben. Sie werden häufig als ‘ethnische Konflikte’ gedeutet, sind aber im Kern ethnisierte Macht- und Verteilungskonflikte um verknappende Ressourcen. Viele Flüchtlingskrisen entwickeln sich zu immer komplexeren Konfliktlagen, bei denen sich die politische Chaotisierung mit ethnischen Spannungen, wirtschaftlichen Krisen, ökologischer Degradation, gesellschaftlicher Desintegration und individuellen Frustrationen verbindet. Die Staatengemeinschaft hat zwar das Flüchtlingsproblem im engeren Sinne ziemlich erfolgreich durch humanitäre Hilfe domestiziert, d. h. von den eigenen Grenzen ferngehalten. Aber sie starrt ziemlich ratlos auf Prognosen zum Ausmaß der zu erwartenden Armuts- und Umweltflucht. Der ‘Human Development Report 1993’ malte den reichen Ländern das folgende Bedrohungsszenario an die Wand: daß „die globale Armut auf Reisen gehen wird, und zwar ohne Paß und auf zahlreichen unangenehmen Wegen: als Drogen, Krankheiten und Terrorismus“. UNDP wollte die Führungsgruppen des Nordens mit der Angstkeule weichklopfen, indem es Entwicklungshilfe zur „Investition in die Sicherheit reicher Nationen“ aufzuwerten versuchte – allerdings ohne Erfolg. 6. Strukturelle Ursachen für Migration Die MigrationsforscherInnen leiten aus mehreren, sich wechselseitig bedingenden und verstärkenden strukturellen Ursachen einen wachsenden Migrationsdruck aus dem Süden in den Norden, aus Armuts- in Wohlstandsregionen des Südens und aus dem Osten in den Westen ab: Erstens bildet das regional ungleich verteilte Wachstum der Weltbevölkerung, das zu 95 % im Süden stattfindet, eine wichtige Schubkraft, weil bzw. wenn es URSACHEN UND DIMENSIONEN nicht von einer hinreichend schnellen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung aufgefangen wird. Hohe Geburtenraten führen in Verbindung mit Bodenverknappung und Mechanisierungsprozessen zu einer verstärkten Landflucht in die städtischen Zentren, die mangels einer hinreichenden Absorptionsfähigkeit vielfach nur Zwischenstationen im intra- und interkontinentalen Wanderungsgeschehen bilden. Der Weltbevölkerungsbericht von 1993 betonte, daß künftig weniger die Erwartung höherer Einkommen, sondern vielmehr die Suche nach Arbeit die wichtigste Schubkraft für Migration bilde. Bereits heute liegt die offene und versteckte Arbeitslosigkeit in vielen Entwicklungsländern bei 40 – 50 %; sie ist am höchsten unter SchulabgängerInnen: Hier haben wir die Hauptursache für die Bereitschaft von Jugendlichen, Familien und Heimat zu verlassen. Der Hinweis, daß es auch in der EU hohe Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit gibt, ist richtig, übersieht aber, daß es in den allermeisten Entwicklungsländern keinerlei soziale Absicherung durch den Staat gibt und die familiären Solidarverbände häufig überfordert sind, die Bedürfnisse von Jugendlichen zu befriedigen. Zweitens bilden globale und regionale Entwicklungsgefälle eine strukturelle Ursache für Migration. Der ‘Human Development Report’ von 1996 errechnete, daß heute 1,6 Mio. Menschen schlechter leben als vor 15 Jahren und in 70 Ländern das Pro-Kopf-Einkommen niedriger ist als vor 20 Jahren. Die Schere zwischen der Minderheit von reichen Ländern und der Mehrheit von armen Ländern hat sich weiter geöffnet – allerdings auch die Schere zwischen reichen Minderheiten und verarmenden Mehrheiten in den armen Ländern. Der auf den Wohlstandsinseln verbreiteten Angst, daß sich die 1,3 Mrd. ‘absolut Armen’ auf die Elendsflucht begeben könnten, wirkt die Erfahrung entge- gen, daß die ärmsten Gruppen zur intraregionalen oder gar interkontinentalen Migration gar nicht fähig sind. Hier taucht auch das Problem des ‘brain drain’ auf, das für an ‘Humankapital’ arme Länder einen schwerwiegenden Substanzverlust bedeutet. Die Mehrheit der AsylbewerberInnen ist jung und gut ausgebildet. Die durch den ‘brain drain’ entstehenden Kosten werden jährlich auf mehrere Milliarden US-$ geschätzt. Solche Kosten- und Nutzenschätzungen können aber seine sozialen und humanen Kosten nur ungenügend erfassen. Wenn ein substantieller Teil der jungen Generation, aus welchen Gründen auch immer, das Land verläßt, verliert es Humankapital und ein Stück Zukunftsfähigkeit. Dem ‘Exit’, der Abwanderung aus sozialen, kulturellen und politischen Lebenszusammenhängen, gehen nach der Migrationstheorie von Albert Otto Hirschmann der Widerspruch und der Loyalitätsverlust voraus. Migration bildet aber vielfach auch ein soziales Ventil und verschafft vielen Auswanderungsländern durch Überweisungen mehr Deviseneinkünfte als ihre Güterexporte. Zwar leidet die Entwicklung, wenn in ländlichen Regionen nur noch Frauen, Kinder und Alte zurückbleiben, andererseits ermöglichen die Überweisungen und Ersparnisse der MigrantInnen die Überlebenssicherung und Investitionen, die ohne Arbeit im Ausland nicht möglich wären. Im Großraum Manila sollen 60 % der Familien teilweise oder ganz von Überweisungen durch Familienmitglieder, die irgendwo auf der Welt Arbeit gefunden haben, abhängig sein. Es muß immer wieder betont werden, daß Migration viele Erscheinungsformen mit verschiedenartigen Wirkungen für die MigrantInnen, ihre Herkunfts- und Zielländer hat. Drittens häufen sich akute Umweltkatastrophen und dauerhafte Umweltzerstörungen, die Menschen aus ihren ange133 F L U C H T U N D M I G R AT I O N stammten Siedlungsgebieten vertreiben. Weltweit sollen nach Schätzungen des UNUmweltprogramms (UNEP) die Siedlungsgebiete von etwa 135 Mio. Menschen, vor allem durch die rasch voranschreitende Desertifikation, bedroht sein. Manche Prognosen sagen einen dramatischen Anstieg der Umweltflüchtlinge infolge des Treibhauseffektes voraus. Migration ist viertens ein Effekt der Globalisierung von Produktionsstrukturen und Marktbeziehungen, die gerade die Armutsregionen weiter marginalisieren und ein Millionenheer von ‘neuen Heloten’ der internationalen Arbeitsteilung hervorbringen: Rechtlose und ausgebeutete ‘irreguläre’ ArbeitsmigrantInnen und die Opfer des international organisierten Frauenhandels. Die Verschleppung von jungen Mädchen vom Land in die Bordelle der Städte ist ein brutaler Teilaspekt der innerstaatlichen und intraregionalen Migration, besonders in Süd- und Südostasien. Der von internationalen Verbrecherkartellen organisierte Frauenhandel ist allerdings auch zu einem Kernproblem der Ost-West-Beziehungen geworden. Auch hier bildet die ‘Tiersmondisierung’ des Ostens, d. h. der Rückfall in Dritte WeltLebensverhältnisse, den Bodensatz, auf dem der Frauenhandel gedeihen kann. Bekanntlich sind auf diesem Markt junge Mädchen besonders nachgefragt. Fünftens hat die globale Vernetzung durch Kommunikationsmedien die soziale Ungleichheit weltweit sichtbar gemacht. Das von westlichen Medienkonzernen dominierte Fernsehen transportiert tagtäglich und rund um die Uhr mit seinen Unterhaltungs- und Werbesendungen die Bilder vom besseren Leben auf den Wohlstandsinseln in alle Winkel und Hütten der Welt und schafft damit nicht nur gewollte Konsum-, sondern auch ungewollte Migrationsanreize. Die Revolutionierung des Verkehrswesens hat auch die Mobilität der Menschen über große Entfernungen 134 hinweg erleichtert. Wir rühmen den weltweit mobilen Menschen als Idealtyp des Weltbürgers, der dorthin geht, wo er sich am besten entfalten kann, aber der Realtyp des MigrantIn erfährt selten diese Anerkennung. Diese strukturellen Faktoren weisen auf Bedingungen hin, die ein Anwachsen des Migrationsdruckes erwarten lassen. Bevölkerungswachstum, Verelendung und wachsende Entwicklungsunterschiede begründen aber noch keine quasi-automatischen Migrationsprozesse. Die ärmsten Länder, die zugleich die höchsten Geburtenraten haben, zählen nicht zu den Hauptherkunftsländern von MigrantInnen. Wenn es überhaupt eine Regel gibt, dann liegt sie in der Kettenmigration: Wanderungen, die ihr Ziel erreichen, tendieren dazu, weitere Wanderungen von Familienangehörigen auszulösen. 7. Was tun – was kann und sollte getan werden? Die Migrationsforscher Stephen Castles & Mark J. Miller (1993) sagten für die nächste Zukunft vier Haupttendenzen im weltweiten Migrationsgeschehen voraus: – eine weitere Globalisierung der Migration; – eine weitere Zunahme der Migration aufgrund der Verschärfung der oben genannten Schubfaktoren; – eine weitere Differenzierung der Migration in Gestalt neuer Migrationsformen wie der Kettenmigration; – eine zunehmende Feminisierung der Migration, die schon immer die meisten Fluchtbewegungen kennzeichnete. Feminisierung heißt erfahrungsgemäß auch, daß immer mehr Kinder in Flucht und Migration einbezogen werden. Flüchtlinge wurden als Treibgut der Weltgeschichte bezeichnet. Diese Parabel erfaßt im besonderen die Lebenssituation von Flüchtlingskindern. Peter J. Opitz URSACHEN UND DIMENSIONEN (1997) hält diese Prognosen in seinem neuesten Buch über den „globalen Marsch“ nicht nur für zutreffend, sondern spitzt sie sogar noch zu – freilich mit fragwürdigen Argumenten. Richtig ist sicherlich, daß das hohe Bevölkerungswachstum den Migrationsdruck verstärken wird, weil es die Fähigkeit armer Gesellschaften überfordert, den hohen Anteil von jungen Menschen produktiv zu absorbieren. Es gibt aber keinen kommunizierenden Röhren ähnlichen Automatismus zwischen Bevölkerungswachstum und Migration. Richtig ist auch, daß die junge Altersstruktur eine demographische Eigendynamik erzeugt und gerade die arbeitslosen SchulabgängerInnen das größte Migrationspotential bilden. Widerspruch verdient aber nicht nur die durch weltweit sinkende Geburten- und Fertilitätsraten widerlegte Annahme, daß das Bevölkerungswachstum ‘anhaltend’ so hoch bleibe, wie Opitz behauptet, sondern auch die von ihm aus dieser ‘Bevölkerungsexplosion’ abgeleitete Annahme einer unvermeidbaren Verelendung und massenhaften Elendsflucht, die das längst widerlegte, aber zählebige, weil vordergründig so plausible Verelendungsgesetz von Malthus auffrischt. Die MigrationsforscherInnen sind sich darin einig, daß die Probleme der Migration nicht im Norden gelöst werden können, weil die westlichen Gesellschaften und ihre Regierungen mehr Zuwanderung mit aller Macht verhindern werden, sondern dort gelöst oder zumindest entschärft werden müssen, wo sie entstehen, vor allem durch eine präventive Friedensund Entwicklungspolitik. Derzeit mag die Hoffnung, durch Entwicklungspolitik die Migrationsursachen bekämpfen zu können, aus mehreren Gründen als trügerisch erscheinen: Erstens ist die Entwicklungspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in die politische Irrelevanzfalle geraten. Zusätz- lich haben die Haushaltsprobleme in fast allen OECD-Staaten dazu geführt, daß die Entwicklungsetats abgeschmolzen wurden. Entwicklungspolitiker versuchen, ihren Politikbereich vor allem mit dem Hinweis auf das angstmachende Migrationsproblem als ‘präventive Sicherheitspolitik’ aufzuwerten, aber offensichtlich verfehlt auch diese Angstkeule ihre beabsichtigte Wirkung. Zweitens hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß mit punktueller Projekthilfe die strukturellen Migrationsursachen nicht wirksam bekämpft werden können. Auch der Wissenschaftliche Beirat beim BMZ stellte in einem Memorandum vom Januar 1994 fest: Angesichts der Vielschichtigkeit der Migrationsursachen komme der Entwicklungshilfe „bestenfalls eine sekundäre Rolle“ zu. Der Beirat forderte deshalb eine internationale Strategie, die humanitäre Maßnahmen zur Folgenbekämpfung mit friedens- und entwicklungspolitischen Strategien zur Vorbeugung verbindet. Er sah am Ende doch die Chance, die „Konflikte, zu denen Zuwanderung führen kann, durch präventive Maßnahmen zu vermeiden oder wenigstens zu entschärfen“. Es geht darum, diese Chancen zu nutzen. Opitz (1997, S. 51) gibt sich einem gefährlichen Defätismus hin, wenn er resignativ feststellt: „Je lauter der Ruf nach ‘global governance’ wird, umso weniger geschieht; und je eindringlicher ‘globale Verantwortung’ angemahnt wird, um so erbitterter wird der globale Kampf aller gegen alle.“ Sollen wir uns achselzuckend mit einer solchen Bankrotterklärung von Politik abfinden und darauf hoffen, daß wir uns auf den Wohlstandsinseln von solchem Ungemach abschotten können? Viele Skeptiker gehen davon aus, daß sich die migrationsverursachenden Krisenfaktoren noch verschärfen werden, also alle Hoffnungen auf eine erfolgversprechende Prävention trügerisch seien und 135 F L U C H T U N D M I G R AT I O N nur von rechtzeitigen Einsichten in das Unvermeidliche ablenken: nämlich der militärischen Absicherung der ‘Festung Europa’. Sie findet bereits statt und wird noch ausgebaut werden; sie befreit aber die europäischen Führungsgruppen nicht von der Einsicht, daß das Migrationsproblem mittel- und langfristig nur durch die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Herkunftsländern und durch eine friedenspolitische Absicherung des Bleiberechts entschärft werden kann. Die Vorgänge auf dem Balkan liefern täglichen Anschauungsunterricht für diese Mahnung. Dem hobbesianischen Horrorszenario des ‘globalen Kampfes aller gegen alle’, der unvermeidlich mit ‘neuen Völkerwanderungen’ verbunden wäre, ist erstens die Erfahrung entgegenzuhalten, daß der Problem- und Leidensdruck bewirken kann, was Vernunft und Moral nicht schaffen, zweitens die Überzeugung, daß die Staatengemeinschaft die Welt verändern und den ‘globalen Kampf aller gegen alle’ verhindern könnte, wenn sie nur einen Teil der auf den jüngsten Weltkonferenzen einvernehmlich verabschiedeten Aktionsprogramme verwirklichen würde. Das Schwelgen in Katastrophenszenarien, das Klagen über Eruptionen ‘neuer Barbarei’ und Millenium-Apokalypsen mögen bequeme Ohnmachtsgefühle befriedigen und Rechtfertigungen für das Nichtstun liefern: Warum helfen, wenn doch nichts hilft? Solange Lösungen möglich sind, gebietet das Gebot der Humanität, die politische Vernunft und das aufgeklärte Eigeninteresse, sie zu versuchen. Ohnmachtslarmoyanz blockiert das notwendige Handeln und stellt einen Eskapismus aus der Verantwortung von Politik dar, deren Aufgabe es nun einmal ist, nationale und internationale Probleme zu lösen. Es ist die Aufgabe der Zivilgesellschaft, sie ständig und hartnäckig an diese Verantwortung zu erinnern. Wenn nur ein klei136 ner Teil der Absichtserklärungen, die beim letzten Weltkindertag vom 20. September 1998 feierlich verkündet wurden, verwirklicht würde, sähe die Lage der Kinder in aller Welt wesentlich besser aus. Anmerkung 1 Dieser Beitrag wurde auf der Fachtagung von Netzwerk und ISA im September 1998 in Hamburg als Vortrag gehalten. Daraus resultiert auch der besondere Vortragsstil des Beitrags. Literatur Bade, K. (Hg.): Migration – Ethnizität – Konflikt: Systemfragen und Fallstudien. Osnabrück 1996 Brett, R./McCallin, M.: Children: The Invisible Soldiers, 2. Aufl. Stockholm 1998 Cairns, E.: Children and Political Violence. Oxford 1996 Castles, St./Miller, M. J.: The Age of Migration. International Population Movements in the Modern World. New York 1993 Koalition für die Beendigung des Einsatzes von Kindersoldaten: Kinder sind keine Soldaten. o.O. 1998 Loescher, G.: Beyond Charity: International Cooperation and the Global Refugee Crisis. Oxford 1992 Menzel, U.: Das Ende der Einen Welt. In: E+Z, 1998/2 Nuscheler, F.: Internationale Migration. Flucht und Asyl. Opladen 1995 Opitz, P. J. (Hg.): Der globale Marsch. Flucht und Migration als Weltproblem. München 1997. Pries, L. (Hg.): Transnationale Migration. Soziale Welt, Sonderband 12. Baden-Baden 1997. UNHCR: Die Lage der Flüchtlinge in der Welt. Bonn (Jahresberichte). Weiner, M.: International Migration and Security. Boulder 1993 Zolberg, A. R.: Die Zukunft der internationalen Migrationsbewegungen. In: Prokla 1991(2), S. 189-221 Franz Nuscheler A S Y L P O L I T I K I N E U R O PA Asylpolitik in Europa Im Sommer 1996 brachte das niederländische Innenministerium im EU-Ministerrat Innen und Justiz einen Entschließungsentwurf für einen ‘gemeinsamen Standpunkt’ zur Gruppe der ‘unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge’ ein. Er zielte auf die Sicherung der Rechte der Betroffenen und wurde von Organisationen und Verbänden, die sich mit der Problematik befassen, positiv aufgenommen. Als die Entschließung ein knappes Jahr später verabschiedet wurde, hatten sich Ziel und Inhalt der Vorlage geändert. Zwar werden weiterhin Mindestgarantien für Kinderflüchtlinge verabredet, aber neben den Schutzgedanken tritt nun ein neues Element: die Flüchtlingsabwehr. Der folgende Beitrag befaßt sich mir den Gemeinsamkeiten, aber auch differenzierten politischen Akzenten der euopäischen Flüchtlingspolitik sowie ihren Folgen für die Flüchtlinge selbst. 1. Vorbemerkung Wie es in dem entsprechenden Bericht der deutschen Bundesregierung heißt, sei die verabschiedete europäische Entschliessung ‘im Einklang mit der deutschen Rechtslage’- im Klartext: Die Entschliessung bringt keinerlei Verbesserung hinsichtlich der Rechte von Kinderflüchtlingen in der Bundesrepublik Deutschland. Während im ursprünglichen Entwurf klar geregelt wurde, daß mit ‘minderjährigen Flüchtlingen’ alle AsylbewerberInnen unter 18 Jahren gemeint sind, gelang es der Bundesregierung, ihrer eigenen Praxis entsprechend, diese Altersgrenze aufzuweichen und in ihrem Sinne festzuklopfen, daß nämlich nur die unter 16jährigen das Recht auf eine spezielle Unterbringung haben ( Unterbringung). Außerdem wollen die MinisterInnen Maßnahmen zur Verhinderung der illegalen Einreise von Minderjährigen ergreifen und schreiben explizit fest, daß die sog. Drittstaatenregelung auch bei Kindern und Jugendlichen angewandt werden darf. Von der ursprünglichen Intention der Entschließung blieb also – vor allem aufgrund der Intervention des deutschen Innenministeriums – nicht viel übrig. Daß das deutsche Innenministerium sich mit seinen Vorstellungen in der Asylpolitik innerhalb der EU durchsetzt, ist eher die Regel als die Ausnahme. In der Europäischen Union hat die Bundesrepublik Deutschland eine starke Position und agiert insbesondere im Bereich der Innenund Justizpolitik als ‘Meinungsführer’ und ‘Schrittmacher’. Besonders eingesetzt hat sie sich für eine effektive Kriminalitätsbekämpfung und eine restriktive Asylpolitik. Oberstes Ziel bei der Asylpolitik ist ihr die gemeinsame ‘Bekämpfung der illegalen Einwanderung’ und eine Harmonisierung asylpolitischer Regelungen innerhalb der EU. Um dies zu erreichen, setzte sich die Bundesregierung in den letzten Jahren insbesondere auch für eine Vergemeinschaftung der Asylpolitik ein. 2. Demokratisches Defizit in der asylpolitischen Zusammenarbeit Wenngleich die Vorstellungen von den Inhalten einer EU-weiten Asylpolitik bei den Nichregierungsorganisationen (NRO) aus dem Flüchtlingsbereich naturgemäß andere als die der Bundesregierung sind, haben sich in den vergangenen Jahren die meisten Organisationen und Verbände (z. B. Amnesty International oder der Europäische Flüchtlingsrat ECRE) dem Ziel einer Vergemeinschaftung der Asylpolitik der EU angeschlossen. Teilweise mag dabei – vor allem nach dem enttäuschenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Neufassung des Artikel 16 GG – die Hoffnung eine Rolle gespielt haben, über die EU ließe sich das Schlimmste verhüten und zumindest Mindeststandards des Schutzes für Flüchtlinge sichern. Eine Vergemeinschaftung der Asylpolitik wür137 F L U C H T U N D M I G R AT I O N de, so die Argumentation, insbesondere mehr Öffentlichkeit und demokratische Kontrolle der EU-Politik, sprich: mehr Einflußmöglichkeiten, bedeuten. Denn in der jetzigen Form der Zusammenarbeit spielen Öffentlichkeit und demokratische Kontrolle keine Rolle. Allein die verantwortlichen MinisterInnen der Mitgliedstaaten entscheiden selbstherrlich hinter verschlossenen Türen und verabschieden ‘gemeinsame Standpunkte’ oder ‘Maßnahmen’. Eine Mitberatung durch die nationalen Parlamente oder das Europäische Parlament findet nicht statt. Wenn überhaupt, werden Dokumente erst nach der Beschlußfassung veröffentlicht. Kaum besser ist es bei den europäischen Übereinkommen ( Schengener Abkommen und Dubliner Übereinkommen), die im Gegensatz zu den ‘Standpunkten’ und ‘Maßnahmen’ rechtsverbindlich für die Mitgliedstaaten werden. Auch hierbei hat das Europäische Parlament nichts zu sagen, und die nationalen Parlamente beraten nicht mit, sondern müssen den Übereinkommen lediglich im nachhinein – ohne auch nur ein Komma am Vertragstext ändern zu können – zustimmen, damit sie in Kraft treten können. Dieses Demokratiedefizit wurde auch durch das Europäische Parlament heftig beklagt. Trotzdem gelang es bei der Reform des derzeit noch geltenden EU-Vertrages nicht, diesen Mißstand zu beseitigen und eine Demokratisierung der Union zu verankern. Von Sicherung der Grundrechte, Transparenz und demokratischer Kontrolle findet man auch im neuen EUVertrag, dem demnächst geltenden ‘Amsterdamer Vertrag’, wenig. Im Gegenteil: Gerade im Bereich der Asylpolitik wird den nationalen Parlamenten immer mehr die Kontrolle entzogen, ohne daß im Gegenzug adäquate Mechanismen auf Unionsebene aufgebaut werden. Dem Prinzip einer demokratischen Gewaltenteilung entspricht dies nicht. 138 Inhaltlich legt sich die Union im ‘Amsterdamer Vertrag’ für die nächsten Jahren auf folgende Schwerpunkte fest: – Kriterien und Verfahren zur Festlegung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist; – Mindestnormen für die Aufnahme von AsylbewerberInnen; – Harmonisierung des Flüchtlingsbegriffs sowie – Mindestnormen für das Asylverfahren. 3. Politische Auswirkungen Entscheidungen, die die Innen- und JustizministerInnen in puncto Asyl und Einwanderung bereits getroffen haben, sind zwar bis auf das Schengener und Dubliner Übereinkommen für die Mitgliedstaaten nicht rechtsverbindlich. Nichtsdestotrotz haben sie in hohem Maße Auswirkungen auf die nationale Politik. Denn mit dem Verweis auf Brüssel werden die nationalen Gesetzgebungen den Verabredungen innerhalb der EU angepaßt und dies bedeutet immer: Harmonisierung des Asylrechts auf dem niedrigsten Niveau. Ein Beispiel: 1992 verabschiedeten die EU-InnenministerInnen in London drei wegweisende Entscheidungen: Die Entschließung zu ‘offensichtlich unbegründeten Asylanträgen’ (in der Hinweise für das Vorliegen unbegründeter Anträge aufgenommen und verkürzte Asylverfahren verabredet wurden), ein einheitliches Konzept in bezug auf die Zurückweisung von Asylsuchenden in ‘sichere Drittstaaten’ außerhalb der EU und Schlußfolgerungen zum Konzept sog. sicherer Herkunftsstaaten. Sämtliche nationalen Gesetzgebungen wurden diesen Entschließungen in der Folgezeit angepaßt. Die deutsche Gesetzeslage war 1992 noch durch das in Artikel 16 geltende Grundrecht auf Asyl geprägt. Doch die Londoner Entschliessungen lieferten den BefürworterInnen der Änderung des Grundrechts Schüt- A S Y L P O L I T I K I N E U R O PA zenhilfe: Wenn sich die Staaten der EU auf diese Eckpunkte der Asylpolitik einigten, könne die Bundesrepublik keinen Sonderweg einschlagen und ihr altes Asylrecht beibehalten. Die BRDeutschland sei durch die Entscheidungen der EU zu einer Änderung seiner Gesetzeslage gezwungen. Faktisch war es jedoch nicht die EU, die diesen Druck entfaltete, faktisch war es die deutsche Bundesregierung selbst, die innerhalb der EU auf eine Einschränkung des Asylrechts drängte, um schließlich über den Umweg der EU zu einer Änderung der Rechtslage in Deutschland zu gelangen. Der 1993 neu gefaßte Artikel 16 enthält im übrigen alle Elemente der im Vorjahr in London getroffenen EU-Entschließungen: die ‘offensichtlich unbegründeten Asylanträge’, das System der ‘sicheren Drittstaaten’ und der ‘sicheren Herkunftsländer’. 4. Das Schengener Abkommen Unmittelbar rechtsverbindlich für die Mitgliedstaaten sind hingegen das Schengener Abkommen, das bis auf Großbritannien und Irland alle EU-Staaten unterzeichnet haben, und die Dubliner Konvention. Das Schengener Abkommen – in seinen Grundzügen bereits 1985 von einigen EU-Staaten verabredet – trat 1995 in Kraft. Mit dem Abkommen sollte die Freizügigkeit in Europa verwirklicht werden, allerdings um den Preis einer Reihe sog. Ausgleichsmaßnahmen. Dies sind im wesentlichen strikte, nach einem einheitlichen Muster praktizierte Kontrollen gegen illegale EinwandererInnen an den Aussengrenzen der Schengen-Staaten, eine einheitliche Visumspolitik sowie verdachtsunabhängige Kontrollen im grenznahen Raum. Kernstück des Abkommens ist das Schengener Informationssystem, in dem alle an den Grenzen gewonnenen oder für Grenzübertritte relevanten Daten (z. B. illegale Einreiseversuche, Drogenhandel oder Kfz-Verschiebungen) gespeichert und an den Grenzübergängen abgerufen werden können. Diese in der ganzen Welt einmalige Datenbank enthält heute mehr als 6 Mio. Datensätze ( Schengener Abkommen). Das Dubliner Abkommen, das alle EUStaaten unterschrieben haben, umfaßt einen Teilbereich des Schengener Abkommens. Hier wird verbindlich geregelt, welcher EU-Staat für ein Asylgesuch zuständig ist, nämlich derjenige, dessen Hoheitsgebiet von dem/der Asylsuchenden zuerst betreten wurde bzw. derjenige, der dem/ der Einreisenden ein Visum ausgestellt hat. Ein Effekt dieser Bestimmung ist, daß zumindest geregelt ist, daß der Antrag eines Asylsuchenden von dem zuständigen EU-Staat geprüft wird, ein anderer Effekt ist jedoch, daß alle EU-Staaten eine äusserst restriktive Visumspolitik betreiben und ihre Außengrenzen lückenlos zu kontrollieren versuchen, um sicherzugehen, daß so wenige Asylsuchende wie möglich ihr eigenes Territorium erreichen. Das Schengener Abkommen wurde weder vom Europäischen Parlament noch von den nationalen Parlamenten beraten. Es kam allein auf Initiative der Regierungen zustande und wurde nach seiner Fertigstellung von den Parlamenten der Mitgliedstaaten ratifiziert. Seit seinem Inkrafttreten wacht der Schengen Exekutivausschuß, dem die zuständigen MinisterInnen der Mitgliedstaaten angehören, über seine Umsetzung. Mit dem ‘Amsterdamer Vertrag’ wird das Abkommen nun in die EU integriert. Alle Beschlüsse (der sog. Schengen-Acquis), die der Exekutivausschuß bisher getroffen hat, werden unverändert übernommen. Für die EUStaaten, die nicht Mitglied von Schengen sind, also Großbritannien und Irland, wurden Sonderbestimmungen vereinbart. Sie können an allen oder auch nur an einigen Schengen-Maßnahmen teilnehmen. Seit dem Fall der Mauer gewann das 139 F L U C H T U N D M I G R AT I O N Schengener Abkommen bei Verhandlungen mit Drittstaaten zunehmende Bedeutung. Besonders die mittel- und mittelosteuropäischen Staaten, die als Transitstaaten für Flüchtlinge bei der Bekämpfung der ‘illegalen Einwanderung’ eine Pufferfunktion für die EU haben, sollen – nach den Vorstellungen Westeuropas – die Schengen-Standards bei polizeilichen und grenzpolizeilichen Maßnahmen übernehmen, ohne allerdings gleichzeitig in den Genuß der Freizügigkeit zu kommen. Ursprünglich nur von einer kleinen Gruppe von EU-Kernstaaten (Frankreich, Deutschland und die Benelux-Staaten) erarbeitet, hat das Schengener Abkommen heute Bedeutung für die Gestaltung der Politik der Inneren Sicherheit und des Umgangs mit Flüchtlingen in ganz Europa – nicht nur innerhalb der EU. Problematisch dabei ist vor allem, daß diejenigen Staaten, die auf gute Zusammenarbeit mit der EU angewiesen sind bzw. sogar mittel- oder langfristig den Beitritt zur Union anstreben, politisch unter Druck geraten. Sie müssen die von außen an sie herangetragenen Schengen-Standards umsetzen, wenn sie ihre Beziehungen zur EU nicht gefährden wollen. 5. Alternativen für die europäische Flüchtlingspolitik So undemokratisch das Schengener Abkommen zuwege gebracht wurde und heute praktiziert wird: immerhin gelang es 1994 im Bonner Bundestag einer kleinen Gruppe von ParlamentarierInnen einen Schengen-Beobachtungsausschuß einzurichten, der vom Bundesinnenministerium in unregelmäßigen Abständen unterrichtet wird. Die Papierflut zu sichten, die nicht-öffentlichen Sitzungen des Schengen-Exekutivausschusses zu beobachten und daraus politische Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln – dies gelingt allerdings nur sehr wenigen. Die Schengen140 Zusammenarbeit ist bis heute – ebenso wie die Verfolgung der entsprechenden EU-Aktivitäten – eine Spezialistenaufgabe geblieben. Dies betrifft nicht nur die ParlamentarierInnen, sondern viel mehr noch die Nichtregierungsorganisationen. Zwar geriet die europäische Ebene speziell in der BRDeutschland in jüngster Vergangenheit (nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum geänderten Artikel 16, das stark auf die europäische Ebene verweist) in den Mittelpunkt des Interesses, bis heute blieb jedoch der Kreis derjenigen, die sich intensiv mit der europäischen Asylpolitik auseinandersetzen, sehr begrenzt. UNHCR und Amnesty International verfügen über ein Brüsseler EU-Büro und der Europäische Flüchtlingsrat ECRE, ein multinationaler Zusammenschluß europäischer Verbände und Organisationen, die in der Flüchtlingsarbeit aktiv sind, hat nationale Europabeauftragte ernannt, die Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit betreiben. Die ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit indes wird vom Netzwerk UNITED (UNITED for Intercultural Action – European network against nationalism, rasism, fascism and in support of migrants an refugees), dem europaweit ca. 500 Organisationen angehören, koordiniert ( Interessenvertretung). Insbesondere die Grünen im Europäischen Parlament haben die europäische Asylpolitik in der Öffentlichkeit und im Parlament immer wieder auf die politische Agenda gesetzt. Ihre Forderungen konzentrieren sich dabei sowohl auf die formaldemokratischen Aspekte, als auch auf die Demokratisierung der Strukturen der innenpolitischen Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union. Es ist mit demokratischen Prinzipien unvereinbar, wenn diejenigen, die in den Nationalstaaten in der Exekutive sind, auf europäischer Ebene zur Legislative mutieren und ihre Entscheidungen dort weder von den Parlamenten noch von den Gerichten SCHENGENER UND DUBLINER ABKOMMEN kontrollieren lassen. Zu einer Demokratisierung gehört schließlich auch, die Verfahren der Entscheidungen transparent zu gestalten, denn erst dann ist eine demokratische Öffentlichkeit in der Lage, Einfluß zu nehmen und ggf. politischen Druck zu entfalten. Dieser Druck muß im übrigen – das dürfte nach dem bisher gesagten klar geworden sein – unter den aktuell geltenden Voraussetzungen bei den Verantwortlichen auf nationaler Ebene, d. h. in der BRDeutschland beim Innenministerium, ansetzen. Eine gemeinschaftliche Asylpolitik sollte zudem darauf basieren, daß es jedem Mitgliedsland freigestellt ist, höhere Standards als die in der Union vereinbarten ‘Mindeststandards’ anzuwenden. Allerdings nützt es wenig, auf eine Vergemeinschaftung der europäischen Asylpolitik und demokratische Verfahren zu setzen und darüber die Inhalte der bislang praktizierten Politik aus dem Auge zu verlieren. Solange Flüchtlinge in jedem Dokument der EU in einem Atemzug mit Kriminellen genannt werden, solange sie wegen der fehlenden Möglichkeiten einer legalen Einreise zu illegalen Einwanderern umdefiniert werden und die Verantwortlichen weiter an der Abschottung der ‘Festung Europa’ bauen, solange werden auch demokratischere Strukturen kaum zu einer Verbesserung der Lage der Asylsuchenden in der EU, zu mehr Aufnahmebereitschaft gegenüber Flüchtlingen oder zu einer Übernahme der Verantwortung für die Fluchtursachen führen. Darum müssen die Forderungen nach einer Vergemeinschaftung der Asylpolitik mit Inhalten gefüllt werden. Vor allem und zuerst muß daher die Europäische Union die international vereinbarten Standards, wie die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), beachten und umsetzen. EU-Initiativen müssen auf ihre Vereinbarkeit mit internationalen Standards überprüft werden können. Zwar ist der Verweis auf die EMRK und GFK Bestandteil des EU-Vertrags und fast aller entsprechenden Entschließungen, die faktische Politik der EU spricht jedoch eine andere Sprache. Die Gefahr, daß die Europäische Union Intention und Inhalt dieser internationalen Abkommen sowohl durch die eigene Praxis, als auch durch neue Instrumente im Umgang mit Asylsuchenden aushöhlt, ist heute größer als je zuvor. Die Achtung der Menschenrechte muß darum rechtsverbindlich oberstes Gebot in allen Politikbereichen auch der Europäischen Union werden ( Ethik und Moral). Claudia Roth, Petra Hanf Schengener und Dubliner Abkommen Der Artikel befaßt sich mit den wesentlichen asylrelevanten Regelungen des Schengener Durchführungsübereinkommens und des Dubliner Übereinkommens. Er thematisiert die grundsätzliche Problematik dieser internationalen Verträge und nimmt bezug auf die Auswirkungen, die diese Regelungen auf AsylbewerberInnen in der Bundesrepublik Deutschland haben. 1. Entstehungsgeschichte Am 14.6.1985 trafen sich die VertreterInnen mehrerer EU-Staaten in der luxemburgischen Stadt Schengen, um dort ein Übereinkommen zu unterzeichnen, das den schrittweisen Abbau von Kontrollen an den Binnengrenzen zwischen diesen Staaten regelt. Da die Unterzeichnerstaaten der Auffassung waren, daß mit der entstandenen Freizügigkeit Probleme 141 F L U C H T U N D M I G R AT I O N hinsichtlich einer nötigen gemeinsamen Visaerteilung oder der Möglichkeit der freien Bewegung von AsylbewerberInnen entstanden seien, haben die Staaten am 19.6.1990 das Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen (Schengen-Durchführungsübereinkommen) geschlossen. Beide Übereinkommen werden seit dem 26.3.1995 für Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Portugal und Spanien angewandt. Später sind Italien und Österreich beigetreten. Auch Griechenland hat das Übereinkommen unterzeichnet. Es wird dort jedoch noch nicht angewandt, weil dort die technischen Voraussetzungen zur Einführung des ‘Schengener Informationssystems’ noch nicht erfüllt sind. Obwohl alle Erstunterzeichnerstaaten auch Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft waren, wurde das Abkommen bewußt nicht als ein EG-Abkommen ausgestaltet. Dadurch sollten nicht nur die Brüsseler Gremien (EU-Kommission, Europäischer Rat und Europäisches Parlament) umgangen, sondern zugleich eine kritische parlamentarische und öffentliche Begleitung weitestgehend ausgeschlossen werden. Am 15.6.1990 wurde das Dubliner Übereinkommen abgeschlossen, das mit dem asylrechtlichen Teil des Schengener Duchführungsübereinkommens weitgehend inhaltsgleich ist. Das Dubliner Übereinkommen befaßt sich – anders als die Schengener Regelungen – ausschließlich mit Zuständigkeitsregelungen für die Durchführung von Asylverfahren. Deshalb war zu erwarten, daß ein größerer Kreis von Staaten dieses Abkommen unterzeichnen und in Kraft setzen würde. Seine Bestimmungen sind außerdem detaillierter als die Regelungen im Schengener Durchführungsübereinkommen. Am 1.9.1997 ist das Dubliner Übereinkommen zwischen den zwölf Erstunter142 zeichnerstaaten Belgien, Dänemark, Bundesrepublik Deutschland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal, sowie Großbritannien und Nordirland in Kraft getreten. Seitdem werden in der BRDeutschland die Regelungen des Dubliner Übereinkommens anstelle des Schengener Durchführungsübereinkommens angewendet. Inzwischen haben auch Österreich, Schweden und Finnland das Dubliner Übereinkommen unterzeichnet. 2. Inhalt Die Übereinkommen enthalten im wesentlichen Regelungen über die Zuständigkeit zur Durchführung von Asylverfahren. Das Ziel, das mit diesen Übereinkommen verfolgt wurde, war eine gerechtere Verteilung von AsylbewerberInnen in den Schengen-Staaten zu erreichen. Die Verteilung soll nach objektiven Kriterien erfolgen, den AsylbewerberInnen sollte die Möglichkeit genommen werden, ihren Zufluchtsstaat frei zu wählen, was insbesondere für Familien sehr problematisch sein kann. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen die einzelnen Familienmitglieder nicht zusammen fliehen (können) oder bei ihrer Flucht unterschiedliche Reisewege benutzen. Prinzipiell gehen beide Übereinkommen bei AsylbewerberInnen davon aus, daß Asylanträge von Familienmitgliedern von verschiedenen Vertragsstaaten geprüft werden können. Eine Zusammenführung der Familie findet grundsätzlich nicht statt. Diese kann nur in Ausnahmefällen gestattet werden, wenn besondere humanitäre und familiäre Gründe bestehen, die über die Erhaltung und Wiederherstellung der Familieneinheit hinausgehen. Allerdings ist bei einer länger andauernden Trennung von Familienmitgliedern zu bedenken, daß durch die Trennung Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt SCHENGENER UND DUBLINER ABKOMMEN sein könnte. Art. 8 EMRK untersagt den Vertragsstaaten die nicht ausreichende Berücksichtigung der Familieneinheit. Allerdings haben die Betroffenen selbst nicht die Möglichkeit, eine Zusammenführung der Familie zu beantragen. Vielmehr müßte einer der betroffenen Staaten den jeweils anderen Staat um Übernahme des/der Familienangehörigen bitten. Im übrigen ist sowohl die Ausgestaltung des Asylverfahrens als auch die Anerkennungspraxis für Flüchtlinge aus verschiedenen Herkunftsländern in den einzelnen europäischen Staaten sehr unterschiedlich, so daß die Behinderung in der Wahl des Zufluchtstaates auch entscheidend für die Schutzgewährung sein kann ( Asyl- und Flüchtingspolitik Europa). Im wesentlichen wurde in den Übereinkommen das Verursacherprinzip und das ‘one-chance-only-Prinzip’ niedergelegt. Außerdem gibt es Regelungen über eine gemeinsame Visaerteilungspraxis, Sanktionen gegen Beförderungsunternehmen und die Einrichtung des ‘Schengener Informationssystems’ (SIS) zum verbesserten Datenaustausch. 3. Verursacherprinzip Nach dem Verursacherprinzip ist derjenige Mitgliedsstaat des Schengener Durchführungsübereinkommens für die Prüfung eines Asylbegehrens (und damit auch für die Aufnahme der AntragstellerInnen) zuständig, der – die Ausstellung eines Einreisevisums für den/die AntragstellerIn genehmigt hat, – dem/der AntragstellerIn eine Aufenthaltserlaubnis erteilt hat, – über dessen Außengrenzen der/die AntragstellerIn eingereist ist, ohne für diesen Staat ein Visum zu benötigen, – über dessen Außengrenzen der/die AntragstellerIn ohne Erlaubnis eingereist ist, – bereits einem Familienangehörigen des/der AntragstellerIn den Flüchtlingsstatus zuerkannt und den Aufenthalt gewährt hat oder – sich unter bestimmten Umständen freiwillig für diesen Asylantrag zuständig erklärt. Das bedeutet, daß derjenige Staat für die Prüfung eines Asylantrages zuständig ist, der die Einreise des/der DrittausländerIn verursacht, man könnte auch sagen: ‘verschuldet’ hat: entweder, weil er ein Visum erteilt hat oder die Einreise nicht verhindert hat oder bereits Familienangehörigen den Flüchtlingsstatus zuerkannt hat ( Asylverfahren). 4. One-chance-only-Prinzip In Art. 29 Abs. 1 des Schengener Durchführungsübereinkommens verpflichten sich die Mitgliedstaaten, jedes Asylbegehren, das im Hoheitsgebiet eines der Vertragsstaaten gestellt wird, zu behandeln. In Art. 29 Abs. 2 wird dieser Grundsatz jedoch insoweit eingeschränkt, als die Mitgliedsstaaten sich dort das Recht vorbehalten haben, Asylbegehrende nicht auf ihr Hoheitsgebiet einreisen zu lassen bzw. sie in einen Drittstaat zurück- oder auszuweisen. Hat ein/eine AsylbewerberIn also bereits z. B. in Großbritannien ein Asylverfahren abgeschlossen, kann er/sie nicht in einen anderen Mitgliedstaat des Schengener Übereinkommens reisen und dort erneut einen Asylantrag stellen – es sei denn, der zweite Staat erklärt sich freiwillig für die Überprüfung dieses Asylantrags zuständig. Das Prinzip der Beschränkung auf einen Asylantrag innerhalb der SchengenStaaten ist aufgrund der unterschiedlichen Behandlung von AsylbewerberInnen in den einzelnen Staaten sehr problematisch. Weder das Schengener noch das Dubliner Übereinkommen enthalten Re143 F L U C H T U N D M I G R AT I O N gelungen über gemeinsame Kriterien für die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention, Mindestgarantien für ein faires Asylverfahren und gerichtlichen Rechtsschutz. Ebenso fehlt eine Regelung über eine gegenseitige Anerkennung der Entscheidungen über Asylanträge. Noch problematischer ist die Regelung, wenn man sie im Zusammenhang mit Drittstaatenregelungen und der inzwischen sehr zahlreichen Rückübernahmeabkommen sieht. Am Beispiel der Bundesrepublik ist deutlich zu erkennen, daß dies dazu geführt hat, die ‘Festung Europa’ weiter auszubauen ( Asyl- und Flüchtlingspolitik BRD). Die BRDeutschland hat die ihr durch die EU-Regelungen und durch das Schengener Durchsatzübereinkommen eröffneten Möglichkeiten extensiv genutzt und Regelungen über sog. ‘sonstige Drittstaaten’ bzw. ‘sichere Drittstaaten’ erlassen, in welche die AsylantragstellerInnen zurückgeschickt werden können, wenn sie – aus diesen kommend – versuchen, in die Bundesrepublik einzureisen. Nach dem deutschen Asylrecht werden Asylanträge von anderen AntragstellerInnen in der BRDeutschland nicht geprüft, wenn diese aus einem ‘sicheren Drittstaat’ in die Bundesrepublik einreisen. Sichere Drittstaaten in diesem Sinne sind alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und darüber hinaus Norwegen, Polen und die Schweiz. AsylantragstellerInnen, die aus einem dieser Staaten in die Bundesrepublik einreisen, können in der Bundesrepublik zwar einen Asylantrag stellen, dieser wird jedoch nicht inhaltlich geprüft. Es wird lediglich überprüft, aus welchem dieser Drittstaaten der oder die betreffende Person eingereist ist. Der Asylantrag wird dann als unbeachtlich beschieden. Die Bundesrepublik nimmt in diesem Fall zu dem betreffenden Drittstaat Kontakt auf und beantragt, daß dieser den oder die Asylsuchende ‘zurück144 nimmt’. Durch das Schengener Durchführungsübereinkommen sollte sichergestellt werden, daß der betreffende Drittstaat auch verpflichtet ist, die betreffende Person zurückzunehmen. In der Praxis führte dies zu einigen Problemen. In vielen Fällen weigern sich die betreffenden Drittstaaten, die betroffene Person aufzunehmen oder sie nehmen diese auf und schicken sie dann ihrerseits, ohne eine inhaltliche Prüfung des Asylantrags, weiter in einen weiteren Drittbzw. Viertstaat. Das Problem der Kettenabschiebung wird insbesondere relevant, wenn die betreffende Person mehrere Länder durchquert hat, bevor sie in einem Land einen Asylantrag gestellt hat. Der europäische Flüchtlingsrat ECRE (European Council on Refugees and Exiles) hat eine Reihe solcher Kettenabschiebungen dokumentiert. Auch der UNHCR (Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen) hat mehrfach darauf hingewiesen, daß die Drittstaatenregelung zu dem Phänomen von ‘Refugees in Orbit’ führt. 5. Sanktionen gegen Beförderungsunternehmen Im Schengener Durchführungsübereinkommen sind weitere Hürden für Asylsuchende eingebaut worden, indem auch die Beförderungsgesellschaften in die Pflicht genommen werden, zu überprüfen, ob die von ihnen beförderten Personen im Besitz gültiger Einreisepapiere für den jeweiligen Zielstaat sind. Ist dies nicht der Fall und wird dem/der AusländerIn die Einreise in den Zielstaat verweigert, so ist das Beförderungsunternehmen verpflichtet, auf seine Kosten den/die AusländerIn wieder in den Herkunftsstaat oder einen anderen Drittstaat, in den er einreisen darf, zurückzubringen. Das betrifft vor allem Luftverkehrsgesellschaften, die mit Sanktionen belegt werden können. Diese Regelung ist oftmals nicht nur wegen ih- SCHENGENER UND DUBLINER ABKOMMEN rer flüchtlingsfeindlichen Zielrichtung kritisiert worden, sondern auch, weil damit hoheitliche Aufgaben (Kontrolle der Einreisewilligen) auf private Unternehmen übertragen worden sind, die gar nicht in der Lage sind, diese Aufgaben zu erfüllen, sofern sie sich nicht auf das Erkennen gefälschter Pässe spezialisieren wollen, was sicherlich nicht in ihren Aufgabenbereich gehört. In der Praxis führen die Vorgaben an die Fluggesellschaften jedoch dazu, daß politisch Verfolgte, die gerade aufgrund ihrer Verfolgungssituation nicht die Möglichkeit haben, sich gültige Einreisedokumente zu verschaffen, und für die der Flug die einzige Möglichkeit des Entkommens sein kann, ebenso abgewiesen werden wie unerwünschte EinwanderInnen. Anders als beim Erreichen der Staatsgrenze greift auch hier kein gerichtlicher Rechtsschutz. In der BRDeutschland ist in §§ 73 f Ausländergesetz diese Sanktion gegen Beförderungsunternehmen in nationales Recht umgesetzt worden. Das Bundesverwaltungsgericht hielt diese Regelung für verfassungswidrig und hat sie dem Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung vorgelegt. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Vorlagebeschluß inhaltlich nicht behandelt, sondern als unzulässig zurückgewiesen. 6. Datenaustausch (SIS) Das Schengener Durchführungsübereinkommen gestattet den Mitgliedsstaaten einen umfangreichen Datenaustausch. Die Mitgliedsstaaten haben aufgrund des Schengener Durchführungsübereinkommens ein Informationssystem (SIS) gegründet, und jeder Mitgliedsstaat speist dort seine Daten ein und kann diese jederzeit abrufen. Da dieser Datenaustausch nicht auf europarechtlicher Ebene geregelt ist und das Schengener Durchführungsübereinkommen keine eigenen Da- tenschutzregelungen enthält, ist völlig unklar, inwiefern die im SIS eingespeisten Daten überhaupt geschützt sind ( Datenschutz). Insbesondere ist auch nicht geklärt, daß diese Daten nicht etwa den Herkunfts- und damit potentiellen Verfolgerstaaten der Asylsuchenden zur Verfügung gestellt werden. 7. Kinder und Jugendliche Das Schengener Durchführungsübereinkommen enthält keine spezifischen Regelungen für Kinder oder Jugendliche. In Art. 36 ist jedoch geregelt, daß bei Vorliegen humanitärer, insbesondere familiärer oder kultureller Gründe eine andere Vertragspartei um die Übernahme der Zuständigkeit zur Prüfung des Asylbegehrens ersucht werden kann. Besondere familiäre Gründe können z. B. Minderjährigkeit ( Minderjährigkeit) oder Pflegebedürftigkeit von Familienangehörigen sein. Damit ist jedoch nicht sichergestellt, daß Familienangehörige, die bei der Flucht getrennt wurden und sich nun in verschiedenen Schengen-Staaten aufhalten, tatsächlich zusammengeführt werden können. Das Schengener Durchführungsübereinkommen und das Dubliner Übereinkommen kennen den Grundsatz der Familienzusammenführung nicht. Es kann also durchaus sein, daß die Eltern oder ein Elternteil von Kindern, die z.B. in der Bundespublik Aufnahme fanden, ihr Asylverfahren in einem anderen SchengenStaat durchführen und sich auch dort aufhalten müssen. Die Kinder müssen ihr Asylverfahren getrennt von den Eltern durchführen. Die betreffende Familie selbst kann sich auch nicht an den jeweils anderen Staat wenden und Familienzusammenführung beantragen. Einer der SchengenStaaten, in dem sich Teile der Familie aufhalten, müßte sich, wie bereits ausgeführt, an den anderen betroffenen Schen145 F L U C H T U N D M I G R AT I O N gen-Staat wenden und diesen bitten, die Zuständigkeit auch für den Rest der Familie zu übernehmen oder sich bereit erklären, die anderen Familienangehörigen aufzunehmen. Nur für den Fall, daß ein Schengen-Staat einem Familienangehörigen bereits den Flüchtlingsstatus gewährt hat, kann sich auch der Rest seiner Familie zu diesem begeben. Roland Appel, Katrin Sandmann Einwanderungspolitik Obwohl Einwanderungspolitik in der Bundesrepublik nicht als eine ausdifferenzierte Ressortpolitik existiert, werden Möglichkeiten der Zuwanderung und Niederlassung durch politische Entscheidungen beeinflußt. Gleichwohl war und ist das politische System nicht in der Lage, Wanderungsbewegungen umfassend und präzise zu steuern. Der Beitrag skizziert Elemente und Entwicklungstendenzen der politischen Regulation von Zuwanderung. Grenzüberschreitende Wanderungen werden als Problem für eine nationalstaatliche Politik analysiert, für die Loyalitäts- und Leistungsbeziehungen zu den Staatsbürgern konstitutiv sind. 1. Einleitung: Elemente von Zuwanderungs- und Einwanderungspolitik Zentrales Thema der politischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik und den Staaten der Europäischen Union über Einwanderungsfragen war und ist seit Ende der 80er Jahre die behauptete Notwendigkeit einer Begrenzung unerwünschter Zuwanderung, insbesondere der Einwanderung von Flüchtlingen und illegalen ArbeitsmigrantInnen. Hintergrund dessen ist die Vorstellung, daß un146 ter Bedingungen anhaltender Massenarbeitslosigkeit und einer Finanzkrise der öffentlichen Haushalte die ‘Grenzen der Belastbarkeit’ der nationalstaatlichen Ökonomien und der sozialstaatlichen Sicherungssysteme erreicht bzw. überschritten seien. Befürchtet wurde bzw. wird, daß die aufgrund von politischer Verfolgung, Verarmung und ökologischen Katastrophen weltweit zunehmenden Wanderungsbewegungen zu einer Massenwanderung nach Europa führen. Eine zentrale Aufgabe nationalstaatlicher und europäischer Politik sei deshalb die Verhinderung unkontrollierter Zuwanderung. In der Folge dieser Vorstellung wurden seit Beginn der 90er Jahre zahlreiche Gesetze beschlossen und Maßnahmen durchgeführt, die Einwanderung erschweren bzw. verhindern sollen, die insbesondere auf eine Einschränkung des Asylrechts und seine europäische Vereinheitlichung ausgerichtet sind. Die offenkundigste Konsequenz hiervon war die 1993 beschlossene Änderung des Asylrechtsartikels im Grundgesetz (Art. 16 GG), welche die Bedingungen der Inanspruchnahme des dort verankerten individuellen Rechtsanspruchs auf Asyl erheblich erschwert hat. Dies veranlaßt Kritiker dieser Änderung, von einer ‘de-facto-Abschaffung’ des Asylrechts zu sprechen ( Asylpolitik). Insbesondere aus den Erfahrungen der Praxis der humanitären Hilfe, der Rechtsberatung sowie der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen heraus wird der bundesdeutschen Ausländer- und Asylpolitik zudem vorgeworfen, daß sie eine kontinuierliche und deutliche Absenkung der Rechtsansprüche von und sozialstaatlichen Leistungen für Flüchtlingen betreibt (vgl. Komitee für Grundrechte und Demokratie 1992; Prantl 1994; Pro Asyl 1998). Bezweifelt wird in diesem Zusammenhang, daß rechtsstaatliche sowie grund- und menschenrechtliche Standards und die in internationalen Vereinbarungen festge- E I N WA N D E R U N G S P O LITI K legten Kriterien im Umgang mit Flüchtlingen noch hinreichend beachtet werden. Alle bisherigen Regierungen haben sich bisher politisch geweigert, aufgrund der seit dem Zweiten Weltkrieg eingetretenen faktischen Einwanderungssituation Deutschland auch explizit als Einwanderungsland zu betrachten. Dies motiviert die Forderung, diese Haltung aufzugeben, und eine entsprechende Einwanderungspolitik in der Erwartung zu entwickeln, daß damit die entstandene Einwanderungssituation politisch in einer Weise gestaltet werden könne, die nicht weiter auf ‘politischer Erkenntnisverweigerung’ (Manifest der 60, 1994, S. 21) beruhe und dem Grundsatz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (GG Art. 1) auch im Umgang mit Flüchtlingen Rechnung tragen könne. Appelliert wird dabei auch an die besondere historische Verpflichtung Deutschlands im Umgang mit politischen Verfolgten. Gegenstände weiterer Kritik sind darüber hinaus die Einbürgerungsbedingungen für in der Bundesrepublik geborene und aufgewachsene AusländerInnen, die rechtliche Unzulässigkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft sowie verschiedene Aspekte der Benachteiligung oder anderweitig geminderter Lebenschancen von MigrantInnen im Recht, im Erziehungssystem oder auf Arbeitsmärkten. Im folgenden skizzieren wir Konturen dessen, was man als Migrations- oder Zuwanderungspolitik kennzeichnen kann, d. h. politische Entscheidungen, welche die Möglichkeiten von Zu- und Einwanderung und die Lebensbedingungen von MigrantInnen betreffen. Offenkundige Bestandteile einer solchen Politik sind erstens Gesetzgebungsakte, Verwaltungsanordnungen und sonstige Maßnahmen, die sich a) auf die Kontrolle der Grenzen beziehen, b) festlegen, wer das Gebiet eines Staates betreten darf oder nicht, c) die Möglichkeiten der Arbeitsaufnahme für MigrantInnen, des Nachzugs von Fami- lienangehörigen, die Eheschließung mit Nichtdeutschen regulieren sowie d) Kriterien festlegen, gemäß denen Flüchtlingen Einreise und Aufenthalt gestattet wird. Zweitens werden die Lebensbedingungen von Eingewanderten durch eine Reihe von Gesetzen und Regelungen des Ausländerund Asylrechts beeinflußt, die diese gegenüber Staatsangehörigen in eine Position minderer Rechte verweisen. Hinzu kommen drittens allgemeine arbeitsmarkt-, rechts- und sozialpolitische Entscheidungen, die – auch wenn sie nicht unmittelbar auf Einwanderungswillige und Eingewanderte zielen –, die Bedingungen betreffen, mit denen sie während eines Aufenthaltes in der Bundesrepublik zu rechnen haben. Für ein angemessenes Verständnis der Thematik ist es vorab wichtig, sich klar zu machen, daß nicht jede Zuwanderung auf Einwanderung, also auf dauerhafte Niederlassung zielt. Insofern ist der Terminus ‘Einwanderungspolitik’ problematisch. Zuwanderung kann zwar im Ergebnis dadurch zu Einwanderung werden, daß Zuwanderer ihre Lebensführung auf die Einwanderungsregion hin ausrichten. Ein solcher Niederlassungsprozeß setzt auch häufig unabhängig von den ursprünglichen Absichten von MigrantInnen ein. Er kann politisch erwünscht sein oder geduldet werden, es kann aber politisch auch versucht werden, Niederlassung zu verhindern. Gleichwohl bleibt Zuwanderung vielfach befristet und führt nicht zwangsläufig zu dauerhafter Niederlassung. 2. Wanderungen als Problem nationalstaatlicher Politik Wanderungen sind kein Problem der Gesellschaft insgesamt. Für eine transnational operierende Ökonomie etwa ist die Mobilität von Arbeitskräften kein Hindernis, sondern potentiell eine günstige Bedingung für Anlage- und Verwertungs147 F L U C H T U N D M I G R AT I O N strategien. Erst in der Perspektive einer nationalstaatlich verfaßten Politik stellt sich Staatsgrenzen überschreitende Wanderung als ein zentrales Problem der modernen Gesellschaft dar. Eine wesentliche Strukturfolge der Einteilung der Welt in Staaten ist die nationale Staatsbürgerschaft und ein damit verbundener partikularer Universalismus, der die Teilnahme eines jeden Individuums an einem, aber auch nur einem Staat vorsieht. Staatsbürgerschaft begründet eine im Prinzip lebenslange Leistungs- und Loyalitätsbeziehung zwischen dem Staat und seinen BürgerInnen, die im nationalen Wohlfahrtsstaat institutionalisiert ist und die den Staat bei der Herstellung seiner politischen Entscheidungen auf die Orientierung an der Gesamtheit der StaatsbürgerInnen und ihrem Anspruch auf Gleichheit als Mitglieder des Staatsvolkes verpflichtet. Grenzüberschreitende Migration stellt die politische Einteilung der Weltbevölkerung in Staatsbevölkerungen in Frage und bringt MigrantInnen in eine strukturell prekäre Beziehung zu nationalen Wohlfahrtsstaaten in den beiden Dimensionen der Loyalität zum Staat und des Anspruchs auf Leistungen des Staates. Denn als nationaler Staat beobachtet der Staat MigrantInnen zum einen in der Perspektive ihrer politischen Loyalität. MigrantInnen unterscheiden sich von Staatsbürgern diesbezüglich dahingehend, daß sie in der Regel über keine historisch entwickelten Beziehungen zum jeweiligen Nationalstaat verfügen, von denen angenommen werden kann, daß sie Identifikation und Loyalität begründen. Sofern der Staat Wohlfahrtsstaat im Sinne eines sozialen Ausgleichsmechanismus nach innen ist, impliziert dies zweitens immer auch die Errichtung einer Ungleichheitsschwelle nach außen, die durch MigrantInnen überschritten werden muß, und die damit die Frage provoziert, in wel148 chem Verhältnis MigrantInnen zu den Leistungen des Wohlfahrtsstaates stehen. Zuwanderung begründet vor diesem Hintergrund wiederkehrend Appelle an die primäre Verpflichtung des Nationalstaates, hinreichende Leistungen für seine StaatsbürgerInnen zu erbringen. Der nationale Wohlfahrtsstaat interveniert daher in Prozesse der Zuwanderung unter den Gesichtspunkten der Aufrechterhaltung der Loyalitäts- und Leistungsbeziehung zu der Gemeinschaft der StaatsbürgerInnen. Orientiert an diesem Kriterium wird er als Filter wirksam für Wanderungsversuche und die damit verbundenen Versuche der Teilnahme von Individuen an gesellschaftlichen Teilbereichen wie der Ökonomie, Erziehung oder Gesundheit. Alle Staaten regeln auf der allgemeinen Grundlage, daß es kein generelles Recht von Individuen auf Einwanderung in einen Staat gibt, die Bedingungen, unter denen sie Zuwanderung gestatten. Sie lassen Migration unter nationalen, wirtschaftsbzw. arbeitsmarkt- und bevölkerungspolitischen, bildungs- und entwicklungspolitischen, familienrechtlichen oder flüchtlingsrechtlichen Gesichtspunkten zu, und sie regulieren die daran gebundenen Teilnahmechancen von MigrantInnen durch die Zuteilung von rechtlichem Aufenthaltsstatus, damit direkt oder indirekt verknüpften Privilegien, Erlaubnissen, Verboten und Ansprüchen auf staatliche Leistungen. Solche Festlegungen können in abgestufter Weise teilnahmebegünstigend gefaßt sein. Sie können aber auch darauf zielen, Teilnahmechancen in wirtschaftlicher, rechtlicher, gesundheitlicher oder erzieherischer Hinsicht zu limitieren oder zu verhindern, um so politische Optionen des Ausschlusses und der territorialen Ausweisung zu erhalten. E I N WA N D E R U N G S P O LITI K 3. Die Bundesrepublik – ein Einwanderungsland? Vor diesem Hintergrund kann man heute die Verwendung des Terminus Einwanderungspolitik in einem politisch programmatischen und in einem deskriptiven Sinne beobachten. Im ersten Fall wird üblicherweise eine Politik referiert, wie sie charakteristisch für klassische Einwanderungsländer wie Kanada, Australien oder die USA ist. Im zweiten Fall faßt man unter den Terminus alle politischen Entscheidungen, die mit der Regulation jeder Art von Zuwanderung sowie der Bedingungen befaßt sind, unter denen ZuwanderInnen der Aufenthalt auf dem Territorium eines Staates und die Teilnahme an Ökonomie, Politik, Recht, Erziehung, Gesundheit oder Familie gestattet ist. Die europäischen Staaten betrachten sich nicht als Einwanderungsländer, auch wenn sie sich untereinander dadurch unterscheiden, inwieweit sie Zuwanderungsprozesse und die anschließende Niederlassung dieser Zuwanderer als faktische Einwanderung anerkennen und diese dann auch als EinwanderInnen bezeichnen. Im Unterschied zu Frankreich, den Niederlanden oder Schweden ist die Bezeichnung „Einwanderer“ im politischen Sprachgebrauch in Deutschland bis heute auch für MigrantInnengruppen umstritten, deren endgültige Niederlassung wie im Fall der vormaligen ‘Gastarbeiter’ politisch kaum mehr in Frage steht. In Staaten wie Deutschland wird mit dem deklarativen Festhalten daran, daß es sich um kein Einwanderungsland handelt, politisch zum Ausdruck gebracht, daß Einwanderung kein Ziel der Politik ist und es entsprechend auch keiner Einwanderungspolitik bedarf. Unstrittig war aber Deutschland neben den USA in den Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg eine der Hauptzuwanderungsregionen in der Welt. Unbeschadet aller programmatischen Auseinandersetzungen und Abgrenzun- gen in den letzten zwei Jahrzehnten unterscheidet sich daher auch die Migrationspolitik in Deutschland in zahlreichen Strukturmerkmalen nicht von dem, was man auch in anderen Zuwanderungsländern beobachten kann. Zuwanderungsprozesse nach Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg umfassen Flüchtlinge und Vertriebene, ArbeitsmigrantInnen auf der Basis ihrer arbeitsmarktpolitischen Anwerbung (‘GastarbeiterInnen’), Familiennachzugswanderung, AsylbewerberInnen und (Bürger-) Kriegsflüchtlinge, die sog. SpätaussiedlerInnen sowie schließlich illegale ZuwanderInnen. Migrationspolitik ist gegenwärtig in allen westeuropäischen Staaten weitgehend von der Maxime beherrscht zu verhindern, daß aus dem weltweiten Wanderungspotential (vgl. UNHCR 1994; Opitz 1997) eine für die europäischen Staaten politisch unkontrollierbare Masseneinwanderung resultiert. Der EU-internen Durchsetzung der Freizügigkeit des Personenverkehrs entspricht der Versuch der Etablierung einer koordinierten bzw. EUeinheitlichen Migrationspolitik gegenüber MigrantInnen aus sog. Drittstaaten ( Schengener und Dubliner Abkommen). Dies bedeutet nicht, daß die einzelnen Nationalstaaten die Kontrolle über Zuwanderung aufgegeben haben, sondern sie versuchen damit vielmehr, Kontrollpotential zurückzugewinnen, das im Rahmen der europäischen Integration zu schwinden schien. 4. Migrationskontroll- und Flüchtlingspolitik Es gab zwei große Anlässe in Europa, bezogen auf die die verstärkte Kontrolle oder der Stop von Zuwanderungen politisch gefordert und mittels verschiedener Maßnahmen durchzusetzen versucht wurde. Der eine betraf die Beendigung der politisch aktiven Rekrutierung von Arbeits149 F L U C H T U N D M I G R AT I O N migrantInnen, der andere die politische Kontrolle und Unterbindung von Fluchtmigrationen. Mitte der 1970er Jahre beendeten die meisten Staaten in Europa die aktive Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte und versuchten zum Teil, sie zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer zu bewegen. Die ArbeitsmigrantInnen kamen aber während der Zeit des Ausbaus und der Konsolidierung des modernen Wohlfahrtsstaates und hatten daher sozialrechtliche Ansprüche erworben, an denen solche politischen Versuche der Beförderung ihrer Rückkehr scheiterten. Anstelle dessen trat schließlich eine von Land zu Land verschieden ausgestaltete sog. Integrationspolitik auf der Basis der Aufrechterhaltung eines Zuwanderungsstops, mit der diese ZuwanderInnen, die ehemaligen „GastarbeiterInnen“, mit den Inländern schließlich weitgehend – abgesehen von den politischen Kernrechten des aktiven und passiven Wahlrechts – rechtlich gleichgestellt wurden und in deren Rahmen ihnen in allen Ländern inzwischen Einbürgerungsrechte eingeräumt worden sind. Mit der Entstehung und einem bis heute anhaltenden Wachstum der weltweiten Flüchtlingsproblematik seit etwa Ende der 1970er Jahre richteten sich in Europa die politischen Versuche der Kontrolle der Zuwanderung zunehmend auf den Flüchtlingsbereich und generell auf eventuelle Zuwanderungen aus den ärmeren sog. Drittstaaten. Das Interesse an einer nationalstaatlichen, politischen Kalkülen gemäßen Regulierung von Migration, also an einer quantitativen und qualitativen Steuerung bzw. einer zeitlichen Befristung von Ein- und Auswanderung steht dabei in einem Spannungsverhältnis zu den in internationalen Vereinbarungen festgeschriebenen Rechten von Flüchtlingen. So spricht die allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Art. 14) „Jedermann“ das Recht zu „in anderen Ländern vor Ver150 folgung Asyl zu suchen und zu genießen“ und (Art. 15) „seine Staatsangehörigkeit zu wechseln“. Auch die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 faßt die legitimen Fluchtursachen und ihre Rechte im Aufnahmeland wesentlich weiter als das deutsche Asylrecht. Der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten führte Ende der 1980er Jahre zu beinahe hysterischen Prognosen über bevorstehende ‘Einwanderungsfluten’. Der Anstieg der Zahl der Flüchtlinge aus den Kriegs- und Bürgerkriegsregionen der Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien stellte dann die Fluchtproblematik in einem seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gekannten Ausmaß in das Zentrum der Politik in Europa. Migrationspolitik in diesem Bereich ist zu einem erheblichen Teil Flüchtlingsabschreckungspolitik geworden. Sie hat einerseits die Schwellen der Erreichbarkeit der Zufluchtländer erheblich angehoben. Durch Harmonisierung ihrer Asylpolitik im Rahmen der Abkommen von Schengen und Dublin und der Übernahme dieser Abkommen in den EU-Rahmen, mit der Einführung der Kategorie sicherer Drittstaaten, strikter Visaerfordernisse für Zuwandernde aus den meisten Drittstaaten und mit der Durchsetzung der Beachtung dieser politischen Voraussetzungen für die grenzüberschreitende Beförderung von Personen durch Transportunternehmen haben sie Kontrollkompetenzen über den Zugang zum Territorium der EU-Staaten zurückgewonnen. Sie haben in dieser Weise die Zahl der Fluchtzuwanderungen seit Beginn der 1990er Jahre absenken können, ohne nationales oder internationales Recht zu brechen, damit aber die Erreichbarkeit ihres Territoriums für ZuwanderInnen unabhängig von der Frage, ob es sich um rechtmäßige Flüchtlinge bzw. AsylbewerberInnen oder um MigrantInnen auf der Suche nach Erwerbsmöglichkeiten handelt, auf einschneidende Weise E I N WA N D E R U N G S P O LITI K erschwert. Auf die in den 1980er Jahren einsetzende Fluchtzuwanderung in grossen Zahlen haben die nationalen Wohlfahrtsstaaten (nicht nur) in Europa also reagiert, indem sie in Kooperation die Ungleichheitsschwelle nach außen durch die allgemeine Erschwerung der Zutrittsbedingungen zu ihrem Territorium für Individuen aus wirtschaftlich ärmeren Ländern erhöht haben. Nur Individuen, die in der Lage sind, diese Hürden zu überwinden, können überhaupt noch in Verfahren zur Überprüfung ihres Asylanspruchs eintreten oder den Status eines De-facto-Flüchtlings erlangen. (Nicht nur) legale Fluchtmigration setzt damit auf Seiten der Individuen unter Bedingungen der Überwindung hoher politischer Migrationsschwellen entsprechende Kommunikationskompetenzen sowie den Zugang zu relevantem Wissen, Geld und Organisationen wie Botschaften, Konsulate, Transportunternehmen und auch illegalen Schlepperorganisationen voraus. Es ist daher auch nicht überraschend, daß Flüchtlinge und AsylbewerberInnen meist ein hohes Qualifikationsprofil aufweisen. Brechen die reicheren Wohlfahrtsstaaten formal mit der Errichtung von solchen Zuwanderungsschwellen nicht das nationale und internationale Flüchtlingsrecht, sondern machen es vielmehr in vielen Fällen unwirksam, so findet dies umgekehrt in ihren Bestimmungen zu den Teilnahmemöglichkeiten und Versorgungsansprüchen von Flüchtlingen und AsylbewerberInnen seine Entsprechung. Die Staaten schränken ihre Bewegungsfreiheit sowie die Freiheit der Wahl des Wohnortes ein, verbieten die Arbeitsaufnahme oder erlauben sie nur unter hoch restriktiven Bedingungen, begrenzen ihren Anspruch auf Gesundheitsversorgung und beschränken ihre Versorgung mit den Mitteln zum Lebensunterhalt auf Minimalsätze, gemessen an den Standards für staatliche Unterstützungsleistungen in dem jeweiligen Land. Man kann den Sinn dieser Restriktionen dahingehend zusammenfassen, daß Staaten gegenüber AsylbewerberInnen und Flüchtlingen teilnahmeverhindernd in dem Sinne tätig werden, daß sie bis zur Beendigung der rechtlichen Überprüfungsverfahren ihres Asylanspruchs bzw. bis zum Wegfall der Fluchtursachen bei De-facto-Flüchtlingen den Zugang zu sozialen Systemen über die staatlich eingegrenzten Möglichkeiten hinaus versperren. Sie reduzieren die Teilnahme der Individuen an der Gesellschaft auf das, was zur Durchführung der Verfahren notwendig ist, und beschränken die Möglichkeiten der Lebensführung in einer Weise, daß ihr provisorischer Charakter erhalten und sozial erkennbar bleibt. Die Rigorosität, mit der diese Politik z. T. durchgesetzt worden ist und aktuell auch noch verstärkt wird,1 reagiert auf die Erfahrungen mit der Arbeitsmigration in den 1970er Jahren und den Sachverhalt, daß mit der Fortdauer des Aufenthalts von MigrantInnen die Wahrscheinlichkeit ihres Bleibens und des Erwerbs von Rechtspositionen gegenüber dem Staat zunimmt. Flüchtlinge wachsen mit der Dauer ihres Aufenthalts in Rechte hinein und je länger sie sich auf dem Territorium des Zufluchtstaates aufhalten, um so geringer wird die Wahrscheinlichkeit ihrer Rückkehr. Der Versuch, diese Wahrscheinlichkeit zu reduzieren, schlägt sich in Deutschland besonders deutlich in den politischen Regulationen zeitlich befristeter Arbeitsmigrationen in der Form der WerkvertragsarbeitnehmerInnen und der Saisonarbeit nieder. Die rechtlichen Bestimmungen zu diesen Zuwanderungsformen legen klare und unwiderrufliche Befristungen des Aufenthalts fest und unterwerfen darüber hinaus die Beschäftigung der WerkvertragsarbeitnehmerInnen dem Sozialrecht ihrer Herkunftsländer. Damit soll ein erneutes Hineinwachsen von Arbeitsmi151 F L U C H T U N D M I G R AT I O N grantInnen in unwiderrufliche Rechtsansprüche verhindert werden und gesteuerte Arbeitsmigration zugleich als flexibles arbeitsmarktpolitisches Instrument bei Aufrechterhaltung der staatlichen Ungleichheitsschwelle erhalten bleiben. Man kann vor diesem Hintergrund zunächst feststellen, daß der politisch befürchtete und wissenschaftlich vielfach diagnostizierte Kontrollverlust der nationalen Wohlfahrtsstaaten in Europa über den Zugang zu ihrem Territorium und die Zusammensetzung ihrer Bevölkerung aufgrund ihrer internen Migrationspolitik und der Form ihrer Kooperation nicht eingetreten ist. Sie haben in der beschriebenen Weise die Zuwanderungszahlen abzusenken vermocht. Andererseits sehen sie sich mit Formen der dauerhaften und von ihnen kaum einzuschränkenden bzw. zu kontrollierenden Formen der Zuwanderung konfrontiert, wovon abschließend unter dem Gesichtspunkt der Reichweite von Migrations- bzw. Einwanderungspolitik hier die Familiennachzugswanderung und die Zuwanderung von Illegalen diskutiert werden sollen. 5. Grenzen der Steuerung und Kontrolle von Migration und unbeabsichtigte Folgen Familienwanderungen gehören quantitativ neben Flucht- und Arbeitsmigrationen zu den mittlerweile bedeutendsten und folgenreichsten Wanderungsströmen in allen Einwanderungsländern. Ihre Bedeutung besteht vor allem darin, daß sie dauerhafte Wanderungsbeziehungen zwischen Herkunfts- und Zielländern herstellen. An diesen Familien- und daraus hervorgehenden Kettenwanderungen kristallisieren sich Netzwerke zwischen Herkunfts- und Einwanderungsregionen und aus ihnen resultieren sog. ‘transnational communities’ oder ‘transnationale soziale Räume’. Studien zu diesen ‘transnationa152 len’ sozialen Strukturen zeigen, daß es an Migration selbst, ihren Netzwerken, Erfordernissen und Gelegenheiten zur Bildung von Organisationen kommt, die politische, rechtliche, gesundheitliche, religiöse, kulturelle sowie ökonomische Leistungen in Form von Geld, Konsum- und Dienstleistungsgütern zur Verfügung stellen und die ihrerseits eine selbsttragende dauerhafte Struktur durch ihre Verankerung in den Herkunfts- und den Zielregionen der MigrantInnen gewinnen können. ‘Transnationalität’ meint daher nicht, daß Nationalstaaten irrelevant werden, sondern daß die Lebensführung von MigrantInnen, aber nicht nur von MigrantInnen sich an Organisationen und Beziehungsnetzwerken ausrichten kann, die aus Migration selbst resultieren, eine gewisse Dauerhaftigkeit gewinnen und auch politisch nicht in den Bezugsrahmen nur eines Nationalstaates eingespannt sind. Familienwanderungen und solche aus ihnen resultierenden und durch sie aufrechterhaltenen Strukturen sind migrationspolitisch für die Versuche nationaler Wohlfahrtsstaaten, Wanderungen unter dem Gesichtspunkt der Aufrechterhaltung der Ungleichheitsschwelle zu kontrollieren und einzuschränken, in dem Sinne relevant, daß hier die Kontrollkapazität des Wohlfahrtsstaates, die im Zusammenhang von Asyl- und Fluchtwanderungen erheblich aufgerüstet worden ist, unter rechtsstaatlichen Bedingungen hinsichtlich der Kontrolle und Beschränkung der Wanderung von Familienmitgliedern an Grenzen stößt, denn international anerkannt ist das Recht auf Zugang zur eigenen (Kern-) Familie. Quantitativ schwer zu bestimmen ist die gleichwohl zu vermutende Zunahme illegaler Zuwanderung in allen reicheren Zuwanderungsregionen. Illegale Migration ist die Rückseite der wohlfahrtsstaatlichen Formen der Wanderungskontrolle. Sie ist einerseits Resultat der jegliche E I N WA N D E R U N G S P O LITI K Unterschiede einebnenden Erhöhung der Migrationsschwellen gegenüber MigrantInnen aus ärmeren Staaten, wie sie in Reaktion auf ansteigende Flucht- und Asylwanderungen in den reicheren Wohlfahrtsstaaten erfolgt ist. Illegale Migration erfolgt in verschiedenen Formen. Sie ist illegal, weil sie trotz fehlender staatlicher Erlaubnis erfolgt, aufenthaltsrechtliche Teilnahmebeschränkungen mißachtet bzw. weil das staatliche Territorium nach Ablauf der Aufenthaltsbewilligung nicht verlassen wird.2 Illegale Zuwanderung macht darüber hinaus sichtbar, wie stark Staaten in die sozialen Teilnahmegelegenheiten und -angebote in gesellschaftlichen Bereichen wie der Ökonomie, der Erziehung oder der Gesundheit und entsprechender Organisationen eingreifen und sie für NichtStaatsbürgerInnen auch da zu verstellen versuchen, wo solche Gelegenheiten durch ihre eigenen StaatsbürgerInnen nicht ergriffen werden (müssen) bzw. auch nicht ergriffen werden können.3 Denn ein Sinn der Kontrolle und des Ausschlusses von MigrantInnen ist die Aufrechterhaltung von sozialstaatlich hergestellten Standards, die das Verhindern des Unterlaufens dieser Standards durch unregulierte Zuwanderung voraussetzen. Dies erzeugt aber gerade unter der Bedingung weltweit gestiegener räumlicher Mobilitätschancen für Individuen, die vielfach auf existierende Wanderungsnetzwerke oder inzwischen weltweit operierende Schlepperorganisationen zurückgreifen können, Teilnahmechancen an Gesellschaft, die auf Illegalität beruhen. Die Lebensführung von illegalen MigrantInnen unterscheidet sich je nach Zuwanderungsland erheblich, abhängig von den jeweiligen staatlichen Migrantenkontrollregimen, von den räumlichen Distanzen, die sie überwinden müssen, und von den Strukturen, an denen illegale Wanderungsnetzwerke entstehen können. Aber das Leben von illegalen MigrantInnen ist kein separiertes Leben, sie leben nicht jenseits staatlich regulierter Organisationen, sondern ihre Teilnahmedomänen werden dem Staat vorenthalten. In verschiedenen Produktionsund insbesondere Dienstleistungsbereichen entstehen Beschäftigungsverhältnisse, an deren Aufrechterhaltung sowohl Organisationen und Privathaushalte, aufgrund niedriger Löhne für hohe Arbeitsleistungen, als auch ein großer Teil der MigrantInnen selbst, aufgrund der aus der Illegalität selbst resultierenden Beschäftigungschancen, interessiert sind. Ihr „Standortvorteil“ auf den für sie relevanten Güter- und Arbeitsmärkten ist Illegalität und damit das Umgehen wohlfahrtsstaatlicher Regulierungen. Die staatliche Ungleichheitsschwelle wird mit ihrer erfolgreich organisierten Mißachtung zu einer Teilnahmechance für MigrantInnen, deren Versuch der Einkommenserzielung sich nicht an den Gleichheits- und Verteilungsstandards der Wohlfahrtsstaaten orientiert, in die sie illegal einwandern. An der wohlfahrtsstaatlichen Ungleichheitsschwelle entsteht als paradoxer Effekt der gesteigerten staatlichen Migrationsabwehr ein Bereich der Zuwanderung, der seine Schubkraft geradezu aus dieser Abwehr als Voraussetzung des wechselseitigen Interesses von Organisationen und Privathaushalten, die Illegale beschäftigen, und den Illegalen selbst zu beziehen scheint. 6. Perspektiven Mit dem Regierungswechsel im Herbst 1998 besteht eine gewisse Aussicht, daß die politische Weigerung anzuerkennen, daß die Bundesrepublik de facto zu einem Einwanderungsland geworden ist, aufgegeben wird. Für die Kinder der Eingewanderten in der 2ten und 3ten Generation sind Rechtsänderungen zu erwarten, die ihre Einbürgerung erleichtern 153 F L U C H T U N D M I G R AT I O N und ausländerrechtliche Ungleichstellungen beenden. Demgegenüber ist es wahrscheinlich, daß gegenüber Flüchtlingen (und auch gegenüber den SpätaussiedlerInnen) eine Politik der Einwanderungskontrolle und -verhinderung fortgesetzt wird. Literatur Anmerkungen Eichenhofer, E. (Hg.): Migration und Illegalität. IMISSchriften Band 7. Osnabrück 1998 1 Zum Beispiel in Deutschland mit der Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes 1993 (das AsylbewerberInnen und Flüchtlinge aus der Sozialhilfe herausnahm und damit deutlich machte, daß ihnen wohlfahrtsstaatliche Leistungen in einem weitergehenden Sinne nicht zustehen), mit den erneuten Leistungseinschränkungen in der Neufassung von 1998 und den jüngsten politischen Ankündigungen weiterer Kürzungen. Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.): Ausländerfeindlichkeit in Deutschland – Wir alle sind gemeint. Sensbachtal 1992 2 Aus politischen Gründen bestehen vielfach Vorbehalte gegen die Markierung dieser Form der Zuwanderung als illegal und es wird Anschluß an die angelsächsische Redeweise von ‘undocumented migrants’ vorgeschlagen. Der Terminus ‘illegale ZuwanderInnen’ indiziert aber eine wesentliche Bedingung der Lebensführung dieser ZuwanderInnen, die man beachten muß: Illegale ZuwanderInnen schließen sich selbst mit dem Versuch, ihre Wanderung staatlich unbeobachtbar zu machen, vom Recht aus – nicht deshalb, weil der Staat ihnen den Zugang dazu verwehrt, sondern weil die Teilnahme am Recht voraussetzt, daß sie als rechtsfähige Adressen identifizierbar sind. Mit einer solchen Identifikation aber würde die Unrechtmäßigkeit ihres Aufenthalts sichtbar und damit reversibel. Illegale Zuwanderung impliziert also über den Versuch hinaus, der staatlichen Beobachtung zu entgehen, den Selbstausschluß vom Rechtssystem. Die sozialen Folgen dieses Sachverhalts für die Lebensführung der Zuwanderer, ihre Abhängigkeit und Beherrschbarkeit durch andere aufgrund ihrer dadurch reduzierten sozialen Konfliktfähigkeit sind evident ( Illegalität) 3 Zum Teil können sie diese Gelegenheiten aufgrund von Sozialleistungsansprüchen ablehnen, z. T. dürfen sie diese Gelegenheiten nicht annehmen, weil sie in ihrem Zuschnitt rechtliche Auflagen wie Sozialversicherungspflichten, Tarifbestimmungen oder Arbeitszeitregelungen mißachten. 154 Bade, K.-J. (Hg.): Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. München 1992 Bade, K.-J. (Hg.): Das Manifest der 60. Deutschland und die Einwanderung. München 1994 Bommes, M./Halfmann, J. (Hg.): Migration in nationalen Wohlfahrtsstaaten. Theoretische und vergleichende Untersuchungen. IMIS-Schriften Band 6. Osnabrück 1998 Nuscheler, F.: Internationale Migration. Flucht und Asyl. Opladen 1995 Opitz, P. J. (Hg.): Der globale Marsch. Flucht und Migration als Weltproblem. München 1997 Prantl, H.: Deutschland. Leicht entflammbar. Ermittlungen gegen die Bonner Politik. München/Wien 1994 Pro Asyl (Hg.): Recht für Flüchtlinge. Ein Leitfaden durch die Praxis des Ausländer- und Asylrechts. Karlsruhe 1996 Pro Asyl (Hg.): Mindestanforderungen an ein neues Asylrecht. Frankfurt 1998. Treibel, A.: Migration in der modernen Gesellschaft. Weinheim und München 1990 UNHCR (Hg.): Die Lage der Flüchtlinge in der Welt. Bonn 1994 Michael Bommes, Albert Scherr A SYL- U N D F LÜ C HTLI N G S P O LITI K I N D E R B R D Asyl- und Flüchtlingspolitik in der Bundesrepublik Der Beitrag skizziert die zentralen Elemente der Asylpolitik. Er beschäftigt sich mit dem Gestaltungsspielraum der Politik auf den unterschiedlichen politischen Ebenen (Europa, Bundesrepublik, Länder, Kommunen). Er zeigt zudem Möglichkeiten für politisches Engagement auf. Vorbemerkung Asylpolitik, so wie sie hier definiert wird, ist geprägt durch die Ausgestaltung in Gesetzen, Verordnungen, Durchführungsbestimmungen und Erlassen, begleitet von Meinungsäußerungen und Willensbekundungen, Parteienbeschlüsse und Gesetzesinitiativen. Daneben ist die Rechtsprechung, insbesondere der Obergerichte zu beachten, sowie die Ausgestaltung der sozialen Rechte und die finanziellen Aufwendungen der öffentlichen Hände für Flüchtlinge inklusive der Betreuungsaufgaben. Asylpolitik ist auch immer Politik eines Nationalstaates, denn unbestritten liegt es in dessen Ausgestaltungsrecht, wer das Land betreten darf, wer und wie Asyl erhält und welche sozialen Rechte er genießt. Die Asylpolitik der Bundesrepublik nahm ihren Anfang in den Beratungen des Parlamentarischen Rates, als dessen Ergebnis der alte Artikel 16 „politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ im Grundgesetz verankert wurde. Die Genfer Flüchtlingskonvention1 und die Europäische Menschenrechtskonvention2 bilden den völkerrechtlichen Rahmen für die Asylund Schutzgewährung, ausgestaltet durch das Ausländergesetz3 und das Asylverfahrensgesetz4. 1. Die Asylpolitik der Europäischen Union (EU) Seit Beginn der Achtziger Jahre werden nationale Entwicklungen auch durch eine stärkere Ausrichtung auf die EU bestimmt5. Unter dem Stichwort „Europäische Harmonisierung des Asylrechtes“ sind europaweit Kriterien eingeführt worden, z. B. die Drittstaatenregelung, die es für Flüchtlinge zunehmend schwieriger machen, in einem EU-Land Aufnahme und Schutz zu finden. Die Vereinheitlichung der Visapraxis, Datenaustausch und das gemeinsame Ziel der Sicherung der EU-Außengrenzen haben diese Entwicklung nachhaltig geprägt. Im Europäischen Kontext ist die ‘Festung Europa’ seit langem erklärtes politisches Ziel, aber die Geschwindigkeit, mit der dieses passiert, ist bedenkenswert. Unter der Überschrift ‘Europäische Harmonisierung’ hat vor allem die vormalige Bundesregierung versucht, Standards im Asylbereich festzulegen. Schon bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene der Verträge von Schengen6 und Dublin7, wo die Frage geklärt werden sollte, welcher Staat für die Durchführung der Asylverfahren zuständig sei, kam es zu einer folgenschweren Fehleinschätzung seitens der Bundesregierung. Die Vertreter des Bundesministerium des Innern (BMI) hatten sich mit Nachdruck dafür eingesetzt, daß u.a. das europäische Land zuständig für die Durchführung eines Asylverfahren sein sollte, in das der Flüchtling ‘zuerst seinen Fuß hineinsetzt’. Dies wird vor dem Umstand verständlich, daß zum Zeitpunkt der Verhandlungen im Osten der BRD die Mauer als Asylgrenze funktionierte. Mit dem ‘Fall’ der Mauer fiel auch zugleich der ‘Schutzwall’ gegen die Flüchtlinge. Dies wurde dann zum entscheidenden Faktor für die dann vehement geforderte Grundgesetzänderung ( Schengener und Dubliner Abkommen). Auf der europäischen Ebene hat sich 155 F L U C H T U N D M I G R AT I O N aber noch mehr getan: Neben einer Vereinheitlichung der Visumspraxis in Europa, der Einführung von Asylkriterien wie ‘safe countries’, gemeint sind damit Herkunftsländer in denen nach Überzeugung des Gesetzgebers keine Menschenrechtsverletzungen vorkommen (in Deutschland sind das z. B. Bulgarien, Rumänien, Polen, Slowakische Republik, Tschechische Republik, Ungarn und Ghana8) oder das ‘one chance only’ Prinzip, gemeint ist damit, daß nur noch in einem Staat ein Asylverfahren durchgeführt werden kann, dessen Ergebnis auch in den übrigen europäischen Staaten gilt – trotz unterschiedlicher Asylkriterien und Anerkennungspraktiken – ist es nunmehr auch der Versuch, eine Vereinheitlichung der Kriterien für ‘offensichtlich unbegründete’ Asylverfahren europaweit einzuführen. Auch hier mit dem Ziel, möglichst viele Flüchtlinge möglichst schnell legal abschieben zu können. Begleitet werden diese Maßnahmen von einem europäischen Datenaustausch, der es ermöglicht, in kurzer Zeit herauszufinden, ob bereits in einem anderen Mitgliedstaat der EU ein erfolgloses Asylverfahren durchgeführt wurde. Bei all diesen Bemühungen stehen nicht die Fluchtursachen, nicht das Verfolgungsschicksal im Mittelpunkt der Überlegungen, sondern entscheidend werden fehlende Visa, die ersten Gebietskontakte und damit der Fluchtweg. Derzeit spielen Fragen des ‘temporary protection’9 und des ‘responsibility sharings’ eine größere Rolle als die Vereinheitlichung des materiellen Asylrechtes – also der Frage wer? erhält wann? Asyl. Bemerkenswert an der EU-Diskussion ist die Tatsache, daß kein Land Flüchtlinge ernsthaft aufnehmen möchte. Dafür spricht die zügige Einigung bei der Angleichung der Visapraxis. Für StaatsbürgerInnen aus mehr als 140 Ländern gilt der Visumszwang EU-weit und die Verhinderung von ‘illegaler Zuwanderung’ 156 gilt ebenfalls als vordringliches gemeinsames Ziel. Daß mit dieser ‘illegalen Zuwanderung’ zum größten Teil Flüchtlinge gemeint sind, ergibt sich aus den Zugangszahlen für 1998 in Deutschland. Allein über 60 % der zumeist illegal eingereisten Asylantragsteller kamen allein aus den Krisengebieten Jugoslawien, Afghanistan, Irak und Türkei. Ob hier der Asylrechtsschutz oder eine andere Form des Schutzes (der subsidiäre Schutz z. B. aufgrund der EMRK) der geeignete ist, mag dahingestellt bleiben. Tatsache bleibt, daß die umgesetzten Normen, einhergehend mit dem Sinken der absoluten Zugangszahlen in der EU zu einer Verdrängung der Flüchtlinge – deren Zahlen weltweit keineswegs abnehmen – in die ärmeren Länder der Welt bedeuten. Damit wird der individuelle Schutzgedanke des Asylrechts in seiner Wirkung verkehrt, da gleichzeitig die Fluchtursachenbekämpfung nur marginal stattfindet. Wo liegt dann das gemeinsame Interesse an der Lösung z. B. der Frage des responsibility sharing, also der gemeinsamen Verantwortung und des Ausgleiches der Belastungen (‘burden sharing’)? War bis vor drei Jahren noch Deutschland dasjenige Land, in dem ca. 60 % aller EU-weiten Asylanträge gestellt wurden, haben die Drittstaatenregelung sowie vermehrte Grenzkontrollen eine Verdrängung in andere EU-Staaten bewirkt. 1998 waren es nur noch 32 % aller Asylanträge, die in Deutschland gestellt wurden und somit drängt jetzt nicht nurmehr Deutschland auf Klärung der o. a. Fragen sondern auch die Länder, deren Zugangszahlen seitdem erheblich angestiegen sind. Lösungen, die sich an der Hilfebedürftigkeit von Flüchtlingen orientieren, stehen dagegen nicht auf der Tagesordnung. Vereinfacht gesagt, jedes Land versucht so wenige Flüchtlinge wie möglich aufzunehmen und die Aufwendungen für sie auf ein Minimum zu beschränken ( Asylbewerberleistungsgesetz). A SYL- U N D F LÜ C HTLI N G S P O LITI K I N D E R B R D Mit rechtsstaatlich verabschiedeten Normen wird versucht, eine unsichtbare Mauer um die EU zu legen. Mit Hilfe von Gesetzen und Verordnungen wird die legale Einreise erschwert. Dies wird zunehmend begleitet durch eine Öffentlichkeitsarbeit, aus der die Bevölkerung nur den einen Schluß ziehen kann, daß eine Bedrohung durch Flüchtlinge erfolge und diese daher abgewehrt werden müssen. Politisch gesehen haben wir es mit dem Widerstreit der Rechte des Individuums – des Flüchtlings – und den ihn schützenden Menschenrechten und Konventionen mit dem Recht des Nationalstaates zu tun, der Einreise, Asylrecht, Verfahren und aufenthaltsbeendende Maßnahmen regelt. Leere öffentliche Kassen haben hier die Entscheidung maßgeblich zu Ungunsten des Individualschutzes beeinflußt. 2. Die Asylpolitik auf Bundesebene Ein Blick in die Koalitionsvereinbarungen vom 20.10.1998 offenbart, daß auch von der Rot/Grünen Bundesregierung in Fragen der Flüchtlings- und Asylpolitik enttäuschend wenig zu erwarten ist. Unter dem Stichwort EU sind dort folgende Vorhaben aufgelistet: „Wir setzen uns in der EU zur Stärkung der Inneren Sicherheit und zur Gewährleistung der Bürgerrechte folgende Ziele: Harmonisierung der Asyl-, Flüchtlingsund Migrationspolitik (Schwerpunkte: Bekämpfung illegaler Einwanderung – insbesondere Schleuserkriminalität -, gerechte Lastenverteilung unter Berücksichtigung der Kommissionsvorschläge, nachhaltige Bekämpfung der Fluchtursachen.“ (Abschnitt IX. Sicherheit für alle – Bürgerrechte stärken, Punkt 6. EU-Initiativen). Auch hier wird – wie bei der alten Bundesregierung – das Hauptaugenmerk auf die Abschottung nach außen gesetzt, weniger auf Fragen, wie bedrohte Flüchtlinge denn das Asylland Deutschland überhaupt erreichen können. In Abschnitt IX. (Sicherheit für alle – Bürgerrechte stärken, Punkt 7. Integration) heißt es weiter: „Wir setzen uns mit Nachdruck für eine gemeinsame europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik ein, die die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention beachtet. Ziel der gemeinschaftsrechtlichen Regelung muß eine ausgewogene Verantwortungs- und Lastenverteilung sein. Während der deutschen Ratspräsidentschaft werden wir vorschlagen, die Kompetenz für alle Fragen der Flüchtlings- und Migrationspolitik bei einem Mitglied der Europäischen Kommission zu bündeln. Die bisherige Anwendung des Ausländergesetzes hat in einer geringen Zahl von Einzelfällen zu Ergebnissen geführt, die auch vom Gesetzgeber nicht gewollt waren. Wir werden künftig alle gesetzlichen und administrativen Möglichkeiten (§§ 32, 54, 30 Abs. 4 AuslG und die darauf bezogenen Verwaltungsvorschriften) nutzen, in solchen Fällen zu helfen. Sollte sich das geltende Recht als zu eng erweisen, werden wir eine Änderung des § 30 Abs. 2 AuslG ins Auge fassen. Die Dauer der Abschiebungshaft und des Flughafenverfahrens werden im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes überprüft. Wir wollen gemeinsam mit den Ländern eine einmalige Altfallregelung erreichen. Wir werden die Verwaltungsvorschriften mit dem Ziel der Beachtung geschlechtsspezifischer Verfolgungsgründe überarbeiten.“ Der Eindruck beim Lesen der wenigen Zeilen drängt sich auf, daß es nicht um eine Abkehr von der auf Abwehr und Abschreckung gerichteten Politik der Bundesrepublik geht. Für diejenigen, die mit Flüchtlingen arbeiten sei aber gesagt: Sicherlich ist die Situation nicht aussichtslos, denn sowohl Innenministerium als auch Justizministerium sowie das Amt der 157 F L U C H T U N D M I G R AT I O N Ausländerbeauftragten der Bundesregierung sind wesentlich gesprächsbereiter und offener in Asyl- und Flüchtlingsfragen als zuvor. Auch wird die Zukunft zeigen, ob der neue Außenminister die Berichte des Auswärtigen Amtes, die eine wesentliche Grundlage zur Beurteilung der Lage in den Herkunftsländern darstellt, den Anforderungen eines fairen Asylverfahrens anpassen kann. 3. Rückschau Bevor einige Kernbereiche der Flüchtlings- und Asylpolitik näher beleuchtet werden, zuerst eine kurze Rückschau: Gehen wir zurück zum 6. Dezember 1992, dem Tag, an dem der sog. Parteienkompromiß zur Asylfrage der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Was ist dort als Maßnahmenpaket verabredet worden? – Die Grundgesetzänderung des Art. 16; 2; 2 – Eine eigenständige Regelung für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge außerhalb der Asylverfahren. – Ein eigenes Leistungsgesetz für Asylbewerber, ein seit vielen Jahren immer wieder gefordertes Sondergesetz, das die Sozialhilfe für Flüchtlinge in Sachleistungen und auf niedrigerem Niveau als für Deutsche festschreiben sollte. – Eine Altfallregelung, um die über 700.000 Asylverfahren die sich bei Bundesamt und Verwaltungsgerichten angesammelt hatten, zügig zu bearbeiten. – Eine konzeptionelle Gesamtlösung für die Zuwanderung Was davon ist nun seit dem 26. Mai 1993, dem Tag der Grundrechtsänderung im Deutschen Bundestag umgesetzt worden? – Art. 16 a Grundgesetz, der mit seiner Drittstaatenregelung und dem Prinzip der sicheren Herkunftsländer den individuellen Rechtsschutz von Flüchtlingen nahezu aushebelt und die Stan158 dards des internationalen Rechtsschutzes für Flüchtlinge nachhaltig verschlechtert hat – Die Regelungen im AuslG und AsylVfG, die einen – zeitlich begrenzten – Sonderstatus für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge ermöglichen; neben den inhaltlichen Kritikpunkten ist vor allem zu bemängeln, daß diese Regelung noch in keinem Fall Anwendung gefunden hat, auch nicht bei den Flüchtlingen mit der größten Akzeptanz im Bundesgebiet, den bosnischen Kriegsflüchtlingen. – Das Asylbewerberleistungsgesetz – Eine erste, bereits im August 1993 in wesentlichen Teilen beendete Altfallregelung und eine weitere Regelung aus dem März 1996, die vor dem 1.1.1987 eingereiste Alleinstehende und vor dem Stichtag 1.7.1990 eingereiste Familien mit mindestens einem minderjährigen Kind umfaßte.10 Der wichtigste Punkt des Parteienkompromisses zur Asylfrage, die konzeptionelle Gesamtlösung, ist gar nicht erst auf den parlamentarischen Weg gebracht worden. Wie zu erkennen ist, fehlt es zumindest am politischen Willen, konzeptionelle Überlegungen zur Zuwanderungsthematik, die sich an den Bedürfnissen der ZuwanderInnen orientieren, in Gesetzeskraft zu gießen. Aber vergessen wir nicht: die Bundesrepublik definiert sich erst sehr zögerlich als ein Land, in das Zuwanderung stattgefunden hat und stattfindet und baut dementsprechend sowohl Barrieren auf, um Zuwanderung zu verhindern, als auch Verfahrenswege, um Abschiebungen zu erleichtern. Verfahrenshürden werden durch fehlende Verfahrensberatung zu Fallstricken. Gemeinschaftsverpflegung, Sachleistungen und Gemeinschaftsunterkünfte verhindern solidarische Hilfen und Rechtsanwälte können nicht mehr bezahlt werden. Die prognostizierte und eingetretene A SYL- U N D F LÜ C HTLI N G S P O LITI K I N D E R B R D starke Zunahme von Menschen ohne jeden Aufenthaltsstatus führt aber keineswegs zu Überlegungen in Richtung Hilfestellungen, sondern zu einem Diskurs über Kriminalität und Innere Sicherheit, mit dem Ziel, die Abschiebungen rechtlich noch mehr zu erleichtern und die Unterstützung von Menschen ohne Aufenthaltsrecht unter Strafe zu stellen. Dies ist dann im sog. Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28.10.1994 auf den Weg gebracht worden. Ein Blick nach Italien verdeutlicht hingegen, daß auch unpopuläre Lösungen möglich sind. So hat das Italienische Parlament beschlossen, unter bestimmten Bedingungen etwa 200.000 ‘Illegale’ zu legalisieren. Solche Überlegungen gab und gibt es auch in Spanien und Schweden, nicht aber in der Bundesrepublik. 1997 war das europäische Jahr gegen Rassismus. Unter der Federführung des Bundesinnenministeriums wurden viele Aktionen, Veranstaltungen und Projekte, die diesem Ziel dienten, mit vielen Mio. Euro gefördert. Aber auch vier einschneidende Verschärfungen wurden von der Bundesregierung gerade in dem Jahr durchgesetzt. 1. Im Januar hatte der Bundesinnenminister durch Änderung der Durchführungsverordnung zum Ausländergesetz (DVAuslG) den Visumszwang auch für unter 16-jährige aus der Türkei, Tunesien, Jugoslawien und Marokko eingeführt, die, als Angehörige ehemaliger Anwerbestaaten, von der allgemeinen Visumspflicht befreit waren. Um damit die Einreise von ca. 2000 jährlich einreisenden unbegleiteten Flüchtlingen, vor allem aus der Türkei, zu verhindern, wurde etwa eine halbe Million hier lebender Kinder und Jugendlicher visumspflichtig gemacht. 2. Im Juni wurde ein für alle ab dem 15. Mai 1997 eingereisten Asylantragsteller ein generelles Arbeitsverbot verhängt. 3. Zum 1. Juni wurde das Asylbewerberleistungsgesetz auch auf Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge ausgedehnt sowie die eingeschränkten Leistungen bis zum Juni 2000 festgelegt.. 4. Mit Wirkung des 1. Novembers wurden die Ausweisungsbestimmungen im Ausländergesetz verschärft. 4. Die Regelungen der Bundesebene 4.1 Einreise und Drittstaatenregelung Der Paß ist einmal von Bertold Brecht als der edelste Teil des Menschen bezeichnet worden. Für die Einreise von Flüchtlingen jedenfalls hat er eine wichtige Funktion. Ohne ihn und ohne ein darin enthaltenes Visum ist ein offizieller Grenzübertritt und damit eine legale Einreise ins Bundesgebiet nicht möglich. Die entsprechenden Regelungen sind im Ausländergesetz (AuslG) und im Asylverfahrensgesetz (Asyl VfG) eingeführt. Die Liste der Staaten, deren Staatsangehörige ein Visum benötigen gibt es nicht, wohl aber eine sogenannte Positivliste, die die Staaten mit visumsfreien Einreisen auflistet. Ein Asylantrag kann nur auf dem Boden der Bundesrepublik gestellt werden, nicht etwa in einer deutschen Botschaft oder einem Konsulat. Aus diesem Grunde kommt es für Flüchtlinge wesentlich darauf an, faktisch einreisen zu können. Bedingt durch die ‘Drittstaatenregelung’ ist eine Einreise auf dem Landweg theoretisch unmöglich geworden, da jeder Flüchtling direkt bei der versuchten Einreise an der Grenze zurückgewiesen werden kann, weil er einen Asylantrag im ‘sicheren Drittland’ – eben dem Land, durch das er gerade gereist ist – hätte stellen können/müssen. Wird ein Flüchtling bei dem Versuch, die Grenze zur Bundesrepublik zu überschreiten oder kurz danach im grenznahen Bereich von der Grenzbehörde aufgegriffen, passiert folgendes: Der Flüchtling wird erkennungsdienstlich behandelt und umgehend in 159 F L U C H T U N D M I G R AT I O N den Nachbarstaat zurückgeschoben. Seit der Grundgesetzänderung kommt hier die sogenannte Drittstaatenregelung des Grundgesetzartikel 16 a Abs. 2 zur Anwendung, die besagt, daß sich derjenige nicht auf das Asylrecht berufen kann, der „aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist.“ In § 18 AsylVfG erhält die Grenzbehörde die Befugnis zur Einreiseverweigerung, wenn die Einreise über einen sicheren Drittstaat erfolgt. Hierbei erhält der Flüchtling keine juristische Möglichkeit, die vom Gesetz vermutete Sicherheit überprüfen zu lassen und zu widerlegen. Beruft sich der Flüchtling dagegen nicht auf den Asylrechtsschutz, so ist das fehlende Visum Anlaß für den Tatbestand der illegalen Einreise, der ebenfalls zur sofortigen Zurückweisung führt. Auch die theoretische Chance eines dagegen eingelegten Rechtsbehelfs verhindert die sofortige Zurückschiebung nicht11. In der Praxis kommen aber pro Monat ca. achttausend Flüchtlinge heimlich über die Landesgrenzen in die Bundesrepublik und beantragen die Anerkennung als politische Flüchtlinge. Dies hat einerseits dazu geführt, daß sich sowohl die Grenzkontrollen erheblich verschärft haben12 und die Nachbarstaaten der Bundesrepublik ihrerseits verstärkte Kontrollen an ihren Außengrenzen – insbesondere nach Osten hin – durchführen. Andererseits vertrauen sich Flüchtlinge immer häufiger Fluchthilfeorganisationen, sogenannten Schleppern an, um unbemerkt vom Bundesgrenzschutz (BGS), der sie zurückweisen würde, die Grenze zu überschreiten. Der ehemalige Bundesinnenminister gab in seinem Asylerfahrungsbericht 1994 vom 20. Juni 1995 die Zahl der Zurückweisungen/ 160 Zurückschiebungen an den Außengrenzen mit 146.845 Personen an. Dem standen nur 1927 direkt an der Grenze gestellte Asylanträge gegenüber.13 Deren Zurückweisung war lediglich aufgrund einer völkerrechtlichen Verpflichtung der Bundesrepublik z. B. durch Visumserteilung unterblieben. Für die Flüchtlinge, denen die Einreise gelingt, gilt dann, daß der Reiseweg für die Behörden im Inland oft nicht mehr nachvollziehbar ist. Dies ermöglicht die Durchführung von Asylverfahren. Aus Sicht des Bundesinnenministeriums lag und liegt hierin das Praxisdefizit der Drittstaatenregelung. Aus der Sicht der Flüchtlingsinitiativen und Menschenrechtsorganisationen liegt gerade in diesem Praxisdefizit die einzige Chance für Flüchtlinge auf Durchführung eines Asylverfahrens in der Bundesrepublik14. Anders ist die Situation, wenn Flüchtlinge die Grenze heimlich überschreiten und die Behörden erst im Inland auf sie aufmerksam werden. Hierbei besteht für die Behörden das Problem, bei einer geplanten Zurückschiebung dem Drittstaat glaubhaft zu machen, daß die Einreise über ihn erfolgt ist. Dies führt zu vielen bürokratischen Schwierigkeiten, da die meisten Rückübernahmeabkommen15 vorschreiben, daß, wenn mehr als eine Woche Aufenthalt seit der Grenzüberschreitung vergangen ist, ein bürokratisches Verfahren gegenüber dem Drittstaat eingeleitet werden muß, in dem die Zuständigkeit des Drittstaates z. B. anhand von Geld, Fahrkarten, Stempeleintragungen u. ä. begründet wird, die auf die Einreise über eben diesen Drittstaat schließen lassen. Zur Drittstaatenregelung gab es, und auch das soll hier erwähnt werden, nicht wenige Stimmen, die die Verfassungsmässigkeit der Vorschrift bezweifelten. Wie sicher ist denn der als sicher unterstellte Drittstaat für den betreffenden Flüchtling? Und muß nicht dem Flüchtling Ge- A SYL- U N D F LÜ C HTLI N G S P O LITI K I N D E R B R D legenheit gegeben werden, diese gesetzliche Vermutung der Sicherheit zu widerlegen? Anwaltliche Vertretung sowie Kontakte zu Beratungsstellen hatten dazu geführt, daß in einigen Fällen Verfassungsbeschwerden gegen die sofortige Zurückschiebung eingelegt wurden. Das Bundesverfassungsgericht hatte vor seinen Entscheidungen vom 14.5.1996 in mehreren Eilverfahren die Einreise trotz der Drittstaatenregelung zugelassen, da z. B. das tschechische Asylverfahren die Klausel beinhaltet, daß ein Asylverfahren nur bei der Ersteinreise, nicht aber nach einer Zurückweisung/Zurückschiebung oder Abschiebung durchgeführt wird. Denn, würde von der tschechischen Republik ihrerseits eine Abschiebung durchgeführt, wäre der von der Genfer Flüchtlingskonvention verbotene Tatbestand der Kettenabschiebung (‘Non-Refoulment-Gebot’) gegeben. Der gleiche Vorbehalt gilt für Griechenland. Griechenland praktiziert ebenfalls eine Drittstaatenregelung, die aber den vollständigen Ausschluß von Asylverfahren zur Folge hat. So wird z. B. iranischen Flüchtlingen, die über die Türkei nach Griechenland eingereist sind, kein formelles Asylverfahren ermöglicht, sondern statt dessen die Abschiebung in die Türkei durchgeführt. Eine Zurückschiebung iranischer Flüchtlinge nach Griechenland würde deshalb eine verbotene Kettenabschiebung bedeuten, da die weitere Abschiebung in die Türkei und von dort zurück in den Iran zu befürchten ist. Kettenabschiebungen sind auch noch auf Grund eines weiteren Tatbestandes zu befürchten: Nicht nur die Bundesrepublik hat mit allen Anrainerstaaten Rückübernahmeabkommen abgeschlossen, sondern auch alle Nachbarstaaten haben ebenfalls Übernahmeabkommen mit wiederum ihren Nachbarstaaten ausgehandelt. Dies verschiebt die Asylgrenzen weiter nach Osten. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Bewertung der Dritt- staatenregelung durch das alte Bundesinnenministerium: „Die Drittstaatenregelung ist einer der Eckpunkte der Asylrechtsreform. Sie hat – allein schon durch ihre Existenz – maßgeblich zu dem Rückgang der Asylbegehrenden im 2. Halbjahr 1993 beigetragen.“ ...und trägt immer noch dazu bei. Mit den Entscheidungen zum Asylrecht hat am 14. Mai 1996 das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) festgestellt, daß sowohl die Drittstaatenregelung als auch die Liste der sicheren Herkunftsländer verfassungskonform sind. Seitdem überprüft niemand mehr, ob die als sicher geltenden Drittstaaten tatsächlich sicher sind. Es gibt zwar Rechercheberichte von Journalisten, es gibt Einzelfallschilderungen, die die Sicherheit bezweifeln – dies gilt aber nur für die jeweiligen Einzelfälle und revidiert nicht den Grundsatz der Anwendung der Drittstaatenregelung. Dies wurde folgerichtig von PRO ASYL als die „Verwässerung eines Grundrechtes“ bezeichnet, bei dem der Einzelfall nicht mehr zählt. Bei der Beurteilung der möglichen Verbesserungen durch die neue Bundesregierung darf nicht vergessen werden, daß diese Regelungen mit Stimmen großer Teile der SPD verabschiedet wurden. Noch schwieriger ist die Situation für Frauen auf der Flucht. Weltweit sind die meisten Flüchtlinge Frauen und Kinder – sie sind die am ehesten und stärksten von Kriegen, Bürgerkriegen, Krisen und Naturkatastrophen Betroffenen. Sie sind zudem zweifacher Verfolgung ausgesetzt. Auf der einen Seite stehen alle Verfolgungsmaßnahmen, die auch Männer z. B. wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder ihrer Religion treffen können, zum anderen werden sie auch als Frau, als Ziel frauenspezifischer, sexueller Verfolgung bedroht. Die Bedingungen im Fluchtland Deutschland sind dagegen nicht geeignet, 161 F L U C H T U N D M I G R AT I O N hierauf adäquat zu reagieren. Frauenspezifische Asylgründe werden grundsätzlich nicht anerkannt, obwohl die flüchtlingspolitische Forderung nach Anerkennung von frauenspezifischen Fluchtgründen in den Asylverfahren und/oder Berücksichtigung dieser als Abschiebungshindernis von allen Initiativen, Menschenrechtsorganisationen und auch vom UNHCR erhoben worden ist und nun auch in den Koalitionsvereinbarungen vom 20.10.1998 erwähnt ist. Das Asylverfahren wird überwiegend von männlichen Dolmetschern, Asylentscheidern und Richtern bestimmt. Die psychosoziale Versorgung ist in der Bundesrepublik – mit Ausnahme weniger Städte – mangelhaft. Therapiezentren für traumatisierte und/oder vergewaltigte Frauen fehlen. Ist ein geeigneter, regulärer Therapieplatz gefunden, gibt es meist keine Kostenübernahmebereitschaft durch die öffentliche Hand. 4.2 Das Flughafenverfahren nach § 18 a AsylVfG Nicht erst seit der spektakulären Zurückschiebung der 7 sudanesischen Flüchtlinge vom Frankfurter Flughafen im September 1995 steht das Flughafenverfahren gemäß § 18 a des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) in der Kritik. Das Flughafenverfahren wird nur durchgeführt, wenn – der Flüchtling aus einem als sicher bezeichneten Herkunftsland16 kommt – und/oder bei fehlenden oder verfälschten Papieren. Entweder wird die Einreise gestattet und eine Weiterleitung erfolgt in eine Aufnahmeeinrichtung oder eine Zurückschiebung wird durchgeführt. Bei Einreise auf dem Luftwege (in den Flughäfen Frankfurt, Berlin, München, Hannover, Düsseldorf und Stuttgart) gibt es auf dem Flughafengelände ‘exterrito162 riale’ Lager (§ 18 a AsylVfG i.V.m. § 74 a AuslG) für die Flüchtlinge, die entweder aus einem sogenannten ‘sicheren’ Herkunftsland kommen oder deren Reisedokumente fehlen oder ge- oder verfälscht sind. Der Begriff exterritorial ist vielleicht ein wenig irreführend, er erklärt aber am einfachsten den Sachverhalt, daß diese Flüchtlinge in der Einrichtung als noch nicht eingereist gelten. Für sie gelten dann Sonderregelungen (§ 18 a AsylVfG i. V. m. § 74 a AuslG ). Bei ihnen wird im Schnellverfahren über Asylantrag/Einreise entschieden. Es ist eine Verweildauer von längstens drei Wochen in diesen Flughafenlagern vorgesehen, die aber in Einzelfällen immer wieder überschritten wird. An diese Fristen sind allerdings nicht nur Flüchtlinge, sondern auch das Bundesamt und die Verwaltungsgerichte gebunden. So muß z.B. das Bundesamt die Entscheidung innerhalb von 48 Stunden fällen, anderenfalls ist dem Flüchtling die Einreise zu gestatten. Der Flüchtling wiederum hat bei Ablehnung seines Asylantrages eine Rechtsmittelfrist für einen begründeten Eilantrag an das Verwaltungsgericht von 72 Stunden. Erst das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinem Urteil vom 14.5.1996 zur Flughafenregelung klargestellt, daß noch eine weitere Frist zur Begründung der Klageschrift von vier Tagen gewährt werden muß. Wenn Rechtsmittel Aussicht auf Erfolg haben sollen, kann dies nur bei Akteneinsicht gewährleistet werden. Daß diese extrem kurzen Fristen die Arbeit der Rechtsbeistände erschweren, ist naheliegend, und ein effektiver Rechtsschutz ist nur noch unter schwierigsten Bedingungen zu gewährleisten. Da es in der Bundesrepublik in Asylverfahren keine obligatorische Rechtsberatung gibt und Prozeßkostenhilfe17 nur bei Aussicht auf Erfolg gewährt wird, kommt den wenigen im Flughafengelände tätigen A SYL- U N D F LÜ C HTLI N G S P O LITI K I N D E R B R D AnwältInnen eine große Bedeutung zu. Hier hat ebenfalls das BVerfG auf die Notwendigkeit der Verfahrensinformation hingewiesen. Der Einsatz von engagierten AnwältInnen hat jedenfalls dazu geführt, daß nur wenigen Flüchtlingen die Einreise verweigert wurde18. Da auch Minderjährige aufgrund einer Anweisung des ehemaligen Bundesinnenministers in das sog. Flughafenverfahren aufgenommen werden, kommt es zu den unterschiedlichsten Problemen ( Flughafenverfahren). Zum einen wird die Altersbestimmung durch Handwurzelknochenröntgenuntersuchungen vorgenommen, deren Einsatz umstritten ist, da es sich einerseits um eine Zwangsuntersuchung handelt, und andererseits deren Genauigkeit nur Rückschlüsse auf das Alter mit einer Abweichung von plus/minus zwei Jahren ermöglicht ( Altersfeststellung).19 Daneben kommt es zu sozialen Härtefällen, wie z. B. dem eines 2-jährigen Flüchtlingskindes aus Afghanistan, in dessen Fall vom befragenden BGS-Beamten zu Protokoll gegeben wurde: „Das Kind ist nicht in der Lage, auf die Fragen zu antworten.“ 20 4.3 Asylverfahren und Entscheidungspraxis beim Bundesamt Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge bildet die Verwaltungsebene im Asylverfahren. Es klärt den Sachverhalt und entscheidet, ob ein Asylverfahren durchgeführt wird. Das ist die sogenannte Beachtlichkeitsprüfung. Hierbei ist entscheidend, ob bereits in einem anderen Land ‘Sicherheit vor Verfolgung’ gefunden wurde oder ob die Einreise über einen ‘sicheren Drittstaat’ erfolgt ist. In diesen Fällen wird kein Asylverfahren durchgeführt, und der Flüchtling wird sofort aufgefordert, die Bundesrepublik zu verlassen. Wenn Rechtsmittel dagegen Erfolg haben oder wenn die Beachtlich- keitsprüfung positiv ausgeht, kommt es zu einem regulären Asylverfahren. Durch eine Anhörung des Flüchtlings klärt das Bundesamt, ob Asylgründe und Abschiebungshindernisse vorliegen, und entscheidet dann über den Asylantrag. Nach dem geltenden Asylverfahrensrecht entscheidet das Bundesamt: 1. über die Asylanerkennung nach Art. 16 a GG. 2. Über das sogenannte kleine Asyl, den Abschiebungsschutz gemäß der Genfer Konvention und 3. über die nicht-asyl-relevanten Abschiebungshindernisse nach § 5321 des Ausländergesetzes. Darüber hinaus kommt dem Bundesamt die Aufgabe zu, bei Nicht-Anerkennungen nach Art. 16 a GG eine Abschiebungsandrohung22 und im Falle der Einreise aus einem ‘sicheren Drittstaat’ eine Abschiebungsanordnung23 zu erlassen. Bei Entscheidungen über einen Asylantrag hat das Bundesamt drei Möglichkeiten: 1. Es kann den Flüchtling anerkennen. 2. Es kann den Asylantrag als ‘unbegründet’ ablehnen, und 3. es kann den Asylantrag als ‘offensichtlich unbegründet’ (o. u.) ablehnen. Im Rahmen der vorgesehenen mündlichen Anhörung ist dem Flüchtling Gelegenheit zu geben, zu seinen Asylgründen und seit der Asylrechtsreform von 1992 auch zu seinen Abschiebungshindernissen Stellung zu beziehen. Dieser Anhörung kommt im Asylverfahren eine besondere Bedeutung zu, da die Bundesamtsbefragung die ‘Sachaufklärungsebene’ im Asylverfahren darstellt. Später nachgereichte Gründe können unberücksichtigt bleiben. Aus dem Grunde fordern die Flüchtlingsorganisationen seit langem eine Verfahrensberatung gerade auch vor der ersten Anhörung, um Flüchtlingen das komplizierte Verfahren sowie ihre Rechte und Pflichten zu erläutern. In einigen Bundes163 F L U C H T U N D M I G R AT I O N ländern, z. B. Niedersachsen, gibt es Verfahrensinformationszentren, entstanden nach einem Modell des UNHCR, die bei den Zentralen Ausländerbehörden bzw. den Außenstellen des Bundesamtes angesiedelt sind. In diesen Beratungsstellen, die staatlich finanziert sind, wobei aber Wohlfahrtsverbände Anstellungsträger sind, arbeiten hauptamtliche SozialarbeiterInnen und DolmetscherInnen zusammen mit Ehrenamtlichen, die die Erstinformation für Flüchtlinge durchführen. Materialien, Videos, Broschüren und Handzettel über den Ablauf der Asylverfahren, über Rechte und Pflichten der Beteiligten sind in den Sprachen der Hauptherkunftsländer vorrätig. Die in allen eingerichteten Zentren erfahrene anfängliche Skepsis von Seiten der Verwaltung wich im Laufe der Zeit einer Kooperation, von der sowohl die Verwaltung – nach eigenem Bekunden – als auch die Flüchtlinge profitierten.24 Verfahrensberatung setzt im günstigsten Fall vor dem Asylverfahren an und begleitet Flüchtlinge während der gesamten Dauer des Verfahrens. Die Erfahrung zeigt aber, daß aufgrund fehlender Beratungsstellen in den Außenstellen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFl) die Verfahrensberatung häufig erst nach Ablehnung des Asylantrages vorgenommen wird. Dies kann die Chancen auf Anerkennung des Asylantrages wesentlich beeinflussen. Einhergehend mit der Gefahr, direkt an der Grenze zurückgewiesen zu werden, nimmt die Zahl derjenigen Flüchtlinge zu, die keine Chance auf ein faires Asylverfahren mehr sehen und als ‘heimliche Menschen’, ohne einen ausländerrechtlichen Status zu überleben versuchen ( Illegalität). Die oft unzureichende Entscheidungs- und Spruchpraxis von Bundesamt und Verwaltungsgerichten erzeugt ebenfalls ‘heimliche Menschen’. Die Fluchtgründe haben sich nicht geändert, 164 viele Flüchtlinge können nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren, sie ‘tauchen unter’, wie es verwaltungstechnisch heißt. Sie werden per Haftbefehl gesucht und wenden sich vermehrt an die Beratungsstellen. Verallgemeinern lassen sich die Erfahrungen in bezug auf die Qualität von Anhörungen und Entscheidungen nicht, dazu gibt es zu viele Unterschiede. UNHCR, amnesty international und PRO ASYL rügen aber seit der Asylrechtsnovelle immer wieder die Anhörungspraxis bzw. die Befragungspraxis des Bundesamtes. So sollte durch die Frage nach der ‘Wahrscheinlichkeit eines Lottogewinnes in der Bundesrepublik’ in der Anhörung eines der sieben oben angesprochenen Sudanesen festgestellt werden, ob er in seinem Heimatland Mathematikstudent sei. Fragen z. B. nach einem fehlenden Ehering stehen stärker im Vordergrund als die asylrelevante Aufklärung der Einlassungen der Betroffenen z. B. in bezug auf ihre Folterspuren. Mit einer solchen Sachaufklärung korrespondiert dann auch die Entscheidungspraxis des Bundesamtes. Der UNHCR stellt ebenso wie amnesty international fest, daß die rechtliche Würdigung der Verfolgungsschicksale vom Bundesamt nur unvollständig geschieht.25 Summarisch läßt sich feststellen, daß in vielen Fällen dem Amtsermittlungsgrundsatz26 nicht entsprochen wird, daß die Sachaufklärung unzureichend ist und daß die Bewertungen der Asylanträge oft juristisch fehlerhaft und/oder ungenau ausfallen. In vielen Bundesamtsentscheidungen sowie der Rechtsprechung gibt es noch weitere Problembereiche. Weder die Anerkennung nach Artikel 16 a GG noch die Zuerkennung von Abschiebungshindernissen gemäß § 51 Abs. 1 AuslG, das sogenannte kleine Asyl gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention, wird bei der sogenannten nichtstaatlichen Verfolgung ge- A SYL- U N D F LÜ C HTLI N G S P O LITI K I N D E R B R D währt. So wird Flüchtlingen aus Ländern, in denen keine Staatsgewalt zu verzeichnen ist, so z. B. Afghanistan und Somalia, diese Rechtsstellung generell verweigert. Lediglich eine ausländerrechtliche Duldung auf der Basis des § 53 AuslG kann erteilt werden. UNHCR und die gesamte Flüchtlingslobby fordern hier politische Korrekturen. Die geringen, derzeit bei ca. 4 % liegenden Anerkennungsquoten des BAFl,27 geben also nur bedingt Auskunft über die Schutzbedürftigkeit von Flüchtlingen. Die nichtöffentlichen Lageberichte des Auswärtigen Amtes spielen sowohl bei der Einschätzung der politischen Lage in den Herkunftsländern als auch bei der Frage einer möglichen Rückkehrgefährdung eine bedeutende Rolle. Hier bleibt abzuwarten, ob die Berichte zur Menschenrechtslage in Zukunft detaillierter und wirklichkeitsnäher ausfallen werden. Leider ist zu konstatieren, daß eine auf Akzeptanz zielende Öffentlichkeitsarbeit immer noch vergeblich auf Bundesebene zu suchen ist. 4.4 Die Aufenthaltsbeendigung Wenn Flüchtlinge in den Asylverfahren unanfechtbar erfolglos bleiben, droht, schon aus der Systematik des Ausländergesetzes, die Abschiebung. Die Kompetenzen für die Aussetzung einer Abschiebung liegen einmal – zwar eingeschränkt (s. u.) – auf der kommunalen Ebene bei der Ausländerbehörde, bei Entscheidungen, die eine bestimmte Nationalität oder Gruppe betreffen, aber auf Bundesebene28. Hier werden in der Innenministerkonferenz der Länder bundesweit geltende Abschiebungsstopps vereinbart, auch können, wie bei bosnischen Kriegsflüchtlingen, Staffelungen für die Abschiebungstermine vorgenommen werden. Das Bundesinnenministerium ist frei in der Gestaltung dieser Abschiebungsstopps, aber da politische Rücksichtnah- men auf die Bundesländer und eine Zurückhaltung bei der Zusicherung der Kostenübernahme zu verzeichnen ist, werden bundesweit geltende Abschiebungsstopps nur sehr selten erlassen. Das bedeutet, daß eine Abschiebung lediglich „vor Ort“ verhindert werden kann. Die eng gefaßten Vorschriften des allgemeinen Ausländerrechts ermöglichen kaum einen Spielraum, wenn es um humanitäre Gründe für ein weiteres Verbleiben im Bundesgebiet geht29. Hier ist die Politik gefordert, Nachbesserungen im Ausländerrecht vorzunehmen. Vor dem Hintergrund der innenpolitischen Debatte erscheint dies aber leider eher unwahrscheinlich. Eine Ausnahme bilden die sogenannten Altfallregelungen. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels ist eine in den Koalitionsvereinbarungen verabredete Altfallregelung in der Planung, deren genaue Ausgestaltung aber noch nicht bekannt ist. Entscheidend wird die Zahl der davon Begünstigten sein. Von der Altfallregelung, die im März 1996 verabschiedet wurde, sind lediglich 7.800 Personen begünstigt worden. Eine Größenordnung, die mehr als 50.000 Flüchtlinge umfassen würde, ist wohl nicht zu erwarten. Natürlich hat es auch in der Vergangenheit nicht nachvollziehbare Urteile, Beschlüsse, Entscheidungen und Abschiebungsverfügungen gegeben. Ich verweise an dieser Stelle auf ein Zitat vom Landesanwalt Dr. Synschab eine Ausweisung betreffend: „Es verletzt auch nicht die Menschenwürde, wenn jemand beim Eintritt ungewisser Ereignisse im Heimatland, inhaftiert, mißhandelt oder gar getötet wird.“ Inhaftierungen, Mißhandlungen und Tötungen mögen an sich die Menschenwürde verletzen, sind aber nicht der Behörde zuzurechnen, die die Abschiebung veranlaßt hat.“ 30 Auf die vielen Erfahrungen mit man165 F L U C H T U N D M I G R AT I O N gelnden Abschiebungsschutzmöglichkeiten, die Flüchtlinge und die sie Unterstützenden machen, die, gerade wenn es um Aufenthaltssicherung geht, immer wieder bei der Verwaltung und den Verwaltungsgerichten scheitern, sei an dieser Stelle ausdrücklich hingewiesen. Inwieweit Flüchtlinge und MigrantInnen im öffentlichen Diskurs stehen, belegt das folgende Beispiel. Im Nachgang zu den Protesten wegen der Inhaftierung des Kurdenführers Öçalan in der Türkei erklärte Bundesinnenminister Schily, es werde harte Strafen und notfalls die Ausweisung von gewalttätigen KurdInnen geben. Sie würden den Krieg von der Türkei in die Bundesrepublik tragen und könnten daher den Schutz des Gastlandes nicht länger in Anspruch nehmen. Unberücksichtigt bleibt, daß gerade diese Menschen, zumeist Angehörige der 2. und 3. Generation der ‘Eingewanderten’, keine verschiebbare Masse darstellen, die man je nach Wohlverhalten oder Bedarf hierbehalten oder ausweisen kann; sie sind ein fester Bestandteil der Bevölkerung. Die permanente Verletzung der Menschenrechte in der Türkei, seit Jahren öffentlich geleugnet oder zumindest heruntergespielt, der angedrohte Genozid am kurdischen Volk mit Hilfe Deutscher Waffen, deren Einsatz gegen die KurdInnen stets heftig bestritten wurde, lassen nur den Schluß zu, Abschiebungen von KurdInnen in die Türkei sind unzulässig und müssen daher untersagt werden. Die bisherige Praxis der Verwaltung und der Verwaltungsgerichte hatte aber schon mit dem Rechtskonstrukt der vorgeblichen inländischen Fluchtalternative in der Westtürkei Abschiebungen möglich gemacht. 5. Asylpolitik auf Landesebene Bedingt durch die rechtlichen Vorgaben der Bundesebene sind die Gestaltungsmöglichkeiten auf Landesebene wesent166 lich geringer aber keineswegs unerheblich. Verantwortlichkeiten lassen sich in folgenden Bereichen feststellen: – Festlegung des Verteilungsschlüssels für die Unterbringung in den Gemeinden – Festlegung der Erstattungsbeträge für kommunale Sozialhilfekosten – Festlegung der Betreuungsgelder – Einrichtung und Unterhaltung der Landesaufnahmeeinrichtungen – Umfang der Finanzierung von nichtstaatlichen Flüchtlingsorganisationen – Einrichtung und Unterhalt von Abschiebungshaftanstalten – Einrichtung von Härtefallkommissionen – Interpretation und Präzisieren der bundesweit geltenden Gesetze und Erlasse durch Ländererlasse in den Bereichen Aufenthaltsverfestigung, Aufenthaltsbeendigung, Art und Hilfe der Leistungsgewährung sowie einzelner Themenprojekte – Einflußnahme auf Bundesregelungen durch die Beteiligung an der Innenministerkonferenz der Länder sowie über die Arbeit im Bundesrat Die Positionen zum Thema Flüchtlinge und die Bereitschaft, finanzielle Aufwendungen über die Pflichtleistungen hinaus zu gewähren sind abhängig von den jeweiligen Mehrheitsverhältnisse in den Landesregierungen. Daraus resultiert auch eine kontroverse Haltung bei den Verhandlungen in der Innenministerkonferenz und im Bundesrat. Am Beispiel Art und Hilfe der Leistungsgewährung lassen sich Unterschiede der Landespolitik besonders gut verdeutlichen. In den Koalitionsvereinbarungen von SPD und Bündnis90/Die Grünen in NRW 1995 wird den Kommunen freigestellt, trotz des Sachleistungsprinzipes Barleistungen an Flüchtlinge zu tätigen. Damit wird den Kommunen ein Ermessensspielraum gewährt, der in den meisten Bundesländern fehlt. A SYL- U N D F LÜ C HTLI N G S P O LITI K I N D E R B R D Eine besondere Bedeutung hat die Landesebene auch bei den Abschiebungen. Zwar hat die Landesebene keine – über sechs Monate hinausgehende31 – Befugnis, die Abschiebung von Flüchtlingen aus bestimmten Staaten oder besonderen Gruppen auszusetzen, dafür ist der Spielraum für Lösungen in Einzelfällen aber beträchtlich ( Härtefallkommission). So ist in einem Erlaß des Innenministeriums NRW auf einen Beschluß des OVG Münster hingewiesen worden, nach dem ein hier geborenes Kind und seine Mutter zumindest einen Anspruch auf eine sechsmonatige Duldung haben. Desweiteren ist in einem Erlaß auch geregelt, daß unter bestimmten Bedingungen gleichgeschlechtliche Beziehungen einen Abschiebungsschutz haben. Oft sind es nur Nuancen, die die Unterschiede in den Ländern ausmachen, die aber in der Arbeit mit Flüchtlingen eine große Rolle spielen. Auch auf Landesebene ist es bedeutsam, ob die Politik sich des Themas behutsam annimmt oder der Ministerialverwaltung überläßt. Wesentliche Impulse gehen hier – leider – fast ausschließlich von Bündnis 90/Die Grünen aus. Ein Blick nach Niedersachsen verdeutlicht, daß mit dem Ausscheiden von Bündnis 90/Die Grünen die Finanzierung für die Flüchtlingssozialarbeit erheblich reduziert wurde und das Innenministerium die Kooperationswilligkeit, mit der Flüchtlingslobby gemeinsam für adäquate Lösungen zu arbeiten, deutlich verringert hat. Auch werden die Möglichkeiten positiver Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Flüchtlinge zu wenig bis gar nicht genutzt. Statt dessen wird von Vollzugsdefiziten unverzüglich notwendig gewordener Abschiebungen, von Mißbrauch und Kriminalität gesprochen. Eine gezielte Aufklärung der Bevölkerung findet nicht statt. 6. Asylpolitik in der Kommune Die politische Ebene der Kommune ist das Kommunalparlament. Die Entscheidungskompetenz des Stadtrates oder des Kreistages liegt im Wesentlichen bei den Fragen der Unterbringung und der Sozialhilfepraxis. Da die Arbeit der kommunalen Ausländerbehörden nicht im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung liegt, ist sie Auftragsverwaltung und setzt die Bundes- und Landesvorgaben mit nur eingeschränktem Handlungsspielraum um. Daraus resultiert ein sensibles Wechselspiel zwischen Politik, der Verwaltung und der Flüchtlingsarbeit in Initiativen und Verbänden. Die Gestaltungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene sind: – Aufwendungen für die Betreuung – Initiativen im Städtetag und zur Landesregierung – Finanzierung der freien Träger und Initiativen – Kooperation mit den freien Trägern und Initiativen – Medizinische Versorgung – Öffentlichkeitsarbeit – Sozialhilfepraxis – Unterbringung Geringe öffentliche Mittel und der meist niedrige Stellenwert des Themas Flüchtlinge innerhalb der Kommunalpolitik sind eine wesentliche Ursache für die vielfach katastrophalen Bedingungen z. B. in der Unterbringung. Gerade Unterbringung, Betreuung und die Sozialhilfepraxis liegen im Kernbereich der Regelungskompetenz der Kommunen, aber nur wenige Städte machen sich den Sachverstand und die Kompetenz der nichtstaatlichen Flüchtlingsorganisationen zu Nutze, in dem sie sie mit in die kommunale Planung einbeziehen. Aus diesem Grunde divergiert auch die Sozialhilfepraxis von der Gemeinschaftsverpflegung über Gutscheinpraxis bis hin zur vollständigen Leistungsgewährung in bar. Auch gibt es Kommunen, die in Fragen der Abschiebungs167 F L U C H T U N D M I G R AT I O N praxis den Ausländerbehörden den Dialog mit den Initiativen nahelegen oder durch Ratskommissionen oder „runde Tische“ erzeugen. Die kommunale Ebene ist hierfür aus dem Grunde besonders geeignet, weil es um konkret anwesende Menschen und ihre Schicksale geht, und dadurch oft bessere Überzeugungsarbeit möglich wird. Die kommunalen Ausländerbeiräte und der Grad ihrer Einbindung in kommunalpolitische Entscheidungsabläufe sind ebenfalls entscheidende Faktoren die helfen, das Thema Flüchtlinge positiv zu besetzen und machbare Lösungen herbeizuführen. 7. Schlußbemerkung Die Politik der Einreiseverhinderung, der Abschottung, ergänzt durch die Abschrekkung, praktiziert vor allem durch das Asylbewerberleistungsgesetz nach dem Prinzip, den Aufenthalt so unangenehm wie möglich zu gestalten – koste es, was es wolle – und die Praxis der immer rigider durchgeführten Abschiebungen, benötigt zwei Komponenten, um umgesetzt werden zu können: Die ‘Schüblinge’, wie sie im Amtsdeutsch heißen, müssen diskriminiert, diskreditiert und kriminalisiert werden und man benötigt Abschiebungshaftanstalten.32 Flüchtlinge, die in Lagern konzentriert werden, erfahren keine Solidarität mehr. Es sei daran erinnert, daß bei dezentraler Unterbringung von Flüchtlingen, die die Flüchtlingsbewegung stets gefordert hat, Flüchtlinge zu Nachbarn werden. Wenn dann Flüchtlinge abgeschoben werden sollen, sind diese Maßnahmen oftmals am beherzten Widerstand von FreundInnen und Nachbarn gescheitert. Aber wer geht schon einmal ganz spontan in ein Flüchtlingslager, das zudem auch noch Stacheldrahtumzäunung und eine Eingangskontrolle vorweisen kann. 168 Aus der langjährigen Erfahrung in der Flüchtlingsarbeit, auch in der Vernetzung mit anderen Initiativen, Gruppen, Vereinen etc. lassen sich deutlich übereinstimmend erfahrene Problemzonen benennen:33 1. Flüchtlinge haben keine Lobby (Stichworte: Multikultur, Einwanderung, Doppelte Staatsbürgerschaft, Bleiberecht unterhöhlt Asylkompromiß).34 2. Niemand bekämpft nachhaltig Fluchtursachen (BosnierInnen; Roma; KurdInnen). 3. Flüchtlingsarbeit und unabhängige Beratungsstellen werden kaum finanziert. 4. Verfahrens-, Entscheidungs- und Anerkennungspraxis in den Asylverfahren werden den Flüchtlingen nicht gerecht.35 5. Durch restriktive Rechtsprechung einhergehend mit der Einengung des Art. 16 a GG. haben nur noch wenige Flüchtlinge Aussicht auf Asylanerkennung. Die Anerkennungsquoten spiegeln daher nur die enge Auslegung, nicht aber die tatsächlich erlittene Verfolgung wider. 6. Strukturelle Gewalt gegen Flüchtlinge und MigrantInnen ist im administrativen Sprachgebrauch z. B. in den Mitteilungen des nordrhein-westfälischen Städte- und Gemeindebundes vom 20.10.199036 sowie bundesweit im Ausländergesetz, im Asylverfahrensgesetz, im Asylbewerberleistungsgesetz, bei der Unterbringung und in der Sozialleistungspraxis anzutreffen. Ebenso ist rassistisch geprägtes Wortgut auch bei Behörden37 vorzufinden. 7. Die Sündenbockfunktion der wirtschaftlich Schwachen und damit die Entsolidarisierung einzelner Gruppen wie Sozialhilfeberechtigten, Arbeitslosen etc. wird gefördert. Die Flüchtlingsschicksale, und die von mir geschilderten rechtlich/politischen Bedingungen, stellen die Unterstützungsbe- A SYL- U N D F LÜ C HTLI N G S P O LITI K I N D E R B R D wegung vor neue Herausforderungen. Kirchenasyl muß, trotz der heftigen Kritik, ein Mittel des zivilen Ungehorsams bleiben, und wenn, wie beschrieben, geltendes Recht für Flüchtlinge gegenstandslos wird, haben wir erst recht die Verpflichtung zum Widerspruch und zum Widerstand. Wir haben aber somit auch eine moralische Verpflichtung zum Handeln. Die Angst vor Konsequenzen darf für unseren friedlichen Widerstand kein Hindernis sein. Und wir werden weiterhin für Gleichberechtigung und die Einhaltung der Menschenrechte eintreten mit der unerschöpflichen Kraft der Liebe. Anmerkungen 1 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention) vom 28. Juli 1951 (BGBl. II 1953, S. 559, Bekanntmachung vom 28.4. 1954, BGBl. II, S. 619; mit dem Zusatzprotokoll vom 31.1. 1967, in Kraft getreten am 5.11. 1969 (BGBl. II S. 1293). 2 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4. November 1950, verkündet mit Gesetz vom 7. August 1952 (BGBl. II, S. 685). 3 Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet (Ausländergesetz ) vom 9. Juli 1990 (BGBl. I, S. 1354) in der Fassung vom 29. Oktober 1997 (BGBl. I, S. 2584). 4 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) vom 27. Juni 1993 (BGBl. I, S. 1361) geändert durch Gesetz vom 29.10.1997 (BGBl. I; S. 2584). 5 In diesen Ausführungen bleibt die detaillierte Entwicklung der Asylpolitik bis zur Asylrechtsreform des Jahres 1993 aus Platzgründen unberücksichtigt. Vgl. hierzu: Ursula Münch „Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland“, Opladen 1992. 6 In den Art. 28 bis 38 des Schengener Durchführungs Übereinkommens (SDÜ) ist detailliert geregelt, welches Land unter welchen Bedingungen zuständig für die Durchführung eines Asylverfahrens ist. In der Bundesrepublik hierfür zuständig ist das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. Dort wurde eine Koordinierungsstelle ‘Schengen-Dublin/Internationale Auf- gaben (KSD/IA)’ eingerichtet. Die Aufgaben der KSD/IA sind: Stellung von Übernahmeersuchen an andere Vertragsstaaten. Die Entscheidung über Übernahmeersuchen anderer Vertragsstaaten. Und die Regelung der Verfahren im Zusammenhang mit der Überstellung von Asylbewerbern. Das BAFl macht dies bei Vorliegen folgender Voraussetzungen: Der Asylantrag kann binnen 2 Wochen als offensichtlich unbegründet entschieden werden oder der Asylantrag wird als unbeachtlich gemäß § 29 AsylVfG eingestuft, oder die Einreise erfolgte über einen sicheren Drittstaat, der kein Schengen Staat ist und die Rückführung in Dritt- oder Heimatstaat kann zügig erfolgen. 7 ‘Dubliner Abkommen’, das im Juni 1990 von allen EG-Staaten unterzeichnet wurde, kann als Ergänzung zum ‘Schengener Abkommen’ angesehen werden und heißt im Volltext: ‘Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft gestellten Asylantrags.’ Damit ist bereits im Titel das Ziel des Abkommens genannt. Das ‘Dubliner Abkommen’ regelt, welcher EG-Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Hierbei sind zwei Kriterien festgeschrieben: Zum einen ist der Staat zuständig, dessen Boden als erstes von dem neu ankommenden Flüchtling betreten wird. Zum anderen der Staat, der dem Flüchtling ein Visum ausgestellt oder ihm eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt hat. Zu bedenken ist hierbei, daß die Auslandsvertretungen die Visaerteilung bei Flüchtlingen äusserst restriktiv handhaben und die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen die absolute Ausnahme darstellen. Die Zuständigkeit für die Bearbeitung von Asylanträgen ist vor allem für die Bundesrepublik Deutschland von erheblicher Bedeutung. 8 Vgl. § 29 a AsylVfG sowie Anlage II (zu § 29 a). 9 Gemeint ist damit die vorübergehende Aufnahme bei Massenflucht z. B. in einer Kriegs- oder Bürgerkriegssituation. Am Beispiel des Umgangs mit bosnischen Flüchtlingen läßt sich hervorragend aufzeigen, daß die Bundesrepublik im Einklang mit der EU immer stärker auf diese vorübergehende Aufnahme von Flüchtlingen hinarbeitet. Dies bedeutet, daß jeder aufenthaltsperspektivische Ansatz für Flüchtlinge äußerst schwierig ist. Die zuständigen EU-Minister sind sich einig, daß nach einer gewissen Zeit – z. B. nach einem Friedensabkommen – Flüchtlinge wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren müssen. Dies erlaubt keine Lebensplanung, die ständig drohenden Abschiebun- 169 F L U C H T U N D M I G R AT I O N gen macht auch die psycho-soziale Versorgung fast unmöglich. Somit müssen in jedem Einzelfall individuelle Lösungen erarbeitet, d. h. beantragt und gegebenenfalls juristisch erstritten werden. Dadurch erhalten Fragen, insbesondere nach einer Weiterwanderung eine neue Aktualität – und das bei abnehmender Bereitschaft der klassischen Einwanderungsländer, Flüchtlinge in ihre Einwanderungsprogramme aufzunehmen. 10 Beide Regelungen haben schon rein zahlenmäßig keine Entlastung gebracht. Weniger als 10.000 Flüchtlinge sind nach Angaben des LMI NRW – Auskunft von MR Engel gegenüber der Härtefallkommission am 14.1.1999 – von diesen Regelungen begünstigt worden. Eine weitere – einmalige Altfallregelung ist im Koalitionsvertrag angekündigt und wird voraussichtlich ebensowenig den Forderungen der Flüchtlingslobby nach Würdigung von humanitären Bleiberechtsregelungen entsprechen. 11 Theoretisch deshalb, weil selten ein Flüchtling die Landgrenze im Beisein eines Rechtsbeistandes mit Mobilfax überschreitet, um einen notwendigen Stoppantrag, eine einstweilige Anordnung, an das zuständige Verwaltungsgericht abzusenden. 12 Hier sind vor allem die Personalerhöhung des Bundesgrenzschutzes (BGS) entlang der Ostgrenzen, der Einsatz von Hundestaffeln und Nachtsichtgeräten sowie die Mitwirkung der Bevölkerung bemerkenswert, die den Behörden beim ‘Stellen’ der ‘Illegalen Zuwanderer’ behilflich ist. 13 Asylerfahrungsbericht 1994. 14 Wie weit diese unterschiedlichen Positionen auseinanderliegen, läßt sich am BMI Asylerfahrungsbericht 94 ablesen, in dem der Innenminister auf einen Ratgeber von PRO ASYL hinweist, daß dort den Beratern nahe gelegt wird, Flüchtlingen klarzumachen, daß das Preisgeben ihres Reiseweges den Ausschluß vom Verfahren und möglicherweise die sofortige Zurückschiebung zur Folge haben könnte. Asylerfahrungsbericht 1994. 15 In den Rückübernahmeabkommen verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten gegenüber der Bundesrepublik Deutschland, diejenigen Flüchtlinge, die über den jeweiligen Staat nach Deutschland eingereist sind, für deren Asylantrag sich die Bundesrepublik aber nicht zuständig erklärt, zurückzunehmen und ihrerseits ein Verfahren durchzuführen. Eine zweite Form der Rückübernahmeabkommen bezieht sich auf Angehörige des Vertragspartners der Bundesrepublik. Die Abkommen mit der Bundesrepublik Jugoslawien und mit Bos- 170 nien sind aktuell sehr bedeutsam, da mit dem Funktionieren zügige Rückführungen (gemeint sind Abschiebungen) möglich sind. Als Gegenleistung hat sich die Bundesrepublik z. B. bei dem Abkommen mit Polen verpflichtet, diesem Staat eine vertraglich ausgehandelte Summe zu zahlen. Mit Hilfe dieser Rückübernahmeabkommen sollen sowohl die Lücke in den Grenzen nach Osteuropa geschlossen werden, die durch die Vereinigung und den Wegfall der innerdeutschen Grenze entstanden ist als auch sogenannte Verzugsdefizite bei den Abschiebungen abgebaut werden. 16 Vgl. Anlage II zu § 29 a AsylVfG, die sog. safe countries. 17 Prozeßkostenhilfe gibt es nicht beim Verwaltungsverfahren beim Bundesamt. Beim Verwaltungsgerichtsverfahren gibt es sie nur bei Mittellosigkeit und der oben erwähnten Aussicht auf Erfolg. Die Praxis z. B. am Frankfurter Flughafen belegt, daß ohne Fremdfinanzierung keine anwaltliche Hilfe zu erreichen ist, da Flüchtlingen mit der Ablehnung vom Bundesamt nur der Hinweis auf einen öffentlichen Fernsprecher und eine Liste aller Anwälte (Asylanwälte nicht gesondert gekennzeichnet) in Frankfurt ausgehändigt wird. Dies geschieht, um vordergründig der Rechtswegegarantie des Grundgesetzes (Artikel 19.4.) zu genügen. 18 Vgl.: Bericht des Bundesministerium des Innern zur Fortschreibung des Asyl-Erfahrungsberichts 1993 – Asyl-Erfahrungsbericht 1994, S. 23. Von 5.402 Asylgesuchen auf Flughäfen sind 377 Zurückweisungen zu verzeichnen und davon 191 Fälle nach § 18 a AsylVfG. 19 Für bundesweites Aufsehen sorgten mehrere Fälle in Bremen, in denen junge Westafrikaner zwangsweise geröntgt wurden, um über das Knochenwachstum ihr Alter bestimmen zu können. Zwei junge Männer sind in Bremen vor Gericht von dem Vorwurf der ‘vorsätzlichen mittelbaren Falschbeurkundung’ freigesprochen worden. Über diese Fälle des Zwangsröntgens wurde in Fernsehreportagen Anfang Oktober 1995 berichtet. Vgl. hierzu auch den Artikel „Röntgen-Streit in der Klinik“. In: taz Bremen vom 27. September 1995. 20 Kurzdokumentation unbegleitete minderjährige Flüchtlingskinder am Frankfurter Flughafen, Januar bis Juni 1995. Vorgelegt vom Frankfurter Flughafensozialdienst. 27.7.1995. Fall Nr.: 11. 21 § 53 AuslG regelt Abschiebungsschutz bei Gefahr von Folter oder Todesstrafe sowie bei Auslieferung. Die ‘Europäische Menschenrechtskonvention’ (EMRK) ist ebenfalls Prüfnorm nach diesem Paragraphen. A SYL- U N D F LÜ C HTLI N G S P O LITI K I N D E R B R D 22 Die Abschiebungsandrohung gemäß § 34 AsylVfG setzt die §§ 49 ff AuslG asylrechtlich um. Erst seit dem 1.7.1992 ist dies Aufgabe des Bundesamtes. Es handelt sich hierbei um eine Ordnungsverfügung, im Detail um eine Ausreiseaufforderung. Sie ist mit der Drohung verbunden, im Falle der nicht freiwilligen Ausreise die Ausreiseverpflichtung auf dem „Wege des unmittelbaren Zwanges“ durch die Abschiebung durchzusetzen. In der Abschiebungsandrohung soll der Staat angegeben werden, in den die Abschiebung erfolgen soll. 23 Die Abschiebungsanordnung nach § 34 a AsylVfG kann im Gegensatz zur Abschiebungsandrohung nicht mit Eilanträgen an das Verwaltungsgericht (§§ 80.5 oder 123 VwGO) angefochten werden. 24 Vgl.: Rundbrief des Niedersächsischen Flüchtlingsrates Nr. 30/95, Göttingen 1995. 25 Vgl.: PRO ASYL: Hefte zum ‘Tag des Flüchtlings’ 1994, 1996 und 1998 und: PRO ASYL: Vor der Tür des Gesetzes. Der Streit um die Zurückschiebung sudanesischer Flüchtlinge. Dokumentation eines Einzelfalles. Frankfurt/Main Oktober 1995, und: Gaus, G. et al. (Hg.): Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 11 ‘95. Blätter Verlagsgesellschaft, Bonn 1995, S. 1348 ff. 26 Vgl. § 24 VwVfG. 27 Dazuzurechnen sind noch einmal 2 % Anerkennungen gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention sowie die Anerkennungen durch die Verwaltungsgerichte, insgesamt etwa 25 – 30 %. 28 Vgl. hierzu: Volker Maria Hügel, Flüchtlinge beraten – ein Orientierungskurs mit Schulungsmaterialien im Ausländerrecht, Teil I und Teil II, GGUA Münster 1998. 29 vgl. hierzu: PRO ASYL, Mindestanforderungen an ein neues Asylrecht. Mai 1998. 30 Zitiert nach: Büro für notwendige Einmischungen (Hg.) Anleitung zum politischen Ungehorsam, S. 352 ff, Hamburg 1993. 31 Vgl. § 54 AuslG. 32 Hügel, V. M.: In einem Vortrag auf der Tagung ‘Europäisierung der Asylpolitik’ im Dezember 1995 in der Evangelischen Akademie in Mülheim. „Den Ausländerbehörden wird durch die fast regelmäßige Verhängung von Abschiebungshaft der Zugriff auf Flüchtlinge erheblich erleichtert. Es kommt hierbei zu einem Konflikt zwischen dem Anspruch der Bundesrepublik, Flüchtlinge, die kein Asyl erhalten haben, abschieben zu wollen, und dem hohen Rechtsgut der persönlichen Freiheit der Flüchtlinge. Leider verhängen die zuständigen Amtsrichter – die mit dem asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren nicht befaßt sind – Abschiebungshaft im Eiltempo.“ Fehlende Rechtsbeistände der Flüchtlinge bei den Terminen vor den Haftrichtern und fehlende Richtlinien für die Verhängung von Abschiebungshaft kennzeichen die schwierige Situation der Flüchtlinge und derjenigen, die sich für sie einsetzen. Ein weiterer Einschnitt in das Persönlichkeitsrecht von Flüchtlingen besteht in zahlreichen Problemen der Ausgestaltung der Haftanstalten und in der Praxis des Haftalltags. So wird z. B. der Zugang zu den Hafthäusern durch die JVA-Verwaltungen sehr beschränkt. Ein Besuch ist nur möglich, wenn der Name eines inhaftierten Flüchtlings genannt wird. Die Besuchszeit ist auf 1 Stunde im Monat beschränkt. 33 Die nachfolgende Aufzählung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie soll lediglich ein paar Schlaglichter auf die Diskussionen werfen, die in den meisten Flüchtlingsinitiativen geführt werden. 34 Die damalige positive Akzeptanz und Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung gegenüber bosnischen Kriegsflüchtlingen darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die übrigen Flüchtlinge kaum Unterstützung erfahren und keine Lobby haben. Wellen von Hilfsbereitschaft hat es mehrere in der Vergangenheit gegeben. Sie sind in ihrer Wirkung a) sehr kurzzeitig und b) haben nicht zu einem grundsätzlichen Umdenken geführt. Diese reinen humanitären Hilfsaktionen sind zwar wichtig, dürfen aber nicht anstelle von anderen, ebenfalls wichtigen und notwendigen politischen Aktionen durchgeführt werden. 35 Vgl. hierzu die Veröffentlichungen vom ökumenischen Vorbereitungsauschuß sowie von PRO ASYL anläßlich der Woche des ausländischen Mitbürgers und zum Tag des Flüchtlings 1988 bis 1998. 36 Dort heißt es: „Die Landesregierung appelliert an die Städte und Gemeinden, soweit irgend möglich, in den von ihnen betriebenen Unterkünften zur Unterbringung von Asylbewerbern und De-FactoFlüchtlingen ebenfalls für einen „abschreckenden“ Effekt durch die Art der Unterbringung zu sorgen.“ (Hervorhebung im Original). 37 Vgl. hierzu Ralph Giordanos Ausführungen zum, wie er es nennt „Verlust der humanen Orientierung“ in: Die zweite Schuld; Berlin 1990, Seiten 29 ff Volker Maria Hügel 171 F L U C H T U N D M I G R AT I O N Härtefallkommissionen In dem folgenden Beitrag werden Möglichkeiten der Abschiebungsverhinderung am Beispiel der Härtefallkommission des Landes NRW und des ‚Trialogmodells’ auf kommunaler Ebene aufgezeigt. Die bisherige Arbeit der Härtefallkommission NRW wird daraufhin untersucht, ob sie geeignete Möglichkeiten zur Abschiebungsverhinderung finden konnte oder ob sie letztlich zur Legitimation von Abschiebungen unter einer rot/grünen Landesregierung beitrug. Es kann dabei zumeist nicht explizit auf Kinderflüchtlinge eingegangen werden. 1. Entstehung und Arbeitsweise der Härtefallkommission in NRW Nach den Landtagswahlen 1995 in Nordrhein-Westfalen wurde eine rot/grüne Landesregierung gebildet. Im Rahmen der Koalitionsverhandlungen und späteren Vereinbarungen wurde die Einrichtung einer Härtefallkommission (HFK) verabredet. Fragen über Kompetenzen, Zusammensetzung und Arbeitsweise wurden im Jahre 1995 geklärt. Mit der konstituierenden Sitzung im Februar 1996 begann die Kommission mit der Arbeit. Die HFK ist ein behördenunabhängiges Beratungsgremium, das mit einer eigenen Geschäftsstelle beim Innenministerium angesiedelt ist. Es setzt sich aus acht stimmberechtigten Mitgliedern zusammen: 1. Vertreter des Landesinnenministeriums, gleichzeitig Vorsitzender der HFK 2. Vertreter des MAGS (Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales – seit der Ministerienneuordnung das Sozialministerium) 3. Vertreter der katholischen Kirche 4. Vertreter der evangelischen Kirche 5. Vertreterin der Liga der Wohlfahrtsverbände 6. Vertreterin von AGISRA 7. Vertreter/in von PRO ASYL 8. Vertreter vom Flüchtlingsrat NRW Inhaltlich behandelt die HFK nur An172 träge von Menschen, denen aufenthaltsbeendende Maßnahmen drohen. Sie kann keine Weisungen erteilen, sondern sie gibt Empfehlungen an die zuständige Ausländerbehörde. Darüber hinaus kann sie auch bei grundsätzlichen Problemstellungen oder Fragen Empfehlungen und/oder Stellungnahmen an den Innenminister abgeben, die z. B. auf einen Abschiebestopp für ein bestimmtes Herkunftsland abzielen. Erfahrungen mit einer Härtefallkommission gibt es außerhalb von NRW bereits seit sieben Jahren in Berlin. Dort arbeitet eine HFK, die allerdings nach der Auffassung des Berliner Flüchtlingsrates demokratischen Spielregeln nicht entspricht, denn der Innensenator hat das Recht, sich eine sog. Vorprüfung vorzubehalten. Dennoch erschien auch in Berlin die Möglichkeit, eine Überprüfung von Härtefällen mit Hilfe von Fachleuten aus der Flüchtlingsbewegung vornehmen zu lassen, eine Chance zu beinhalten. Die Verfahrenskriterien für die HFK in NRW wurden vom Innenministerium im Auftrag der rot/grünen Landesregierung entwickelt. Im folgenden wird anhand des Weges, den ein Antrag nimmt, gleichzeitig auf Verfahrensmängel hingewiesen. Sobald ein Antrag bei der Geschäftsstelle der HFK eingeht, ist die erste Aufgabe der Geschäftsstelle, entweder die zuständige Ausländerbehörde per Fax, Brief oder Telefon zu benachrichtigen und sie zu bitten von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen solange abzusehen, bis eine Empfehlung der HFK ergangen ist. Das ist insofern von Bedeutung, da Anträge an die HFK keine ‘aufschiebende Wirkung’ haben. Gemeint ist damit, daß ein Antrag an die HFK keinen ‘Rechtsbehelf’ darstellt und es daher eines Erlasses des Innenministers bedurfte, der die Bitte an die Ausländerbehörden enthielt, bis zur Entscheidung der HFK abzuwarten. Dennoch liegt die Kompetenz über die Abschiebung bei der zuständigen H Ä R T E FA L L K O M M I S S I O N E N Ausländerbehörde. (Von den 86 Ausländerbehörden in NRW hält sich die überwiegende Mehrzahl an diese Bitte.) Als folgender Schritt wird der Antrag an die HFK der zuständigen Ausländerbehörde zur Kenntnis gegeben. Diese ist dann verpflichtet, gegenüber der HFK eine Stellungnahme abzugeben und erst wenn die Stellungnahme bei der HFK eingetroffen ist, wird die gesamte Akte den Kommissionsmitgliedern zur Verfügung gestellt, so daß sie ca. eine Woche vor jeder Sitzung den kompletten Aktenvorgang vorliegen haben, über den dann in der Sitzung beraten wird. Die Beratungen, die alle zwei Wochen stattfinden und in denen jeweils ca. 15-20 Anträge behandelt werden, sind im wesentlichen davon geprägt, inwieweit die Anträge über die maßgeblichen Härtefallkriterien Aufschluß geben. Selbstverständlich stellt jede Abschiebung für die Betroffenen eine Härte dar. Da aber von der Kommission verlangt wird, daß eine rechtlich nachvollziehbare Empfehlung gegeben werden muß, kann die in den Anträgen beschriebene Härte nicht das einzige Kriterium sein, sondern es muß auch ein ‘Lösungsweg’ zur Abschiebungsverhinderung gefunden werden. Ein wichtiges Kriterium für die Härte ist beispielsweise der Grad der Integration, den man an verschiedenen Bereichen festmachen kann, z. B. Sprachkenntnisse, Schulbesuch der Kinder, eigenständige Arbeit und somit die Sozialhilfeunabhängigkeit, eine eigene Wohnung innezuhaben, am politischen oder sozialen Leben teilzuhaben sowie die Dauer des Aufenthaltes. Sie gelten als Gradmesser für Integration. Wenn dann in der Kommission eine Empfehlung ergeht, geht diese an die Fachaufsicht, die beim Innenministerium liegt. Erst dann geht sie an die zuständige Ausländerbehörde. Es ist ein demokratisches Manko, daß diese Benachrichtigung nicht den AntragstellerInnen zugestellt wird, sondern daß sie lediglich an die zu- ständige Ausländerbehörde geschickt wird. Zu beachten ist dabei, daß die Empfehlungen der HFK für die Ausländerbehörden nicht rechtlich bindend sind. Bei den Empfehlungen gibt es für die Ausländerbehörden ein psychologisches Problem, da sie sich nicht gerne vorschreiben lassen, wie die ‘richtige’ Auslegung des Ausländergesetzes vorzunehmen ist. Die Behörde hatte bereits eine Entscheidung getroffen, die daraufhin von der HFK überprüft wird. Die HFK kommt dann eventuell zu einem anderen rechtlichen Schluß. Von daher ist es auch immer eine Frage der Vermittlung, wie es ermöglicht werden kann, diese Korrektur der Entscheidungen für die Ausländerbehörden nachvollziehbar zu machen. Die wesentliche Aufgabe, sowohl beim Aktenstudium als auch bei der Beratung, ist es, einen rechtlich nachvollziehbaren Anhaltspunkt zu finden, worin der weitere Aufenthalt begründet werden kann. Eine große Schwierigkeit stellt der § 55 Abs. 4 AuslG dar. Der besagt: „Ist rechtskräftig entschieden, daß die Abschiebung eines Ausländers zulässig ist, kann eine Duldung nur erteilt werden, wenn die Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist oder nach § 54 ausgesetzt werden soll. [...]“ In der Regel liegt bei ehemaligen AsylbewerberInnen genau hierin das juristische Problem. Tatsächliche Gründe können z. B. Reiseunfähigkeit, fehlende Transportmöglichkeiten oder fehlende Reisedokumente sein. Um dann einen weiteren Aufenthalt zu ermöglichen, sind die rechtlichen Anhaltspunkte, die die Kommission hat, das Ausländergesetz und/oder die ständige Rechtsprechung. Zunehmend gewinnt auch der europäische Gerichtshof (EuGH) und der europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) an Bedeutung. Die europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die im Ausländergesetz in § 53 Abs. 4 Niederschlag gefunden hat, legt 173 F L U C H T U N D M I G R AT I O N z. B. den Familienbegriff anders aus als dies im deutschen Ausländerrecht der Fall ist. Zur Kernfamilie gehören nach dem Ausländergesetz nur die Ehegatten und die minderjährigen Kinder, keineswegs aber Geschwister, auch wenn sie im gemeinsamen Haushalt leben. Die Rechtsprechung des EGMR dagegen legt die EMRK dahingehend aus, daß Geschwister, auch wenn sie erwachsen sind, aber in gemeinsamem Haushalt leben, unter den Familienbegriff fallen. Desweiteren werden die von der EMRK definierten Abschiebungshindernisse im Artikel 3: „Niemand darf der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“ durch die Rechtsprechung des EGMR an Bedeutung gewinnen. Somit bilden das Ausländergesetz, die deutsche, insbesondere die höchstrichterliche Rechtsprechung und die Rechtsprechung des EuGH den Kern der juristischen Ansatzpunkte für die Beratung in der HFK. Desweiteren werden selbstverständlich Gutachten und Stellungnahmen beispielsweise über die medizinische Versorgung in den Herkunftsländern zu Rate gezogen, um in besonderen Fällen zu einer Empfehlung zu kommen. Ein Beispiel: Für die meisten Ausländerbehörden ist lediglich von Bedeutung, ob jemand reisefähig ist, nicht aber ob eine Therapie oder medikamentöse Behandlung im Heimatland sichergestellt ist. Dies ist ein wesentlicher Punkt, der in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird, wenn die Ausländerbehörden erkennen, daß es auch prüfenswert ist, ob jemand in der Lage ist, in seinem Heimatland, auch aus Gründen der medizinischen Versorgung, überleben zu können. Da dies im Ausländerrecht nicht explizit genannt ist, entsteht hier Spielraum für Empfehlungen. 174 2. Statistik der Einzelfallbearbeitung Die Ende 1995 eingerichtete Härtefallkommission hat sich im Februar 1996 konstituiert und die Zahlen bis einschließlich zum 31.12.1998 sollen im folgenden erläutert werden. Insgesamt wurden 2.008 Anträge an die HFK gestellt. Davon sind 1.768 bereits bearbeitet worden. Das heißt, teilweise wurden sie beraten, z. T. gab es Ausschlußgründe, die zur ‘Nichtbearbeitung’ führten, z. T. konnte die Kommission die Fälle wegen ‘freiwilliger’ Ausreise, bzw. wegen Vollzugs der Abschiebung nicht beraten. Von den 2.008 Anträgen sind 1.188 in der Kommission selbst beraten worden. Es hat 222 positive Empfehlungen gegeben. Das sind 18,7 %. Es hat 288 Empfehlungen (24,2 %) unterhalb des Antragsbegehrens gegeben. Wegen Petition als Ausschlußgrund (175 Anträge), wegen Vollzugs, bzw. ‘freiwilliger’ Ausreise (69 Anträge) oder wegen sonstigen Erledigungen (36 Anträge) wurden diese Fälle nicht in der HFK beraten. Eine sonstige Erledigung kann z. B. sein: – Antragsrücknahme – Antragsbegehren betrifft nicht die Ausreise – AntragstellerIn ist nicht aus NRW oder zwischenzeitlich untergetaucht und für die Behörden nicht mehr erreichbar. Das Ausschlußkriterium des Untertauchens gilt nicht für Menschen im Kirchenasyl, solange es ein öffentliches Kirchenasyl ist, da die Betroffenen sowohl für die HFK als auch für die Behörde dort erreichbar sind. Der Ausschlußgrund des Untertauchens ist generell sehr problematisch. Hier fehlt ein wesentlicher Handlungsspielraum für die Kommission. Menschen entziehen sich aus den unterschiedlichsten Gründen dem Zugriff der Behörden. Illegalisierte bzw. Untergetauchte haben somit keine Möglichkeit mehr, sich durch die Kommission relegalisieren zu lassen. So kann beispielsweise die Rechtslücke H Ä R T E FA L L K O M M I S S I O N E N zwischen abgelehntem Erstasylantrag und Asylfolgeantrag und die damit verbundene Unsicherheit Menschen dazu bringen, unterzutauchen, weil sie nicht wissen, ob es überhaupt zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens kommt. Eine Zahl erscheint aber auch beachtenswert: Bei 94 Anträgen gab es bereits eine positive Erledigung im Sinne der AntragstellerInnen, ohne daß es zu einer Beratung durch die Kommission kam. 3. Empfehlungen der HFK an das Innenministerium Der zweite gewichtige Arbeitsansatz der HFK besteht darin, generelle Empfehlungen an den Innenminister oder an die Politik abzugeben. Hierbei wird nicht nur auf die Kenntnisse der Kommissionsmitglieder zurückgegriffen, sondern auch die Erfahrung der Arbeit in der Kommission zugrundegelegt. Diese perspektivische Arbeit der HFK hat auch schon Erfolge zu verzeichnen: Auf Anregung der HFK ist die Altfallregelung des Jahres 1996, als Härtefallregelung deklariert, vom Innenministerium NRW modifiziert worden. Somit konnte der ‘Teufelskreis’ durchbrochen werden, daß nur diejenigen unter die Altfallregelung fallen, die die Stichtagsregelung erfüllen und unabhängig von der Sozialhilfe leben. Es ist aber häufig so, daß durch die kurzen Duldungszeiten oder sogar nur die Erteilung von ‘Grenzübertrittsbescheinigungen’ eine Arbeitsaufnahme in der Regel nahezu unmöglich gemacht wird. Vor diesem Hintergrund hat die HFK den Innenminister gebeten, in den Fällen, in denen die Zeitschiene, also die Stichtage erfüllt worden sind, für Familien mit minderjährigen Kindern 1.7.1990 oder für die übrigen Personen 1.1.1987 die Erteilung einer ‘Aufenthaltsbefugnis’ nicht vom Sozialhilfebezug abhängig zu machen. Statt dessen kann eine sechsmonati- ge Befugnis erteilt werden. Diese ermöglicht den Erhalt der ‘besonderen Arbeitserlaubnis’. Durch Arbeitsaufnahme werden dann die Voraussetzungen erfüllt, unter die Altfallregelung zu fallen und ein dauerhaftes Bleiberecht zu erhalten. Das zweite, was die HFK erreicht hat, ist ein Erlaß des Innenministers, daß bei Vorliegen tatsächlicher Abschiebungshindernisse eine ‘Duldung’ nach § 55 Abs. 4 AuslG zu erteilen ist und somit die häufige Praxis von Ausländerbehörden, in diesen Fällen lediglich ‘Grenzübertrittsbescheinigungen’ auszustellen, rechtswidrig ist. Ein weiterer Erfolg der HFK: Das OVG Münster hat in einem Beschluß vom 27.8. 1996 festgestellt: Ein in der BRD geborenes ausländisches Kind genießt nach § 69 AuslG zumindest für die ersten 6 Monate nach der Geburt ein Aufenthaltsrecht. Dies hat der Innenminister in Erlaßform gebracht. Inhaltlich arbeitet die HFK desweiteren zu folgenden Themen: – Frauen auf der Flucht – Eigenständiges Aufenthaltsrecht für AusländerInnen (§ 19 AuslG) – Situation von Flüchtlingskindern – § 30 AuslG – Straffälligkeit bei Jugendlichen und drohende Ausweisung – Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz – Anregungen zur Altfallregelung 1999 Zu diesen Themen werden in Arbeitsgruppen Stellungnahmen erarbeitet. Die Stellungnahme zu „Frauen auf der Flucht“ ist auch bereits dem Innenminister vorgelegt worden und dieser hat sie nicht nur in einer Presseerklärung verarbeitet, sondern auch zugesagt, die Anregungen auf der Bundesebene, sowohl bezüglich der Anhörungssituation, als auch der Entscheidungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFl), in die Innenministerkonferenz der Länder (IMK) hineinzutragen. Es wird 175 F L U C H T U N D M I G R AT I O N sehr kritisch zu beobachten sein, inwieweit diese Vorgaben oder allgemeinen Empfehlungen der HFK durch den Innenminister umgesetzt werden. 4. Kritik an der Arbeit der Härtefallkommission Zur grundsätzlichen Kritik an der HFK, die in der Vergangenheit geübt wurde: Sowohl weite Teile der CDU und der FDP als auch ein starker Teil der SPD lehnten und lehnen die HFK ab. Einer der Hauptkritikpunkte an der HFK kam von den zehn Verwaltungsstädten in NRW, vom Städtetag NRW und vom damaligen Bundesinnenminister Kanther. Der HFK wurde vorgeworfen, daß sie unnütze und zusätzliche Kosten verursache, da durch sie Abschiebungen verhindert oder hinausgezögert würden. Darüber hinaus wurde angegeben, daß die Arbeit der Kommission durchgängig rechtswidrig sei. Eines der Argumente war, daß die HFK im Ausländergesetz nicht vorgesehen sei. Hier sei jedoch auf die Praxis der Ausländerbehörden, ‘Grenzübertrittsbescheinigungen’ zu erteilen, hingewiesen, denn auch die ‘Grenzübertrittsbescheinigungen’ sind keineswegs Bestandteil des Ausländergesetzes. Kritik gibt es aber auch von der ‘anderen Seite’. Aus dem kritischen Spektrum der Flüchtlingsunterstützungsbewegung wird immer wieder betont, daß die HFK der rot/grünen Landesregierung ein Alibi für Abschiebungen biete. Aus den bisherigen Erfahren bleibt jedoch die Schlußfolgerung zu ziehen, die Arbeit der HFK weiterzuführen und sich dennoch gleichzeitig politisch nicht mit dem Erreichten zufriedenzugeben. Die Arbeit der HFK ist vor allen Dingen auch aufgrund der sehr guten Zusammenarbeit mit den Vertretern vom Innenministerium ausgesprochen konstruktiv. Es ist derzeit der richtige Weg, Flüchtlingen auf allen Ebenen 176 durch Warteschleifen Möglichkeiten einzuräumen, ihre persönliche Situation darzustellen, wenn die Kompetenzen für Abschiebungen beim Bundesinnenminister liegen. Aufgabe der HFK ist es, sich dann Gedanken darüber zu machen, inwieweit juristische Ansatzpunkte gegeben sind, um eine Lösung zu finden. In Abgrenzung zum Petitionsausschuß soll noch gesagt werden, daß sich die HFK gerade im Unterschied zu ihm durch den gebündelten Sachverstand seiner Mitglieder aus der konkreten, praktischen Arbeit auszeichnet. Dagegen werden die Anliegen im Petitionsausschuß durch gewählte VolksvertreterInnen geprüft, die mit sehr vielen verschiedenen Rechtsgebieten vertraut sein müssen. Enttäuschend ist deshalb die Reaktion von Teilen des Petitionsausschusses, die die HFK für überflüssig halten. Enttäuschend ist ebenfalls die nur ‘vorsichtig vorhandene’ Unterstützung der Arbeit der HFK durch die SPD und durch den Innenminister. Die HFK wünscht sich eine stärkere Akzeptanz und Unterstützung. So wird erwartet, daß wenn Ausländerbehörden sich nicht an Empfehlungen der HFK halten, das Innenministerium des Landes mit seinem Gewicht versucht, die Empfehlungen mitumzusetzen. Die Vergangenheit hat gezeigt, daß die Arbeit der HFK auch sehr sachgerecht ist, da das Innenministerium den Empfehlungen nur in wenigen Fällen (10!) nicht gefolgt ist. Auch die Ausländerbehörden selbst haben sich lediglich in sehr wenigen Fällen geweigert, den Empfehlungen nachzukommen. Positiv ist demgegenüber zu vermerken, daß einige Städte Ratsbeschlüsse gefaßt haben, daß a) die Empfehlungen der HFK abgewartet werden sollen und b) diese auch umgesetzt werden sollen. Dies geschah in den Städten Lünen, Essen und Düsseldorf. H Ä R T E FA L L K O M M I S S I O N E N Grundsätzlich bleibt die Frage, ob es sinnvoll ist, diesen enormen Zeitaufwand durch Aktenstudium, Recherche der Rechtsprechung, eventuelle Rücksprachen mit den AntragstellerInnen und/oder deren RechtsanwältInnen und die Sitzungstermine zu betreiben oder ob man diese Zeit nicht effektiver nutzen könnte. Für die HFK lautet die Antwort eindeutig JA. Nicht weil lediglich die Auffassung vertreten wird, daß jede Person oder Familie, die über eine ‘Positivempfehlung’ der HFK vor der Abschiebung bewahrt werden kann, ein Erfolg ist. Das reicht nicht aus, sondern jede Möglichkeit muß genutzt und ausgeschöpft werden, um dieser politischen Vorgabe der ‘Abschiebungen um jeden Preis’ etwas entgegenzusetzen. Gerade durch solche Einrichtungen wie die HFK, die dadurch ihren Stellenwert erhalten, daß sie beim Innenministerium angebunden sind und von den entsendenden Organisationen getragen werden, die dem Innenministerium z. T. sehr kritisch gegenüberstehen, sind langfristig Veränderungen möglich. Die Arbeit des ‘Bremsers auf dem rückwärts fahrenden Zug’ ist sicherlich eine gute Umschreibung für das, was in der HFK gemacht wird. Es wäre wünschenswert, daß es in allen Bundesländern Härtefallkommissionen gäbe, zumal es auch für die Arbeit der Kommission spricht, wenn sich nach dem ‘Modell NRW’ in Schleswig-Holstein ebenfalls Ende des Jahres 1996 eine HFK aufgrund der rot/ grünen Verhandlungen konstituiert hat. 4. Die Einbindung der kommunalen Ebene Durch das Einbinden des Sachverstandes von Menschen aus der MigrantInnen- und der Flüchtlingsarbeit, vor allem aus Nichtregierungsorganisationen (NGO), das Modellcharakter hat, wird es möglich, auf die bisher lediglich auf juristischen und ver- waltungstechnischen Kenntnissen beruhenden Entscheidungsstrukturen des Innenministeriums und der Politik Einfluß zu nehmen. Dem liegt ein Modell zugrunde, das sich auch auf die kommunale Ebene übertragen lassen sollte: Das sog. ‘Trialog-Modell’. Damit ist das Zusammenspiel von gewählten VolksvertreterInnen auf kommunaler Ebene im Stadt- oder Gemeinderat, VertreterInnen der Verwaltung sowie VertreterInnen der in diesem Bereich tätigen Wohlfahrtsverbände, Vereine und Initiativen gemeint. Für die Jugend-, Sozial- und Drogenarbeit ist es seit langem eine Selbstverständlichkeit, daß über die Zusammenarbeit von Sachverstand in Initiativen, in den Wohlfahrtsverbänden und der oft konträren Ansicht in der Verwaltung eine positive, befruchtende Zusammenarbeit erwächst und daß den PolitikerInnen vor Ort im ‘Trialog’ eine sachgerechte Entscheidung leichter gemacht wird. Wer hätte beispielsweise vor 25 Jahren daran gedacht, daß in der Bundesrepublik über Methadonprogramme, über die Freigabe von Cannabisprodukten oder über ‘Gesundheitsräume’ nachgedacht würde. Dies ist ein wesentlicher Erfolg des Miteinanders nach dem Trialogmodell. Auch bezüglich der Situation der Sozialhilfeberechtigten, der wirtschaftlich Schwachen, der Alleinerziehenden wurde der Sachverstand der Beratungsstellen miteinbezogen. Im Flüchtlings- und Migrationsbereich fehlt genau dieses Instrument. Es gibt zwar in vielen Städten Ausländerbeiräte, aber dieses ‘zahnlose, politische Spielzeug’ ist nicht dazu angetan, eine selbstverständliche Verzahnung aller Lebensbereiche vorzunehmen und auch nicht das zu tun, was in der HFK gemacht und was vielerorts auch kommunal geschehen müßte, nämlich in das laufende Geschäft der Verwaltung einzugreifen. Abschiebungen sind das laufende Geschäft der Ver177 F L U C H T U N D M I G R AT I O N waltung. Wer dort intervenieren will, muß auf die Verwaltung zugehen und sie bitten, die Entscheidung noch einmal zu überdenken. Hierdurch entsteht die Möglichkeit, Gründe nicht nur z. T. erstmalig vortragen zu können, sondern mit dafür zu sorgen, daß die Schicksale anders bewertet werden als es bislang vielfach der Fall war. Es ist davon auszugehen, daß sich langfristig auch dadurch etwas verändert, wenn die Verwaltung immer wieder dazu gebracht wird, in das Gespräch mit den Initiativen und den Betroffenen einzutreten. Dazu ein Beispiel: Seit vielen Jahren beteiligt sich der Flüchtlingsrat NRW an den sog. Behördentagungen, die in der evangelischen Akademie in Mülheim stattfinden. Dort treffen sich VertreterInnen aus Initiativen, Ausländerbehörden und Zentralen Ausländerbehörden (ZAB) sowie EinzelentscheiderInnen des BAFl, um gemeinsam Fachreferate zu Flüchtlingsherkunftsländern oder zu bestimmten Rechtsauslegungen zu hören und dann in Arbeitsgruppen darüber zu diskutieren. Dies hat dazu beigetragen, daß die Polarisierung, auf der einen Seite, überspitzt formuliert, ‘die brutalen Menschen in der Behörde’ und auf der anderen Seite die ‘rührseligen, nichts begreifenden HelferInnen’ zwar nicht aufgehoben, aber abgemildert wird. Hierdurch wird ermöglicht, den jeweiligen Standpunkt der ‘anderen Seite’ zu erkennen und zur Lösung des Problems beizutragen. Die anschliessende Arbeit in der Praxis wird erleichtert. Die BehördenvertreterInnen haben einstimmig erklärt, daß auch sie es für sinnvoll erachtet haben, zu erfahren, wie die unterschiedlichen Sichtweisen sein können und dies auch ihnen für die Arbeit hilfreich ist. Die MitarbeiterInnen der Initiativen haben erkennen können, daß sie, je mehr Sachverstand und Ruhe sie in der Argumentation an den Tag legten, um 178 so eher in der Lage waren, die vermeintlich verhaßte Gegenseite zu überzeugen. Das Trialog-Modell im Migrations- und Flüchtlingsbereich ist eine sinnvolle Ergänzung zur HFK. Dies wird insbesondere dadurch deutlich, daß viele Anträge, die an die HFK gerichtet werden, bei etwas offeneren Gesprächen auch ohne weiteres ‘vor Ort’ zu lösen wären. Zudem kann nach dem Trialog-Modell auch in den Bundesländern gearbeitet werden, in denen es keine Härtefallkommission gibt. Am Ende dieses Beitrags wird deshalb ein Musterantrag an eine Kommune abgedruckt. 5. Ein persönliches Resümee Ich denke, der positive Effekt eines Trialogs und einer HFK liegt in dem Lernerfolg auf beiden Seiten. Ausländerbehörden lernen, daß es nicht nur ihre Sichtweise gibt, denn das hat etwas von einer Ausschnittswahrnehmung, vergleichbar damit, daß die Polizei auch immer nur dann gerufen wird, wenn ein unangenehmer Vorfall zu verzeichnen ist, wenn eine Straftat begangen worden ist. So funktioniert auch die Wahrnehmung der MitarbeiterInnen in den Ausländerbehörden, die sich besonders an die Male erinnern, wo sie sich nicht ernst genommen fühlten oder wo sie eine schwierige Situation mit MigrantInnen hatten. Dieses wird durch offene Gespräche abgemildert, da man die andere Seite zu verstehen lernt. Hierdurch erhält das ‘Handeln nach dem Gewissen’ eine größere Chance. Vor zwei Jahren ist die Geschichte eines Polizisten durch die Presse gegangen, der einen Abschiebungshäftling nach zwei Tagen Polizeigewahrsam entlassen hat, weil er meinte, daß die Unterbringung unmenschlich sei und der dafür später dienstlich gerügt worden ist und ein Verfahren durchstehen mußte. Einzelfälle bleiben nicht solche, wenn die Bewegung H Ä R T E FA L L K O M M I S S I O N E N beginnt, Menschen in den Behörden nicht als Gegner zu betrachten, sondern als Menschen, die u. U. entweder falsche Entscheidungen fällen oder diese Entscheidungen vor dem Hintergrund eines Rechtes fällen, das modifiziert werden müßte. Um für eine solche Modifikation Mehrheiten zu finden, bedarf es dieser Form der Auseinandersetzung und des Lerneffektes auf kommunaler und auf Landesebene, denn nur dann ist eine kaum zu bewegende Ebene wie der Bund noch beeinflußbar. Deshalb: Härtefallkommissionen: JA, Trialog: JA. Das heißt nicht, daß auf Fundamentalkritik auch an rot/grünen Abschiebungen verzichtet werden soll oder daß wir uns daran beteiligen. Wir versuchen, mit in diesen Entscheidungsprozeß einzugreifen, um dort, wo es möglich ist, Abschiebungen zu verhindern. Volker Maria Hügel Bürgerinnen- und Bürgerantrag (im Sinne einer Anregung nach § 24 GO) Erweiterung der Zusammensetzung und der Kompetenzen der Kommission des Rates zur Unterbringung von Asylbewerbern und Aussiedlern (Unterbringungskommission) und Umbenennung in eine Kommission für Flüchtlings- und Migrationsfragen. (Arbeitstitel) Der Rat der Stadt Münster möge beschließen: 1. Zusätzlich zu ihren bisherigen Kompetenzen erhält die Unterbringungskommission des Rates der Stadt Münster das Recht, Fragen des Aufenthaltes, aufenthaltsbeendender Maßnahmen und Abschiebungen von Ausländerinnen und Ausländern bzw. ausländischen Flüchtlingen zu beraten und für die Verwaltung Empfehlungen auszusprechen. Die Erweiterung der Aufgaben läßt eine neue Betitelung der Kommission sinnvoll erscheinen. (Vorschlag: Kommission für Flüchtlings- und Migrationsfragen) Wenn keine Erweiterung der Kommission des Rates zur Unterbringung von Asylbewerbern und Aussiedlern (Unterbringungskommission) möglich ist, soll dieser Antrag dahingehend verstanden werden, daß eine eigenständige Kommission gebildet wird. 2. Die Unterbringungskommission besteht zur Zeit aus Vertreterinnen und Vertretern der Ratsparteien (je 2 von CDU und SPD sowie der Vorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen) und Vertretern des Sozialamtes. In Zukunft soll die Kommission – nach dem Trialog – Modell – aus folgenden Mitgliedern bestehen (oder die neue Kommission soll bestehen aus): – 6 zu bestimmenden Mitgliedern freier Träger aus dem Bereich der Flüchtlings- und Migrationsarbeit. (u.a. Diözesan Caritas Verband, Diakonisches Werk, DPWV, ESG/KSG). Die Betreuungsverbände erhalten Beratungs- Rede-, Antragsrecht und geben den gewählten Ratsmitgliedern in den zur Entscheidung anstehenden Fragen Empfehlungen. – 2 gewählte Mitglieder des Ausländerbeirates. Sie erhalten den gleichen Status wie die Mitglieder freier Träger. 179 F L U C H T U N D M I G R AT I O N – Die Sozial- und Ordnungsverwaltung ist durch die Dezernatsebene zumindest durch Amtsund Abteilungsleitung vertreten. Diese stellt den Mitgliedern der Kommission die Erlaßlage, die Anweisungen, Verfahrenshinweise und Verordnungen etc. der Bundes- und Landesregierung sowie der Bezirksregierung (RP) und der jeweiligen Dezernate zur Verfügung. – Je 2 Ratsmitglieder der im Rat vertretenen Parteien Vertreterinnen und Vertreter von Menschenrechtsorganisationen, Flüchtlingsinitiativen sowie Anwälte, Bevollmächtigte und Betroffene können auf Einladung des Gremiums gehört werden. Ebenso können diese beantragen, in eigener Sache angehört zu werden. Wenn bei schwierigen Themen oder Einzelfällen keine Einigung erzielt werden kann, wenn die Empfehlung/der Beschluß der Kommission und die Verwaltungsauffassung divergieren, wird den Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt, sich an den Petitionsausschuß oder die Härtefallkommission des Landes zu wenden. Die Sitzungen der Kommission sind öffentlich. Lediglich bei Behandlung von Einzelfällen und/ oder personenbezogenen Daten, wird die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Die Verwaltung erstattet Bericht über die Umsetzung der Empfehlungen der Kommission. Begründung: Migration und Flucht gehören heute zu den erstrangigen Themen im sozial- und gesellschaftspolitischen Bereich. Insbesondere die Kommunen stehen vor immer neuen Herausforderungen, um die Unterbringung, Versorgung, Beratung, Betreuung und Integration dieser Menschen grundgesetzkonform zu ermöglichen. Bislang stehen sich oft Verwaltung und Initiativen sowie Verbände oft als „Kontrahenten“ gegenüber, wenn es z.B. um die Qualität der Unterbringung, um Betreuungsstandards oder um Abschiebungen geht. Fälle wie der Aufbruch des Kirchenasyls im Sommer 1992 haben zu einem enormen Vertrauensverlust – gerade bei Flüchtlingen – geführt. Erfahrungen aus anderen Städten belegen, daß der Abbau dieses Mißtrauens nur durch Offenheit, klare Absprachen und intensive Diskussionen sowie gemeinsames Lernen zu erreichen ist. Lösungen vieler, gerade auch Detailprobleme sind langfristig nur möglich, wenn ein Konsens (auch) in der münsterschen Bevölkerung über die interkulturelle Gegenwart und noch mehr der Zukunft erzielt wird. Konsens wird aber nur durch eine gezielte und regelmäßige Aufklärung erreicht. Wirtschaftlich benachteiligte Gruppen haben oft wenig Verständnis für die Tatsache, daß die Kommunen gemäß Flüchtlingsaufnahmegesetz zur Unterbringung von Flüchtlingen verpflichtet sind, aber sie selbst keinen angemessenen Wohnraum finden. Daraus ergeben sich Neid und Vorurteile, die ein friedliches Miteinander be- und verhindern. Der Dialog mit Verwaltung und Politik muß daher institutionalisiert werden, wenn die Stadtregierung in der Migrations- und Flüchtlingspolitik neue Akzente setzen und positive Veränderungen bewirken will. Hierzu ist der Trialog zwischen Politik, Verwaltung und den freien Kräften, wie er im Jugend- und Sozialbereich insbesondere im Drogen- sowie Schwulen- und Lesbenbereich seit langem selbstverständlich ist, zu schaffen. Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, daß es nicht funktioniert, auf das freiwillige Zustandekommen dieses Trialoges zu setzen. Ein Beispiel: Der im Rahmen der Aktion „1-DM pro Bürger für fremdenfreundliche Maßnahmen“ von der Verwaltung eingerichtete „Runde Tisch“ funktionierte nur so lange, wie Geld verteilt wurde. Eine Auseinandersetzung und ein inhaltliches Miteinander-Reden fand nicht statt. Eine gesellschaftspolitische Wirkung wurde nicht erzielt. 180 H Ä R T E FA L L K O M M I S S I O N E N Die Erfahrungen – nicht nur in Münster – haben gezeigt, daß eine vertrauensvolle Zusammenarbeit aller mit den Belangen von Migration und Flucht in Münster beschäftigten Institutionen, Körperschaften, Verbänden und Initiativen notwendig und längst überfällig ist. Viele – gerade diesen Personenkreis benachteiligende – Entscheidungen der Verwaltung werden von dieser als „laufendes Geschäft“ angesehen, wo die Verwaltung – wenn überhaupt – nur noch eine Informationspflicht gegenüber dem Rat sieht. Eine Auseinandersetzung zu diesen Themen mit dem Stadtrat und den freien Trägern, und damit eine demokratische Auseinandersetzung, findet nicht statt. Eine Änderung der münsterschen Politik ist daher nur mit Beteiligung der freien Kräfte zu erreichen. Der Vergleich mit der Drogenthematik bietet sich an. Auch hier bedurfte es jahrelanger sozialarbeiterisch – politischer Auseinandersetzung und Öffentlichkeitsarbeit, um eine Akzeptanz der Drogenarbeit zu erreichen und damit effektiver intervenieren zu können. Dieses neue Modell könnte auch gleichzeitig dazu beitragen, daß die auf Landesebene eingerichtete Härtefallkommission eine kommunale Umsetzung/Ergänzung erfährt. Oftmals werden Hilferufe in schwierigen Fällen direkt an die Landesebene gerichtet. Seit Einrichtung der LandesHärtefallkommission ist diese mit einer Vielzahl von Fällen konfrontiert worden. Oftmals wäre es aber gar nicht nötig, die Landesebene einzuschalten, wenn es lokal diese Kommission gäbe, die sich damit beschäftigen würde. Lösungen sind auch in der Vergangenheit oft erst durch Landesvermittlung erzielt worden. Deshalb braucht es auf kommunaler Ebene ein entsprechendes Instrument, das die Funktion übernimmt, Probleme „vor Ort“ einer Lösung „vor Ort“ zuzuführen. Lediglich, wenn das nicht möglich ist, kann/soll der Fall an die Landesebene weitergegeben werden. Gerade eine Gesetzeslage auf Bundesebene, die die Situation verkennt, daß in die Bundesrepublik „eingewandert“ wird, erfordert von den Kommunen eine klare Positionierung zugunsten „ihrer ausländischen Einwohnerinnen und Einwohner“. Wenn das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen vom 14. Mai 1996 festschreibt, dass das Bundesrecht verfassungskonform sei – aber dennoch einzelne Menschen schutzlos bleiben können, ist es Verpflichtung der Politik, der Verwaltung und der freien Kräfte, dem Einzelfall gerecht zu werden. Die fehlende Kompetenz kommunaler Gremien, in aufenthaltsrechtlichen Fragen der Verwaltung Weisungen zu erteilen, macht es nicht überflüssig sich mit dieser über mögliche Lösungen auf dem Empfehlungswege auseinanderzusetzen. Der Ausländerbeirat der Stadt Münster, der als Vertretungsorgan der ausländischen EinwohnerInnen Münsters einen wertvollen Beratungsbeitrag leistet, kann die Aufgaben der Kommission nicht ersetzen. Er hat laut Gemeindeordnung und Satzung eine andere Funktion. Die Kompetenz des Ausländerbeirates ist aber für diese neue Kommission ebenso unverzichtbar wie die freien Träger, die in flüchtlings- und migrationspoltischen Fragen ansonsten kein institutionell garantiertes Gehör finden. Die Ausgestaltung der Migrations- und Flüchtlingspolitik in Münster ist die jetzt anstehende Aufgabe. Hierzu soll die Erweiterung der Kommission des Rates zur Unterbringung von Asylbewerbern und Aussiedlern (Unterbringungskommission) oder die Einrichtung einer neuen Kommission für Flüchtlings- und Migrationsfragen einen Beitrag leisten, entsprechend dem Artikel 1 unseres Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Dieses Postulat muß daher gerade auf lokaler Ebene eine neue Bedeutung erhalten. 181 F L U C H T U N D M I G R AT I O N Fluchthilfe Seit Ende der 80er Jahre werden die Themen Flucht und Migration in zunehmendem Maße mit dem Schlagwort der Inneren Sicherheit verknüpft. Eine besondere Rolle spielt dabei die sogenannte ‘Bekämpfung des Schlepperunwesens’ (vgl. u.a. Hellenthal 1994). Die Begriffe ‘Schlepper’ und ‘Schleuser’ sind im Felde der Migrationspolitik politische Kampfbegriffe. Ihre Konnotation verweist auf kriminelle Akteure, die Menschen illegal über Grenzen ‘schleusen’ oder sie gar ‘schleppen’, also zwingen, diese Grenzen zu überwinden. Eine solche Interpretation der heutigen Situation von MigrantInnen und Flüchtlingen hat mit der Realität nicht viel zu tun. Es scheint uns daher dienlich zu sein, diese politischen Kampfbegriffe durch den Begriff der kommerziellen Fluchthilfe zu ersetzen. Selbst mit den vom Bundesgrenzschutz veröffentlichten Statistiken über festgehaltene ‘illegale’ GrenzgängerInnen, läßt sich zeigen, daß es immer noch einem Großteil der Flüchtlinge und MigrantInnen gelingt, ohne auf Fluchthilfe zurückzugreifen, die EUAußengrenzen zu überwinden. Dies steht im Mißverhältnis zu den üblichen Darstellungen der Experten der Inneren Sicherheit und wird uns im zweiten Teil beschäftigen. Ein Rückblick auf die 80er Jahre wird abschließend zeigen, daß Fluchthilfe noch vor kurzer Zeit ein anerkanntes und vor Gericht einklagbares Gewerbe war. Kein Mensch verläßt freiwillig seine Heimat, seine Freunde. Es ist immer die allerletzte der erwogenen Möglichkeiten. (Vietnamesische Migrantin bei einer Diskussionsveranstaltung der Karavane am 22.8.1998 in Berlin) Nimmt man als Ausgangspunkt den Zwang oder die Notwendigkeit für einen Menschen, sein Land zu verlassen und ist ihm diese Möglichkeit verwehrt, so muß er sich der Hilfe von Personen und Gruppen versichern, die mit der Umgehung von Verboten und Hindernissen Erfahrung haben und dieses Know-How in Form einer 182 Dienstleistung anbieten. Sofern die Fluchthilfe nicht politisch, religiös oder humanitär motiviert ist, handelt es sich bei den AnbieterInnen dieser Dienstleistung um Geschäftsleute, die einen Gewinn erzielen wollen. In der Regel wird zwischen den Vertragsparteien eine mündliche Vereinbarung getroffen, die aufgrund des fehlenden rechtlichen Sicherungsrahmens nicht einklagbar ist. Der staatliche Verfolgungsdruck führt dazu, daß der Geschäftsablauf durch hohe Risiken für alle Beteiligten und heimliche Fortbewegung gekennzeichnet ist. Dies führt in der Tendenz zu einem relativ großen Abhängigkeitsverhältnis zwischen den heimlich Reisenden und den AnbieterInnen der Dienstleistung. Allerdings dürfte auch hier der ‘Leumund’ der Angebotsseite bei potentiellen EmigrantInnen eine entgegengesetzte Rolle spielen: Wie bei anderen marktförmig vermittelten Dienstleitungen sind auch die AnbieterInnen von Fluchthilfe auf einen guten Ruf angewiesen, der von erfolglosen RückkehrerInnen schnell zerstört werden kann. Es soll bei dieser Erwägung keineswegs verschwiegen werden, daß es Formen von Fluchthilfe gibt, die für MigrantInnen und Flüchtlinge in Abhängigkeitsverhältnissen oder gar mit dem Tode enden. Allerdings kann eine berechtigte Kritik an ausbeuterischer oder fahrlässig geplanter Fluchthilfe nicht davon losgelöst betrachtet werden, daß erst das System der administrativen und materiellen Grenzsicherung den Raum dafür kreiert, in dem sich die verschiedenen Formen von Fluchthilfe entwickeln. Sie sind für viele Flüchtlinge und MigrantInnen die einzigen Möglichkeiten, Grenzen zu überwinden und somit ein notwendiger Bestandteil des Grenzregimes. Es liegt in der Natur der Sache, daß nur sehr schwer Aussagen darüber gemacht werden können, wie viele Flüchtlinge und MigrantInnen zur heimlichen Einreise nach Deutschland auf die Dienstleistung FLUCHTHILFE Fluchthilfe zurückgreifen. In den Veröffentlichungen des Innenministeriums und des Bundesgrenzschutzes (BGS) wird allerdings der Eindruck vermittelt, daß der überwiegende Teil der heimlichen Grenzübertritte mit Hilfe von ‘Schlepperorganisationen’ bewerkstelligt werde. Selbst wenn jedoch die vom BGS regelmäßig veröffentlichten Statistiken zu Rate gezogen werden, läßt sich diese Darstellung in Frage stellen. So gibt der BGS beispielsweise für das Jahr 1996 an, 27.024 ‘illegale’ GrenzgängerInnen aufgegriffen zu haben, dabei wären 2.215 ‘Schleuser’ festgestellt worden, die insgesamt 7.500 ‘Opfer’ über die Grenzen geleitet hätten (SZ, 26.2.1997). Nach Schätzungen des Grenzschutzes liegen die tatsächlichen Zahlen ‘illegaler’ Grenzübertritte vier- bis fünfmal höher als die der Festnahmen. Etwas entsprechendes läge dann wohl für die Zahl der FluchthelferInnen und der von ihnen Beförderten nahe. Es bleibt dann jedoch immer noch eine deutliche Überzahl von etwa drei Vierteln der Grenzübertritte, die von MigrantInnen und Flüchtlingen in Eigenregie versucht werden. Wenn man darüber hinaus die statistischen Angaben des BGS daraufhin untersucht, welche Gruppen von Flüchtlingen und MigrantInnen mit Hilfe von Fluchthilfeunternehmen einreisen, zeigen sich länderspezifische Häufungen. Auch diese werden in den interessierten Veröffentlichungen der ‘Sicherheitsexperten’ selten ausgewiesen und schon gar nicht interpretiert. Nehmen wir als Beispiel das Jahr 1995. Für diesen Zeitraum gibt der BGS an (vgl. GSA Frankfurt Oder, 31.12.1996), allein an der deutsch-polnischen Grenze 13.276 Personen wegen ‘illegaler Einreise’ festgenommen zu haben. Davon seien 1.096 Personen (8 %) von FluchthelferInnen unterstützt und 238 ‘Schleuser’ festgenommen worden. Ein Blick auf die Liste der Herkunftsländer der glücklosen GrenzgängerInnen ergibt folgendes Bild: Zur Einreise ins Schengengebiet verhelfen ließen sich – laut BGS Angaben – von den 1.858 Menschen aus überwiegend weiter entfernten Ländern1 353 Personen (19 %). Von 531 festgenommen InderInnen seien es 101 Personen (19 %) gewesen, von 1.062 ArmenierInnen 175 Personen (16,5 %) und von den 399 AfghanInnen 53 Personen (13 %). Aus den eben erwähnten Herkunftsländern ließ sich somit jede fünfte bis achte festgenommene Person über die Grenze verhelfen. Menschen aus den osteuropäischen Ländern griffen auf die Dienstleistung Fluchthilfe weit seltener zurück: Von den 6.505 festgenommenen RumänInnen waren es lediglich 296 (4,5 %), von 531 UkrainerInnen 25 (4,7 %), von 531 BulgarInnen 33 (6,2 %), von 531 MoldawierInnen 7 (1,3 %) und von 398 RussInnen 16 Personen (4 %). Somit bleibt festzuhalten: selbst die veröffentlichten Zahlen des BGS spiegeln die Tatsache wider, daß die Frage durchaus differenziert zu beantworten ist, ob auf dem Weg nach Westeuropa die Hilfe kommerzieller Fluchthilfeunternehmen ganz oder nur teilweise in Anspruch genommen werden muß, oder ob es möglich ist, die Reise in Eigenregie durchzuführen. Dies dürfte in erster Linie von den Migrationsbedingungen für Menschen aus verschiedenen Ländern abhängen. Nach unseren Beobachtungen finden sich selbstorganisierte Reisen vor allem dann, wenn die Anreise durch die osteuropäischen Staaten noch relativ einfach zu bewerkstelligen ist. Als Beispiel hierfür kann eine 124 Personen große Gruppe von Roma aus Rumänien genannt werden, die im August 97 vom polnischen Grenzschutz bei Piensk, nördlich von Zgorzelec, verhaftet wurde (Gazeta Wyborcza 29.8.1997). Die Gruppe, in der sich 64 Kinder im Alter von einem Monat bis zu zwölf Jahren befanden, stammte aus zwei rumänischen Kleinstädten. Sie hatte sich einen Bus mit Fahrer gemietet, der sie bis zu einem Ferienort an der deut183 F L U C H T U N D M I G R AT I O N schen Grenze gebracht hatte. Dort hatte sie in Zelten polnischer Pfadfinder übernachtet. Obwohl sie sich legal in Polen aufhielt, wurde die Gruppe vom polnischen Grenzschutz verhaftet, in einem Konvoi an die ukrainische Grenze eskortiert und abgeschoben. Für Flüchtlinge aus asiatischen oder afrikanischen Staaten sind derart selbstorganisierte Reisen nach Westeuropa praktisch nicht mehr möglich. Zwar kann unter Umständen ein Visum für Rußland oder die Ukraine beschafft werden, die Weiterreise durch die angrenzenden osteuropäischen Staaten wird jedoch mittlerweile massiv verfolgt und ist mit unübersehbaren Schwierigkeiten verbunden. Eine letzte Bemerkung im Zusammenhang mit den vom BGS veröffentlichten Daten betrifft die Zahl der festgenommenen FluchthelferInnen. Von Jahr zu Jahr wird hier ein Ansteigen gemeldet. Diese Zunahme dürfte einerseits damit zusammenhängen, daß schon die Anreise durch die osteuropäischen Länder und der Grenzübertritt immer schwieriger wird. Andererseits dürfte sie auf den gleichen Effekt zurückzuführen sein, der für die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) festgestellt werden kann, denn „Steigerungen oder Rückgänge der Registrierung einzelner Delikte in der PKS können immer auch auf eine Veränderung des Aufhellungsgrades, auf verändertes Kontrolloder Anzeigeverhalten zurückzuführen sein“ (Lehne 1997, S. 65). Im Zusammenhang der steigenden Festnahmezahlen von FluchthelferInnen dürfte hier eine stärkere Fokussierung der gesamten Grenzfahndung auf diesen Aspekt ebenso verantwortlich sein, wie eine verstärkte Anzeigebereitschaft der in die Grenzsicherung eingebundenen Bevölkerung (vgl. FFM 1998). Außerdem ist der Inhalt dessen, was als ‘Schlepperei’ bezeichnet wird, ständig erweitert worden. Interessant sind auch die vom BGS an184 gegebenen Herkunftsländer der festgestellten ‘Schleuser’. Von den 1996 festgenommenen 387 ‘Schleusern’ seien 226 aus Polen, 77 aus Deutschland und 18 aus der Tschechischen Republik. Es spricht also einiges dafür, daß die ‘kleine’ spontane Fluchthilfe wesentlich häufiger stattfindet als die von langer Hand vorbereitete internationale Migrationsinszenierung, wie das Bundesinnenministerium immer wieder darstellt. Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, daß i.d.R. nur diejenigen ‘Fußschleuser’ und Transporteure erwischt werden, die den letzten und risikoreichsten, oft einzig illegalen Abschnitt des Fluchtweges bestreiten. Wie sehr auch die rechtliche Betrachtung von Fluchthilfe vom jeweiligen politischen Kontext abhängt, verdeutlicht ein Rückblick in die 80er Jahre. Damals, zur Zeit der propagandistischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West, feierten die westlichen Medien nicht nur die Taten der FluchthelferInnen, Gerichte gewährten im Zweifelsfall auch Rechtsschutz für die gewerbsmäßige und nicht selten bandenmäßig organisierten ‘Schlepper’ – oder damals vielmehr: Fluchthilfeorganisationen.2 So urteilte 1980 der Bundesgerichtshof (BGH) als Revisionsinstanz zugunsten eines Fluchthelfers. Dieser forderte trotz des mißlungenen Versuchs, einen DDR-Bürger über die Grenze zu bringen, den vereinbarten Vorschuß in Höhe von 10.000 Mark von seinem westdeutschen Auftraggeber und war nach dessen Weigerung bis vor den BGH gezogen. Der BGH kam in seinem Urteil zu dem Schluß, „daß ein solcher Vertrag nicht allgemein gegen die guten Sitten verstößt“. Mehr noch, bei der Erörterung des kommerziellen Charakters dieser Fluchthilfe kam der BGH zu der Einschätzung, „es sei nicht in jedem Fall anstößig, eine Hilfeleistung, selbst für einen Menschen in einer Notlage, von einer Vergütung abhängig zu machen“. Das gelte auch, wenn – wie im FLUCHTHILFE geschilderten Fall – Hilfe bei der „Ausübung eines Grundrechts an ein Entgelt“ geknüpft sei. Das Schleusen von DDR-BürgerInnen über die deutsch-deutsche Grenze beruhe „durchaus auf billigenswerten, ja edlen Motiven“ und sei mithin nicht verwerflich. Auch über einen angemessenen Preis machten sich die Richter Gedanken: „Fluchthilfevergütungen von 15.000 Mark oder 13.000 Mark je ‘geschleuster’3 Person“ schienen ihnen „im Hinblick auf hohe Unkosten des Fluchthelfers nicht als überhöht“. Es wendet sich Kunde an Anbieter, „weil (...) bei ihm die Kenntnisse, Erfahrungen und Verbindungen“ erwartet werden, die für eine Flucht, einen heimlichen Grenzübertritt benötigt werden. Auch „der Zwang, der Fluchthilfeorganisation ‘blindes Vertrauen’ zu schenken, und die faktische Unabänderlichkeit (...) der von ihr gestellten Bedingungen“, spielten schon zu jener Zeit eine Rolle und verdeutlichen jenes Abhängigkeitsverhältnis, welches den heutigen ‘Schleppern und Schleusern’ per se als ausbeuterisch angelastet wird. Schließlich geht der BGH auch auf die Gefahren ein, die mit einem unerlaubten Grenzübertritt verbunden sind: „Zu der Frage, ob ein Fluchthilfevertrag sittenwidrig ist, weil ein Fluchthilfeunternehmen Gefahren für beteiligte und womöglich auch unbeteiligte Personen hervorrufen kann, hat der (...) Senat (...) ausgeführt, daß nicht jeder Vertrag sittenwidrig ist, der für die Beteiligten mit persönlichen Gefahren verbunden ist.“ Es lohnt sich, diese Erörterungen in dieser Breite zu zitieren, weil sie der heute im Hinblick auf Fluchthilfe propagierten Sicht diametral entgegenstehen. Seit es den Feind im Osten nicht mehr gibt und seit die Bewegungsfreiheit aller Deutschen mit der Wiedervereinigung erreicht worden ist, ist von Freizügigkeit keine Rede mehr. Im Gegenteil, den Strategen der Inneren Sicherheit ist heute kein Vergleich mehr zu gewagt, kein Bild mehr zu schief, um den Entschluß von Menschen, ihre Heimat – aus welchen Gründen auch immer – zu verlassen, als von kriminellen, skrupellosen ‘Menschenschmugglern’ erzwungenen Akt zu diffamieren. Es ist aufschlußreich, genauer hinzusehen, wie in den heutigen Debatten der ‘Schlepper’-Diskurs je nach Interesse Anwendung findet. Solange es darum geht, Fluchthilfe zu kriminalisieren und als Teil der ‘Organisierten Kriminalität’ dazustellen, erscheinen Flüchtlinge und MigrantInnen als bedauernswerte Opfer, denen schon in den Herkunftsländern aufgelauert wurde und die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zum rechtswidrigen Einwandern nach Europa verlockt oder gar gezwungen werden. Auch die Tatsache, daß es auf den heimlichen Reiserouten von Flüchtlingen und MigrantInnen immer wieder zu Tragödien und Unfällen kommt, die teilweise schlecht organisierter oder fahrlässiger Fluchthilfe geschuldet sind, wird in diesem Zusammenhang dazu genutzt, generell die Skrupellosigkeit und Brutalität des ‘Schlepperunwesens’ (Kanther) zu illustrieren. Selbst der Innenminister Bayerns, Günther Beckstein, betont in solchen Fällen: „(...) es gehe ihm hier auch um das Wohl und die Gesundheit derjenigen Menschen, die sich in den Händen skrupelloser Schleuser befänden“ (SZ, 17.1.1995). Ganz anders sieht es aber dann aus, wenn es Flüchtlingen und MigrantInnen gelungen ist, die EU-Außengrenze – mit oder ohne Hilfe – zu überschreiten und sie in die Fänge der deutschen Flüchtlingsverwaltung und Abschiebemaschinerie geraten. In diesem Augenblick erscheinen die heimlich Eingereisten in den Verlautbarungen der Sicherheitsstrategen nicht mehr als Opfer sondern als TäterInnen, die illegal Grenzen überquert haben und Asyl ‘mißbrauchen’. Dazu gehört auch das immer wiederkehrende Argument, die hohen Preise erlaubten es ohnehin nur reichen Bürge185 F L U C H T U N D M I G R AT I O N rInnen fremder Staaten („Wer hat in der Dritten Welt schon so viel Geld?“) sich FluchthelferInnen zu leisten. Hier ist die Schnittstelle, an der der Diskurs über die heimlich Einreisenden mit dem einer internationalen Kriminalität verknüpft wird, dem dann wieder der Ruf nach einer Verbesserung der Grenzsicherung folgt. Damit schafft sich das Denksystem der Inneren Sicherheit selbst die Voraussetzung für eine weitere Aufrüstung an der Grenze, die weitere Verschärfung der Gesetze und sorgt damit auf seiten der solchermaßen verfolgten Menschen für eine weitere Zunahme illegaler Handlungen, die dann wieder als Argument für das Anziehen der Restriktions-Schrauben des Grenzregimes und der Inneren Sicherheit dienen. Anmerkungen 1 Zum Beispiel Vietnam, Syrien, Nepal, Bangladesh, Zaire (Kongo), Jordanien, Äthiopien, Ruanda, Kasachstan, Aserbeidschan, China, Pakistan, Türkei/ Kurdistan usw. 2 Im folgenden wird immer wieder diese Entscheidung des Bundesgerichtshofes von 21.2.1980, NJW 1980, Heft 29, S.1574 ff zitiert. 3 Im Original in Anführungszeichen: heute wäre es genau umgekehrt und Fluchthilfe würde in Gänsefüßchen gesetzt. Literatur Forschungsgesellschaft Flucht und Migration e.V. (Berlin): Die Grenze – Flüchtlingsjagd in Schengenland. Themenheft in der Publikationsreihe des Fördervereins Niedersächsischer Flüchtlingsrat e.V., in Zusammenarbeit mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Pro Asyl. Juli 1998 Grenzschutzamt (GSA) Frankfurt/Oder: SB 15 Grüne Grenze. Tabellen zu Aufgriffen von illegalen Grenzgängern, Schleusern und geschleusten Personen an der deutsch-polnischen Grenze vom 31.12.1996 186 Hellenthal, Markus (Leiter der Grenzschutzdirektion Koblenz): Die aktuelle Entwicklung der illegalen Zuwanderung nach Deutschland insbesondere mit Blick auf die Schleuserkriminalität und andere Felder der grenzbezogenen organisierten Kriminalität und die Gegenmaßnahmen des Bundesgrenzschutzes in seiner neuen Organisationsstruktur. In: Die Polizei. Zentralorgan für das Sicherheits- und Ordnungswesen mit Beiträgen aus der Polizeiführungsakademie. 85. Jahrgang, Heft 1, Januar 1994, S. 1-24. Lehne, Werner: Kriminalstatistik und Kriminalpolitik. In: antimilitarismus information (ami), 12/97. Forschungsgesellschaft Flucht und Migration e.V. KINDERFLÜCHTLINGE IN DER BRD 3. Kinder auf der Flucht Kinderflüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland Der Beitrag dient als Einführung in das Thema ‚Kinderflüchtlinge’. Er benennt die zentralen Probleme, die den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen das Leben in der Bundesrepublik erschweren und entwickelt konkrete Perspektiven für humanere Lebensbedingungen im Aufnahmeland. Er formuliert die dafür notwendigen politischen Schritte und die erforderlichen rechtlichen Veränderungen. Nicht zuletzt macht er deutlich, daß auch der Standard von Betreuungs- und Bildungseinrichtungen für Kinderflüchtlinge an deren besondere biographische Bedingungen angepaßt werden müßte. Sie kommen z. B. aus Afghanistan, Ruanda, Sri Lanka, Äthiopien, aus der Türkei, dem Libanon, Irak, aus dem Kosovo, Rumänien oder einem der Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, aus Angola, Iran oder Vietnam. Sie fliehen vor Bürgerkrieg, Gewalt, drohendem Kriegsdienst oder politischer Verfolgung, vor Hunger, ökologischen und ökonomischen Katastrophen, Perspektivlosigkeit und aus lebensbedrohlichen Situationen: Kinder und Jugendliche, die allein auf der Flucht sind – die sogenannten ‘U.M.F.’, wie sie in der Behördensprache heißen: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Weltweit sind nach Schätzungen von Flüchtlingsorgani- sationen 6 bis 10 Mio. Kinder allein auf der Flucht, und ihre Zahl wird jährlich größer. Auf 6.000 bis 10.000 wird die Zahl der Kinderflüchtlinge geschätzt, die z. Z. in der Bundesrepublik Deutschland leben. 1. Besondere Schutzbedürftigkeit Die überwiegende Zahl der alleinstehenden Kinder und Jugendlichen kommt geschockt, verzweifelt und unter extremem Streß stehend hierher. Sie leiden besonders an dem Trauma der Trennung, herausgerissen aus allem, was ihnen vertraut ist: der gewohnten Umgebung, der Obhut von Mutter und Vater, der Großfamilie, der Schule und Gemeinschaft und ihrem kulturellen und sozialen Umfeld. Viele von ihnen haben Krieg, Bedrohung und Verfolgung erlebt. Drei Aspekte kennzeichnen die besondere Schutz- und Hilfsbedürftigkeit: – Alleinstehende Flüchtlingskinder sind Minderjährige. Sie wurden Opfer einer politischen und gesellschaftlichen Situation, auf die sie keinerlei Einfluß hatten. Sie sind auf die Betreuung und Hilfe Erwachsener in allen wichtigen Angelegenheiten ihres Lebens angewiesen. – Alleinstehende Flüchtlingskinder sind unbegleitete Minderjährige, sie wurden von Eltern und Geschwistern getrennt und haben oft den Tod ihrer Eltern, naher Angehöriger oder FreundInnen 187 KINDER AUF DER FLUCHT miterlebt. Unbegleitete Minderjährige sind Kinder, die keinen Schutz mehr durch ihre Familien und keine Bezugsperson haben, die ihre Erfahrungen und ihr Leid ‘auffangen’ und ihnen Sicherheit und Geborgenheit geben kann. – Alleinstehende Flüchtlingskinder sind Flüchtlinge, d. h., Kinder, die in Folge von Krieg, Bürgerkrieg, politischer Verfolgung und anderer existenzbedrohender Umstände ihre Heimat und zugleich ihre Familien verlassen mußten. Sie waren auf der Flucht oft großen physischen und psychischen Strapazen ausgesetzt. Wenn sie hier ankommen, sind sie häufig schwer traumatisiert ( Traumatisierung). Sie stehen unter dem Eindruck von Kampfhandlungen und Gewaltakten, von Tod und Zerstörung. Die Situation im Exilland stellt sie vor schwere Herausforderungen. Sie stehen bei ihrer Ankunft unvorbereitet einer oft völlig fremden und neuen Umgebung gegenüber, die sie in vielerlei Hinsicht ängstigt und überfordert. 2. Die UN-Kinderrechtskonvention: Menschenrechte für Kinder Die ‘Charta des Kindes’ von 1959 enthielt den Satz: „Die Menschheit schuldet den Kindern das Beste, das sie zu geben hat.“ Dies war eine Willensbekundung, aber kein verbindliches Recht. Um der massiven Verletzung von Lebenschancen und -perspektiven einer immer größeren Zahl von Kindern in vielen Ländern der Welt wirksam zu begegnen, verabschiedeten die Vereinten Nationen am 20. November 1989 das Übereinkommen über die Rechte des Kindes, die UNKinderrechtskonvention (KK). In ihr sind die Menschenrechte für Kinder in sehr präziser Weise formuliert. Dies gilt gerade auch für die Kinder und Gruppen von Kindern, die aufgrund besonderer Umstände und außerordentlicher Gefährdun188 gen und Belastungen besonderer Schutzund Hilfsmaßnahmen bedürfen. Zu ihnen zählen auch die Kinderflüchtlinge ( Gesetzliche Grundlagen). Ihnen gilt die spezielle Regelung in Artikel 22 der Kinderrechtskonvention (KK), nach der jeder Vertragsstaat verpflichtet ist, „geeignete Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, daß sowohl Kinder, die erst die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehren, als auch jene, die bereits den Status nach völker- und innerstaatlichem Recht besitzen, angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe“ erhalten. Artikel 22, Abs. 2 KK erwähnt die Verpflichtung der hiesigen Behörden, Eltern oder andere Familienangehörige des Kindes ausfindig zu machen, bzw. dann, wenn dies nicht möglich ist, dem Kind denselben Schutz zu gewähren „wie jedem anderen Kind, das aus irgendeinem Grund dauernd oder vorübergehend aus seiner familiären Umgebung herausgelöst ist“. Hervorzuheben ist auch Artikel 1 KK. Er stellt klar, daß die Kinderrechtskonvention auf alle Menschen anzuwenden ist, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund der deutschen Regelung, die die Verfahrensmündigkeit ab dem 16. Lebensjahr vorsieht und dann die Erwachsenen-Regel anwendet, von großer Bedeutung. Gemäß Artikel 3 Abs. 1 KK ist bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, „das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“. Aus Artikel 6 Abs. 2 KK folgt, daß die Vertragsstaaten „in größtmöglichem Umfang das Überleben und die Entwicklung des Kindes (gewährleisten)“. Den besonderen Respekt vor dem Willen und den Bedürfnissen des Kindes drückt Artikel 12 aus, in welchem einem dazu fähigen Kind zugesichert wird, seine eigene Meinung in allen es berührenden Angelegenheiten frei äussern zu können und diese Meinung ange- KINDERFLÜCHTLINGE IN DER BRD messen und entsprechend dem Alter und der Reife zu berücksichtigen. Nach Artikel 20 KK hat ein Kind, das vorübergehend oder dauernd aus seiner familiären Umgebung herausgelöst wird, einen Anspruch auf besonderen staatlichen Schutz und Beistand. Gemäß Artikel 37 KK ist eine Inhaftierung von Kindern – und damit auch Abschiebungshaft bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingskindern – grundsätzlich zu vermeiden. Die UN-Konvention über die Rechte des Kindes – Sie wurde am 20. November 1989 verabschiedet und am 5. April 1992 von der Bundesrepublik ratifiziert – mit Vorbehalten. – Die UN-Konvention über die Rechte des Kindes wurde bisher von 191 Staaten unterzeichnet (Stand: Dezember 1997). – Sie verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, jedes Kind umfassend vor Hunger, Armut, Gewalt (physischer und psychischer), vor Diskriminierung und Ausbeutung, vor Folter und Drogen zu schützen. – Sie gilt für alle Kinder bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs. – Sie nimmt die Staaten in die Pflicht, für die Sicherheit, den Schutz und die Fürsorge von besonders belasteten oder gefährdeten Kindern zu sorgen (z. B. behinderte Kinder, Kinder in Kriegen, ausgebeutete Kinder, zur Prostitution gezwungene Kinder, Flüchtlingskinder). – Sie führt dazu, daß sich die Unterzeichnerstaaten regelmäßig einer UN-Kommission stellen müssen, um über die Fortschritte bei der Umsetzung der Konvention zu berichten. Wir heben diese Artikel besonders hervor, weil die Bundesrepublik Deutschland denjenigen ausländischen Kindern, die ohne die erforderliche Aufenthaltsgenehmigung deutschen Boden betreten, die Rechte aus der Kinderrechtskonvention vorenthalten möchte. 3. Die UN-Konvention über die Rechte des Kindes in der Bundesrepublik Deutschland Die Kinderrechtskonvention wurde 1992 von der Bundesregierung ratifiziert – allerdings mit dem Vorbehalt: Keine Bestimmung der Kinderrechtskonvention soll dahin ausgelegt werden können, daß sie das Recht der Bundesrepublik Deutschland beschränke, Gesetze und Verordnungen über die Einreise von Ausländern und die Bedingungen ihres Aufenthaltes zu erlassen oder Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen. Mit anderen Worten: Das deutsche Ausländerund Asylrecht soll durch die Konvention nicht berührt werden, obwohl oder weil das besonders restriktive deutsche Ausländer- und Asylrecht weit hinter den Maßgaben der Konvention zurückbleibt. Mit dieser Vorbehaltserklärung und der derzeitigen Praxis steht Deutschland im klaren Widerspruch zu den Anliegen der Kinderrechtskonvention. Nach Ansicht von PRO ASYL und aller der in der ‘National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland’ zusammengeschlossenen Verbände und nicht zuletzt nach Auffassung des UNKomitees für die Rechte des Kindes in Genf ist dieser Vorbehalt gemäß Artikel 51 Abs. 2 der Konvention selbst nicht zulässig, da er mit Ziel und Zweck des Übereinkommens unvereinbar ist ( Kinderrechte, Gesetzliche Grundlagen). In seinem Bericht vom 17. November 1995 empfiehlt das UN-Komitee eine Überprüfung der seitens der Bundesrepublik Deutschland 189 KINDER AUF DER FLUCHT bei der Ratifizierung abgegebenen Erklärung mit dem Ziel einer möglichen Rücknahme (Randziffer 22). Nach Ansicht des Ausschusses erscheinen die abgegebenen Erklärungen „unnötig“ oder erwecken andernfalls „Zweifel hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit der Konvention“. Seit der Ratifizierung der KK durch die Bundesregierung hat sich die Lage der Kinderflüchtlinge durch die Verschärfung des Asylrechts und die Änderung des Grundgesetzes weiter verschlechtert: In Deutschland gilt nicht das ‘Kindeswohl’ (the best interest of the child) gemäß der KK als maßgeblich und vorrangig, sondern das restriktive Ausländer- und Asylrecht. 4. Deutsches Asyl- und Ausländerrecht widerspricht Erfordernissen des Kinderschutzes Asyl- und Ausländerrecht werden der besonderen Schutzbedürftigkeit der Kinderflüchtlinge und den gesetzlichen Erfordernissen des Kinderschutzes nicht gerecht. Artikel 22 KK verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland aber dazu, auch unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen die Einreise und den Aufenthalt zu gestatten und sie in jugendhilferechtlicher Hinsicht wie deutsche Kinder zu behandeln. Dem stehen – besonders nach den Verschärfungen des Ausländer- und Asylrechts 1993 – eine ganze Reihe gesetzlicher Bestimmungen und die derzeitige Rechtspraxis im Umgang mit Kinderflüchtlingen entgegen: – Die Drittstaaten-Regelung, nach der jede Person, die aus einem sicheren Drittstaat kommt, an der Grenze zurückzuschicken ist, wird unterschiedslos auch auf unbegleitete Flüchtlingskinder angewandt ( Asylpolitik EU, Schengener und Dubliner Abkommen). Ohne Prüfung, ob und welchen Bedarf an Betreuung, Beratung und Hilfe das Kind benötigt, 190 kommt es immer wieder zu Zurückschiebungen von Kindern in Drittstaaten – ebenfalls ohne Prüfung und Garantie, daß dort die Inobhutnahme des Minderjährigen mit den erforderlichen Schutzmaßnahmen und Leistungen nach dem Haager Minderjährigen Schutzabkommen (MSA) gesichert ist. – Das sog. Flughafenverfahren ist ein Asyl-Schnellverfahren für alle Asylsuchenden, die über einen Flughafen einreisen wollen und kein gültiges Visum besitzen oder aus einem ‘sicheren Herkunftsstaat’ kommen. Dieses Schnellverfahren wird seit dem Erlaß des Bundesinnenministers vom Juli 1994 auch auf Kinder und Jugendliche angewandt. Für die Dauer dieses Verfahrens sind die Flüchtlinge im Transit des Flughafengebäudes untergebracht, das sie nicht verlassen dürfen. Die Umstände der nicht kindgerechten Unterbringung, die Überforderung, Verunsicherung und Verängstigung z. T. traumatisierter Kinder durch das Schnellverfahren und die Art der Befragung, sowie die Betreuung durch hierfür nicht ausgebildete Grenzschutzbeamte, widerspricht diametral der Schutzbedürftigkeit und dem Kindeswohl ( Flughafenregelung). – Die Handlungsfähigkeit von Kindern im Asylverfahren Kinderflüchtlinge zwischen 16 und 18 Jahren werden im Asylverfahren wie Erwachsene behandelt. Ist das Verfahren schon für Erwachsene ohne Hilfe kaum durchschaubar und nicht zu bewältigen, unterstellt der Gesetzgeber Kindern, deren hinreichende Einsichts- und Artikulationsfähigkeit aufgrund vorangegangener Flucht- und Verlusterfahrungen gerade in dieser Situation anzuzweifeln ist, „Handlungsfähigkeit“: Weil sie nach § 12 AsylVfG als verfahrensfähig definiert sind, erhalten sie im Asylverfahren regelmäßig KINDERFLÜCHTLINGE IN DER BRD keinen Vormund (wenn sie schon einen haben, kann dieser übergangen werden) und werden zusammen mit Erwachsenen untergebracht ( Asylverfahren). – Altersbestimmung Bei Minderjährigen, die weder einen Paß noch einen Identitätsnachweis besitzen, ist häufig die Frage des Alters ungeklärt. Gegen alle Grundsätze des Kinder- und Jugendschutzes praktizieren bundesdeutsche Behörden zweifelhafte und umstrittene Methoden zur Altersbestimmung, um nach Möglichkeit durch fiktive Altersfestsetzungen (auf 16 Jahre) die Kinder ‘asylmündig’ zu machen. Die umstrittene Methode der Praxis des Zwangsröntgens (des Handwurzelknochens) wurde am Frankfurter Flughafen und in den Bundesländern weitgehend eingestellt, nachdem ein Gutachten von PRO ASYL und dem Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte diese Praxis als rechtswidrig und gesundheitsgefährdend nachwies. Das Grundsatzurteil des BGH vom 3. Dezember 1997 stellt fest, daß das Zwangsröntgen den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung i. S. des § 223 a StGB erfüllt. Bundesgrenzschutz, Polizei und Ausländerbehörden sind dazu übergegangen, eine Altersfeststellung nach bloßer ‘Inaugenscheinnahme’ vorzunehmen, obwohl sie dazu weder geschult noch von ihrer Aufgabenstellung her geeignet sind ( Altersfeststellung) (s. nebenstehender Kasten). – Drängen ins Asylverfahren Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden oft ins Asylverfahren gedrängt, auch wenn sie keine Asylgründe im herkömmlichen Sinne geltend machen können. Der Grund ist weniger die Unerfahrenheit der Kinder oder ihrer BetreuerInnen, sondern die Weigerung vieler Ausländerbehörden, sich dem Problem der Kinderflüchtlinge zu stellen. Dies hat auch fi- Altersfeststellung durch ‘Inaugenscheinnahme’ – ein Hamburger terre des hommes-Mitarbeiter berichtet: „Aboudou Konan, geb. 1983 in Côte d’Ivoire, wurde am 12.11.1997 in der Ausländerbehörde unter dem Verdacht, ein falsches Geburtsdatum angegeben zu haben, verhaftet, als er mit einem Betreuer der Jugendeinrichtung eine Duldung beantragen wollte. Der Sachbearbeiter schätzte das Alter auf mindestens 16 Jahre und beschloß die Umverteilung. Der Minderjährige wurde in Handschellen abgeführt und zur erkennungsdienstlichen Behandlung zum Polizeipräsidium gebracht. Gegen 3.30 Uhr (morgens) kam der Anruf von der Polizei, daß Aboudou freigelassen würde. eine Betreuerin holte ihn ab. Am nächsten Tag erfolgte die Asylantragstellung mit dem fiktiven Alter, und am darauffolgenden Tag wurde Aboudou zu einer Erwachsenenunterkunft in Nestorf-Horst bei Boizenburg gebracht.“ nanzielle Hintergründe. Oft heißt daher die Alternative: Abschiebung oder Asylantrag. Auf diese Weise kommt es zu unnötigen, manchmal von vornherein aussichtslosen Asylverfahren. Das, was es eigentlich im Interesse des Kindeswohls aufzuklären gilt, nämlich die persönliche Lebenssituation, bleibt unaufgeklärt, weil sich der Blick auf die politische Situation im Herkunftsland konzentriert. – Ablauf des Asylverfahrens Die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge durchlaufen im Asylverfahren das gleiche Prüfungsverfahren wie Erwachsene. Nach ihrer Einreise oft ohne nähere Prüfung ins Asylverfahren hineinge191 KINDER AUF DER FLUCHT drängt, werden sie häufig ohne Vorbereitung, ohne Hilfe und ohne die erforderliche Behutsamkeit erkennungsdienstlich behandelt und müssen eine routinemässige Befragung über sich ergehen lassen, deren Sinn und Zweck sie nicht verstehen. Ihre genauen Fluchtgründe und die Beweggründe ihrer Eltern können so nicht ermittelt werden. Unerfahrenheit, Unsicherheit und Angst führen dazu, daß die Kinder nicht in der Lage sind, ein Schutzbegehren nachvollziehbar zu begründen. Art, Anforderungen und Ablauf dieses nicht kindgerechten Verfahrens führen in aller Regel dazu, daß Kinder an den strengen Verfahrens- und Mitwirkungsregelungen – zumal ohne geschultes Personal und ohne die Anwesenheit einer vertrauten Person – scheitern müssen. Der Aspekt des Kindeswohls und der besonderen Schutzbedürftigkeit aufgrund des Alters findet keine hinreichende Berücksichtigung. – Abschiebungshaft Immer wieder kommt es auch vor, daß Kinder und Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren, denen der Aufenthalt in der Bundesrepublik aufgrund des Asyl- und Ausländerrechts verweigert wird, in Abschiebungshaft genommen werden. Diese Praxis und auch die nicht kindgerechte Unterbringung von Kindern unter haftähnlichen Bedingungen während des Flughafenverfahrens verstößt gegen das Gebot des besonderen Schutzes, der freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kindern vom Prinzip her ausschließt ( Abschiebung). – Einschränkungen der Entwicklungschancen von Kindern Kinderflüchtlinge, die den ausländer- und asylverfahrensrechtlichen Regelungen unterliegen, sind auch hinsichtlich ihrer sozialen Entwicklung und notwendiger psychosozialer Betreuung schlechter gestellt als deutsche Kinder und Jugendliche. So werden ‘asylmündige’ Minderjährige zwi192 schen 16 und 18 Jahren verpflichtet, in einer Gemeinschaftsunterkunft mit erwachsenen Asylsuchenden zu wohnen. Die Bedingungen dort entsprechen i.d.R. nicht den Anforderungen einer kind- und jugendgerechten Entwicklung. Die Kinder werden hier wie Erwachsene behandelt, sie erhalten i.d.R. keine besondere soziale Betreuung; die Förderung zum Erlernen der deutschen Sprache ist nicht vorgesehen; die besondere Schutzbedürftigkeit z. B. junger Mädchen vor Belästigungen und Übergriffen bleibt genauso unberücksichtigt wie die Notwendigkeit und der große Bedarf an psychosozialer Betreuung für viele Kinder und Jugendliche, die mit ihren traumatischen Erlebnissen, dem Verlust ihrer Heimat und allem Vertrauten sowie der Konfrontation mit der fremden Umgebung und auch der Erfahrung der Ablehnung nicht fertig werden. Auch in der Gesundheitsfürsorge und im Bereich von Erziehung und Bildung unterliegen minderjährige Flüchtlingskinder gravierenden Einschränkungen, die den Grundsatz des Kindeswohls verletzen. 5. Forderungen und Positionen Die nach der Kinderrechtskonvention völkerrechtlich seit über 7 Jahren bestehende Pflicht der Bundesrepublik zur Schutzgewährung gegenüber Kinderflüchtlingen ist innerstaatlich bisher noch immer nicht umgesetzt worden. Das innerstaatliche deutsche Recht und die Rechtspraxis stehen – entgegen der deutschen Vorbehaltserklärung – nicht im Einklang mit den Bestimmungen der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. Um dem völkerrechtlichen Gebot der besonderen Hilfe, des besonderen Schutzes und der besonderen Fürsorge gegenüber minderjährigen Flüchtlingen endlich Rechnung zu tragen, fordern PRO ASYL, UNICEF, terre des hommes und alle in der ‘National Coalition für die Umsetzung der KINDERFLÜCHTLINGE IN DER BRD UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland’ zusammengeschlossenen über 90 Verbände und Institutionen einschneidende Maßnahmen und gesetzliche Veränderungen: (1) Uneingeschränkte Umsetzung der UNKinderrechtskonvention und Rücknahme der seitens der Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifizierung abgegebenen Erklärungen Diese Erklärung stellt auf die Vorrangigkeit des deutschen Asyl- und Ausländerrechts vor der UN-Kinderrechtskonvention ab. Dies verstößt gegen völkerrechtliche Grundsätze und gegen den Geist der Kinderrechtskonvention. Nach Artikel 51 Abs. 2 KK sind Vorbehalte, die mit dem Ziel und Zweck dieses Übereinkommens unvereinbar sind, nicht zulässig. Das UNKomitee für die Rechte des Kindes in Genf hat die Bundesregierung bereits 1995 nach der Anhörung über den Stand der Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland aufgefordert, eine Überprüfung der seitens der Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention abgegebenen Erklärungen mit dem Ziel der Rücknahme vorzunehmen. (2) Aussetzung der ‘Drittstaaten-Regelung’ und des ‘Flughafenverfahrens’ für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Sowohl die Drittstaaten-Regelung als auch die Flughafenregelung verstoßen gegen die UN-Kinderrechtskonvention, weil asylsuchende Kinder wie Erwachsene behandelt werden und an der Grenze zurückgewiesen werden können oder am Flughafen ein Asylschnellverfahren zu durchlaufen haben – ohne Beachtung und Berücksichtigung der besonderen Schutzbedürftigkeit, einer erforderlichen Inobhutnahme und entsprechender Kinderschutzmaßnahmen. Artikel 3 KK, der das Kindeswohl als gegenüber allen staatli- chen Maßnahmen übergeordnetes Prinzip konstruiert, wurde bei der Änderung des Asyl- und Ausländerrechts 1993 nicht hinreichend bedacht. Erforderlich sind zumindest Ausnahmeregelungen, die den Notwendigkeiten eines Kinder- und Jugendschutzes Rechnung tragen. Der Gesetzgeber ist dringend gefordert, eine Änderung im Ausländer- und im Asylverfahrensgesetz herbeizuführen und die Kinderflüchtlinge aus der Drittstaaten- und Flughafenregelung herauszunehmen. (3) Kinderschutz bis zur Volljährigkeit Kinderschutz im Sinne der Konvention (Art. 1) muß bis zum Alter von 18 Jahren, bis zur Volljährigkeit, gewährt werden. Gesetzliche Änderungen des § 12 Asylverfahrensgesetz und § 68 Ausländergesetz sind daher dringend erforderlich ( Minderjährigkeit/Vorgezogene Volljährigkeit). Nach der Vorschrift des § 68 Abs. 2 AuslG können derzeit schutzsuchende Kinder an der Grenze zurückgewiesen oder in ihr Heimatland zurückgeschoben werden, ohne daß das Jugendamt oder das Vormundschaftsgericht eingeschaltet werden. Die Zurückweisungsmöglichkeiten nach § 68 Abs. 2 AuslG eröffnen dem Bundesgrenzschutz Freiräume, die unvereinbar mit den Grundsätzen des Kinderschutzes und Rechtsstaatsprinzips sind. Das Kindeswohl verlangt, stets den Zutritt zu ermöglichen, damit in Ruhe geprüft werden kann, welche Maßnahmen erforderlich und geeignet sind. (4) Vormundschaft Ein kompetenter Vormund oder Pfleger ist für alle Kinderflüchtlinge unter 18 Jahren unverzüglich nach der Einreise zu bestellen. Das Vormundschaftsgericht hat eine Vormundschaft von Amts wegen anzuordnen, wenn es von der Notwendigkeit erfährt. Wichtig und sinnvoll ist es, mit Hilfe des Jugendamtes einen engagierten und kompetenten Privatvormund oder Vereins193 KINDER AUF DER FLUCHT vormund zu finden, der sich optimal um die Belange des Kindes kümmern kann. Erfahrungsgemäß sind die Amtsvormünder der Jugendämter häufig überlastet und überfordert und können dem Kind nicht das notwendige Maß an Betreuung, Beratung und sachkompetenter Vertretung gegenüber den Behörden widmen ( Vormundschaft, Vereinsvormundschaft). (5) Clearing-Verfahren In allen Bundesländern sind Clearing-Stellen einzurichten, in denen Kinderflüchtlinge unmittelbar nach ihrer Einreise Aufnahme und Unterkunft erhalten ( Erstversorgungseinrichtungen). Hier soll ihnen zunächst einmal Ruhe, Verarbeitung ihrer Erlebnisse und eine Neu-Orientierung ermöglicht werden. Im Rahmen eines Clearing-Verfahrens sollen die persönlichen Lebensverhältnisse des unbegleiteten Minderjährigen (Identität, Herkunft, Verbleib der Eltern oder anderer Erziehungsberechtigter im Herkunftsland, in Deutschland oder in einem Drittland sowie familiäre und soziale Lebensumstände) vertrauensvoll und mit fachkompetenter Hilfe ermittelt werden. Im Sinne der besonderen Schutzbedürfnisse dieser Flüchtlingskinder gemäß Art. 3 und 22 der Konvention soll hier vor allem mit Ruhe und Sorgfalt, mit Zeit und Zuwendung, unter kindgerechten Bedingungen und mit der erforderlichen Gesprächs- und Betreuungsintensität überhaupt erst einmal das persönliche Schicksal des Flüchtlingskindes abgeklärt und seine bestmögliche Entwicklung und Perspektive im Sinne des Kindeswohles beraten werden. Für die Dauer des gesamten Clearing-Verfahrens erhalten die Kinder und Jugendlichen eine Aufenthaltsbefugnis. Am Ende dieses Prozesses soll gemeinsam mit dem Kind beraten und entschieden werden, a) ob eine gefahrlose Rückkehr des Minderjährigen in sein Herkunftsland möglich ist, falls dort überhaupt eine kind194 und jugendgerechte Betreuung und Perspektive gewährleistet ist; b) ob für den Minderjährigen aufgrund begründeter Furcht vor Verfolgung ein Asylantrag gestellt werden sollte oder c) ob ein humanitäres Bleiberecht (über §§ 30, 32 oder 54 Ausländergesetz) beantragt werden sollte, das sich auch aus Gründen ergeben kann, die sich aus dem KJHG herleiten, insbesondere eine nicht gesicherte kind- bzw. jugendgerechte Betreuung im Herkunftsland. (6) Altersfeststellung Bei Minderjährigen, bei denen die Frage des Alters ungeklärt ist (und aufgrund fehlender Dokumente bleibt), die weder einen Paß noch einen Identitätsnachweis besitzen, darf eine Altersfeststellung nur von anerkannten Fachkräften (z. B. Kinderärztinnen und -ärzten und Kinderpsychologinnen und -psychologen zusammen mit Vormund und geschultem Personal) vorgenommen werden. Dies darf nur in einem sachgerechten Verfahren, ohne Zwang, ohne unzulässigen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit (also z. B. nicht durch Handwurzelröntgen) geschehen; dabei ist die physische und psychische Reife vorrangig zu berücksichtigen. Im Zweifelsfall ist zugunsten des Minderjährigen zu entscheiden. Eine Altersfeststellung durch ungeschultes oder fachfremdes Personal (z. B. Polizei, Ausländerbehörde, Bundesgrenzschutz) aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes durch eine sog. ‘Inaugenscheinnahme’ ist nicht sachgerecht und daher zu unterlassen ( Altersfeststellung). (7) Kindgerechtes Verfahren Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind nach ihren Flucht- und Verlusterfahrungen noch weniger als erwachsene Flüchtlinge in der Lage, ihr Asylbegehren nachvollziehbar, detailreich und widerspruchsfrei zu begründen. Nach wie vor KINDERFLÜCHTLINGE IN DER BRD besteht die Tendenz, Flüchtlingskinder nach ihrer Einreise ohne nähere Prüfung (Clearing-Verfahren) in Asylverfahren hineinzudrängen ( Asylverfahren). Unter den Bedingungen des derzeitigen Anhörungs- und Verfahrensablaufes müssen gerade diejenigen Kinder scheitern, die unter den Folgen von Flucht, Krieg und Gewalt zu leiden haben. Die Kürze der Fristen, mangelnde Vorbereitung, langwierige Befragung, erkennungsdienstliche Behandlung und mangelnde Behutsamkeit bei der Erforschung der genauen Fluchtumstände können weitere Ängste, Verunsicherung und Blockaden auslösen. Die gegenwärtige Praxis der Anhörung zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft kann für ein Kind mit realem Verfolgungsschicksal sehr traumatisch sein. Daher sollte grundsätzlich keine Anhörung eines unbegleiteten Flüchtlingskindes beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ohne eine erwachsene Vertrauenspersonen (VormünderInnen, Kinderflüchtlingsbeauftragte, RechtsanwältInnen) stattfinden. Im Clearing-Verfahren gewonnene Erkenntnisse sind zu Gunsten der Kinder zu berücksichtigen. Analog dem ClearingVerfahren ist ein kindgerechtes Anhörungs- und Asylverfahren zu entwickeln, das dem Kindeswohl Rechnung trägt und nicht einseitig einer asyl- und ausländerrechtlich geprägten Betrachtungsweise der Behörden und Gerichte folgt. Um den Erfordernissen eines kindgerechten Verfahrens zu genügen, sind EinzelentscheiderInnen speziell auszubilden und zu schulen. Unbegleitete Minderjährige sind künftig nur noch von ihnen in einem kindgerechten Verfahren anzuhören. (8) Unterbringung, soziale Betreuung und Versorgung Kinderflüchtlinge sollen nach dem KJHG in Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht werden und nicht in Sammellagern zusammen mit Erwachsenen. Ihr Bedarf an psychischer und sozialer Betreuung, medizinischer Versorgung sowie die Förderung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten in Schule und Ausbildung entsprechend den Vorgaben der Kinderrechtskonvention sind wie bei jedem deutschen Kind zu gewährleisten ( Unterbringung). (9) Verbot der Abschiebungshaft Abschiebungshaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ist grundsätzlich zu verbieten. Die Inhaftierung von Minderjährigen zu diesem Zweck verstößt gegen das Gebot des besonderen Schutzes, den Kinder und Jugendliche nach der UN-Kinderrechtskonvention und anderen internationalen Abkommen genießen. (10) Sofortmaßnahmen und gesetzliche Änderungen Neben der grundsätzlichen völkerrechtlichen Verpflichtung, das deutsche Ausländer- und Asylrecht an die Völkerrechtsnormen der Kinderrechtskonvention anzupassen, könnten einige Sofortmaßnahmen und Gesetzesergänzungen – auch im Rahmen des geltenden Ausländer- und Asylverfahrensrechts – unmittelbar zu einer Verbesserung des Kinderschutzes und damit der Situation vieler Kinderflüchtlinge in der Bundesrepublik beitragen: a) Altfallregelung Die von der ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder am 29. März 1996 in Hamburg beschlossene Härtefallregelung berücksichtigte überhaupt nicht die besondere Situation der unbegleiteten Minderjährigen (Einreise vor dem 1.1.1987). Die Erfahrungen haben gezeigt, daß ein über Jahre andauernder ungesicherter Aufenthalt gerade für unbegleitete junge Flüchtlinge eine große psychische Belastung darstellt, die eine humanitäre Lösung erfordert. Die Innenministerkonferenz wird daher aufgefordert, eine 195 KINDER AUF DER FLUCHT Altfallregelung für junge Flüchtlinge zu verabschieden, die sich länger als 2 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Ihnen sollte eine Aufenthaltsbefugnis erteilt werden. b) Aufenthalt nach erfolgter Integration Kinderflüchtlinge leben oftmals Jahre im Aufnahmeland, bevor die Fluchtgründe, ihre Herkunft und die Situation im Heimatstaat abgeklärt werden können. Während dieser Zeit haben sie sich in Deutschland integriert und sie haben nicht nur Freundinnen und Freunde, sondern oft auch Ersatzeltern gefunden. Sie sind mit den europäischen Lebensweisen vertraut und haben sich den Sitten und Gebräuchen ihrer Heimat entfremdet. Oft sind sie längere Zeit in Deutschland gewesen als in ihrem Herkunftsstaat. Bei dieser Konstellation bedeutet die Zurückschickung der Kinder den Verlust der zweiten Heimat und fügt den kindlichen Seelen neuen, schweren Schaden zu. Dies ist mit dem Kindeswohl oft nicht zu vereinbaren. Eine erfolgte Integration kann daher ein Abschiebungshindernis darstellen. c) Verbesserung des Verfahrensrechts Nach § 90 Asylverfahrensgesetz können allgemeine Verfahrensvorschriften erlassen werden. Dies ist bis heute nicht geschehen. Damit eine einheitliche Handhabung erfolgt, sind solche Verfahrensvorschriften zu erlassen. Im Rahmen dieser Verfahrensvorschriften ist zu bestimmen, daß der besonderen Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge Rechnung getragen wird. Dies verlangt, daß dem eigentlichen Asylverfahren eine ‘Clearing-Phase’ vorgeschaltet wird (vgl. oben), in welcher abzuklären ist, ob die Stellung eines Asylantrages überhaupt dem Kindeswohl entspricht oder ob nicht andere Maßnahmen, wie die Beantragung 196 eines asylunabhängigen Aufenthalts oder die Rückführung in die Heimat, dem Kindeswohl entsprechen. d) Härtefallregelung im Ausländergesetz Eine Härtefallregelung im Ausländergesetz käme auch den schutzbedürftigen unbegleiteten Minderjährigen zugute. In § 55 Abs. 4 ist eine Härtefallklausel einzufügen, nach der auch unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ein Aufenthaltstitel gegeben werden kann. 6. Bilanz und Ausblick Die Zwischenbilanz über die Umsetzung nach 7 Jahren Kinderrechtskonvention in Deutschland im Hinblick auf die Rechte von Kinderflüchtlingen fällt negativ aus. Die Bundesregierung und die deutschen Behörden werden ihrer Verpflichtung zum besonderen Schutz von Kinderflüchtlingen noch immer nicht gerecht. Dies führt dazu, daß viele der durch Flucht, Menschenrechtsverletzungen und Krieg oft schwer traumatisierten Kinder keine ausreichenden Hilfen in Deutschland erhalten. Gemeinsam mit der National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland erinnern wir die Bundesregierung an ihr Versprechen, die Rücknahme ihrer bei der Ratifizierung abgegebenen Vorbehalte zu prüfen. Neben den Kinderflüchtlingen gibt es eine große Zahl von Kindern, z. B. aus binationalen Partnerschaften, hier geborener Kinder aus MigrantInnen-Familien mit ungesichertem rechtlichen Aufenthaltsstatus, deren Rechte ebenfalls in eklatanter Weise verletzt werden. Die in der deutschen Behörden- und Verwaltungspraxis geltende Vorrangigkeit eines als ‘Fremdenabwehrrecht’ falsch verstandenen Asyl- und Ausländerrechts führt in vielen Einzelschicksalen immer wieder zu unerträglichen Härten. AUFNAHMELÄNDER Deshalb werden PRO ASYL, die Kinderund Menschenrechtsorganisationen, die Wohlfahrtsverbände, die Kirchen und alle in der National Coalition zusammengeschlossenen Initiativen und Verbände ihre Bemühungen für die betroffenen Kinder gegenüber der Politik verstärken, bis und damit die UN-Kinderrechtskonvention ausnahmslos für alle Kinder in Deutschland gilt! Heiko Kauffmann Aufnahmeländer1 Ende September 1996 trafen sich auf Einladung des UNHCR 2 in Genf Vertreterinnen und Vertreter von Statusfeststellungsbehörden und zuständigen Ministerien aus 21 westlichen Aufnahmeländern, um über das Thema „unbegleitete minderjährige Asylsuchende“ unter besonderer Bezugnahme auf die von UNHCR im Entwurf vorgelegten ‘Richtlinien über allgemeine Grundsätze und Verfahren zur Behandlung asylsuchender unbegleiteter Minderjähriger’ zu diskutieren. An diesem Symposium nahmen des weiteren Delegierte zwischenstaatlicher Organisationen wie des Ministerrates der Europäischen Union, des ICRC 3, UNICEF 4, IGC 5 sowie 16 verschiedene nationale Nichtregierungsorganisationen teil 6. Hintergrund des Symposiums war die seit Mitte der 90er Jahre verstärkt gesehene Notwendigkeit, sich dieses Themas sowohl auf nationaler7 als auch auf internationaler Ebene gesondert zu widmen. Der Beitrag skizziert die auf diesem Hintergrund getroffenen Entscheidungen am Beispiel einiger ausgewählter Staaten. 1. Vorbemerkung Innerhalb der Europäischen Union8 wurden erste Entwürfe einer geplanten Entschließung betreffend ‘unbegleitete minderjährige Staatsangehörige dritter Län- der’ abgefaßt9, und auch IGC legte seinen Schwerpunkt für 1996 auf diese Gruppe der Asylsuchenden. Einer der Kernpunkte des Austausches unter den Aufnahmeländern war die Schwierigkeit, in dem Spannungsfeld Zuwanderungskontrolle einerseits und primäre Berücksichtigung des Kindeswohles andererseits den Verpflichtungen aus den internationalen Kinderschutzabkommen gerecht zu werden, ohne dadurch einen verstärkten Zuzug von minderjährigen Flüchtlingen auszulösen ( Kinderflüchtlinge). Es wurde deutlich, in welchem Maße die westlichen Asylländer Sonderverfahren für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge eingerichtet hatten bzw. diese in das für Erwachsene geltende asyl- und ausländerrechtliche Verfahren miteinbezogen wurden ( Asyl- und Flüchtlingspolitik Europa). Nachfolgend wird die Behandlung von ‘minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen’ in den drei europäischen Aufnahmestaaten Niederlande, Großbritannien und Dänemark skizziert, um diese graduell unterschiedlichen Spezialmaßnahmen zu beleuchten. Diese Asylländer wurden auch deshalb gewählt, weil die Herkunftsländer dieser Kinderflüchtlinge nicht zu stark von denen in der Bundesrepublik Deutschland abweichen.10 2. Beispiel Niederlande Seit dem 1.9.1992 ist in den Niederlanden eine spezielle Politik für Kinderflüchtlinge (sog. AMA-Verfahren) in Kraft. – Definition Als solcher gilt, wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat und bei der Einreise nicht von einem volljährigen Verwandten begleitet wird. – Zahlen Nach Einführung des AMA-Verfahrens stieg die Zahl der Kinderflüchtlinge kurzfristig an: zwischen 1994 und 1996 lag sie 197 KINDER AUF DER FLUCHT konstant bei 1630 bis 1690 Neueinreisen pro Jahr. Im Jahre 1997 war ein erneuter Anstieg auf 2845 Minderjährige zu verzeichnen. Im Schnitt sind 75 % der Kinderflüchtlinge zwischen 15 und 17 Jahre alt. In den Jahren 1992 bis 1995 waren etwa ein Viertel der Kinderflüchtlinge Mädchen. Hauptherkunftsland war von 1992 bis 1995 jeweils Somalia, gefolgt von China, Angola, Zaire und Äthiopien 11 ( Herkunftsländer). – Einreise Grundsätzlich gelten die Visabestimmungen sowie theoretisch auch Dritt- und Sicherer-Herkunftsstaat-Regelungen auch im Fall von Kinderflüchtlingen. Da vor einer Rückführung einer/eines Minderjährigen jedoch immer geprüft werden muß, ob im aufnehmenden Staat adäquate Bedingungen vorliegen, wird in der Praxis ein beschleunigtes Verfahren wie das Flughafenverfahren nur bei Zweifeln an dem angegebenen Alter bzw. der Staatsangehörigkeit durchgeführt. – Altersfeststellung Durch die Änderung ausländerspezifischer Bestimmungen12 im März 1996 wurde die Möglichkeit einer Altersfeststellung geschaffen. Danach wurde, wenn bei der ersten Registrierung des/der Minderjährigen Zweifel an den Altersangabe auftraten, eine weitergehende Befragung vorgenommen. War diese nicht aufschlußreich, so wurde der/die Minderjährige in das Aufnahmezentrum Oisterwijk gebracht, wo er einer eingehender Prüfung, bestehend aus Röntgenaufnahmen von Kiefer und Zähnen sowie Hand und Oberarm, einer Untersuchung des Kopfes sowie der Abnahme eines Gebißabdruckes unterzogen wurde ( Altersfeststellung). Hierfür war jedoch in allen Fällen die Zustimmung der Minderjährigen erforderlich. Von April bis September 1996 wurde eine derartige medizinische Untersuchung bei 198 etwa 40 Personen vorgenommen, die in fast allen Fällen eine höheres Alter als das von den AntragstellerInnen angegebene ergab. Auch wenn der Gerichtshof in Den Haag und seine Nebenstellen13 aufgrund der Einverständniserklärung der Betroffenen die grundsätzliche Rechtmäßigkeit der Untersuchungen bestätigt haben, so hat die Nebenstelle ‘s-Hertogenbosch in mehreren Urteilen jedoch festgestellt, daß das Ergebnis der jeweiligen einzelnen Untersuchung nicht konkludent war. In der Praxis war für die medizinische Überprüfung nur ein Arzt zuständig, der diese Aufgabe Ende 1997 niederlegte. Ende März 1998 kündigte die damalige Justizstaatssekretärin in einem an das Parlament gerichteten Brief an, man werde die Praxis derartiger Untersuchungen so bald wie möglich wieder aufnehmen. – Unterbringung und Vormundschaft Kinder unter 12 Jahren werden nach der Einreise sofort in spezielle Jugendaufnahmestellen mit 24-Stunden-Betreuung gebracht (z. B.Valentijn-Stiftung in Nunspeet und Lochem) oder an Pflegefamilien vermittelt. Kinder ab 12 Jahren werden nach einer ersten kurzen Befragung im Anmeldezentrum, bei der die persönlichen Daten aufgenommen werden, einem der vier Erstaufnahmezentren Eindhoven, Oisterwijk, Haarlem oder Schalkhaar zugewiesen. Diese Einrichtungen verfügen über spezielle Betreuungsprogramme für Kinderflüchtlinge. Hier wird nunmehr die Vormundschaftsbestellung eingeleitet. Falls keine Privatperson als Vormund zur Verfügung steht, wird durch den Bezirksrichter der Vormundschaftsstiftung Stichting De Opbouw die Vormundschaft übertragen, was etwa 3 Monate dauert. Nach maximal acht Wochen Verbleib in der Erstaufnahmeeinrichtung werden Kinder zwischen 12 und 15 Jahren in eine Jugendaufnahmestelle weitergeleitet (Valentijn-Stiftung); ältere Kinder werden in ei- AUFNAHMELÄNDER ne Sonderabteilung für Jugendliche einer regulären Asylbewerberunterkunft gebracht. Angehörige beider Gruppen werden nach weiteren sechs Monaten in die Obhut des Vormundes gegeben, der dann die Verantwortung für sie übernimmt. Geplant ist, diese Übergangszeit in den Aufnahmeeinrichtungen – die Zeit der Bestellung des Vormundes – auf drei Monate zu verkürzen. Eine Vormundschaft endet im Alter von 18 Jahren. In der Praxis sorgt die Stiftung De Opbouw jedoch auch weiterhin für die jungen Flüchtlinge, beispielsweise wenn deren Verfahren noch nicht abgeschlossen sind. – Antrag auf Asyl bzw. Aufenthaltsgenehmigung Kinderflüchtlinge ab 12 Jahren können in einem Anmeldezentrum selbständig einen Asylantrag stellen, der neuerdings aus Gründen der Verfahrensvereinfachung auch einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung aus zwingenden humanitären Gründen impliziert. Für unter 12jährige stellt der jeweilige gesetzliche Vertreter diese Anträge. – Anhörung Anders als bei Erwachsenen wird bei Kindern während der ersten 4 Wochen nach Asylantragstellung grundsätzlich von einer Anhörung abgesehen, damit sie/ er erst einmal die jüngsten Ereignisse verarbeiten kann und mit der neuen Umgebung vertraut wird. Kinder unter 12 Jahren werden nicht persönlich angehört, da dies nach Ansicht der VormünderInnen dem Kindeswohl entgegensteht. Die Befragung von Minderjährigen wird von besonders erfahrenen AnhörerInnen vorgenommen. Große Bedeutung wird der Klärung der persönlichen Umstände der Kinderflüchtlinge beigemessen; in manchen Fällen wird z. B. nach der Anhörung das Außenministerium um Recherche bezüglich des Aufenthaltsortes von Familienangehörigen im Herkunftsland ersucht. Grundsätzlich soll in dieser Frage schnell eine Klärung herbeigeführt werden14, andernfalls wird eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung erteilt (siehe unten). Kinderflüchtlinge haben während des gesamten Asylverfahrens Anspruch auf kostenlose Rechtsberatung durch einen Rechtsanwalt, der durch das Justizministerium finanziert wird. – Aufenthaltsmöglichkeiten Jugendlichen bis zu 12 Jahren, die keine persönliche Anhörung durchlaufen, wird in der Regel eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt, da in diesen Fällen keine Informationen vorliegen, aufgrund derer man die Anträge ablehnen könnte. Ältere Jugendliche können ebenso wie erwachsene Asylsuchende als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) anerkannt werden. Dies ist durchschnittlich in weniger als 10 % der Gesuche von Kinderflüchtlingen der Fall. Alternativ kann eine Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen erteilt werden. Letztere wird provisorisch auch dann für ein Jahr erteilt, wenn adäquate Aufnahmebedingungen im Herkunftsland nicht gegeben sind. In diesen Fällen wird die Aufenthaltsgenehmigung jedoch mit dem Zusatz versehen: „Aufenthalt als unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender erlaubt“. Die meisten Kinderflüchtlinge in den Niederlanden erhalten diese Art von Aufenthaltstitel15. Die provisorische Aufenthaltsgenehmigung kann jederzeit widerrufen werden, wenn sich die Bedingungen im Herkunftsland ändern, z. B. wenn der Verbleib von Familienangehörigen bekannt wird oder eine adäquate Unterbringung etwa in einem Waisenhaus gesichert ist. Wenn ein Kinderflüchtling drei Jahre lang eine provisorische Genehmigung innehatte, kann ihm eine Aufenthaltsgeneh199 KINDER AUF DER FLUCHT migung aus humanitären Gründen erteilt werden, falls er keine Straftaten begangen hat. Danach wird die Aufenthaltsgenehmigung nur noch widerrufen, wenn der Betroffene wegen einer schweren Strafttat verurteilt worden ist. – Rückführung Vor jeder Rückführung eines Kinderflüchtlings muß die persönliche Zustimmung des Staatssekretärs des Justizministeriums eingeholt werden. Es muß sichergestellt sein, daß der Kinderflüchtling im Herkunftsland in Empfang genommen wird. 3. Beispiel Großbritannien Seit Mai 1995 gibt es in Großbritannien ein spezielles Modul für Kinderflüchtlinge innerhalb des Asylverfahrens (Unaccompanied Children’s Module), das eine altersgemäße Befragung durch speziell geschulte AnhörerInnen oder DolmetscherInnen in einer kindgerechten Umgebung vorsieht. – Definition Als Kinderflüchtling gilt, wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet und in Großbritannien keinen erwachsenen Verwandten oder Vormund hat, an den sie/er sich nach der Einreise wenden kann. Als „unbegleitet“ gilt nicht, wer zusammen mit einem Erwachsenen einreist, der qua Gesetz oder Gewohnheitsrecht die Verantwortung für den Minderjährigen innehat. – Zahlen Die Zahl der Kinderflüchtlinge ist seit 1992 (190 Asylgesuche) kontinuierlich gestiegen. 1995 wurden 597 und 1996 623 Neueinreisen registriert. Die Mehrzahl der Kinderflüchtlinge ist über 16 Jahre alt. Ihre Hauptherkunftsländer sind derzeit Äthiopien, Sri Lanka, Somalia, Eritrea, Afghanistan, Sierra Leone und die Türkei. 200 – Einreise Grundsätzlich gelten die allgemeinen Einreisebedingungen auch für Kinderflüchtlinge. Was das Konzept des „sicheren Drittstaates“ anbelangt, so muß er erklären, warum er in dem betreffenden Drittstaat nicht um Asyl nachgesucht hat. Auch das Prinzip des „sicheren Herkunftslandes“ ist theoretisch auf Kinderflüchtlinge anwendbar, jedoch findet eine Rückführung nur statt, wenn adäquate, dem Kindeswohl entsprechende Empfangsbedingungen gewährleistet sind. – Altersfeststellung Es obliegt dem Kind selbst, das von ihm angegebene Alter durch Dokumente oder glaubhaftes Vorbringen zu belegen. Es können auch medizinische Gutachten beigebracht werden. Nach offizieller Auffassung sind derartige Gutachten jedoch nur eingeschränkt aussagefähig, da von Altersabweichungen bis zu 2 Jahren nach oben und unten ausgegangen werden muß. Von seiten der britischen Einwanderungsbehörde (Immigration and Nationality Directorate/IND) werden deshalb keine Altersfeststellungen in Auftrag gegeben. – Unterbringung und Vormundschaft Es entspricht nicht der üblichen Praxis in Großbritannien, für alle Kinderflüchtlinge VormünderInnen zu bestellen. Nach der Einreise werden sie von der Einwanderungsbehörde in die Obhut der örtlichen Sozialbehörden gegeben, die gemäß dem ‘Children Act’ aus dem Jahre 1989 für die Betreuung und Unterstützung von Kinderflüchtlingen zuständig sind. Unter Berücksichtigung des ethnischen, sprachlichen bzw. religiösen Hintergrundes sowie auch den Wünschen und Gefühlen der Minderjährigen werden Kinderflüchtlinge in Einrichtungen oder Pflegefamilien untergebracht. Jedoch sorgen eine/ein BeraterIn des Board of Advisors sowie Sozialar- AUFNAHMELÄNDER beiterInnen oder BehördenmitarbeiterInnen, für das Wohl des Kindes. Die Gesundheitsvorsorge entspricht der von britischen Staatsangehörigen. Kindern im schulpflichtigen Alter wird neben dem normalen Unterricht auch Englischunterricht erteilt. – Antrag auf Asyl bzw. Aufenthaltsgenehmigung Die Möglichkeiten, außerhalb eines Asylverfahrens Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung zu stellen, sind relativ gering. Für die Asylantragstellung gibt es kein Mindestalter. – Anhörung Kinder unter 10 Jahren werden für gewöhnlich nicht angehört; Kinder zwischen 10 und 14 Jahren nur in Anwesenheit eines erwachsenen Verwandten oder Vormundes. Kinder über 14 können auch alleine befragt werden. Die Anhörung kann durch besonders geschulte BeamtInnen durchgeführt werden (Unaccompanied Children Module). Kinderflüchtlinge haben ebenso wie erwachsene Asylsuchende Anspruch auf kostenlose Rechtsberatung durch einen Rechtsanwalt. – Aufenthaltsmöglichkeiten Grundsätzlich kann Kinderflüchtlingen in Großbritannien ebenso der Flüchtlingsstatus nach der GFK zuerkannt werden wie erwachsenen Asylsuchenden. In diesem Fall wird zunächst eine für vier Jahre gültige Sonderaufenthaltsgenehmigung (Exceptional Leave to Remain or Enter/ ELR) erteilt, deren unbefristete Verlängerung anschließend beantragt werden kann. Falls sich der/die Minderjährige nicht für den Flüchtlingsstatus qualifiziert, kann eine Sonderaufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen gewährt werden. Eine solche wird auch in den Fällen von unter 18jährigen ausgestellt, die mangels adäquater Aufnahme- bedingungen nicht in ihr Herkunftsland zurückgeführt werden können. Die Aufenthaltsgenehmigung wird zuerst für 12 Monate erteilt und für gewöhnlich zweimal um jeweils drei Jahre verlängert. Nach diesen insgesamt 7 Jahren kann eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis beantragt werden. Das Erreichen der Altersgrenze von 18 Jahren führt nicht zum Widerruf einer Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen. Seit Einführung des Sonderverfahrens im Mai 1995 bis zum August 1996 wurden in Großbritannien 5 Kinderflüchtlinge als Flüchtlinge anerkannt; weiteren 201 wurde eine Sonderaufenthaltsgenehmigung erteilt. Die Anträge von 252 Kinderflüchtlingen wurden abgelehnt. – Rückführung Grundsätzlich wird eine Abschiebung von Kinderflüchtlingen nur in Betracht gezogen, wenn eine freiwillige Rückkehr nicht möglich ist. Vor jeder Rückführung eines UMF muß geklärt sein, daß der/die Betroffene bei einer Rückkehr keiner ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre. Falls genaue Informationen zur Situation vor Ort nicht erhältlich sind oder angemessene Empfangsbedingungen nicht gegeben sind, wird i.d.R. zugunsten des Kindes entschieden und eine Sonderaufenthaltsgenehmigung erteilt. 4. Beispiel Dänemark Dänemark betrachtet Kinderflüchtlinge als besonders verletzbare Gruppe, für die eine Reihe von Sondermaßnahmen ergriffen wird, um diese Fälle unter vorrangiger Berücksichtigung des Kindeswohles zu behandeln. – Definition Als Kinderflüchtling gilt, wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat und nicht von einer erwachsenen Betreuungs201 KINDER AUF DER FLUCHT person begleitet wird. Bei nicht verwandten Betreuungspersonen wird im Einzelfall geprüft, ob die oder der Betroffene als begleitet oder unbegleitet gilt. – Zahlen Die Zahl der Kinderflüchtlinge ist seit 1993 (350 Neueinreisen) gesunken (1994: 322; 1995: 244). Etwa die Hälfte der Minderjährigen sind zwischen 15 und 17 Jahre alt. Sie reisen in der Regel alleine, während die jüngeren Kinderflüchtlinge oft bereits Verwandte in Dänemark haben. Etwa ein Drittel der Kinderflüchtlinge in den Jahren 1993 – 1995 waren Mädchen; Hauptherkunftsländer waren Somalia, Sri Lanka (1993 auch Bosnien-Herzegowina), Irak und Afghanistan. – Einreise Grundsätzlich gelten die Visabestimmungen auch für Kinderflüchtlinge. Das Konzept des ‘sicheren Drittstaates’ wird generell nicht auf unter 15jährige angewandt. Kinderflüchtlinge werden nur in Ausnahmefällen beschleunigten Verfahren unterzogen; hier muß zusätzlich das Vorliegen von humanitären Abschiebungshindernissen geprüft werden. – Altersfeststellung Wenn Zweifel an der Minderjährigkeit bestehen, können die Polizeibehörden oder die Dänische Einwanderungsbehörde eine ärztliche Untersuchung in Auftrag geben, die vom Rechtsmedizinischen Institut durchgeführt wird und unter anderem eine Untersuchung des Gebisses sowie der Handgelenkknochen umfaßt. – Unterbringung und Vormundschaft Kinderflüchtlinge werden – sofern sie nicht bei Verwandten oder privat untergebracht sind – in gesonderten Aufnahmezentren untergebracht, die von der Dänischen Einwanderungsbehörde finanziert und vom Dänischen Roten Kreuz geführt werden. 202 Letzteres ist dafür zuständig, eine/n VertreterIn zu bestimmen, der mit dem Kinderflüchtling alle behördlichen Termine, einschließlich der Asylanhörung, wahrnimmt. Der/die für die Kinderflücht-linge bestimmte VertreterIn gilt jedoch nicht als Vormund im rechtlichen Sinne und kann daher keine Rechtsgeschäfte im Namen des/der Minderjährigen führen. – Antrag auf Asyl bzw. Aufenthaltsgenehmigung Für die Asylantragstellung gibt es kein Mindestalter; jedoch durchlaufen die unter 15jährigen in Dänemark grundsätzlich nicht das normale Statusfeststellungsverfahren. Statt dessen wird ihnen gemäß Art. 9,2,(4) des Dänischen Ausländergesetzes (DK-AuslG) eine Aufenthaltserlaubnis mit 3jähriger Gültigkeit erteilt. Sofern sie als reif genug eingeschätzt werden, durchlaufen Kinder über 15 Jahre das normale Statusfeststellungsverfahren. – Anhörung Sowohl während des Registrierungsverfahrens bei der Grenzpolizei als auch bei den Polizeibehörden im Inland sowie dem Anhörungsverfahren vor der Einwanderungsbehörde muß immer ein/e VertreterIn des Dänischen Roten Kreuzes anwesend sein. Letzteres muß demzufolge bei Ankunft eines Kinderflüchtlings sofort verständigt werden. Dadurch soll sichergestellt sein, daß die Befragungen mit der gebotenen Sorgfalt und unter Berücksichtigung des Alters sowie der besonderen Umstände des Einzelfalles durchgeführt werden. Das Innenministerium hat zudem für die relevanten BehördenmitarbeiterInnen Richtlinien erstellt. Im Klageverfahren wird dem Kind ein Rechtsanwalt beigeordnet, der aus öffentlichen Mitteln finanziert wird. – Aufenthaltsmöglichkeiten Grundsätzlich können Kinderflüchtlinge AUFNAHMELÄNDER in Dänemark ebenso Asyl gewährt werden wie erwachsenen Asylsuchenden. Dies besteht in der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach der GFK, wie normiert in Art. 7,(1) DK-AuslG sowie des sog. De-FactoStatus gem. Art. 7,(2) DK-AuslG. Im Falle negativer Entscheidungen16 wird automatisch geprüft, ob die Voraussetzungen für die Erteilung einer besonderen Aufenthaltsgenehmigung gem. Art. 9,2, (4) DKAuslG vorliegen. Diese wird beispielsweise erteilt, wenn der Kinderflüchtling bei Rückkehr in eine bedrohliche Lebenssituation geraten würde, etwa weil die Existenzbedingungen im Herkunftsland nicht gegeben sind, der Verbleib der Eltern nicht geklärt ist oder letztere wegen Inhaftierung nicht für ihr Kind sorgen können. Bei negativem Ausgang des Verfahrens kann ein Kinderflüchtling des weiteren bei dem Innenministerium eine Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären (z. B. medizinischen) Gründen beantragen. In den Jahren 1994 (1995) erhielten 19 % (12 %) der Kinderflüchtlinge den Flüchtlingsstatus, 31% (30 %) De-factoStatus und 25 % (43 %) eine besondere Aufenthaltsgenehmigung. Bei Vorliegen einer dieser drei Statusformen wird eine drei Jahre gültige Aufenthaltserlaubnis erteilt, die anschließend in eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis umgewandelt und grundsätzlich nur in Ausnahmefällen17 widerrufen werden kann. Liegen die Voraussetzungen für eine humanitäre Aufenthaltsgenehmigung gem. Art. 9,2,(2) DKAuslG vor, wird zunächst eine auf 6 Monate befristete Aufenthaltserlaubnis gewährt, die dann um nochmals 6 Monate und anschließend um 1 Jahr verlängert werden kann. Danach prüft die Einwanderungsbehörde, ob eine besondere Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden kann. Wenn Kinderflüchtlingen Asyl oder eine besondere Aufenthaltsgenehmigung gewährt wurde, werden sie dem Dänischen Flüchtlingsrat übergeben, der ein 18monatiges Integrationsprogramm durchführt, das ihre besonderen Bedürfnisse berücksichtigt. – Rückführung Kinderflüchtlinge werden nicht in ihr Herkunftsland zurückgeführt, wenn ihre Eltern oder andere gesetzliche VertreterInnen nicht auffindbar sind oder wenn eine ausreichende Betreuung nicht gewährleistet ist. Diese Praxis hat dazu geführt, daß nur eine sehr geringe Zahl von Kinderflüchtlingen von Rückführungen betroffen sind. 5. Fazit Interessant an der Behandlung von Kinderflüchtlingen in den vorgenannten Ländern ist zunächst, daß – im Gegensatz zu der Praxis in der BRDeutschland – exakte Zahlen in bezug auf das Geschlecht ( Geschlecht), die Herkunftsländer ( Herkunftsländer), die Altersstruktur ( Alter, Altersfeststellung) und die Aufenthaltstitel ( Aufenthaltstitel) der Kinderflüchtlinge ( Kinderflüchtlinge) vorliegen. Bemerkenswert ist auch, daß die Einführung eines Sonderverfahrens für Kinderflüchtlinge nicht zwangsläufig eine Steigerung der Zugangszahlen nach sich zieht, wie das Beispiel Dänemark zeigt. Schließlich ist festzustellen, daß sie in den drei aufgeführten Ländern wesentlich gefestigtere Aufenthaltstitel erhalten, als dies i.d.R. in der BRDeutschland der Fall ist. Im Einklang mit dem Kindeswohl ermöglichen diese Aufenthaltstitel von der Anlage her auch durchaus einen langfristigen und sogar dauerhaften Aufenthalt im Zufluchtsland ( Asylund Flüchtlingspolitik BRD). 203 KINDER AUF DER FLUCHT Anmerkungen 1 Aus Gründen der Vereinfachung werden im Rahmen dieses Textes unter der Bezeichnung ‚Kinderflüchtlinge’ minderjährige Schutzsuchende unabhängig davon verstanden, ob und wie das Statusfeststellungsverfahren abgeschlossen wurde. 2 United Nations High Commissioner for Refugees (Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen). 3 International Committee of the Red Cross (Internationales Rotkreuz-Komitee). 4 United Nations Children’s Fund (Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen). 5 Inter-Governmental Consultations on Asylum, Refugee and Migration Policies in Europe, North America and Australia; d.h. Treffen von Regierungsdelegierten westlicher Aufnahmestaaten. 6 Zum Beispiel die Nationalen Flüchtlingsräte aus den Niederlanden, Großbritannien, Italien und Dänemark, oder Kinderhilfsorganisationen wie Swedish Save the Children. Aus der BRD war der Deutsche Zweig e.V. des Internationalen Sozialdienstes vertreten. 7 Kanada z. B. erließ am 26.8.1996 für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Statusfeststellungsbehörde IRB gesonderte Richtlinien zur Behandlung von Asylgesuchen minderjähriger Flüchtlinge. 8 Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union hatten bis zu diesem Zeitpunkt keine gesonderte Ausarbeitung zum Thema UMF verabschiedet, jedoch in ihrer Entschließung vom 21./22.06.1995 zu Mindestgarantien für Asylverfahren folgendes unter Zusätzliche Garantien für unbegleitete Minderjährige festgelegt: Rdnr. 26: „Es muß dafür gesorgt werden, daß um Asyl ersuchende unbegleitete Minderjährige von einer Einrichtung oder einem hierzu bestellten Erwachsenen vertreten werden, wenn sie nach nationalem Recht nicht verfahrensfähig sind. Während des persönlichen Gesprächs können unbegleitete Minderjährige von den vorgenannten Erwachsenen oder Vertretern der Einrichtung unterstützt werden. Diese haben die Interessen des Kindes zu wahren.“ Unter Rdnr. 27 heißt es: „Bei der Prüfung des Asylantrags eines unbegleiteten Minderjährigen sind dessen geistige Entwicklung und die Reife zu berücksichtigen.“ 9 In der letztendlich am 11.06.1997 verabschiedeten Entschließung des Rates der Europäischen Union 204 betreffend unbegleitete minderjährige Staatsangehörige dritter Länder heißt es u. a. in der Präambel: ...„Unbegleitete minderjährige Staatsangehörige dritter Länder sind im allgemeinen schutzbedürftig, weshalb sie besonderen Schutzes und besonderer Betreuung bedürfen.“ Gem. Art. 1 dieser Entschließung sind hiervon Personen betroffen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Art. 4 legt fest, daß bei der Prüfung eines Asylantrags eines unbegleiteten Minderjährigen neben anderen objektiven Sachverhalten und Umständen auch das Alter, die Reife und die geistige Entwicklung des Minderjährigen sowie sein möglicherweise begrenztes Wissen über die Bedingungen im Herkunftsland berücksichtigt werden sollten. Art. 5 lautet: „(1) Wird einem Minderjährigen der weitere Aufenthalt in einem Mitgliedstaat nicht gestattet, so kann der betreffende Mitgliedstaat ihn nur in sein Herkunftsland oder in ein aufnahmebereites Drittland zurückführen, wenn dort bei seiner Ankunft – gemäß den Bedürfnissen, die seinem Alter und dem von ihm erreichten Maß an Selbständigkeit entsprechen – eine angemessene Aufnahme und Betreuung gewährleistet sind. ... (4) Minderjährige dürfen auf keinen Fall in ein Drittland zurückgeführt werden, wenn diese Rückführung dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, der Europäischen Konvention über die Menschenrechte und Grundfreiheiten, dem Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe oder dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes unbeschadet der Vorbehalte, die die Mitgliedstaaten gegebenenfalls bei der Ratifizierung dieses Übereinkommens eingelegt haben, oder den Protokollen zu diesem Übereinkommen zuwiderlaufen würde.“ 10 Die Zusammenfassungen geben – mit Ausnahme von den Niederlanden – den Stand 1.1.1997 wieder. Sie basieren auf den Staatenberichten, wie sie in dem Report on Unaccompanied Minors des Secretariat of the Intergovernmental Consultations on Asylum, Refugee and Migration Policies in Europe, North America and Australia vom Juli 1997 veröffentlicht wurden, den während des UNHCRSymposiums am 19./20.9.1996 abgegebenen Regierungsstellungnahmen, der Übersicht des Dänischen Flüchtlingsrates über die rechtliche und soziale Situation für Asylsuchende und Flüchtlinge in westeuropäischen Ländern vom Januar 1997, den Auskünften der UNHCR-Vertretungen vor Ort, dem Basispapier des niederländischen Anmelde- S TAT I S T I K zentrums Schiphol aus dem Jahre 1997 sowie Informationen des niederländischen Verbindungsbeamten beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. 11 Zahlen aus den Jahren 1996 und 1997 sind noch nicht bekannt; die Reihenfolge der Hauptherkunftsländer des Jahres 1997 lautet wie folgt: China, Somalia, Afghanistan, Sierra Leone, Liberia, Sri Lanka, Irak, Sudan, Demokratische Republik Kongo. 12 Aliens Circular 1994, Kap. B7 Abs. 13, geändert am 15. März 1996. 13 Amsterdam, Haarlem, Zwolle und ‘s-Hertogenbosch. 14 In dem o. g. Aliens Circular, i. e. den Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz, ist eine Frist von 6 Monaten vorgesehen. In mehreren Gerichtsurteilen wurde jedoch festgestellt, daß die Nichteinhaltung dieser Frist zu keinerlei Rechtsanspruch auf Erteilung einer vorläufigen Aufenthaltsgenehmigung führe. 15 In einem Urteil vom 3. Juli 1997, AWB 97/3056, hat das höchste mit Ausländerrecht befaßte niederländische Gericht, die Rechtseenheidskamer des Gerichtshofes in Den Haag, entschieden, daß die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung versagt werden kann, wenn es keine Zweifel daran gibt, daß der UMF in seinem Herkunftsstaat in der Lage ist, alleine für sich zu sorgen. 16 Ergeht eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet, so kann der Dänische Flüchtlingsrat gemäß seiner formalen Rolle eine Weiterbearbeitung des speziellen Falles im beschleunigten Verfahren ablehnen. 17 Zum Beispiel wenn die Genehmigung durch Betrug erschlichen wurde. Anna Büllesbach Statistik Der Versuch, eine bundesweite Statistik über die Anzahl, die Herkunftsländer und die Unterbringungsformen von Kinderflüchtlingen zu führen, ist nicht einfach. Im Gegensatz zu AsylbewerberInnen über 16 Jahren werden Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren, die alleine nach Deutschland einreisen, nicht über eine zentrale Verteilungsstelle erfaßt, sondern in dem Bundesland betreut, in dem sie das erste Mal den Behörden gemeldet werden. Da jedoch die Form der Betreuung und Unterbringung Sache der jeweiligen Landesjugendämter ist und keine bundeseinheitlichen Konzepte zur Betreuung oder auch nur zur Erfassung angewandt werden, gibt es auch keine zentrale Statistik, aus der eindeutige Bewegungen und Veränderungen über den Zustrom und Verbleib unbegleiteter jugendlicher Flüchtlinge zu entnehmen sind. So werden in den verschiedenen Landesstatistiken jugendliche Flüchtlinge manchmal unter der Rubrik ‚Asylbewerber’, aber auch manchmal unter der Rubrik ‚ausländische Kinder und Jugendliche’ geführt, die jeweils andere Gruppen mit umfassen. Eine eindeutige Aussage ist daher nicht möglich. So ist jede statistische Aussage von vornherein von begrenztem Wert. Dennoch soll hier der Versuch unternommen werden, anhand der wenigen vorliegenden Quellen und eigenen Umfragen eine Darstellung über Zuwanderung und Verbleib jugendlicher Flüchtlinge in Deutschland zu geben. Zu erwähnen ist noch, daß aus der DDR keinerlei Angaben über jugendliche unbegleitetete Flüchtlinge vorliegen. Alle Daten vor 1990 beziehen sich von daher nur auf die alten Bundesländer. 1. Entwicklung der Anzahl von Kinderflüchtlingen in Deutschland Die ersten Kinderflüchtlinge kamen gegen Ende der Siebziger/Anfang der Achtziger Jahre in die Bundesrepublik Deutschland. Zwischen 1979 und 1983 wurden zum ersten Mal 1500 Kinderflüchtlinge aus Südostasien als Kontingent-Flüchtlinge in der BRD aufgenommen (Jockenhövel-Schiekke 1998). Eine zweite größere, homogene 205 KINDER AUF DER FLUCHT Gruppe von jungen Flüchtlingen reiste zu Beginn der 80er Jahre aus Eritrea ein. Die deutsche Jugendhilfe hatte sich bis dahin noch nie intensiver mit dem Problem institutioneller Unterbringung ausländischer Jugendlicher beschäftigt. Nach Jockenhövel-Schiecke werden ausländische Kinder erstmals 1982 in den Statistiken der bundesdeutschen Jugendhilfe ausgewiesen, allerdings lassen die Zahlen keine Rückschlüsse auf den Anteil junger Flüchtlinge zu, da die Zahlen alle ausländischen Kinder, so auch Kinder von MigrantInnen, einbeziehen. Man kann jedoch davon ausgehen, daß der Zustrom jugendlicher Flüchtlinge seit Beginn der 80er Jahre bis 1989 zunächst stetig zugenommen hat. So verzeichnet das Jugendamt Frankfurt die Aufnahme von insgesamt 188 jungen Flüchtlingen in den Jahren 1980 bis 1985, dann aber allein im Jahre 1988 von 2.540 Kindern und Jugendlichen (Heun 1992). Eine bundesweite Zahlenangabe liegt nicht vor. Mit der Öffnung der osteuropäischen Grenzen 1989 kommt es zu widersprüchlichen Entwicklungen. Zum einen führt die Öffnung der Landwege zu einer verstärkten Einreise über Osteuropa. Dagegen führt die Einführung der Visumspflicht für Minderjährige ab 1991 zu einer Verringerung der Einreisezahlen. Nach einem sprunghaften Anstieg der gesamten Asylbewerberzahlen kommt es 1993 zum sogenannten Asylkompromiß und der Regelung der ‚sicheren Drittstaaten’. Dieses neue Asylrecht sieht wesentlich verschärfte Bedingungen auch für jugendliche AsylbewerberInnen vor. Im Gegensatz zur Regelung vor 1993 werden jetzt Jugendliche, die bei ihrer Einreise das 16. Lebensjahr überschritten haben, nicht mehr generell unter den Schutz des Kinder- und Jugendhilfegesetzes gestellt, sondern als selbst handlungsfähig im Sinne des Asylverfahrensgesetzes angesehen, was dazu führt, daß sie direkt in den zentralen Auf206 nahmestellen für erwachsene AsylbewerberInnen untergebracht werden. Damit entfallen diese Jugendlichen ebenfalls aus den wenigen Statistiken zu jugendlichen Flüchtlingen. Eine Abnahme der Gesamtzahlen in diesen Jahren ist also nicht unbedingt auf eine geringere Zureise zurückzuführen, sondern auf die gesetzliche Neuregelung, die 16jährige Jugendliche hier zu Erwachsenen macht. 1994 kommt es so, bedingt durch das neue Asylgesetz, zu einer Verringerung der Zahlen, aber nach 1994 steigen die Zahlen wieder an. Eine eigene Umfrage bei allen Landesjugendämtern weist für das Jahr 1996 folgende Zahlen aus: Bayern berichtet über die Betreuung von 720 Jugendlichen im Jahr 1995, die Mehrheit davon zwischen 16 bis 18 Jahren, lediglich 116 Jugendliche sind unter 16. In Berlin werden 249 Jugendliche in der Erstversorgung gezählt, dazu kommen ca. 2.000, die in den verschiedensten Einrichtungen über die Stadtbezirke untergebracht sind. Als Durchschnittsalter wird 14,5 Jahre angegeben. Brandenburg nennt lediglich 57 Jugendliche mit einem Altersdurchschnitt von 16, Hamburg betreut 2.106 Jugendliche, ohne daß nähere Angaben zum Alter gemacht werden. Hessen gibt die Einreise von 601 Jugendlichen für das Jahr 1995 an, 1.022 befinden sich 1996 in einer Unterbringung in Jugendhilfeeinrichtungen. In Mecklenburg-Vorpommern sind lediglich 8 jugendliche Flüchtlinge gemeldet, Niedersachsen nennt 112 Jugendliche, die landesweit betreut werden, davon 41 unter 16 Jahren und 32 über 18 Jahren. Sachsen-Anhalt meldet 75 jugendliche Flüchtlinge, Rheinland-Pfalz 217 mit einem Durchschnitsalter von 13,7 Jahren. Baden-Württemberg gibt an, daß dort keine alleinreisenden jugendlichen Flüchtlinge untergebracht wären. In Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein liegen den Landesjugendämtern keine Angaben vor, die restlichen 4 Bundes- S TAT I S T I K länder beantworteten die Umfrage nicht. Das heißt aber, daß trotz des Fehlens der Angaben von 6 Bundesländern mehr als 6.800 jugendliche Flüchtlinge im Jahre 1995/96 in den verschiedenen Landesjugendämtern gemeldet sind. Nur wenige der Bundesländer machen Angaben zum Geschlecht der Jugendlichen. Die Berliner nennen hier Zahlen von 95 % männlichen Jugendlichen, Mecklenburg-Vorpommern betreut 6 männliche und 2 weibliche Jugendliche. Man kann aber wohl davon ausgehen, daß im Durchschnitt mehr als zwei Drittel der betreuten jungen Flüchtlinge männliche Jugendliche sind. Eine zweite Umfrage im Jahre 1998, also nach der Einführung der erneut verschärften Visumspflicht für ausländische Kinder und Jugendliche, führt zu keinem nennenswert anderen Ergebnis. Die meisten Landesjugendämter geben keine konkrete Antwort. Lediglich für 3 Länder werden Angaben gemacht: Brandenburg nennt heute 40 Jugendliche zwischen 12 und 19 und verzeichnet damit eine leichte Abnahme, in Berlin werden 1998 2.630 Jugendliche im Alter von 15 bis 17 betreut, also eine Zunahme im Vergleich mit 1996, Hamburg zählt im März 1998 insgesamt 1.750 jugendliche Flüchtlinge, die aber lediglich zu 5 % von der Jugendhilfe betreut werden, auch hier eine Abnahme im Vergleich mit 1996. Dem Saarland und Schleswig-Holstein liegen keine Zahlen vor, die anderen Landesjugendämter gaben keine Auskunft. Ob sich aus diesen Zahlen eine Tendenz ablesen läßt, ist fragwürdig. Die statistische Erfassung alleinreisender jugendlicher Flüchtlinge in den einzelnen Bundesländern, wenn eine solche überhaupt systematisch erfolgt, ist viel zu unterschiedlich als daß eindeutige Zahlen abzulesen wären. Man kann aber davon ausgehen, daß die zur Zeit vorliegenden Zahlen nicht vermuten lassen, daß sich die Gesamtzahl der Jugendlichen, die allein nach Deutschland einreisen, mit der Verschärfung der Gesetzgebung verringert hat. Auch wenn Schwankungen in den Zahlen vorliegen, muß man davon ausgehen, daß auch weiterhin kontinuierlich größere Zahlen von jugendlichen Flüchtlingen allein nach Deutschland einreisen werden. Denn wenn auch die Gesetzesänderungen eine Verschärfung der Einreisebedingungen vorsehen, so bleiben weltweit die Bedingungen, die zu der Flucht führen, unverändert und damit die Motivation, in Deutschland Schutz zu suchen, unvermindert. Ein Fazit läßt sich zweifelsohne ziehen: jugendliche alleinreisende Flüchtlinge konzentrieren sich auf wenige Bundesländer, nämlich auf die Bundesländer, über die eine weniger zu kontrollierende Einreise erfolgen kann, nämlich die Einreise zu Land und zu Wasser. So sind Hamburg und Berlin die Hauptziele. Die Einreise nach Berlin erfolgt natürlich verstärkt über Brandenburg, es besteht aber die Tendenz, bis nach Berlin zu reisen, um sich erst dort den Behörden zu melden, da offensichtlich die größeren Städte aufgrund der (bekannten) Konzentration von jungen Flüchtlingen und den vielfältigeren Möglichkeiten attraktiver sind als ländliche Gegenden. Hessen und Bayern nehmen ebenfalls größere Zahlen auf, hier sind Frankfurt und München Haupteinreisepunkte für internationale Flüge. Damit aber ist die Betreuung jugendlicher Flüchtlinge bzw. die Notwendigkeit, fachliche Standards zu setzen, für die einzelnen Bundesländer unterschiedlich. 2. Herkunftsländer Die jungen Flüchtlinge kommen aus immer mehr Ländern nach Deutschland. Waren mit Beginn der 80er Jahre noch große Gruppen aus gleichen Herkunftsländern zu verzeichnen, wie z.B. Südostasien, dann Eritrea und Äthiopien, so wer207 KINDER AUF DER FLUCHT den mit der weltweiten Verschärfung der Lebensbedingungen aufgrund von Kriegen und Bürgerkriegen aber auch Naturund Umweltkatastrophen immer mehr Länder zum Ausgangspunkt von Fluchtbewegungen. Die politischen Weltereignisse zeigen ihr Abbild in den Herkunftsländern der jungen Flüchtlinge. Kamen nach den Unruhen im Libanon verstärkt libanesische Flüchtlinge über das damalige OstBerlin, so kamen später größere Gruppen aus Bangladesh dazu. Ab Mitte der 80er Jahre wurden auch Afganisthan, Sri Lanka, der Iran sowie die Türkei zu vorrangigen Fluchtgebieten. Wie sehr insgesamt die Zahl der Herkunftsländer immer mehr zunimmt, läßt sich gut an den Zahlen des Jugendamtes Frankfurt verdeutlichen: werden für 1986 überwiegend 6 verschiedene Herkunftsländer genannt, sind es im Jahre 1990 bereits 17 (Heun 1992). In unserer Umfrage von 1996 benennt Hessen bereits 23 verschiedene Nationalitäten. Diese Entwicklung betrifft aber nicht nur die alten Bundesländer. Auch in den neuen Bundesländern werden nach der Vereinigung junge Flüchtlinge aufgenommen, allein Sachsen-Anhalt betreut 1996 bereits junge Flüchtlinge aus insgesamt 21 verschiedenen Nationen. Auch wenn in allen Bundesländern sehr viele unterschiedliche Nationalitäten betreut werden, so sind doch Schwerpunkte zu verzeichnen. 1996 konzentrieren sich in Bayern Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, während Hamburg in den letzten Jahren besonders viele junge Flüchtlinge aus Westafrika betreute. Berlin weist eine große Gruppe von Flüchtlingen aus Rumänien, Bangladesh und aus Vietnam auf, während vor zwei Jahren auch vorrangig junge Flüchtlinge aus der Türkei (KurdInnen) betreut wurden. Brandenburg berichtete 1996 ebenfalls über eine große Anzahl von Flüchtlingen aus Vietnam, dazu kommen China 208 und Afghanistan als besonders vertretene Herkunftsländer. Hessen gibt an, nur wenige Flüchtlinge aus Osteuropa zu betreuen, während ein hoher Anteil von Jugendlichen aus Afghanistan, Äthiopien, Türkei (KurdInnen), Somalia und aus Indien zu verzeichnen ist. Dabei sind relativ schnelle Änderungen zu beobachten. Für alle drei Bundesländer, die sowohl 1996 als auch 1998 Angaben über die Herkunftsländer machten, zeichnen sich Änderungen ab: Hamburg meldet einen starken Rücklauf von KurdInnen, bei einer Zunahme von Flüchtlingen aus Sierra Leone und Afghanistan. Berlin meldet eine rückläufige Entwicklung aus Rumänien und der Türkei bei einer Zunahme der Einreise aus der Mongolei und Algerien, Brandenburg nennt für 1997/98 einen verstärkten Zuwachs von jungen Flüchtlingen aus Bangladesh und Sri Lanka. Deutlich wird, wie sehr die aktuellen politischen Ereignisse die Flüchtlingsbewegungen, gerade auch die der Kinder und Jugendlichen, beeinflussen. Die verschärften Asylgesetze werden auch in Zukunft weder Kinder noch Jugendliche hindern, aus den weltweiten Notgebieten nach Deutschland zu kommen. Aufgabe der Jugendhilfe muß es sein, angemessen auf die hilfesuchenden Kinder und Jugendlichen zu reagieren. Das heißt aber auch, daß an den jeweiligen politischen Ereignissen die zukünftigen Einreiseländer und auch die Einreisezahlen abzuschätzen sind. Die Jugendhilfe kann sich also durchaus rechtszeitig hier auf die auf sie zukommenden Bedürfnisse einrichten. 3. Betreuungsformen Die oben dargestellten Entwicklungen spiegeln sich in der Entwicklung der Betreuungsformen wider. Als die ersten Gruppen jugendlicher Flüchtlinge, zunächst als Kontingentflüchtlinge, nach Deutschland einreisten, wurde vorrangig S TAT I S T I K versucht, die jungen Menschen in Pflegefamilien aufzunehmen. Jede Form institutioneller Betreuung wurde aufgrund der damaligen breiten öffentlichen Diskussion und Kritik der Heimerziehung als der Familie nachrangig betrachtet, und in breiter Öffentlichkeitsarbeit versucht, aufnahmewillige Familien für die südostasiatischen Kontingentflüchtlinge zu finden. Diese ersten jungen Flüchtlinge, die als gesamte Gruppe organisiert nach Deutschland einreisten, wurden zu ca. einem Drittel in Pflegefamilien untergebracht (vgl. Jockenhövel-Schiecke 1998). Die Erfahrungen waren allerdings wenig überzeugend. Nach Angaben von JockenhövelSchiecke mußte fast ein Drittel der Pflegebeziehungen wieder abgebrochen werden, da die unvorbereiteten Pflegfamilien mit den kulturellen Differenzen und besonderen Anforderungen der jungen Flüchtlinge überfordert waren ( Pflegefamilien). Die andere, mehr genutzte Alternative war die Unterbringung in Jugenddörfern und Wohngruppen, die auf einer mono-ethnischen Unterbringung aufgebaut waren, das heißt, man versuchte, die Kinder und Jugendlichen gruppenweise unterzubringen, um die kulturelle Identität und die Bindung an die Herkunftskultur aufrechtzuerhalten ( Mono/multiethnische Unterbringung). Dabei war das Bindeglied zwischen den jungen Flüchtlingen vorrangig die gemeinsame Herkunft, nicht jedoch eine gemeinsame Problemlage. Allerdings war die Jugendhilfe zu dieser Zeit auf die Problematik der Unterbringung von jungen Menschen aus anderen Kulturen völlig unvorbereitet. Dies betraf nicht nur junge Flüchtlinge, sondern genauso Kinder von ArbeitsmigrantInnen, die in Deutschland außerhalb ihrer Herkunftsfamilie untergebracht werden mußten. Aufgrund dieser ersten Erfahrungen mit ausländischen Kindern und Jugendlichen in der institutionellen Betreuung wurden dann pädagogische Konzepte erarbeitet, die eine möglichst mono-ethnische Unterbringung vorsahen, bei der sowohl die Integration in die aufnehmende deutsche Kultur als auch die Aufrechterhaltung der Bindung an die Herkunftskultur und der eigenen kulturellen Identität gefördert werden sollten. Um die Kinder und Jugendlichen genauso wie die pädagogischen MitarbeiterInnen nicht mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Kulturen zu überfordern, wurde versucht, nicht mehr als 2 bis 3 Ethnien in einer Einrichtung unterzubringen, um damit gezielt auf die dort vertretenen Kulturen eingehen zu können. Dieses Konzept beinhaltete ebenfalls die Forderung, wenn möglich auch muttersprachliche PädagogInnen in diesen Einrichtungen zu beschäftigen. Teilweise wurde darüber hinaus versucht, muttersprachlichen Unterricht im Sinne des Erhalts der kulturellen Identität aber auch der Rückkehrfähigkeit zu gewähren. Diese Konzepte eines bi-kulturellen Unterrichts scheiterten jedoch häufig an den finanziellen Möglichkeiten. Wurden anfangs die jungen Flüchtlinge in speziellen Wohngruppen, jedoch überwiegend in bestehenden – mit deutschen Kinder und Jugendlichen belegten – Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht, kam es 1985 aufgrund der zunehmenden Zahlen von Flüchtlingskindern aus immer mehr unterschiedlichen Ländern zur Eröffnung der ersten Sammeleinrichtung für Flüchtlingskinder in Berlin. Das hier angewandte Verfahren, alle in Berlin ankommenden jungen Flüchtlinge zunächst in einer zentralen und speziellen Einrichtung ausschließlich für junge Flüchtlinge unterzubringen, um nach einer Eingewöhnungszeit, die ebenfalls zur behördlichen Abklärung der Lage diente, die Jugendlichen dann in spezielle oder allgemeine Einrichtungen zu überstellen, wird heute von allen Bundesländern angewandt, die größere Gruppen von Flüchtlingsjugendlichen aufnehmen. Neben die209 KINDER AUF DER FLUCHT sen Erstversorgungseinrichtungen lassen sich mit Ende der 80er Jahre drei Typen von Betreuungsformen unterscheiden (vgl. auch Jockenhövel-Schiecke 1998): eine mono-ethnische Unterbringung, die möglichst nur eine Nationalität aufnimmt, in der Praxis allerdings oft 2 bis 3 verschiedene Nationalitäten vereint, eine multi-ethnische Unterbringung, die verschiedene Nationalitäten vereint, aber sich nur an jugendliche Flüchtlinge wendet, und eine integrative Unterbringung, in der ausländische und deutsche Jugendliche gemeinsam betreut werden. Mit der zunehmenden Zahl der unterschiedlichsten Nationalitäten kommt es in den letzten Jahren immer stärker zur multi-ethnischen Unterbringung. Obwohl diese von den PädagogInnen nicht unkritisch gesehen wird. Auf der einen Seite wird die Entwicklung eines ‘Zweite Klasse’ Jugendhilfesystems befürchtet, das aufgrund geringerer finanzieller Ausstattung bei einer Vielzahl von zusätzlichen pädagogischen Anforderungen (z. B. kulturelle Vielfalt, Verhaltensauffälligkeiten und traumatische Erlebnisse im Herkunftsland und auf der Flucht) kaum die Mindestanforderungen wie Integrationsförderung bei gleichzeitigem Erhalt der kulturellen Herkunftsidentität erfüllen kann. Auf der anderen Seite wird die multiethnische Unterbringung als Chance gesehen, an der gemeinsamen Problemlage von Jugendlichen als Hauptbezugspunkt anzusetzen ( Mono-/multiethnische Unterbringung). In letzter Zeit werden auch wieder integrative Betreuungsformen diskutiert, da Erfahrungen gezeigt haben, daß besonders deutsche, sozial belastete Jugendliche von der gemeinsamen Unterbringung mit jungen Flüchtlingen aufgrund deren höherer Leistungsbereitschaft positiv beeinflußt werden (vgl. Landesjugendamt Hessen 1996). Heute verfügen fast alle Hauptanlaufpunkte für junge Flüchtlinge über Erst210 versorgungseinrichtungen bzw. über Clearingstellen, die zunächst alle jungen Flüchtlinge unter 16 Jahren aufnehmen, die Sachlage klären und, wenn angezeigt, die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII durchführen. Hier zeigen sich deutliche Auswirkungen der Gesetzeslage auf die pädagogische Arbeit. Vor jeder pädagogischen Betreuung steht zunächst die Altersfeststellung, wenn keine ausreichenden Nachweise vorliegen, da die Altersgrenze von 16 Jahren für die Inobhutnahme durch die Jugendhilfe zwingende Voraussetzung geworden ist. Einige Jugendämter, so z. B. Berlin und Hessen, führen diese umstrittenen Altersfeststellungen selbst durch, in Hamburg und Bayern erfolgt die Altersfeststellung durch die Ausländerbehörde. Erst anschließend kann die Aufnahme in die Erstversorgung erfolgen. Ziel ist dabei eine erste Klärung des Hilfebedarfes und der pädagogischen Notwendigkeiten, um die Jugendlichen dann in geeignete Einrichtungen zu überstellen. Allerdings entspricht die tatsächliche Verweildauer nicht unbedingt diesem Anspruch einer Erstversorgung. So nennt Hamburg als durchschnittliche Verweildauer einen Zeitraum von 8,2 Monaten (Dahlgaard 1998), nach Jordan (1998) liegt der durchschnittliche Aufenthalt in einer Erstversorgungseinrichtung/Clearingstelle bundesweit bei ca. 5 1/2 Monaten. Erstversorgungseinrichtung und Clearingsstelle sind oft identisch, teilweise wird jedoch das Clearingverfahren ausserhalb der Unterbringung durchgeführt. Jordan (1998) hat die unterschiedlichen Clearingverfahren ausführlicher beschrieben. Die weiterführende Betreuung ist je nach Bundesland unterschiedlich. Die Bundesländer, die die Mehrzahl der jugendlichen Flüchtlinge betreuen, nämlich Berlin, Hamburg, Hessen und Bayern, weisen auch die differenziertesten Angebote auf. So verfügt Hamburg 1998 über Erstversorgungseinrichtungen mit insge- S TAT I S T I K samt 416 Plätzen, um die Jugendlichen dann in bezirklichen Jugendwohnungen (205 Plätze) oder Jugendpensionen (199 Plätze), in denen allerdings nur eine geringe pädagogische Betreuung gewährleistet ist, bzw. in regulären stationären Einrichtungen der Jugendhilfe (203 Jugendliche im Juni 1998) unterzubringen. Die restlichen fast 700 im Jahre 1998 in Hamburg betreuten jugendlichen Flüchtlinge werden offensichtlich außerhalb der Jugendhilfe untergebracht. Berlin betreut ebenfalls mehr als 400 Jugendliche in einer zentralen Erstversorgungseinrichtung, die dann in bezirkliche Unterbringungsformen in und außerhalb der Jugendhilfe überstellt werden. Genauere Angaben werden hier nicht gemacht. Hessen nennt ebenfalls sehr unterschiedliche Formen der weiterführenden Unterbringung wie Familiengruppen, Jugendwohngruppen, Betreutes Wohnen, oder Kinder- und Jugendheime, genauere Angaben über den Umfang der einzelnen Betreuungsformen und deren Nutzung im Verhältnis zur Nutzung von Plätzen in Kinder- und Jugendheimen, die vorrangig mit sozial belasteten deutschen Jugendlichen zur Verfügung stehen, liegen nicht vor. Die Bundesländer, die nur wenige jugendliche Flüchtlinge betreuen, integrieren diese wenigen Jugendlichen in die bestehenden regulären Angebote (z. B. Mecklenburg-Vorpommern), oder haben sich auf den Ansatz multi-ethnischer Betreung fokussiert (z. B. Brandenburg), um so Einrichtungen zu schaffen, die auf die spezifischen Bedürfnisse der jungen Flüchtlinge eingehen können. Hier wird die gemeinsame Lebenslage der jungen Flüchtlinge als ausschlaggebend gesehen, und nicht die gemeinsame Herkunft. Die Erfahrungen aus solchen Einrichtungen, in denen sehr viele unterschiedliche Ethnien gemeinsam betreut werden (z. B. in Brandenburg bis zu 20 Nationen gleichzeitig) haben neue Diskussionsanregungen hinsichtlich inter- kultureller pädagogischer Arbeit gegeben (vgl. auch Fachhochschule Potsdam 1996 und 1998). Allerdings scheint in der letzten Zeit die beginnende Vielfalt in den Betreuungsformen wieder einer zunehmenden Einschränkung aufgrund immer geringerer finanzieller Ressourcen weichen zu müssen. Um dem Abbau eines differenzierten Betreuungssystems entgegen zu wirken, wäre zum einen eine intensivere pädagogische Diskussion notwendig, die die Vorteile der ausdifferenzierten Angebote verdeutlicht, aber auch die dringende Einführung einer bundesweiten regelmäßigen Statistik, die es erlaubt, den Bedarf und die Entwicklungen in der Zukunft genauer nachvollziehen zu können und damit auch planbarer zu machen. Literatur Dahlgaard, S.: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Hamburg. In: Weiss, K./Rieker, P.: Allein in der Fremde, S. 73-84. Münster 1998. Heun, H-D./Kallert, H./Bacherl, C.: Jugendliche Flüchtlinge in Heimen der Jugendhilfe. Freiburg 1992. Jockenhövel-Schiecke, H.: Ausländische Jugendliche in Einrichtungen der Jugendhilfe – Entwicklungen, Erfahrungen, aktuelle Fragen. In: Weiss, K./Rieker, P.: Allein in der Fremde, S. 45-72. Münster 1998. Jordan, S.: Clearingverfahren und Erstaufname/Erstversorgung – Pädagogische Maßnahmen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Ein Bericht über die Bundesländer Berlin, Hessen, Hamburg und Bayern. In: Weiss, K./Rieker, P.: Allein in der Fremde, S. 85-96. Münster 1998. Landesjugendamt Hessen, Außenstelle Wiesbaden: Standortbeschreibung. Betreuung und Versorgung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen/Asylbewerbern in Hessen. Publikation des Landesjugendamtes Hessen. Wiesbaden 1996. Karin Weiss, Oggi Enderlein 211 KINDER AUF DER FLUCHT Interessenvertretung In dem folgenden Beitrag werden die Kernaufgaben der Interessenvertretung für Kinderflüchtlinge skizziert. Dabei werden nationale wie internationale Bestrebungen aufgezeigt. Zudem werden die zentralen Gruppierungen und Verbände vorgestellt, die sich in den letzten Jahren für die Interessen der Kinderflüchtlinge eingesetzt haben. 1. „Im Stich gelassen?“ Eine Studie für die Vereinten Nationen über „Kinder im Exil“ (Unicef 1997) kritisiert die Europäische Union. Sie bezieht sich auf deren Entwurf zu einer Stellungnahme über „Unbegleitete Minderjährige, die im Stich gelassen wurden“. Der Titel enthalte bereits ein klares Vorurteil. Er beschreibe irrtümlicherweise und ohne nähere Erklärung unbegleitete Kinder als „im Stich gelassen“ (ebd. S. 37). Der Entwurfstitel war sicher gut gemeint, was von dem Gesamttext allerdings nur mit Einschränkungen gelten kann. In diesem wird über die Umstände nachgedacht, die dazu führen, daß sich unter den vielen Kinderflüchtlingen auf der Welt eine beachtliche Gruppe befindet, die ohne Eltern oder Angehörige in den verschiedensten Zielländern ankommen. In der Überschrift des endgültigen Ratsbeschlusses sind die „im Stich gelassenen“ allerdings nicht mehr enthalten. Er spricht nur noch von „unbegleiteten Minderjährigen aus Drittstaaten“. Aber wäre es wirklich so abwegig gewesen, von im Stich gelassenen Kindern zu sprechen? Damit könnte ja nicht nur ihre Lage bei ihrer Ankunft, sondern vielleicht auch ihre Behandlung in den Aufnahmeländern beschrieben werden. Schließlich will doch die UN-Studie über die Behandlung von Kinderflüchtlingen in bestimmten Industrieländern mit aller Besorgnis die Aufmerksamkeit auf die schrof212 fe, bisweilen sogar fremdenfeindliche Behandlung von Kindern lenken, die dem Grauen der Kriege entkamen und in den reichen Industrieländern Zuflucht suchten. Damit wären sie in einem doppelten und gesteigerten Sinn „im Stich gelassen“. 2. Ein breites Spektrum der Interessenvertretung Kann das auch für die Bundesrepublik gelten? Dem stehen eine Fülle von Stellungnahmen, Resolutionen, nationalen und internationalen Rechtsgrundlagen, Interventionen und vor allem auch eine professionelle und ehrenamtliche Sozialarbeit entgegen, die sich für die Kinderflüchtlinge einsetzen und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden versuchen. Dieser Einsatz ist ohne ein gewisses Maß an öffentlicher und nichtöffentlicher Interessenvertretung nicht sinnvoll. Wenn die unten angeführten Stellungnahmen auch nur einen Teil der an die Öffentlichkeit gelangten darstellen dürften, läßt sich an der Liste ablesen, wer sich an der Interessenvertretung beteiligt hat. Es handelt sich um ein breites Spektrum vor allem der Organisationen und Einrichtungen, die mit der Sorge um junge Menschen, und dabei eben auch für jugendliche Flüchtlinge befaßt sind. Dabei haben die zuständigen Fachverbände unbegleitete Flüchtlingskinder nicht nur zu ihrer Klientel gezählt, sondern sind sich immer auch bewußt gewesen, daß mit ihnen auch besondere, in der klassischen Arbeit unbekannte Aufgabenstellungen verbunden waren. Dies dürfte sich nicht zuletzt auf die Art und Weise bezogen haben, wie die berechtigten Interessen dieser jungen Menschen zu vertreten waren. Kennzeichnend für die spezielle Interessenvertretung ist die gegenseitige Vernetzung der unterschiedlichsten Einrichtungen. Ein gutes Beispiel dürfte der Fachverband Soziale Dienste für junge INTERESSENVERTRETUNG Flüchtlinge Berlin-Brandenburg e.V.. sein. Er wurde 1991 von SozialarbeiterInnen, ErzieherInnen, FlüchtlingsberaterInnen und anderen in der Arbeit mit Kinderflüchtlingen engagierten Personen gegründet. Dem Fachverband gehören sowohl Einzelpersonen als auch Träger von Maßnahmen für junge Flüchtlinge als Mitglieder an. Maßgeblich für die Gründung des Verbandes war die Erfahrung, daß es mit den Kinderflüchtlingen um eine benachteiligte Personengruppe ging, die wie viele andere Randgruppen keine Lobby hat und sozialpolitische Einflußnahmen einzelner engagierter BetreuerInnen ohne organisatorischen Rahmen als wenig effektiv erfahren wurden. Die im Internet wiedergegebene Selbstdarstellung des Fachverbandes enthält auch eine kritische Bemerkung über die vorhandenen Flüchtlingsinitiativen. Sie könnten sich diesem spezifischen Problem angesichts der erdrückenden Fülle der sonstigen Flüchtlingsprobleme nur am Rande widmen. Gleichzeitig strebt er aber einen regen Austausch mit dem Flüchtlingsrat Berlin an, insbesondere dessen ‘Arbeitskreis unbegleitete minderjährige Flüchtlinge’ und stimmt seine Vorgehensweisen mit diesen Gremien ab. Der Flüchtlingsrat Berlin ist wie alle landesweiten Flüchtlingsräte selbst wiederum ein Zusammenschluß von Gruppen, Gemeinden, Verbänden und Einrichtungen, die solidarisch mit Flüchtlingen sind. Rechtspolitisch will der Verband erreichen, daß Maßnahmen der Jugendhilfe Vorrang vor ausländer- und ordnungsrechtlichen Betrachtungsweisen erhalten.1 Eine Bündelung der Interessenvertretung für Kinderflüchtlinge auf Bundesebene wurde durch die National Coalition erreicht. Ihr Rechtsträger ist die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe, selbst bereits eine Vereinigung aller für den Jugendbereich kompetenten Organisationen. Als Zusammenschluß von annähernd 90 bundesweit tätigen Organisationen und Initia- tiven geht es ihr um die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland. Diese Koalition stellt ein breites Bündnis dar und schließt vor allem auch Vereinigungen mit ein, die zur unmittelbaren Flüchtlingslobby gehören (vgl. National Coalition 1997). Internationale Organisationen und deren deutsche Zweige, alle Organisationen der Erziehungshilfe, des Kinderschutzes, die Sozialarbeit, der Sport, Schule, aber auch politische und allgemeine Jugendverbände gehören hierzu. Dies ist eine gesellschaftliche Repräsentation, bei der die unterschiedlichsten fachlichen und politischen Kompetenzen zusammengeführt werden, sich gegenseitig befruchten und damit nicht nur die politische, sondern eben auch die professionelle Grundlage einer gemeinsamen Intervention verstärken. Die gesteigerte gesellschaftliche und politische Kompetenz entfaltet ihre volle Wirkung aber erst, wenn über die erarbeiteten Positionen nicht nur eine breite Zustimmung erreicht wird. sondern die Inhalte auch in den jeweiligen Organisationen aktiv verbreitet werden. Man könnte dies als die Innenseite einer effektiven Interessenvertretung bezeichnen. Um es mit anderen Worten zu sagen, eine Resolution darf nicht einfach abgehakt sondern sie muß auch intern verarbeitet werden. Das gilt vor allem dann, wenn Stellungnahmen den bisher gesetzten Rahmen von Organisationen überschreiten, gesellschaftspolitisch vielleicht sogar neue Ansätze enthalten oder der offiziellen Politik entgegenstehen. 3. Der politische und rechtliche Kontext Rechtspolitisch erfolgt die Interessenvertretung der Kinderflüchtlinge in einem komplizierten Geflecht nationaler und internationaler Rechtssetzung. Dabei erhebt sich vor allem die Frage, wie der besondere Flüchtlingsschutz, der durch die Genfer 213 KINDER AUF DER FLUCHT Flüchtlingskonvention oder in besseren Zeiten auch durch das deutsche Asylrecht zu gewähren war, mit den Verpflichtungen und Rahmensetzungen des deutschen Jugendrechtes in Einklang zu bringen wären. Es geht aber auch um die juristische Klärung, ob die Rechtsstellung aus dem Haager Minderjährigenschutzabkommen und der UN-Kinderrechtskonvention Vorrang vor asyl- und ausländerrechtlichen Kriterien haben müßte. Nicht zuletzt stehen Entscheidungen darüber an, inwieweit eine konsequente Anwendung des neuen Jugendrechtes auch jugendlichen Flüchtlingen eine optimale Förderung garantieren könnte. Dabei hat es bisher zwei gegenläufige Entwicklungen gegeben, die immer mehr in den Vordergrund traten. Einerseits wuchs die Bedeutung der Kinderrechtskonvention in der internationalen Rechtsgemeinschaft, andererseits wurde das Asylrecht in der Bundesrepublik zunehmend eingeschränkt. Dies bezog sich nicht nur auf die Einschränkung der Zugangsrechte von Flüchtlingen zum Asylverfahren, sondern auch auf die Sozialhilfe, die soziale, psychologische, schulische und medizinische Versorgung von Flüchtlingen. 3.1 Einschränkungen des Asylrechts Bertold Huber hat bereits 1991, also zwei Jahre bevor es zur Grundgesetzänderung, zur weiteren Verschärfung des Asylverfahrensrechts und zu einer deutlichen Leistungsabsenkung für Flüchtlinge im Asylbewerberleistungsgesetz gekommen war, in einer von terre des hommes in Auftrag gegebenen Studie festgestellt, daß Kinderflüchtlinge zu den Ausländergruppen gehören, die am härtesten vom Ausländergesetz betroffen sind, das am 1.1.1991 in Kraft getreten war (vgl. Huber 1991). Das bezog sich vor allem auf die bis dahin nicht vorhandene Visapflicht für unter 16jährige und die drakonische Bestrafung 214 von Fluggesellschaften und Transportunternehmen, die Flüchtlinge ohne ausreichende Einreisedokumente zu befördern wagten. Noch einschneidender war aber 1993 die Änderung des Grundrechts auf Asyl. Die Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 enthält in Art. 14 den bedeutsamen Passus über das Asylrecht: „Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen“. Aus dieser Formulierung läßt sich aber keine Rechtspflicht des Staates zur Asylgewährung ableiten. Das hat auch die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nicht geschafft. Erst das Grundgesetz bringt einen entscheidenden Fortschritt. „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, so lautete lapidar Artikel 16, Abs. 2, Satz 2 Grundgesetz und räumte damit dem staatlichen Schutz des Flüchtlings Verfassungsrang ein und zwar im Sinne eines individuellen, gerichtlich einklagbaren Grundrechts. Mit der Grundgesetzänderung von 1993 wurde der Wortlaut dieses Artikels belassen, aber in seiner Anwendung so eingeschränkt, daß die Mehrheit der Flüchtlinge jeglichen Anspruch auf Asyl verloren hat. Die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl durch den neuen Artikel 16 a stellt eine weitgehende Aufkündigung des Status eines Flüchtlings als Rechtssubjekt dar. Flüchtlinge werden künftig wieder stärker Objekte des Staates. Das zeigt sich auch in einem der Begleitgesetze, dem sogenannten Asylbewerberleistungsgesetz ( Asylbewerberleistungsgesetz). Während bisher die Leistungen der Sozialhilfe für die AsylbewerberInnen durch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) geregelt waren, wird nun für diesen Personenkreis ein eigenes Gesetz geschaffen. Dabei ist eine deutliche Absenkung der bisherigen Leistungen für AsylbewerberInnen vorgesehen, die im Regelfall als Sachleistungen zu erbringen sind. Es handelt sich auch hier INTERESSENVERTRETUNG um eine Entrechtung und Entmündigung von Menschen. Dieser Trend muß bei dem Versuch, die Interessenvertretung für Kinderflüchtlinge wahrzunehmen, beachtet werden und zwar deswegen, weil er die Aufgabe einer Umsetzung der Forderungen der Kinderrechtskonvention erheblich erschweren dürfte. Dieser Trend ist direkt gegenläufig zu dem, was die Kinderrechtskonvention zu erreichen sucht. 3.2 Die Bedeutung der Kinderrechtskonvention Die Probleme beginnen bereits mit der offiziellen Übersetzung aus dem Englischen. Das „Aktionsbündnis Kinderrechte“, das durch die „National Coalition“ abgelöst wurde, kritisierte die amtliche Übersetzung des englischen Originaltextes „the best interests of the child“ mit „Wohl des Kindes“. Dieser im angelsächsischen Sprachgebiet gängige Ausdruck ist älter als die Formulierung in der Kinderrechtskonvention, und ist einfachhin übernommen worden. Mit Recht sieht die Kritik des Aktionsbündnisses einen Unterschied darin, ob ich „im besten Interesse des Kindes“ oder nur zum „Wohl des Kindes“ handle. Im Englischen wird das Kind stärker als Subjekt mit eigenen Interessen gesehen. Allerdings scheint es, wie es auch in der Übersetzung der UNHCR-Richtlinien zum Ausdruck kommt, keinen besseren Fachausdruck als „Wohl des Kindes“ zu geben. Wir haben es nicht nur mit schwer übersetzbaren Unterschieden der Sprache sondern mit unterschiedlichen Rechtskulturen zu tun. In diesen geprägte Begriffe können oft nicht ohne Verlust wichtiger Konnotationen übertragen werden. Mit dem „Wohl des Kindes“ geht eine Dynamik verloren, die auch die Interessenvertretung als solche berührt. Trotzdem bleibt die Feststellung gültig, daß die Kinderkonvention eine progressive Ausge- staltung der Menschenrechte widerspiegelt ( Kinderrechte). In der Analyse der Konvention wird immer wieder betont, sie stelle in der internationalen Rechtsgemeinschaft einen deutlichen Fortschritt dar. Einmal werden die allgemeinen Menschenrechte auf die besondere Situation von Kindern übertragen, zum anderen werden spezielle Rechte der Kinder herausgestellt, die sich vor allem daraus ergeben, daß diese besonders schutzbedürftig sind. Entscheidend ist aber die Sicht des Kindes als eines eigenständigen Rechtssubjektes. Diese Sicht überschreitet die in der Bundesrepublik fürsorgliche und stellvertretende Wahrnehmung der Rechtsanliegen von Kindern. „Die individualrechtliche Ausrichtung der Konvention durch die Sicht des Kindes als eigenständigem Rechtssubjekt ist der deutschen Familienpolitik fremd; noch immer sind die Rechte des Kindes fast ausschließlich in das Familienrecht eingebunden“ (Hugoth 1998, S. 70). Wenn die Kinderrechtskonvention wirklich ernst genommen wird, würde dies rechtliche Auswirkungen bis in das Grundgesetz hinein haben. Das Kind müßte als Grundrechtsträger gesehen werden, das mit einer eigenen Menschenwürde und einem eigenen Recht auch auf Selbstvertretung ausgestattet wäre. Erhebliche Kritik an der Haltung der Bundesregierung gegenüber den Verpflichtungen der Konvention enthalten die Vorschläge und Positionen der National Coalition in ihrer Veröffentlichung „Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland – Verpflichtungen aus der UN-Kinderrechtskonvention“ (National Coalition 1997). Sie wurde von der Arbeitsgruppe „Kinder und Krieg“ erstellt. Ihr gehörten UNICEF, UNHCR, das Institut für Friedenssicherung und Humanitäres Völkerrecht, das Deutsche Rote Kreuz und neben amnesty international und terre des hommes auch PRO ASYL an. 215 KINDER AUF DER FLUCHT Das Dokument ist eine Auseinandersetzung mit der Position der Bundesrepublik, die die Kinderrechtskonvention nur mit Vorbehalten und damit erheblich eingeschränkt ratifiziert hat. Diese Vorbehalte beziehen sich vornehmlich auf die Zugangsmöglichkeiten von unbegleiteten Flüchtlingskindern auf das Bundesgebiet. Die National Coalition bekräftigt darin nochmals ihre Position von 1995, daß die Bundesrepublik damit im klaren Widerspruch zu den Anliegen der Kinderrechtskonvention stehe, eine Auffassung, die von internationaler Warte geteilt wird. 4. Die Aufgabe Die Forderungen der National Coalition geben den international geltenden Standard wieder, den anzumahnen und zu erreichen die politische Aufgabe des nächsten Jahrzehnts sein dürfte. Vielleicht gibt es mit der neuen Bundesregierung einen Fortschritt, zumal die Bundesrepublik größten Wert darauf legt, international ein vollwertiges Mitglied der Völkerfamilie zu sein. Aber nicht nur an dieser, sondern auch an anderen Stellen des Flüchtlingsschutzes bleibt sie hinter dem zurück, was etwa die Genfer Flüchtlingskonvention weltweit und die Europäische Menschenrechtskonvention im kontinentalen Bereich festgelegt haben. Es ist eine der besonders delikaten und schwierigen Aufgaben der Zivilgesellschaft in Deutschland, sich diesem Unterschreiten der international gültigen Maßstäbe entgegenzustellen. Die Interessenvertretung für Kinderflüchtlinge steht also vor einer doppelten Aufgabe, einerseits dafür Sorge zu tragen, daß der junge Mensch als Rechtssubjekt ernster genommen wird, insofern er Kind ist, aber auch insofern er Flüchtling ist. Dabei sollten – wie es der Europäische Flüchtlingsrat betont – Kinderflüchtlinge „alle Rechte als Kinder und alle Rechte als Flüchtlinge“ haben (Europäischer Flücht216 lingsrat 1996). Daher sei jeder Staat verpflichtet, sowohl die UN-Konvention über die Rechte des Kindes und die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 in vollem Umfang zu respektieren. Eine beachtliches Spektrum von Organisationen und Verbänden nimmt, wie wir gesehen haben, die Interessen der Kinderflüchtlinge wahr. Das ist eine – wenn sie denn ihre politische Kraft bündelt und ausspielt – starke Lobby. Ihr Selbstverständnis und ihr Einsatzwille speist sich vorwiegend aus dem deutschen Jugendund Familienrecht, und jetzt vor allem auch aus der Kinderrechtskonvention. Von der gesellschaftlichen Struktur her ist die Interessenvertretung des Kindes als Flüchtling wesentlich geringer. Der Einsatz für die Rechte des Kindes mag in der Zukunft gewisse Erfolge erzielen. Das Engagement für Kinder, insofern sie Flüchtlinge sind, wird davon profitieren, selbst in einem Klima, das auf Rechtsminderungen für Flüchtlinge eingestellt ist. Anmerkung 1 Mittlerweile wurde auch ein ‘Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge’ gegründet. Die Adresse ist im Materialteil (Anhang) dieses Buches zu finden. Literatur Huber, Bertold, Kinderflüchtlinge – Flüchtlingskinder. Hrsg. von terre des hommes, Osnabrück, 1991, S. 16. (Der Text ist in aktualisierter Form unter dem Stichwort Gesetzliche Grundlagen in diesem Handbuch abgedruckt.) Hugoth, Matthias: Kinderrechte und ihre Relevanz für die Politik und Arbeit mit und für Kinder in Deutschland. In: Caritas ‘98. Freiburg 1998 National Coalition (Hrsg.): Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland – Verpflichtungen aus der UN-Kinderrechtskonvention. Vorschläge und Positionen, Bonn 1997 KINDERTRANSPORTE Europäischer Flüchtlingsrat (ECRE): „Kinder als Flüchtlinge“. Die wichtigsten Empfehlungen. London 1996 Herbert Leuninger Kindertransporte In einer von privater Hand organisierten Aktion gelang es 1938/39 etwa 10.000 jüdischen Kindern und Jugendlichen, von Deutschland nach Großbritannien zu fliehen. Der Ablauf der Transporte wird im folgenden kurz dargelegt; im Anschluß daran soll aufgezeigt werden, in welchem Ausmaß nicht nur die Betreuung während der Aufnahme, sondern auch die Umstände, die sich Jahre später bieten, den Zugang zur eigenen Vergangenheit prägen. 1. Organisation und Ablauf der Transporte Zwischen Dezember 1938 und September 1939 konnten etwa zehntausend jüdische Kinder – ohne ihre Eltern – aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und Polen nach England emigrieren. Damit war Großbritannien das Land, das bei weitem die größte Anzahl von jüdischen Kindern aufnahm, die zwischen 1933 und 1945 vor dem Nationalsozialismus fliehen mußten.1 Von den etwa zehntausend Kindern haben die wenigsten ihre Eltern wiedergesehen. 1938 war das Jahr, in dem die nationalsozialistische Verfolgung der Juden in Deutschland ihren vorläufigen Höhepunkt vor dem Zweiten Weltkrieg erreichte. Die Flucht wurde für viele zur immer dringenderen Notwendigkeit, aber Paß und Visum waren oft nur schwer zu bekommen. Doch wenn schon die Erwachsenen nicht ausreisen konnten, so wollte man wenigstens versuchen, die Kinder zu retten.2 Als im- mer schrecklichere Nachrichten aus Deutschland, zuletzt die Berichte über die Verwüstungen der ‘Reichsprogromnacht’ vom 9. auf den 10. November 1938 das Ausland erreichten, wurden auch in Großbritannien die Stimmen lauter, die die Regierung zum Handeln aufforderten. So debattierte am 16. November 1938 das englische Kabinett unter dem Vorsitz von Neville Chamberlain über die Aufnahme jüdischer Kinder und beschloß noch am selben Tag, eine unbestimmte Anzahl von verfolgten Kindern aus Deutschland einreisen zu lassen. Einzige Bedingung für das Visum war die Zahlung einer Garantiesumme von fünfzig englischen Pfund pro Kind, die entweder von bereits in Großbritannien lebenden Verwandten oder von einer der Organisationen, die an der Aktion beteiligt waren, gestellt werden mußte. Mit diesem Geld sollte eine eventuelle Emigration in ein Drittland finanziert werden, da die Regierung bei ihrer Entscheidung zunächst davon ausging, daß England für die meisten Kinder nur eine Zwischenstation war. Daran gekoppelt war das Versprechen der jüdischen Organisationen, die den Kindertransport in die Wege geleitet und später auch seinen gesamten Ablauf regelten und überwachten, daß keines der Kinder je von öffentlicher Hand unterstützt werden müßte. Als die Operation ‘Kindertransport’ im Parlament verhandelt wurde, war zunächst von einer Begrenzung auf 10.000 Kinder die Rede. Dieses Limit wurde später kaum noch erwähnt. Daß die Zahl der geflohenen Kinder sich mit diesen angestrebten 10.000 schließlich beinahe deckte, scheint ‘zufällig’ zu sein. Wäre nicht am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg ausgebrochen, so hätten die Organisatoren vermutlich noch eine weitaus grössere Anzahl von Kindern retten können. Um den Verwaltungsaufwand möglichst gering zu halten, hatte das britische In217 KINDER AUF DER FLUCHT nenministerium versprochen, auf die Vorlage eines Passes für jedes einzelne Kind zu verzichten und sich mit dem Abstempeln einfacher Reisepapiere zu begnügen. Dieser Stempel sowie die Visumkarte, die ebenfalls vom Innenministerium ausgestellt wurde, berechtigten die Kinder zur Einreise. Auch die deutsche Regierung gab nach kurzen Verhandlungen und einigen Schikanen3 eine umfassende Ausreisegenehmigung für alle mit dem Kindertransport ausreisenden Kinder. Bedingung war letztendlich nur, daß die Kinder kein Vermögen außer Land brachten. Dennoch kam es gelegentlich zu Verzögerungen beim Ausstellen der Reisepapiere und sehr selten sogar zu einem Ausreiseverbot. Bei der Reichsvertretung der Juden in Deutschland und auf der Kultusgemeinde in Wien konnten Eltern ihre Kinder für die Ausreise registrieren lassen. Für die Auswahl der Kinder, die letztendlich ausreisen konnten, gab es keine festgelegten Regeln; vordringlich jedoch sollten vor allem ältere Kinder in Sicherheit gebracht werden, deren Eltern bereits von den Nazis verhaftet worden waren und daher selbst von einer Verhaftung bedroht waren. Auch einige Kinder, die bereits festgenommen und wieder freigelassen worden waren, wurden so schnell wie möglich auf den Transportlisten eingeschrieben. Damit Geschwister in der Fremde zusammen bleiben konnten, versuchten deren Eltern, ihre Kinder gemeinsam auf die Reise zu schicken, doch war dies nicht immer möglich. In einigen Fällen konnten Geschwister zwar im selben Transport fliehen, wurden dann aber bei ihrer Ankunft in England getrennt. Relativ kurzfristig, d. h. meist nur wenige Tage im voraus, wurden die Eltern von der bevorstehenden Abreise ihrer Kinder informiert, so daß nicht viel Zeit blieb, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Zur Stunde des Abschiedes am Bahnhof wuß218 ten nur wenige Eltern, wohin genau ihre Kinder kommen würden: die Kinder, die mit der jüdischen Organisation ‘JugendAlijah’ fuhren, würden in Heimen mit angegliederten landwirtschaftlichen Betrieben unterkommen; einige wenige Familien hatten zudem Freunde oder Verwandte in England, die ihre Kinder aufnehmen würden; bei allen anderen Kindern war das Schicksal unklar. 2. Aufnahme der Kinder In Harwich, dem Ankunftshafen, wurde die Fähre von wartenden HelferInnen des eigens gegründeten ‘Refugee Children’s Committee’ (Kinderflüchtlinge-Komitee) in Empfang genommen und die Kinder zunächst in einem leerstehenden Ferienheim untergebracht. Da immer wieder neue Transporte aus Deutschland erwartet wurden und Platz für die Neuankömmlinge geschaffen werden mußte, war es nötig, für die Kinder so bald wie möglich ein neues Zuhause zu finden. Aufgerüttelt durch die Presse hatten zahlreiche – jüdische und nicht-jüdische – Familien angeboten, Kinder bei sich aufzunehmen. Die Erinnerungen an das Auswahlverfahren gleichen häufig der Schilderung eines Viehmarktes: Meistens während der Mahlzeiten im Speisesaal kamen die potentiellen Pflegeeltern und suchten die Kinder aus, die bei ihnen leben sollten. Je jünger die Kinder waren, desto größer waren ihre Chance, einen Platz in einer Pflegefamilie zu finden. Blonde, blauäugige Mädchen – im Sinne der Naziideologie ‘arisch’ aussehend – wurden von den neuen Pflegeeltern bevorzugt ausgewählt; dagegen war es für dunkelhaarige, größere Jungen viel schwieriger, in einer Familie unterzukommen. Doch obwohl die Bereitschaft, ein oder sogar mehrere Kinder aus Deutschland zu beherbergen, erstaunlich groß war, konnten längst nicht alle Flüchtlinge in Familien untergebracht werden. KINDERTRANSPORTE Die Kinder, für die keine Pflegeeltern gefunden werden konnten, wurden auf verschiedene Heime über ganz Großbritannien verstreut verteilt. Die Aktivitäten in England wurden größtenteils vom ‘Refugee Children’s Movement’ (RCM) und vom ‘Jewish Refugees’ Committee’ geleitet. Diese Organisationen unterhielten lokale Subkomitees, die die Unterbringung der Kinder vor Ort überwachten und sich speziellen Belangen wie Gesundheit, Ausbildung, Religion usw. widmeten. ‘Marks & Spencer’ – ein noch heute bekanntes und renommiertes Warenhaus – gab kostenlos Kinderkleidung und Nahrungsmittel an das RCM aus. Auch nicht-jüdische Organisationen leisteten großzügig Unterstützung; allen voran die englischen Quäker, die bei der Unterbringung und Versorgung der Kinder halfen. Ein von dem ehemaligen Premierminister Lord Baldwin in der TIMES und über Rundfunk verbreiteter Spendenaufruf an die englische Bevölkerung brachte fünfhunderttausend Pfund ein4 – zu dieser Zeit ein beachtlicher Betrag, vor allem, wenn man bedenkt, daß Antisemitismus auch in England nicht unbekannt war und die Kinder darüber hinaus häufig als ‘feindliche’ Deutsche wahrgenommen wurden. Die neue Umgebung bedeutete für die Kinder eine enorme Umstellung, die sie nun ohne den vertrauten Beistand ihrer Eltern bewältigen mußten. Das Essen war ungewohnt, die Menschen sprachen in einer unbekannten Sprache, die Sitten und Umgangsformen waren fremdartig und irritierend. Weil viele der deutschen Vornamen in England unbekannt waren, wurden manche Kinder mit einem englischen Namen versehen. Einige Kinder hatten große Schwierigkeiten in ihrer neuen Familie, wurden als billiges Dienstpersonal benutzt, sexuell mißbraucht oder aber komplett vernachlässigt. Andere wiederum erinnern sich gerne an ihre ehemalige Pflegefamilie, und einige haben heute noch Kontakt zu ihr. Schwierigkeiten ergaben sich auch aus der Tatsache, daß längst nicht alle Pflegefamilien jüdischen Glaubens waren. Kinder, die aus einem sehr religiösen Elternhaus stammten, waren plötzlich gezwungen, nicht-koschere Nahrung zu essen, und der Sabbat als Feiertag wurde nicht mehr begangen – die Traditionen, nach denen sie, ihre Eltern, Großeltern und alle anderen Vorfahren gelebt hatten, waren mit einem Schlag aus ihrem Alltag gestrichen. Die beteiligten Organisationen bemühten sich jedoch, Religionsunterricht und in regelmäßigen Abständen auch Gottesdienste anzubieten. Mit Ausbruch des Krieges ergaben sich für die Kinder weitere Veränderungen: Diejenigen, die mittlerweile 16 Jahre alt waren, wurden, wie alle Deutschen, umgehend als ‘enemy aliens’, feindliche AusländerInnen, interniert. In der Regel dauerte die Internierung einige Wochen, bis sie als Verfolgte des Nazi-Regimes klassifiziert und damit als ‘ungefährlich’ eingestuft wurden. Als später die Bomben des ‘Blitz’-Krieges über London und anderen englischen Städten niedergingen, wurden viele Kinder – deutsche wie englische – aufs Land evakuiert, wo sie wiederum in Familien unterkamen. Für die deutschen Kinder bedeutete dies ein erneutes Verlassen einer Umgebung, die ihnen mittlerweile vertraut geworden war. 3. Kriegsende Nach Kriegsende begann die Suche nach den zurückgelassenen Verwandten. Die meisten Angehörigen waren umgekommen, doch nur in den seltensten Fällen war es möglich, ein exaktes Todesdatum oder gar eine Begräbnisstätte ausfindig zu machen. Die Kinder, deren Eltern überlebten, hatten mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen: Wieder mußten sie eine 219 KINDER AUF DER FLUCHT vertraute, manchmal sogar liebgewonnene Umgebung verlassen und versuchen, mit den inzwischen fremdgewordenen leiblichen Eltern zusammenzuleben. Die Eltern hingegen, die meist schwere traumatische Erfahrungen hinter sich hatten, waren mit der Sorge um ihre Kinder häufig schlichtweg überfordert. Zu alledem gesellte sich auch hier das Problem der Sprache: zahlreiche Kinder hatten ihre deutsche Sprache vergessen und mußten wieder lernen, mit ihren Eltern zu kommunizieren. Die ‘Kinder’ – wie sie sich immer noch, auch auf englisch, bezeichnen – sind heute zwischen 60 und 70 Jahre alt. Einige sind nach Israel gegangen; ein kleinerer Teil ist in die USA, Kanada und Australien weiter gewandert; der größte Teil in Großbritannien geblieben. Ganz wenige ‘Kinder’ sind in die Bundesrepublik Deutschland zurückgekehrt. Seit mehreren Jahren gibt es in Großbritannien, den USA und Israel Vereinigungen5, deren Mitglieder sich regelmäßig treffen, um Erinnerungen und Erfahrungen auszutauschen. 4. Der Kindertransport – von heute aus gesehen Aus heutiger Sicht die Betreuung der Kinder qualitativ zu bewerten, scheint angesichts der Umstände problematisch, doch lassen sich in der Biographie der Kinder zwei Muster verfolgen, die Anlaß geben sollten zum Nachdenken über den längerfristigen Umgang mit Kinderflüchtlingen: Zum einen fand bei den meisten Kindern das statt, was Hans Keilson „sequentielle Tramatisierung“ nannte (Keilson 1979). In Keilsons Arbeit wird die massivkumulative Traumatisierung bei Kindern am Beispiel der jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden unter dem Aspekt der traumatischen Sequenzen, die diese Kinder durchlebten, systematisch analysiert. 220 Er kommt dabei zu dem Ergebnis, daß mit dem Ende des Krieges keineswegs ein Ende der Traumatisierung einhergeht. Vielmehr setzen sich Trauma und Stress durch die weitere Biographie der Probanden fort, auch in Situationen, die mit der ursprünglichen Traumatisierung – der Erfahrung des Krieges und Trennung von den Eltern – in keinem direkten Zusammenhang stehen. Ähnlich verhält es sich mit den Kindern des Kindertransportes: Nach den Antisemitismuserfahrungen in Deutschland und der frühen Trennung von den Eltern folgte in Großbritannien häufig die Stigmatisierung als ‘Deutsche’ und ‘Juden’ sowie die ständige Erwartung nach Dankbarkeit gegenüber ihren Gasteltern und ihrem Gastland. Nach Kriegsende, als die Wahrheit über das Ausmaß des Holocaust bekannt wurde und die Überlebenden der Konzentrationslager von dem, was sie durchgemacht hatten, berichten konnten, ergab sich für die ‘Kinder’ eine neue Perspektive. Zum einen wurden sie – vor allem, wenn eigene Familienangehörige im Lager umgekommen waren – von dem Schuldgefühl der Überlebenden geplagt. Gleichzeitig mußten sie immer wieder erfahren, daß ihre Umwelt ihnen nicht das Recht zugestand, sich zu beklagen, da sie sich ins sichere England haben flüchten ‘dürfen’ und ihnen so die schlimmsten Greuel erspart geblieben waren. Die Folgen der frühen Trennung von den Eltern und die Einsamkeit in einem fremden Land mit einer unbekannten Sprache wurden hierbei völlig vernachlässigt. Erst in den letzten etwa zehn Jahren, gelang es den ‘Kindern’ – wie übrigens auch den sogenannten „versteckten Kindern“6 –, aus dem Schatten der Auschwitz-Überlebenden herauszutreten: Kindertransport-Vereinigungen wurden gegründet und ‘Reunions’ abgehalten. In größeren Städten wie London und New York finden seither regelmäßige Treffen und Selbsthilfegrup- KINDERTRANSPORTE pen statt, in denen sich die TeilnehmerInnen über ihre Erfahrungen austauschen können (Barnett 1995). Für viele bietet dies zum ersten Mal die Möglichkeit, über ihr Schicksal zu reden und trauern, ohne sich ‘Weinerlichkeit’ und Undankbarkeit vorwerfen lassen zu müssen. Eine zweite Beobachtung ließ sich in den Gesprächen mit den Überlebenden des Kindertransportes machen: Die Möglichkeiten, mit der eigenen Vergangenheit umzugehen, hingen stark davon ab, in welchem Land das ehemalige ‘Kind’ schließlich seinen späteren Wohnsitz fand. ‘Kinder’, die in Großbritannien blieben, sind in der Regel bis heute nur ‘British subjects’, d. h. sie besitzen zwar einen britischen Paß, werden aber weder von sich noch von ihrer Umwelt als Briten akzeptiert, sondern bleiben – wenn auch unausgesprochen – Flüchtlinge. ‘Kinder’ hingegen, die nun in den USA leben, befinden sich in einem Land, das sich zum großen Teil selbst aus Flüchtlingen zusammensetzt und in dem der Holocaust im kollektiven nationalen Gedächtnis eine sehr viel prominentere Rolle spielt als beispielsweise in Großbritannien, wo der Sieg über Deutschland bis heute eher als ruhmreiche militärische Operation denn als Ende des Holocaust gefeiert wird. In Israel hingegen ist der Holocaust eine der wichtigsten Legitimationen für die Existenz des Staates, und die Vergangenheit der ‘Kinder’ gilt nicht als Ausnahme, sondern als Regel unter den BewohnerInnen dieses Landes. So läßt sich abschließend feststellen, daß nicht nur die Betreuung während der Flucht bzw. die Aufnahme nach der Flucht von Bedeutung ist, sondern in bisher möglicherweise noch unterschätztem Ausmaß auch der Umgang und das Verständnis, mit dem Kindern und Jugendlichen begegnet wird, die scheinbar schon längst aus dem ‘Flüchtlingsstatus’ herausgetreten sind. Anmerkungen 1 Zum Vergleich: Die USA nahmen im gleichen Zeitraum zweitausend unbegleitete Kinder auf. Unter der Gesamtzahl der nach England emigrierten Juden nimmt der Kindertransport ebenfalls einen besonderen Platz ein: Von den insgesamt fünfzigtausend der zwischen 1933 und 1945 aus Deutschland und Österreich nach Großbritannien geflohenen Juden war immerhin ein Fünftel mit den Kindertransporten gekommen. 2 Ein ursprünglicher Plan der Jewish Agency, die sich um die Emigration von Juden aus Deutschland kümmerte, hatte vorgesehen, jüdische Kinder nach Palästina in Sicherheit zu bringen, doch die britische Regierung, unter deren Protektorat Palästina damals stand, hatte abgewehrt: Mit Rücksicht auf die arabischen Nachbarn wollte man keine weiteren jüdischen Flüchtlinge ins Land lassen. 3 So ordnete Adolf Eichmann, als Leiter des Judenreferats im Wiener Reichssicherheitshauptamt zuständig für die Ausreisegenehmigungen der Kinder, an, daß der erste Transport am Samstag das Land verlassen haben müsse – dem Tag, an dem nach jüdischem Recht das Reisen nicht erlaubt ist. 4 Etwa die Hälfte des Geldes kam den Organisatoren des Kindertransportes zugute. 5 In London und Jerusalem ist dies „Reunion of Kindertransport“; in New York die „Kindertransport Association“. 6 Vgl. hierzu Jane Marks: The Hidden Children. The Secret Survivors of the Holocaust, New York 1993; André Stein: Versteckt und vergessen. Kinder des Holocaust, Wien/München 1995 Literatur Barnett, Ruth: The Other Side of the Abyss. A Psychodynamic Approach to Working with Groups of People Who Came to England as Children on the Kindertransporte, in: British Journal of Psychotherapy (1995) 12(2), S. 178-194 Gillespie, Veronica M.: Working with the ‘Kindertransports’, in: Sybil Oldfield (Hg.): This Working-Day World. Women’s Lives and Culture(s) in Britain 19141945, London 1994, S. 123-132 Göpfert, Rebekka: Der jüdische Kindertransport von Deutschland nach England 1938/39. Geschichte und Erinnerung, Frankfurt/M. 1999 221 KINDER AUF DER FLUCHT Keilson, Hans: „Sie werden von niemandem erwartet“. Eine Untersuchung über verwaiste jüdische Kinder und deren ‘sequentielle Traumatisierung’, in: Gesellschaft für Exilforschung (Hg.): Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 3, München 1985, S. 374395 London, Louise: British Immigration Control Procedures and Jewish Refugees, 1933-1939, in: Werner E. Mosse u. a. (Hg.): Second Chance. Two Centuries of German-Speaking Jews in the United Kingdom, Tübingen 1991 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, 48), S. 485-518 Rebekka Göpfert 222 GESETZLICHE GRUNDLAGEN 4. Recht und Gesetz Gesetzliche Grundlagen1 In dem Beitrag werden die zentralen gesetzlichen Regelungen vorgestellt und kommentiert, die sich nach dem Ausländergesetz, dem Kinder- und Jugendhilfegesetz und der UN-Kinderrechtskonvention für die Arbeit mit Kinderflüchtlingen ergeben. 1. Ausländergesetz2 1.1 Generelle Aufenthaltsgenehmigungspflicht und Befreiungen von der Aufenthaltsgenehmigungspflicht Nach § 3 I 1 AuslG bedürfen AusländerInnen für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet einer Aufenthaltsgenehmigung. Anders als nach der alten Regelung in § 2 II Nr. 1 AuslG 1965 unterliegen nunmehr auch Kinder und Jugendliche vor Vollendung des 16. Lebensjahres der generellen Aufenthaltsgenehmigungspflicht. § 3 I 2 AuslG räumt jedoch dem Bundesminister des Innern die Befugnis ein, zur Erleichterung des Aufenthalts von AusländerInnen durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Befreiungen vom Erfordernis der Aufenthaltsgenehmigung vorzunehmen. § 1 I DVAuslG vom 18.12.19903 befreit Staatsangehörige der in der Anlage I zur ‘Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes’ (DVAuslG) aufgeführten Staaten für Aufenthalte bis zur Dauer von drei Monaten von der Aufenthaltsgenehmigungspflicht sofern sie einen Paß(ersatz) besitzen und keine Erwerbstätigkeit im Sinne des § 12 DVAuslG aufnehmen wollen. In den zurückliegenden Jahren reisten in erster Linie Kinderflüchtlinge aus Afghanistan, Äthiopien (Eritrea), dem Iran, dem Libanon (Palästinenser), Sri Lanka (Tamilen) und aus der Türkei ein4. In jüngster Zeit, im Verlauf des Golf-Krieges, waren ferner Einreisen iranischer Kinder und Jugendlicher aus dem Irak festzustellen. Keines dieser Länder ist im Länderkatalog der Anlage I zur DVAuslG enthalten, so daß eine visumsfreie Einreise zunächst für einen Besuchsaufenthalt für Kinder aus den genannten Herkunftsregionen nicht mehr möglich ist. De facto heißt dies, daß Kinderflüchtlinge aus jenen Ländern regelmäßig keine Chance mehr haben, in der BRDeutschland Zuflucht zu suchen. Fluggesellschaften etwa werden sich wegen der in §§ 73 und 74 AuslG vorgesehenen Sanktionen (Rückbeförderungspflicht, Zwangsgeld) im Falle der Beförderung von AusländerInnen, die visumspflichtig sind, jedoch keinen Sichtvermerk besitzen, regelmäßig weigern, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ins Bundesgebiet zu transportieren. Ganz abgesehen davon, daß Mitarbeiter des Bundesgrenzschutzes bereits in den Hauptherkunftsländern von Asylbewerbern Paßund Sichtvermerkskontrollen vornehmen, so offenbar beispielsweise in Sri Lanka. 223 RECHT UND GESETZ Durch die Einführung der generellen Aufenthaltsgenehmigungspflicht schottet sich demnach die Bundesrepublik Deutschland u. a. gegenüber Kinderflüchtlingen ab. kaum überwindbare Hürde. Im Gegensatz zur früheren Rechtslage haben sich daher die Gewichte nachhaltig zu Lasten der Schutzsuchenden verschoben. 1.2 Zurückweisung an der Grenze 1.2.2 Ermessenszurückweisung (§ 60 II AuslG) 1.2.1 Zwingende Zurückweisung bei unerlaubter Einreise (§ 60 I AuslG) Nach § 60 I AuslG werden AusländerInnen, die unerlaubt einreisen wollen, an der Grenze zurückgewiesen. Eine unerlaubte Einreise in diesem Sinne liegt gemäß § 58 I AuslG dann vor, wenn die AusländerInnen – eine erforderliche Aufenthaltsgenehmigung nicht besitzen (Nr.1) oder – einen erforderlichen Paß nicht besitzen (Nr. 2) oder – wegen einer vorangegangenen Ausweisung oder Abschiebung nicht einreisen dürfen (Nr.3). Kinderflüchtlinge, die aufenthaltsgenehmigungspflichtig sind, aber nicht über die erforderlichen Dokumente verfügen, sind daher an der Grenze zurückzuweisen. Auch hier wirkt sich die seit dem 1.1.1991 geltende generelle Aufenthaltsgenehmigungspflicht für Kinder und Jugendliche in gravierender Weise aus. Diese den Grenzbehörden auferlegte Verpflichtung wird zum einen durch die Fälle des Verbots der Zurückschiebung bei (möglicher) politischer Verfolgung bzw. beim Vorliegen sonstiger Abschiebungshindernisse modifiziert (dazu unten Abschnitt 1.5), zum anderen beim Einreichen eines Asylbegehrens bereits an der Grenze im Sinne des § 18 I AsylVfG. Diese partielle Ausnahme von der Pflicht zur Zurückweisung setzt jedoch zunächst entsprechende Angaben bzw. einen entsprechenden Antrag des Flüchtlings voraus. Ihm obliegt die Darlegungslast dafür, ob die Voraussetzungen für eine solche Ausnahme vorliegen. Dies ist eine für Kinderflüchtlinge 224 1.2.2.1 Ermessenszurückweisung nach § 60 II Nr. 1 AuslG Nach § 60 II Nr. 1 AuslG kann die Grenzbehörde AusländerInnen an der Grenze zurückweisen, wenn ein Ausweisungsgrund vorliegt. Den Gesetzgebungsmaterialien zufolge5 entspricht diese Bestimmung dem § 18 I 2 AuslG 1965. Nach dieser früheren Regelung konnte eine Zurückweisung ausgesprochen werden, wenn die Voraussetzungen für eine Ausweisung im Sinne des § 10 AuslG 1965 vorlagen. Es ist daher auch für die jetzt geltende Fassung davon auszugehen, daß die Zurückweisung von AusländerInnen unter Berufung auf § 60 II Nr.1 AuslG nur erfolgen darf, sofern in der Person des Ausländers/der Ausländerin Gründe vorliegen, die auch nach erfolgter Einreise unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles die Ausweisung gemäß §§ 45 ff AuslG rechtfertigen würde. Allein der Umstand, daß rein formal einer der Ausweisungsgründe der §§ 45 I, 46 AuslG gegeben ist, berechtigt somit noch nicht zur Zurückweisung6. Bei Kinderflüchtlingen kommen in erster Linie zwei Ausweisungsgründe in Betracht: – § 46 Nr. 6 AuslG: zu gewärtigende Inanspruchnahme von Sozialhilfe zur Bestreitung des Lebensunterhalts; – § 46 Nr. 7 AuslG: Erhalt von Hilfe zur Erziehung außerhalb der eigenen Familie oder Hilfe für junge Volljährige nach dem Sozialgesetzbuch VIII, also dem zum 1.1.1991 in Kraft getretenen neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz (s. u. Kap. 2). GESETZLICHE GRUNDLAGEN Bei ihrer Entscheidung über die Zurückweisung eines Kinderflüchtlings wegen Vorliegens eines Ausweisungsgrundes hat die zuständige Grenzbehörde die in § 45 II AuslG im einzelnen aufgeführten Kriterien für die Ausübung des Ausweisungsermessens (Berücksichtigung der bisherigen Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet; Folgen der Ausweisung für hier lebende Familienangehörige, Duldungsgründe i.S.d. § 55 II AuslG) mitheranzuziehen. Die dortigen Regelungen sind also auch für die Handhabung des Zurückweisungsermessens von Bedeutung, wobei freilich bei Kinderflüchtlingen wegen eines fehlenden vorangegangenen Inlandsaufenthalts allein das Vorliegen von Duldungsgründen i.S.d. § 55 II AuslG relevant werden dürfte. 1.2.2.2 Ermessenszurückweisung nach § 60 II Nr. 2 AuslG AusländerInnen können nach § 60 II Nr. 2 AuslG an der Grenze zurückgewiesen werden, wenn der begründete Verdacht besteht, daß der Aufenthalt nicht dem angegebenen Zweck dient. Reist beispielsweise ein aufenthaltsgenehmigungspflichtiger Kinderflüchtling mit einem Touristenvisum ein und stellt sich z. B. im Rahmen einer Befragung bei der Einreisekontrolle heraus, daß tatsächlich ein längerfristiger Aufenthalt im Bundesgebiet beabsichtigt ist, so kann eine Zurückweisung ausgesprochen werden. Erforderlich sind jedoch begründete Verdachtsmomente. Vage Vermutungen reichen keinesfalls zur Zurückweisung nach § 60 II Nr. 2 AuslG aus. Auf jeden Fall hat die Grenzbehörde von Amts wegen zunächst den Sachverhalt umfassend aufzuklären, bevor eine Zurückweisungsentscheidung ergehen kann. Diese Sachverhaltsaufklärung hat nach den allgemeinen Bestimmungen des § 24 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) zu erfolgen. Die einem Ausländer/einer Ausländerin in § 70 AuslG auferlegten verschärften Mitwirkungspflichten kommen im Rahmen der Amtsermittlung der Grenzschutzbehörden nicht zum Zuge, da § 70 AuslG ausweislich des Gesetzeswortlauts ausschließlich für das Verfahren vor der Ausländerbehörde gilt7. Allerdings erfordert der Tatbestand des § 60 II Nr. 2 AuslG nicht, daß die Änderung des Aufenthaltszwecks hundertprozentig feststeht; eine hinreichende, durch tatsächliche Gegebenheiten und Unterlagen schlüssig, nachvollziehbar und beweiskräftig belegte Gewißheit wird als ausreichend erachtet werden müssen. Im übrigen heißt es hierzu in der amtlichen Begründung: ,,Die Zurückweisung wegen eines anderen als des angegebenen Aufenthaltszwecks kommt nur in Betracht, soweit es sich um eine für die Entscheidung über den Aufenthalt erhebliche Zweckänderung handelt. Soweit der Ausländer ein Visum besitzt, muß zudem der Verdacht auf Umständen beruhen, die von der Auslandsvertretung nicht oder nicht abschließend geprüft werden konnten.“8 Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 II Nr. 2 AuslG vor, so ist im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung auch zu prüfen, ob u. U. einem bei der Ausländerbehörde gegebenenfalls zu stellenden Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung zu dem tatsächlichen Aufenthaltszweck Erfolgsaussichten nicht von vornherein abzusprechen sind (vgl. dazu unten, Abschnitt 1.3). 1.2.2.3 Ermessenszurückweisung nach § 60 III AuslG AusländerInnen, die für einen vorübergehenden Aufenthalt vom Erfordernis einer Aufenthaltsgenehmigung befreit sind, können unter denselben Voraussetzungen an der Grenze zurückgewiesen werden, unter denen eine Aufenthaltsgenehmigung versagt werden darf (§ 60 III AuslG). 225 RECHT UND GESETZ Da Kinderflüchtlingen i.d.R. kein Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung nach den Vorschriften des Ausländergesetzes, z. B. § 20 AuslG für den Kindernachzug, zusteht, kommen die allgemeinen Versagungsgründe des § 7 II AuslG, die für die Ermessens-Aufenthaltsgenehmigung des § 7 I AuslG einschlägig sind, in Betracht. Dies sind: – Vorliegen eines Ausweisungsgrundes (Nr. 1) – fehlende Unterhaltssicherung und fehlender Krankenversicherungsschutz (Nr. 2) und – Beeinträchtigung oder Gefährdung der Interessen der BRDeutschland durch den Aufenthalt eines Ausländers/einer Ausländerin aus einem sonstigen Grund (Nr. 3). Von den Versagungstatbeständen des § 7 II AuslG werden im Grunde all die Sachverhalte erfaßt, die nach altem Recht unter den Begriff der „Belange der Bundesrepublik Deutschland“ also der Negativschranke, im Sinne des § 2 I 2 AuslG 1965 fielen. Die hierzu in der Rechtsprechung entwickelten Kriterien sind daher auch im Rahmen des neuen § 7 II AuslG i.V.m. § 60 III AuslG heranzuziehen. Es muß somit also auch im Rahmen der Prüfung einer Zurückweisung nach § 60 III AuslG zum einen eine zukunftsbezogene Beurteilung erfolgen. Ausschließlich im Hinblick auf den beabsichtigten zukünftigen Aufenthalt muß einer der in § 7 II AuslG benannten Belange beeinträchtigt werden; eine allerdings bei Kinderflüchtlingen i.d.R. nicht gegebene Beeinträchtigung entsprechender Belange in der Vergangenheit reicht demgegenüber nicht aus. Zum anderen muß die Beeinträchtigung von beachtlichem Gewicht sein, so daß nicht jede entfernte Gefährdung eines noch so geringen öffentlichen Belanges oder Interesses die Annahme, es liege ein Regelversagungsgrund nach § 7 II AuslG vor, rechtfertigt9. Diese Begrenzung der 226 Reichweite der Versagungstatbestände des § 7 II AuslG, bei deren Vorliegen die Aufenthaltsgenehmigung regelmäßig zu verweigern ist, ist geboten, da andernfalls für die Ausübung des in § 7 I AuslG eingeräumten (Rest)Ermessens kein Raum bliebe. Auf die Zurückweisung bezogen heißt dies, daß nicht schon jede geringfügige Beeinträchtigung oder Gefährdung bundesrepublikanischer Interessen das Zurückweisungsermessen eröffnet. 1.2.3 Zurückweisungshindernisse Eine Zurückweisung von Kinderflüchtlingen ist ausgeschlossen, sofern ein Abschiebungshindernis im Sinne der §§ 51 I, IIIV, 52, 53 I, II und IV AuslG vorliegt (§ 60 V AuslG)10. 1.2.4 Rechtsschutz Im Gegensatz zu § 18 AuslG 1965 sind die Zurückweisungsmöglichkeiten in § 60 AuslG verschärft worden. Insbesondere führt die unerlaubte Einreise, also der fehlende Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung oder eines Visums, zur Verpflichtung, zurückzuweisen. Zwar kann gegen die Zurückweisung nach wie vor Widerspruch und anschließend Klage erhoben werden. Die vorläufige Gestattung der Einreise ist jedoch nur im Wege eines Antrags auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO bei dem zuständigen Verwaltungsgericht zu erlangen. Kinderflüchtlinge sind jedoch regelmäßig sowohl wegen ihres Alters als auch wegen fehlender Sach- und Rechtskenntnisse nicht in der Lage, auf dem Rechtsweg in dem geschilderten Sinne vorzugehen. Sie bleiben im Ergebnis rechtsschutzlos, zumal ihrer Zurückweisung oder -schiebung ihre mangelnde Handlungsfähigkeit nach neuem Recht gemäß § 68 II 1 AuslG nicht entgegensteht. Dies erweist sich m.E. im GESETZLICHE GRUNDLAGEN Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 I, 28 I GG und die Rechtsschutzgarantie des Art.19 IV GG als verfassungsrechtlich nicht zulässig. 1.3 Aufenthaltsgenehmigung nach erfolgter Einreise Sofern ein Kinderflüchtling entweder mit einem Besuchervisum oder aber unter Berufung auf die (durch Änderungsverordnung vom 2.4.1997 weitgehend abgeschaffte) Befreiung von der Aufenthaltsgenehmigungspflicht gemäß §§ 1 I, 2 II Nr. 1 DVAuslG für einen vorübergehenden Aufenthalt eingereist ist und die für einen Besuchsaufenthalt in der Regel zulässige Aufenthaltsdauer von drei Monaten abzulaufen droht, stellt sich die Frage, ob einem nunmehr zu stellenden Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung Erfolgsaussichten zukommen. War von vornherein bei der Einreise ein Aufenthalt auf unbestimmte Dauer, also nicht nur vorübergehend, beabsichtigt, bestand die sich aus § 3 III 1 AuslG ergebende Verpflichtung, die Aufenthaltsgenehmigung vor der Einreise in der Form des Sichtvermerks (Visum) einzuholen, wobei zugleich die Zustimmung der inländischen Ausländerbehörde, in deren Bezirk der Aufenthalt genommen werden sollte, erforderlich war (§ 11 I Nr. 1 DVAuslG). Für den Fall der Einreise ohne das erforderliche Visum bzw. mit einem auf maximal drei Monate lautenden Touristenvisum, für das die Zustimmung der Ausländerbehörde nicht erforderlich war, bestimmt § 8 I Nr. 1 und 2 AuslG, daß selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Rechtsanspruchs auf eine Aufenthaltsgenehmigung diese zu versagen ist. Freilich sieht § 9 I AuslG die Möglichkeit vor, gleichwohl im Wege einer Ermessensentscheidung eine Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen. Und zwar zum einen im Falle der Einreise ohne das erforderliche Visum, sofern die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung nach dem Ausländergesetz offensichtlich erfüllt sind und der Ausländer/die Ausländerin nur wegen des Zwecks oder der Dauer des beabsichtigten Aufenthalts visumspflichtig ist (§ 9 I Nr. 1 AuslG). Zum anderen kann im Falle der Einreise mit einem Visum, das ohne die erforderliche Zustimmung der Ausländerbehörde erteilt worden ist, eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden, sofern die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung offensichtlich erfüllt sind. Da jedoch Kinderflüchtlingen kein Rechtsanspruch auf eine Aufenthaltsgenehmigung zusteht, greift jene Ausnahmemöglichkeit nicht ein. Ihnen gegenüber verbleibt es daher zunächst bei der Duldung. Die spätere Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis ist freilich nicht ausgeschlossen (vgl. § 30 II – V AuslG). 1.4 Aufenthaltsgenehmigung zum Verbleib bei hier lebenden Familienangehörigen Gelegentlich erfolgt die Einreise von Kinderflüchtlingen zu im Bundesgebiet lebenden Verwandten (z. B. Geschwister, Onkel/ Tante)11. Die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung bestimmt sich in diesen Fällen nach § 22 AuslG, der den Nachzug sonstiger Familienangehöriger regelt, sofern die Aufnahme des Kindes in den Familienverband des sich hier bereits aufhaltenden entfernteren Verwandten und ggf. sogar die Übertragung der Personensorge auf diesen beabsichtigt ist. § 22 I AuslG setzt für die Erteilung einer solchen Aufenthaltsgenehmigung, die im Ermessen der Ausländerbehörde steht, voraus, daß dies „zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist.“ Härteklauseln werden in der Verwaltungs- und Rechtsprechungspraxis regelmäßig eng ausgelegt. Die Voraussetzungen des § 22 I 227 RECHT UND GESETZ 1 AuslG sind jedoch auf jeden Fall gegeben, wenn aufgrund der Lage im Herkunftsland durch einen weiteren Verbleib Leib oder Leben bedroht waren. Dies ist insbesondere im Falle des Verlusts der Eltern oder auch sonstiger nahestehender Angehöriger durch Tod, Inhaftierung, Verschleppung oder Verschollenheit anzunehmen, aber regelmäßig auch in Gefährdungslagen, die durch Krieg, Bürgerkrieg oder auch durch massive, nicht zwingend politisch motivierte Angriffe privater Personen oder Organisationen (z. B. Zuhälterringe, Drogenkartelle, sonstige organisierte Kriminalität) hervorgerufen werden, vor denen die staatlichen Organe aber keinen hinreichenden Schutz bieten können oder wollen. Da die Entscheidung über die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 22 I 1 AuslG im Ermessen der Ausländerbehörde steht, ist ferner zu prüfen, ob Versagungsgründe im Sinne des § 7 II AuslG vorliegen (s. o.). § 7 II AuslG sieht die Versagung der Aufenthaltsgenehmigung als Regelfall vor, so daß bei besonderen, atypischen Fallkonstellationen, wie sie bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gegeben sind, die Versagungsgründe des § 7 II AuslG unberücksichtigt bleiben müssen. Ungeachtet dessen verbleibt der Ausländerbehörde bei ihrer Entscheidung – dem Wortlaut des § 22 I 1 AuslG nach – noch ein Ermessensspielraum. Da jedoch bei den geschilderten Sachverhaltsvarianten ein einreisender minderjähriger Flüchtling regelmäßig auf die Aufenthaltsnahme im Bundesgebiet angewiesen ist, verbleibt der Ausländerbehörde letzten Endes kein Ermessensspielraum, so daß als einzige Entscheidungsalternative die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung in Betracht kommt (Ermessensreduzierung auf Null). 228 1.5 Ausweisung und Abschiebung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge Als Ausweisungsgründe, von denen Kinderflüchtlinge insbesondere bedroht sind, kommen vor allem § 46 Nr. 6 und Nr. 7 AuslG in Betracht. Nach § 46 Nr. 6 können AusländerInnen u. a. ausgewiesen werden, wenn sie zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts Sozialhilfe in Anspruch nehmen oder in Anspruch nehmen müssen. Da hier ausdrücklich von der Sicherung des Lebensunterhalts die Rede ist, kann konsequenterweise allein die Inanspruchnahme von Hilfe zum Lebensunterhalt nach den §§ 11 ff BSHG, nicht aber die (potentielle) Inanspruchnahme von Hilfe in besonderen Lebenslagen gemäß §§ 27 ff. BSHG zur Ausweisung führen.12 Nach § 46 Nr. 7 können AusländerInnen ausgewiesen werden, wenn sie Hilfe zur Erziehung außerhalb der Familie oder Hilfe für junge Volljährige nach dem 8. Buch Sozialgesetzbuch (KJHG) erhalten; dies gilt jedoch nicht für Minderjährige, deren Eltern oder deren allein personensorgeberechtigte Elternteile sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. § 45 AuslG benennt nun entscheidungserhebliche Gesichtspunkte, die bei der Ausübung des Ausweisungsermessens durch die Ausländerbehörde zu berücksichtigen sind. Nach § 45 II Nr. 1 AuslG sind die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und schutzwürdige persönliche, wirtschaftliche und sonstige Bindungen von AusländerInnen im Bundesgebiet zu berücksichtigen. Diese Bestimmung zielt im wesentlichen darauf ab, die durch einen bereits zurückgelegten, erlaubten Aufenthalt im Bundesgebiet erfolgte Integration der Betroffenen angemessen zu beachten. Da Kinderflüchtlinge in der Regel erstmalig ins Bundesgebiet einreisen, kommt bei ihnen dem Aspekt eines vorangegangenen Aufenthalts grundsätzlich keine Bedeutung zu. Etwas anderes kann allein für den Fall gelten, daß sich bereits GESETZLICHE GRUNDLAGEN nahe Familienangehörige im Bundesgebiet aufhalten, zu denen ‘nachgezogen’ werden soll. Diese persönlichen Bindungen dürfen nicht außer Betracht bleiben.13 Nach § 45 II Nr. 2 AuslG sind die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen von AusländerInnen, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihnen in familiärer Lebensgemeinschaft leben, zu beachten. Dieser Ermessensgesichtspunkt kommt im Falle von Kinderflüchtlingen nicht zum Tragen, da diese sich ja bislang nicht in familiärer Lebensgemeinschaft im Inland aufgehalten hatten. Nach § 45 II Nr. 3 AuslG sind darüber hinaus vorliegende Duldungsgründe im Sinne des § 55 II AuslG von Bedeutung für die Ausübung des Ausweisungsermessens. Diese Regelung des § 45 II Nr. 3 AuslG ist im Vergleich zur alten Rechtslage neu und soll den Gesetzgebungsmaterialien zufolge die in der Rechtsprechung aufgetretene Streitfrage, inwieweit bei der Ausübung des Ausweisungsermessens bereits Abschiebungshindernisse mit zu berücksichtigen sind, einer abschließenden gesetzlichen Klärung zuführen.14 Nach § 55 II AuslG wird AusländerInnen eine Duldung erteilt, solange ihre Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist oder nach § 53 VI oder § 54 AuslG ausgesetzt werden soll. Tatsächliche Gründe im Sinne des § 55 II AuslG liegen u. a. dann vor, wenn die tatsächliche Herkunft eines Kinderflüchtlings unbekannt ist oder wenn keine gültigen und für eine Ab- bzw. Zurückschiebung unerläßlichen Paß- (Ersatz)Papiere vorliegen. Von größerer Bedeutung dürften jedoch jene Umstände sein, die aus rechtlichen Gründen einer Abschiebung entgegenstehen. Dies sind im einzelnen: – Verbot der Abschiebung bei bereits festgestellter politischer Verfolgung im Sinne des § 51 AuslG oder bei möglicher politischer Verfolgung im Sinne des § 52 AuslG. In dem letztgenannten Fall liegt jedoch ein Asylantrag vor, der gemäß § 18 I AsylVfG (vgl. aber auch § 18 II – IV AsylVfG), Art. 33 Genfer Flüchtlingskonvention ohnehin einer Abschiebung bzw. Zurückweisung entgegensteht. – Abschiebungshindernisse nach § 53 IIII AuslG bei drohender Folter, drohender Todesstrafe oder bei Vorliegen eines förmlichen Auslieferungs- bzw. Festnahmeersuchens. – Abschiebungshindernisse, die sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergeben (§ 53 IV AuslG). Dies ist zum einen das in Art. 3 EMRK verankerte Verbot der Folter bzw. der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung. Als erniedrigende Behandlung können nach der Spruchpraxis der Europäischen Kommission für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte je nach den konkreten Umständen des Einzelfalles u. a angesehen werden die gerichtlich verhängte Prügelstrafe oder rassisch diskriminierende Handlungen.15 Als weiteres Abschiebungshindernis kommt das in Art. 4 I EMRK enthaltene Verbot der Sklaverei oder Leibeigenschaft in Betracht. Die Übergabe von Kindern oder Jugendlichen zur Arbeit in sklavereiähnlichen Einrichtungen oder unter sklavereiähnlichen Bedingungen (z. B. Zwang zur Prostitution o. ä.) stellt eine Verletzung des Verbots der Leibeigenschaft dar.16 Sofern Kinderflüchtlingen im Falle ihrer Rückkehr in das Herkunftsland derlei gegen die Menschenwürde verstossende Praktiken drohen, liegt ein Abschiebungshindernis vor. Entsprechendes gilt, wenn von Staats wegen Zwangs- oder Pflichtarbeit im Sinne des Art. 4 II EMRK auferlegt wird.17 Unter Rückgriff auf die im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation ent229 RECHT UND GESETZ standene Konvention über die Abschaffung von Zwangsarbeit vom 25.6.1957 ist das Vorliegen von Zwangs- oder Pflichtarbeit zu bejahen, wenn diese als Mittel der politischen Disziplinierung, als Methode der wirtschaftlichen Entwicklung, als Mittel zur Arbeitsdisziplin, als Bestrafung für die Teilnahme an Streiks oder zum Zwekke der rassischen, sozialen, nationalen oder religiösen Diskriminierung angeordnet wird.18 Drohende Zwangsheirat kann sich gleichfalls als eines der gemäß §§ 45 II Nr. 3, 55 II, 53 IV AuslG beachtlichen Ausweisungs- bzw. Abschiebungshindernisse herausstellen. Zwar enthält Art. 12 EMRK von seinem Wortlaut her kein ausdrückliches Verbot der Zwangsheirat und fordert nicht explizit die freie Zustimmung der Partner zur Eheschließung. Mit Frowein/Peukert (EMRK. Art. 12 Rdnr. 4) kann jedoch nicht angenommen werden, daß Art. 12 EMRK, der ein individuelles Grundrecht garantiert, irgendeinen Zwang zur Heirat zulassen könnte: „Die Freiheit der Eheschließung ist ein Recht, das die negative Freiheit mitenthalten muß, wenn es Bedeutung haben soll“ (ebd.).19 Darüber hinaus ist den genannten Autoren darin zu folgen, daß ein Zwang zur Heirat eine klare Verletzung von Art. 8 EMRK wäre, weil dieser einen in keiner Weise durch Art. 8 II EMRK gerechtfertigten Eingriff in die Privatsphäre beinhalte.20 Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann beispielsweise die Entführung (christlicher) Frauen durch muslimische Männer, die Zwangsheirat sowie die zwangsweise Eingliederung einer Entführten in den Haushalt des Entführers grundsätzlich als asylrechtlich relevante politische Verfolgung im Sinne des Art. 16 II 2 GG angesehen werden.21 Sofern in diesen Fällen das Vorliegen politischer Verfolgung verneint wird, weil jene Übergriffe dem (türkischen) Staat nicht zugerechnet werden können,22 ist daher zumindest das 230 Vorliegen eines Abschiebungshindernisses zu bejahen. Gemäß §§ 45 II Nr. 3, 55 II AuslG scheidet eine Ausweisung ferner aus, sofern einer der Duldungsgründe nach § 53 VI oder § 54 AuslG vorliegt. Nach § 53 VI 1 AuslG kann von der Abschiebung in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer/diese Ausländerin eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dies dürfte insbesondere für kriegsverletzte ausländische Kinder von Bedeutung sein, die im Ausland nicht zu erlangender ärztlicher Hilfe und Behandlung dringend bedürfen. Ebenso gilt dies, wenn ein Kinderflüchtling im Falle einer Rückkehr in das Herkunftsland ohne familiären Beistand wäre und/oder in eine ausweglose, existentielle Notlage geriete, wie z. B. zur Zeit in Afghanistan. Gefahren in einem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer/ die Ausländerin angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden hingegen bei Entscheidung der obersten Landesbehörde nach § 54 AuslG zur Aussetzung von Abschiebungen aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der BRDeutschland berücksichtigt (§ 53 VI 2 AuslG). Besteht für bestimmte AusländerInnengruppen ein Abschiebungsverbot, so ist dies auch im Rahmen einer Ausweisungsentscheidung zu beachten. 2. Kinder- und Jugendhilfegesetz 2.1 Allgemeine Grundsätze und Leistungsarten Anders als das alte Jugendwohlfahrtsgesetz, das ein ‘Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen. und gesellschaftlichen Tüchtigkeit’ auf deutsche Kinder beschränkte,23 gesteht das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz nunmehr jedem jungen GESETZLICHE GRUNDLAGEN Menschen „ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ zu (§ 1 I KJHG). Nach § 6 I 1 KJHG werden Leistungen nach diesem Gesetz jungen Menschen, Müttern, Vätern und Personensorgeberechtigten von Kindern und Jugendlichen gewährt, die ihren tatsächlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Freilich wird dieser Grundsatz für ausländische Staatsangehörige in § 6 II KJHG wieder eingeschränkt, da diese Leistungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes nur unter der Voraussetzung beanspruchen können, daß sie rechtmäßig oder aufgrund einer ausländerrechtlichen Duldung ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der BRDeutschland haben. Diese Einschränkung wird in der Praxis Auswirkungen für den Personenkreis der Kinderflüchtlinge haben.24 § 6 IV KJHG stellt schließlich klar, daß Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts unberührt bleiben. Zu denken ist hier insbesondere an das Haager Minderjährigenschutzabkommen und an das Europäische Fürsorgeabkommen. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz umschreibt in seinem zweiten Kapitel die einzelnen Leistungen der Jugendhilfe. Neben der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen; also Kindergärten; Horten und anderen Einrichtungen; der Jugendund Jugendsozialarbeit sowie der Förderung der Erziehung in der Familie durch entsprechende Bildungs- und Beratungsangebote, aber etwa auch die Angebote von Vater- bzw. Mutter-Kind-Einrichtungen für Alleinerziehende, sieht das Gesetz Leistungen vor, die sich im Einzelfall als relativ kostenintensiv erweisen können. Zu nennen sind u. a.: – Die in § 23 III KJHG vorgesehene Übernahme der einer Tagespflegeperson entstehenden Aufwendungen einschließlich der Kosten der Erziehung, sofern die Tagespflege für das Kindeswohl geeignet und erforderlich ist. – Der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff KJHG, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Hierzu gehören zum einen die Erziehungsberatung, die soziale Gruppenarbeit, Erziehungsbeistandschaften sowie sozialpädagogische Familienhilfe. Zum anderen fallen die Erziehung in einer Tagesgruppe (§ 32 KJHG), die insbesondere Kinderflüchtlinge betreffende Vollzeitpflege in einer anderen Familie (§ 33 K]HG) bzw. Heimerziehung (§ 34 KJHG) sowie die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§ 35 KJHG) hierunter. Wird eine dieser letztgenannten Hilfen zur Erziehung nach den §§ 32 – 35 KJHG gewährt, so ist gemäß § 39 I KJHG auch der notwendige Unterhalt des Kindes oder des Jugendlichen außerhalb des Elternhauses bzw. bei Vollzeitpflege auch der gesamte Lebensbedarf einschließlich der Kosten der Erziehung sicherzustellen bzw. vom Jugendhilfeträger zu übernehmen; im übrigen ist für diesen Personenkreis auch Krankenhilfe zu leisten (§ 40 KJHG). § 41 I KJHG sieht schließlich entsprechende Leistungen für junge Volljährige vor, i.d.R. bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres, ggf. auch darüber hinaus. 2.2 Rechtmäßiger oder geduldeter gewöhnlicher Aufenthalt als Anspruchsvoraussetzung 2.2.1 Maßgeblichkeit des Aufenthalts des Sorgeberechtigten oder des Kindes All diese Leistungen können unter den jeweiligen Voraussetzungen – wie bereits eingangs gesagt – auch von AusländerIn231 RECHT UND GESETZ nen beansprucht werden, sofern sie rechtmäßig oder aufgrund einer ausländerrechtlichen Duldung ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben.25 Im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von KJHG-Leistungen, die für Kinderflüchtlinge bestimmt sind, stellt sich aber die Frage, ob § 6 II KJHG insoweit überhaupt einschlägig ist. Bei diesem Personenkreis kommen insbesondere die Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege (§ 33 KJHG) oder die Hilfe zur Erziehung als Heimerziehung (§ 34 KJHG) in Betracht. Ein darauf bezogener Anspruch steht jedoch wie § 27 I KJHG eindeutig festlegt, dem Personensorgeberechtigten, nicht aber dem Kind, zu. Sofern nicht ausnahmsweise einem bereits hier lebenden ausländischen Familienangehörigen eines Kinderflüchtlings die Personensorge übertragen ist, ist das Sorgerecht einer anderen Privatperson (etwa bei Unterbringung in einer Pflegefamilie), einem Verein (§ 54 KJHG) oder dem Jugendamt als Amtsvormund übertragen ( Vormundschaft, Vereinsvormundschaft). Es ist mithin darauf abzustellen, ob der Sorgeberechtigte die Voraussetzungen des § 6 I und II KJHG erfüllt. Der aufenthaltsrechtliche Status des Kindes ist hingegen in diesem Zusammenhang unbeachtlich. Dem steht auch nicht die Verankerung eines Rechts auf Erziehung in § 1 I KJHG entgegen. Dort heißt es: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und: auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ Insbesondere läßt sich aus dieser Vorschrift nicht die Schlußfolgerung herleiten, die in § 27 I KJHG dem Sorgeberechtigten zugesprochenen Ansprüche auf Hilfe zur Erziehung seien in Wahrheit mit Blick auf § 1 I KJHG originäre Ansprüche des minderjährigen Kindes oder Jugendlichen. In den Gesetzgebungsmaterialien wird dieser Norm die ‘Funktion einer Generalklausel und Leit232 norm’ zugesprochen. Zugleich wird aber klargestellt, daß aus ihr ein unmittelbarer Anspruch auf ein Tätigwerden der öffentlichen Jugendhilfe nicht hergeleitet werden könne. Wörtlich lautet die Begründung hierzu: „Wegen der Zuweisung der Erziehungsaufgabe an die Eltern wäre es dem Gesetzgeber bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen verwehrt, Kindern und Jugendlichen ein subjektivöffentliches Recht auf Erziehung (gegenüber der öffentlichen Jugendhilfe) einzuräumen. (...) Für ein generelles subjektives Recht des Kindes oder Jugendlichen auf Erziehung gegenüber dem Staat ist deshalb nach der Grundkonzeption von Art. 6 II GG kein Raum.26 Folglich bleibt es dabei, daß es sich bei dem Anspruch des § 27 I KJHG um den des Personensorgeberechtigten handelt und es mithin im Rahmen des § 6 I u. II KJHG auf dessen Aufenthalt im Sinne dieser Vorschrift ankommt. Im Falle einer bestehenden Vereins- oder Amtsvormundschaft bzw. einer Unterbringung des Kindes in einer deutschen Pflegefamilie sind somit bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen generell die genannten Jugendhilfeleistungen zu erbringen, da es auf den aufenthaltsrechtlichen Status des Kindes nicht ankommt. Ist hingegen einem ausländischen Staatsangehörigen die Personensorge über einen Kinderflüchtling übertragen worden, bestimmt sich die Leistungsverpflichtung an den Sorgeberechtigten u. a. nach den Erfordernissen des § 6 II KJHG.27 Stellt man hingegen entgegen dem eindeutigen Gesetzeswortlaut nicht auf den Aufenthalt des Sorgeberechtigten als Anspruchsteller, sondern auf den des Kinderflüchtlings ab, ist gemäß § 6 II KJHG der Frage nachzugehen, ob ein gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes im Bundesgebiet vorliegt. Wann ein Aufenthalt im Bundesgebiet als gewöhnlich im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden muß, bestimmt GESETZLICHE GRUNDLAGEN sich nach § 30 III SGB I. Hierzu hat das BSG in inzwischen ständiger Rechtsprechung entschieden, daß beispielsweise AsylbewerberInnen in der Regel keinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben.28 Dieser Grundsatz kommt freilich nicht zum Zuge, wenn ein Asylbewerber auch bei erfolglosem Ausgang des Asylverfahrens nicht mit der Abschiebung rechnen muß.29 In einem weiteren Urteil vom 20.5.1987 kam das BSG zu dem Ergebnis, daß der Aufenthalt eines Ausländers/einer Ausländerin aufgrund einer befristeten Aufenthaltserlaubnis, die nur wegen der Erkrankung eines Familienangehörigen erteilt worden war, als lediglich vorübergehend einzustufen ist.30 Wörtlich führt das BSG aus: „Der tatsächliche Aufenthalt eines Ausländers im Bundesgebiet wird erst dann zum gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von § 30 III SGB I, wenn nach dem Ausländerrecht und der Handhabung der einschlägigen Ermessensvorschriften durch die Behörden davon auszugehen ist, daß der Ausländer nicht nur vorübergehend, sondern auf Dauer im Bundesgebiet bleiben kann“.31 Es ist also eine Prognose über den künftigen Verbleib im Bundesgebiet anzustellen.32 Entscheidend käme es somit im Rahmen der vorliegenden Fragestellung auf den aufenthaltsrechtlichen Status des Kinderflüchtlings an. 2.2.2 Aufenthaltsrechtliche Stellung des Kinderflüchtlings 33 Soweit ein Kinderflüchtling selbst oder durch einen Vormund einen Asylantrag gestellt hat und somit im Besitze einer Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylVfG ist, stehen ihm bzw. dem Personensorgeberechtigten im Anschluß an die obigen Ausführungen zur Rechtsprechung des BSG Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz nicht zu. Eine Ausnahme ergibt sich jedoch für jene, die auch nach einem erfolglosen Asylverfahren auf unbestimmte Zeit einem Abschiebungsverbot unterliegen.34 Entsprechendes wird man für den Personenkreis der sog. ‘Bonafide-Flüchtlinge’35 annehmen müssen. Da Kinderflüchtlinge regelmäßig die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach §§ 15 ff AuslG36 oder einer Aufenthaltsbewilligung nach §§ 28 f.37 nicht erfüllen, kommt für sie, sofern sie nicht zugleich AsylbewerberInnen sind, lediglich eine Aufenthaltsbefugnis oder Duldung in Betracht. Nach § 30 I AuslG wird die Aufenthaltsgenehmigung als Aufenthaltsbefugnis u.a. erteilt, „wenn einem Ausländer aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland Einreise und Aufenthalt erlaubt werden soll.“ Von dieser Regelung wird insbesondere der Personenkreis der defacto-Flüchtlinge erfaßt. Zu ihm zählen AsylbewerberInnen, die in ihrem Herkunftsland politische Verfolgung befürchten müssen, gleichwohl aber nicht gemäß Art. 16 a I GG als Asylberechtigte anerkannt werden können, weil sie beispielsweise in einem Drittland (z. B. Äthiopier im Sudan, Afghanen in Pakistan) vor Verfolgung sicher waren.38 Darüber hinaus kann die Ausländerbehörde eine Aufenthaltsbefugnis erteilen, wenn sonstige Abschiebungshindernisse (z. B. drohende Folter oder Todesstrafe; Lebensgefahr im Herkunftsland) bestehen. Sie kann es aber auch bei einer Duldung, d. h. dem Aussetzen der Abschiebung gemäß § 55 AuslG, belassen. Sofern nicht von vornherein absehbar ist, daß ein nur vorübergehendes Abschiebungshindernis besteht, wird man im Zweifelsfall davon ausgehen müssen, daß AusländerInnen, die eine Aufenthaltsbefugnis oder Duldung39 besitzen, ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Demnach können für sie Leistungen nach dem 233 RECHT UND GESETZ KJHG beansprucht werden, da sie die Voraussetzungen des § 6 II KIHG erfüllen. AusländerInnen, bei denen die Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention festgestellt worden ist und denen ein Anspruch auf eine Aufenthaltsbefugnis zusteht (§ 30 V AuslG), genießen schließlich gemäß Art. 23 GFK hinsichtlich der ‘öffentlichen Fürsorge’ InländerInnenbehandlung. Herkömmlicherweise wurden Leistungen nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz unter dem Begriff ‘öffentliche Fürsorge’ im Sinne dieser Norm subsumiert.40 Entsprechendes hat für das Kinder- und Jugendhilfegesetz zu gelten. Aus vorstehenden Ausführungen ergibt sich, daß auch als Asylberechtigte anerkannte Kinderflüchtlinge, die nach § 3 I AsylVfG eine Rechtsstellung nach der Genfer Flüchtlingskonvention genießen, in vollem Umfang Leistungen des Kinderund Jugendhilfegesetzes beanspruchen können. Ebenso verhält es sich mit Familienangehörigen von Asylberechtigten, die nicht selbst als politische Verfolgte im Sinne des Art. 16 a I anerkannt sind.41 2.3 Maßnahmen zum Schutz von Kinderflüchtlingen nach dem KJHG und BGB 2.3.1 Vorläufige Maßnahmen § 42 I 1 KJHG sieht die Inobhutnahme eines Kindes oder Jugendlichen als vorläufige Unterbringung bei einer geeigneten Person (Nr. 1), in einer Einrichtung (Nr. 2) oder in einer sonstigen betreuten Wohnform (Nr. 3) vor. Aus den Gesetzgebungsmaterialien ergibt sich, daß diese Regelung in erster Linie auf minderjährige ‘AusreißerInnen’ aus Familien und Heimen zielt.42 Sie ist zumindest auch dann einschlägig, wenn Kinderflüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland einreisen und keine familiären Beziehungen zu hier lebenden nahen oder ggf. auch entfernte234 ren Verwandten bestehen. In diesen Fällen ist das Jugendamt regelmäßig verpflichtet, einen Minderjährigen in seine Obhut zu nehmen, sofern dieser um Obhut bittet (§ 42 II 1 KJHG) oder sofern eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert (§ 42 III 1 KJHG). Mit der Inobhutnahme übt das Jugendamt das Recht der Beaufsichtigung, Erziehung und Aufenthaltsbestimmung aus, wobei der mutmaßliche Wille des Personensorge- oder Erziehungsberechigten angemessen zu berücksichtigen ist (§ 42 I 2 u. 3 KJHG). Da mit dem neuen Ausländergesetz die generelle Aufenthaltsgenehmigungspflicht auch für Kinder und Jugendliche unter dem 16. Lebensjahr dem Grundsatz nach eingeführt worden ist (s. o.) und Kinderflüchtlinge i.d.R. einen Aufenthalt auf zumindest zur Zeit der Einreise nicht absehbare Zeit anstreben, ist es bereits in dem Stadium der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42 KJHG geboten, ggf. einen Asylantrag im Sinne des § 13 AsylVfG oder aber einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung, zumindest aber Duldung, zu stellen. Für den letztgenannten Fall ergibt sich diese Verpflichtung zudem aus § 68 IV AuslG, wonach die gesetzlichen VertreterInnen und sonstige Personen, die anstelle der gesetzlichen VertreterInnen den Ausländer/die Ausländerin im Bundesgebiet betreuen, die erforderlichen aufenthaltsrechtlichen Anträge zu stellen haben.43 Diese Verpflichtung besteht nicht bzw. endet unter der Voraussetzung, daß der Kinderflüchtling das 16. Lebensjahr vollendet hat und somit bereits vor Eintritt der Volljährigkeit zur Vornahme von Verfahrenshandlungen nach dem Ausländergesetz oder dem Asylverfahrensgesetz fähig ist (§ 68 I AuslG, § 12 AsylVfG). GESETZLICHE GRUNDLAGEN 2.3.2 Bestellte Amtsvormundschaft oder -pflegschaft und Ausübung des Aufenthaltsbestimmungsrechts Bei Kinderflüchtlingen stellt sich i.d.R. mangels eines familiären Bezugs in der Bundesrepublik die Notwendigkeit, VormünderInnen oder PflegerInnen zu bestellen ( Vormundschaft). Mit den entsprechenden Aufgaben nach §§ 1793 ff BGB bzw. § 1909 BGB kann das Vormundschaftsgericht eine Einzelperson, einen Verein oder aber das Jugendamt bestellen. Hierbei hat die Bestellung von Personen oder Vereinen zu VormünderInnen oder PflegerInnen Vorrang gegenüber der Amtsvormundschaft oder -pflegschaft ( Vereinsvormundschaft).44 Mit dieser gerichtlichen Aufgabenübertragung geht u. a. das Recht und die Pflicht zur Aufenthaltsbestimmung der Minderjährigen als zentraler Bestandteil des Personensorgerechts im Sinne des § 1631 BGB einher. Es obliegt den VormünderInnen oder PflegerInnen, darüber zu entscheiden, ob die Mündel bei ihnen im Haushalt,45 bei Familienangehörigen, in einer Pflegefamilie oder in einem Heim untergebracht werden sollen. Ausschlaggebend sind hierbei die Interessen der Mündel.46 Das Jugendamt hat hierbei ggf. beratend und unterstützend zu wirken (§ 53 II, III KJHG). Dies gilt insbesondere, wenn zugleich andere Leistungen nach dem KJHG erbracht werden. Zugleich muß die Aufenthaltsbestimmung im Rahmen der geltenden Gesetze erfolgen.47 Soweit für einen Kinderflüchtling ein Asylantrag gestellt worden ist ( Asylverfahren) und somit dem Grunde nach die Vorschriften des Asylverfahrensgesetzes anwendbar werden, kann es zu einer Konfliktlage zwischen Aufenthaltsbestimmungs- und ggf. damit einhergehendem Jugendhilferecht auf der einen und den aufenthaltsrechtlichen Regelungen des Asylverfahrensgesetzes auf der anderen Seite kommen. Konkret ist zu fragen, ob das Aufent- haltsbestimmungsrecht von bestellten VormünderInnen oder PflegerInnen gegenüber den asylrechtlichen Verteilungsund Zuweisungsentscheidungen zurücktreten muß. § 22 I AsylVfG bestimmt, daß AsylbewerberInnen keinen Anspruch darauf haben, sich für die Dauer des Asylverfahrens in einem bestimmten Land oder an einem bestimmten Ort aufzuhalten (so auch – ohne dies ausdrücklich zu sagen – jetzt §§ 50 und 51 AsylVfG). Sowohl im Rahmen der länderübergreifenden Verteilungs- als auch der anschließenden landesinternen Zuweisungsentscheidung nach §§ 50, 51 AsylVfG, deren nähere Ausgestaltung im Ermessen der jeweils zuständigen Behörde steht, sind die Haushaltsgemeinschaft von Ehegatten und ihren Kindern unter 18 Jahren zu berücksichtigen (§ 22 VI 1 AsylVfG). Sinn und Zweck dieser Regelung bestehen darin, dem verfassungsrechtlich gebotenen Schutz von Ehe und Familie im Sinne des Art. 6 I GG Rechnung zu tragen. Es soll verhindert werden, daß durch solche Entscheidungen Ehen und Familien auseinandergerissen werden. In der Rechtsprechung ist inzwischen allgemein anerkannt, daß auch andere persönliche Beziehungen im Rahmen jener Ermessensentscheidung Beachtung finden müssen, sofern sie ähnliches Gewicht wie eine Haushaltsgemeinschaft im Sinne der §§ 50 IV, 51 I AsylVfG aufweisen, z. B. ein bestehendes ernsthaftes Verlöbnis, das Zusammenleben mit Geschwistern oder auch ferneren Verwandten.48 Als erheblich ist auch der Umstand angesehen worden, daß AsylbewerberInnen aus psychischen oder physischen Gründen auf das Zusammenleben mit bestimmten Personen besonders angewiesen sind.49 Ein solches besonderes Angewiesensein ist insbesondere auch dann anzunehmen, wenn ein Kinderflüchtling im Rahmen der Jugendhilfe in einer Pflegefamilie untergebracht ist. Die Pflegefamilie steht nämlich nach stän235 RECHT UND GESETZ diger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts50 gleichfalls unter dem Schutz des Art. 6 I GG. Hinzu kommt zumindest bei einer längerfristigen Unterbringung des Kindes in der Pflegefamilie auf nicht absehbare Dauer, wie es bei Kinderflüchtlingen i.d.R. der Fall ist, und der damit einhergehenden Übertragung der Personensorge, daß Art. 6 II GG zu beachten ist. Die genannten Grundsätze erlangen auch im Rahmen von Verteilungs- und Zuweisungsentscheidungen, die gegenüber asylbegehrenden Kinderflüchtlingen zu ergehen haben, entscheidungserhebliches Gewicht. Die Vormundschaft über Minderjährige ist Ersatz für die elterliche Sorge; die Aufgaben von VormünderInnen sind umfassend und entsprechen denen der Eltern.51 Die Übertragung der Vormundschaft, die regelmäßig einen Eingriff in das Elternrecht des Art. 6 II 1 GG beinhaltet, erfolgt in Ausübung des staatlichen Wächteramtes über die Ausübung jenes Elternrechts (Art. 6 II 2 GG), ist somit verfassungsrechtlich begründet. Sie kommt insbesondere auch dann zum Tragen, wenn die Erziehungsberechtigten selbst nicht in der Lage sind, die ihnen an sich zustehenden elterlichen Befugnisse auszuüben, wie dies im Falle von Kinderflüchtlingen regelmäßig der Fall ist. Die Ausübung des Aufenthaltsbestimmungsrechts durch VormünderInnen steht somit gleichfalls unter verfassungsrechtlichem Schutz. Dies gilt erst recht, wenn mit der Wahrnehmung jenes Rechts zugleich eine den VormünderInnen gleichfalls obliegende Entscheidung für eine bestimmte erzieherische Maßnahme (z. B. Unterbringung des Minderjährigen in einem bestimmten Heim im Rahmen der Jugendhilfe, die ja auch gegenüber AsylbewerberInnen nicht ausgeschlossen ist; s. o.) getroffen wird. Ein Eingriff in das sich aus der Vormundschaft herleitende Aufenthaltsbestimmungsrecht bedarf daher einer be236 sonderen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Das mit den §§ 50, 51 AsylVfG verfolgte Ziel einer gleichmäßigen Verteilung von AsylbewerberInnen auf das gesamte Bundesgebiet bzw. innerhalb des Bundeslandes ist für sich gesehen zwar verfassungsrechtlich unbedenklich,52 genießt jedoch selbst keinen verfassungsrechtlichen Rang und vermag daher das grundrechtlich abgesicherte Aufenthaltsbestimmungsrecht auch von bestellten VormünderInnen nicht zu suspendieren. Dies bedeutet zwar nicht zwingend, daß unter Vormundschaft stehende asylsuchende Kinderflüchtlinge von vornherein aus dem Anwendungsbereich der Verteilungs- und Zuweisungsbestimmungen der §§ 50, 51 AsylVfG herauszunehmen sind. Die in der Ausübung des Aufenthaltsbestimmungsrechts sich niederschlagende Sorgerechtsentscheidung erlangt jedoch ein solches Gewicht, daß sie im Rahmen einer Verteilungs- und Zuweisungsentscheidung nach §§ 50 IV, 51 I AsylVfG regelmäßig zu einer Ermessensreduzierung auf Null zugunsten des Aufenthaltsbestimmungsrechts führen muß. Aus den vorgenannten Gründen darf darüber hinaus eine Unterbringung von Kinderflüchtlingen in einer Gemeinschaftsunterkunft gemäß § 53 AsylVfG gegen den Willen der VormünderInnen nicht erfolgen. Dies ergibt sich nicht nur aus den von ihnen zu wahrenden persönlichen, erzieherischen und privaten Belangen des Kinderflüchtlings selbst. § 53 I 2 AsylVfG hebt ausdrücklich das öffentliche Interesse hervor, das zu berücksichtigen ist. Die Wahrnehmung des Aufenthaltsbestimmungsrechts erfolgt jedoch gerade in Ausübung des staatlichen Wächteramts über das Elternrecht und ist somit zugleich nachhaltiger Ausdruck einer im öffentlichen Interesse erfolgten Entscheidung. GESETZLICHE GRUNDLAGEN 2.4, Kinder- und Jugendhilfegesetz und Haager Minderjährigenschutzabkommen § 6 IV KJHG stellt für den Bereich des KJHG klar, daß Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts unberührt bleiben. Somit ist das Haager Minderjährigenschutzabkommen (MSA) weiterhin uneingeschränkt geltendes Recht. Da die Bundesrepublik die Anwendung des Übereinkommens nicht im Sinne eines Vorbehaltes nach Art. 13 III MSA auf Minderjährige aus den Vertragsstaaten beschränkt hat, erstreckt sich seine Geltungskraft nach Maßgabe der weiteren Regelungen auf alle ausländischen minderjährigen Kinder und Jugendlichen. Art. 1 MSA bestimmt, daß Behörden und Gerichte des Staates, in dem ein Minderjähriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, grundsätzlich dafür zuständig sind, Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen zu treffen. Den Materialien zum Minderjährigenschutzabkommen zufolge soll bei der Bestimmung der sog. Aufenthaltszuständigkeit auf den tatsächlichen Mittelpunkt der Lebensführung abgestellt werden.53 Die Rechtsprechung ist dieser Vorgabe gefolgt. Es kommt somit nicht auf den formalen Wohnsitz der Minderjährigen an, sondern auf den Schwerpunkt der sozialen, insbesondere familiären Bindungen und wird bei der Einreise aus einem anderen Land bereits dann begründet, wenn aus den Umständen ersichtlich wird, daß der Aufenthalt an diesem Ort auf längere Zeitdauer angelegt ist und der neue Aufenthaltsort künftig an die Stelle des bisherigen Daseinsmittelpunkts treten soll.54 Der Eintritt der Zuständigkeit nach Art. 1 MSA erfordert daher nicht zwingend eine bestimmte Aufenthaltsdauer im Inland. Vielmehr kann im Einzelfall bereits mit der Einreise der gewöhnliche Aufenthalt im Sinne des Art. 1 MSA begründet werden, wenn sich aller Voraus- sicht nach ein nicht nur kurzfristiger Verbleib im Bundesgebiet abzeichnet.55 In diesen Fällen bedarf es daher auch nicht des Erfordernisses einer gewissen sozialen Eingliederung,56 die zwangsläufig im Verlauf des weiteren Aufenthalts erfolgen wird. Da Kinderflüchtlinge, wie die Erfahrung lehrt, regelmäßig wegen bestehender rechtlicher oder tatsächlicher Abschiebungshindernisse auf nicht absehbare Zeit im Bundesgebiet verweilen werden, begründen sie bereits mit ihrer Einreise ihren im Sinne des Art. 1 MSA gewöhnlichen Aufenthalt im Inland. Zwar wird unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des LG Berlin57 auch in der Literatur die Ansicht vertreten, daß ein illegal eingereister Minderjähriger, der in der Bundesrepublik Deutschland um Asyl nachsuchen will, noch keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland besitzt.58 Demgegenüber ist zum einen festzustellen, daß mit der Stellung eines Asylantrags der Aufenthalt eines Ausländers gemäß § 55 AsylVfG gestattet, mithin rechtmäßig ist.59 Zum anderen erstrecken sich derzeit Asyl(gerichts)verfahren meist auf mehrere Jahre, so daß bereits von daher eine Aufenthaltsdauer gegeben ist, die den Anforderungen des Art. 1 MSA entspricht. Im übrigen vermag die vom LG Berlin vertretene Rechtsansicht auf jeden Fall auch dann nicht zu greifen, wenn unabhängig vom Ausgang eines Verfahrens auf Anerkennung als politisch Verfolgte(r) im Sinne des Art. 16 a I GG oder § 51 I AuslG mit einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet, sei es aufgrund einer Duldung oder aber einer Aufenthaltsbefugnis, zu rechnen ist. Haben somit i.d.R. Kinderflüchtlinge ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet, so besteht nach Art. 2 I MSA die Verpflichtung der inländischen Behörden, die nach innerstaatlichem Recht vorgesehenen Schutzmaßnahmen zu treffen. Welche Maßnahmen ergriffen werden, richtet 237 RECHT UND GESETZ sich nach den Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles. In Betracht kommen für den Personenkreis der Kinderflüchtlinge u. a. – Einsetzung von PflegerInnen oder VormünderInnen;60 – Regelung des Aufenthaltsbestimmungsrechts;61 – Unterbringung der Minderjährigen bei Pflegeeltern oder in einem Heim.62 Als Schutzmaßnahme anzusehen ist aber auch die mit der Unterbringung in einer Pflegefamilie oder einem Heim zusammenhängende Bewilligung finanzieller Hilfen nach dem KJHG.63 Zwar richten sich Art und Auswahl der Schutzmaßnahmen nach der sogenannten lex fori, also dem inländischen Recht. § 6 IV KJHG i.V.m. Art. 1 u. 2 MSA modifizieren jedoch hinsichtlich des personalen Geltungsbereichs die Regelungen des § 6 IV KJHG. Auch wenn man der von mir oben in Abschnitt 2.2 vertretenen Ansicht, daß für Kinderflüchtlinge ohnehin aufgrund ihres aufenthaltsrechtlichen Status im Sinne des § 6 II KJHG Leistungen nach diesem Gesetz zu erbringen sind, nicht folgt und einen Leistungsausschluß annimmt, so bewirken hingegen Art. 1 u. 2 MSA eine Verpflichtung, auch für Angehörige dieses Personenkreises entsprechende Leistungen als Schutzmaßnahmen zu erbringen.64 Diese Verpflichtung ergibt sich darüber hinaus regelmäßig aus Art. 9 I MSA, demzufolge in allen dringenden Fällen die erforderlichen, freilich meist vorläufigen Schutzmaßnahmen auch dann zu treffen sind, wenn kein gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne des Art. 1 MSA, sondern lediglich ein sogenannter einfacher Aufenthalt gegeben ist.65 Fraglich ist, ob auch ausländerrechtliche Entscheidungen im Einzelfall als Schutzmaßnahme im Sinne des Haager Minderjährigenschutzabkommens erforderlich sein können. Der auslegungsbedürftige Begriff der Schutzmaßnahme ist weit zu fassen. Er umfaßt alle Maß238 nahmen, die im Interesse eines Kindes erforderlich sind, seien sie privat- oder öffentlichrechtlicher Natur.66 Zwar wird die Ansicht vertreten, Maßnahmen, die typischerweise nicht auf Minderjährige zugeschnitten sind, sondern allgemein ordnungspolitischen Interessen dienten und seit eh und je dem öffentlichen Recht bzw. dem sog. Eingriffsrecht zugeordnet werden, seien keine Schutzmaßnahmen im Sinne des MSA. Dies gelte u. a. für Maßnahmen der Ausländerbehörden, etwa eine Ausweisung.67 Dieser Grundsatz mag im allgemeinen mit Sinn und Zweck des MSA im Einklang stehen, kann jedoch keine ausnahmslose Geltung beanspruchen. Ausländerrechtliche Entscheidungen zu Gunsten von AusländerInnen, z. B. die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung oder die vorläufige Duldung des Verbleibs im Bundesgebiet gemäß § 55 I AuslG, sind ausnahmsweise dann als Schutzmaßnahmen im Sinne des MSA zu begreifen, wenn sie sich zugleich für die Einleitung weiterer Schutzmaßnahmen (z. B. PflegerInnenbestellung, Unterbringung etc.) als unerläßlich erweisen. Zumindest für den Personenkreis der Kinderflüchtlinge folgt aus dem Haager Minderjährigenschutzabkommen auch die Verpflichtung inländischer deutscher Behörden, in aufenthaltsrechtlicher Hinsicht die Voraussetzungen für einen, wenn auch gegebenenfalls nur vorläufigen, Verbleib im Bundesgebiet als Schutzmaßnahme des MSA zu schaffen. 3. Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (Kinderrechtskonvention) Dem Deutschen Bundestag lag im Jahr 1991 der Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (Kinderrechtskonvention; im folg.: KK) zur Beratung GESETZLICHE GRUNDLAGEN und Verabschiedung vor ( Kinderflüchtlinge, Kinderrechte).68 Das Übereinkommen regelt u.a. auch Fragen mit ausländerrechtlichem Bezug. So etwa solche der Staatsangehörigkeit (Art. 7 KK), der Ausweisung und Abschiebung (Art. 9 IV KK), der Familienzusammenführung (Art. 10 KK) sowie der Rechtsstellung von Kinderflüchtlingen (Art. 22 KK). Die folgende Darstellung beschränkt sich auf Art. 22 KK, während die in den anderen Bestimmungen der Konvention enthaltenen ausländerrechtlichen Fragen ausgeklammert bleiben. 3.1 Status der Kinderrechtskonvention in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland 3.1.1 Qualität der Rechte des Kindes in der Kinderrechtskonvention In dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (KK) werden ‘Rechte des Kindes’ festgelegt. Zwar heißt es in Art. 2 KK, daß die Vertragsstaaten diese Rechte jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind „gewährleisten“. Damit werden jedoch, von Ausnahmen abgesehen (s.u.), unmittelbar aus dem Übereinkommen sich ergebende einklagbare Ansprüche nicht begründet. Art. 4 II KK bestimmt nämlich, daß die Signatarstaaten „alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Verwirklichung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte“ treffen. Der Aufbau und die Konzeption der Konvention sprechen für die Ansicht der Bundesregierung,69 daß aus ihr grundsätzlich nur sogenannte Staatenverpflichtungen zur Umsetzung der Vertragsinhalte in innerstaatliches Recht herzuleiten sind. Dieses nationale Recht bildet dann ggf. die Grundlage für gerichtlich einklagbare Rechtsansprüche. Ausnahmsweise ist es jedoch bei einer eindeutigen und keiner weiteren Umsetzung bedürftigen Regelung möglich, unmittelbar aus einer völkerrechtlichen Vertragsbestimmung Rechtsansprüche herzuleiten (sog. selfexecutingWirkungen).70 Hiervon muß beispielsweise im Falle des Art. 22 II 2 KK ausgegangen werden (s. u.). 3.1.2 Staatsangehörigkeit als Unterscheidungskriterium Art. 2 I KK enthält eine Anti-Diskriminierungsregelung. Die im Übereinkommen festgelegten Rechte werden danach von den Vertragsstaaten „jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind ohne jede Diskriminierung unabhängig von der Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen, ethnischen und sozialen Herkunft, des Vermögens, einer Behinderung, der Geburt oder des sonstigen Status des Kindes, seiner Eltern oder seines Vormunds“ gewährleistet. Diese Formulierung entspricht im wesentlichen den vergleichbaren Bestimmungen in Art. 2 I des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966,71 Art. 2 II des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.196672 und Art. 14 EMRK. Zu fragen ist, ob etwa das an die ‘nationale Herkunft’ anknüpfende Benachteiligungsverbot des Art. 2 I KK auch eine unterschiedliche Behandlung von Kindern aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit ausschließt. Die Bundesregierung verneint dies unter Verweis auf den Vertragswortlaut, „in dem zwar die ‘nationale Herkunft’ (‘national origin’) als eines der Merkmale angeführt wird, die eine unterschiedliche Behandlung als diskriminierend erscheinen lassen, nicht aber auch die ‘Staatsangehörigkeit’ (‘nationality’) als solche“.73 Es entspricht noch immer den 239 RECHT UND GESETZ allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts, den Begriff der Nationalität bzw. der nationalen Herkunft nicht mit dem der Staatsangehörigkeit gleichzusetzen und eine unterschiedliche Behandlung von Inund Ausländern allein wegen der Staatsangehörigkeit nicht unter das Diskriminierungsverbot fallen zu lassen, sofern sich diese Ungleichbehandlung nicht als willkürlich erweist.74 3.2 Die Rechte der Flüchtlingskinder nach Art. 22 Kinderrechtskonvention Art. 22 KK widmet sich dem Personenkreis der Flüchtlingskinder. Nach dessen Absatz 1 treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen, daß sowohl die Kinder, die erst die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehren, als auch jene, die bereits diesen Status nach Völker- oder innerstaatlichem Recht besitzen, „angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe“ bei der Wahrnehmung der Rechte erhalten, die in dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes oder in einem anderen völkerrechtlichen Vertrag über Menschenrechte oder humanitäre Fragen enthalten sind. Die damals amtierende Bundesregierung war nun der Ansicht, daß sich aus dieser Vertragsbestimmung keine Verpflichtung herleiten läßt, „Kindern, die unbegleitet in einen Vertragsstaat einreisen wollen, um dort die Rechtsstellung eines Flüchtlings zu begehren, die Einreise zu erleichtern oder zu ermöglichen.“75 Diese Rechtsauffassung, die auch in anderem Zusammenhang herangezogen wird (s. u.), läßt sich jedoch mit Sinn und Zweck jener Regelung nicht vereinbaren. Indem Art. 22 I KK auch auf andere völkerrechtliche Verträge Bezug nimmt, wird u. a. die Genfer Flüchtlingskonvention in den Anwendungsbereich der Kinderkonvention einbezogen. Aus Art. 33 GFK ergibt sich jedoch das die Bundesrepublik unmittelbar 240 bindende Verbot der Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze.76 Dementsprechend ist bereits nach geltender Rechtslage, die durch den Beitritt zur Kinderrechtskonvention nicht nachteilig beeinflußt wird bzw. werden darf, auch Kinderflüchtlingen die Einreise zu gestatten. Es handelt sich hierbei um eine Verpflichtung, die sich, sofern das Stellen eines förmlichen Asylgesuchs beabsichtigt ist, in verfassungsrechtlicher Hinsicht aus dem aus Art. 16a I GG sich herleitenden Recht auf Zugang zum Asylverfahren77 und einfachgesetzlich aus dem grundsätzlichen Zurückweisungsverbot des § 18 I AsylVfG ergibt. Bestätigt wird dies darüber hinaus durch Art. 22 II 2 KK. Nach dieser Vorschrift ist einem Kinderflüchtling für den Fall, daß seine Eltern oder anderen Familienangehörigen nicht ausfindig gemacht werden können, entsprechend den Grundsätzen der Kinderrechtskonvention derselbe Schutz zu gewähren wie jedem anderen Kind, das aus irgendeinem Grund dauernd oder vorübergehend aus seiner familiären Umgebung herausgelöst ist. Zum einen entspricht es Sinn und Zweck der Regelung, sie nicht nur zur Anwendung kommen zu lassen, wenn Eltern oder andere Familienangehörige unauffindbar sind, sondern auch dann, wenn eine Familienzusammenführung im Herkunftsland aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist. Zum anderen enthält diese Regelung eine dermaßen bindende Verpflichtung zur Gleichbehandlung mit anderen von ihrer Familie getrennten Kindern, daß im Gegensatz zur sonstigen Konzeption der Kinderrechtskonvention ausnahmsweise aus Art. 22 II 2 KK unmittelbare Rechte hergeleitet und ggf. auch im Klagewege als individuelle Ansprüche durchgesetzt werden können.78 Diese Vorschrift zielt u. a. auf geeignete Schutz- und Betreuungsmaßnahmen für ein Kind, wie sie in Art. 20 KK aufgeführt GESETZLICHE GRUNDLAGEN sind. Geboten ist demnach insbesondere eine Gleichbehandlung im Rahmen der Jugendhilfe, d. h. Aufnahme in eine Pflegefamilie oder Heimunterbringung und Übernahme der dadurch entstehenden Kosten durch den Jugendhilfeträger. Sofern man der hier nicht vertretenen (s. o.) Ansicht folgt, daß Kinderflüchtlinge aufgrund eines (noch) fehlenden gewöhnlichen Aufenthalts im Bundesgebiet gemäß § 6 II KJHG vom Anspruch auf Jugendhilfe-Leistungen ausgeschlossen sind, würde diese Rechtsauffassung in Anbetracht des Vorrangs der völkerrechtlichen Vertragsregelung (§ 6 IV KJHG) in Art. 22 II 2 KK keinen Bestand mehr haben können. Art. 22 II 2 KK beinhaltet jedoch nicht nur eine Verpflichtung zur InländerInnenbehandlung etwa in jugendhilferechtlicher Hinsicht. Die effektive Wahrnehmung der aus dieser Vorschrift sich ergebenden Ansprüche setzt darüber hinaus geradezu ein entsprechendes Einreise- und Aufenthaltsrecht voraus, das sich gleichfalls aus dieser Vorschrift herleitet und ggf. durch die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung, unter Umständen aber auch einer Duldung nach den Vorschriften des Ausländergesetzes oder aber im Falle eines Asylantrags als Aufenthaltsgestattung zu bestätigen ist. Auf diese Konsequenz zielt jedoch die bereits angesprochene und im folgenden Abschnitt näher zu erörternde völkerrechtliche Erklärung, die die alte Bundesregierung bei der Ratifizierung der Konvention abgegeben hat. 3.3 Völkerrechtliche Erklärung der Bundesregierung Die alte Bundesregierung ging in ihrer amtlichen Begründung zum Ratifikationsgesetz davon aus, daß das Übereinkommen Standards setze, die in der Bundesrepublik Deutschland bereits verwirklicht seien, und sah daher auch keine Veran- lassung, grundlegende Änderungen oder Reformen des innerstaatlichen Rechts zu betreiben.79 Gleichwohl hielt sie es für notwendig, bei Niederlegung der Ratifikationsurkunde eine ‘Völkerrechtliche Erklärung zum Auslegungsvorbehalt’ abzugeben.80 Der Wortlaut der u. a. zu den Artikeln 2 KK (Diskriminierungsverbot), Art. 7 II KK (Vermeidung von Staatenlosigkeit), Art. 9 und 10 KK (Trennung von Eltern und Kindern, Familienzusammenführung), Art. 22 KK (Flüchtlingskinder) und Art. 28 KK (Recht auf Bildung; Schulpflicht) vorgesehenen Erklärung lautet: „Nichts in dem Übereinkommen kann dahin ausgelegt werden, daß die widerrechtliche Einreise eines Ausländers in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland oder dessen widerrechtlicher Aufenthalt dort erlaubt ist; auch kann keine Bestimmung dahin ausgelegt werden, daß sie das Recht der Bundesrepublik Deutschland beschränkt, Gesetze und Verordnungen über die Einreise von Ausländern und die Bedingungen ihres Aufenthalts zu erlassen oder Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen.“81 Die damalige Bundesregierung wollte sich damit die Möglichkeit offenhalten, Kinderflüchtlinge an der Einreise ins Bundesgebiet zu hindern und, soweit nur irgend möglich, Zurückweisungen an der Grenze vorzunehmen. In diesem Zusammenhang stellt sich jedoch die Frage, ob sich die Bundesrepublik Deutschland als Signatarstaat der Kinderrechtskonvention durch die Abgabe jener ‘Völkerrechtlichen Erklärung’ der sich aus dem Übereinkommen ergebenden Verpflichtungen entziehen kann. Leitet man entsprechend den obigen Ausführungen aus Art. 22 KK auch ein Recht auf Einreise von Kinderflüchtlingen her, dann beinhaltet die Erklärung der alten Bundesregierung ein Lossagen von jener völkervertraglichen Verpflichtung. Es entspricht jedoch allgemeinem völkerrechtlichem Gebrauch, einen aus241 RECHT UND GESETZ drücklichen Vorbehalt anzubringen, wenn man sich als Signatarstaat von bestimmten, aus einem völkerrechtlicher Vertrag sich ergebenden Bindungen befreien will. Für den Regelungsgegenstand der Kinderrechtskonvention selbst ist die Möglichkeit zur Anbringung eines solchen Vorbehalts ausdrücklich in Art. 5 1 I KK vorgesehen. Im übrigen leitet sich eine solche Befugnis grundsätzlich aus allgemeinem Völkervertragsrecht her, wie sich aus Art. 19 ff des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23.5.1969 erkennen läßt, das für die Bundesrepublik Deutschland am 20.8.1987 in Kraft getreten ist. Da die damalige Bundesregierung jedoch keinen förmlichen Vorbehalt im Sinne des Art. 5 1 I KK angebracht hat, kann dem Inhalt der Erklärung, die abgegeben wurde, keine den Regelungsgehalt des Art. 22 KK beschneidende Wirkung beigemessen werden. Im übrigen wäre ein solcher Vorbehalt zumindest im Hinblick auf Art. 22 KK ohnehin nicht zulässig, da das mit ihm verfolgte Recht, Kinderflüchtlingen die Einreise verweigern zu dürfen, mit Ziel und Zweck jener Vertragsnorm nicht zu vereinbaren wäre. Unter derlei Umständen ist nämlich gemäß Art. 5 1 II KK das Anbringen eines Vorbehalts nicht zulässig. Somit kann und darf der abgegebenen Erklärung der alten Bundesregierung keine rechtserhebliche Bedeutung beigemessen werden.82 4. Ausgewählte Ergebnisse (1) Kinderflüchtlinge gehören zu den vom neuen Ausländergesetz, das am 1.1. 1991 in Kraft getreten ist, am härtesten getroffenen AusländerInnengruppen. Während nach altem Recht ausländische Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet keiner Aufenthaltserlaubnis bedurften, ist dieser Personen242 kreis dem neuen Gesetz zufolge grundsätzlich aufenthaltsgenehmigungspflichtig. Sofern Kinderflüchtlinge nicht im Besitz der erforderlichen Einreisevisa sind, werden sich Fluggesellschaften, Busunternehmen etc. weigern, Kinderflüchtlinge in die Bundesrepublik zu transportieren. Ihnen obliegt nämlich für den Fall der unerlaubten Beförderung von AusländerInnen nicht nur die Verpflichtung zu deren Rückbeförderung ins Herkunftsland. Vielmehr drohen ihnen zudem drastische Geldbußen und Zwangsgelder sowie der Entzug der Beförderungserlaubnis. Auf diese Weise schottet sich die Bundesrepublik Deutschland u. a. gegenüber Kinderflüchtlingen in massiver Weise ab. Eine Einreise von Kinderflüchtlingen ist aufgrund der geänderten Rechtslage so gut wie ausgeschlossen. (2) Werden Kinderflüchtlinge ausnahmsweise trotz fehlender Visa von einem Beförderungsunternehmen in die BRDeutschland verbracht, so besteht für die Grenzbehörden anders als nach der alten Rechtslage des Ausländergesetzes von 1965 nunmehr die Verpflichtung, eine Zurückweisung auszusprechen, d. h. die Einreise zu verweigern. Eine Zurückweisung oder -schiebung kann nach neuem Recht auch dann ausgesprochen werden, wenn die Betroffenen wegen ihres Alters im juristischen Sinne nicht handlungsfähig sind; einer PflegerInnenbestellung bedarf es demnach nicht. Damit sind zurückgewiesene oder zurückgeschobene Kinderflüchtlinge rechtsschutzlos. Dies verstößt sowohl gegen die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG als auch gegen das Rechtsstaatsprinzip der Art. 20 I, 28 I GG. (3) Die Ausweisung und Abschiebung von im Bundesgebiet sich aufhaltenden Kinderflüchtlingen ist nicht nur bei GESETZLICHE GRUNDLAGEN drohender Folter oder Todesstrafe verboten, sondern auch im Falle einer drohenden sonstigen erniedrigenden Behandlung im Herkunftsland, was z. B. unter Umständen bei einer gerichtlich verhängten Prügelstrafe oder bei rassisch diskriminierenden Handlungen gegeben sein kann, sowie bei drohender Sklaverei oder drohenden sklavereiähnlichen Lebensbedingungen wie beispielsweise Zwangsprostitution. Schließlich stellt auch eine zu befürchtende Zwangsheirat ein Ausweisungs- und Abschiebungshindernis dar. (4) Leistungen nach dem neuen Kinderund Jugendhilfegesetz sind grundsätzlich auch für Kinderflüchtlinge zu gewähren. (5) Das für asylbegehrende Kinderflüchtlinge von bestellten PflegerInnen oder VormünderInnen auszuübende Aufenthaltsbestimmungsrecht ist im Rahmen des asylrechtlichen Verteilungs- und Zuweisungsverfahrens in demselben Maße zu beachten wie eine bestehende Haushaltsgemeinschaft zwischen Eltern und minderjährigen Kindern im Sinne der §§ 50, 51 AsylVfG. (6) Für den Personenkreis der Kinderflüchtlinge folgt aus dem Haager Minderjährigenschutzabkommen u. a. die Verpflichtung inländischer deutscher Behörden, in aufenthaltsrechtlicher Hinsicht die Voraussetzungen für einen wenn auch gegebenenfalls nur vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet als Schutzmaßnahme im Sinne des MSA zu schaffen. (7) Art. 22 der Kinderrechtskonvention, der sich mit der Rechtsstellung von Flüchtlingskindern befaßt, verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland unmittelbar dazu, Kinderflüchtlingen die Einreise und den Aufenthalt zu gewähren und sie u. a. in jugendhilferechtlicher Hinsicht wie InländerInnen zu behandeln. Es handelt sich hierbei nicht nur um eine sog. Staatenverpflichtung, sondern um unmittelbar anwendbare Rechtsansprüche der Kinder. Die von der alten Bundesregierung durchgeführte Abgabe einer ‘Völkerrechtlichen Erklärung’ zur Kinderrechtskonvention, mit der sie sich von ausländerrechtlichen Bindungen lossagen wollte, ist nicht zulässig und daher unbeachtlich. Anmerkungen 1 Aktualisierte Fassung der (mittlerweile vergriffenen) Terre des Hommes-Broschüre „Kinderflüchtlinge – Flüchtlingskinder“ von Bertold Huber aus dem Jahr 1991. 2 Im folgenden werden lediglich Aspekte der Einreise und erstmaligen Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung sowie der Ausweisung und Abschiebung erörtert, nicht aber Fragen der Verlängerung einer einmal erteilten Aufenthaltsgenehmigung oder der Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis in einem späteren Stadium des Aufenthalts. 3 BGBl I, 2983. 4 Vgl. Jockenhövel-Schiecke, Unbegleitete ausländische Flüchtlingskinder – eine Aufgabe der Jugendhilfe, VlA-Magazin, August 1990, S. 23 ff. 5 Deutscher Bundestag, Drucks. 11/6321, S. 77. 6 Anders aber Ziff. 7.2.1 der Vorläufigen Anwendungshinweise des BMI zu dem vergleichbaren § 711 Nr. 1 AuslG sowie inzwischen auch die vorherrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur. 7 § 70 I 1 AusIG lautet: ,,Dem Ausländer obliegt es, seine Belange und für ihn günstige Umstände, soweit sie nicht offenkundig oder bekannt sind, unter Angabe nachprüfbarer Umstände unverzüglich geltend zu machen und die erforderlichen Nachweise über seine persönlichen Verhältnisse, sonstige erforderliche Bescheinigungen und Erlaubnisse sowie sonstige erforderliche Nachweise, die er erbringen kann, unverzüglich beizubringen.“ 8 Deutscher Bundestag, Drucks. 11/6321, S. 77. 9 Vgl. zu § 2 I 2 AuslG 1965 nur BVerwGE 61, 105 (108 f). 243 RECHT UND GESETZ 10 Siehe dazu unten in Abschnitt 1.5 die Ausführungen zur Ausweisung und Abschiebung minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge. 11 Soweit die Eltern bereits im Bundesgebiet leben, besteht unter den Voraussetzungen des § 20 AuslG ein Rechtsanspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis; bei Ausländern mit einer Aufenthaltsbefugnis ist die Gestattung des Kindernachzugs gemäß § 31 I AuslG in das Ermessen der Behörde gestellt. Solche Sachverhaltskonstellationen sind jedoch im Falle der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge atypisch, so daß dieser Aspekt hier nicht weiter erörtert wird. 24 Ausf. dazu Abschnitt 2.2 25 Im RegE (BT-Dr. 11/5948) waren geduldete Ausländer nicht aufgenommen. Die jetzige Fassung beruht auf einem Änderungsvorschlag des BTAusschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (BT-Dr. 11/6748). 26 Deutscher Bundestag, Drucksache 11/5948, S. 47. 27 Da es sich in den genannten Fällen um einen Anspruch des Personensorgeberechtigten handelt, ist die Ausweisung eines minderjährigen Ausländers wegen der für, nicht aber an ihn geleisteten KJHGMittel vom Wortlaut des § 46 Nr. 7 AuslG ausgeschlossen. 12 Vgl. Huber: Auswirkungen des Empfangs von Sozialhilfe auf den Aufenthaltsstatus von EG- und Nicht-EG- Ausländern nach dem Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts, In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 1991, 30 ff (Die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur ist inzwischen jedoch anderer Ansicht.) 28 BSG, 16.12.1987 – 11 a REg 3/87, In: InfAuslR 1988, S. 112. 13 Zum Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung zum Verbleib bei bereits hier lebenden Familienangehörigen vgl. Abschnitt 1.4. 31 Ebd., S. 53. 14 Deutscher Bundestag, Drucks. 11/6321, S. 72. 15 Vgl. dazu Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 1985, Art. 3 Rdnr. 8 f. 16 Vgl. Frowein/Peukert, EMRK, Art. 4 Rdnr. 2; dasselbe gilt für Einrichtungen oder Praktiken des Frauenkaufes. Zu Kinderhandel vgl. auch VG Frankfurt am Main, Beschluß vom 19.7. 1988 – V/2 H 1258, 88, NJW 1988, 3032. 17 Vgl. auch Art. 12 II GG als Abwehrrecht gegenüber vom deutschen Staat auferlegtem Arbeitszwang. 18 Vgl. Frowein/Peukert, EMRK. Art. 4 Rdnr. 5. In der Mehrzahl dieser Fälle dürfte jedoch bereits eine politische Verfolgung im Sinne des Art. 16 II 2 GG gegeben sein. 19 Vgl. auch die diesbezüglich eindeutige Regelung in Art. 23 III des Internationalen Paktes über bürgerliche Rechte. 20 Ebd. 21 Vgl. BverwG. Urteil vom 6.3.1990 – 9 C 14/89, NVWZ 1990, S. 1179. 22 So das BverwG. Ebd., im Gegensatz zur Vorinstanz, VGH Kassel, InfAuslR 1989, S. 253. 23 Freilich waren dadurch JWG-Leistungen für Ausländer gesetzlich nicht ausgeschlossen. Vgl. Münder. In: neue praxis 1990, S. 341. 244 29 Ebd., ebenso BSG, 23.2.1988, BSGE 63, 47 (50) sowie BSG, 17.5.1989 – 10 RKg 19/88, NVWZ-RR 1989, S. 651. 30 BSG, 20.5. 1 987 – 10 RKg 18/85. In: InfAuslR 1988, S. 52. 32 Zur Prognose vgl. BSG, 17.5.1989 – 10 RKg 19/88, NVWZ-RR 1989, S. 651. – Vgl. nunmehr auch die Neufassung des § 1 III BKGG und des § 1 I 2 Bundeserziehungsgeldgesetz durch das Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9.7.1990 (BGBl I, 1354). Zur neueren Rechtsprechung des BSG zum Anspruch auf Erziehungsgeld vgl. BSG, 27.9.1990 – 4 REg 27/89 u. 4 REg 30/89. In InfAuslR 1991, S. 41 u. 43. 33 Bei der folgenden Darstellung wird entgegen der im Abschnitt 2.2.1 vertretenen Ansicht im Interesse einer erschöpfenden Behandlung der Thematik hypothetisch davon ausgegangen, daß die aufenthaltsrechtliche Stellung des Minderjährigen ausschlaggebend ist. 34 S.o., Text zu Anm. 27. 35 Dies sind zum einen Asylbewerber, die zwar vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge als Asylberechtigte anerkannt worden sind, deren Anerkennung aber noch nicht bestandskräftig geworden ist, weil entweder die Klagefrist noch läuft oder aber der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten gegen die stattgebende Entscheidung geklagt hat. Zum anderen zählen jene Ausländer zu den Bonafide-Flüchtlingen, deren Asylantrag vom Bundesamt abschlägig beschieden worden. 36 Mit der Aufenthaltserlaubnis wird einem Ausländer der Aufenthalt ohne Bindung an einen be- GESETZLICHE GRUNDLAGEN stimmten Aufenthaltszweck (§ 15 AuslG) oder zum Zwecke des Familiennachzugs (§ 17 AuslG) erlaubt. 55 Vgl. Siehr (obige Anm. 54), Rdnr. 54; Palandt-Heldrich, BGB, Anhang zu Art. 24 EGBGB Rdnr. 11 f. 56 Vgl. dazu Siehr (obige Anm. 54), Rdnr. 25. 37 Mit der Aufenthaltsbewilligung wird einem Ausländer der Aufenthalt nur für einen bestimmten, seiner Natur nach einen nur vorübergehenden Aufenthalt erfordernden Zweck erlaubt (§ 28 I 1 AuslG), z. B. für einen Studien-, sonstigen Ausbildungs- oder längeren Besuchsaufenthalt. 57 Vgl. „Der Amtsvormund“ 1978, 679. 38 Hinsichtlich der Angehörigen dieses Personenkreises wird künftig im Rahmen des Asylverfahrens nach § 51 AuslG das Vorliegen eines Abschiebungsverbots festgestellt und ihnen ggf. der Status eines Flüchtlings nach Art. 1 Genfer Flüchtlingskonvention zuerkannt werden. 60 Vgl. Siehr (obige Anm. 52), Rdnr. 77. 39 Nicht ohne Grund wird die Duldung in § 6 II KJHG extra erwähnt. 64 Vgl. auch Jockenhövel-Schiecke, Asyl gesucht – Zuflucht gefunden, ZAR 1987, 171 (173). 40 Vgl. Bachmann in: Beitz/Wollenschläger (Hg.): Handbuch des Asylrechts, Bd. II, 1981, S. 703. 65 Vgl. auch Baer, in: Oberloskamp (obige Anm. 43), § 9 Rdnr. 32. 41 Vgl. jetzt auch den neu geschaffenen § 7a AsylVfG, der die Möglichkeit des sog. Familienasyls für Ehegatten und minderjährige Kinder von Asylberechtigten vorsieht. 66 Vgl. Palandt-Heldrich, BGB, Anhang zu Art. 24 EGBGB Rdnr. 13. 42 Deutscher Bundestag Drucksache 11/5948 S. 79 ff. 43 Die Verletzung dieser Verpflichtung kann als Ordnungswidrigkeit verfolgt und mit einem Bußgeld bis zu 1000,– DM geahndet werden (§ 93 III Nr. 5 Abs. 5 AuslG). 44 Vgl. auch Brüggemann in: Oberloskamp (Hg.) Vormundschaft bei Minderjährigen. München 1990, S. 411 ff. 58 Vgl. Siehr (obige Anm. 54), Rdnr. 24; Palandt-Heldrich, BGB; Anhang zu Art. 24 EGBGB, Rdnr. 11 f. 59 Vgl. auch Baer, in: Oberloskamp (obige Anm. 42), § 9 Rdnr. 30. 61 Vgl. Siehr (obige Anm. 52), Rdnr. 68. 62 Vgl. Siehr (obige Anm. 52), Rdnr. 69. 63 Vgl. Siehr (obige Anm. 54), Rdnr. 103; PalandtHeldrich, BGB, Anhang zu Art. 24 EGBGB Rdnr. 13. 67 Vgl. Siehr (obige Anm. 52), Rdnr. 103. 68 Bundesrats-Drucksache 769/90 69 Bundesrats-Drucksache 769/90, S. 32f. 70 Vgl. dazu Zuleeg, in: Alternativ-Kommentar zum Grundgesetz, 1984, Bd.1, Art. 24 III/25 Rdnr. 50 ff. 71 BGBl 1973 II, 1534. 72 BGBl 1973 II, 1570. 73 Bundesrats-Drucksache 769/90, S. 34. 50 Vgl. nur BVerfG, Urteil v. 17.10.1984 – 1 DvR 284/84, BVerfGE 68, 176 (187) = NJW 1985, S. 423. 74 Vgl. in diesem Zusammenhang Frowein/Peukert, EMRK, Art. 14 Rdnr 36; Köfner/Nicolaus, Grundlagen des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1986, S. 453 zur GFK. Vgl. als Gegenbeispiel auch Art. 7 EWG-Vertrag, der eindeutig eine Ungleichbehandlung wegen der Staatsangehörigkeit ausschließt. Zum Teil wird Art. 7 EWGV jedoch lediglich als Willkürverbot begriffen, eine sachlich gebotene Ungleichbehandlung von In- und EG-Ausländern also für zulässig erachtet. Vgl. Bleckmann, Europarecht, 5. Aufl. 1990, Rdnr. 1222. 51 Vgl. Klinkhardt (obige Anm. 47), S. 109. 75 Bundesrats-Drucksache 769/90, S. 46. 52 Vgl. z. B. BVerwG, Urteil v. 5.6.1984 – 9 C 9/84, BVerwGE 69, 295 = NVWZ 1984, 799 (801). 76 Vgl. Fritz, In: Gemeinschaftskommentar zum Asylverfahrensgesetz, Stand: März 1991, § 9 AsylVfG Rdnr. 4 f; Köfner/Nicolaus (obige Anm. 73), Bd. l, S. 133 ff. Vgl. auch BverfGE 74, 51 ff = NVWZ 1987, 311 (313). 45 Dies scheidet freilich bei Amtsvormundschaft oder -pflegschaft aus. 46 Vgl. Klinkhardt in: Oberloskamp (ebd., S. 127 f). 47 Vgl. ebd. 48 Vgl. z. B. die umfassenden Nachweise bei Molitor, in: Gemeinschaftskommentar zum AsylVfG, Neuwied, Stand 1990, § 22 Rdnr. 51 ff. 49 Ebd., Rdnr. 53. 53 Vgl. Siehr, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 7, Art. 19 Anhang Rdnr. 23. 54 So ausdrücklich BGHZ 78, 293 (295) = NJW 1981, 520; OLG Hamm, Urteil v. 29.4.1988 – 5 UF 57/88, NJW 1989, 672. 77 Vgl. BVerfGE 76, 1 ff. = NJW 1988, 626; vgl. dazu auch Huber, NJW 1988, 609. 245 RECHT UND GESETZ 78 Vgl. Text zu obiger Anm. 69. 79 Bundesrats-Drucksache 769/90, S. 32. 80 Ebd. 81 Bundesrats-Drucksache 769/90, S. 54; eine entsprechende Erklärung wurde bereits im Rahmen der Entstehungsarbeiten an der Kinderrechtskonvention zu Protokoll gegeben; ebd., S. 41. 82 Bundesgesetzblatt 1987 II, S. 757. Bertold Huber Asylbewerberleistungsgesetz Artikel über das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) sind kurzlebig. Kaum veröffentlicht, sind sie schon wieder aufgrund einer gesetzlichen Neuregelung ergänzungs- bzw. korrekturbedürftig. Obwohl erst seit 1993 in Kraft, wurden bisher (Stand Dez. 98) bereits zwei Änderungsgesetze verabschiedet. Wenn auch in der Koalititionsvereinbarung von SPD und Bündnis 90/Grüne keine Änderungen am AsylbLG vereinbart wurden, so ist im Laufe der Legislaturperiode wohl dennoch eine erneute Korrektur dieses Gesetzes zu erwarten. Bevor im folgenden die Rechtslage nach dem Inkrafttreten des 2. Änderungsgesetzes des AsylbLG geschildert wird, soll ein kurzer Überblick darüber gegeben werden, wie sich die Gewährung von Sozialleistungen an AsylbewerberInnen und andere Flüchtlinge in den vergangenen Jahren entwickelt hat, oder, präziser formuliert, in welchen Schritten die Sozialleistungen für Flüchtlinge über einen längeren Zeitraum – und verschiedene Bundesregierungen – hinweg, Stück für Stück eingeschränkt wurden. 1. Vorgeschichte Die Einschränkung der Leistungen für asylsuchende AusländerInnen begann 1981. Bis dahin hatten alle AsylbewerberInnen und AusländerInnen gemäß § 120 246 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt, Krankenhilfe, Hilfe für Wöchnerinnen und werdende Mütter, Tuberkulosehilfe und Hilfe zur Pflege. Mit dem 2. Haushaltsstrukturgesetz 1982 wurde für asylsuchende AusländerInnen bis zum rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens der Anspruch auf Leistungen nach dem BSHG begrenzt auf Hilfe zum Lebensunterhalt. Alle anderen Leistungen wurden zu Ermessensleistungen. Ab dem 1.1.1984 galten die oben erwähnten Änderungen des BSHG auch für zur Ausreise verpflichtete AusländerInnen, deren Aufenthalt aus völkerrechtlichen, politischen oder humanitären Gründen geduldet wurden, und für andere AusländerInnen, die zur Ausreise verpflichtet waren. Ferner wurde geregelt, daß die Hilfe soweit möglich als Sachleistung gewährt werden soll. Festgelegt wurde darüber hinaus, daß die laufenden Geldleistungen auf das ‚zum Lebensunterhalt Unerläßliche’ eingeschränkt werden können. Pauschale Kürzungen waren seinerzeit im Gesetzeswortlaut noch nicht vorgesehen, sondern nur Kürzungen in begründeten Einzelfällen. Nichtsdestotrotz gab es seither allerdings immer wieder Versuche einzelner Kommunen und Landesbehörden, Leistungen pauschal abzusenken. Hier hat sich insbesondere das Land Bayern hervorgetan, wo lange Zeit die pauschale Kürzung der Sozialhilfe um 15 % praktiziert wurde. Aber auch in NordrheinWestfalen gab es in einzelnen Kommunen den Versuch, den De-facto-Flüchtlingen pauschal die Sozialhilfe zu streichen – mit der Begründung, sie seien eingereist, um Sozialhilfe zu beziehen. Denn nach § 120 BSHG hat derjenige , der in das Land einreist, um Sozialhilfe zu beziehen, keinen Anspruch. Aus der Ablehnung ihres Asylantrages durch das ‚Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge’ ( Bundesbehörden) schlossen einige ASYLBEWERBERLEISTUNGSGESETZ Kommunen, die Flüchtlinge seien offensichtlich nur eingereist, um Sozialhilfe zu beziehen. Diese gravierenden Leistungseinschränkungen für asylsuchende AusländerInnen, insbesondere die Möglichkeit der Reduzierung der Leistung auf das ‘zum Lebensunterhalt Unerläßliche’, stießen von Beginn an auf erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, sah man hierin doch einen Verstoß gegen das Sozialstaatsprinzip und die Menschenwürde. Die Kürzung auf das ‘zum Lebensunterhalt Unerläßliche’, so wurde argumentiert, unterschreite das verfassungsrechtlich gebotene soziale Existenzminimum und verstoße somit gegen Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip.1 Da die pauschale Kürzung der Leistungen für Flüchtlinge im Rahmen des BSHG allerdings kaum möglich war bzw. von den Gerichten abgelehnt wurde, gab es seit Mitte der 80iger Jahre Bestrebungen, das Recht der Sozialhilfe für AsylbewerberInnen und andere Flüchtlingsgruppen – außerhalb des Sozialgesetzbuches – in einem eigenständigen Gesetz zu regeln. Von vornherein verbanden sich damit die Erwartungen, die Leistungen pauschal zu reduzieren und als Sachleistungen zu gewähren.2 Dieses Vorhaben wurde Jahre später mit der Verabschiedung des Asylbewerberleistungsgesetzes verwirklicht, welches am 1.11.1993 in Kraft trat. 2. Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) Im Rahmen des ‘Asylkompromisses’ ( Asyl- und Flüchtlingspolitik BRD) hatte man sich darauf verständigt, für asylsuchende AusländerInnen während der Dauer des Verfahrens eine eigenständige Regelung des Mindestunterhalts zu schaffen, die insbesondere eine Absenkung des Leistungsniveaus und die weitgehende Durchsetzung des Sachleistungsprinzips beinhalten sollte. Mit Verabschiedung des AsylbLG wurde erstmalig die Sozialleistungen für bestimmte Ausländergruppen außerhalb des Sozialgesetzbuches geregelt. Betroffen von dieser Regelung waren – entgegen der ursprünglichen Absicht – nicht nur AsylbewerberInnen während der ersten 12 Monate ihres Verfahrens, sondern auch ‘vollziehbar’ zur Ausreise Verpflichtete. Kernpunkte der Neuregelung war die pauschalierte Absenkung der Leistungen um mindestens 25 bis 30 % (gegenüber BSHG) und damit quasi eine Neudefinition des Existenzminimums, die weitgehende Umsetzung des Sachleistungsprinzips sowie die Einschränkung der medizinischen Versorgung auf die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände.3 Mit dem 1. und 2. Änderungsgesetz zum AsylbLG wurde der eingeschlagene Weg konsequent fortgesetzt. Weitere Personengruppen wurden damit den restriktiven Bestimmungen des AsylbLG unterworfen, die Dauer der Leistungseinschränkung erheblich ausgeweitet. So wurden mit dem 1. Änderungsgesetz, welches am 1.6.1997 in Kraft trat, auch alle InhaberInnen von Duldungen nach § 55 AuslG sowie Kriegsflüchtlinge mit Aufenthaltsbefugnis wegen des Krieges (§§ 32, 32 a AuslG) in den Kreis der Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG aufgenommen ( Aufenthaltstitel) und festgelegt, daß diese ebenso wie AsylbewerberInnen für drei Jahre ab dem 1.6. 1997 nur abgesenkte Leistungen erhalten sollen. Abgemildert wurden dagegen die Regelungen bezüglich der zusätzlichen Leistungen, die in § 6 AsylbLG geregelt sind. 3. Die aktuelle Rechtslage Kernpunkt des 2. Änderungsgesetzes des AsylbLG , das am 1.9.98 in Kraft trat , ist der neu eingefügte § 1 a, dessen Anwendung sich auf geduldete und ‘vollziehbar’ 247 RECHT UND GESETZ ausreisepflichtige AusländerInnen und deren Familienangehörige, nicht aber Asylbewerber bezieht. Diesen Personengruppen können nun – analog zu den Regelungen in § 120 BSHG – Leistungen gekürzt werden, wenn sie „sich in den Geltungsbereich des Gesetzes begeben haben, um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen“. Die gleichen Personengruppen verlieren den Anspruch auf Grundleistungen nach dem AsylbLG, wenn aus „von Ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können“. Die genannten Personengruppen sollen Leistungen daher nur noch erhalten, „soweit dies im Einzelfall unabweisbar geboten ist“. Mit diesem Paragraphen wurden nun gleich mehrere unbestimmte Begriffe eingeführt, die in den kommenden Jahren – durch Erlasse und Rechtsprechung – zu klären sein werden: Wann ist davon auszugehen, daß jemand eingereist ist, um Sozialleistungen zu beziehen? Was ist unter den selbst zu vertretenden Gründen zu verstehen, die dazu führen, daß aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können? Wonach bestimmen sich schließlich die im Einzelfall unabweisbaren Leistungen? 4. Die ‘Um-zu’-Regelung In den wenigen Monaten nach Inkrafttreten der Neuregelung ist es insbesondere aufgrund der neu eingefügten ‘Um-zu’Regelungen in zahlreichen Fällen zu Leistungseinschränkungen bzw. zur völligen Streichung von Leistungen gekommen. Einige Berliner Sozialbehörden und Verwaltungsgerichte sahen schon in der Tatsache, daß der Flüchtling bei seiner Flucht aus Kosovo nicht in dem ‘sicheren Drittstaat’, den er durchquert hatte, geblieben war, den Tatbestand der ‘Um-zu’-Regelung erfüllt.4 Bei der Interpretation der ‘Um-zu’-Regelung ist jedoch die Recht248 sprechung des BverwG zu § 120 Abs. 3 BSHG zu berücksichtigen. Danach ist die ‘Um-zu’-Regelung nur anwendbar, wenn der Wunsch, hier von Sozialhilfe zu leben , prägendes Einreisemotiv war und nicht nur neben anderen gleichgewichtigen oder gar gewichtigeren Motiven mitverfolgt wurde. 5. Leistungsumfang bei Anspruchseinschränkung Was bedeutet es konkret, wenn aufgrund §1a AsylbLG die Leistungen nur noch gewährt werden, „soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist“? Auf welche Leistungen hat der/ die Betreffende noch Anspruch? Der Gesundheitsausschuß des Bundestages hat hierzu mehrheitlich festgestellt, daß es sich bei der unabweisbar gebotenen Hilfe in der Regel um Sachleistungen im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 – 3 AsylbLG handeln werde und die in § 3 Abs. 1 Satz 4 genannten Geldleistungen bis auf besondere Ausnahmen nicht unabweisbar geboten seien.5 Unterkunftskosten, Heizung und Haushaltsenergie, Hausrat, Kleidung, Hygiene- und Enährungsbedarf wären demzufolge regelmäßig zu leisten.6 Insbesondere, um auch den Mitwirkungspflichten nachzukommen, kann die Zahlung eines – möglicherweise reduzierten – Geldbetrages notwendig sein7. Zu berücksichtigen ist ferner, daß sich die Leistungseinschränkungen nur auf den Betroffenen beschränken dürfen, der allein für sein Handeln verantwortlich zu machen ist, nicht aber auf dessen Familienangehörigen8. Weitere Präzisierungen gibt es nicht, und so ist es Sache der Sozialbehörden – und der Gerichte – den Leistungsumfang genauer festzulegen. In jedem Fall muß es sich um einzelfallbezogene Entscheidungen handeln, bei denen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist. Angesichts der Tatsache, daß aufgrund der ASYLBEWERBERLEISTUNGSGESETZ pauschalierten Leistungseinschränkungen die Leistungen des AsylbLG ca. 25 % unterhalb der Leistungen des BSHG liegen und somit bereits auf ‘das zum Lebensunterhalt Unerläßliche’ gekürzt wurden, ist kaum vorstellbar, wie eine darüber hinausgehende Kürzung noch mit dem Sozialstaatsgebot und dem Gebot der Achtung der Menschenwürde vereinbar sein kann.9 6. Leistungsberechtigte Das zunächst positiv klingende Wort ‘Leistungsberchtigter’ beinhaltet – neben dem Anspruch auf bestimmte Leistungen – auch, daß die Betreffenden keinen Anspruch auf Leistungen nach dem BSHG haben. Leistungsberechtigte (§ 1 AsylbLG) nach dem AsylbLG sind AusländerInnen, die eine Aufenthaltsgestattung besitzen (AsylbewerberIn); die über einen Flughafen einreisen wollen und denen die Einreise nicht oder noch nicht gestattet wurde; die wegen des Krieges in ihrem Heimatland eine Aufenthaltsbefugnis nach den §§ 32 oder 32 a AuslG besitzen; eine Duldung nach § 55 AuslG besitzen; ‘vollziehbar ausreisepflichtig’ sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist ( Abschiebung) oder Ehegatten oder minderjährige Kinder der genannten Personen. Bei den leistungsberechtigten ‘unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen’ dürfte es sich vor allem um AsylbewerberInnen, ‘vollziehbar ausreisepflichtige’ und InhaberInnen einer Duldung nach § 55 AuslG handeln. Unklarheiten dürften dabei am ehesten bei der Definition von ‘vollziehbar ausreisepflichtig’ bestehen.10 Dies ist geregelt in § 42 AuslG. Danach ist die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht gegeben, – nach einer unerlaubten Einreise; – wenn nach Ablauf der Geltungsdauer einer Aufenthaltsgenehmigung noch nicht deren Verlängerung oder die Erteilung einer anderen Aufenthaltsge- nehmigung beantragt wurde; – wenn die erstmalige Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung nicht beantragt und die Antragsfrist abgelaufen ist oder – wenn die Versagung einer Aufenthaltsgenehmigung bzw. der Verwaltungsakt, durch den die Ausreisepflicht begründet wird, vollziehbar ist. Die Darstellung der Personengruppen, die Leistungsberechtigte nach dem Asylb LG sind, macht deutlich, daß es sich dabei keineswegs ausschließlich – wie der Name suggeriert – um AsylbewerberInnen handelt, sondern auch andere Personengruppen umfaßt, die teilweise sogar im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung sind. 7. Leistungen nach dem KJHG oder AsylbLG Bei Kinderflüchtlingen ist grundsätzlich zu beachten, inwieweit Anspruch auf Leistungen nach dem KJHG besteht und in welchem Verhältnis dies zu Ansprüchen auf Leistungen nach dem AsylbLG steht ( Gesetzliche Grundlagen). Hier ist zwischen der Inanspruchnahme von ambulanten oder stationären Hilfen nach dem KJHG zu unterscheiden. Bei Durchführung von stationären Hilfen nach SGB VIII findet das AsylbLG keine Anwendung. Die Aufwendungen für die Hilfe zum Lebensunterhalt und für die Unterbringung sind durch den Pflegesatz abgedeckt. Bei Durchführung von ambulanten Hilfen, beispielsweise nach § 30 SGBVIII (Erziehungsbeistand) müssen Leistungen für den Lebensunterhalt und Unterbringung beim Sozialamt beantragt werden, hier greift also das AsylbLG. Kinderflüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünften (16- bis 18jährige) erhalten Leistungen nach dem AsylbLG, wobei, wie noch ausgeführt wird, ggf. ein Mehrbedarf (§ 6 AsylbLG) geltend gemacht werden kann. 249 RECHT UND GESETZ 8. ‘Privilegierte Leitungsberechtigte’ 10. Sonstige Leistungen In § 2 AsylbLG ist festgelegt, daß auf Leistungsberechtigte, die über eine Dauer von 36 Monaten, frühestens beginnend am 1.6.1997, Grundleistungen nach § 3 AsylbLG erhalten haben, das BSHG entsprechend anzuwenden ist, wenn ihre Ausreise nicht erfolgen kann und aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse dagegen stehen. Da der 1.6.1997 als Stichtag – auch für schon seit längerem hier lebende Leistungsberechtigte – festgelegt wurde, haben die Leistungsberechtigten folglich frühestens ab dem 1.6.2000 Anspruch auf Leistungen analog BSHG. Zusätzlich zu den erwähnten Grundleistungen besteht Anspruch auf „sonstige Leistungen, die insbesondere geleistet werden können, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerläßlich, zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten oder zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht erforderlich sind“ (§ 6 AsylbLG). Wichtig in diesem Zusammenhang sind natürlich insbesondere Leistungen, die „zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern“ geboten sind. Zu nennen sind hier etwa die für den Schulbesuch erforderlichen Materialen, Fahrtkosten von und zur Schule, Besuch des Kindergartens usw. Unter § 6 kann aber auch ein spezifischer Mehrbedarf an Bekleidung oder ein wachstumsbedingter Mehrbedarf an Ernährung fallen. Zu nennen sind schließlich noch Kosten , die sich aus der Mitwirkung am Asylverfahren, also z. B. Fahrtkosten zur Anhörung, Dolmetscherkosten etc. ergeben. Nicht darunter fallen allerdings Anwaltskosten. Diesbezüglich wird vielmehr auf die Beratungshilfe bzw. – allerdings nur bei Aussicht auf Erfolg – auf die Prozeßkostenhilfe verwiesen ( Asylverfahren). 9. Umfang der Leistungen Der Umfang der Grundleistungen ist in § 3 AsylbLG festgelegt. Der dort beschriebene Leistungsumfang liegt – nach Altersgruppen differenziert – mindesten 25 % unter den Sätzen des BSHG. So soll der Wert der Sachleistungen für die Gruppe der 7- bis 13jährigen DM 310,– zuzüglich DM 40,– Barleistung betragen, also DM 350,– zuzüglich der notwendigen Kosten für Unterkunft, Heizung und Hausrat. Bei der Gruppe der 14- bis 18jährigen ist der Betrag um DM 40,– Barleistung erhöht. Dabei ist zu beachten, das lediglich bei Unterbringung in den Aufnahmeeinrichtungen nach § 44 Asylverfahrensgesetz das Sachleistungsprinzip zwingend vorgeschrieben ist. Bei einer Unterbringung außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen können, soweit es nach den Umständen erforderlich ist, anstelle von vorrangig zu gewährenden Sachleistungen, Leistungen in Form von Wertgutscheinen oder Geldleistungen in gleichem Wert gewährt werden ( Unterbringung).11 250 11. Medizinische Versorgung12 Besonders skandalös ist die im AsylbLG festgeschriebene Einschränkung der medizinischen Leistungen, die zur Folge hat, daß in zahlreichen Einzelfällen die notwendige Behandlung – insbesondere chronischer Krankheiten – verwehrt oder zumindest verzögert wurde. Maßgeblich ist hier § 4 AsylbLG , in dem festgelegt ist, daß die erforderliche ärztliche oder zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arzneimitteln etc. lediglich zur Behandlung akuter Behandlungen und Schmerzuständen sicherzustellen ist. ASYLBEWERBERLEISTUNGSGESETZ Eine Versorgung mit Zahnersatz soll nur erfolgen, soweit dies im Einzelfall aus medizinischen Gründen unaufschiebbar ist. Problematisch ist hier natürlich die Abgrenzung zwischen chronischen und akuten Krankheiten. Da die seit langem angekündigten konkretisierenden Empfehlungen, die in Zusammenarbeit mit der Bundesärztekammer erarbeitet werden sollten, bisher nicht vorliegen und auch die Länderrichtlinien hierzu in der Regel wenig konkret sind, müssen die ÄrztInnen selbst den Umfang der notwendigen medizinischen Leistungen selbst festlegen – allerdings mit der Unsicherheit, ob die Kosten anschließend auch übernommen werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang nochmals der Hinweis auf § 6 Asylb LG, in dem die sonstigen Leistungen geregelt sind. Danach können sonstige Leistungen insbesondere gewährt werden, wenn sie zur Sicherung der Gesundheit ‘unerläßlich’ sind. Wenn auch bei wohlwollender Interpretation dieses Paragraphen eine angemessene medizinische Versorgung sichergestellt sein könnte, so tauchen doch immer wieder Fälle auf, wo Flüchtlingen die notwendige medizinische Hilfe bzw. medizinischen Hilfsmittel versagt werden. Dies gilt insbesondere für den Bereich der psychotherapeutischen Behandlung. In mehreren Städten haben sich daher in den vergangenen Jahren Netzwerke gebildet, die versuchen, Hilfestellung bei der ärztliche Versorgung zu bieten (vgl. Kontaktadressen). 12. Schlußbemerkung Überblicksartig wurden hier die Geschichte, Rechtsgrundlagen und Probleme des Asylbewerberleistungsgesetzes dargestellt. Hinsichtlich einzelner Aspekte muß daher auf die einschlägigen Kommentare verwiesen werden, die allerdings bisher nicht umfassend auf die aktuelle Gesetzeslage und Rechtsprechung eingehen.13 Der politische Wille für eine grundlegende Reform oder gar Abschaffung des Gesetzes ist auch nach dem Regierungswechsel nicht vorhanden, was allerdings nicht erstaunt, wurden die bisherigen Regelungen doch bereits mit Unterstützung bzw. auf Betreiben der SPD-geführten Bundesländer umgesetzt. Auch die angestrebte europäische Harmonisierung der sozialen Rechte der Flüchtlinge kann angesichts der in vielen europäischen Ländern vorgenommen Einschnitte in die Sozialleistungen der Flüchtlinge keinen Anlaß zur Hoffnung geben ( Asyl- und Flüchtlingspolitik Europa). Nichtsdestotrotz ist es notwendig, immer wieder die soziale Ausgrenzung der Flüchtlinge zu thematisieren und für eine Politik einzutreten, die den Flüchtlingen ein menschenwürdiges und selbständiges Leben ermöglicht und ihnen Entwicklungschancen eröffnet. Die Abschaffung des AsylbLG bleibt hierzu eine notwendige Voraussetzung. Anmerkungen 1 Vgl. Stolleis: „Ist die generelle Kürzung der Sozialhilfe (§ 120 BSHG) für eine gesamte Personengruppe mit dem Grundgesetz und dem System des BSHG vereinbar?“, ZDWF Schriftenreihe, Januar 1985 2 Vgl. Zuleeg: Zur Ausgliederung der Sozialhilfeleistungen an Asylbewerber und andere Ausländergruppen aus dem Bundessozialhilfegesetz, ZDWF Schriftenreihe Nr. 28, Juli 1988 3 Vgl. Classen: Menschenwürde mit Rabatt. Das Asylbewerberleistungsgesetz und was man dagegen tun kann. Herausgegeben von Pro Asyl, Juni 1994 (Neuauflage in Vorbereitung) 4 Vgl. Berliner VG (AZ:VG 32 A 498.98) 5 BT-Drucksache 13/11172, S.7 6 Vgl. Hinweise des Inneministeriums SchleswigHolstein zur Umsetzung des 2. Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes 7 Vgl. VG Berlin (VG8 A 508.98) 251 RECHT UND GESETZ 8 Vgl.: Streit/Hübschmann: Das 2. Gesetz zur Änderung des AsylbLG, ZAR 6/98, S.271 9 Vgl. hierzu: Sybille Röseler/Dr. Bernd Schult: Gutachten zum Entwurf eines 2. Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes, hrsg. von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, April 1998 10 Vgl. hierzu ausführlich: Röseler: Kommentierung zum AsylbLG, in: Huber: Handbuch des Ausländerund Asylrechts, Januar 1995 11 Vgl.: §3 AsylbLG Abs. 2 Satz 1 12 Vgl. hierzu ausführlich: Gefesselte Medizin. Ärztliches Handeln – Abhängig von Aufenthaltsrechten? Hrsg. von Flüchtlingsrat Berlin, Ärztekammer Berlin und Pro Asyl , Berlin 1998 13 Zu nennen sind hier u.a. Röseler und Classen, der regelmäßig aktuelle Übersichten über die Rechtsprechung auf der homepage von Pro Asyl erstellt; Birk: Kurzkommentierung des AsylbLG, in: LPKBSHG, 5. Aufl. 1998; Vormeier: Gemeinschaftskommentar zum AsylbLG Harald Löhlein Kinderrechte Spätestens seit dem Internationalen Jahr des Kindes (1979) sind ‘Kinderrechte’ auf verschiedenen Ebenen zum gesellschaftlichen Dauerthema geworden. Die 1989 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete und nahezu universell ratifizierte Konvention über die Rechte des Kindes hat der Diskussion nochmals Schubkraft verliehen und nimmt insbesondere auch die Regierungen in die Pflicht. Der folgende Beitrag stellt die in der Konvention liegenden Chancen und Grenzen für die Gruppe der ‘unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge’ in der Bundesrepublik Deutschland dar und informiert über den Überwachungsprozeß, der für die Umsetzung der Konvention unabdingbar ist. 252 1. Entstehung und Bedeutung der Kinderrechte 1.1 Schutz, Beteiligung und Förderung von Kindern Aus historischer Perspektive wurden Kinder mit Beginn des Zeitalters der Aufklärung als schützenswerte Personen betrachtet. Mit der Gewährleistung von Schutzrechten, wie z. B. Schutz vor Kinderarbeit und Vernachlässigung, wurde ein neues historisches Projekt – die Idee der Kinderrechte – geboren. Die Ausgestaltung der Kinderrechte erfuhr in der Verabschiedung der Kinderrechtskonvention durch die Vereinten Nationen im Jahr 1989 insofern einen vorläufigen Höhepunkt, als Kinder und Jugendliche (0 –18 Jahre) mit ihr erstmalig als Wesen mit eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Rechten ausdrücklich anerkannt wurden. Sie ist die einzige Konvention, die zivile und politische sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle (Menschen-)Rechte ausschließlich für Kinder in einem Dokument zusammenfaßt. Diese Schutzrechte wurden erweitert um Beteiligungs- und Förderrechte, im Englischen oft als die ‘3 P’s’ zitiert (protection, provision, participation). Gruppiert man die Konvention konsequent in diese Bereiche, befinden sich die Schutzrechte allerdings immer noch in der Überzahl. Dennoch hat die Konvention das Umdenken, daß Kinder nicht als Objekte, sondern als Subjekte zu behandeln sind, weltweit befördert. 1.2 Kinder als Träger von Grundrechten In der BRDeutschland sind Kinder von Geburt an Trägerinnen aller Grundrechte wie Erwachsene. Auch wenn nirgendwo ausdrücklich genannt, ist das ‘Kindeswohl’ ein maßgeblicher Leitgedanke, nach dem die neueren Gesetze, zumindest im Familien- Kinder- und Jugendhilferecht, ausgerichtet werden. Da es sich sowohl KINDERRECHTE beim Begriff ‘Wohl des Kindes’ wie auch beim Begriff ‘Kinderrechte’ um unbestimmte Rechtsbegriffe handelt, muß ihre Konkretisierung auf politischer Ebene ausgehandelt werden. Diese Konkretisierung strebt die ‘National Coalition’ (NC) in der BRDeutschland mit verschiedenen Instrumentarien an. Der Staat hat gegenüber den Kindern ein Wächteramt und trägt die Verantwortung dafür, kindgerechte Lebensbedingungen zu schaffen. In bezug auf Kinderflüchtlinge tut sich der deutsche Staat jedoch sichtbar schwer, diese Rolle auszuüben. So garantiert das Ausländergesetz zwar noch einen zunehmenden Ausweisungsschutz für Kinder und Jugendliche, die im Zuge der Familienzusammenführung nach Deutschland einreisen, verweigert diesen Schutz jedoch unbegleiteten Minderjährigen, die ihn gerade am nötigsten hätten. Die Bundesregierung bestätigt auch in ihrer Stellungnahme im gerade erschienenen 10. Kinder- und Jugendbericht, daß die bei der Ratifizierung der Konvention abgegebene Erklärung zu Art. 22 bekräftigen soll, daß eine widerrechtliche Einreise oder ein widerrechtlicher Aufenthalt von ausländischen Minderjährigen nicht als erlaubt angesehen werden kann. 1.3 Kinderrechte in Europa Die UN-Kinderrechtskonvention bestimmt ebenfalls die Leitlinien für die Politik der Europäischen Union zum Schutz und zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen in Europa. Im Vertrag von Maastricht, der im Amsterdamer Vertrag fortgesetzt wird, wird zum ersten Mal im Text des Vertrages selbst auf Menschenrechte Bezug genommen. Die Gemeinschaft hat einige Initiativen unternommen, um die Anerkennung von Kinderrechten durch die Behandlung verschiedener Themen (z. B. Kinderarbeit, Jugendschutz in den Medien, Prostitu- tionstourismus oder Straßenkinder) voranzubringen. Insbesondere in Abkommen mit Drittstaaten werden Maßnahmen gegen Verstöße gegen Menschen- und Kinderrechte entwickelt. Die Union hat auch verschiedene Förderprogramme aufgelegt, um die Entwicklung der Rechte von Kindern zu ermöglichen und hat durch ein 1995 beschlossenes Rahmenabkommen eine umfassende Zusammenarbeit mit dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) eingeleitet. Diese Zusammenarbeit hat die ‘Europäische Strategie für Kinder’ hervorgebracht, ein umfassendes Programm für die aktive Umsetzung der Konvention in Europa auf regionaler, nationaler und lokaler Ebene. Die Europäische Strategie für Kinder ruft alle Staaten auf, den Rechten des Kindes politische Priorität einzuräumen. Diese Strategie wurde beim 2. Gipfel des Europarats von den Staatsund Regierungschefs der Mitgliedsstaaten verabschiedet. In der Abschlußerklärung sowie in dem dazugehörigen Aktionsplan forderten die Staats- und Regierungschefs: – Ein Programm für Kinder mit dem Ziel in Zusammenarbeit mit internationalen und nichtstaatlichen Organisationen die Interessen von Kindern zu verteidigen. – Schutz der Kinder – das nationale Recht soll überprüft werden mit dem Ziel, einheitliche Richtlinien für den Schutz von Kindern vor inhumaner Behandlung festzulegen. In bezug auf Kinderflüchtlinge fordert der Europarat (Punkt 37) die Mitgliedstaaten auf, die Empfehlungen des UNHochkommissars für Flüchtlinge und asylsuchende Kinder ohne Begleitung zu berücksichtigen sowie (Punkt 38) minderjährige Flüchtlinge ohne Begleitung zwecks Familienzusammenführung auf ihr Territorium lassen und diesen eine den Kindern des Zufluchtstaates gleichwertige Betreuung zu gewähren (vgl. Protokoll der 253 RECHT UND GESETZ Sitzung des Europäischen Parlaments vom 13. September 1996). Die in der folgenden Tabelle (vgl. Fesenfeld 1997) aufgezeichneten Grundlagen und Vereinbarungen für die Rechte des Kindes machen deutlich, daß es eine sichtbare Evolution der Rechte des Kindes gibt. In vielen Deklarationen und Erklärungen haben sich die verantwortlichen PolitikerInnen dazu bekannt. Sie an ihre Versprechen zu erinnern und diese Rechte politisch einzufordern und über ihre Umsetzung zu wachen, ist vorwiegend Aufgabe der Nichtregierungsorganisationen (NROen) und anderer Teile der Zivilgesellschaft ( Interessenvertretungen). chen Vorgaben aus der Kinderrechtskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) widerspricht. Hier hat es inzwischen einige Richtervorlagen an das BVerfG gegeben. Um die Umsetzung von der zwischenstaatliche Ebene auf die innerstaatliche voranzubringen, hat sich im Zuge der Entstehung und Umsetzung der Konvention auf weltweiter Ebene eine Kinderrechtelobby aus nichtstaatlichen Organisationen (Nationale Koalitionen) gebildet, die sich zum Ziel gesetz haben, die in der Konvention liegenden Chancen im Hinblick auf die Konsequenzen einer Subjektstellung von Kindern politisch zu nutzen. 2. Zum Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht 2.2 Die Konvention 2.1 Völkerrecht muß innerstaatlich umgesetzt werden Die UN-Konvention ist ein internationales menschenrechtliches Instrument. Nach Art. 59 Abs. 2 GG bedarf es eines entsprechenden Vertragsgesetzes, um in der nationalen Rechtsordnung überhaupt Geltung zu erlangen (Brötel 1997). Die bei der Ratifizierung abgegebene Interpretationserklärung der Bundesregierung hat unter VölkerrechtlerInnen einen regelrechten Streit darüber ausgelöst, ob es sich dabei um einen – nach der Konvention nicht zulässigen – Vorbehalt handle oder um eine Erklärung, die den Staat nicht davon entbindet, die erforderliche innerstaatliche Anwendung durchzuführen. Auf juristischer Ebene müßte daher zunächst das Bundesverfassungsgericht darüber befinden, ob in bezug auf Kinderflüchtlinge ein verfassungswidriges Verhalten vorliegt. Interessant ist diesbezüglich ein Blick auf das deutsche Familienund Kindschaftsrecht, das in der Regelung des Sorgerechts für nichteheliche Kinder sowie im Umgangsrecht den völkerrechtli254 Als problematisch erweist sich hier die relativ hohe Unverbindlichkeit aufgrund des recht unpräzise gehaltenen Wortlauts der Konvention- ein typisches Ergebnis völkerrechtlicher Verträge, die viele unterschiedliche Interessen unter einen Hut bringen müssen. Erschwerend kommt hinzu, daß die Artikel der Konvention unterschiedliche ‘Rechtsqualitäten’ besitzen und sowohl die Schutzbedürftigkeit des Kindes betonen als auch unmittelbare Ansprüche des Kindes enthalten. Die Einschätzungen darüber, was diese Konvention bewirken kann, gehen weit auseinander. Dennoch besteht eine große Chance darin, daß die Konvention als Mobilisator für die Interessen von Kindern an Momentum gewinnt. Weil die Idee, daß Kinder Rechtssubjekte sind, noch sehr jung ist, bedarf es großer Anstrengungen, um sie ‘gesellschaftsfähig’ zu machen. Verhellen (1997, S. 16) nennt fünf grundsätzliche Anforderungen, damit der legale Schutz von Rechten mehr als nur ein gesetzliches Verfahren ist: „1.Man muß Rechte haben 2. Man muß seine Rechte kennen 3. Man muß seine Rechte ausüben kön- KINDERRECHTE nen 4. Man muß seine Rechte, wenn nötig, geltend machen können 5. Es muß eine Interessengemeinschaft geben, die sich für die Rechte einsetzt“ In bezug auf die Situation von Kinderflüchtlingen in der BRDeutschland sind nur noch sehr enge gesetzliche Spielräume vorhanden, die von engagierten RechtsanwältInnen genutzt werden können. Die bestehende Interessengemeinschaft derjenigen, die sich um diese Kinder kümmert, muß sich deshalb möglichst gut vernetzen, um den Kindern eine schnelle und unbürokratische Unterstützung zukommen lassen zu können. Dabei können auch die Nationalen Koalitionen eine stützende Rolle übernehmen, indem sie ihre Kontakte zur UN-Ebene nutzen und die Situation der Kinder bei dem Auschuß für die Rechte des Kindes bekannt machen. 3. Zum Verhältnis von Recht und Politik Die Behandlung von Kinderflüchtlingen in der BRDeutschland wie auch vielen anderen europäischen Ländern ( Aufnahmeländer) bestätigt folgende Feststellung der ExpertInnenkommission des 10. Jugendberichts: „Recht ist kein Ersatz für Politik: Politik setzt Werte und hat die Aufgabe, sie auszugestalten. Dafür kann Recht ein Mittel sein. Es ist dabei von wirtschaftlichen und sozialpolitischen Interessen und den daran gebundenen politischen Mehrheiten abhängig, aber auch von den bei politischen Entscheidungen erforderlichen Kompromissen. Recht kann daher auch Widersprüchlich sein.“ (BMFSFJ, 1998, S. 158). Ein solcher Widerspruch manifestiert sich in der BRDeutschland – oft mit tragischen Auswirkungen für ihren Lebensweg – bei allen Kindern, die einen ungesicherten rechtlichen Aufenthaltsstatus haben. Nach Auffassung der NC findet damit bereits ein erster Vertragsbruch statt, denn mit der Ratifizierung der Konvention haben sich die Staaten in Artikel 2 verpflichtet, die Rechte jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind zu gewährleisten. Dazu gehören in jedem Fall die ‘unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge’ ( Kinderflüchtlinge). Daß die Aushöhlung der Rechte von Flüchtlingen und AsylbewerberInnen trotz internationaler Übereinkommen selbst vor Minderjährigen keinen Halt macht, zeigt auf, daß für den notwendigen Konkretisierungsprozeß nur eine sehr starke Kinderrechtelobby Veränderungen zu Gunsten von Kindern bewirken kann. Gleichzeitig zeigt die Behandlung der ‘unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge’ wie auch generell aller Kinder, die einen ungesicherten rechtlichen Aufenthaltsstatus haben, daß in der BRDeutschland für die Rechte von Kindern mit zweierlei Maß gemessen wird. So wird Privatrecht sowie Familien-, Kinder- und Jugendhilferecht in der Praxis nachrangig gegenüber dem Ausländer- und Asylrecht behandelt. Möglicherweise besteht deshalb die einzige Chance, dieses Verhältnis aufzubrechen, darin, die Einbindung der Konvention in die internationale Überwachungsebene als strategisches und politisches Druckmittel stärker zu nutzen. Die relevanten Rechtsbereiche für Kinderflüchtlinge (MSA, KJHG, BGB, AuslG, AsylVfG, Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte, EMRK, KRK) werden in diesem Handbuch an verschiedenen Stellen behandelt ( Asylverfahren, Gesetzliche Grundlagen, Kinderflüchtlinge). Bis auf die internationalen Abkommen sind sie dadurch gekennzeichnet, daß der Schutz von Kinderflüchtlingen mit Beginn des sog. Asylkompromisses immer stärkeren Einschränkungen unterworfen wurde. Diese Politik schlägt sich in der Praxis nieder in der formalrechtlichen Abschiebung von Kindern ( Abschiebung), selbst wenn diese bereits in die deutsche Gesellschaft 255 RECHT UND GESETZ integriert, eine neue Heimat und adoptionsbereite Familien gefunden haben ( Adoption). Deshalb sollte nach Meinung der NC der anstehende Zweitbericht der Bundesregierung an den UN-Ausschuß für die Rechte des Kindes (fällig im April 1999) genutzt werden, um die internationale Öffentlichkeit auf die Situation in der BR Deutschland aufmerksam zu machen. Zum besseren Verständnis soll dieser Überwachungsmechanismus deshalb beschrieben werden. 4. Die Rolle der Nichtstaatlichen Organisationen (Nationale Koalitionen) Allgemein betrachtet ist die Funktion der Nationalen Koalitionen nur nachvollziehbar, wenn man den internationalen Kontext, in dem die UN-Konvention entstanden ist, berücksichtigt. Bemerkenswert ist neben der schnellen nahezu universellen Ratifizierung, daß es auch das einzige internationale Abkommen ist, das Nichtregierungsorganisationen (im folgenden NROen) explizit eine wichtige Rolle für die Überwachung und Kontrolle der Umsetzung zuspricht: Artikel 45 (a) „Der Ausschuß kann, wenn er dies für angebracht hält, die Sonderorganisationen, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen und andere zuständige Stellen einladen, sachkundige Stellungnahmen zur Durchführung des Übereinkommens auf Gebieten abzugeben, die in ihren jeweiligen Aufgabenbereich fallen.“ Eine Gruppe von ca. 40 international tätigen NROen hat sowohl maßgeblich zur Entstehung der Konvention beigetragen als auch dafür gesorgt, daß die Überwachungsarbeit des Umsetzungsprozeßes (‘Monitoring’) weiterhin vorangetrieben und begleitend unterstützt wird. Es ist vornehmlich dieser Gruppe zuzuschreiben, daß der UN-Ausschuß für die Rechte 256 des Kindes, der die Staatenberichte entgegennimmt und die Regierungen zum Gespräch einlädt, die NROen auch weiterhin als wichtige Partner in den Dialog miteinbezieht. Eine Liaisonstelle in Genf sorgt für den notwendigen Kommunikationsprozeß zwischen den NROen und dem UNAusschuß für die Rechte des Kindes. Weltweit gibt es in ca. 60 Ländern bereits Nationale Koalitionen, die die Umsetzung der Konvention vorantreiben. Diese haben die Möglichkeit, sich zweimal jährlich in Genf zu einem Erfahrungsaustausch zu treffen. Im März 1998 hat die deutsche NC das erste europäische Regionaltreffen ausgerichtet, auf dem sich eine Arbeitsgruppe mit der Situation von Kinderflüchtlingen und der Möglichkeit der transnationalen Zusammenarbeit befaßte. 4.1 Monitoring Die Nationalen Koalitionen, die in vielen Ländern erst mit der Verabschiedung der UN-Konvention entstanden sind, können durchaus als ‘politische Kinder’ des Übereinkommens betrachtet werden. Einer ihrer Hauptvorteile liegt darin, daß die beteiligten Organisationen durch Einbringen ihrer spezifischen Fachexpertise für unterschiedliche Teilgebiete der in der Konvention verbrieften Rechte einen umfassenderen Umsetzungsprozeß, als dieses für einen einzigen Verband möglich wäre, bewerkstelligen können. Aus diesem Grund begrüßt es der UN-Ausschuß sehr, wenn sich verschiedene Organisationen zusammenschließen. Die derzeit bestehenden Nationalen Koalitionen in der Welt sind zwar unterschiedlich strukturiert, aber alle arbeiten intensiv an der Umsetzung der UN-Konvention. Dabei gehen sie unterschiedlichen Aktivitäten nach, wie z. B. der – Durchführung von Kampagnen zur Bewußtseinsbildung – Beobachtung und Kontrolle der Regie- KINDERRECHTE rungen bei der Umsetzung der Konvention – Sammlung von Daten zur Situation und zum Status von Kindern in den Ländern – Bereitstellung von Informationen für die Regierung – Erarbeitung und Verbreitung von Reformvorschläge im Sinne der UN-Konvention 4.2 Zur Rolle der deutschen ‘National Coalition’ Die Entstehung und formelle Gründung der deutschen ‘National Coalition’ im Rahmen ihres ersten Offenen Forums am 24. Mai 1995 ist eher dem Vorbild auf internationaler Ebene gefolgt und letztendlich nicht aus einem originären Bedürfnis deutscher Kinder- und Jugend(hilfe)verbände entstanden. Zum heutigen Zeitpunkt haben sich ca. 90 bundesweit tätige Organisationen aus einem sehr breiten fachlichen Spektrum in der ‘National Coalition’ zusammengeschlossen, um ihren Willen zur Umsetzung der UN-Konvention in der BRDeutschland deutlich zu machen. Sie fungiert als Bindeglied zwischen dem UN-Ausschuß für die Rechte des Kindes, der NGO-Group (NRO-Gruppen) und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), mit dem es sich in regelmäßigen Abständen über die Probleme und Fortschritte bei der Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention austauscht. Der ‘Ausschuß für die Rechte des Kindes’ empfiehlt bei der Behandlung der Erst- und Zweitberichte der Vertragsstaaten in bezug auf Artikel 22, daß die vom UNHCR erarbeiteten Richtlinien von 1994 (Guidelines on Protection and Care) und 1997 (Richtlinien über allgemeine Grundsätze und Verfahren zur Behandlung asylsuchender unbegleiteter Minderjähriger) beachtet werden, da diese Richtlinien konkrete Vorschläge enthalten. Der Aus- schuß fragt in diesem Zusammenhang auch ab, inwieweit die mit Art. 22 in enger Verbindung stehenden Artikel 7 (Name und Staatsangehörigkeit), Artikel 8 (Identität), Artikel 9 (Trennung von den Eltern, persönlicher Umgang), Artikel 10 (Familienzusammenführung), Artikel 16 (Schutz der Privatsphäre und Ehre), Artikel 20 (Von der Familie getrennt lebende Kinder), Artikel 30 (Minderheitenschutz), Artikel 37 (Verbot der Folter, Todesstrafe, lebenslanger Freiheitsstrafe), Artikel 38 (Schutz bei bewaffneten Konflikten) und Artikel 39 (Genesung und Wiedereingliederung geschädigter Kinder) umgesetzt werden. Im Jahr 1999 steht der zweite Bericht der Bundesregierung an den UN-Ausschuß an. Es ist bereits abzusehen, daß viele der von dem UN-Ausschuß im Rahmen des Erstberichts aus den abschliessenden Beobachtungen resultierenden Empfehlungen nicht erfüllt sein werden, wenn die Bundesregierung bis dahin nicht noch erhebliche Anstrengungen unternimmt. 5. Ausblick und Handlungsanregungen Bereits in der sehr kurzen Zeit ihres Bestehens hat die Arbeit der NROen (Nationalen Koalitionen) in der ganzen Welt und auch der deutschen NC deutlich gemacht, daß die aktive Umsetzung völkerrechtlicher Konventionen, eines ständigen Motors und Überwachungsmechanismus bedarf, um ihre Umwandlung in innerstaatliches Recht zu sichern. Soll die ‘National Coalition’ jedoch auch in Zukunft mehr als nur ein Hoffnungsträger sein, dem angesichts der sozialen Wirklichkeit nur mehr bleibt, das Banner der Kinderrechte gegen den Wind ökonomisch gerechtfertigter (Spar-)zwänge hochzuhalten, sollte das vorhandene Instrumentarium dadurch genutzt werden, daß Berichte über die konkreten Probleme von 257 RECHT UND GESETZ Kinderflüchtlingen und die Verletzung ihrer Rechte in der Stellungnahme der NC zum Zweitbericht Eingang finden. Darüber hinaus können folgende Aktivitäten dazu beitragen, um die Situation von Kinderflüchtlingen zu verbessern: – Positiv- und Negativbeispiele über die Behandlung von ‘unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen’ in der BR Deutschland – Grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit anderen NROen – Kritische Überwachung der Umsetzung – Einforderung von regelmäßigen Berichten über die Situation von Kinderflüchtlingen auf Länder- bzw. kommunaler Ebene – Schulung von AnwältInnen, MitarbeiterInnen von Behördern, GrenzbeamtInnen über Menschen- und Kinderrechte – Öffentlichkeitsarbeit der BetreuerInnen von Kinderflüchtlingen Literatur Tips zum Weiterlesen: Brötel, Achim: Kinderrechte – Staatenpflichten: Überlegungen zum Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht in der aktuellen Reformdiskussion in National Coalition 1997, Tagungsdokumentation des Ersten Deutschen Kinderrechtetages: Das Recht des Kindes auf Achtung, AGJ 1997, S. 19-30 BMFSFJ: 10. Kinder- und Jugendbericht, Bonn 1998 Massimo Toschi: Chronology of the Legal Evolution of Children’s Rights. European Forum for Child Welfare, 1997 Fesenfeld, Bergit: Presse und Öffentlichkeitsarbeit für Kinderrechte. Ein Praxisbuch, Verlag an der Ruhr, 1997 National Coalition: Ergebnisse des ersten Dialogs zwischen dem UN-Ausschuß für die Rechte des Kindes und der Bundesregierung über den Erstbericht zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention, AGJ 1996 UNICEF: Implementation Handbook for the Convention on the Rights of the Child, New York 1998 258 Verhellen, Eugen: Die Konvention über die Rechte des Kindes – Internationale Perspektiven, in: Tagungsdokumentation des ersten Deutschen KinderrechteTages, a. a. O. Beate Schmidt-Behlau Minderjährigkeit / Vorgezogene Volljährigkeit Die Regelungen der Volljährigkeit, die im BGB und im KJHG festgelegt sind, werden sowohl vom Asylverfahrensgesetz (AsylVfG), als auch von zahlreichen Behörden unterlaufen. Es wird dargestellt, warum in vielen Kommunen und Ländern schon 16jährige Kinderflüchtlinge wie Volljährige behandelt werden und welche Konsequenzen dieses Vorgehen für die Jugendlichen hat. Als Minderjährige gelten in der Bundesrepublik Deutschland offiziell alle Kinder und Jugendlichen, die das Alter der Volljährigkeit noch nicht erreicht haben. Gemäß § 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) tritt die Volljährigkeit mit der Vollendung des 18. Lebensjahres ein. Diese vollzieht sich am 18. Geburtstag. Der Ausdruck ‘Minderjährige’ wird sowohl für Kinder als auch für Jugendliche verwendet. Als Kinder gelten in der Bundesrepublik Deutschland nach § 7 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes diejenigen Minderjährigen, die noch nicht 14 Jahre alt sind, d. h., die das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Als Jugendliche gelten diejenigen Minderjährigen, die bereits 14 Jahre aber noch nicht 18 Jahre alt sind, d. h., die das 14. Lebensjahr aber noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet haben. Die Altersgrenze der Volljährigkeit in der Bundesrepublik korrespondiert auf in- M I N DE RJÄH R IG KE IT / VORG E ZOG E N E VOLLJÄH R IG KE IT ternationaler Ebene zum einen mit der in Artikel 12 des Haager Minderjährigenschutzabkommens niedergelegten Definition: „Als Minderjähriger [...] ist anzusehen, wer sowohl nach dem innerstaatlichen Recht des Staates, dem er angehört, als auch nach dem innerstaatlichen Recht des Staates seines gewöhnlichen Aufenthaltes minderjährig ist,“ und zum anderen mit der in Artikel 1 der ‘UN-Konvention über die Rechte des Kindes’ definierten Altersgrenze: „Kind im Sinne des Übereinkommens ist jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwendende Recht nicht früher eintritt.“ Für unbegleitete Flüchtlinge gelten in der Bundesrepublik jedoch faktisch andere Altersgrenzen, die durch die offensichtliche und bewußte Fehlinterpretation ihrer Handlungsfähigkeit im Sinne des Asylverfahrensgesetzes entstanden sind. Diese Handlungsfähigkeit beschränkt sich eigentlich per Definition nur auf ihre Fähigkeit im Sinne des § 12 Satz 1 des Asylverfahrensgesetzes, Asylverfahrenshandlungen selbst vorzunehmen: „Fähig zur Vornahme von Asylverfahrenshandlungen nach diesem Gesetz ist auch ein Ausländer, der das 16. Lebensjahr vollendet hat [...].“ Diese Handlungsfähigkeit bei Asylverfahrenshandlungen wird von den zuständigen Behörden (insbesondere auch von Jugendämtern!) in vielen Bundesländern jedoch als grundsätzliche Handlungsfähigkeit interpretiert. So erläutert z. B. das Hamburger Amt für Jugend, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge seien junge Menschen, die ausweislich ihrer Dokumente oder durch Festlegung der Ausländerbehörde bei ihrem Erstkontakt mit dem für sie zuständigen Bezirksamt das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (1995, S. 2). Auch die Berliner Senatsverwaltung für Jugend und Familie geht davon aus, daß es sich um „Personen unter 16 Jahren“ handelt (1994, S. 1). Das Hes- sische Landesjugendamt schließt Minderjährige, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, nicht aus der Gruppe der Minderjährigen aus, weist aber darauf hin, daß nur die Minderjährigen, die das 16. Lebensjahr nicht vollendet haben, in die Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe einbezogen werden (1996, S. 1). In Bayern gilt die Regelvermutung, daß es sich bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen um Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren handelt (Stadtjugendamt München 1996, S. 1). Faktisch gelten unbegleitete Flüchtlinge in der Bundesrepublik also nur bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres, d. h. bis zu ihrem 16. Geburtstag als minderjährig. Dieser Umstand kann für die für die 16und 17-jährigen zu weitreichenden Konsequenzen führen. Haben sie bei ihrer Einreise in die Bundesrepublik das 16. Lebensjahr schon vollendet: – erhalten sie in den meisten Fällen keinen Vormund. Sie müssen zum einen ihr Asylverfahren ohne Beistand betreiben und bleiben zum anderen auch in ihren persönlichen Belangen (z. B. Schulbesuch, Ausbildung, Vermögensverwaltung) auf sich allein gestellt, – werden sie als handlungsfähige AsylantragstellerInnen gemäß § 47 AsylVfG zum Aufenthalt in einer Aufnahmeeinrichtung und anschließend in einer Gemeinschaftsunterkunft verpflichtet, – werden sie gemäß § 46 AsylVfG in die bundesweite Verteilung einbezogen. Nur in Ausnahmefällen können die Jugendlichen einen individuellen Hilfe- oder Betreuungsbedarf nachweisen und in einer Erstunterbringungseinrichtung oder einer der wenigen spezifischen Einrichtungen für Kinderflüchtlinge ab dem 16. Lebensjahr betreut werden (vgl. Hamburger Senat 1993, S. 3; Berliner Senatsverwaltung für Jugend und Familie 1991, S. 11; Hessisches Landesjugendamt 1996, S. 1; Stadtjugendamt München 1996, S. 16). 259 RECHT UND GESETZ Aber auch jungen Flüchtlingen, die das 16. Lebensjahr nach der Einreise in die Bundesrepublik vollenden, drohen Konsequenzen: – sie können in einer weniger intensiven Betreuungsform untergebracht werden, – sie können aus einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe herausgenommen und in Gemeinschaftsunterkünften einquartiert werden. Die Entscheidungen über die Gewährung bzw. den Entzug der minderjährigengerechten Behandlung sind in diesem Fall nicht durch einheitliche schriftliche Vorgaben reglementiert. Sie werden von den zuständigen Jugendbehörden getroffen und liegen in deren Ermessen. Aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse kann festgehalten werden, daß trotz der klaren Definition des Begriffes „Minderjährigkeit“ in manchen Bundesländern eine Ungleichbehandlung Minderjähriger vor und nach Vollendung des 16. Lebensjahres stattfindet. Motive für diese Benachteiligung werden zwar nicht öffentlich formuliert, sind jedoch in der Kostenersparnis zu suchen, die durch die bundesweite Verteilung und die geringere Anzahl an zu betreuenden Minderjährigen entsteht. Die zuständigen Jugendbehörden sind aufgerufen, ihrer originären Aufgabe nachzukommen und im Sinne der Minderjährigen tätig zu werden. Dieses gilt sowohl hinsichtlich grundsätzlicher Bestimmungen als auch in der Ermessensregelung im Einzelfall. In den Fällen, in denen Jugendbehörden die Benachteiligung Minderjähriger aufgrund ihres Alters unterstützen bzw. nicht deutlich gegen diese Benachteiligung vorgehen, rückt das Wohl des Kindes in den Hintergrund. Aus diesem Grund sollte dringend überörtlich festgelegt werden, daß asyl- und ausländerrechtliche Bestimmungen nicht dazu verwendet werden dürfen, das Kinder- und Jugendhilferecht massiv einzuschränken. 260 Literatur Berliner Senat/Senatsverwaltung für Jugend und Familie: Beratung und Betreuung alleinstehender minderjähriger Asylbewerber/innen und unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in der Zuständigkeit des Jugendamtes vom 15.4.1991. Berlin 1991 Berliner Senat/Senatsverwaltung für Jugend und Familie: Ausführungsvorschriften über die örtliche Zuständigkeit auf dem Gebiet der Jugendhilfe in Fällen, in denen diese an den tatsächlichen Aufenthalt anknüpft vom 21.9.1994. Berlin 1994 Hamburger Senat: Dringlicher Antrag: Anpassung der Unterbringungskapazitäten und der finanziellen und personellen Ressourcen an die gestiegenen Zugangszahlen von Asylbewerbern, Aussiedlern, Bürgerkriegsflüchtlingen. Hamburg Dr. 14/3524 v. 9.2. 1993 Hamburger Senat/Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung/Amt für Jugend: Fachliche Weisung: Hilfen für junge Flüchtlinge unter 16 Jahren. Hamburg 2/1995 Hessisches Landesjugendamt: Standortbeschreibung. Betreuung von unbegleiteten Flüchtlingen/ Asylbewerbern in Hessen. Wiesbaden 10/1996 Stadtjugendamt München: Leitfaden zu pädagogischen Arbeit mit unbegleiteten Flüchtlingen im Stadtjugendamt München. München 1996 Silke Jordan E I N WA N D E R U N G S G E S ETZ Einwanderungsgesetz Im folgenden werden Chancen und Grenzen einer Einwanderungsgesetzgebung erörtert. Hierzu wird geklärt, welche Funktion Einwanderungsgesetze in einer geschlossenen Welt der Nationalstaaten erfüllen, sodann wird am Beispiel des klassischen Einwanderungslandes Kanada die gängige Gestalt von Einwanderungsgesetzen dargelegt und schließlich die Kontroverse um ein Einwanderungsgesetz für das ‘Nicht-Einwanderungsland’ BRD skizziert. Eine wesentliche Folgerung wird sein, daß es vor dem Hintergrund der gegebenen Zuwanderungssituation in der BRD (a) notwendig erscheint, Fragen der Einwanderung und Fragen des Asyls voneinander zu trennen, um (b) innerhalb des Einwanderungsgesetzes einen Gestaltungsspielraum für die Aufnahme von Flüchtlingen zu schaffen, die nicht der engen Definition des Grundrechts auf Asyl entsprechen. 1. Einwanderungsgesetz und Nationalstaat 1689 konnte John Locke in seinem berühmten Traktat ‘Über die Regierung’ allen Migrationswilligen noch den Rat geben, „fortzugehen und sich irgendeinem anderen Staatswesen einzuverleiben, oder mit anderen übereinzukommen, ein neues zu begründen in vacuis locis, in irgendeinem Teil der Welt, den sie frei und herrenlos finden“ (Locke 1974, S. 94). In der modernen Welt jedoch treffen freiwillige ArbeitsmigrantInnen und unfreiwillige Flüchtlinge, wohin sie sich auch wenden, auf die Grenzen von Nationalstaaten. Diese Staaten beanspruchen ein klar abgegrenztes Territorium und definieren einen bestimmten Personenkreis als ihre Mitglieder (‘Staatsbürger’), während sie den Rest der Welt als ‘Nicht-Bürger’ bzw. AusländerInnen ausgrenzen (vgl. Brubaker). Im Sinne nationalstaatlicher Ideologie obliegt es legitimerweise der souveränen Entscheidung der Staaten, wer Zugang zum Staatsgebiet erhält und in den Personenverband aufgenommen wird. Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitsgesetze dienen dazu, diese formalrechtliche (zu unterscheiden von der sozialen) Integration zu regeln. Einwanderungsgesetze bestimmen über Zugang und dauerhafte Niederlassung auf dem Territorium eines Staates. Das Staatsangehörigkeitsrecht entscheidet über die Aufnahme als volles Mitglied mit allen bürgerlichen, politischen und sozialen Rechten. Einwanderungsgesetze dienen deshalb in erster Linie den innen- (Bevölkerungsentwicklung, Arbeitskräftebedarf usw.) und aussenpolitischen Eigeninteressen (internationale Reputation, Systemkonkurrenz im Kalten Krieg usw.) eines Staates. Rein humanitäre Erwägungen spielen dagegen eine untergeordnete Rolle. Einwanderungsgesetze erfüllen also die Funktion, den Zuzug von AusländerInnen zu steuern (anwerben, auswählen, begrenzen). Sie legen dazu i.d.R. Quoten fest, welche die angestrebte Höchstzahl von EinwandererInnen angeben, und definieren bestimmte Kriterien, um eine qualitative Auswahl unter den BewerberInnen vorzunehmen. Das Staatsangehörigkeitsrecht legt fest, wer ‘Staatsbürger’ ist und wie die Staatsbürgerschaft erworben wird. Grundsätzlich gibt es hier drei Möglichkeiten: (1) die Abstammung von jemandem, der bereits Staatsbürger ist (ius sanguini), (2) die Geburt auf dem Territorium des Staates (ius soli) und (3) die Einbürgerung. Um eine klare Integrationsperspektive zu eröffnen, müssen Einwanderungsgesetz und Staatsangehörigkeitsrecht aufeinander abgestimmt sein. 2. Einwanderungsgesetz – die internationale Perspektive Kanada gilt – neben den USA und Australien – als klassisches Einwanderungsland. Existenz und Gestalt dieser Staaten verdanken sich wesentlich Einwanderungs261 RECHT UND GESETZ prozessen. Entsprechend verfügen diese Staaten über eine lange Erfahrung staatlicher Einwanderungsregulierung. Im internationalen Vergleich gilt gerade das kanadische Einwanderungsgesetz (1976/78) als ebenso vorbildlich wie richtungweisend. Dennoch ist zunächst festzustellen, daß auch die kanadischen Einwanderungsrichtlinien bis in die frühen 1960er Jahre rassistische Züge aufwiesen. Einerseits wurde nämlich seit Ende des 19. Jahrhunderts durch Werbeagenturen gezielt die Einwanderung aus Westeuropa gefördert, andererseits wurde die Einwanderung unerwünschter, als ‘nicht assimilierbar’ geltender Volksgruppen (sog. weniger wertvoller Rassen, lesser breeds) behindert. Dies traf insbesondere chinesische MigrantInnen (vgl. Chinese Immigration Act 1923), aber auch für die vom Nationalsozialismus vertriebenen jüdischen Flüchtlinge der 30er Jahre blieben die kanadischen Grenzen weitgehend geschlossen. Erst der Arbeitskräftemangel der Nachkriegszeit öffnete in größerem Umfang die Grenzen für die vorher als ‘unerwünscht’ geltenden ArbeitsmigrantInnen und Flüchtlinge aus Süd- und Osteuropa. Es dauerte aber noch bis in die 1970er Jahre, bis die reale Einwanderungssituation (illegale Einwanderung; Flüchtlinge aus Südamerika, Afrika und Asien) ein gestiegenes öffentliches Bewußtsein für Rassendiskriminierung im Zusammenhang der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre und schließlich die Besorgnis um die internationale Reputation Kanadas zur grundlegenden Reform des Einwanderungsgesetzes führten. Das neue kanadische Einwanderungsgesetz von 1978 ist folgenden Grundsätzen verpflichtet: „Kanadische Einwanderungspolitik muß ... frei sein von rassischer, ethnischer oder religiöser Diskriminierung. Sie soll demographische, ... ökonomische, soziale und kulturelle Ziele unterstützen..., der Familienzusammen262 führung dienen und Kanadas internationalen Verpflichtungen hinsichtlich der Flüchtlingspolitik gerecht werden“ (Vogelsang 1994, S. 201). Den in diesen Richtlinien bereits angedeuteten „Balanceakt zwischen Humanität und nationalem Egoismus“ (ebd., S. 206) versucht die Einwanderungsgesetzgebung zu vollbringen, indem jährlich eine Gesamtquote aufzunehmender EinwandererInnen festgelegt wird, die nach bestimmten Einwanderungskategorien (ökonomisch, sozial oder humanitär) in Teilquoten untergliedert wird. Dies bedeutete beispielsweise für das Jahr 1995, daß 45 % einer Gesamtzuwanderungsquote von 250.000 für ArbeitsmigrantInnen (ArbeitnehmerInnen und Unternehmer-/InvestorInnen) und deren Angehörige, 34 % für Familienzusammenführung und 21 % für Flüchtlinge reserviert wurden. Die Festlegung der Gesamtquote und Differenzierung in Untergruppen obliegt der eigens dafür eingerichteten Canadian Employment and Immigration Commission, die ein Spiegelbild aller gesellschaftlichen Interessengruppen darstellen soll. Die Vorschläge der Kommission, die sich insbesondere an demographischen und arbeitsmarktpolitischen Bedarfen orientiert, werden schließlich dem Parlament vom zuständigen Minister zur endgültigen Entscheidung vorgelegt. Die Auswahl der ArbeitsmigrantInnen erfolgt nach einem ausgeklügelten Punktesystem, daß Bildung, Berufserfahrung, Alter, Sprachkenntnisse der BewerberInnen bzw. bei potentiellen UnternehmerInnen die Höhe des zu investierenden Kapitals und die Zahl zu schaffender Arbeitsplätze berücksichtigt. Die Familienzusammenführung ist großzügig geregelt. Neben Ehepartnern und Kindern berücksichtigt sie auch Großeltern, Enkel, Geschwister, Neffen/Nichten usw. Schließlich bindet das kanadische Einwanderungsgesetz auch die Flüchtlings- und Asylpolitik des Landes. Die Gesetzgebung ist da- E I N WA N D E R U N G S G E S ETZ bei einerseits auf die Grundsätze der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK; 1951) verpflichtet, erlaubt jedoch darüber hinaus bei der Festlegung der sogenannten designated persons Fluchtsituationen und Fluchtgründe zu berücksichtigen, die über die enge – in der Praxis unzureichende – Definition der GFK hinausgehen. Die Möglichkeit, einem erweiterten Personenkreis den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, ist angesichts der Flüchtlingssituation Ende des 20. Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung, denn einerseits muß auch das Schicksal jener berücksichtigt werden, die auf ihrer Flucht die Grenzen ihres Heimatlandes zunächst nicht überschreiten (Binnenflüchtlinge), zum anderen muß der Tatsache Rechnung getragen werden, daß der Flüchtling der Gegenwart längst nicht mehr dem klassischen politischen Flüchtling entspricht. Verfolgung und Unterdrückung sind nicht mehr ausschließlich gezielten staatlichen Handlungen zuzurechnen, sondern gehen zunehmend von konkurrierenden gesellschaftlichen Gruppen, z. B. anderer Ethnien, religiöser Fundamentalismus usw., aus ( Ursachen und Dimensionen). Auch das Bewußtsein für spezifische Formen der Unterdrükkung unterliegt einem steten Wandel. So entstand in den letzen Jahren eine zunehmende Sensibilität für geschlechtsspezifische Verfolgungstatbestände ( Mädchen). Erwähnenswert ist ferner, daß das kanadische Einwanderungsgesetz im Bereich Flucht/Asyl ausdrücklich ein refugee sponsorship fördert, d. h. Privatpersonen und Nicht-Regierungsorganisationen (NRO) wird ein großer Freiraum eingeräumt, sich an der Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen zu beteiligen. In der Gesamtbewertung zeigt sich, daß das neue kanadische Einwanderungsgesetz zu einer deutlichen Verlagerung der ethnischen Struktur der Einwanderung geführt hat. „Waren zu Beginn der 60er Jahre 80 % aller Immigranten europäi- scher Abstammung, so kommen derzeit knapp 80 % aus der sog. Dritten Welt.“ (Vogelsang, S. 207) Wie kaum eine andere Gesellschaft begreift sich die kanadische als multikulturelle. Bei aller Weltoffenheit und Liberalität des kanadischen Einwanderungsgesetzes ist aber auch festzustellen, daß mit der Zunahme der sogenannten visible minorities Überfremdungsängste, Diskriminierung und Rassismus erneut zugenommen haben, ebenso, wie auf die seit den 80er Jahren steigende Zahl der Asylsuchenden ähnlich wie in anderen Industrieländern mit rechtlichen Restriktionen reagiert wurde: Der Gebrauch von Rechtsmitteln wurde eingeschränkt, der Instanzenweg verkürzt, die Abweisung von Flüchtlingen aus ‘sicheren Drittstaaten’ erwogen. 3. Einwanderungsgesetz für ein ‘Nicht-Einwanderungsland’ Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland – so kann man es in regierungsamtlichen Verlautbarungen nachlesen. Gleichzeitig besteht in der Migrationsforschung Einigkeit darüber, daß die Geschichte der Bundesrepublik wesentlich von großen Migrationsströmen geprägt wurde (Vertriebene; Gastarbeiter), und daß der Zuwanderungsdruck der letzen Jahre (Asylsuchende, ‘Spätaussiedler’, Familiennachzug) die Bundesrepublik – gemessen an der Zuwanderungsrate – in eine Spitzenposition als Einwanderungsland gebracht hat. Der Widerspruch zwischen real existierender Einwanderungssituation und deren Verkennung seitens der offiziellen Regierungspolitik (der SPD/FDP in den 70er und 80er Jahren ebenso wie der CDU/CSU/FDP-Koalition in den 80er und 90er Jahren) spiegelt sich in einer inkonsistenten, von aktuellen Krisenphänomenen und politischen Stimmungen mehr getriebenen als politisch gestaltenden Zuwanderungs- und Integra263 RECHT UND GESETZ tionspolitik ( Einwanderungspolitik). Die Regelung der Zuwanderung erfolgt in einer unübersichtlichen, auf unterschiedliche Migrationsgruppen zugeschnittenen Fülle von Gesetzen (Grundgesetz, Asylverfahrensgesetz, Bundesvertriebenen- und -flüchtlingsgesetz, Ausländergesetz usw.). Die Möglichkeit der Einbürgerung als möglicher Abschluß des Einwanderungsprozesses wird weiterhin nach dem der gegenwärtigen Zuwanderungssituation kaum noch angemessenen Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 bestimmt ( Asyl- und Flüchtlingspolitik BRD). Vor diesem Hintergrund wird seit Jahren eine ebenso kontroverse wie emotionale Debatte um die Notwendigkeit eines Einwanderungsgesetzes und die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts geführt. BefürworterInnen sind parteipolitisch eher bei Bündnis90/Die Grünen, SPD und F.D.P zu verorten, die GegnerInnen bei der CDU und insbesondere der bayerischen CSU. Die BefürworterInnen gehen davon aus, daß es (1) gilt, die Tatsache anzuerkennen, daß die BRD durch die Aussiedler- und Gastarbeiterpolitik der letzten Jahrzehnte bereits ein Einwanderungsland ist, daß (2) aufgrund des globalen Sicherheits-, Freiheits- und Wohlstandsgefälles zwischen West und Ost sowie Nord und Süd der Zuwanderungsdruck auf die BRD anhalten wird, und daß (3) Zuwanderung aus ökonomischen, demographischen und kulturellen Gründen ebenso wünschenswert wie erforderlich ist. Sie erwarten, daß sich mit Hilfe eines Einwanderungsgesetzes die Zuwanderung besser steuern und gegebenenfalls begrenzen läßt, daß es eine größere Rechtssicherheit für potentielle MigrantInnen schafft, und daß es zusammen mit einem Staatsbürgerrecht, das (a) die Einbürge264 rung erleichtert und (b) das bisherige, reine Abstammungsrecht durch Elemente des ‘ius soli’ erweitert, die Integration der MigrantInnen fördert ( Integration/Segregation). Diskussionspapiere und Gesetzentwürfe für ein mögliches Einwanderungsgesetz wurden von Bündnis90/Die Grünen, der SPD und der FDP vorgelegt. Alle Vorschläge orientieren sich dabei deutlich an der Einwanderungsgesetzgebung der klassischen Einwanderungsländer. Gemeinsames Ziel der Entwürfe ist die effektivere Steuerung der bereits stattfindenden Zuwanderung. Dabei betonen SPD und FDP, daß ein Einwanderungsgesetz insbesondere der Begrenzung der Zuwanderung unter Wahrung der „legitimen eigenen Interessen unseres Landes“ (FDP-Entwurf) dient, während der Entwurf von Bündnis90/Die Grünen Einwanderung bewußt fördern will. SPD und FDP sind – mit Rücksicht auf Teile ihrer Wählerklientel – im Gegensatz zu den Grünen peinlich darauf bedacht, im Titel ihrer Entwürfe das Wort Einwanderung zu vermeiden und sprechen deshalb von einem Zuwanderungsgesetz. Zentraler Gedanke des FDP-Entwurfs ist die Festlegung einer Höchstquote, die entsprechend dem oben angeführten kanadischen Modell in unterschiedliche Zuwanderergruppen zu untergliedern wäre (ArbeitsmigrantInnen, Familiennachzug, ‘Spätaussiedlern’, humanitäre Flüchtlinge). Die Zahl der Asylberechtigten wäre dann auf die Zuwanderungsquote anzurechnen. Der SPD-Vorschlag enthält ebenso eine jährlich festzulegende Gesamtquote. Diese Gesamtquote soll in eine „humanitär definierte“ und eine „wirtschaftlich definierte“ Quote aufgeteilt werden. Sowohl der FDP- als auch der SPD-Entwurf beinhalten ähnliche Auswahlkriterien für ArbeitsmigrantInnen (Alter, Ausbildung, Sprachkenntnisse usw.). Dagegen wollen die Grünen die ArbeitsmigrantIn- E I N WA N D E R U N G S G E S ETZ nen lediglich daran messen, ob sie einen Arbeitsplatz nachweisen können. Insbesondere aber fordern Bündnis90/Die Grünen eine Gleichstellung von ‘Aussiedlern’ und anderen einwanderungswilligen AusländerInnen und lehnen darum Quotenregelungen und Aufnahmebeschränkungen für AsylbewerberInnen und andere Flüchtlinge dezidiert ab. Alle Entwürfe sehen vor, daß die von der Regierung festzulegenden Zuwanderungsquoten der Zustimmung von Bundestag und Bundesrat bedürfen, und daß bei Festlegung der Quoten eine zu gründende, sich aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zusammensetzende Einwanderungskommission (und evtl. eine Einwanderungsbeauftragte) anzuhören sind. Einigkeit besteht unter den BefürworterInnen (und hier schließt sich auch ein Teil der CDU an), daß das Staatsbürgerrecht über die bisherige Erweiterung der Anspruchseinbürgerung im Ausländergesetz hinaus (Erwachsene mit mindestens 15 Jahren legalem Aufenthalt; Jugendliche (16 – 23) mit mindestens 8 Jahren (§§ 85 und 86 AuslG)) durch (1) die Einführung von Elementen des ‘ius soli’, (2) eine weitere Verringerung der notwendigen Aufenthaltsdauer und (3) eine großzügigere Zulassung von Doppelstaatsbürgerschaften reformiert werden muß. Die Notwendigkeit eines Einwanderungsgesetzes wird von CDU/CSU bestritten. Sie glauben, den Begriff des Einwanderungslandes trotz enormer Zuwanderung ablehnen zu können. Sie nehmen die ‘deutschstämmigen’ ZuwandererInnen nicht als EinwandererInnen wahr, weil diese per definitionem bereits Volkszugehörige sind. Und sie betrachten den Aufenthalt der ausländischen ZuwanderInnen, seien es Asylsuchende oder ArbeitsmigrantInnen, nach wie vor und wider besseres Wissen als vorübergehend. Generell sehen sie keinen weiteren Zuwanderungsbedarf. Weitere Zuwanderung würde Arbeitsmarkt und Sozialstaat zusätzlich belasten, darüber hinaus die Identität der BRD als deutsche Kulturnation gefährden und vermeidbaren Konfliktstoff in die Gesellschaft hineintragen. Sie halten die bestehenden Gesetze und Regelungen, insbesondere seit der Einschränkung des Grundrechts auf Asyl von 1993 (sichere Herkunftsstaaten, Drittstaaten-Regelung, Flughafenverfahren), für die Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung für ausreichend. Von der Einführung eines Einwanderungsgesetzes befürchten sie im Gegenteil eine Sogwirkung. Die Fronten bleiben auch mit dem Regierungswechsel von 1998 weitgehend unverändert. Mit einem ‘Gesetz zur Erleichterung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit’ strebt die rot-grüne Koalition nun zunächst eine Teilreform des veralteten, der gegenwärtigen Zuwanderungssituation unangemessenen Staatsangehörigkeitsrechts an. Die Einbürgerung von AusländerInnen soll (a) durch die weitere Verkürzung des notwendigen rechtmäßigen Aufenthalts auf 5 (Jugendliche) bzw. 8 Jahre (Erwachsene) und (b) die regelmäßige ‘Hinnahme’ von Doppelstaatsbürgerschaften erleichtert werden. Als einschränkende Bedingungen werden genannt: (a) die Fähigkeit sich in deutscher Sprache zu verständigen, (b) Straffreiheit und Verfassungstreue sowie (c) die Erfordernis, den eigenen Lebensunterhalt ohne den Bezug von Arbeitslosen- bzw. Sozialhilfe zu bestreiten. Die weitreichendste Änderung besteht jedoch darin, daß das bisher ausschließlich geltende Abstammungsrecht beim Erwerb der Staatsbürgerschaft durch Geburt durch Elemente des ‘ius soli’ ergänzt werden soll. Alle im Inland geborenen Kinder mit einem Elternteil, das selbst in der Bundesrepublik Deutschland geboren bzw. vor Vollendung des 14. Lebensjahres zugezogen ist und eine Aufenthaltserlaubnis bzw. 265 RECHT UND GESETZ Aufenthaltsberechtigung besitzt, sollen automatisch deutsche StaatsbürgerInnen werden. Zweifellos ist dieses Reformvorhaben ein wichtiger Beitrag zur Korrektur einer jahrzehntelang verfehlten Ausländerpolitik und stellt einen wichtigen Schritt hin zu einem republikanischen Staatsverständnis dar. Von diesen ersten Reformschritten zu einem einheitlichen Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitsrecht bleibt aber ein weiter Weg. Der Koalitionsvertrag von 1998 klammerte die Thematik eines Einwanderungsgesetzes angesichts der zu erwartenden Widerstände bewußt aus, in bezug auf die Asylgewährung wurde lediglich eine Überprüfung der Dauer der Abschiebehaft und des Flughafenverfahrens im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, eine mögliche Beachtung geschlechtsspezifischer Verfolgungsgründe sowie eine Altfallregelung für bereits lange hier lebende De-facto-Flüchtlinge in Aussicht gestellt. 4. Einwanderungsgesetz und Flüchtlingsproblematik Gegner wie BefürworterInnen verbinden mit der Einführung eines Einwanderungsgesetzes für die BRDeutschland teils unrealistische, teils falsche Erwartungen. Weder wird ein Einwanderungsgesetz einen zusätzlichen Sog auf potentielle MigrantInnen ausüben – Migrationsbewegungen werden vielmehr wesentlich durch Push-Faktoren ausgelöst (Bürgerkrieg, politische Verfolgung, Armut, ökologische Katastrophen) und durch extreme Wohlstandsgefälle gesteuert –, noch wird für sich genommen ein Einwanderungsgesetz zu einer Reduzierung der Zuwanderung führen, eine reibungslose Integration sicherstellen oder gar eine zufriedenstellende Lösung für die vielfältigen Schicksale von Asylsuchenden und Flüchtlingen bieten. „Quotensysteme sollten nicht in der 266 Hoffnung eingeführt werden, sie könnten die Notwendigkeit harter Entscheidungen in Asylfragen vermeiden“ (DAAK; S. 67). Im übrigen trügt auch die Hoffnung, die Probleme auf die Ebene der Europäischen Union abschieben zu können ( Asylpolitik Europa). Dort werden sich dieselben Grundprobleme stellen: ‘Insider’ (EU-BürgerInnen) werden sich gegen ‘Outsider’ (DrittstaaterInnen) abgrenzen. Kriterien für Zulassung bzw. Ausschluß müssen gefunden werden (vgl. Rieger 1998). Dennoch: ein Einwanderungsgesetz ist notwendig, denn realistischerweise kann erwartet werden, daß ein solches Gesetz es erstens ermöglicht, die bisher disparaten, sich widersprechenden Regelungen im Bereich der Zuwanderungs- und Staatsbürgerschaftspolitik klar und konsistent zu gestalten und auf diese Weise die für einen demokratischen Rechtsstaat angemessene Rechtssicherheit und Rechtsklarheit für MigrantInnen zu gewährleisten. Zweitens stellt der Erlaß eines Einwanderungsgesetzes einen nicht zu unterschätzenden Akt symbolischer Politik dar. Von einem Einwanderungsgesetz würde das Signal ausgehen, daß die Bundesrepublik die über Jahrzehnte gewachsene Zuwanderungssituation anerkennt und die zukünftige Zuwanderung wie das Zusammenleben in der entstehenden Einwanderungsgesellschaft aktiv bejahend gestalten will. Welche Bedeutung könnte ein Einwanderungsgesetz für die Flüchtlingspolitik haben? Unter den gegenwärtigen gesetzlichen Bedingungen gibt es für ‘Spätaussiedler’, EU-Angehörige (Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der EU) sowie für Ehegatten und minderjährige Kinder im Rahmen des Familiennachzugs die Möglichkeit, in die BRD einzuwandern, für alle anderen Ausländer aus sog. Drittstaaten gilt – sieht man von den nur für einen kurzfristigen Aufenthalt (Saisonarbeit usw.) erteilten Aufenthaltsbewilligungen E I N WA N D E R U N G S G E S ETZ ab – weiterhin der 1973 erlassene Anwerbestop. Dies hat zur Folge, daß MigrantInnen aus Drittstaaten zwangsläufig ins Asylverfahren drängen, ob sie nun die eng gezogenen Kriterien als politisch Verfolgte erfüllen oder nicht. Eine Tendenz die letztlich dem Institut des Asyls schadet, weil der Öffentlichkeit von interessierter Seite stets nachzuweisen ist, daß gemäß der Definition des politischen Flüchtlings massenhaft ‘Asylmißbrauch’ stattfindet, ohne daß in gleichem Maße deutlich wird, daß i.d.R. auch bei abgelehnten AsylbewerberInnen dringende humanitäre Gründe vorliegen. Hier könnte ein Einwanderungsgesetz ansetzen. Notwendig wäre mit Einführung eines Einwanderungsgesetzes die strikte Trennung zwischen Einwanderung und Asyl. Das Grundrecht auf Asyl, dessen Definition der politisch Verfolgten an die Realität gegenwärtiger Verfolgungstatbestände anzupassen wäre (s. o.), könnte für die politisch Verfolgten reserviert bleiben, während andere Flüchtlingsgruppen, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen, auf die humanitäre Quote des Einwanderungsgesetzes verwiesen werden müßten. Damit würde die BRDeutschland einerseits ihrer historischen, aus der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus von den Verfassungsvätern und -müttern im GG verankerten besonderen Verpflichtung gerecht werden, politisch Verfolgte in jedem Fall aufzunehmen, und erhielte gleichzeitig Spielraum, um flexibel auf spezifische internationale Notlagen zu reagieren. Für den konkreten Fall der Kinderflüchtlinge hieße das, daß diese Gruppe (unabhängig vom Alter) nicht mehr unbedingt ins Asylverfahren gedrängt werden müßte. Da sie schon aufgrund ihres Lebensalters oft den Tatbestand der politischen Verfolgung nicht nachweisen können und sich gerade in ihrem Schicksal die ganze Breite möglicher Fluchtgründe spiegelt (Krieg, politische Unterdrückung, Diskriminierung ethnischer und religiöser Minderheiten, Armut und Perspektivlosigkeit), können sie im gegenwärtigen System oft keine ‘asylrelevanten’ Gründe vorbringen. Sie wären i.d.S. typische Fälle für eine humanitäre Quote innerhalb eines Einwanderungsgesetzes. Diese Quote müßte je nach Lage der weltweiten Fluchtund Migrationsbewegungen flexibel anzupassen und gegebenenfalls zuungunsten der Quoten für ArbeitsmigrantInnen und ‘Aussiedler’ auszudehnen sein. Den ‘minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen’, welche die Bedingungen für eine Aufnahme aus humanitären Gründen (bei uneingeschränkter Anerkennung des Art. 22 der UN-Kinderkonvention) erfüllen, könnte mit einem angemessenen Aufenthaltsstatus eine sichere Integrations- und Lebensperspektive eröffnet werden. Eine langfristige Planung in bezug auf Schule, Ausbildung und Arbeit wäre möglich ( Kinderrechte). Vor zuviel Optimismus sei allerdings gewarnt. Ein nationales Einwanderungsgesetz kann nicht für globale Gerechtigkeit bürgen. In einer ungerechten Welt wird die Zahl derjenigen, die in ein reiches und sicheres Land wie die BRDeutschland fliehen wollen, immer die Zahl übersteigen, die dieses Land bereit, vielleicht auch fähig ist aufzunehmen. Es wird deshalb – und das ist in der Logik von Einwanderungsgesetzen bereits enthalten – notwendig sein, eine politisch festzulegende Auswahl unter den MigrantInnen vorzunehmen. Davor, daß solche Entscheidungen nicht großzügig, sondern ängstlich und engherzig ausfallen, kann auf lange Sicht kein noch so gutes Einwanderungsgesetz schützen. Selbst Grundrechte lassen sich, wie der Asylkompromiß zeigt, einschränken. Ohne eine Bevölkerung, welche die Notwendigkeit von Zuwanderung sieht und ihre moralische Verpflichtung ernst nimmt, wird es weder ein der inter267 RECHT UND GESETZ nationalen Migrationssituation angemessenes Einwanderungsgesetz geben, noch wird die Politik der Ausgrenzung und Restriktionen gegen Flüchtlinge ein Ende haben. Hier gilt es politisch und zivilgesellschaftlich Überzeugungsarbeit zu leisten. Literatur Angenendt, Steffen (Hrsg.): Migration und Flucht. Aufgaben und Strategien für Deutschland, Europa und die internationale Gemeinschaft, Bonn 1997 Brubaker, Rogers: Staats-Bürger. Frankreich und Deutschland im historischen Vergleich, Hamburg 1994 Hawkins, Frida: Critical Years in Immigration. Canada and Australia Compared, Kingston 1989 Rieger, Günter: Einwanderung und Gerechtigkeit. Mitgliedschaftspolitik auf dem Prüfstand amerikanischer Gerechtigkeitstheorien der Gegenwart, Opladen 1998 Stiftung Deutsch-Amerikanisches Konzil (DAAK) (Hrsg.): Deutsche und Amerikanische Migrationsund Flüchtlingspolitik. Empfehlungen eines gemeinsamen deutsch-amerikanischen Projekts der American Academy of Arts and Sciences und des DeutschAmerikanischen Konzils, Bonn/Washington 1997 Vogelsang, Roland: Einwanderung in ein Einwanderungsland. Die kanadische Erfahrung, in: Die Erde, Bd. 123, 1994, S. 197-212 Günter Rieger 268 A S Y LV E R F A H R E N 5. Aufnahmebedingungen Asylverfahren Die Durchführung eines Asylverfahrens ist zwingende Voraussetzung, um in der Bundesrepublik Deutschland den Status als asylberechtigte Person im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG und/oder als Flüchtling im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG zu erlangen. In der Regel wird vom zuständigen Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge auch die Frage geprüft, ob einer asylsuchenden Person Abschiebungsschutz gemäß § 53 AuslG zu gewähren ist. Die Einzelheiten des behördlichen und gerichtlichen Asylverfahrens werden durch spezielle Vorschriften insbesondere des Asylverfahrens- und Ausländergesetzes geregelt, die sich teils erheblich von den Bestimmungen für sogenannte klassische Verwaltungs(gerichts)verfahren unterscheiden. Dies gilt u.a. für die Frage der Handlungsfähigkeit Minderjähriger, die strengeren Mitwirkungspflichten, die besonderen Vorschriften über eine erleichterte Zustellung von behördlichen und gerichtlichen Entscheidungen an Asylsuchende, die Entscheidungsvarianten des Bundesamtes sowie die Klage-, Antrags- und Rechtsmittelfristen im asylrechtlichen Verwaltungsgerichtsprozeß. 1. Antragserfordernis Ein Asylverfahren wird nur auf Antrag eingeleitet (vgl. §§ 1 Abs. 1, 13 f AsylVfG). Ein Asylantrag liegt vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten Willen der asylsuchenden Person entnehmen läßt, daß diese in der BRDeutschland Schutz vor politischer Verfolgung sucht oder Schutz vor Abschie- bung oder einer sonstigen Rückführung in einen Staat begehrt, in dem ihr die in § 51 Abs. 1 AuslG bezeichneten Gefahren drohen. Ein Asylantrag ist bei der Außenstelle des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ( Bundesbehörden) zu stellen, die der für die Aufnahme der Person zuständigen Aufnahmeeinrichtung zugeordnet ist (§ 14 Abs. 1 AsylVfG). Wird bei einer Grenz-, Ausländer- oder Polizeibehörde um Asyl nachgesucht, ist die Person unverzüglich an die zuständige Aufnahmeeinrichtung zur Meldung und Antragstellung weiterzuleiten (§ 18 Abs. 1, § 19 Abs. 1 AsylVfG). Im Falle einer unerlaubten Einreise aus einem sog. ‚sicheren Drittstaat’ i. S. d. § 26 a AsylVfG (das sind sämtliche Anrainerstaaten der BRD) kann die betroffene Person in den Drittstaat zurückgeschoben werden und eine Weiterleitung an eine Aufnahmeeinrichtung unterbleiben (§ 19 Abs. 3 S. 1 AsylVfG). Wird nach der Rücknahme oder der unanfechtbaren Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut ein Asylantrag gestellt, so handelt es sich um einen Folgeantrag; dieser ist i. d. R. persönlich bei der Außenstelle des Bundesamtes zu stellen, die das vorangegangene Verfahren bearbeitet hatte (§ 71 Abs. 1 u. 2 AsylVfG). 2. Handlungsfähigkeit Ein Asylantrag kann nur dann rechtswirksam gestellt werden, wenn die asylsuchende Person handlungs-, d. h. verfahrensfähig ist. Fähig zur Vornahme von 269 AUFNAHMEBEDINGUNGEN Verfahrenshandlungen nach dem Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) sind nicht nur Volljährige, sondern bereits Minderjährige, die das 16. Lebensjahr vollendet haben (§ 12 Abs. 1 AsylVfG). Nicht handlungfähig sind demgegenüber jene Personen, die geschäftsunfähig oder als Volljährige unter Betreuung zu stellen sind (§ 12 Abs. 2 AsylVfG). Ist ungeklärt, ob eine asylsuchende Person das 16. Lebensjahr bereits vollendet hat, ist im Zweifel von einer fehlenden Handlungsfähigkeit auszugehen ( Alter). Im Asylverfahren ist grundsätzlich jeder Elternteil alleine zur Vertretung eines Kindes unter 16 Jahren befugt, wenn sich der andere Elternteil nicht im Bundesgebiet aufhält oder sein Aufenthaltsort im Bundesgebiet unbekannt ist (§ 12 Abs. 3 AsylVfG). Reist ein nicht handlungsfähiger minderjähriger Flüchtling unbegleitet, also ohne einen vertretungsberechtigten Elternteil ins Bundesgebiet ein, bedarf es der Bestellung eines Pflegers durch das Vormundschaftsgericht, um wirksam einen Asylantrag stellen zu können ( Vormundschaft). An minderjährige, im obigen Sinne aber handlungsfähige AsylbewerberInnen können u. a. Bescheide des Bundesamtes wirksam zugestellt und damit die teils sehr kurzen gerichtlichen Klage- und Antragsfristen in Gang gesetzt werden (vgl. Punkt 8.). 3. Mitwirkungspflichten Gemäß § 15 Abs. 1 S. 1 AsylVfG ist eine Asyl beantragende Person verpflichtet, bei der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken. Dies gilt auch dann, wenn sie durch einen Bevollmächtigten vertreten wird (§ 15 Abs. 1 S. 2 AsylVfG). Einzelne Mitwirkungspflichten ergeben sich aus § 15 Abs. 2 u. 3 AsylVfG, u.a. die Verpflichtung, über alle für die Flucht und das Beantragen von Asyl erheblichen Umstände Auskunft zu erteilen, Reisedokumente und sonstige Unterlagen zu überlassen und ei270 ne erkennungsdienstliche Behandlung zu dulden. Die Pflicht zur Mitwirkung besteht auch dann, wenn ein Asylantrag zurückgenommen wird (§ 15 Abs. 5 AsylVfG). Besondere Bedeutung erlangen die Mitwirkungspflichten im Zusammenhang mit der Anhörung der asylsuchenden Person durch das Bundesamt (vgl. Punkt 5.). 4. Zustellungsvorschriften Von zentraler Bedeutung sind die Zustellungsvorschriften des § 10 AsylVfG. Nach Abs. 1 hat eine Asyl beantragende Person während der Dauer des Asylverfahrens vorzusorgen, daß sie Mitteilungen des Bundesamtes, der zuständigen Ausländerbehörde ( Kommunale Behörden) und der angerufenen Gerichte stets erreichen können. Insbesondere ist jeder Wechsel der Anschrift den genannten Stellen unverzüglich mitzuteilen. Dies ist deswegen von besonderer Bedeutung, weil die Person Zustellungen und formlose Mitteilungen unter der letzten Anschrift, die der jeweiligen Stelle aufgrund des Asylantrags oder einer sonstigen von ihr gemachten Mitteilung bekannt ist, gegen sich gelten lassen muß. Dasselbe gilt, wenn die letzte bekannte Anschrift, unter der die antragstellende Person wohnt oder zu wohnen verpflichtet ist, durch eine öffentliche Stelle mitgeteilt worden ist (§ 10 Abs. 2 S. 1 u. 2 AsylVfG). All diese Pflichten bestehen uneingeschränkt auch für ‚unbegleitete minderjährige’, aber im Asylverfahren handlungsfähige (vgl. Punkt 2) Flüchtlinge, so daß auf die Beachtung der hier aufgezeigten Formalitäten besonderer Wert zu legen ist. Besteht eine Vertretung durch einen Bevollmächtigten und liegt dem Bundesamt eine entsprechende schriftliche Vollmacht vor, so ist der Bescheid dem Bevollmächtigten zuzustellen (§ 8 Abs. 1 S. 2 Verwaltungszustellungsgesetz), andernfalls kann die Behörde auswählen, ob sie der Asyl beantragenden A S Y LV E R F A H R E N Person selbst oder dem oder der Bevollmächtigten zustellen läßt. Ist die um Asyl nachsuchende Person in einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht oder verpflichtet, dort zu wohnen, so hat diese Einrichtung Zustellungen und formlose Mitteilungen an den oder die AsylbewerberIn nach Maßgabe des § 10 Abs. 4 S. 2 u. 3 AsylVfG vorzunehmen (§ 10 Abs. 4 S. 1 AsylVfG). Sie gelten mit der Aushändigung an die betroffene handlungsfähige Person, spätestens aber am dritten Tag nach der Übergabe an die Aufnahmeeinrichtung als bewirkt (§ 10 Abs. 4 S. 4 AsylVfG). Beim Beantragen von Asyl ist schriftlich und gegen Empfangsbestätigung auf diese besonderen Zustellungsvorschriften hinzuweisen (§ 10 Abs. 5 AsylVfG). Dies erfolgt regelmäßig schriftlich und erforderlichenfalls auch mündlich durch einen/eine DolmetscherIn in der jeweiligen Landessprache des/der Asylsuchenden, wobei sich auch ‚minderjährige unbegleitete’, aber im Asylverfahren handlungsfähige Flüchtlinge im Zweifelsfall diese Belehrung entgegenhalten lassen müssen. 5. Anhörung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge Gemäß § 24 Abs. 1 AsylVfG klärt das Bundesamt den Sachverhalt auf und erhebt die erforderlichen Beweise. Hierbei hat es i.d.R. den/die AusländerIn persönlich anzuhören. Dies gilt grundsätzlich auch bei einem Asylantrag eines minderjährigen und aufgrund seines Alters auskunftsfähigen Flüchtlings, sofern nicht ein Elternteil oder eine zur Betreuung bestellte Person zu den Einzelheiten des Asylbegehrens befragt wird. Über die Anhörung ist eine Niederschrift zu fertigen, die die wesentlichen Angaben zu den Asylgründen enthält (§ 25 Abs. 7 AsylVfG). In der Anhörung sind die Tatsachen vorzutragen, die die geltend gemachte Furcht vor politischer Verfolgung begründen. Darüber hinaus sind die erforderlichen Angaben u. a. über auswärtige Wohnsitze, den Reiseweg, den Aufenthalt in anderen Staaten und ggf. über die Durchführung eines Asylverfahrens in einem anderen Staat zu machen (§ 25 Abs. 1 AsylVfG, Schengen). Neben den Asylgründen im engeren Sinne sind auch alle sonstigen Tatsachen und Umstände anzugeben, die generell einer Abschiebung der asylsuchenden Person oder deren Abschiebung in einen bestimmten Staat entgegenstehen (§ 25 Abs. 2 AsylVfG). Besondere Bedeutung kommt der Präklusionsregelung des § 25 Abs. 3 S. 1 AsylVfG zu, auf die der/die AsylbewerberIn ausdrücklich hinzuweisen und über deren Bedeutung zu belehren ist (§ 25 Abs. 3 S. 2 AsylVfG). Danach kann sogenanntes späteres Vorbringen unberücksichtigt bleiben, wenn andernfalls die Entscheidung des Bundesamtes über den Asylantrag verzögert würde. Erfaßt werden von dieser Ausschlußregelung allerdings nicht solche Tatsachen und Umstände, die erst nach der Antragstellung bzw. Anhörung eingetreten bzw. bekannt geworden sind. Zudem begegnet die Anwendung jener Präklusionsregelung gegenüber Kinderflüchtlingen verfassungsrechtlichen Bedenken selbst dann, wenn diese bereits asylverfahrensfähig (vgl. Punkt 2) sind. Verspätetes Vorbringen durch VormünderInnen oder sonstige zur Betreuung bestellte Personen kann sich jedoch, sofern eine entsprechende Belehrung erfolgt ist, zum Nachteil eines asylsuchenden Kinderflüchtlings auswirken, indem dieses nach Maßgabe des § 25 Abs. 3 S. 1 AsylVfG unter Umständen nicht mehr berücksichtigt zu werden braucht. 6. Sonderfall Flughafenverfahren Die Einzelheiten des sog. Flughafenverfahrens sind in § 18 a AsylVfG geregelt. 271 AUFNAHMEBEDINGUNGEN Will ein/eine AusländerIn über einen Flughafen in die Bundesrepublik Deutschland einreisen und sucht bei der Grenzbehörde am Flughafen um Asyl nach, so ist, vorbehaltlich entsprechender Unterkunftskapazität, das Asylverfahren vor der Einreise durchzuführen, sofern der oder die AsylbewerberIn aus einem sog. ‘sicheren Herkunftsstaat’ i.S.d. § 28 a AsylVfG stammt – dies sind z. Z. Bulgarien, Ghana, Polen, Rumänien, Senegal, Slowakische Republik, Tschechische Republik, Ungarn – oder er/sie sich nicht mit einem gültigen Paß oder Paßersatz ausweisen kann (§ 18 a Abs. 1 S. 1 u. 2 AsylVfG). Der asylsuchenden Person ist unverzüglich Gelegenheit zu geben, bei der Außenstelle des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, die der Grenzkontrollstelle des Flughafens zugeordnet ist, ihren Asylantrag zu stellen (§ 18 a Abs. 1 S. 1 AsylVfG). Das Bundesamt hat unverzüglich eine Anhörung durchzuführen (§ 18 a Abs. 1 S. 4 AsylVfG). Vermag das Bundesamt innerhalb von zwei Tagen, nachdem der Asylantrag bei ihm gestellt worden ist, nicht zu entscheiden, ist die Einreise zu gestatten (§ 18 a Abs. 6 Nr. 2 AsylVfG). Lehnt hingegen das Bundesamt innerhalb dieser Zweitagesfrist den Asylantrag als offensichtlich unbegründet ab, ist der betroffenen Person seitens der Grenzbehörde von Gesetzes wegen zwingend die Einreise zu verweigern (§ 18 a Abs. 3 S. 1 AsylVfG). Als Rechtsschutzmöglichkeit ist in diesen Fällen ein bei dem zuständigen Verwaltungsgericht gegen die Grenzbehörde gerichteter Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gegeben mit dem Ziel, vorläufig die Einreise gestattet zu bekommen. Im Rahmen dieses Verfahrens prüft das Verwaltungsgericht summarisch, ob das Bundesamt den Asylantrag zu recht als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat. Auch wenn es den Asylantrag lediglich als (schlicht) unbegründet erachtet, ist daher die Grenz272 behörde zur Gestattung der Einreise zu verpflichten ( Flughafenverfahren). Vom Flughafenverfahren sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge grundsätzlich nicht ausgeschlossen. Ist asylrechtliche Verfahrensfähigkeit nicht gegeben (vgl. Punkt 2), muß die Grenzbehörde zunächst bei dem zuständigen Vormundschaftsgericht beantragen, einen/eine VormünderIn oder BetreuerIn zu bestellen. Dieser ist an dem gesamten Verfahren als gesetzliche/r VertreterIn zu beteiligen. Ihm/Ihr sind auch die zu treffenden Entscheidungen zuzustellen. 7. Entscheidung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge Das Asylverfahrensgesetz sieht mehrere Entscheidungsvarianten vor: a) Gibt das Bundesamt einem Asylantrag ganz oder teilweise statt, ist eine Feststellung von Abschiebungshindernissen i.S.d. § 53 AuslG nicht zwingend vorgeschrieben (§ 31 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 AsylVfG). b) Wird ein/eine AsylbewerberIn wegen Familienasyls i.S.d. § 26 AsylVfG als asylberechtigt anerkannt, soll von einer Feststellung, daß der/die Anerkannte zugleich politisch verfolgt i.S.d. § 51 Abs. 1 AuslG ist, sowie von vorliegenden Abschiebungshindernissen i.S.d. § 53 AuslG abgesehen werden (§ 31 Abs. 5 AsylVfG). c) Lehnt das Bundesamt einen Asylantrag ganz oder teilweise als (schlicht) unbegründet ab, so ist zugleich festzustellen, ob Abschiebungshindernisse i.S.d. § 53 AuslG vorliegen (§ 31 Abs. 3 S. 1 AsylVfG). d) Lehnt das Bundesamt einen Asylantrag als unbeachtlich ab, z. B. wegen offensichtlich anderweitigen Verfolgungsschutzes in einem ‘sonstigen Drittstaat’, also ein Staat, der nicht zu den soge- A S Y LV E R F A H R E N nannten ‘sicheren Drittstaaten’ i.S.d. Art. 16 a Abs. 2 GG bzw. § 26 a AsylVfG zählt, ist gleichfalls über die Frage zu befinden, ob Abschiebungshindernisse i.S.d. § 53 AuslG vorliegen. e) Lehnt das Bundesamt einen Asylantrag als offensichtlich unbegründet i.S.d. § 30 AsylVfG ab, z. B. Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet „nur aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer allgemeinen Notsituation oder einer kriegerischen Auseinandersetzung zu entgehen“; grob widersprüchliches oder nicht substantiiertes Asylvorbringen; Täuschung über Identität oder Staatsangehörigkeit; weiteres Asylbegehren unter anderer Identität; Asylantrag wegen drohender aufenthaltsbeendender Maßnahmen; gröbliche Verletzung von asylverfahrensrechtlichen Mitwirkungspflichten, ist gleichfalls über das Vorliegen von Abschiebungshindernissen i.S.d. § 53 AuslG zu entscheiden. f) Wird das Asylverfahren wegen ausdrücklicher oder fiktiver Rücknahme eines Asylantrags eingestellt, ist schließlich ebenfalls zu entscheiden, ob Abschiebungshindernisse i.S.d. § 53 AuslG gegeben sind. Lehnt das Bundesamt einen Asylantrag als unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet ab, beträgt die der abgelehnten Person zu setzende Ausreisefrist eine Woche (§ 36 Abs. 1 AsylVfG). Dasselbe gilt bei Rücknahme eines Asylantrags vor der Entscheidung des Bundesamtes (§38 Abs. 2 AsylVfG). In den sonstigen Fällen, in denen ein Asylantrag abgelehnt wird, beträgt die Ausreisefrist einen Monat; wird Klage erhoben, endet sie einen Monat nach unanfechtbarem Abschluß des Asylverfahrens (§ 38 Abs. 1 AsylVfG). Für den Fall der nicht fristgerechten freiwilligen Ausreise wird die zwangsweise Abschiebung angedroht (§34 AsylVfG, Abschiebung). Das Bundesamt prüft im Rahmen sei- ner Zuständigkeit, ob der asylsuchenden Person im Falle einer Rückkehr im sogenannten Zielstaat, i.d.R. das Herkunftsland, politische Verfolgung oder eine sonstige menschenrechtswidrige Behandlung, die die Voraussetzungen für die Annahme eines Abschiebungshindernisses i.S.d. § 53 AuslG erfüllt, droht. Verneint dies das Bundesamt, so können gleichwohl inlandsbezogene Abschiebungshindernisse gegeben sein (z. B. enge familiäre Bindungen im Bundesgebiet oder die Aufnahme in eine Pflegefamilie, gesundheitliche Gründe, medizinische Behandlungsbedürftigkeit etc.), die es der Ausländerbehörde verbieten, aufenthaltsbeendende Maßnahmen durchzuführen. 8. Rechtsschutz Gegen ablehnende Entscheidungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ist Klage zum Verwaltungsgericht möglich. Diese ist, sofern ein Asylantrag als (schlicht) unbegründet abgelehnt worden ist, innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung der Entscheidung (vgl. Punkt 4) zu erheben. Sie hat aufschiebende Wirkung, so daß die grundsätzlich mit der Ablehnung verfügte Pflicht, die BRDeutschland zu verlassen, erst mit dem unanfechtbaren negativen Abschluß des Asylgerichtsverfahrens eintritt. Ist hingegen ein Asylantrag als unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet abgelehnt worden (vgl. Punkt 7), beträgt die Klagefrist eine Woche. Da zugleich in diesen Fällen – anders als bei einer Ablehnung als (schlicht) unbegründet – die abgelehnte Person von Gesetzes wegen zur sofortigen Ausreise verpflichtet ist, bedarf es eines gleichfalls innerhalb einer Woche an das Verwaltungsgericht zu richtenden Antrages, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die der Ablehnungsentscheidung des Bundesamtes beigefügten Abschiebungsandrohung anzu273 AUFNAHMEBEDINGUNGEN ordnen, um im Falle der Stattgabe jenes Antrags vorläufig die auferlegte Ausreisepflicht nicht beachten zu müssen (§ 36 Abs. 3 S. 1 AsylVfG). Der/die KlägerIn hat die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel binnen einer Frist von einem Monat nach Zustellung der Entscheidung – nicht nach Klageerhebung – anzugeben (§ 74 Abs. 2 S. 1 AsylVfG). Im Falle nicht fristgerechter Klagebegründung kann das Gericht verspätet eingereichte Erklärungen und Beweismittel gemäß § 74 Abs. 2 S. 2 AsylVfG zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden, sofern die klagende Person auf diese Ausschlußwirkung (vgl. Punkt 5.) und die Folgen einer Fristversäumnis hingewiesen worden ist (§ 74 Abs.2 S. 3 AsylVfG). Neue Tatsachen und Beweismittel können auch nach Ablauf der Begründungsfrist in das gerichtliche Verfahren eingeführt werden (§ 74 Abs. 2 S. 4 AsylVfG). Maßgeblicher Zeitpunkt für die gerichtliche Beurteilung, ob eine Asylklage begründet, teilweise begründet oder unbegründet ist, ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder, sofern eine mündliche Verhandlung nicht stattfindet, zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 74 Abs. 1 S. 1 AsylVfG). Dies kann zum einen zur Folge haben, daß z. B. eine positive Anerkennungsentscheidung des Bundesamtes wegen einer nach Klageerhebung eingetretenen Änderung der politischen Lage im Herkunftsland aufgehoben wird. Zum anderen vermag eine solche Änderung aber auch dazu zu führen, daß ein den Asylantrag ablehnender Bescheid vom Verwaltungsgericht für rechtswidrig erklärt und das Bundesamt verpflichtet wird, den/die KlägerIn als asylberechtigt i..S.d. Art. 16 a Abs. 1 GG anzuerkennen und/ oder festzustellen, daß die Voraussetzungen für die Annahme eines Abschiebungsverbots i.S.d. § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen und/oder fest274 zustellen, daß Abschiebungshindernisse i.S.d. § 53 AuslG vorliegen. Gegen ein erstinstanzliches Urteil eines Verwaltungsgerichts in einem Asylstreitverfahren steht als Rechtsmittel, sofern die Klage nicht als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist, ein Antrag auf Zulassung der Berufung zur Verfügung (§ 78 Abs. 1 AsylVfG). Dieser ist innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Urteils bei dem Verwaltungsgericht zu stellen, das den Antrag an das zuständige Oberverwaltungsgericht weiterleitet (§ 78 Abs. 4 u. 5 AsylVfG). Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder das Urteil von einer Entscheidung des angerufenen Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht oder an einem schwerwiegenden Verfahrensmangel leidet (§ 78 Abs. 3 AsylVfG). Erstinstanzliche Beschlüsse eines Verwaltungsgerichts (z. B. in einem Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz gegen drohende aufenthaltsbeendende Maßnahmen nach Ablehnen eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet) sind unanfechtbar (§ 80 AsylVfG). 9. Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten Gemäß § 6 Abs. 2 AsylVfG kann sich der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten sowohl am Verfahren vor dem Bundesamt als auch an Klagen vor den Verwaltungsgerichten beteiligen. Er kann selbst gegen Entscheidungen des Bundesamtes klagen oder einen Antrag auf Zulassung eines Rechtsmittels gegen ein verwaltungsgerichtliches Urteil gemäß § 78 AsylVfG stellen. Dem Vernehmen nach hat der Bundesbeauftragte bislang lediglich Klage erhoben oder die Zulassung eines A LT E R S F E S T S T E L L U N G Rechtsmittels beantragt, sofern eine für eine asylsuchende Person positive Entscheidung vorangegangen war ( Bundesbehörden). Anmerkung 1 Beschluß vom 10.1.1994 – 20 W 477/93, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Beilage Neueste Rechtsprechung zum Asylrecht 1994, S. 24 10. Abschiebungshaft § 57 AuslG enthält kein Verbot, ausreisepflichtige minderjährige AusländerInnen in Haft zu nehmen, um eine beabsichtigte Ausweisung und/oder Abschiebung vorzubereiten bzw. zu sichern. Hiervon geht auch die einschlägige Rechtsprechung zur Abschiebungshaft aus. Diese betont jedoch zugleich, daß die Ausländerbehörden aufenthaltsbeendende Maßnahmen, die gegenüber in Abschiebungshaft genommenen minderjährigen AusländerInnen angeordnet wurden, besonders schnell zu vollziehen haben, um die Haftdauer auf ein mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch verträgliches Maß zu reduzieren. Das OLG Frankfurt/ Main hat es abgelehnt, die gegenüber einem 16-jährigen ausreisepflichtigen Ausländer angeordnete Abschiebungshaft über drei Monate hinaus zu verlängern, da sich der Betroffene weder strafbar gemacht noch seine Abschiebung durch unterlassende Mitwirkung, etwa beim Beschaffen von Reisedokumenten, verhindert hatte.1 Die BRDeutschland hat sich mit Ratifizierung der UN-Kinderrechts-Konvention ( Kinderflüchtlinge) verpflichtet, sicherzustellen, daß eine Freiheitsentziehung – dies ist die Anordnung von Abschiebungshaft – bei einem Kind „nur als letztes Mittel und für die kürzeste angemessene“ Zeit angewendet werden darf und die Unterbringung eines inhaftierten Kindes grundsätzlich getrennt von Erwachsenen zu erfolgen hat (Art. 37). Literatur Göbel-Zimmermann, R. , Asyl- und Flüchtlingsrecht, 1999, Verlag C.H. Beck, München Huber, B. (Hrsg.), Handbuch des Ausländer- und Asylrechts, Stand: 11. Ergänzungslieferung, München 1999 Bertold Huber Altersfeststellung Unterbringung und Handlungsfähigkeit von jugendlichen Flüchtlingen hängen u. a. von deren Alter ab, wichtigste Grenze ist die Vollendung des 16. Lebensjahrs. Wenn keine unbestrittenen Identitätspapiere vorhanden sind, wird bei unbegleiteten Minderjährigen oft eine behördliche Altersbestimmung durchgeführt und damit ggf. die Altersangabe der Betroffenen korrigiert. Dazu wird heute meist die Inaugenscheinnahme, vereinzelt auch die Handwurzelund die Kieferuntersuchung angewandt. Das Ergebnis wird als fiktives Geburtsdatum dem Verfahren zugrunde gelegt; gegen eine falsche Festsetzung muß der junge Flüchtling sich gegebenenfalls gerichtlich wehren. 1. Allgemeines In vielen Verfahren, auch im Asylverfahren, sind rechtliche und andere Entscheidungen vom Alter der Betroffenen abhängig. Kindern und Jugendlichen wird im nationalen und im internationalen Recht eine besondere Schutzbedürftigkeit zugesprochen. Mit zunehmendem Alter errei275 AUFNAHMEBEDINGUNGEN chen junge Menschen größere Handlungsfähigkeit und Verantwortung. Bei jungen Flüchtlingen gehören je nach den einzelnen Umständen zu den altersabhängigen Entscheidungen u. a.: – Die Handlungsfähigkeit im Asylverfahren mit 16 Jahren (§ 12 AsylVfG), – die Handlungsfähigkeit nach dem Ausländergesetz mit 16 Jahren (§ 68 AuslG), – die Aufenthaltserlaubnis für Familienangehörige (§§ 17, 20 AuslG) – ein Ausweisungsschutz für Minderjährige (§§ 47 [3], 48 [1] AuslG), – allgemein die Fähigkeit zu verschiedenen Rechtsgeschäften (§ 104 – 113 BGB), – die Schuldfähigkeit (§ 19 StGB), die Anwendung des Jugendstrafrechts (§ 1 JGG), – die Zahlung und die Höhe von Taschengeld (§ 3 [1] AsylbLG) oder von sozialhilfeähnlichen Leistungen nach § 3 (2) AsylbLG oder evtl. von Kindergeld, – bei unbegleiteten Kindern und Jugendlichen die Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung (§ 47 [1] AsylVfG) oder einer Jugendhilfeeinrichtung (§ 42 ff SGB VIII [KJHG]), – unter Umständen die Entscheidung über eine mögliche Abschiebung (unterschiedliche Handhabungen, ohne sichere Rechtsgrundlage, evtl. § 53 [6] S. 1 AuslG). Internationale Abkommen, die Aussagen über bestimmte Altersgruppen machen, sind u. a. die UN-Konvention über die Rechte des Kindes (nach Art. 1 gültig für Menschen unter 18 Jahren) und das Haager Minderjährigenschutzabkommen (nach Art. 12 normalerweise für alle Menschen unter 18 Jahren gültig). Die Bundesrepublik Deutschland ist diesen Abkommen beigetreten; allerdings hat die Bundesregierung 1992 durch eine (juristisch fragwürdige) Vorbehaltserklärung u. a. ausgeschlossen, daß die UN-Kinder276 konvention als innerstaatliches Recht für Deutschland angewandt werden kann, und sie hat sich vorbehalten, Unterschiede zwischen inländischen und ausländischen Kindern zu machen ( Gesetzliche Grundlagen). Für Kinderflüchtlinge ist die Vollendung des 16. Lebensjahrs nach dem derzeit in Deutschland zumeist üblichen Verfahren die in mehrfacher Hinsicht entscheidende Altersgrenze: Jüngere werden nach ihrer Meldung bei den Behörden in Obhut des zuständigen Jugendamtes genommen, bekommen einen Vormund, der u.a. für sie den Asylantrag stellt, sie sind in kindgerechten Einrichtungen unterzubringen und entsprechend zu betreuen und zu beraten; in landes- oder bundesweite Verteilungen werden sie derzeit nicht einbezogen. Jugendliche ab dem vollendeten 16. Lebensjahr werden wie Erwachsene in Aufnahmeeinrichtungen oder anderen Sammelunterkünften untergebracht und stellen selbst ihren Asylantrag, besondere Beratung oder Betreuung erhalten sie i.d.R. nicht. Vielen Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren wird damit der Schutz vorenthalten, der ihnen nach KJHG und internationalen Abkommen zustehen sollte ( Kinderflüchtlinge, Kinderrechte). Die frühere Bundesregierung sah einen Mißbrauch durch falsche Altersangaben junger Flüchtlinge, die sich dadurch einen „Wunschaufenthalt“ und andere „erhebliche Vorteile“ erstreben und „Kosten von bis zu 7.000 DM pro Person und Monat“ verursachen würden; „Bund und Länder haben sich daher bereits im Jahre 1993 ... darauf verständigt, daß bei offenkundigen Zweifeln an der Richtigkeit einer Altersangabe von unter 16 Jahren der Ausländer die Beweislast dafür trägt, daß er tatsächlich unter 16 Jahre alt ist. Ihm wird anheimgestellt, die Richtigkeit seiner Angabe durch geeignete Dokumente oder ggf. durch eine medizinische Untersu- A LT E R S F E S T S T E L L U N G chung nachzuweisen. Bis zum Nachweis ... wird der weiteren Bearbeitung seines Asylersuchens ein fiktives Geburtsdatum zugrunde gelegt, wonach er mindestens 16 Jahre alt ist“ (alles zit. aus: Deutscher Bundestag 1995 b, S. 2.) Klagen über mißbräuchliche Altersangaben werden übrigens auch von anderen Regierungen westlicher Länder geäußert (IGC 1997). Sofern also die Behörden die im Verfahren vorgesehenen Entscheidungen nicht ohne weiteres aufgrund des Geburtsdatums in vorhandenen Identitätspapieren treffen können – weil Papiere nicht vorhanden sind oder von den Behörden nicht anerkannt werden –, dann wird eine Altersbestimmung angeordnet. Sie wird im wesentlichen zur Klärung der Verteilung und Unterbringung sowie der Handlungsfähigkeit im Asylverfahren eingesetzt. Objekte der Altersbestimmungen sind in aller Regel unbegleitete minderjährige Flüchtlinge; daß minderjährige Kinder von Asylsuchenden davon betroffen wären, ist mir nicht bekannt, mag aber in Einzelfällen vorkommen. Minderjährige Kinder von Asylsuchenden werden nach § 46 (3), § 47 (2) und § 50 (4) Asyl VfG auch mit den Eltern verteilt und untergebracht. Ein anderes Gebiet für Altersfeststellungen sind Strafverfahren; hier besteht eine Grundlage in § 81 StPO. In letzter Zeit wird mancherorts beobachtet, daß im Zusammenhang mit einer tatsächlichen oder unterstellten Straffälligkeit Altersbestimmungen angeordnet werden, deren Ergebnisse dann auch im Asylverfahren weiter verwendet werden. Zur Schätzung des tatsächlichen Alters wird im Asylverfahren derzeit hauptsächlich die ‘Inaugenscheinnahme’ angewandt; daneben ist auch die ‘Handwurzeluntersuchung’ zu nennen. 2. Handwurzeluntersuchung (HWU) Bei dieser bis 1995 verbreiteten Methode wird eine Röntgenaufnahme des linken Handgelenks gemacht; aus dem Verknöcherungszustand der Handwurzelknochen wird aufgrund von Vergleichsuntersuchungen auf das tatsächliche, aktuelle Alter des bzw. der Betroffenen geschlossen. Zum genauen Verfahren muß hier auf die medizinische Literatur verwiesen werden (Untersuchungen u. a. von Tanner/ Whitehouse, Bailey/Pinneau und Greulich/ Pyle). Der Arzt oder die Ärztin gibt ein mittleres Alter mit einer möglichen Abweichung nach oben oder unten an (z. B. 13,0 ± 1,0 Jahre, also: 12 bis 14 Jahre). Das Verfahren ist eine Umkehrung des medizinischen Zwecks der HWU, die bei bekanntem Alter Fehler in der Skelettentwicklung eines Kindes aufdecken soll. Die Auswertung der Röntgenaufnahmen kann zudem nicht für alle Populationen gleichermaßen korrekte Ergebnisse liefern. Die grundlegenden Untersuchungsreihen wurden an US-amerikanischen und britischen Mittelstandskindern gemacht; von vergleichsweise detaillierten Untersuchungen an allen anderen ethnischen Gruppen ist die Wissenschaft weit entfernt. Es bleibt auch offen, ob Mangeloder Fehlernährung, radioaktive oder chemische Grundbelastungen, die bei Hunger-, Kriegs- und Krisengebieten u. U. anzunehmen sind, einen zusätzlichen Einfluß auf die Skelettentwicklung haben. Das Verfahren ist auch relativ ungenau. Das sich aus der Röntgenaufnahme ergebende Alter ist immer nur ein Mittelwert mit einer möglichen Abweichung nach oben oder unten. Die von den ÄrztInnen genannten Abweichungen stellen in der Regel die Standardabweichung dar; sie umfaßt statistisch aber nur 68 % der beobachtbaren Fälle, d. h. die o. g. Angabe, ein Kind sei 12 bis 14 Jahre alt, trifft nur mit einer Wahrscheinlichkeit von rund zwei Dritteln zu. Ein Drittel der so ein277 AUFNAHMEBEDINGUNGEN gestuften Kinder wird in Wahrheit jünger als 12 oder älter als 14 Jahre sein. Will der Arzt bzw. die Ärztin wenigstens eine zu 95 % zutreffende Aussage machen, so muß er bzw. sie eine etwa doppelt so große Abweichung angeben, z. B. 13,0 ± 2,0 Jahre (Alter also zwischen 11 und 15 Jahren). Trotzdem würde noch eins von 20 Kindern falsch eingestuft sein. Diese Ungenauigkeit teilt das Verfahren im übrigen mit anderen Verfahren der Altersbestimmung. „Auch die gründlichsten medizinischen Untersuchungen oder Tests zur Ermittlung des Alters eines jungen Menschen haben einen Fehlerspielraum von mindestens zwei Jahren nach oben und unten“ (IGC 1997, S. 356). Problematisch ist die oft beobachtete Praxis der Behörden, die obere Grenze als fiktives Alter festzusetzen und damit das Untersuchungsergebnis in der Regel zu Ungunsten des Kindes auszulegen. 3. Inaugenscheinnahme (IAN) Diese derzeit am meisten verbreitete Methode der Altersschätzung besteht grundsätzlich darin, den jungen Menschen in Augenschein zu nehmen und dann ein mögliches Alter zu schätzen. Damit endet aber bereits die Gemeinsamkeit der heute angewandten Verfahren. Weit auseinander gehen die Möglichkeiten, wer wie in Augenschein nimmt und wie das Ergebnis festgestellt wird. Der medizinischen Literatur nach wird sich ein Kinderarzt oder eine Kinderärztin das Kind ansehen und mit ihm sprechen und sich einen Eindruck vom körperlichen und geistigen Entwicklungsstand machen; zur körperlichen Untersuchung gehört wissenschaftlich gesehen auch die Inspektion zumindest der sekundären Geschlechtsmerkmale. (Allerdings stellt sich die Frage, ob der Zweck des Verfahrens das hier rechtfertigt.) Arzt bzw. Ärztin werden darauf ein wahrscheinliches Alter feststellen. 278 In der derzeitigen Praxis wird die IAN häufig nicht von MedizinerInnen, sondern von MitarbeiterInnen der Jugendämter, der Ausländerbehörden oder des Bundesgrenzschutzes ausgeführt. Eine Inspektion der Geschlechtsteile dürfte dabei vermutlich nicht zulässig sein. Teil der IAN ist meist auch die Befragung nach der Vorgeschichte des Jugendlichen und nach Gegebenheiten im Herkunftsland. Teilweise werden von mehreren MitarbeiterInnen Schätzungen des Alters abgegeben. Die Behörden handeln bei der Altersbestimmung nach IAN gemäß dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Rechtsgrundlagen sind § 24 (1), § 26 (1) S. 4 und § 69 (1) VwVfG (Jockenhövel-Schiecke 1998, S. 166). Es liegt auf der Hand, wie ungenau solche Schätzungen sein müssen; wer als ehrenamtlicher Berater mit ausländischen Flüchtlingen zu tun hat, weiß, wie überraschend deren Altersangaben oft wirken. Die Altersbestimmung, „in vielen Fällen intuitiv vor sich gehend, verlangt eine reiche Erfahrung und zum Teil langjährige Praxis“ (Wagenknecht 1979, S. 5). Ob die heute mit der Altersbestimmung junger Flüchtlinge betrauten Personen diese Kenntnisse besitzen, wäre im Einzelfall sicher kritisch zu prüfen. Aus keiner der offiziellen Stellungnahmen ergibt sich ein Hinweis auf eine Einsicht in die Schwierigkeit der Altersschätzung, auf eine spezielle Ausbildung der Beteiligten oder auch nur auf Vergleichsuntersuchungen, mit denen die Einordnung von Jugendlichen verschiedenster ethnischer und kultureller Herkunft in eine Altersstufe möglich wäre. Die für die HWU aufgestellten statistischen Erwägungen gelten sicher verstärkt noch für die IAN, d. h. die Einstufung kann korrekt nur mit einem Spielraum von mehreren Jahren nach oben oder unten erfolgen. Zugute zu halten ist der Methode, daß sie – wenn vorurteilsfrei und mit der erforderlichen Kenntnis angewendet – A LT E R S F E S T S T E L L U N G näher an den wesentlichen Merkmalen arbeitet: Für die Schutzbedürftigkeit und Handlungsfähigkeit ist eher wesentlich, wie kindlich oder wie erwachsen die Person ist, und weniger, welches Skelettalter seine Handwurzelknochen erreicht haben. Nach derzeitiger Praxis wird als Ergebnis der IAN nicht ein möglicher Altersspielraum festgesetzt, sondern ein ganz konkretes Alter oder auch nur, ob die Person älter oder jünger als 16 Jahre ist. 4. Andere Methoden Die medizinische Literatur nennt einige andere Verfahren der Altersschätzung. Zu erwähnen ist hier vor allem die Untersuchung der Zähne und des Kiefers durch ZahnärztInnen, KieferorthopädInnen oder -chirurgInnen – äußerlich oder durch Röntgenaufnahmen –, die Aufschluß über den körperlichen Entwicklungsstand und damit ein mögliches Alter des Betroffenen geben kann. Dabei wird ausgenutzt, daß die Milchzähne und die bleibenden Zähne sich meist in einer bestimmten und alterstypischen Reihenfolge herausbilden. Allerdings sind auch hier weite Streuungen möglich; vergleichende Untersuchungen, die das ganze ethnische Spektrum der in Deutschland betroffenen Kinderflüchtlinge abdecken, liegen meines Wissens nicht vor. 5. Das weitere Verfahren Aufgrund der Altersfeststellung wird in der Regel ein fiktives Geburtsdatum (immer der 1.1.) festgesetzt, damit ggf. eine Alterskorrektur gegenüber den Angaben des Flüchtlings durchgeführt und dem weiteren Verfahren zugrunde gelegt. Das festgesetzte Alter gilt auch für das BAFl. Jedoch „um den Rechtsschein der Richtigkeit des angenommenen Geburtsda- tums zu vermeiden“, wird in den Papieren vermerkt: „Fiktives Geburtsdatum auf Grund äußeren Anscheins“; so lautet die Standardregelung zumindest in mehreren Bundesländern. Entsprechend dem fiktiven Alter wird über die Form der Unterbringung und Betreuung entschieden. Jugendliche über 16 Jahren werden zumeist wie Erwachsene bundes- und landesweit verteilt und untergebracht, mit allen Auflagen und Beschränkungen, die sich aus den §§ 46 – 60 AsylVfG ergeben. Wenn der junge Flüchtling mit dem Ergebnis nicht einverstanden ist, hat er zumindest theoretisch die allgemeinen Rechtsmittel, sich gegen diesen Verwaltungsakt zu wehren. Eventuell lassen sich aus dem Herkunftsland bessere Identitätspapiere beschaffen. Ansonsten sieht sich der junge Flüchtling in einer verzwickten Situation. Er kann selbst ein Gegengutachten anfertigen lassen; praktisch wird ihm das jedoch in der Regel schon durch finanzielle Beschränkung unmöglich sein. Unsinnig erscheint auch, daß sich der Flüchtling ausgerechnet durch eine HWU (s. o.) im eigenen Auftrag Gerechtigkeit verschaffen können sollte. Bei der Beauftragung eines Rechtsanwalts bzw. einer Rechtsanwältin sowie bei der Aufstellung und Einreichung einer Klage beim Verwaltungsgericht wird unter Umständen die Mitwirkung des Vormunds erforderlich; da das zu Interessenkonflikten zwischen dem Jugendamt und anderen Behörden führen kann, ist nach allgemeiner Lebenserfahrung zu erwarten, daß nicht immer im Sinne des minderjährigen Flüchtlings gehandelt werden wird ( Vormundschaft, Vereinsvormundschaft). Das deutsche Verfahren der Altersfeststellung wird wohl künftig auch in Europa Norm sein: Eine Entschließung des Rates der EU vom 26.6.1997 zu unbegleiteten minderjährigen Staatsangehörigen dritter Länder sagt in Art. 4 (3) aus: „a) Grund279 AUFNAHMEBEDINGUNGEN sätzlich müssen unbegleitete Asylbewerber, die behaupten, minderjährig zu sein, ihr Alter nachweisen. b) Ist dieser Nachweis nicht möglich oder bestehen ernste Zweifel, so können die Mitgliedstaaten das Alter des Asylbewerbers schätzen. Die Schätzung des Alters sollte objektiv vor sich gehen. Zu diesem Zweck können die Mitgliedstaaten mit Zustimmung des Minderjährigen, des bestellten Vertreters oder der bestellten Einrichtung einen medizinischen Altersbestimmungstest durch geschultes medizinisches Personal durchführen lassen.“ (Zit. nach Grenz 1998, S. 20.) 6. Anwendung in den Bundesländern Generell wird die HWU seit 1995, von Einzelfällen abgesehen, nicht mehr angewandt und durch die IAN ersetzt. Allerdings werden immer wieder Hinweise auf HWU und Kieferröntgenuntersuchungen gegeben, teils im Zusammenhang mit Verfahren, die nicht direkt mit dem Asylantrag zusammenhängen, teils bei Untersuchungen ‘auf eigenen Wunsch’ oder ‘mit Zustimmung’ der Kinder bzw. Jugendlichen. Das muß sicher kritisch geprüft werden. Im einzelnen sind hier einige exemplarische Anmerkungen zu Verfahrensbesonderheiten zu machen. Die Details werden sich im Laufe der Zeit, orientiert an der Effektivität des Verfahrens, eventuell auch am Wohl der Kinder, weiter verändern. In Baden-Württemberg wurde bis 1995 regelmäßig die HWU durch OrthopädInnen im Auftrag des Jugendamtes der Stadt Karlsruhe durchgeführt. Seit 1995 wird die IAN durch MitarbeiterInnen der Landesaufnahmestelle und des Jugendamtes angewandt. Aus Bayern wurden von mehreren Stellen Hinweise auf noch stattfindende HWU und andere Röntgenuntersuchungen gegeben. Ansonsten wird auch die IAN prak280 tiziert. Nach Mitteilung des Bayerischen Innenministeriums wird verfahren, wie mit der Bundesregierung vereinbart (s. o. Nr. 1.). Das heißt, danach veranlassen die bayerischen Behörden zumindest selbst keine medizinischen Untersuchungen. Nach Kenntnis des Bayerischen Flüchtlingsrats werden jugendliche Flüchtlinge in München nach der Inobhutnahme einige Zeit beobachtet; bei Auffälligkeiten ordnet das Vormundschaftsgericht mit Zustimmung der Vormünder in jedem Fall eine HWU und andere medizinische Untersuchungen in örtlichen Kliniken an. Auch in Nürnberg/Erlangen und Bayreuth werden danach noch HWU durchgeführt. In Zirndorf/Nürnberg wird eine kieferorthopädische Untersuchung auf Antrag des Kreisjugendamts Fürth durchgeführt. „Der Flüchtling wird in entsprechender Weise aufgeklärt und gibt durch Unterschrift sein Einverständnis zur Untersuchung. Da zum Zeitpunkt der Untersuchung ein Vormund noch nicht bestellt ist, kann eine Zustimmung nicht eingeholt werden. Darüber hinaus ist bei der Art der Altersfeststellung nach geltendem Recht die Zustimmung des Vormundschaftsgerichtes entbehrlich“ (Mitteilung der ZAE Zirndorf 9.9.1998). Nach Auskunft der Arztpraxis, die die Untersuchungen durchführt, wird dabei der gesamte Kiefer geröntgt. Auch die Kieferorthopädische Abteilung der Universitätsklinik Erlangen/Nürnberg führt auf Veranlassung des Kreisjugendamts HWU und Kieferröntgenuntersuchungen zur Altersüberprüfung durch (telefonische Mitteilung 25.9.1998). In Bayreuth veranlaßt das städtische Jugendamt Kieferröntgenuntersuchungen durch einen Radiologen, wenn Jugendamt oder ZAE Zweifel an der Altersangabe haben. „In der Regel gibt es zu diesem Zeitpunkt keinen Vormund. Der Vormundschaftsrichter fühlt sich nicht zuständig.“ (Mitteilung des Jugendamts Bayreuth 9.6.1998) A LT E R S F E S T S T E L L U N G Die bayerische Landesregierung hat am 7.12.1998 verfügt, Röntgenuntersuchungen zur Altersbestimmung nicht mehr anzuwenden. Berlin: Das fiktive Alter wird vom Landesjugendamt durch IAN festgestellt. Neue Entwicklung ist, daß jede Stelle, die mit den Jugendlichen befaßt ist, eine neuerliche Altersfeststellung veranlaßt. In Brandenburg werden derzeit keine medizinischen oder sonstigen Untersuchungen ausgeführt. Das Landesjugendamt hält diese für rechtswidrig. Es gelten die Angaben der Betroffenen. Bremen: Ebenso wie in Hamburg wird aus Bremen über Anklagen wegen Betrugs und mittelbarer bzw. schwerer mittelbarer Falschbeurkundung gegen jugendliche Flüchtlinge berichtet, die ein falsches Alter angegeben hätten. Die Anklagen seien zurückgewiesen worden, jedoch eine Kriminalisierung damit zumindest versucht worden und der Glaubhaftigkeit der Jugendlichen im Asylverfahren geschadet worden (vgl. Grenz 1998, S. 19). Hamburg: Das fiktive Alter wird von der Ausländerbehörde (durch IAN) festgestellt. Seit 1997 werden viele Alterskorrekturen vorgenommen. „Neu ist außerdem seit Herbst 1997, daß die SachbearbeiterInnen der Ausländerbehörde bei Zweifeln am Alter von Flüchtlingen sofort zwei LKA-Beamte dazu rufen. Sind diese auch davon überzeugt, daß der Betroffene älter ist, als er angibt, nehmen sie ihn vorläufig fest und erstatten Anzeige wegen ‘Verdacht der mittelbaren Falschbeurkundung’. Der Jugendliche ... wird außerdem zur ED-Behandlung zur Polizei gebracht. ... Die gesamte Prozedur, die mit menschenunwürdigen ‘Begutachtungen’ und Fotos im nackten Zustand verbunden ist, dauerte in mehreren Fällen bis spät in die Nacht ... Bisher ist noch nicht bekannt, daß es gegen Betroffene zur Anklage kam“ (Grenz 1998, S. 19). Bei Vorwürfen im Zusammenhang mit Betäubungsmit- teln werden HWU am Hamburger Universitätskrankenhaus durchgeführt, dazu wird theoretisch das Einverständnis der Betroffenen erforderlich. Es gibt jetzt auch eine Liste mit ÄrztInnen, die auf Wunsch von Betroffenen eine medizinische IAN (jedoch derzeit offenbar keine HWU) durchführen; dabei wird in der Regel nur festgestellt, ob das geschätzte Alter unter oder über 16 Jahre beträgt. Hessen: Auf dem Frankfurter Flughafen wird die Altersfeststellung im Flughafenverfahren mittels IAN durch je fünf Beamte des Bundesgrenzschutzes durchgeführt. Nach Angabe der Bundesregierung wird das Alter durch Dokumente, Angaben des Minderjährigen und Schätzung „durch lebens- und berufserfahrene Polizeivollzugsbeamte und ggf. durch Dolmetscher aus dem jeweiligen Heimatstaat“ festgestellt (Dt. Bundestag 1996, S. 19). In Frankfurt wird die IAN durch das Jugendamt durchgeführt. Das hessische Verfahren ist in einem Erlaß des Innenministerium vom 13.1.1994 geregelt. Mecklenburg-Vorpommern: Nach Mitteilung der Schweriner Ausländerbeauftragten wird bei allen minderjährigen unbegleiteten Asylsuchenden eine Altersbestimmung mittels IAN durchgeführt, auch wenn das anderswo schon einmal gemacht wurde. (Wird ein zugewiesener Flüchtling dann wieder für jünger als 16 Jahre gehalten, so wird er wieder in das zuweisende Bundesland zurückgeschickt. [vgl. Jockenhövel-Schiecke 1998, S. 166.]) Die IAN wird durch eine Kommission durchgeführt: Dolmetscher, Ärztin, drei Mitarbeiter des Landesamtes für Asylund Flüchtlingsangelegenheiten, evtl. ein Berater der Betreiberfirma. Rheinland-Pfalz: Das Verfahren ist zwischen verschiedenen Behörden am 19.9. 1997 vereinbart worden: Das Alter von unbegleiteten Minderjährigen ohne Papiere wird durch das Jugendamt der Kreisverwaltung Mainz-Bingen mittels IAN 281 AUFNAHMEBEDINGUNGEN festgestellt. Liegen Papiere vor, werden aber nicht anerkannt, so sind das BAFl und die Aufnahmeeinrichtung Ingelheim zu beteiligen. Werden zugewiesene Flüchtlinge für jünger als 16 Jahre gehalten, so werden sie zurückgeschickt. In Rheinland-Pfalz werden Mädchen auch von 16 bis 18 Jahren in Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht. Sachsen-Anhalt: Das Verfahren ist durch einen Erlaß vom 10.4.1996 geregelt. Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen erfolgen danach nicht. Eine IAN wird nach Angabe der Clearingstelle durch das BAFl oder durch das Jugendamt Halberstadt durchgeführt. Thüringen: Das Verfahren ist durch einen Erlaß die Sozialministeriums vom 19.2.1997 geregelt: Weibliche unbegleitete Minderjährige von 16 bis 18 Jahren werden danach in Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht. „Ausweislose männliche Asylsuchende, die ein Alter unter 16 angeben, ihrem äußeren Erscheinungsbild aber offenkundig älter sind, sind deshalb als mindestens 16jährige zu behandeln und ... an die EAE zu verweisen, soweit nicht im Einzelfall ... die Unterbringung in einer Einrichtung der Jugendhilfe geboten ist.“ 7. Stellungnahmen Der Förderverein Pro Asyl veröffentlichte im März 1995 ein Gutachten über die Handwurzeluntersuchung (Laier/Beck 1995). Es wurde ermittelt, ob für die Untersuchung eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage besteht. Über die medizinischen Aspekte, insbesondere die Zuverlässigkeit der Altersbestimmung, wurden ärztliche Stellungnahmen beigezogen. Das Gutachten kam zu dem Ergebnis, daß die HWU jedenfalls bei außereuropäischen Minderjährigen ungeeignet ist und eine ausreichende Rechtsgrundlage fehlt. Die Untersuchung sei daher rechtswidrig und 282 erfülle den Tatbestand einer Körperverletzung. ÄrztInnen und BeamtInnen, die sie durchführen bzw. anordnen, machen sich dem Gutachten zufolge strafbar und zivilrechtlich haftbar. Auch ein Vormund oder Pfleger dürfe die Untersuchung nicht veranlassen oder ihr zustimmen; eine eventuelle Einwilligung des Jugendlichen kann die fehlende rechtliche Grundlage nicht ersetzen. (Hier ist anzumerken, daß dies genauso für die Kiefernröntgenuntersuchung gelten dürfte.) Die Veröffentlichung des Pro Asyl-Gutachtens fand bundesweites Medienecho und führte dazu, daß die HWU als Regelverfahren abgeschafft wurde. Der UNHCR fordert zur Schätzung des Alters, daß die „benutzten Verfahren präzise sind und die Fehlergrenzen berücksichtigt werden. Zudem dürfen nur solche technischen Verfahren zum Einsatz kommen, die die Menschenwürde nicht verletzen. ... Wenn das genaue Alter nicht bekannt ist, sollte auch in diesem Fall zugunsten des Kindes entschieden werden“ (UNHCR 1994, S. 120). „Wo immer möglich, sollten die rechtlichen Folgen bzw. die Bedeutung des Alterskriteriums so gering wie möglich sein oder nur wenig ins Gewicht fallen. ... Ausschlaggebend muß sein, ob der Betreffende eine ‘Unreife’ und Hilflosigkeit zeigt, die eine sensiblere Behandlung erfordern könnten“ (UNHCR 1997, S. 5). Die AG MUF (minderjährige unbegleitete Flüchtlinge) des Hamburger Flüchtlingsrats hat gegen die Praxis der Altersfeststellungen insgesamt protestiert und gefordert, allen Flüchtlingen eine menschenwürdige Unterbringung, ausreichende Beratung und Betreuung zu gewährleisten, so daß die Angabe eines falschen Alters unnötig bleibt (AG MUF 1997). Von anderen Flüchtlingsräten wird vielfach die Forderung erhoben, Altersfeststellungen – soweit überhaupt nötig – nicht durch Einzelpersonen, sondern A U F E N T H A LT S T I T E L durch Gremien unter Beteiligung von PsychologInnen, FachärztInnen und Personen aus der Ethnie des Jugendlichen ausführen zu lassen. Von mehreren Organisationen werden zudem private Vormundschaften empfohlen, um Interessenkonflikten zwischen Jugendämtern und Ausländerbehörden auszuweichen und eine optimale Betreuung und Beratung der Kinderflüchtlinge zu erreichen. Literatur AG MUF des Hamburger Flüchtlingsrats: Alters’feststellungen’ bei Flüchtlingen. In: off limits – Antirassistische Zeitschrift (Hamburg). Nr. 18, Mai/Juni 1997, S. 38 Dt. Bundestag: Verhandlungen des Deutschen Bundestags, 13. Wahlperiode. Antwort der Bundesregierung auf die Kl. Anfrage der Abg. Monika Knoche und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Drucksache 13/1165 vom 24.4.1995 b Dt. Bundestag: Verhandlungen des Deutschen Bundestags, 13. Wahlperiode. Antwort der Bundesregierung auf die Gr. Anfrage der Abg. Christa Nickels u. a. und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Drucksache 13/4861 vom 12.6.1996 IGC (Secretariat of the Inter-Governmental Consultations on Asylum, Refugee and Migration Policies in Europe, North America and Australia): Report on Unaccompanied Minors. Overview of Policies and Practices in IGC Participating States. Genf 1997 Grenz, Conni: Behördliche Altersfeststeller produzieren Kriminelle. In: off limits – Antirassistische Zeitschrift (Hamburg). Nr. 21, Februar/März 1997, S. 18-21 Jockenhövel-Schiecke, Helga: Schutz für unbegleitete Flüchtlingskinder: Rechtsgrundlagen und gegenwärtige Praxis. In: ZAR –Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, Nr. 4/1998, S. 165-175. Laier, Tanja/Beck, Winfried: Aus der Hand gelesen. Die Zulässigkeit von Röntgenaufnahmen der Hand zum Zweck der Altersfeststellung bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Gutachten im Auftrag des Fördervereins Pro Asyl e.V. und des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte. Frankfurt/M. 1995 UNHCR: Flüchtlingskinder. Richtlinien zu ihrem Schutz und ihrer Betreuung. Bonn 1994 UNHCR: Richtlinien über allgemeine Grundsätze und Verfahren zur Behandlung asylsuchender unbegleiteter Minderjähriger. Bonn 1997 UNHCR: Flüchtlinge – Kinder. [Sonderausgabe der Zeitschrift ‘Flüchtlinge’.] Bonn o.J. Wagenknecht, Egon (Hg.): Altersbestimmung. Melsungen/Berlin 1979 Gerhard Schulz-Ehlbeck Aufenthaltstitel Die Aufenthaltstitel kennzeichnen die unterschiedlichsten Möglichkeiten des Aufenthalts von MigrantInnen. In dem folgenden Text werden die Bezeichnungen der einzelnen Aufenthaltstitel nach dem Ausländergesetz dargestellt und deren Bedeutung erläutert. Es werden auch solche Aufenthaltstitel und deren Bedeutung beschrieben, die letztendlich keine Aufenthaltsgenehmigung darstellen. Um die Konsequenzen eines Aufenthaltstitels für die MigrantInnen jedoch richtig einschätzen und differenziert damit umgehen zu können, ist es für alle Beteiligten unbedingt notwendig, die grundlegenden Formen zu kennen. 1. Aufenthaltsgenehmigungen Die Aufenthaltsgenehmigung ist gem. § 3 Abs. 3 AuslG grundsätzlich vor der Einreise in Form des Sichtvermerks (Visum) einzuholen (Ausnahmen z. B. EU-, EFTAund US-Staatsangehörige), sonst besteht ein zwingender Versagungsgrund ( Asylverfahren). Für Nicht-EU-Staatsangehörige ist die Einreise i.d.R. nur noch im Familiennachzug möglich. 1.1 Aufenthaltserlaubnis §§ 15 – 26 AuslG (AE) Ohne Bindung an einen bestimmten Aufenthaltszweck kann aber mit Auflagen (z. B. Einschränkung der Erwerbstätig283 AUFNAHMEBEDINGUNGEN keit) und Bedingungen versehen werden: – AE zur Familienzusammenführung §§ 17 – 23 AuslG betrifft den Nachzug zu Ehegatten oder Eltern. Der Nachzug zu sonstigen Familienangehörigen ist nur bei Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte möglich. Der Bezug von Sozialhilfe für sich oder Familienangehörige, denen der/die AusländerIn zum Unterhalt verpflichtet ist, gilt i.d.R. als Ablehnungsgrund für einen Familiennachzug. – AE zur Aufnahme einer unselbständigen Erwerbstätigkeit § 10 AuslG und Arbeitsaufenthalte VO (AAV). Grundsätzlich gilt seit 1974 ‘Anwerbestop’. AE für Erwerbstätigkeit von mehr als 3 Monaten nur, wenn der Ausnahmebestand der AAV erfüllt und die Arbeitserlaubnis zugesichert ist. 1.1.1 Befristete AE § 12 Abs. 2 AuslG AE wird i.d.R. zunächst und solange befristet erteilt und verlängert, bis die unbefristete Erteilung möglich ist. Bei Verlängerung müssen die gleichen Voraussetzungen erfüllt werden wie bei der erstmaligen Beantragung (§ 7 Abs. 2 AuslG). Sozialhilfebezug ist ein Ausweisungsgrund (§ 46 Abs.6) und insofern Regelversagungsgrund. Das Einkommen muß aus eigener Erwerbstätigkeit, eigenem Vermögen oder sonstigen eigenen Mitteln gesichert sein. Es besteht kein Anspruch auf automatische Verlängerung. Der Verlängerungsantrag muß rechtzeitig, d. h. spätestens am letzten Tag der Gültigkeit der AE gestellt werden. Befristung erfolgt i.d.R. im Rhythmus von 1 + 2 + 2 Jahren. Längere Fristen z. B. 3 Jahre bei deutsch Verheirateten sind möglich. 1.1.2 Unbefristete AE §§ 24 ff AuslG (uAE) Sie kennzeichnet die erste Stufe der Aufenthaltsverfestigung (eigenständiges Auf284 enthaltsrecht). Erteilungsvoraussetzungen sind: – 5jähriger Besitz der AE – besondere Arbeitserlaubnis/Arbeitsberechtigung – gesicherter Lebensunterhalt aus eigener Erwerbstätigkeit/Vermögen – einfache mündliche Sprachkenntnisse – ausreichender Wohnraum – kein Ausweisungsgrund, wie z. B. Anspruch auf Sozialhilfe, Straftaten, längerfristige Obdachlosigkeit usw. 1.1.2.1 uAE für Ehegatten und nachgezogene Kinder §§ 25 + 26 AuslG – das Einkommen und die Arbeitserlaubnis können auch von der bzw. dem/der EhepartnerIn gesichert sein – uAE nach 3 Jahren für mit Deutschen Verheiratete, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft weiterbesteht – uAE ab dem 16. Geburtstag für minderjährig Eingereiste nach 8jährigem Aufenthalt 1.1.2.2 uAE für Asylberechtigte § 68 AsylVerfG – wird ohne weitere Voraussetzungen nach der Anerkennung als Asylberechtigte/r erteilt. 1.1.2.3 uAE für BefugnisinhaberInnen § 35 AuslG – nach 8 Jahren Befugnis, wenn die Voraussetzungen für uAE vorliegen 2. Aufenthaltsberechtigung § 27 AuslG Diese Aufenthaltsberechtigung kennzeichnet die höchste Stufe der Aufenthaltsverfestigung. Sie kann nicht mit Auflagen und Bedingung versehen werden, insbesondere keine Einschränkung der Erwerbstätigkeit, z.B. Selbständigkeit. Erteilungsvoraussetzungen sind gegeben bei: A U F E N T H A LT S T I T E L – 8 Jahre Besitz der AE oder – 5 Jahre Besitz der AE bei deutsch Verheirateten und Asylberechtigten oder ehemaligen Deutschen 3 Jahre uAE bei vorherigen BefugnisinhaberInnen – Lebensunterhalt aus eigener Erwerbstätigkeit, eigenem Vermögen oder sonstigen eigenen Mitteln gesichert ist – 60 Monate Beiträge zur gesetzlichen oder privaten Rentenversicherung gezahlt wurden. Ausnahmen sind bei hier aufgewachsenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen möglich, die sich in einer Ausbildung, Schule oder im Studium befinden – Wenn keine Verurteilung in den letzten 3 Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Strafe von mind. 6 Monaten/180 Tagessätzen vorliegt – Vorliegen der uAE-Voraussetzungen (s. 1.2) 3. Aufenthaltsbewilligung § 28 und 29 AuslG Gilt nur für einen bestimmten vorübergehenden Zweck (z. B. Besuch, Studium, Praktikum, Kinderbetreuung), d. h. – keine unbefristete Verlängerung, keine Aufenthaltsverfestigung – grundsätzlich kein Wechsel des Aufenthaltszwecks ohne vorherige Ausreise – grundsätzlich kein unmittelbarer Übergang zur AE ohne vorherige Ausreise (Ausnahme: Eheschließung) – Sozialhilfebezug ist nicht möglich 4. Aufenthaltsbefugnis §§ 30 – 35 AuslG Die Aufenthaltsbefugnis ist ein subsidiärer Aufenthaltstitel, der die Funktion einer Härteklausel hat und vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit erteilt wird. Sie ist eine Vorstufe für einen Daueraufenthalt und deshalb für Flüchtlinge außerordentlich wichtig. Es sollte daher in jedem Fall mit RechtsanwältInnen geklärt werden, ob eine Aufenthaltsbefugnis möglich ist. Sie wird unter anderem erteilt: – aus völkerrechtlichen Gründen, aufgrund einer Aufnahmeverpflichtung der Bundesrepublik Deutschland; – aus dringenden humanitären Gründen im außergewöhnlichen Härtefall zur Wahrung politischer Interessen der BRD, wenn die Erteilung einer AE aus rechtlichen Gründen ausgeschlossen ist (z. B. an abgelehnte AsylbewerberInnen, die aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht abgeschoben werden sollen oder können bzw. Personen, die aus diesen Gründen über einen längeren Zeitraum geduldet waren; – bei AusländerInnen, die unanfechtbar ausreisepflichtig sind und eine Duldung erteilt wird, weil eine freiwillige Ausreise oder Abschiebung unmöglich ist z. B. wegen Fehlen des Passes oder Transportunfähigigkeit; – AusländerInnen, die seit 2 Jahren unanfechtbar ausreisepflichtig sind und mindestens seit zwei Jahren eine Duldung haben. Eine unbefristete AE und damit Aufenthaltsverfestigung ist nach 8 Jahren möglich, wenn alle Voraussetzungen für eine unbefristete AE erfüllt sind (s. 1.2). 5. Aufenthaltserlaubnis – EG Aufenthaltsgesetz/EWG Für freizügigkeitsberechtigte Angehörige der EU und Gleichgestellte (EWR-Staatsangehörige), dies sind: – ArbeitnehmerInnen – Selbständige – ErbringerInnen bzw. EmpfängerInnen von Dienstleistungen – Verbleibeberechtigte – Familienangehörige ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit 285 AUFNAHMEBEDINGUNGEN 5.1 Befristete AE-EG nach europäischem Gemeinschaftsrecht oder Unbefristete AE-EG nach nationalem Recht, § 7 a, AufenthG/EWG Ergänzende Sozialhilfe wegen Teilzeitbeschäftigung ist kein Hinderungsgrund für die Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis-EG. Die Freizügigkeit/ EG ermöglicht bei nachgwiesenem gesichertem Lebensunterhalt auch StudentInnen, RentnerInnen mit Rente aus anderen Mitgliedstaaten und sonstigen wirtschaftlich abgesicherten Personen eine befristete Aufenthaltserlaubnis/EG. 6.2 Fiktive Aufenthaltserlaubnis § 69 AuslG Die Antragstellung im Inland bewirkt, daß der weitere Aufenthalt bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt gilt (Fiktionswirkung), wenn der/die AusländerIn – mit einem mit Zustimmung der Ausländerbehörde erteilten Visum eingereist ist (kein Besuchervisum); – er/sie von der Aufenthaltsgenehmigungspflicht befreit war und gem. § 9 DVAuslG den Antrag nach Einreise unter Fristwahrung stellen kann oder – er/sie sich seit mehr als 6 Monaten rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. 6. Sonstiger rechtmäßiger Aufenthalt 6.1 Befreiungstatbestände Befreiungstatbestände ergeben sich für: – AusländerInnen, die nicht der deutschen Gerichtsbarkeit unterliegen oder aufgrund völkerrechtlicher Verträge von der Aufenthaltsgenehmigungspflicht befreit sind (§§ 2 + 96 AuslG); – Kurzaufenthalte bis zu 3 Monaten bei sog. ‚Positivstaatlern’, die keine Erwerbstätigkeit aufnehmen, z. B. Polen, Tschechien, Brasilien, USA, Schweiz und eine Reihe weiterer Länder (vgl. Anlage 1 DV AuslG); – AusländerInnen unter 16 Jahren, wenn sie die Staatsangehörigkeit eines EGoder EFTA-Staates oder einen Paß Ecuadors besitzen: Seit 15.1.97 benötigen Staatsangehörige aus Jugoslawien, Marokko, Türkei und Tunesien auch für einen Besuch ein Visum und eine Aufenthaltserlaubnis; – EU-Staatsangehörige auf Arbeitsuche für die ersten 3 Monate § 8 AufenthG/ EWG. 286 6.3 Aufenthaltsgestattung § 55 AsylVerfG Vor bestandskräftigem Abschluß des Asylverfahrens kann – außer im Falle eines gesetzlichen Anspruchs – keine Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden. Aus diesem Grund erhalten AsybewerberInnen eine befristete Aufenthaltsgestattung. Materielle Hilfen sind nur noch nach dem Asylbewerberleistungsgesetz möglich. Wichtig: Bei unter 16-jährigen ‚unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen’ haben die VomüderInnen oder PflegerInnen für das Kind einen Asylantrag zu stellen. Solange das Asylverfahren läuft, erhält das Kind eine Aufenthaltsgestattung ( Gesetzliche Grundlagen). Wenn der Asylantrag abgelehnt wird, erlischt die Aufenthaltsgestattung automatisch und der/die Betroffene wird ausreisepflichtig. In diesem Fall sollte sofort eine Duldung beantragt werden, denn wenn der/die Betroffene der Ausreisepflicht nicht nachkommt, kann er/sie abgeschoben werden ( Abschiebung). A U F E N T H A LT S T I T E L 7. Weitere Aufenthaltsformen Diese vermitteln keinen rechtmäßigen Aufenthalt im ausländerrechtlichen Sinne oder Aufenthaltsgenehmigungen. 7.1 Ausreisepflicht/Abschiebung § 42 AuslG Bestehen Abschiebehindernisse oder werden sie von dem Ausreisepflichtigen geltend gemacht, ist zu prüfen, ob die Voraussetzung zur Erteilung einer Duldung vorliegt (§ 55 AuslG). Ein/e AusländerIn, der/die keine Aufenthaltsgenehmigung (mehr) besitzt, ist zur Ausreise verpflichtet. Reist er/sie nicht freiwillig aus oder ist nicht sicher, ob er/sie freiwillig ausreist, ist der/die AusländerIn abzuschieben (§ 49 AuslG). Die Abschiebung soll schriftlich angedroht und eine Ausreisefrist bestimmt werden (§ 50 AuslG). 7.2 Duldung § 51 ff AuslG 7.2.1 Abschiebehindernisse/Duldungsgründe §§ 51, 53 AuslG Politisch Verfolgte (Asylberechtigte) sowie AusländerInnen, die die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings besitzen (z. B. im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention oder der humanitärer Hilfsaktionen Aufgenommene), dürfen nicht in Verfolgerstaaten abgeschoben werden. Das gleiche gilt für AusländerInnen, die in einen Staat abgeschoben werden sollen, in dem die konkrete Gefahr der Folter oder die Todesstrafe droht. Eine Abschiebung in einen Staat, in dem der/dieAusländerIn eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (z. B. absichtliche Zufügung schwerer psychischer und physischer Leiden, Verursachung von Gefühlen von Furcht, Todesangst, Minderwertigkeit) droht, ist ebenfalls unzulässig (Europ. Menschenrechtskonvention). Allgemeine Gefahrenlagen im Krieg oder Bürgerkrieg begründen noch keinen zwingenden Abschiebeschutz. Nur wenn eine extreme allgemeine Gefahrenlage besteht und der/die AusländerIn durch die Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder anderen schwersten Rechtsgutverletzungen ausgeliefert würde, ist ein Abschiebeschutz geboten. Ob die Voraussetzungen des § 51 (Abschiebeverbot) vorliegen, wird im Rahmen des Asylverfahrens geprüft. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ist nach Stellung eines Asylantrags ebenfalls zuständig für die Überprüfung von Abschiebehindernissen nach § 53, §§ 5, 13 II, 24 II AsylVerfG. Für die Überprüfung der Abschiebehindernisse nach § 53 AuslG ist nur dann die Ausländerbehörde zuständig, wenn kein Asylantrag gestellt wurde und der Ausländer keine politische Verfolgung i.S.v. § 51 Abs. 1 AuslG geltend macht. Liegen die oben beschriebenen Duldungsgründe vor, besteht ein rechtliches Abschiebehindernis. Der/die AusländerIn besitzt einen Anspruch auf eine Duldung, der ggf. durch eine einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO durchgesetzt werden kann. Ein rechtliches Abschiebehindernis besteht auch, wenn z.B. eine ausländische Staatsangehörige in der Bundesrepublik Deutschland ein Kind mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren hat, das auf die dauernde Anwesenheit der Mutter angewiesen ist. Ein Anspruch auf eine Duldung besteht auch, wenn die Abschiebung aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist, z. B. wenn der/die AusländerIn aus gesundheitlichen Gründen nicht reisefähig ist oder weil z. B. die Abschiebung in die Bundesrepublik Jugoslawien wegen des EU-weiten Landeverbots für jugoslawische Luftfahrtgesellschaften nicht möglich ist. Der Anspruch auf Duldung besteht außerdem, wenn zwar eine freiwillige Ausreise, aber keine Abschiebung möglich 287 AUFNAHMEBEDINGUNGEN ist. Im Rahmen des Ermessens der Ausländerbehörde kann eine Duldung erteilt werden, – solange der/die AusländerIn nicht unanfechtbar ausreisepflichtig ist, – wenn eine weitere Anwesenheit im Bundesgebiet aus dringenden persönlichen Gründen (z. B. unmittelbar bevorstehende Eheschließung) unmittelbar erforderlich ist, – aus dringenden humanitären Gründen, – bei erheblichen öffentlichen Interessen. Ist rechtskräftig entschieden, daß die Abschiebung zulässig ist, darf keine Duldung aus Ermessensgründen erteilt werden (§ 55 III AuslG). 7.2.2 Wirkung der Duldung Bei der Duldung besteht weiterhin Ausreisepflicht. Sie ist lediglich die befristete Aussetzung der Abschiebung. Eine Duldung besagt, daß sich der/die Geduldete trotz bestehender Ausreisepflicht noch vorübergehend im Bundesgebiet aufhalten kann, bis das Abschiebehindernis entfallen ist. Die Duldung wird schriftlich bescheinigt. Sie wird nicht länger als für ein Jahr erteilt. Eine Verlängerung ist möglich. Wenn die Ausländerbehörde die Duldung nicht verlängert, darf die Person ohne Vorankündigung abgeschoben werden, es sei denn, die Duldung ist bereits verlängert worden und der/die AusländerIn ist insgesamt schon länger als ein Jahr geduldet. Dann wird schriftlich zur Ausreise aufgefordert. Die Duldung ist räumlich auf ein Bundesland beschränkt. Das bedeutet, daß eine Reise in ein anderes Bundesland ohne Genehmigung der Ausländerbehörde eine Ordnungswidrigkeit darstellt, die mit einer Geldbuße bestraft werden kann. Die Duldung erlischt automatisch bei der Ausreise aus der Bundesrepublik, auch wenn sie noch längere Zeit gültig war. 288 7.3 Duldungsfiktion § 69 Abs. 2 AuslG Der Aufenthalt gilt bei Antragserteilung im Inland beschränkt auf das Gebiet der Ausländerbehörde bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als geduldet (Fiktionswirkung), wenn der/die AusländerIn: – mit einem Visum eingereist ist, das ohne Zustimmung der Ausländerbehörde erteilt wurde oder – von der Visumspflicht befreit war und der rechtmäßige Aufenthalt noch nicht 6 Monate gedauert hat. 7.4 Grenzübertrittsbescheinigung Sie dokumentiert nur die von der Ausländerbehörde gesetzte Frist zur freiwilligen Ausreise und ermöglicht eine Ausreise, ohne daß die Grenzbehörden eine Anzeige wegen illegalem Aufenthalts erstatten. Sie muß als Nachweis für die Ausreise an der Grenze vorgelegt werden. Wird die Grenzübertrittsbescheinigung nicht innerhalb einer angemessenen Frist von den Grenzbehörden an die Ausländerbehörde zurückgeschickt, wird der/die Betroffene zur Fahndung ausgeschrieben. 7.5 Betretenserlaubnis § 9 AuslG Sie wird für ausgewiesene oder abgeschobene AusländerInnen bei Vorliegen besonderer Härtegründe erteilt. Literatur Kugler, Roland: Asylrecht , Göttingen. Wagner, Harry/Maier, Friedburg (Hg.): Recht und Rat – Handbuch zur Sozialen Arbeit mit MigrantInnen, Freiburg i. Br. Friedburg Maier F L U G H A F E N V E R FA H R E N Flughafenverfahren Unter Umgehung des Haager Minderjährigenschutzabkommens und offensiver Verletzung der UN-Kinderrechtskonvention werden ‚unbegleitete minderjährige Flüchtlinge’ seit Mitte 1994 in das sogenannte Flughafenasylverfahren gemäß § 18 a Asylverfahrensgesetz hineingezwungen. Weder Unterbringung noch Verfahren tragen dem Schutzbedürfnis dieser Kinder Rechnung. Seit dem 1. Juli 1993 gilt das sog. Flughafenverfahren gemäß § 18 a Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) für neu eintreffende Asylsuchende, die auf deutschen Flughäfen ankommen. Dabei werden die Asylverfahren von AusländerInnen, die aus einem ‘sicheren Herkunftsstaat’ (§ 29 a Asyl VfG) oder ohne gültigen Paß bzw. Paßersatz einreisen wollen, noch vor der Entscheidung über die Einreise im Transitbereich der Flughäfen durchgeführt. Zu diesem Zweck wurden Außenstellen des ‘Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge’ auf den Flughäfen sowie Unterbringungseinrichtungen für Asylsuchende im Transit geschaffen ( Bundesbehörden). Einrichtungen für das Flughafenverfahren existieren auf den Flughäfen Frankfurt, Düsseldorf, Hamburg, München und Berlin-Schönefeld. Asylbegehrende werden zunächst einer erkennungsdienstlichen Behandlung durch den Bundesgrenzschutz unterzogen. Danach erfolgt eine erste Befragung durch Beamte des BGS mit dem Schwerpunkt des Reisewegs, den benutzten Dokumenten, eventuell eingeschalteten ‘Schleppern’ ( Fluchthilfe) und einigen Fragen zu den Gründen der Flucht. Im Regelfall findet dann zeitnah die persönliche Anhörung der Asylantragstellenden durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge statt. Lehnt dieses den Asylantrag als ‘offensichtlich unbegründet’ ab, wird die Einreise verweigert. Die Entscheidung des Bundesamtes und die Einreiseverweigerung werden den Betroffenen durch den BGS zugestellt. Gleichzeitig werden dem zuständigen Verwaltungsgericht die Akten übermittelt. Der notwendige Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes muß innerhalb von 3 Tagen nach Zustellung der Entscheidung beim Verwaltungsgericht gestellt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Grundsatzentscheidung zum Flughafenverfahren vom 14. Mai 1996 diese 3-Tages-Frist um eine Frist von weiteren 4 Tagen zur Antragsbegründung verlängert. Asylsuchenden muß die Einreise gestattet werden, wenn das Bundesamt das Asylverfahren nicht innerhalb von 2 Tagen nach Stellung des Asylantrages entscheiden kann oder will. Stellt die/der Asylsuchende nach der Ablehnung ihres/seines Asylantrags als ‘offensichtlich unbegründet’ einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht, so muß dieses binnen 14 Tagen prüfen, ob der Asylantrag tatsächlich ‘offensichtlich unbegründet’ ist oder ob Zweifel an dieser Einschätzung des Bundesamtes bestehen. Entscheidet das Verwaltungsgericht nicht innerhalb der 14-Tages-Frist oder gibt das Gericht dem Eilantrag statt, so darf die/der Betroffene zur Durchführung des Asylverfahrens im Inland einreisen. Wird der Eilantrag abgelehnt, so wird umgehend – ggf. nachdem Passersatzpapiere besorgt wurden – ‘zurückgeschoben’, in der Regel in das zuletzt durchreiste Land oder ins Herkunftsland. Rechtsmittel gegen den Vollzug gibt es nicht. Lediglich die Verfassungsbeschwerde ist möglich. Die Kritik von RechtsanwältInnen und Nichtregierungsorganisationen richtet sich insbesondere auf die im deutschen Rechtssystem einmalige Drei-Tages-Frist zur Einlegung des Rechtsmittels beim VG. Auch innerhalb der durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes 289 AUFNAHMEBEDINGUNGEN nun insgesamt 7 Tage umfassenden Frist zur Begründung können Informationen z. B. zur Situation im Herkunftsland nur schwer beschafft und komplizierte Sachverhalte kaum geklärt werden. Ebenso in der Kritik steht die Qualität der Entscheidungen der Verwaltungsgerichte. Die im Regelfall tätigen EinzelrichterInnen sind offenbar von den Anforderungen des Flughafenverfahrens oftmals ebenso überfordert wie die RechtsanwältInnen und die Asylantragstellenden selbst. Über die Glaubhaftigkeit der Angaben der Betroffenen wird im Regelfall ohne mündliche Anhörung entschieden. Durch den Wegfall der gerichtlichen Beschwerdeinstanz gibt es eine Korrektur von Fehlentscheidungen nur noch dann, wenn sich das Bundesverfassungsgericht zuständig fühlt. Dies war in den letzten Jahren nur noch selten der Fall. Kritisch gesehen werden ebenso die Unterbringungsbedingungen während des Flughafenverfahrens. Die entscheidende Anhörung zum Verfolgungsschicksal findet unter Rahmenbedingungen statt, die für den geforderten widerspruchsfreien und umfassenden Vortrag ungeeignet sind. Es handelt sich um eine belastende haftähnliche Situation. Psychische Grenzzustände sind häufig. Besonders belastend ist die Situation auch für diejenigen, bei denen die Einreiseverweigerung ‘vollstreckbar’ ist, bei denen aber praktische Hindernisse für die Zurückschiebung bestehen ( Abschiebung). Hier kommt es zum Teil zu monatelangen Transitaufenthalten. Die Betroffenen können lediglich wählen, ob sie ihr Dasein weiterhin in den Flüchtlingsgebäuden im Flughafentransit oder in einer Haftanstalt (Zurückweisungshaft) fristen wollen. Erst nach mehr als 2 Jahre nach der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum Flughafenverfahren wurde die dort geforderte asylrechtskundige Beratung durch RechtsanwältIn- 290 nen durch einen Rahmenvertrag mit dem Deutschen Anwaltsverein sichergestellt. Das Beratungsangebot richtet sich allerdings nur an diejenigen, denen die Ablehnung als ‘offensichtlich unbegründet’ bereits zugestellt wurde. Zunächst wurde mit der Umsetzung der Rechtsberatung auf dem Rhein-Main-Flughafen Frankfurt begonnen, der durch die große Zahl internationaler Flugankünfte naturgemäß auch beim Thema Asyl im Mittelpunkt steht. Kinderflüchtlinge im Frankfurter Flughafenverfahren Im gesamten Zeitraum seit Inkrafttreten der Flughafenregelung im AsylVfG machte die Zahl der ‘unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge’, die im Verfahren gemäß § 18 a AsylVfG auf dem Frankfurter Flughafen registriert wurden, ein Vielfaches der entsprechenden Zahlen aller anderen Flughäfen zusammengenommen aus. Die vom Bundesamt erstellten monatlichen Einreisestatistiken für AsylbewerberInnen enthalten keine Angaben zu Geschlecht, Alter oder dem Kriterium ‘unbegleitete minderjährige Flüchtlinge’. Die für Kinderflüchtlinge in den meisten Bundesländern geführte Zählstatistik zur Inobhutnahme ist durch die Zugrundelegung verschiedener Kriterien unpräzise, eine bundesweite Statistik zur Einreise unbegleiteter Kinder unter 16 Jahren gibt es nicht (Jockenhövel-Schiecke 1998, S. 166). Für den Flughafen Frankfurt gibt der BGS folgende Zahlen an: F L U G H A F E N V E R FA H R E N Jahr 1995 1996 1997 Ankünfte Minderjährige Erwachsene Einreisegestattungen Minderjährige Erwachsene 359 528 146 5.036 4.130 2.243 252 454 109 4.687 3.609 1.768 (Quelle: 1995 und 1996: Jockenhövel-Schiecke a.a.O., 1997: telefonische Angaben des BGS gegenüber PRO ASYL.) Aufgrund der sich überwiegend auf Frankfurt konzentrierenden Ankünfte ‘unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge’ beziehen sich die Ausführungen im folgenden überwiegend auf die Frankfurter Situation. Wurden diese Minderjährigen bis Mitte 1994 im Regelfall dem Jugendamt der Stadt Frankfurt im Rahmen einer Inobhutnahme nach § 42 KJHG übergeben und zur Durchführung eines sogenannten Clearingverfahrens zunächst in einer hierauf spezialisierten Unterkunft aufgenommen ( Unterbringung), so brachte ein Erlaß des Bundesinnenministers vom 6. Juli 1994 drastische Veränderungen bei der grenzpolizeilichen Behandlung von Kinderflüchtlingen. Unabhängig von ihrer asylverfahrensrechtlichen Handlungsfähigkeit sind sie seither der Flughafenregelung gemäß § 18 a Asyl VfG unterworfen. Lediglich dann, wenn es in besonders gelagerten Fällen aus humanitären Gründen nicht vertretbar erscheint, Minderjährige im Rahmen der Flughafenregelung unterzubringen, soll Weisung eingeholt werden, ob eine Ausnahme möglich ist. Der Erlaß geht also offensichtlich davon aus, daß die Unterbringung der Kinderflüchtlinge auf den Flughäfen im Regelfall möglich ist. Eine kindgerechte Unterbringung am Frankfurter Flughafen ist allerdings nicht möglich, wie dies auch die 3. Kammer des VG Frankfurt in einer Entscheidung vom 27. März 1995 (AZ.: 3 G 50094/95.A(2)) festgestellt hat. Das Gericht begründet die Entscheidung, mit der einem Minderjährigen die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland gewährt wurde, unter anderem damit, daß die beim BGS vorhandenen Räume zur Unterbringung von Kindern nicht geeignet sind. Auch für die Unterbringung von Jugendlichen seien sie nur in Ausnahmefällen und nur für eine maximale Dauer von 2 Übernachtungen geeignet. Dies folge nicht nur aus der Ausstattung der Räume, sondern auch aus dem Umfeld und der hierdurch hervorgerufenen Belastung. Es handele sich um eine Dienststelle mit dem Betrieb einer größeren Polizeiwache, die Betroffenen seien von Gleichaltrigen isoliert, es gebe Verständigungsschwierigkeiten usw. Das Land Hessen hat es abgelehnt, eine Genehmigung für die Unterbringung von Minderjährigen auf dem Flughafengelände gemäß KJHG zu erteilen. Dies gilt auch, nachdem der Bundesgrenzschutz im neuen Terminal 2 zwei Betreuungsräume für die Verwahrung von Kindern eingerichtet hat. Im Zusammenhang mit der Einbeziehung von Minderjährigen in das Flughafenasylverfahren vertritt das BMI unter Hinweis auf § 68 Abs. 2 AuslG die Auffassung, einer Einschaltung des Jugendamtes oder des Vormundschaftsgerichtes bedürfe es bei der Entscheidung über die Überstellung solcher Kinder in Herkunftsstaaten nicht. Nach dem Wortlaut von § 68 Abs. 2 AuslG steht die mangelnde rechtliche Handlungsfähigkeit einer/eines Minderjährigen der Zurückweisung oder Zurückschiebung nicht entgegen. § 68 Abs. 2 291 AUFNAHMEBEDINGUNGEN AuslG wird vielerseits für verfassungswidrig gehalten. In der Gesetzesbegründung (BT-Drucksache 11/6321) wird lapidar darauf hingewiesen, daß es für diese Regelung ein praktisches Bedürfnis gebe, weil in den letzten Jahren zunehmend ‘unbegleitete minderjährige Flüchtlinge’ eingereist seien. Handlungsunfähige Kinderflüchtlinge bis zum 16. Lebensjahr befinden sich nach dieser Konstruktion bei ihrer Ankunft am Flughafen in einer gefährlichen Grauzone, in der grenzbehördliches Handeln vollendete Tatsachen schaffen kann. BeamtInnen des BGS wird die Entscheidung übertragen, anhand der Aussagen der Kinder zu überprüfen, ob eine Zurückweisung ohne Einschaltung einer gesetzlichen Vertretung erfolgen soll oder ob ein Asylbegehren vorliegt. Eine Altersgrenze nach unten gibt es nicht. Geregelt ist deshalb auch nicht, wie etwa dem Verhalten von Kleinkindern ein Asylbegehren entnommen werden sollte. Den bizarren Fall der Anhörung eines zweijährigen hat es im Jahr 1995 bereits gegeben. Nicht weniger problematisch ist, daß 16- bis 18-jährige im Asylverfahren, so auch auf den Flughäfen, behandelt werden wie Erwachsene. Gemäß §12 AsylVfG sind Minderjährige, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, fähig zur Vornahme aller Verfahrenshandlungen im Zusammenhang mit dem Asylantrag. Der Gesetzgeber hat die besondere Schutzbedürftigkeit der noch nicht Volljährigen damit weitgehend ignoriert. Weder gibt es ein herabgestuftes Anforderungsprofil für die Anhörung dieser Personengruppe, das der Tatsache Rechnung trägt, daß Jugendliche in den meisten Fällen komplexe Sachverhalte nicht so wahrnehmen und darstellen können wie Erwachsene, noch wird auf die besonderen Bedürfnisse dieser Jugendlichen bei der Unterbringung Rücksicht genommen. Dies betrifft sowohl das spannungsgeladene Zusammenleben 292 mit Erwachsenen aus vielen verschiedenen Nationen im Flughafentransit, wie auch – nach erlaubter Einreise – die Unterbringung in den Erstaufnahmeeinrichtungen, in denen zumeist keine adäquaten Betreuungsmöglichkeiten existieren und die Probleme der Kinderflüchtlinge kaum wahrgenommen werden ( Erstversorgungseinrichtungen). Das Bundesinnenministerium vertritt hingegen die Auffassung, weder aus dem Haager Minderjährigenschutzabkommen noch aus der UN-Kinderrechtskonvention lasse sich eine Pflicht zur Einleitung von Schutzmaßnahmen ableiten. Das Übereinkommen überlasse es dem nationalen Gesetzgeber, welche Schutzmaßnahmen zu treffen sind. Gegen die UN-Kinderrechtskonvention habe die Bundesrepublik Deutschland bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde einen Vorbehalt eingelegt ( Kinderrechte). Dieser Vorbehalt besage, daß die Konvention innerstaatlich keine unmittelbare Anwendung finde und sie nicht dahin ausgelegt werden könne, daß sie das Recht beschränkt, ausländerrechtliche Regelungen zu erlassen. Entgegen dieser Rechtsauffassung muß daran festgehalten werden, daß Art. 9 Abs. 1 des Haager Minderjährigenschutzabkommens eine Verpflichtung der bundesdeutschen Behörden zum Tätigwerden und zur Einleitung notwendiger Schutzmaßnahmen konstituiert. Selbst wenn nur von einem vorübergehenden Aufenthalt der Kinderflüchtlinge auszugehen wäre, so greift zumindest die Eilzuständigkeit nach Art. 1 des Haager Minderjährigenschutzabkommens. Bei Kinderflüchtlingen ist jedoch davon auszugehen, daß der Aufenthalt auf längere Dauer hin angelegt ist. Hinsichtlich der Anwendung der Kinderrechtskonvention ist festzuhalten, daß die Bundesrepublik Deutschland das Übereinkommen ohne einen förmlichen Vorbehalt ratifiziert hat. Andere Vorbehalte der Nichtanwendung, die dem Wohl des F L U G H A F E N V E R FA H R E N Kindes widersprechen können, sind nach Sinn und Zweck des Übereinkommens mit diesem unvereinbar und daher unzulässig (Art. 51 Abs. 2 KRK). Nach Art. 22 Abs. 1 der Kinderrechtskonvention haben die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen zu treffen „um sicherzustellen, daß ein Kind, daß die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt (...), angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält, die in diesem Übereinkommen (...) festgelegt sind...“ Genannt werden als Ziel der geforderten staatlichen Handlungen Schutz, Hilfe und Familienzusammenführung. Nach Art. 22 Abs. 2 S. 2 der Konvention ist entwurzelten Kindern derselbe Schutz zu gewähren wie inländischen Kindern, die aus irgendeinem Grund aus der familiären Umgebung herausfallen. Hinsichtlich des asyl- und ausländerrechtlichen Verfahrens ist insbesondere Art. 12 Abs. 2 der Kinderrechtskonvention zu beachten. Demnach muß das Kind Gelegenheit haben, in allen es berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren unmittelbar oder durch einen/eine VertreterIn gehört zu werden. Die oben zitierte Dienstanweisung des Bundesinnenministers regelt einen weiteren Sachverhalt zu Ungunsten von ‘unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen’. Ihnen wird theoretisch ein längerer Aufenthalt als die in §18 a AsylVfG vorgesehene maximale Aufenthaltsdauer im Flughafenbereich zugemutet, indem bei deren Bemessung die Frist bis zur Bestellung einer PflegerIn (soweit erforderlich) außer Acht bleibt. Damit erhöht sich die zulässige Höchstdauer des Flughafenverfahrens, die durch die Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichtes bereits auf 23 Tage ausgedehnt wurde, nochmals um mehrere Tage, die bis zur Bestellung eines/einer PflegerIn vergehen. Wie die Praxis auf dem Frankfurter Flughafen zeigt, ergehen die Einreiseentscheidungen im Regelfall jedoch wesentlich früher. Auch Minderjährige unter 16 Jahren müssen sich allerdings ohne adäquate Betreuung mindestens mehrere Tage, während derer eine Pflegschaft bestellt und das Asylverfahren durchgeführt wird, im Transit aufhalten ( Asylverfahren). Inzwischen hat sich in Frankfurt ein Verfahren nach dem sogenannten ‘Tandemmodell’ herausgebildet. Das Vormundschaftsgericht bestellt in den meisten Fällen zwei Pflegepersonen mit unterschiedlichen Wirkungskreisen, einen/eine RechtsanwältIn für den Wirkungskreis der asyl- und ausländerrechtlichen Vertretung und das örtliche Jugendamt für den Bereich der Unterkunft und Aufenthaltsbestimmung, der medizinischen Versorgung, der wirksamen Vertretung gegenüber Behörden, Schulen, Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern, zur Klärung der sozialen und familiären Verhältnisse, wie sie bislang im zentralisierten Clearingverfahren durchgeführt wurde ( Jugendamt/ASD) sowie für den Wirkungsbereich der Herbeiführung einer Vormundschaft. Dieses im Prinzip sinnvolle arbeitsteilige Modell ermöglicht eine adäquate und dringend notwendige rechtliche Vertretung. Problematisch, insbesondere, soweit 16- bis 18-jährige betroffen sind, ist die Tatsache, daß sich das Jugendamt Frankfurt im Regelfall nicht gefordert sieht, die Minderjährigen zu kontaktieren und zu prüfen, welche Unterstützung nötig ist. Bedienstete des Jugendamtes tauchen im Transitbereich nur höchst selten auf, da man offensichtlich vor dem Hintergrund der asylrechtlichen Handlungsfähigkeit der Jugendlichen keine Lücke für ein eigenes Tätigwerden erkennt. Damit sind die Betroffenen weitgehend der Konfrontation mit dem BGS überlassen. Nach der Zuweisung des Kindes im Rahmen des Quotenverteilungsverfahrens stellt das Jugendamt Frankfurt einen Antrag auf Vormundschaft ( Vormund293 AUFNAHMEBEDINGUNGEN schaft). Im Regelfall wird dann das inzwischen örtlich zuständig gewordene Jugendamt zum Amtsvormund bestellt. Die örtlichen Jugendämter können dann entscheiden, ob sie die vormundschaftlichen Aufgaben in vollem Umfang selbst übernehmen oder den ausländer- und asylrechtlichen Wirkungsbereich weiterhin durch eine anwaltliche Vertretung betreuen lassen. Aus ausländerpolitischen Erwägungen und Kostengründen heraus ist meist leider Ersteres der Fall. Altersfeststellungen im Rahmen des Flughafenverfahrens werden gegenwärtig mit der Methode der ‘Inaugenscheinnahme’ vorgenommen ( Altersfeststellung). Nach Angaben der Bundesregierung (BTDrucksache 13/4861) geschieht dies durch „lebens- und berufserfahrene Polizeivollzugsbeamte“ und ggf. durch Dolmetscher aus dem jeweiligen Heimatstaat der Minderjährigen. Als Kriterien gelten das äussere Erscheinungsbild und der durch Befragung festgestellte Reife- und Wissensstand.“ Zumindest in den Fällen, in denen angeblich zwischen dem vom Minderjährigen genannten Alter und dem ersten Augenschein der Behörden eine erhebliche Diskrepanz besteht, wird das Alter auf diese Weise geschätzt. Mindestens 5 Personen sind an einer solchen Schätzung zu beteiligen. Auf wundersame Weise liegen die gewonnenen Schätzwerte zumeist eng beieinander – bis hin zur völligen Übereinstimmung. Die Bundesregierung ist erklärtermaßen der Ansicht, daß BGS-BeamtInnen die für eine solche Schätzung geeigneten Personen sind. Die Prozedur sei im übrigen Ausdruck des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung. Ergebnis dieser Altersschätzung per Inaugenscheinnahme ist die Festlegung eines fiktiven Geburtsdatums. Über 16-jährige werden wie erwachsene Asylantragstellende behandelt, durchlaufen die Erstaufnahmeeinrichtung, wenn sie den Flughafen verlassen dürfen und kommen auch in das 294 bundesweite Verteilungsverfahren nach § 46 AsylVfG ( Umverteilung). Es bestehen allerdings erhebliche Bedenken gegen die Befähigung von BeamtInnen des Bundesgrenzschutzes, von MitarbeiterInnen der Jugendämter (beteiligt waren im Einzelfall auch bereits Bedienstete des ‘Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge’), qualifizierte Altersschätzungen bei Kindern und Jugendlichen vorzunehmen, insbesondere, wenn die Betroffenen aus nichteuropäischen Herkunftsländern stammen. Die allgemeine Lebenserfahrung genügt hier keinesfalls. Wie groß die Streubreite selbst bei Altersbestimmungen ist, die nach medizinisch objektivierenden Methoden vorgenommen werden, hat die Auseinandersetzung um die Altersbestimmung durch das Röntgen der Handwurzelknochen gezeigt ( Altersbestimmung). Zur Situation auf anderen Flughäfen Der Flughafen München verfügt über keine speziellen Kinderräume. Über die Ankunft ‘unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge’ informiert der BGS das Jugendamt. In der Regel erfolgt eine Weiterleitung an die zuständige Clearingstelle in Hallbergmoos (Träger: Jugendwerk Birkeneck), gelegentlich auch direkt in andere Jugendhilfeeinrichtungen. Zuständig für die vorläufige Inobhutnahme ist das Jugendamt Erding als örtlich zuständiger Träger. 16- bis 18-jährige werden erst nach ihrer Weiterleitung an die Erstaufnahmeeinrichtung München als Minderjährige erfaßt. Das zuständige Vormundschaftsgericht München bestellt dann VormünderInnen. Die für den Frankfurter Flughafen geschilderte Praxis der ‘gesplitteten Pflegschaften’ (mit RechtsanwältInnen für den Wirkungskreis Ausländer- und Asylrecht) ist in Bayern nicht üblich. Die Flughäfen Berlin, Düsseldorf, Hamburg, Berlin-Schönefeld: Hier ist die Zahl UMVERTEILUNG der Ankünfte ‘unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge’ extrem gering, so daß sich keine spezielle Praxis herausgebildet hat. nießen, bekommen die 16- bis 18-jährigen Asylsuchenden auf dem Flughafen bereits jetzt zu spüren. Fazit Literatur Die Einführung der Visumspflicht für Minderjährige aus den Staaten Marokko, Türkei, Tunesien und den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien ab 15. Januar 1997 hat wesentlich dazu beigetragen, daß die Zahl der Minderjährigen, die einen deutschen Flughafen erreichen und ein Schutzbegehren äußern können, drastisch gesunken ist. Insbesondere betroffen hiervon waren kurdische Kinderflüchtlinge, von denen zuvor viele zwar ‘unbegleitet’ eingereist waren, jedoch von Verwandten in Obhut genommen wurden. Die besonderen Härten des Flughafenverfahrens haben in Verbindung mit den relativ geringen Zahlen von Asylantragstellenden auf den Flughäfen (1996: 5,09 %, 1997: 3,03 % aller Asylsuchenden) KritikerInnen daher bewogen, seine Abschaffung zu fordern. Um so mehr gilt die Kritik der unter Gesichtspunkten des Kinderschutzes inakzeptablen Einbeziehung ‘unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge’ in dieses Verfahren. Da es bislang offensichtlich eine Schamgrenze beim Bundesamt, beim Bundesgrenzschutz und bei den Verwaltungsgerichten gibt, die dazu geführt hat, daß sich die Zahl der Zurückweisungen unter 16-jähriger noch in engen Grenzen hält, darf nicht darüber hinweg täuschen, daß der Gesetzgeber bereits jetzt das Verfahren so ausgestaltet hat, daß der Kinderschutz dem Interesse an einem reibungslosen Verfahrensablauf untergeordnet wird. Weitere Verschärfungen in der Praxis bedürfen keiner weiteren Aktivitäten des Gesetzgebers. Welchen Stellenwert Kinderschutz und Kinderrechte im Rahmen des deutschen Ausländerrechts ge- Jockenhövel-Schiecke, Helga: Schutz für unbegleitete Flüchtlingskinder: Rechtsgrundlagen und gegenwärtige Praxis. In: ZAR Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik Nr. 4/1998, S. 165-175 Bernd Mesovic Umverteilung ‚Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge’ ab 16 Jahren, die (noch) nicht in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht sind, werden ebenso wie erwachsene AsylbewerberInnen nach festgelegten Quoten auf die einzelnen Bundesländer verteilt. Dies geschieht mit Hilfe eines Computerprogramms, in dem jugendgerechte Kriterien keine Rolle spielen. Bundesländer, in denen sich viele Kinderflüchtlinge melden (z. B. Hamburg), möchten auch unter 16jährige umverteilen, scheiterten aber bisher damit. Statt dessen wird das Alter vieler neu angekommener Kinderflüchtlinge willkürlich auf über 16 festgesetzt. Widerstand gegen diese Umverteilung ist schwierig, da das Ausländerrecht Vorrang vor dem KJHG und dem Aufenthaltsbestimmungsrecht des/der VormünderIn hat. Folge der rigiden Umverteilungspraxis ist die zunehmende Illegalisierung auch junger Flüchtlinge. 1. Gesetzliche Grundlagen der Umverteilung Laut § 12 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) „ist auch ein Ausländer, der das 16. Lebensjahr vollendet hat“, fähig zur „Vornahme von Verfahrenshandlungen nach 295 AUFNAHMEBEDINGUNGEN diesem Gesetz“, d. h. vor allem zur eigenständigen Asylanstragstellung ( Rechtliche Grundlagen). Er/sie unterliegt damit auch den in §§ 44 – 55 festgelegten Verfahren zur Unterbringung und Verteilung. § 14 AsylVfG schreibt vor: „(1) Der Asylantrag ist bei der Außenstelle des Bundesamtes zu stellen, die der für die Aufnahme des Ausländers zuständigen Aufnahmeeinrichtung zugeordnet ist“. § 14 (2) regelt die Ausnahmen von dieser Vorschrift, darunter auch die für ‚unbegleitete Minderjährige’ geltenden Bestimmungen: „Der Asylantrag ist beim Bundesamt zu stellen, wenn der Ausländer 1. (...) 2. sich in Haft oder sonstigem öffentlichem Gewahrsam, in einem Krankenhaus, einer Heil- und Pflegeanstalt oder in einer Jugendhilfeeinrichtung befindet, oder 3. noch nicht das 16. Lebensjahr vollendet hat und sein gesetzlicher Vertreter nicht verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen.“ Das bedeutet: Unter 16jährige unbegleitete Flüchtlinge, aber auch über 16jährige, die in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht sind, unterliegen nicht dem bundesweiten Verteilverfahren. In den meisten Bundesländern werden neu angekommene Kinderflüchtlinge daher zunächst in einer Clearingstelle (die z. T. nicht unter das KJHG fällt) oder in einer Erstversorgungseinrichtung nach § 42 KJHG in Obhut genommen ( Erstaufnahme). Die Verfügung zur Inobhutnahme wird z. B. in Hamburg durch das Amt für Soziale Dienste (ASD) ( Jugendamt/ASD) erteilt. In den letzten Jahren gab es Auseinandersetzungen darum, zu welchem Zeitpunkt die Inobhutnahme verfügt werden darf: direkt nach der Ankunft eines/einer Minderjährigen oder erst, nachdem sie/er ihren/seinen Aufenthalt bei der Ausländerbehörde legalisiert hat ( Unterbringung)? 296 Hintergrund des Streits ist der oben zitierte § 14(2) AsylVfG: Ein Minderjähriger, der bereits in einer Jugendeinrichtung untergebracht wurde, darf nicht mehr umverteilt werden, auch wenn ihn die Ausländerbehörde für älter als 16 hält ( Alter). Beispielhaft seien hier die Verfahrensweisen in Hamburg dargestellt. Laut Fachlicher Weisung 1/95 „Hilfen für junge Flüchtlinge unter 16 Jahren“ sind Zielgruppe der Jugendhilfe nur junge Flüchtlinge ohne Begleitung von Personensorgeberechtigten, die sich „auf Grund einer Entscheidung der Ausländerbehörde rechtmäßig in Hamburg aufhalten oder geduldet werden“, was so interpretiert wird, daß ‘Neuangekommene’ zuerst zur Ausländerbehörde müssen (und evtl. bereits dort ‘älter gemacht’ werden). Ausnahmen regelt jedoch Ziffer 3.2 Satz 3 der Fachlichen Weisung: „Eine Inobhutnahme ist bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen bis zum Ablauf des übernächsten Werktages auch ohne einen rechtmäßigen Aufenthalt oder eine Duldung möglich, wenn sie nach Dienstschluß der für die Aufenthaltsgestattungen und Duldungen zuständigen Behörde erfolgt.“ Die Erteilung von Verfügungen vor Ausstellung einer Duldung ( Aufenthaltstitel) stieß jedoch in den letzten Monaten auf heftigen Widerstand der Ausländerbehörde und wurde inzwischen weitgehend unterbunden. Relevanz für die Umverteilung einer/eines Minderjährigen sollte eigentlich auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht des gesetzlichen Vormunds nach dem BGB haben. Die herrschende Behörden- und Rechtsprechungspraxis räumt jedoch dem Ausländerrecht Vorrang ein gegenüber den Rechten des Vormunds, d. h. auch eine/ein gesetzlich zugeteilte/r VertreterIn kann die Umverteilung ihres/seines Mündels im Regelfall nicht verhindern. UMVERTEILUNG 2. Technisch-organisatorisches Verfahren der Umverteilung In § 45 AsylVfG sind die Aufnahmequoten (Sollanteil in Prozent der ankommenden Flüchtlinge entsprechend dem Bevölkerungsanteil des jeweiligen Bundeslands) für die einzelnen Bundesländer festgelegt. Die Bestimmung der zuständigen Aufnahmeeinrichtung geschieht nach den Vorschriften von § 46 AsylVfG: „(1) Zuständig für die Aufnahme des Ausländers ist die Aufnahmeeinrichtung, in der er sich gemeldet hat, wenn sie über einen freien Unterbringungsplatz im Rahmen der Quote nach § 45 verfügt und die ihr zugeordnete Außenstelle des Bundesamts Asylanträge aus dem Herkunftsland des Ausländers bearbeitet. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, ist die nach Absatz 2 bestimmte Aufnahmeeinrichtung für die Aufnahme des Ausländers zuständig. (2) Eine vom Bundesministerium des Innern bestimmte zentrale Verteilungsstelle benennt auf Veranlassung einer Aufnahmeeinrichtung dieser die für die Aufnahme des Ausländers zuständige Aufnahmeeinrichtung. Maßgebend dafür sind die Aufnahmequoten nach § 45, in diesem Rahmen die vorhandenen freien Unterbringungsplätze und sodann die Bearbeitungsmöglichkeiten der jeweiligen Außenstelle des Bundesamtes in bezug auf die Herkunftsländer der Ausländer. Von mehreren danach in Betracht kommenden Aufnahmeeinrichtungen wird die nächstgelegene als zuständig benannt.“ Technisch geschieht diese Verteilung über ein Computerprogramm namens EASY (Erstaufnahmesystem). Ein neu angekommener Flüchtling in einem Stadtstaat wie Hamburg, wo die Zahl der Asylsuchenden regelmäßig höher ist als die dem Land zugeteilte Quote, erhält bei der Aufnahmeabteilung der Ausländerbehörde einen Computerausdruck namens BÜMA (Bescheinigung über die Meldung als Asyl- bewerber) mit seinen Daten und der Adresse der Erstaufnahmeeinrichtung des Bundeslands, in das er verteilt wurde. Für Minderjährige, die umverteilt werden, gelten die gleichen Kriterien. Das AsylVfG verteilt lediglich Ehegatten sowie Eltern minderjähriger Kinder, sofern sie gemeinsam ankommen, an denselben Ort. Ein in der Stadt wohnender Onkel oder ein guter Freund des unbegleiteten Minderjährigen spielt keine Rolle, genauso wenig wie das Vorhandensein von Jugendhilfeeinrichtungen oder für aus bestimmten Ländern kommende Menschen wichtige Infrastruktur (z. B. Vereine, Clubs, Läden, Beratungsstellen, spezialisierte RechtsanwältInnen). Um an den Verteil-Ort zu gelangen, müssen Jugendliche sich genauso wie Erwachsene in der Ausländerbehörde eine Fahrkarte abholen, die – im Gegensatz zu der eine Woche bzw. in Hamburg bei denjenigen, die eine ärztliche Altersuntersuchung machen lassen wollen, 10 Tage gültigen BÜMA – nur am selben und an den beiden folgenden Tagen benutzt werden kann. Ein IC- oder gar ICE-Zuschlag wird von der Behörde nicht bezahlt. Das heißt, wenn der Flüchtling kein eigenes Geld hat, muß er versuchen, mit Bummelzügen sein Ziel zu erreichen. Auch unter 18jährige werden bei dieser Reise nicht begleitet. Sie müssen sich selbständig nach einer Zugverbindung erkundigen und allein zu den oft sehr abgelegenen Zentralen Aufnahmestellen (ZASt) in den anderen Bundesländern fahren. Wegbeschreibungen oder Telefonnummern erhalten sie nicht, lediglich die Adresse der ZASt, bei der sie sich melden müssen. Ob sie dort ankommen und was dann mit ihnen geschieht, interessiert die verteilenden Stellen nicht mehr. In einigen Bundesländern kam es vor, daß z.B. von der Hamburger Ausländerbehörde ‘ältergemachte’ Flüchtlinge dort wieder für unter 16 erklärt und zurückgeschickt wurden. 297 AUFNAHMEBEDINGUNGEN Hamburg weigerte sich aber, sie wieder aufzunehmen, und für einige Jugendliche begann eine monatelange Odyssee. In eher seltenen Fällen werden 16- bis 18jährige Flüchtlinge von der ZASt in eine Jugendeinrichtung verteilt, sofern ihnen erzieherischer Bedarf zuerkannt wird. In den meisten Fällen kümmert sich aber niemand darum, das auch nur zu überprüfen, sondern sie werden wie Erwachsene behandelt. Arbeitsmöglichkeiten sowie Möglichkeiten, zur Schule zu gehen. All diese Gründe werden bei der gesetzlich festgelegten Umverteilung in Deutschland ignoriert. Und nicht nur das: Durch die Residenzpflicht sind Asylsuchende verpflichtet, sich in der ihnen zugeteilten Aufnahmeeinrichtung aufzuhalten (§ 47 AsylVfG) und dürfen den Landkreis nicht ohne Erlaubnis verlassen. Das heißt: ihr Recht auf Freizügigkeit ist massiv eingeschränkt, und bei Übertretung machen sie sich strafbar. Dies gilt auch für Minderjährige. 3. Residenzpflicht In Stadtstaaten wie Berlin, Hamburg und Bremen kommen normalerweise mehr Flüchtlinge an als ihrer Quote entspricht. Insbesondere Hamburg beklagt sich darüber, daß sich hier überprortional viele Kinderflüchtlinge melden. Im Jahresdurchschnitt 1996 betrug der Anteil Minderjähriger ca. 28 % aller Asylsuchenden in Hamburg. PolitikerInnen, Behörden und Medien behaupten, wesentlicher Grund dafür sei der Drogenmarkt, auf dem insbesondere junge Flüchtlinge ungestraft kriminellen Aktivitäten nachgingen und deshalb von geldgierigen Schleppern gezielt nach Hamburg geschleust würden. Die wahren Gründe sind jedoch vielfältig: In einer großen Hafenstadt wie Hamburg leben Verwandte und Freunde junger Flüchtlinge und insgesamt Menschen aus vielen Ländern, die zunächst als Anlaufstelle dienen. Es gibt eine Infrastruktur, die eine gewisse Orientierung und evtl. auch eine Zeitlang ein Überleben ohne Papiere möglich macht. Viele Flüchtlinge haben Angst vor der Verteilung aufs Land, in kleine Dörfer ohne Menschen aus anderen Ländern oder in Lager mitten im Wald. Insbesondere Schwarze befürchten rassistische Übergriffe, von denen (auch wenn es nicht generell stimmt) in den östlichen Bundsländern mehr bekannt ist, und wollen deshalb auf keinen Fall dorthin. Eine Großstadt verspricht auch eher 298 4. Umverteilung der unter 16jährigen Flüchtlinge Die Regelung, daß unter 16jährige unbegleitete Flüchtlinge nicht der Verteilung unterliegen, wurde schon 1993 bei den Beratungen des Asylverfahrensgesetzes von einigen Bundesländern, die nach ihrer Ansicht zu sehr durch Minderjährige ‘belastet’ sind, kritisiert. Hamburg unternahm mehrere Vorstöße auf der Innenministerkonferenz und im Bundesrat mit dem Ziel, eine Umverteilung auch der unter 16jähriger durchzusetzen. Die anderen Bundesländer weigerten sich jedoch, überwiegend wohl aus Eigeninteressen: Auch sie wollen sich nicht mehr als unbedingt nötig um Unterbringung und Betreuung junger Flüchtlinge kümmern. Trotzdem hat die Hamburger Rot-GrünRegierung das Ziel der Umverteilung auch unter 16jähriger im Koalitionsvertrag festgeschrieben, verbrämt mit dem ebenso schwammigen wie nichtssagenden Satz, daß Hamburg „dabei Belange des Kindeswohls berücksichtigen“ wird. Solange die anderen Bundesländer sich jedoch weigern, werden andere Methoden angewandt, um Minderjährige umzuverteilen: Schon seit Jahren, verstärkt jedoch seit der grundsätzlichen Zustimmung der Grünen zu dem Verfahren, werden neu angekommene Flüchtlinge, die ihr Alter UMVERTEILUNG als unter 16 angeben, in der Ausländerbehörde durch Inaugenscheinnahme ‘älter gemacht’ ( Altersbestimmung). 5. Umverteilung der Kosten Hauptargument bei der Forderung nach Umverteilung auch unter 16jähriger ist die Kostenbelastung: Minderjährige Flüchtlinge müssen in teuren Einrichtungen der Jugendhilfe untergebracht und betreut werden statt in den üblichen Lagern. Sie haben das Recht oder gar die Pflicht, zur Schule zu gehen ( Schule), und sie können (oder müssen sogar) sonstige Leistungen der Jugendhilfe (z. B. Jugendgerichtshilfe, Kinder- und Jugendnotdienst, Kinder- und Jugendpsychiatrie Dienst) in Anspruch nehmen. In der öffentlichen Diskussion wird jedoch meistens verschwiegen, daß der größte Teil dieser Kosten nach geltendem Recht (insbes. KJHG § 89 d) zwischen den verschiedenen Bundesländern verteilt werden kann. Das heißt: Die Jugendämter einer besonders ‘belasteten’ Stadt können sich die Kosten für einige der von ihnen betreuten Flüchtlinge von einem bestimmten Jugendamt eines anderen Bundeslandes erstatten lassen. Statt dafür funktionierende Verwaltungsverfahren einzurichten, versuchen die Behörden lieber, die Kinderflüchtlinge loszuwerden und argumentieren zeitweilig sogar mit den hohen Kosten für Polizei und Justiz aufgrund der angeblich besonders ausgeprägten Kriminalität der Minderjährigen. 6. Möglichkeiten der Verhinderung einer Umverteilung von Minderjährigen Die rechtlichen Möglichkeiten, die Verteilung über 16jähriger unbegleiteter Flüchtlinge zu verhindern, wurden in den letzten Jahren immer mehr eingeschränkt. In we- nigen Ausnahmefällen gelang es, für einzelne, besonders betreuungsbedürftige oder für kranke Jugendliche eine Inobhutnahme in einer Jugendeinrichtung durchzusetzen, bevor sie durch die Ausländerbehörde umverteilt wurden. Durch den zunehmenden Druck auf den ASD, solche Verfügungen nicht mehr auszustellen, bevor der Jugendliche bei der Ausländerbehörde war, sind solche Fälle inzwischen jedoch äußerst selten. Nach einer über EASY erfolgten Verteilung eine Verfügung zur Inobhutnahme auszustellen, nützt wenig, da die herrschende Argumentation lautet, der/die Betroffene könne ja an dem ihm/ihr zugeteilten Ort um Jugendhilfe nachsuchen. Der zweite Weg ist der über die Beantragung einer Vormundschaft, was entweder durch den Jugendlichen selbst oder über den ASD erfolgen muß ( Vormundschaft). Sollte das Vormundschaftsgericht dem Antrag stattgeben und eine/einen VormünderIn zuteilen, kann dieser versuchen, eine Umverteilung seines Mündels zu verhindern. Die Berufung auf das Aufenthaltsbestimmungsrecht der/des gesetzlichen VertreterIn wurde in den uns bekannten Fällen allerdings von Behörden und Gerichten nicht akzeptiert. Es kann aber vorkommen, daß die Aufnahmeeinrichtung, in die der Jugendliche verteilt wurde, sich mit Verweis auf eine bestehende Vormundschaft weigert, ihn aufzunehmen und an den Wohnort des Vormunds zurückschickt. Erfolgversprechender ist es aber, wenn eine gültige Verfügung zur Inobhutnahme vorliegt – zu den Problemen siehe oben. Ansonsten ist die Umverteilung Minderjähriger in der letzten Zeit zunehmend eine Folge der ‘Altersbestimmungen’ durch Ausländerbehörden und Polizei, und der Widerstand dagegen muß die medizinische, juristische und ethische Unhaltbarkeit dieser Verfahren thematisieren. 299 AUFNAHMEBEDINGUNGEN 7. Unterstützungsmöglichkeiten für umverteilte Minderjährige Auf der individuellen Ebene ist es sehr schwierig, umverteilte Jugendliche zu unterstützen. Viele kommen gar nicht in Kontakt mit Jugendhilfeeinrichtungen oder Beratungsstellen und wissen nichts über ihre Rechte. Selbst wenn BetreuerInnen oder BeraterInnen erfahren, wohin eine/ein Jugendliche/r verteilt wurde, ist es für sie schwierig, ihnen Ratschläge zu geben. Die Bedingungen für jugendliche Flüchtlinge sind in den verschiedenen Bundesländern sehr verschieden. In manchen Orten werden auch die über 16jährigen in Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht. In den meisten Ländern werden sie aber gemeinsam mit Erwachsenen in die ZAST (Zentrale Aufnahmestelle) gesteckt, d. h. in große Lager fast ohne soziale Betreuung. Wichtig wäre ein Informationsaustausch zwischen Flüchtlingsräten und Arbeitskreisen für minderjährige Flüchtlinge der verschiedenen Bundesländer über die jeweiligen Bedingungen, damit Informationen und Hilfestellungen gezielt weitergegeben werden können ( Interessenvertretung). 8. Folgen der zwangsweisen Umverteilung Minderjährige Flüchtlinge, die sich allein oder zusammen mit Gleichaltrigen bis in die Bundesrepublik Deutschland durchgeschlagen haben, haben in den meisten Fällen bereits Erfahrungen damit, sich ohne Papiere und behördliche Erlaubnis fortzubewegen und sich an verschiedenen Orten aufzuhalten. Oft geraten sie dabei an Landsleute oder andere Erwachsene, die ihnen eher fragwürdige Ratschläge geben. Nicht wenige begeben sich, nicht zuletzt aufgrund von fehlender Orientierung, Unkenntnis von Gesetzen und Geldman300 gel, in Abhängigkeiten oder kriminelle Kreise. Wenn ihnen Jugendhilfe verwehrt wird und sie gezwungen werden, sich an andere Orte zu begeben, werden solche Abhängigkeiten eher noch vergrößert. Nur wenige Jugendliche sind bereit und bei weitem nicht alle in der Lage, in einem Lager in einer völlig fremden Gegend, ohne ihre FreundInnen oder Verwandte und ohne soziale Betreuung zu leben. Viele entziehen sich deshalb der Umverteilung und halten sich lieber illegal in verschiedenen Großstädten auf, fahren z. T. auf riskanten Wegen von einer Stadt zur andern, schlafen bei Landsleuten unerlaubt in Asylheimen, in Discos oder auf der Straße. Um zu überleben, fangen einige an, Drogen zu verkaufen, andere versuchen sich durch Diebstahl über Wasser zu halten ( Kriminalität/Kriminalisierung). Ihr Ernährungs- und Gesundheitszustand verschlechtert sich, ganz zu schweigen von ihrer psychischen Situation. ‘Streetworker’, Notunterkünfte und Beratungsstellen gibt es für solche Jugendlichen kaum ( Streetwork). Werden sie ohne gültige Papiere erwischt, werden sie bestenfalls in das ihnen zugeteilte Lager zurückgeschickt, schlimmstenfalls landen sie im Gefängnis oder in Abschiebehaft ( Illegalität). Die Institutionen der Jugendhilfe schließen die Augen und leugnen ihre Verantwortung für diese Jugendlichen – sie sind ja umverteilt! Wenn niemand etwas entgegensetzt, wird sich diese Situation in der nächsten Zeit wohl noch zuspitzen und genau das zur Folge haben, was Politiker und Behörden als Begründung für die Umverteilung anführen: eine zunehmende Zahl illegalisierter, verwahrloster und in kriminelle Kreise abrutschender Jugendlicher insbesondere in den Großstädten. PERSPEKTIVEN Literatur Deutsches Ausländerrecht, 12., völlig neubearbeitete Auflage, Stand: 1. November 1997 (Beck-Texte im dtv) Grenz, Conni: Minderjährige Flüchtlinge – Verwahrung statt Pädagogik, in: off limits – Antirassistische Zeitschrift Nr. 17, Februar/März 1997, S. 11-13 Grenz, Conni: Minderjährige Flüchtlinge – Behördliche Altersfeststeller produzieren Kriminelle, in: off limits – Antirassistische Zeitschrift Nr. 21, Februar/ März 1998, S. 18-21 Münder, Johannes u.a.: Frankfurter Lehr- und Praxiskommentar zum KJHG, 3. Auflage, Münster 1998 Cornelia Gunßer Perspektiven Seit 20 Jahren suchen Kinderflüchtlinge aus Kriegs- und Krisenländern Schutz in der Bundesrepublik. Nach internationaler Definition sind es Minderjährige unter 18 Jahren, die ohne ihre Eltern oder Personensorgeberechtigten ihr Herkunftsland verlassen, um Zuflucht in einem anderen Land zu finden. In der Bundesrepublik ist diese Definition seit 1993 – unter Zugrundelegung von § 12 Abs. 1 AsylVfG, nach dem Minderjährige ab 16 Jahren ihren Asylantrag selbst stellen – auf diejenigen Kinder eingeschränkt, die bei der Einreise noch keine 16 Jahre alt sind. In den 90er Jahren kamen jedes Jahr mehrere Tausend unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in die Bundesrepublik (Jockenhövel-Schiecke 1998, S. 166). Gleichzeitig verschlechterte sich im Zufluchtsland fortlaufend die Situation für die Kinder, und zwar in beiden für sie relevanten Rechtsbereichen, der Kinder- und Jugendhilfe und dem Ausländer- und Asylrecht, so daß 1999 die Frage nach den ‘Perspektiven’ unbegleiteter Flüchtlingskinder beinahe zynisch klingt, wenn wir ‘Perspektiven’ verstehen als Zukunftsaussichten, die auch vom Kind individuell beeinflußbar sind. An dieser Stelle kann allerdings für Tausende von Jungen und Mädchen unterschiedlichen Alters, aus mehr als 50 Her- kunftsländern mit jeweils individueller Familiengeschichte und Flucht- und Verlusterlebnissen, nur eine verallgemeinernde Darstellung ihrer ‘Perspektiven’ gegeben werden. 1. Jugendliche Flüchtlinge zwischen 16 und 18 Jahren Jugendliche Flüchtlinge von 16 bis 18 Jahren werden wie Erwachsene behandelt, auf der Rechtsgrundlage des Art. 12 Abs. 1 AsylVfG, der ihnen eine eigene Handlungsfähigkeit im Asylverfahren gibt. Sie erhalten keinen jugendgemäßen Schutz entsprechend dem Haager Minderjährigen Schutzabkommen und dem Kinderund Jugendhilferecht, obwohl dieser in beiden für alle Minderjährige bis zur Erreichung der Volljährigkeit mit 18 Jahren vorgesehen ist. Jugendliche Flüchtlinge können bundesweit verteilt werden (§ 46 Abs. 2 AsylVfG), sie erhalten in der Regel keinen Vormund – was auf Antrag möglich wäre – und werden in den Aufnahmeeinrichtungen der Länder (§ 47 AsylVfG) und anschließend in Sammelunterkünften untergebracht, ohne eine jugendgerechte Betreuung. Ausnahmen werden für Mädchen im Alter von 16 bis 18 Jahren in Rheinland-Pfalz und in Thüringen gemacht, wo sie regelmäßig in einer Jugendhilfeeinrichtung in Obhut genommen werden (§ 42 KJHG). Jugendliche Flüchtlinge erhalten Unterhalt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ( Asylbewerberleistungsgesetz). Von ihrem Taschengeld können sie meist keinen Rechtsanwalt für eine Klage beim Verwaltungsgericht bezahlen, sondern müssen auf Unterstützung durch Verwandte in der Bundesrepublik hoffen. Ist ein/e Jugendliche/r rechtskräftig im Asylverfahren abgelehnt, wird er/sie eine Ausreiseaufforderung erhalten und bei Nichtbefolgung abgeschoben werden, oft ohne eine jugendgemäße Abklärung der Rückkehr in das Herkunftsland, die bis zur Volljährigkeit not301 AUFNAHMEBEDINGUNGEN wendig wäre (Entschließung des Rates der EU, Art. 1 u. Art. 5). Eine Perspektive müssen abgeschobene Jugendliche dann wieder in ihrem Herkunftsland suchen. In eine ganze Reihe von Herkunftsländern sind Abschiebungen nicht möglich, weil Krieg und Bürgerkrieg im Herkunftsland herrschen, es keine Verkehrsverbindungen nach dort gibt, oder die Botschaft sich weigert, Reisepapiere für die RückkehrerInnen auszustellen. Diese Flüchtlinge erhalten eine Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG, also nur die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung. Sie können nach einer Wartefrist, die gegenwärtig fünf Jahre beträgt (§ 285 Abs. 4 SGB III), versuchen, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten und einen Arbeitsplatz zu finden. Anzumerken ist hier, daß sich die Zahl der jugendlichen Flüchtlinge in Sammelunterkünften dadurch erhöht, daß bei Erreichen des 16. Lebensjahres in vielen Kommunen kein Erziehungsbedarf mehr gesehen wird und die Unterbringung in der Jugendhilfe mit dieser Begründung – häufig aber aus Kostengründen – abgebrochen wird. Anzumerken ist auch, daß jugendliche Flüchtlinge im Falle ihrer Anerkennung nach deutschem Personalstatut behandelt werden und damit Rechte und Perspektiven wie deutsche Jugendliche erhalten, was aber nur selten der Fall ist. 2. Kinderflüchtlinge unter 16 Jahren Für Kinderflüchtlinge unter 16 Jahren sind die gesetzlichen Regelungen zweier Rechtsbereiche relevant. Der erste basiert auf dem Haager Minderjährigen Schutzabkommen (MSA), er umfaßt das Kinderund Jugendhilferecht (KJHG) und das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), letzteres für die Interessensvertretung eines Kindes. Diese Regelungen werden jedoch nur angewandt, wenn die Kinder bei der Einreise jünger als 16 Jahre sind und entfalten ihre 302 rechtliche Wirkung unmittelbar nach Ankunft eines Kindes, wenn es in Obhut genommen wird (§ 42 KJHG) und ein Antrag auf Vormundschaft zu stellen ist (§ 1773 ff BGB). Der zweite Rechtsbereich setzt sich zusammen aus dem Ausländergesetz (AuslG) und dem Asylverfahrensgesetz (AsylVfG), der Entscheidungspraxis des Bundesamtes und der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte. In diesem Rechtsbereich wird später geprüft, ob ein Kind einen aufenthaltsrechtlichen Schutz erhalten kann, nachdem der gesetzliche Vertreter einen entsprechenden Antrag für sein Mündel gestellt hat (§ 14 Abs. 2 S. 2 + 3 AsylVfG; § 68 Abs. 4 AuslG). 3. Unterbringung und Erziehung in der Jugendhilfe Die Perspektiven, die ein Kinderflüchtling in der Bundesrepublik hat, basieren auf dem Schutz und der Erziehung, die es im Rahmen der Jugendhilfe erhält sowie insbesondere auf dem Ergebnis der aufenthaltsrechtlichen Anträge des Vormundes. Eine dem Kindeswohl entsprechende Erziehung beginnt für Kinderflüchtlinge mit der Inobhutnahme (§ 42 KHJG) in einer Jugendhilfeeinrichtung. Während der Inobhutnahme wird der Clearingprozeß durchgeführt, in dem die Fluchtgründe, entsprechende ausländer- und asylrechtliche Anträge, der Erziehungsbedarf und die weitere Unterbringung in der Jugendhilfe abgeklärt werden. Grundsätzlich definiert sich der Erziehungsbedarf bei Kinderflüchtlingen durch ihren Wechsel aus der Herkunftskultur in das kulturelle Wertesystem des Exillandes. Die mittel- und längerfristige Unterbringung wird in einer Jugendhilfeeinrichtung vorgenommen (§ 34 KJHG), in der das Kind eine seinem Erziehungsbedarf angemessene Erziehung erhält, die halbjährig unter Mitwirkung des Kindes, des Vormundes und der ErzieherInnen in der Hilfeplanung, fort- PERSPEKTIVEN geschrieben wird (§ 36 KJHG; Hilfeplanung). Für Kinderflüchtlinge beginnt die Orientierung auf die deutsche Sprache und hier übliche Verhaltensweisen während der Inobhutnahme. Die Erziehung in der Jugendhilfeeinrichtung knüpft daran an und vermittelt weitere Inhalte für die Orientierung und eine Integration, insbesondere mit dem Schulbesuch und der Förderung deutscher Sprachkenntnisse. Gleichzeitig ist der Erhalt der Muttersprache und der Herkunftskultur das zweite wichtige Erziehungsziel, das durch die Unterbringung mehrerer Kinder aus dem gleichen Herkunftsland in einer Jugendhilfeeinrichtung erreicht werden kann (Jockenhövel-Schiecke 1997, S. 404 ff). Rechtsgrundlagen für die Bewahrung der Muttersprache und der Herkunftsidentität sind in der Kinderrechtskonvention (Art. 8 Abs. 1) und dem KJHG (§ 9 S. 2) vorgegeben. Die Hilfe zur Erziehung und die Unterbringung der Kinderflüchtlinge sind rechtlich im Kinder- und Jugendhilfegesetz begründet, das bis zur Volljährigkeit gilt und darüber hinaus bis zum Alter von 27 Jahren, wenn Jugendliche noch eine weitere Unterstützung in ihrem Verselbständigungsprozeß benötigen (§ 41 KJHG). Die Herausnahme eines Kinderflüchtlings aus der Jugendhilfe bei Erreichen des 16. Lebensjahres ist im KJHG nicht vorgesehen und die Begründung mit der ab dem 16. Lebensjahr beginnenden Handlungsfähigkeit im Asylverfahren (§ 12 AsylVfG) ist weder rechtlich noch tatsächlich gerechtfertigt. 4. Bleiben oder Rückkehr? Die entscheidende Frage im Hinblick auf die Perspektiven eines Kinderflüchtlings ist die Klärung seines ausländerrechtlichen Status. Dies ist die dringlichste Aufgabe des Vormundes, wofür er den aus- länderrechtlichen Antrag oder den Asylantrag mit den Fluchtgründen des Kindes, der politischen Situation im Herkunftsland und dem Kindeswohl abstimmt. In der Bundesrepublik wird eine Anerkennung als Asylberechtigter nur dann ausgesprochen, wenn der Flüchtling seine direkte politische Verfolgung durch die Organe des Staates glaubhaft machen kann. Erfahrungsgemäß erfolgt eine Anerkennung der Fluchtgründe der Kinder bzw. der Gründe, die die Eltern hatten, ihre Kinder auf die Flucht zu schicken, in ganz seltenen Fällen. Gleiches gilt für die Feststellung von Abschiebehindernissen nach § 51 AuslG, die ebenfalls eine politische Verfolgung voraussetzt. Eine Anerkennung als Asylberechtigter aufgrund Art. 16 a GG oder das sog. ’kleine Asyl’ aufgrund § 51 AuslG würden ein eindeutiges Bleiberecht zur Folge haben und dem Kinderflüchtling klare Perspektiven eröffnen. 4.1 Zuflucht auf Widerruf (§ 53 Abs. 6, S. 1 AuslG) Bei der Asylantragstellung werden vom Bundesamt auch Abschiebehindernisse nach § 53 AuslG geprüft. Bei der Feststellung von Abschiebehindernissen nach § 53 AuslG muß es sich um konkrete Gefahren im Zielland handeln, die einem Kinderflüchtling bei Rückkehr drohen. Nach § 53 Abs. 4 können sich diese aus den in der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützten Menschenrechten ergeben, so eine drohende Folter und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (Art. 3 EMRK). Bei schweren Krankheiten und fehlenden Therapiemöglichkeiten im Herkunftsland, z. B. bei Niereninsuffizienz oder Aids, können ebenfalls Abschiebehindernisse nach § 53 Abs. 4 AuslG in Verbindung mit Art. 3 EMRK festgestellt werden (vgl. Jockenhövel-Schiekke 1998, S. 165 ff). 303 AUFNAHMEBEDINGUNGEN Die häufigste Feststellung von Abschiebehindernissen bei Kinderflüchtlingen basiert auf § 53 Abs. 6, S. 1 AuslG, wonach niemand in einen Staat abgeschoben werden darf, wenn dort für ihn „eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit“ besteht. Für alleinstehende junge Flüchtlinge besteht diese erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit immer dann, wenn das Kind bei seiner Rückkehr ohne Betreuung im Herkunftsland wäre, weil die Eltern tot, inhaftiert oder unbekannten Aufenthaltes sind und es dort keine weiteren Verwandten gibt, die die Betreuung des Kindes übernehmen könnten. Wenn die Unterbringung des Kindes in einem Kinderheim im Herkunftsland auch nicht möglich ist, weil es Kinderheime entweder nicht gibt oder dort keine altersgemäße oder menschenwürdige Betreuung angeboten wird, sind Abschiebehindernisse nach § 53 Abs. 6, S. 1 AuslG festzustellen. Darüber hinaus muß die konkrete Unterbringung im Herkunftsland vor Rückkehr des Kindes abgeklärt werden, und zwar für Minderjährige bis zum 18. Lebensjahr, wie in der Entschließung des Rates der Europäischen Union im Juni 1997 festgelegt wurde. Erfolgt eine Anerkennung von Abschiebehindernissen, weil keine Betreuung im Herkunftsland für das Kind gewährleistet ist, gilt dies als Abschiebehindernis bis zum Erreichen der Volljährigkeit, denn für den jungen Erwachsenen ist eine Betreuung nicht mehr notwendig. Die Feststellung von Abschiebehindernissen nach § 53 Abs. 6, S. 1 AuslG ist also lediglich eine Zuflucht auf Widerruf, für die darüber hinaus nur eine Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG erteilt wird. Für den Asylantrag bedeutet dies, daß auch Angaben zur Familiensituation zu geben sind, wenn diese als Abschiebehindernisse wegen mangelnder Betreuung bei Rückkehr gewertet werden können. Darüber hinaus ist bei Vorhandensein solcher Gründe für ein Abschiebehindernis 304 die Überprüfung einer negativen Entscheidung des Bundesamtes durch ein Verwaltungsgericht anzuraten. 4.2. Vorübergehendes Bleiben und Angst vor Abschiebung (§ 55 Abs. 2 AuslG) Die weitaus meisten Kinderflüchtlinge erhalten nach rechtskräftiger Ablehnung ihres Asylverfahrens lediglich eine Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG, also nur die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung ( Aufenthaltstitel). Eine Duldung wird immer dann erteilt, wenn die Abschiebung (noch) nicht vollzogen werden kann, sie ist eine vorübergehende Möglichkeit des Bleibens, die dem Kind jederzeit entzogen werden kann. Die Folge sind große Ängste und Unsicherheiten bei den Kinderflüchtlingen, mit allen vorstellbaren Folgen, wie Konzentrationsschwierigkeiten beim Lernen und häufige Bauch- oder Kopfschmerzen. Auch für die PädagogInnen ist das Ziel ihrer Erziehung und die mögliche Perspektive des Kindes unklar und bestimmt von der Frage „Wie lange wird das Kind bleiben können?“. Gerade für Kinder, die aufgrund der Situation in ihrem Herkunftsland mitteloder längerfristig bleiben werden, ist eine rasche Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 AuslG zu fordern oder wenigstens längerfristige Duldungen, damit die Kinder zumindest eine zeitlich begrenzte Perspektive entwickeln können. 4.3. Rückkehr Die Perspektive einer Rückkehr ergibt sich für Kinderflüchtlinge, wenn alle Anträge zur Erlangung eines Bleiberechtes rechtskräftig abgelehnt sind und die Duldung abläuft. Voraussetzung für eine Rückkehr ist, daß das Herkunftsland politisch sicher und ohne Krieg oder Bürgerkrieg ist. Vor der Rückkehr ist für jeden unbegleiteten Minderjährigen die Be- ABSCHIEBUNG treuung im Herkunftsland abzuklären. Dies kann durch Kontaktaufnahme zu den Personensorgeberechtigten oder anderen Verwandten geschehen, sofern das Kind diese noch im Herkunftsland hat und sich an deren Adressen erinnert. Gibt es keine aktuelle Adresse der Eltern und der Verwandten, so wird der Vormund eine Suche nach den Angehörigen über den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes in München einleiten. Ist die Adresse von Angehörigen bekannt, kann die Abklärung der Betreuung des Minderjährigen bei diesen Verwandten über den Internationalen Sozialdienst in Frankfurt erfolgen, der einen Sozialbericht über die Lebensverhältnisse und die Aufnahmebereitschaft der Verwandten von seinen Korrespondenten in den Herkunftsländern beschafft. Gibt es keine Verwandten mehr im Herkunftsland, kann versucht werden, die Betreuung des Kindes in einem Kinderheim im Herkunftsland abzuklären, vorausgesetzt es gibt dort Kinderheime. Ist eine freiwillige Rückkehr auf die geschilderte Weise in der vorgegebenen Ausreisefrist nicht abzuklären, sind für die dann fällige Abschiebung bei unbegleiteten Minderjährigen jedoch die gleichen Voraussetzungen zu erfüllen, d. h. die Betreuung im Herkunftsland muß auch bei einer Abschiebung vorher sichergestellt werden, wie dies in der Entschließung des Rates der EU festgeschrieben ist (Art. 5). Literatur Entschließung des Rates der EU v. 26. Juni 1997 betr. unbegl. minderj. Staatsangehörige dritter Länder (97/C 201/03). In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft Nr. C 221/23 v. 19.07.1997 Jockenhövel-Schiecke, Helga: Migranten- und Flüchtlingskinder in Einrichtungen der Jugendhilfe. Entwicklungen, Erfahrungen, aktuelle Fragen. In: Zentralblatt für Jugendrecht, Nr. 11, 1997, S. 404-415 Jockenhövel-Schiecke, Helga: Schutz für unbegleitete Flüchtlingskinder: Rechtsgrundlagen und gegenwärtige Praxis. In: Zeitschrift für Ausländerrecht u. Ausländerpolitik, Nr. 4, 1998, S. 165-175 Helga Jockenhövel-Schiecke Abschiebung Paragraph 49 des Ausländergesetzes (AuslG) bestimmt, daß ein ausreisepflichtiger Ausländer abzuschieben ist, wenn, wie es heißt, die Ausreisepflicht vollziehbar, die freiwillige Ausreise nicht gesichert oder die Überwachung der Ausreise aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich erscheint. Diese Formulierung macht deutlich, daß sich das Gebot der Abschiebung an die Ausländerbehörde richtet: Sie hat gegebenenfalls die Ausreisepflicht zwangsweise durchzusetzen. Damit ist bereits aufgezeigt, worin die wesentliche Aufgabe sozialer Betreuung von Kinderflüchtlingen liegt: in der Verhinderung einer Abschiebung. 1. Verhinderung der Abschiebung Dieses Ziel kann dadurch erreicht werden, daß entweder ein Bleiberecht erreicht wird, oder, falls dies nicht möglich ist und eine Ausreise unausweichlich erscheint, eine freiwillige Ausreise unter kindgerechten Bedingungen sichergestellt wird. Dies kann entweder dadurch geschehen, daß die BetreuerInnen die Ausreise selbst organisieren oder, soweit dies nicht möglich ist, versuchen, in Kooperation mit der Ausländerbehörde auf eine solche freiwillige Ausreise hinzuwirken ( Kommunale Behörden). Zu beachten ist nämlich, daß eine freiwillige Ausreise stets Vorrang gegenüber einer Abschiebung hat. Dies gilt auch dann, wenn die freiwillige Ausreise nicht selbst organisiert werden kann, sei es, weil die Mittel 305 AUFNAHMEBEDINGUNGEN dazu fehlen, sei es, weil die/der Betroffene hierzu nicht imstande ist (etwa aufgrund des Alters). 2. Juristisches zur Abschiebung Eine Abschiebung setzt eine vollziehbare Ausreisepflicht voraus. Nach § 42 Abs. 1 AuslG ist ein/e AusländerIn zur Ausreise verpflichtet, wenn er/sie eine erforderliche Aufenthaltsgenehmigung nicht oder nicht mehr besitzt. Einer Aufenthaltsgenehmigung ( Aufenthaltstitel) steht eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asylverfahrensgesetz gemäß § 55 AsylVfG gleich. 2.1 Die Ausreisepflicht ist vollziehbar, wenn der/die AusländerIn unerlaubt eingereist ist (§ 42 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AuslG) und kein Aufenthaltsrecht (z.B. durch die Stellung eines Asylantrages) erworben oder den Erstantrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung oder den Verlängerungsantrag nicht oder verspätet gestellt hat (§ 42 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und 3 AuslG) bzw., was der Regelfall ist, der Verwaltungsakt, durch den der/die AusländerIn ausreisepflichtig wird, vollziehbar ist (§ 42 Abs. 2 S. 2 AuslG). Für Kinderflüchtlinge wird meist ein Asylantrag gestellt, so daß die Ausreisepflicht durch die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung, die das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge im negativen Fall erläßt, begründet wird. Lehnt das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ( Bundesbehörden) das Asylbegehren als ‘unbeachtlich’, ‘offensichtlich unzulässig’ oder als ‘offensichtlich unbegründet’ ab, beträgt die Ausreisefrist eine Woche ab Zustellung der Bundesamtsentscheidung. In diesem Falle ist die Vollziehbarkeit nach Ablauf der Wochenfrist gegeben. Wird innerhalb dieser Wochenfrist jedoch eine Klage und ein erforderli306 cher Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gestellt, wird die Vollziehbarkeit bis zur gerichtlichen Entscheidung über den Eilantrag hinausgeschoben. Im Falle einer negativen Entscheidung ist die Ausreiseverpflichtung mit der Verkündung dieser Entscheidung vollziehbar (weil die gesetzte Ausreisefrist von einer Woche in diesem Fall bereits abgelaufen sein wird). Wird dem Antrag hingegen stattgegeben, ist der Sofortvollzug beseitigt; die Ausreisefrist endet erst einen Monat nach dem unanfechtbaren (negativen) Abschluß des Asylverfahrens (vgl. § 37 AsylVfG). Im Normalfall einer (einfach-) ‘unbegründet’-Entscheidung entsteht die Vollziehbarkeit mit dem Ablauf der gesetzten Ausreisefrist. Die Ausreisefrist von regelmäßig einem Monat beginnt mit der Rechtskraft der Entscheidung, d. h. wenn keine Klage gegen den Bundesamtsbescheid eingereicht wird, sechs Wochen nach der Zustellung des Bundesamtsbescheides oder, wenn Rechtsmittel ergriffen werden, einen Monat ab der Rechtskraft der letzten (negativen) gerichtlichen Entscheidung. Das Ganze erscheint komplizierter, als es ist. Eine sorgfältige Lektüre der Rechtsbehelfsbelehrung ist zu empfehlen, damit die unterschiedlichen Fristen beachtet werden. Diese sind unbedingt einzuhalten! Ist ein Asylantrag nicht gestellt, wird für Kinderflüchtlinge meist eine Aufenthaltsbefugnis oder eine Duldung beantragt. Es entspricht verbreiteter Praxis, diesen Antrag förmlich zu verbescheiden und eine Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung zu erlassen. Zu beachten ist jedoch, daß Widerspruch und Klage keine aufschiebende Wirkung haben (§§ 71 Abs. 3, 72 Abs. 1 AuslG), so daß auch hier ein gerichtlicher Eilantrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO erforderlich ist, damit die Vollziehbarkeit bis zu dieser gerichtlichen Entscheidung hinausgescho- ABSCHIEBUNG ben wird. Eine gesetzliche Frist für den Eilantrag gibt es in diesem Falle nicht. Wenn eine Abschiebung konkret noch nicht im Raum steht, etwa, weil erst noch Papiere zu beschaffen sind und dies noch längere Zeit in Anspruch nimmt, ist ein solcher Antrag nicht nur entbehrlich, sondern sogar unzulässig. Ihm fehlt zu diesem Zeitpunkt das Rechtsschutzbedürfnis, weil ja eine Abschiebung noch nicht droht. Sind jedoch Dokumente vorhanden oder können die Dokumente aus dem Heimatstaat erfahrungsgemäß innerhalb kürzester Zeit beschafft werden, muß ein solcher Antrag umgehend gestellt werden, damit nicht durch eine Abschiebung vollendete Tatsachen geschaffen werden. Zu beachten ist, daß in vielen Fällen keine Verpflichtung der Ausländerbehörde existiert, den Antrag auf Duldung oder Aufenthaltsbefugnis förmlich zu verbescheiden. Im Falle einer illegalen Einreise – und dies ist bei Kinderflüchtlingen die Regel – ist nämlich die Ausreiseverpflichtung kraft Gesetzes vollziehbar, wenn ein Asylantrag nicht gestellt wird oder ein sonstiges Aufenthaltsrecht nicht besteht. Trotz der Beantragung einer Duldung oder einer Aufenthaltsbefugnis kann die Ausländerbehörde also eine Abschiebung vornehmen, ohne daß sie verpflichtet wäre, eine Abschiebungsandrohung zu erlassen. Um vor unliebsamen Überraschungen geschützt zu sein, muß dies, vor allem bei nicht-kooperativen Ausländerbehörden, stets bedacht werden. Wird ein Asylantrag nicht gestellt, sollten die BetreuerInnen in Kontakt zur Ausländerbehörde treten, um deren Absichten zu erfahren. Plant sie eine Abschiebung, kann eine einstweilige Anordnung gemäß § 123 VwGO auf Unterlassung der Abschiebung beim Verwaltungsgericht beantragt werden. Dies setzt voraus, daß entweder Abschiebungshindernisse im Sinne von § 53 AuslG oder Duldungsgründe im Sinne von § 55 AuslG vorliegen. Wenn kein Asylantrag gestellt wird, muß die Ausländerbehörde beides prüfen. Sie darf hinsichtlich der Prüfung von Abschiebungshindernissen nicht auf das Bundesamt verweisen. In diesem Eilantrag müssen dann die Abschiebungshindernisse oder Duldungsgründe dargelegt und soweit wie möglich glaubhaft gemacht werden. 2.2 Eine Abschiebung setzt weiter voraus, daß 1. die freiwillige Erfüllung der Ausreisepflicht nicht gesichert ist oder 2. eine Überwachung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich erscheint. 2.2.1 Ob dies der Fall ist, ist eine Frage des Einzelfalles. Die Berufung des ‘unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings’ auf Asylgründe oder Abschiebungshindernisse rechtfertigt einen solchen Schluß noch nicht, wohl aber die Erklärung, nicht freiwillig auszureisen oder die Weigerung, erforderliche Mitwirkungshandlungen (z. B. Reisedokumente zu beschaffen, Botschaften) vorzunehmen. In der Praxis verlangt dies oft ein Lavieren, da nicht der Eindruck erweckt werden darf, als sei man nicht kooperativ und sperre sich einer Rückkehr, andererseits aber unter Umständen im Sinne des Kindeswohles noch Abklärungen erforderlich sind, die Zurückhaltung verlangen. Da die Rückkehr in jedem Fall kindgerecht gestaltet und vorbereitet sein muß, sollte eine offensive Strategie verfolgt und die Abklärung wichtiger Fragen verlangt werden, etwa: Wer soll das Kind in Empfang nehmen? Wo soll es dort leben? Gibt es Verwandte, sind sie verständigt? Ist eine erforderliche Betreuung/Behandlung sichergestellt? Wenn verlangte Mitwirkungshandlungen an derartige Forderungen gekoppelt sind, kann den VormünderInnen/BetreuerInnen nicht vorgewor307 AUFNAHMEBEDINGUNGEN fen werden, das Kind verweigere sich einer freiwilligen Rückkehr. 2.2.2 Überwachungsbedürftig ist eine Ausreise vor allem dann, wenn sich der/ die AusländerIn in Haft oder sonstigem öffentlichen Gewahrsam befindet, innerhalb einer Ausreisefrist nicht ausgereist ist, nach § 47 AuslG (Regel- oder Ist-Ausweisung) ausgewiesen wurde, mittellos ist, keinen Paß besitzt oder gegenüber der Ausländerbehörde Angaben verweigert oder unrichtige Angaben gemacht hat sowie sonst zu erkennen gegeben hat, daß er seiner Ausreisepflicht nicht nachkommen wird (§ 49 Abs. 2 AuslG). Da Kinderflüchtlinge meist mittellos sind, müßte nach dem Wortlaut die Abschiebung die Regel sein. Dies entspricht jedoch nicht der Praxis. Das eröffnete ausländerrechtliche Ermessen wird (bis auf die Fälle der Haft) von den Behörden (trotz Mittellosigkeit) meist dahingehend gebraucht, daß bei kooperativem Verhalten des Vormundes die freiwillige Ausreise ermöglicht wird. 2.3 Auch wenn die formellen Voraussetzungen einer Abschiebung gegeben sind, ist weitere Voraussetzung, daß weder Abschiebungshindernisse noch Duldungsgründe vorliegen. Die wesentlichen Abschiebungshindernisse sind in § 53 AuslG geregelt. Für Kinderflüchtlinge relevant sind vor allem das Abschiebungshindernis gemäß § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK (Verbot einer unmenschlichen Behandlung) und § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG. Nach der Rechtsprechung greift § 53 Abs. 4 AuslG dann ein, wenn die Gefahr vom Staat oder staatsähnlichen Organisationen ausgeht, während § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG keine Staatlichkeit der Verfolgung verlangt. Auch eine rein private Verfolgung stellt dann ein Abschiebungshindernis im Sinne von § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG dar, wenn es sich um eine extreme 308 Gefahrenlage handelt und durch staatliche Organe kein ausreichender Schutz erlangt werden kann. Insbesondere bei Bürgerkriegssituationen ist dies zu bejahen. Aber auch grassierende Krankheiten oder andere schwerwiegende Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit, z. B. Zwangsbeschneidungen, können Abschiebungshindernisse in diesem Sinne darstellen. Wenn ein ‘unbegleiteter minderjähriger Flüchtling’ in seiner Heimat keine Familienangehörigen mehr hat und eine ausreichende staatliche Versorgung und Betreuung nicht existiert, ihm also ein Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums droht, ihn vielleicht das Schicksal eines Straßenkindes erwartet, kann ebenfalls ein Abschiebungshindernis im Sinne von § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG zu bejahen sein. Das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses muß von den Kinderflüchtlingen selbst geltend gemacht werden. Ist ein Asylantrag gestellt, hat das Bundesamt hierüber mitzubefinden. Wird jedoch ein Asylantrag nicht gestellt, ist die Ausländerbehörde auch zur Prüfung dieser zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisse verpflichtet. Neben § 53 AuslG können sich – wenn auch nur im Ausnahmefall – Abschiebungshindernisse auch unmittelbar aus der Verfassung (z. B. Gebot der Achtung der Menschenwürde: Art. 1, 2 Abs. 1 GG oder Schutz der Ehe und Familie: Art. 6 GG) oder aus internationalen Regelungen ergeben (insbesondere aus der Europäischen Menschenrechtskonvention). Die Konvention der Vereinten Nationen für die Rechte des Kindes hingegen soll nach der überwiegenden Meinung der Rechtsprechung wegen des deutschen Vorbehaltes keine unmittelbaren Abschiebungshindernisse begründen. Dies ist jedoch strittig, so daß eine Berufung auf die Kinderrechtskonvention durchaus sinnvoll ist ( Kinderflüchtlinge). Darüber hinaus hat die Kinderrechtskonvention jedenfalls Gewicht bei der Auslegung der ABSCHIEBUNG nationalen Regelungen ( Kinderrechte). Von diesen ‘zielstaatsbezogenen’ Abschiebungshindernissen zu unterscheiden sind ‘inlandsbezogene’ Abschiebungshindernisse, die als Duldungsgründe im Sinne von § 55 AuslG eine Abschiebung verhindern können. Dies sind z. B. eine akute Erkrankung, die zu einer Reiseunfähigkeit führt oder die Fortsetzung einer angefangenen Behandlung verlangt, familiäre Beziehungen in der BR Deutschland, die nicht unterbrochen werden dürfen oder sonstige schwerwiegende Umstände, die in der BRDeutschland auftreten. Diese inlandsbezogenen Duldungsgründe sind stets von den Ausländerbehörden zu beachten. 2.4 Technisch unterscheidet sich eine Abschiebung nicht notwendig von einer freiwilligen Ausreise. Der betroffene Flüchtling kann zu einem bestimmten Termin zum Ausländeramt oder Flughafen bestellt werden, damit er/sie abgeschoben werde. Denkbar ist aber auch die kurzfristige Ingewahrsamnahme oder die vorherige Anordnung der Abschiebungshaft. Wenn keine polizeiliche Begleitung angeordnet ist (etwa bei Suizidgefahr oder Fremdgefährdung) erfolgt die Abschiebung durch die Übergabe an die Behörden des Nachbarlandes (bei der Landabschiebung) oder dadurch, daß der Flüchtling in das Flugzeug gesetzt wird. 2.5 Die entscheidende juristische Wirkung der Abschiebung besteht darin, daß damit ein Betretensverbot und das Verbot der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung für die BRDeutschland verbunden ist (§ 8 Abs. 2 AuslG). Das Betretensverbot gilt im Falle einer Abschiebung zunächst unbefristet. Auf Antrag kann und muß diese Wirkung befristet werden. Die Dauer der Frist richtet sich nach dem Einzelfall, wird aber bei Kinderflüchtlingen fünf Jahre, beginnend von der Ausreise, nicht übersteigen dürfen. Wenn nicht weitere Aspekte – wie etwa eine Straftat – hinzutreten, dürfte im Regelfall eine zweibis dreijährige Frist sachgerecht sein; bei Vorliegen besonderer Umstände – etwa einer nachträglichen Adoption oder einer Eheschließung, die einen Aufenthalt in der BRDeutschland nahelegen – kann auch eine kürzere Frist geboten sein. 3. Abschiebungshaft Auch gegenüber Kinderflüchtlingen ist Abschiebungshaft grundsätzlich möglich. Abschiebungshaft gibt es in den Formen der Vorbereitungshaft und der Sicherungshaft. 3.1 Von Vorbereitungshaft spricht man, wenn eine Ausweisung in Vorbereitung ist, über diese aber noch nicht sofort entschieden werden kann und die Abschiebung ohne eine Inhaftnahme wesentlich erschwert werden würde. Die Vorbereitungshaft setzt also voraus, daß eine förmliche Ausweisung (nicht nur der Erlaß einer Abschiebungsandrohung oder -anordnung), etwa wegen Straftaten, beabsichtigt ist. Wenn dies nicht im Raum steht, kommt nur Sicherungshaft in Betracht. Nach § 57 Abs. 1 AuslG setzt die Vorbereitungshaft neben der beabsichtigten Ausweisung voraus, daß diese nicht sofort ergehen kann, daß eine Abschiebung erforderlich, möglich und zulässig ist und ohne eine Haftanordnung vereitelt oder wesentlich erschwert würde. Die regelmäßige Höchstdauer der Vorbereitungshaft beträgt sechs Wochen und darf nur in außergewöhnlichen Fällen überschritten werden. 3.2 Von Sicherungshaft spricht man, wenn eine bestehende Ausreisepflicht durch eine Abschiebung durchgesetzt 309 AUFNAHMEBEDINGUNGEN werden soll und die Gefahr besteht, daß sich der/die Betreffende der Abschiebung entziehen wird. Die Sicherungshaft setzt eine bestehende und vollziehbare Ausreisepflicht voraus sowie, daß eine Abschiebung durchführbar und zulässig ist und ohne Inhaftnahme vereitelt würde. 3.2.1 Nach § 57 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AuslG ist ein/e ausreisepflichtige/r AusländerIn in Sicherungshaft zu nehmen, wenn er/sie „aufgrund einer unerlaubten Einreise vollziehbar ausreisepflichtig ist“. Ist zwischenzeitlich ein Aufenthaltsrecht entstanden (etwa aufgrund eines Erst-Asylantrags gemäß § 55 AsylVfG oder nach § 69 AuslG), ist Nr. 1 nicht mehr einschlägig. Die aufgrund der illegalen Einreise bestehende Vermutung, der/die AusländerIn werde sich der Abschiebung entziehen, kann nach § 57 Abs. 2 S. 3 AuslG widerlegt werden. Dies wird regelmäßig anzunehmen sein, wenn ein nachvollziehbares Fluchtschicksal dargetan ist. Nach § 57 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AuslG ist Sicherungshaft anzuordnen, wenn eine Ausreisefrist abgelaufen ist und der/die AusländerIn seinen/ihren Aufenthaltsort gewechselt hat, ohne der Ausländerbehörde die neue Anschrift mitgeteilt zu haben, also ‘untergetaucht’ ist. § 57 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 AuslG regelt den Fall der bewußten Vereitelung einer angekündigten Abschiebung. § 57 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 und 5 AuslG sind Generalklauseln. Voraussetzung ist, daß der/die Ausländer/in sich einer Abschiebung bereits entzogen hat oder der auf Tatsachen gegründete Verdacht besteht, daß er/sie sich ihr künftig entziehen wird. Die bloße Weigerung, freiwillig auszureisen, begründet ebensowenig wie das Unterlassen notwendiger Mitwirkungshandlungen für die Ausstellung von erforderlichen Heimreisedokumenten für sich allein diesen Verdacht. Allein die Erfüllung der tatbestandlichen Merkmale der Nummern 1 bis 5 des § 57 Abs. 2 AuslG rechtfertigen 310 also noch nicht die Anordnung von Sicherungshaft. Vielmehr muß stets das Merkmal der Notwendigkeit gegeben sein, also eine Haft als erforderlich angesehen werden (vgl. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). 3.2.2 Eine spezielle Form der Sicherungshaft enthält § 57 Abs. 2 S. 2 AuslG. Voraussetzung ist nach dem Wortlaut nur, daß die Ausreisefrist abgelaufen ist und feststeht, daß die Abschiebung innerhalb der nächsten zwei Wochen durchgeführt werden kann. Diese Bestimmung, die insbesondere bei Sammelabschiebungen oder in sonstigen Fällen, in denen die Abschiebung einen erheblichen organisatorischen Aufwand erfordert, zur Anwendung kommt, ist verfassungsrechtlich bedenklich. Sie ist daher einengend auszulegen. Das Kriterium der Erforderlichkeit der Haft ist hier ebenso zu beachten wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. 3.2.3 Nach § 57 Abs. 2 S. 4 AuslG ist die Sicherungshaft unzulässig, wenn feststeht, daß die Abschiebung aus vom/von der AusländerIn nicht zu vertretenden Gründen innerhalb der nächsten drei Monate nicht durchgeführt werden kann. Insbesondere dann, wenn der vermeintliche Herkunftsstaat sich weigert, Papiere (generell oder im Einzelfall) auszustellen, wird diese Bestimmung einschlägig. 3.2.4 Nach § 57 Abs. 3 AuslG ist die Sicherungshaft im Regelfall auf 6 Monate begrenzt. Sie kann um höchstens zwölf Monate – also auf 18 Monate – verlängert werden, wenn der/die AusländerIn seine/ ihre Abschiebung verhindert (§ 57 Abs. 3 S. 2 AuslG). Eine 6 Monate übersteigende Abschiebungshaft ist verfassungsrechtlich bedenklich. Stets ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten! ABSCHIEBUNG 4. Verhinderung der Abschiebung Ziel der sozialen Betreuung von Kinderflüchtlingen muß es sein, eine Abschiebung – und erst recht die Abschiebungshaft – zu vermeiden, hat doch die Abschiebung weitreichende Folgen und stellt die Abschiebungshaft einen schwerwiegenden und dem Kindeswohl nicht gerecht werdenden Eingriff dar. Die maßgeblichen Aspekte des Falls sollten daher schon im Vorfeld offen diskutiert und gegebenenfalls mit Hilfe der Gerichte vertreten werden. Die wichtigste Aufgabe dabei ist, daß Abschiebungshindernisse bzw. Duldungsgründe umfassend, vollständig und überzeugend dargestellt werden. Dies setzt im Regelfall eine Kooperation mit den Ausländerbehörden voraus. Die maßgeblichen Aspekte des Falles sollten daher schon im Vorfeld offen diskutiert und gegebenenfalls hart, notfalls auch mit Hilfe der Gerichte, vertreten werden. 4.1 Wenn ein Asylantrag gestellt wird, werden zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse bereits im Rahmen des Asylverfahrens vom Bundesamt und den Gerichten geprüft. Über das Vorliegen solcher Abschiebungshindernisse kann später mit der Ausländerbehörde nicht mehr diskutiert werden: Die Entscheidung des Bundesamtes ist insoweit bindend. Wenn zwischenzeitlich neue Umstände vorliegen, berechtigt dies die Ausländerbehörde zur vorübergehenden Aussetzung der Abschiebung, was notfalls durch einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung erzwungen werden kann. Prinzipiell aber müssen diese neuen Umstände gegenüber dem Bundesamt in einem Asylfolgeverfahren bzw. einem Verfahren auf Wiederaufnahme der Prüfung von Abschiebungshindernissen geltend gemacht werden. Ist ein Asylantrag nicht gestellt worden, müssen auch zielstaatsbezogene Abschie- bungshindernisse von der Ausländerbehörde geprüft und ggf. berücksichtigt werden. 4.2 Die Abgrenzung zwischen ‘zielstaatsbezogenen’ und ‘inlandsbezogenen’ Abschiebungshindernissen ist im Einzelfall schwierig. Eine in der BRDeutschland mögliche und erforderliche ärztliche Behandlung kann als inlandsbezogenes Abschiebungshindernis diskutiert werden, wird aber meist unter dem Aspekt der fehlenden Behandlungsmöglichkeit im Zielstaat als auslandsbezogenes Abschiebungshindernis aufgefaßt. Da Krankheit oft auch eine starke seelisch-psychische Komponente besitzt, vorhandene Beziehungen oder eine Betreuung von entscheidendem Einfluß ist, sind die Grenzen fliessend. Suizidalität jedenfalls wird als inlandsbezogener Duldungsgrund verstanden, ebenso wie in der BRDeutschland vorhandene familiäre Bindungen. Ein Kind, dessen Eltern tot sind oder verschollen und dessen einzig vorhandene Geschwister in der BRDeutschland aufhältlich sind und sich um dieses Kind kümmern, kann sich unter dem Aspekt von Art. 6 GG gegen eine Abschiebung wenden. Dies gilt selbstverständlich auch bei einer Adoption ( Adoption) und unter Umständen auch bei einer Aufnahme in die Pflegefamilie ( Pflegefamilie). Hier wird es jedoch auf die Umstände des Einzelfalles ankommen: Nur, wenn diese Beziehung einer Eltern-Kind-Beziehung ähnelt (wobei dann regelmäßig die Frage zu beantworten wäre, warum eine Adoption nicht erfolgt ist) oder akute Ereignisse dazwischengetreten oder eine relevante Veränderung der Verhältnisse zu erwarten sind und die Beziehung sich grundsätzlich als sog. ‘Beistandsgemeinschaft’ darstellt, kann hieraus ein Abschiebungshindernis resultieren. Ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis kann jedoch auch aus dem all311 AUFNAHMEBEDINGUNGEN gemeinen Persönlichkeitsrecht eines Menschen abgeleitet werden. Wenn ein Kind aus einer fremden Kultur stammt und über Jahre in unserer Kultur aufgewachsen und dadurch geprägt wurde, können Art. 1, 2 Abs. 1 GG eine Abschiebung verhindern, wenn und weil dieses Kind im Fall seiner Rückkehr möglicherweise wegen seiner westlich liberalistischen Prägung in seiner Heimat nicht (mehr) akzeptiert würde und in schwerwiegende, nicht auflösbare Konflikte geriete. Es ist meines Erachtens mit der Menschenwürde nicht zu vereinbaren, ein 16jähriges Mädchen, das seit seinem sechsten