Suizidalität als Ausdruck von „Psychic Retreats
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Suizidalität als Ausdruck von „Psychic Retreats
Glück in der Medizin – Glück durch Psychotherapie? Überlegungen zu Utopie und Wirklichkeit in Zeiten der Postmoderne1 Heinz Weiß Zusammenfassung: Am Beispiel aktueller medizinischer und gesellschaftlicher Entwicklungen wird die Frage nach der Machbarkeit von Glück gestellt. Es wird aufgezeigt, wie durch die Fortschritte der Grundlagenwissenschaften und die Möglichkeiten der modernen Hochleistungsmedizin ein utopischer Anspruch auf die Erfüllung von Glücksvorstellungen entsteht, welcher mit ethischen Forderungen kaum zu vereinen ist. Dem wird die zunehmende Häufigkeit psychischer Erkrankungen gegenübergestellt, welche auch sozioökonomisch ein wachsendes Problem bildet. Chronische Depression, Erschöpfung und Leere werden als Fluchtversuche aus einer postmodernen, „liquiden“ Wirklichkeit beschrieben, die durch ständige digitale Verfügbarkeit und mediale Überwältigung einen Zustand dauernder Erregtheit und Unwirklichkeit aufrecht erhält. In Rückbesinnung auf die philosophische Tradition sowie auf psychoanalytische Erkenntnisse wird abschließend für ein Verständnis von „Glück“ plädiert, das dessen Begrenzungen und ethische Dimension zurückgewinnt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Über die freundliche Einladung, in Ihrem Forum über das Glück zu sprechen, habe ich mich sehr gefreut und mich zugleich gefragt, inwiefern wir als Ärzte, Psychoanalytiker, Psychotherapeuten überhaupt für das „Glück“ zuständig sind. Denn es geht uns ja darum, Krankheiten zu behandeln, Leiden erträglicher zu machen, in schwierigen Lebenslagen Unterstützung anzubieten, nicht aber darum, den Anspruch auf individuelles Glück zu erfüllen. Dieses Ziel anzustreben – und manchmal auch näherungsweise zu erreichen – obliegt vielmehr dem Einzelnen, insofern er Verantwortung für sein eigenes Leben und für das Leben anderer übernimmt. Oder ist diese Auffassung mittlerweile veraltet und hat sich die Zielsetzung der modernen Medizin mit ihren komplexen Techniken und Einflussmöglichkeiten verändert? Steht heute – in Zeiten von Schönheitschirurgie, Präimplantationsdiagnostik und In-vitro-Fertilisation, „Glückshormonen“, Neuroenhancing und Anti-Ageing-Therapien – nicht mehr die Begrenzung von individuellem Leiden, sondern die 1 Vortrag, gehalten am 13.09.2012 anlässlich des „Business-Lunch“ des Wirtschaftsclubs im Literaturhaus, Stuttgart. 1 Steigerung von Leistungsfähigkeit, ewige Jugend, Potenz, das Erlangen von Stärke und geistiger Überlegenheit im Vordergrund? Gehört die Vermittlung von „Glück“, Selbstzufriedenheit und „Kompetenz“ demnach zu den Zielen der Psychotherapie, so wie bereits vor mehr als 200 Jahren Thomas Jefferson das „Streben nach Glückseligkeit“ als unveräußerliches Recht des Einzelnen in die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika hineinschrieb? Als Jefferson vom Glücksstreben - dem „pursuit of happiness“ - sprach, meinte er allerdings nicht, dass es Aufgabe der Gesellschaft sei, dieses Glück zu organisieren. Vielmehr sollte sie einen Raum schaffen, der dem Einzelnen die Freiheit gibt, nach seinem individuellen Glück zu suchen. Die Idee von einem idealen Staat hingegen, wie sie Platon in seiner Politeia formulierte - von eine Elite, die weiß, was für alle Menschen gut ist -, ist hingegen ein Merkmal utopischer Vorstellungen und totalitärer Ideologien (vgl. Weiß 2012). Vielleicht ist es bezeichnend, dass solche Utopien gerade am Beginn der Neuzeit, d.h. nach 1500, auftauchen – in einer Zeit, in der Philosophie und Wissenschaften aus ihrem mittelalterlichen Dämmerschlaf erwachen und die Sicht auf die Welt nicht mehr durch eine göttliche Gewissheit garantiert ist. Mit den Entdeckungen eines Christoph Kolumbus, Vasco da Gama, Nikolaus Kopernikus, Galileo Galilei und anderen war ein Weltbild ins Wanken geraten, dessen unerschütterliche Einbettung in den Glauben nun nicht mehr zu halten war. Am deutlichsten hat diesen radikalen Zweifel wohl Rene Descartes formuliert, als er die Gewissheit der Existenz nur noch durch den Bezug zum eigenen Denken gewährleistet sah. Sein „Ich denke, also bin ich“ (cogito, ergo sum) bildete den Ausgangspunkt für das philosophische Programm der Aufklärung, als deren Ziel Immanuel Kant (1784) die Befreiung des Menschen aus dessen „selbstverschuldeter Unmündigkeit“ formulierte. Die Suche nach einer idealen Gemeinschaft, wie sie Thomas Morus (1516) in seinem fiktiven Reisebericht „Utopia“, Tomaso de Campanella (1623) in seinem theokratischen „Sonnenstaat“ (Civitas solis) oder – wahrscheinlich weniger bekannt - hier in Tübingen, Johann Valentin Andreae in seiner 1619 erschienenen Utopie „Christianopolis“ zum Ausdruck brachten, kann als Antwort auf diese radikale Verunsicherung der Neuzeit verstanden werden. 2 Es wäre deshalb reizvoll zu fragen, ob wir uns in Zeiten der Postmoderne gegenwärtig in einer ähnlichen Krise befinden, in der die Ideale der Aufklärung, des vernunftgeleiteten Individuums, in einer vergleichbarer Weise fragwürdig geworden sind. Denn die Idee des autonomen Individuums, welches sein Glück in freier Selbstbestimmung wählt, stößt an ethische Grenzen, an denen sich die Frage stellt, welche Werte und Ziele für eine Gemeinschaft verbindlich sind: Ist es die schier unbegrenzte Verfügbarkeit von Information und Kommunikation? Ist es der Glaube an grenzenlosen wissenschaftlichen Fortschritt? Ist es die Hoffnung auf immerwährendes globales wirtschaftliches Wachstum? Wie Ihnen vielleicht bekannt ist, wurde in dem kleinen Himalayastaat Bhutan 1979 auf Vorschlag des damaligen Königs Jigme Singye Wangchuk eine Kommission für das „Bruttonationalglück“ eingesetzt. Diese, für uns westliche denkende Menschen befremdliche Idee, sollte dem am klassischen Wirtschaftsmodell orientierten „Bruttoinlandsprodukt“ eine Wertorientierung für den Zustand der Gesellschaft an die Seite stellen. Diese hätte sich, so die Überlegungen der Kommission, an der Förderung einer gerechten Gesellschaftsentwicklung, der Bewahrung kultureller Werte, dem Schutz der Umwelt und an der Entwicklung guter Regierungs- und Verwaltungsstrukturen als ihren vier Grundsäulen zu orientieren. Die Frage nach der Machbarkeit von „Glück“, die Notwendigkeit, eine Balance zu finden, zwischen dem, was möglich und dem, was „gut“ und sinnvoll ist, betrifft natürlich in ganz besonderer Weise auch die moderne Medizin. Denn es ist kein Zufall, dass gerade in Zeiten der HightechMedizin, der molekularen Genetik, der immensen Fortschritte in den Neurowissenschaften, der immer ausgefeilter werdenden diagnostischen, therapeutischen und operativen Strategien, das Bedürfnis nach ethischer Orientierung immer drängender wird. Die Formulierung von Leitbildern und die Tätigkeit von Ethikkomitees bilden deshalb heute eine unerlässliche Arbeitsgrundlage für jede Art von klinischer Institution. Doch an welchem anthropologischen Modell soll sich die Arbeit dieser Komitees orientieren? Natürlich spielt hier - als Spätfolge der Aufklärung – der Begriff der „Patientenautonomie“ eine wichtige Rolle. Auch wenn es sich um die Verweigerung eines lebenswichtigen Eingriffs handelt: Niemand, dem die Einsichtsfähigkeit nicht abgesprochen werden kann, darf zu seinem „Glück“ gezwungen werden. Doch der klinische Alltag zeigt, dass dieses vernunftbestimmte Ideal von „Autonomie“ zu kurz greift und unter dem Eindruck von Krankheit, 3 Leiden und situativen Umständen rasch an seine Grenzen stößt. Denn das, was der Patient als seinen „freien Willen“ zum Ausdruck bringt, lässt sich nicht auf das scheinbar rationale Argument eines „informed consent“ beschränken. Es hängt wesentlich davon ab, welche Beziehungen, Gefühle und Motive hier zum Tragen kommen und wie man mit dem Patienten und seinen Angehörigen spricht. Eine Hauptaufgabe klinischer Ethikkomitees besteht deshalb in der Wiederherstellung der Kommunikation in Situationen erschwerter oder gestörter Verständigung. Häufig geht es dabei nicht um die eine, „richtige“ Lösung, sondern um die Anerkennung eines Dilemmas, das aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden muss. Ich denke etwa an die Situation eines 35jährigen Mannes, dessen Frau nach einer massiven Hirnblutung rasch in den Zustand des Hirntods geriet. Es hieß, er sei mit der Entnahme der Organe seiner Ehefrau zu Transplantationszwecken einverstanden. Der Zustand war aber so schnell eingetreten, dass noch nicht einmal die beiden Kinder, die morgens in den Unterricht gegangen waren, etwas von der Situation ihrer Mutter wussten. Bei meinem Besuch auf der Intensivstation wirkte Herr B. unruhig und verstört. Man hatte ihn zwar über den Zustand des irreversiblen Hirntodes aufgeklärt. Aber er wollte während unseres Gesprächs immer wieder zu seiner Frau zurück, so als sei sie noch am Leben. Auf meine Frage nach seinem Einverständnis zur Organentnehme sagte er, er habe mit seiner Frau vor einiger Zeit in Zusammenhang mit einem Illustriertenbericht über die Organentnahme nach der Hinrichtung chinesischer Häftlinge kurz über dieses Thema gesprochen. Schließlich berichtete er verzweifelt von einem heftigen Streit mit ihr, in dem er handgreiflich geworden sei und nach dem er und seine Frau bis zum heutigen Tag kein Wort mehr miteinander gesprochen hätten. Nun könne man ja nie mehr miteinander reden… Er fügte hinzu, die Ehe sei kurz vor dem Scheitern gestanden und der Kontakt mit seinen Schwiegereltern bereits seit längerem abgebrochen. Herr B. wirkte nun verzweifelt und voller Schuldgefühle. Weinend erklärte er, er habe zwar geglaubt, eine Organentnahme zur Transplantation nicht ablehnen zu können, gleichzeitig aber auch daran gedacht, sich das Leben zu nehmen. Nach einiger Zeit konnte er sich etwas beruhigen. Schließlich äußerte er den Wunsch, mit seinen Kindern zu sprechen und keine Entscheidung ohne die Zustimmung seiner Schwiegereltern zu treffen. Diese trafen nach einigen Stunden auf der Intensivstation ein. Gemeinsam standen sie vor dem Bett der Verstorbenen, die künstlich beatmet wurde und deren Haut durch den 4 künstlich aufrecht erhaltenen Kreislauf noch warm war. Zum ersten Mal sprachen der Ehemann und die Schwiegereltern miteinander. Sie konnten sich nicht zu einer Organentnahme durchringen, aber durch ihre gemeinsame Trauer trat der Streit in den Hintergrund. Schließlich erklärte man ihnen, dass aufgrund der langen Zeit und der vielen Medikamente, die zur Aufrechterhaltung des Kreislaufs verabreicht werden mussten, eine Organtransplantation nicht mehr in Frage komme. Betrachten wir diese komplizierte Situation etwas genauer, so hatten andere Patienten, die vielleicht dringend darauf angewiesen waren, kein neues Organ erhalten. Jedoch war ein möglicher Suizid verhindert worden, durch den die minderjährigen Kinder beide Eltern verloren hätten. Entscheidungen dieser Art sind immer schwierig und problematisch. Uns ging es vor allem darum, dass der Ehemann, welche Entscheidung er auch immer treffen würde, diese nicht unter Druck und unerträglichen Schuldgefühlen fällen musste. Und in diesem Sinn, denke ich, hatte er eine Entscheidung getroffen, über die zwar keiner „glücklich“ sein konnte, mit der aber alle weiterleben konnten. Damit sind wir vom Thema „Glück in der Medizin“ scheinbar weit abgekommen. Ich denke aber, dass uns die klinische Wirklichkeit immer wieder vor solche Situationen stellt, in denen nicht die Frage von Machbarkeit – hier einer konsentierten Organtransplantation -, sondern die eines verantwortlichen Handelns im Vordergrund steht. Und dies gilt nicht für Fragen der Allokationsethik, bei der es um Probleme der Zuteilung in Anbetracht begrenzter Ressourcen geht, sondern in Hinblick auf unsere Werte und Lebensziele schlechthin. Wir wissen zwar heute, dass das Erleben von „Glück“ mit der Aktivierung bestimmter Hirnregionen, mit der Aktivität spezieller Hormone und Neurotransmitter zusammenhängt. Sog. Enkephaline übernehmen z.B. die Funktion körpereigener Opiate und binden im zentralen Nervensystem an die gleichen Rezeptorengruppen. Sie scheinen bei der Schmerzverarbeitung aber auch beim sog. „Placeboeffekt“ – also der Tatsache, dass auch Scheinmedikamente eine Wirkung entfalten können – eine wichtige Rolle zu spielen. Ocytocin ist ein niedermolekulares Peptid, das im Stiel der Hirnanhangsdrüse gebildet wird und u.a. für das Einschießen der Milch beim Stillvorgang verantwortlich ist. Aufgrund neuerer Erkenntnisse scheint es auch beim Bindungsverhalten zwischen Mutter und Kind und beim Zustandekommen eines basalen Gefühls von Sicherheit, Vertrauen und Liebe eine Rolle zu spielen. 5 Dopamin und Serotonin sind Überträgerstoffe im zentralen Nervensystem, deren Verteilungsmuster bei verschiedenen psychischen Erkrankungen verändert sind. So ist z.B. bekannt, dass bei depressiven Erkrankungen die Serotoninkonzentration im synaptischen Spalt zwischen zwei Neuronen vermindert ist. Medikamente, welche zu einer Erhöhung des Serotoninspiegels in diesem Bereich führen, gehen mit einer Antriebssteigerung sowie einer Verbesserung der Stimmungslage, - also mit einer Reduktion depressiver Symptome - einher. Lassen sich Glück und Wohlbefinden demnach auf medikamentösem Weg herbeiführen? Nach einem Bericht des englischen Guardian aus dem Jahr 2004 hatte sich die Verschreibung eines dieser Serotoninwiederaufnahmehemmer (Prozac®) innerhalb eines Jahrzehnts fast verdreifacht und konnte der Wirkstoff Fluoxetin - laut Angaben der britischen Umweltbehörde - in geringen Dosen bereits im Grund- und Trinkwasser nachgewiesen werden. Erreichen uns die „Glückshormone“ also (durch die Ausscheidungen bereits „Beglückter“) mittlerweile schon über den täglichen Wasserkonsum? Dem steht eine fast epidemische Zunahme von Erschöpfungszuständen, depressiven Syndromen, Klagen über chronische Schmerzen und Burnout-Probleme gegenüber. Allein für das Krankheitsbild der Depression gehen wir im Moment von einer Punktprävalenz von 10% und einer Lebenszeitprävalenz von ca. 20% der Gesamtbevölkerung aus. Das heißt, jeder Fünfte wird im Laufe seines Lebens irgendwann an einer Depression erkranken. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation wird die Depression bis zum Jahr 2020 nach den Herz-Kreislauferkrankungen die weltweit zweithäufigste Erkrankungsgruppe bilden, für die wir bereits heute einen zweistelligen Milliardenbetrag an direkten und indirekten Gesundheitskosten ausgeben. Zugleich hat sich das klinische Erscheinungsbild der Depression verändert. Anstelle des heftigen Schmerzes, der abgewehrten Trauer und unerträglichen Schuld, welche Psychoanalytiker und Psychiater zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Hauptmerkmale depressiver Erkrankungen diagnostizierten, ist heute ein diffuses Gefühl der Sinnlosigkeit, der Leere, des ‚Ausgebranntseins’, der Erschöpfung und der dauernden Besorgnis um das eigene Selbst getreten. Haben wir es hier mit der typischen Krise des postmodernen Subjekts zu tun, mit jenen Folgeerscheinungen gesellschaftlicher Vereinzelung und Beschleunigung, in denen ein „erschöpftes Selbst“ – so der französische Sozialphilosoph Alain Ehrenberg (1998) - auf eine immer sinnentleertere 6 gesellschaftliche Akzeleration und globale mediale Verfügbarkeit antwortet? Auf jenen Zustand also, den der deutsche Soziologe Hartmut Rosa (2005) als „rastlosen Stillstand“ bezeichnet hat? Ist die „narzisstische Depression“, jene Form der Schwermut also, bei der es um Gefühle der Wertlosigkeit und die Auffüllung innerer Leere durch Selbstaufblähung und suchtartige Betätigungen geht, zur Leiterkrankung des 21. Jahrhunderts geworden? Ich denke, wir sollten gegenüber solchen vereinfachenden Zeitdiagnosen vorsichtig sein. Trotzdem ist nicht zu leugnen, dass gerade eine Gesellschaft, in der die Machbarkeit von Gesundheit, Wohlstand und „Glück“ wie nie zuvor greifbar scheint, eine solche Psychopathologie der Leere und der Unwirklichkeit hervorbringt. Die zunehmende gesellschaftliche Bedeutung von Borderline-Erkrankungen (Weiß 2009), von Störungen des Essverhaltens, von emotionalen und Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter, scheint dies zu bestätigen. Der von soziologischer Seite konstatierten „Erschöpfung“ steht dementsprechend eine von Rastlosigkeit, Hyperaktivität und Beschleunigung geprägte Suche nach Steigerung und Erfüllung gegenüber, die in der unbegrenzten Verfügbarkeit medialer Kontakte, dem Leben in virtuellen Räumen und dem Rückzug in „Wellness“Bereiche ihren Ausdruck findet. Ist der permanent erregte, derealisierte Mensch der Postmoderne demnach der Doppelgänger des „erschöpften Selbst“? Es gibt Hinweise darauf, dass jede Zeit ihre eigene Psychopathologie hervorbringt. So wie die Prüderie der viktorianischen Epoche den Nährboden für hysterische Inszenierungen bildete, so begegnen wir heute einem medial verstreuten und gespaltenen Subjekt, das in der permanenten Suche nach „Glücksmomenten“, nach sensorischer Erregung und elektronischer Vervielfältigung nicht zur Ruhe kommt. Solche Rastlosigkeit ist möglicherweise sozialisationsbedingt. Denn wer schon als Kind einen großen Teil seiner Zeit in multiplen virtuellen Wirklichkeiten verbringt, dem kommt womöglich die Fähigkeit abhanden, mit der „Not des Lebens“ (Freud) umzugehen, wie sie das Leben in der Wirklichkeit unweigerlich mit sich bringt. Aus der Psychopathologie sind uns solche Zustände der Überstimulierung und des pathologischen Glücks wohl bekannt. Man denke nur an die flache Euphorie des manischen Patienten, der antriebsgesteigert nicht bei einem Gedanken verweilen kann, sondern 7 sich ideenflüchtig sofort dem nächsten Einfall zuwendet; an die rauschhaften Zustände des Suchtpatienten, die ekstatisch-verklärte Welt der Glückspsychosen, die Größenphantasien des narzisstischen Patienten, die Glücksspielsucht und die ebenfalls suchtartig um sich greifende Abhängigkeit von Internetkontakten und elektronischer Präsenz. Es scheint, als befände sich die postmoderne „liquide“ Welt (Baumann 2000) in einem ständigen Partyzustand, stets auf der Suche nach „Gänsehautgefühlen“ und dem nächsten „Event“. „Emotion pur“ ist zu einem Surrogat von „Glück“ geworden, begleitet allerdings auch von hintergründiger Angst: der Angst, dass die Dauerregung zusammenbrechen könnte, der Angst vor Langeweile, Einsamkeit und Tod. Begleitet aber auch von katastrophischen Ängsten, die gesellschaftlich mittlerweile zu einem Dauerthema geworden sind: der Angst vor dem Klimawandel, der Erschöpfung der natürlichen Ressourcen, vor terroristischen Anschlägen unbekannten Ausmaßes, vor dem Zusammenbruch des weltweiten Wirtschaftssystems… Es scheint, als würde dieses Katastrophengefühl die Begleitmusik der postmodernen Erregtheit bilden. Man hat argumentiert, dass das Vorherrschen sensorischer Erfahrungen und die stetige Verfügbarkeit medialer Kontaktes zu einem Leben in Gleichzeitigkeit und Austauschbarkeit führt, das sich bis in die Ausbildung neuronaler Strukturen hinein auswirkt (Balzer 2012). An die Stelle sprachlicher Kommunikation sei der flüchtige Austausch von Short Messages, getreten, Erinnerungen würden in gepixelte Bilder verwandelt, die jederzeit veränderbar und verfügbar sind. Auf diese Weise werde die symbolische durch eine ikonische Repräsentation ersetzt, mit der Folge, dass durch die Allgegenwart der Bilder die Gefühle ihre Bedeutung und Tiefe verlieren. Diese kritische Diagnose umschreibt natürlich nicht umfassend den Zustand unserer Zeit. In gewisser Weise scheint sie jedoch auch auf mein Fach, die Psychotherapeutische Medizin, zuzutreffen, wenn wir einerseits – fast inhaltsleer – von „Achtsamkeit“, „positivem Denken“ und „Selbstwirksamkeit“ sprechen und andererseits die Begriffe „Traumatisierung“, „Reizüberflutung“ und „Dissoziation“ eine fast inflationäre Verwendung finden. Und wenn auch wir der Faszination gepixelter Hirnaufnahmen erliegen, statt über die Bedeutung emotionaler Erfahrungen nachzudenken. Vielleicht wurde das philosophische Programm der Postmoderne (vgl.Lyotard 1979) – die Kritik an der Zentralität der Vernunft, die Ethik 8 der Diskursvielfalt und die Konstruktion des Subjekts aus „Narrativen“ durch eine postmoderne Utopie abgelöst, die Simultaneität, Beliebigkeit und Austauschbarkeit suggeriert, wenn wir jederzeit und an jedem Ort per touch screen in eine andere Wirklichkeit „surfen“ können. Doch wie jede Form von Utopie beruht auch diese Illusion auf einer Verleugnung von Vergänglichkeit. Was die Ersetzung emotionaler Erfahrungen durch die gierige Suche nach Stimulierung und Befriedigung betrifft, so hatte unter den vorsokratischen Philosophen bereits Heraklit formuliert, dann könne man auch „das Vieh glücklich (…) nennen, wenn es Erbsen zum Fressen findet“ (Fragm. B 4). Die philosophische Tradition hat sich deshalb von den äußeren Quellen hin zur Frage nach den inneren Voraussetzungen der Erfahrung von Glück konzentriert (vgl. Spaemann 1974, S. 679-707). In diesem Sinn verweist Demokrit auf die Seele (φυχή) als Sitz des Glücks. Während Platon das Wissen um die Idee des Glücks den Philosophen anheimstellt, betont Aristoteles die Verbindung von Schicksal (τυχή) und Glück, für die der Einzelne innerhalb der Gemeinschaft durch tätiges Handeln Verantwortung übernimmt. Gegenüber dieser Bindung des Glücks an die Praxis und die Entwicklung der Polis, wird in der stoischen Lehre das Glück in die Nähe der Tugend und der vernünftigen Einsicht gerückt. Als solche verlange sie die Ausschaltung der Affekte, welche das menschliche Urteilsvermögen trüben. Erst im Zustand der Leidenschaftslosigkeit (aπαθία) werde die Annäherung an das Ideal der Weisheit erreicht. An diese Bestimmung des Glücks aus der göttlichen Vernunft konnte die christliche Scholastik anknüpfen, als sie das Glück ganz aus dem irdischen Dasein verbannte und ins Jenseits verlagerte. Im Gegensatz dazu steht die Auffassung Epikurs, welche die unauflösliche Verbindung des Glücks mit der sinnlichen Erfahrung betont. Von ihm ist die Äußerung überliefert, dass ein Gut ohne Geschmack, Liebe, Gehör und Sinn für das Sehen nicht vorgestellt werden kann. Sein Begriff der Ataraxia (άταραξία) – der Ausgespanntheit der Seele in der Daseinsfreude – kommt vielleicht am ehesten dem nahe, was wir in der Psychoanalyse unter „Glück“ verstehen. Es ist kein dauerhafter Zustand, den man mit dem Willen erzwingen kann, sondern eine vergängliche Erfahrung, die uns passiv widerfährt. Diese passive Erfahrung des Zuteilwerdens, Überwältigtwerdens, Empfangens und Wiederhergebenmüssens, ohne es besitzen zu 9 können, gehört vielleicht zu den Bestimmungsstücken des Glücks. Es scheint – so schreibt Freud in seinem zivilisationskritischen Aufsatz „Das Unbehagen an der Kultur“ -, als sei dauerhaftes Glück für den Menschen „im Plan der ‚Schöpfung’ nicht enthalten.“ (1937, S. 434) Denn das Erleben von Glück sei stets von drei Seiten her bedroht: „von unserem eigenen Körper her“, der der Vergänglichkeit und dem Verfall ausgesetzt ist, durch die Macht der „Außenwelt“ und endlich aus unseren „Beziehungen zu anderen Menschen.“ (S. 434) Die einzige Möglichkeit, Glück zu erleben, liege deshalb in der Anerkennung dieser Begrenzungen, d.h. in jener „Lebenstechnik“ (S. 441), die er die Erfahrung der Liebe nennt. Diese Erfahrung, so fährt Freud fort, sei allerdings verletzlich: Denn niemals „sind wir ungeschützter gegen das Leiden, als wenn wir lieben, niemals hilfloser unglücklich, als wenn wir das geliebte Objekt oder seine Liebe verloren haben.“ (S. 441) Was bedeutet dies für die seelische Behandlung? Für die Organisation des individuellen Glücks, so Freud, sei die Psychoanalyse nicht zuständig. Ihre Aufgabe müsse sich darauf beschränken, „neurotisches Elend in gemeines seelisches Unglück zu verwandeln“ (Freud), um dem Patienten die Freiheit und Verantwortung für sein Leben zurückzugeben. Also kein Versprechen von Glück, keine Wunscherfüllung, keine utopischen Ziele – lediglich die Hoffnung, er könne auf diese Weise besser damit zurechtkommen, in der Wirklichkeit zu leben und die Vergänglichkeit der menschlichen Erfahrungen anzuerkennen (Freud 1916a). Eine wichtige Erkenntnis hat die psychoanalytische Erforschung der Seele allerdings den philosophischen Lehren vom Glück hinzugefügt: dass es nämlich unmöglich ist, alleine glücklich zu werden. Denn Glück ist immer an unsere Beziehung zu einem Anderen gebunden und wir kennen Gefühlszustände, die mit der Erfahrung von Glück unverträglich sind: Gier, Groll, Neid und Zorn machen es uns fast unmöglich, glücklich zu sein. Eine Voraussetzung für das Erleben von Glück besteht hingegen in der Fähigkeit zu Wiedergutmachung, Liebe und Dankbarkeit (Klein 1957) gegenüber denjenigen, auf deren Unterstützung und Liebe wir angewiesen sind. Insofern ist „Glück“ schon am Anfang des menschlichen Lebens eine zwischenmenschliche Erfahrung, in der die „Freude am Dasein“ - von der Epikur spricht - auch die Freude am Dasein des Anderen ist. 10 Literatur Andreae, J. V. (1619), Christianopolis. Stuttgart: Reclam 1975. Balzer, W. (2012), Subjekt und Synapse. Streifzüge durch die Umwelten von Menschen und Maschinen. Psyche – Z Psychoanal 66, 728-751. Baumann, Z. (2000), Flüchtige Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Ehrenberg, A. (1998), Das ershöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. Freud, S. (1916a), Vergänglichkeit. G.W. 10, 358-361. Freud, S. (1930 ), Das Unbehagen in der Kultur. G.W. 14, 419-506. Heraklit, Fragmente (Hg. Snell, B.). München: Artemis 1983. Kant, I. 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