Vertikalisierung im ERP-Markt - IT
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Vertikalisierung im ERP-Markt - IT
ENTERPRISE RESOURCE PLANNING Foto: DigitalVision/Getty Images Branchenlösungen für PPS In einer ERP-Lösung eines Anlagenbauers müssen spezielle Strukturelemente definiert werden können. Vertikalisierung im ERP-Markt Software-Lösungen für Enterprise Resource Planning (ERP) berücksichtigen Branchenspezifika auf unterschiedliche Art und Weise. Das Verständnis über Möglichkeiten und Grenzen individueller Anpassungen erhöht den Projekterfolg. KOMPAKT Branchenspezifika entscheidend für gute Auswahlentscheidung Fachkompetenz des Anbieters und seiner Mitarbeiter bewerten Auflistung der Branchenschwerpunkte ausgewählter Anbieter EINE HERAUSFORDERUNG ist in aller Regel die Einführung eines neuen ERP-Systems. Denn ein ERPSystem greift sehr tief in die Abläufe und Strukuren eines Unternehmens ein, viele Unternehmensbereiche und Mitarbeitern sind betroffen und das Einführungsprojekt wird als „einmalige“ Aktivität neben dem laufenden Tagesgeschäft durchgeführt (Schmidt et al., 2006). Aufgrund der Komplexität von ERP-Projekten sollten Projektverantwortliche bereits mit Beginn des Vorhabens den Fokus auf eine strukturierte Vorgehensweise legen (Lücke u. Roesgen 2004; Roesgen u. Schmidt 2006). Ergebnis einer solchen strukturierten ERP-Auswahl ist die ver- 44 bindliche Fixierung des Leistungsumfangs, der Liefertermine und der finanziellen Konditionen gemeinsam mit dem zukünftigen Implementierungspartner in Form eines Projektvertrages. Eine der wesentlichen Aufgabe des Projektteams ist die Sondierung des Marktangebots hinsichtlich relevanter Kriterien zur Absicherung des Investitionsvorhabens. Präferenzen in unterschiedlichen Entscheidungskriterien sind in der Abbildung 1 dargestellt. Branchenorientierung als Schlüssel zum Erfolg Aus den Angaben der befragten Unternehmen geht hervor, dass die optimale Passung der Funktionalitäten als auch der Beratungsleistung auf die unternehmensspezifischen Anforderungen im Zentrum eines ERP-Projektes steht. Diese werden maßgeblich von den Gegebenheiten einer Branche geprägt, die wichtige Auswahlkriterien sowohl für das System als auch den Anbieter bzw. das Systemhaus darstellen. Insbesondere www.oxygon.de bei der funktionalen Eignung der ERP-Software spielt die Erfüllung von branchenspezifischen Anforderungen eine wesentliche Rolle. Drei Beispiele sollen diesen Zusammenhang verdeutlichen. Das erste Beispiel beschreibt den Fall eines klassischen Anlagenbauers. Sein Sortiment umfasst verschiedene Anlagentypen, die jeweils detailgenau den kundenwünschen entsprechen müssen. Bei jeder abgenommenen Anlage handelt es sich um ein projektgefertigtes Produkt. Eine konsistente, benutzerfreundliche und übersichtliche Projektplanung sowie ein durchgängiges Projektcontrolling gehören daher zu den zentralen Anforderungen eines Anlagenbauers an ein ERP-System (Walber u. Gierth 2006; Schweicher et al. 2005). Beispiele für erfolgskritische Funktionen von Systemanbietern für diese Branche sind die Möglichkeit, einzelne Strukturelemente aus vergleichbaren Projekten in die aktuelle Projektplanung zu kopieren, Meilensteine frei zu definieren, mehrere Projekte gleichzeitig verwalten zu 10. Jahrgang is report 7+8/2006 ENTERPRISE RESOURCE PLANNING Branchenlösungen für PPS können, bezüglich der Ressourcen die Anpassung der Gesamtauftragssituation bei Veränderungen zu simulieren, den Zahlungsplan mit Verknüpfungen zwischen Zahlungsmeilensteinen und Projektmeilensteinen zu führen oder verschiedene Projektstände als Soll zu fixieren, und mit Fortschritt des Projektes mit den IstZahlen zu vergleichen. Das zweite Beispiel bezieht sich auf ein Unternehmen der Textil- und Bekleidungsindustrie. Schnelllebige Modetrends und eine stetig wachsende Nachfrage der Kunden nach immer individuelleren Produkten prägen die wirtschaftliche Situation. Konfrontiert mit zunehmender Globalisierung und verschärftem Preiswettbewerb sehen sich die westeuropäischen Unternehmen dazu gezwungen, große Teile ihrer Wertschöpfung in Niedriglohnländer zu verlagern. Beide Effekte führen zu hoher Komplexität der Produktionsund Logistikketten (Roesgen u. Frink 2006). Eine zuverlässige Absatz- und Bedarfsplanung bildet einen entscheidenden Erfolgsfaktor und somit einen Schwerpunkt bei der Anforderungsdefinition an ein ERP-System. Insbesondere im Bereich der Neverout-of-stock(NOS)-Artikel stellt die Absatzplanung die wesentliche Eingangsgröße in die Bedarfsplanung sigstoffe, die Berechnung und Verwaltung von Mindesthaltbarkeitsdaten, die Unterstützung von Zerlegeprozessen oder die Verwaltung mehrerer Ergebnisprodukte aus einem Produktionsprozess greifen sehr tief in die Datenstrukturen der Systeme und können oftmals nur von Bran- Notwendigkeit einer Branchenspezialisierung für das Systemhaus oder den Anbieter. dar, welche neben der Eigenfertigungsplanung und -steuerung, die über die Netzwerkproduktionsplanung zugeteilt wird, auch die Fremdbezugsplanung und -steuerung umfasst. In dieser Konstellation sind voll integrierte Bedarfsplanungsmodule und Multi-Site-Fähigkeit des ERP-Systems herausragende Anforderungen an die Anbieter. Als drittes Beispiel kann die Lebensmittelindustrie genannt werden. Anforderungen, wie die durchgängige Chargenverwaltung auch für Flüs- chenspezialisten abgebildet werden. Über die funktionalen Anforderungen hinaus besteht die immer größer werdende Notwendigkeit einer Branchenspezialisierung ebenfalls für die strategischen Komponenten eines Systems als auch an das Systemhaus oder den Anbieter selbst. Das betrifft zum Beispiel Anbieter für die pharmazeutische Industrie, die ihre Systeme gezielt am Leitfaden für Good Manufacturing Practice (GMP) ausrichten. Dieser Leitfaden konkretisiert die EG-Richtlinie 2003/94/EG Abbildung 1: Entscheidungspräferenzen von Unternehmen zur Auswahl eines ERP-Systems Funktionale Eignung Eignung des Systems für KMU Kosten-Nutzen-Verhältnis 33% 5% 19% 1,9% Überlebensfähigkeit des Anbieters 17% 5% 16% -0,7% 14% 2,2% 12% -7,3% Einhaltung Budget-Rahmen 0,9% Projekteinführungsmethodik -3% Emotionale Gründe Attraktive Zusatzleistungen 2,2% 0,6% -1,7% Ausgewiesene Betriebskosten 0,05% 8% 7% Alle Teilnehmer Entwicklung 1999 bis 2004 7% 6,5% 6% 5,5% 5% 1,8% 4% 2,2% Einhaltung Termin-Rahmen Verfügbarkeit von Ressourcen 10. Jahrgang is report 7+8/2006 34% 0,5% Referenzen -5% Quelle:Trovarit AG/www.erp-z.de 2005 38% 1,3% Moderne Technologie Stellung als Marktführer 39% -0,2% Fachkompetenz des Anbieters Technische Plattform (z.B. AS 400) 42% -3% Benutzerführung Branchenkompetenz des Anbieters Beibehaltung des Anbieters 70% 0,9% 0% 10% 20% www.oxygon.de 30% 40% Anteil der Projekte 50% 60% 70% 80% 45 ENTERPRISE RESOURCE PLANNING Die Autoren Tobias Brosze ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich Produktionsmanagement am Forschungsinstitut für Rationalisierung e.V. (FIR) an der RWTH Aachen. Peter Treutlein ist Vorstand der Trovarit AG. Carsten Schmidt ist Bereichsleiter im Forschungsbereich Produktionsmanagement am Forschungsinstitut für Rationalisierung e.V. (FIR) an der RWTH Aachen. 46 zur Festlegung der Grundsätze und Leitlinien der guten Herstellungspraxis für Hamanarzneitmittel und für die Anwendung beim Menschen bestimmter Prüfpräparate. Die Zertifizierung eines Systems als GMP-konform in diesem Umfeld zeigt die Ausrichtung der Lösung auf die Herstellung von Pharmazeutika oder pharmazeutischen Prüfmitteln und ist somit ein probates Mittel zur Differenzierung gegenüber Wettbewerbern. Auch bei der Bewertung der vom Anbieter genannten Referenzen gilt vor allem die Zugehörigkeit zur Branche des suchenden Unternehmens als wesentlicher Aspekt. Weiterhin ist bei der Beurteilung der Fachkompetenz des Anbieters unter anderem die Erfahrung der Projektbearbeiter hinsichtlich branchenspezifischer Gegebenheiten zu berücksichtigen. Aus diesen Gründen wird von vielen Anbietern die Spezialisierung auf bestimmte Branchen im Rahmen der Marktplatzierung bzw. Unternehmenskommunikation hervorgehoben. Diese gezielte Ausrichtung der Sy- Branchenlösungen für PPS Schmidt,C.,Roesgen,R.(2006):Reorganisation der PPS.In:Schuh,G.(Hrsg.):Produktionsplanung und -steuerung. Grundlagen, Gestaltung und Konzepte. 3., völlig neu bearbeitete Auflage, Springer Berlin, Heidelberg 2006, S. 304-329 Schmidt, C., Roesgen, R., Meyer, M. (2006): Drum prüfe, wer sich „ewig“ bindet... – Das 3PhasenKonzept zur Bewertung und Auswahl von Standard-ERP-/PPS-Systemen. In: Unternehmen der Zukunft (2006) 1, S.6-8 Lücke,T., Roesgen, R. (2004): Risikominimierung bei der Auswahl von ERP-/PPS-Software. Das 3Phasen-Konzept als Framework für eine unternehmensindividuelle Entscheidung. In: Unternehmen der Zukunft (2004) 2, S.19-20 Literatur Lassen, S., Roesgen, R., Meyer, M., Schmidt, C., Gautam, D. (2005): Marktspiegel Business Software ERP/PPS 2005/2006. 3. überarbeitete Auflage. Hrsg.: Schuh, G., Stich,V., FIR,Aachen 2005 Müller, A.; Schmidt, C.: Aktuelle Entwicklungen und zukünftige Trends im ERP-Mittelstandssegment. In:VDI-Z Integrierte Produktion 145 (2003) 5, S. 10-11 Schmidt, C.; Roesgen, R.; Meyer, M. 2006: Drum prüfe, wer sich „ewig“ bindet... – Das 3PhasenKonzept zur Bewertung und Auswahl von Standard-ERP-/PPS-Systemen. In: Unternehmen der Zukunft (2006) 1, S.6-8 Walber, B,; Gierth,A. 2006: Standardsoftware und Unikatfertigung – passt das? In: Unternehmen der Zukunft (2006) 1, S.6-8 Roesgen, R.; Frink, D. 2006: Anwendungsbeispiel: Industrieprojekt bei der Schiesser Group. In: Unternehmen der Zukunft (2006) 1, S.6-8 Schweicher, B.; Lassen, S.; Scheer, F. 2005: Benninghoven – „Beste Auslese“ bei einem Anlagenbauer an der Mosel. In: Unternehmen der Zukunft (2005) 4, S.24-26 steme und deren Anbieter auf Kernbranchen mündet in die so genannte Vertikalisierung des Marktangebotes. Insbesondere für die fertigende Industrie kann dieser Prozess beobachtet werden. Hierbei kommen unterschiedliche Strategien der Anbieter zum tragen. Strategien zur erfolgreichen Vertikalisierung Insbesondere für Nischenbranchen finden sich häufig hochspezialisierte Anbieter, welche ausschließlich für eine oder sehr wenige nahe verwandte Branchen Lösungen anbieten (Müller u. Schmidt 2003). Meist sind die entsprechenden ERP-Systeme nur bedingt für Unternehmen anderer Branchen einsetzbar. ERP-Anbieter bzw. Hersteller, die mit ihren Produkten und Dienstleistungen mehrere Branchen adressieren, sich also eher branchenunabhängig nach außen darstellen, greifen heutzutage ebenfalls das Thema Vertikalisierung auf. Meist werden, ausgehend von einem branchenunabhängigen System, mehrere Branchenlösungen angeboten. Generell haben sich am Markt hierzu zwei Lösungsansätze etabliert. Im einen Konzept werden ausgehend von einer umfassenden branchenunabhängigen Gesamtlösung mittels Vorkonfiguration die bran- Abb. 2: Schalenmodell der Systemanforderungen Benutzeranforderungen zunehmende Spezifik der Anforderungen Unternehmensanforderungen Branchenanforderungen ERPKernanforderungen Standard-Erfassungskatalog Quelle: FIR www.oxygon.de 10. Jahrgang is report 7+8/2006 ENTERPRISE RESOURCE PLANNING Branchenlösungen für PPS chenspezifischen Abläufe und Funktionalitäten voreingestellt. Beim anderen Ansatz werden ausgehend von einer eher schlanken funktionalen Basis die branchenspezifischen Funktionen mittels entsprechender Entwicklungswerkzeuge gezielt ergänzt. Oftmals kommen aber auch beide Ansätze gleichzeitig zum Einsatz. Bei funktional mächtigen Systemen fehlen dennoch ausgesprochene branchenspezifische Funktionen und müssen daher ergänzt werden. Auch bei den eher funktional weniger ausgeprägten Systemen macht es Sinn, die im Kern bereitgestellte Funktionalität an Branchenanforderungen auszurichten. Damit wird das Ziel verfolgt, die branchentypischen Abläufe und benötigten Funktionalitäten kompakt zur Verfügung zu stellen. Diese voreingestellten Systeme bieten dem Anbieter trotz standardisiertem Systemkern die Möglichkeit zur branchenorientierten Platzierung seiner Lösungen. Für den Käufer der Software bieten die branchenspezifischen ausgeprägten Systeme den Vorteil, dass sich die in der Software hinterlegten Standardabläufe positiv auf den Implementierungsaufwand auswirken. Strategien zur erfolgreichen Vertikalisierung Die Strategie der Vertikalisierung spiegelt sich zum Dritten in den Partnerprogrammen der großen Hersteller wider. Diese haben längst erkannt, dass im mittelständischen ERP-Umfeld der Vertrieb über Markennamen alleine nicht überzeugt. Vielmehr wird der indirekte Vertrieb über Partner mit hoher Branchenexpertise fokussiert. So wirbt beispielsweise die SAP AG aus Walldorf in ihrem offiziellen Partnerprospekt damit, dass Partner langfristig von der zuverlässigen und erweiterbaren SAP-Technologie profitieren können, um mit innovativen Entwicklungswerkzeugen die Besonderheiten der jeweiligen Branche eins zu eins abzubilden. So können kennzeichnende Prozesse voreingestellt und die Funk- 10. Jahrgang is report 7+8/2006 tionalität auf die spezifischen Anforderungen abgestimmt werden. Auch Microsoft Business Solutions hat eigens für die Vertikalisierung der Lösungen das so genannte Partner Solutions Programm (PSP) entwickelt, um Microsoft-Partner in der Entwicklung und Vermarktung ihrer Branchenlösung bestmöglich zu unterstützen. Ähnlich wie bei SAP ist die an den Idealzustand des maßgeschneiderten Systems in der Regel nicht zufriedengeben (vgl. Abbildung 2, Lassen et al. 2005). Daher gilt es auch weiterhin, ERPProjekte, ob Auswahl oder Migration, sorgfältig und zielführend vorzubereiten und die Durchführung mit den notwendigen Ressourcen unterstützen. Für eine sichere Investitionsent- Nicht allein auf die Zertifizierung von Branchenlösungen durch die Anbieter verlassen. Zertifizierung der entwickelten bzw. voreingestellten Lösung im Leistungsangebot des Programms enthalten. Wesentlicher Inhalt der Zertifizierung ist allerdings in beiden Fällen die Einhaltung der Entwicklungsvorgaben des Herstellers. Im Rahmen der Evalulierung solcher zertifizierAnzeige ter Branchenlösungen sollte man sich daher nicht alleine auf das entsprechende Zertifikat auf den Broschüren der Anbieter verlassen. Zwar kann die Tendenz zur Vertikalisierung deutlichen Erfolg im Spagat zwischen Prozessstandardisierung und Branchenindividualisierung der Systeme verbuchen, da erstens der Kreis der potenziellen Systemkandidaten zielgerichteter eingegrenzt werden kann und zweitens weniger branchenspezifische Anpassungen der Systeme während der Implementierung anfallen. Jedoch kann sich das suchende Unternehmen mit dieser Annäherung www.oxygon.de scheidung und die erfolgreiche Durchführung des Projektes ist es folglich zwingend notwendig, ein Lastenheft konkret und detailliert zu definieren, dessen Umsetzung den eigenen Wertschöpfungsprozess und die eigenen Nutzergruppen des Sy stems optimal unterstützt. 47