60 Jahre Grundgesetz – Verfassung im geteilten - Helmut
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60 Jahre Grundgesetz – Verfassung im geteilten - Helmut
Druckerei C. H . Beck Jahrbuch für Ostrecht, Band 01, 1. Halbband 2009 Medien mit Zukunft ..................................... Erstversand, 13.08.2009 .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. .. ... ... ... Normativverfassung und Realverfassung des GG 15 _________________________________________________________________________________ PROF. DR. ULRICH HUFELD*, HAMBURG Ulrich Hufeld Normativverfassung und Realverfassung des GG 60 Jahre Grundgesetz – Verfassung im geteilten und für das wiedervereinigte Deutschland Auch in Deutschland fiel 1989/90 eine sozialistische Verfassungs- und Rechtsordnung weg. Anders als die übrigen osteuropäischen Staaten konnte Deutschland dank der Sondersituation der Wiedervereinigung das vorhandene Grundgesetz auf die frühere DDR ausdehnen. Dies hat die Verfassungswirklichkeit naturgemäß stark verändert, auch wenn die wiedervereinigungsbedingten textlichen Veränderungen im Grundgesetz vergleichsweise gering sind. Der Beitrag untersucht die Realverfassung und die normative Verfassung in Deutschland vor und nach der Wiedervereinigung und setzt sich mit der neuen fundamentalen Herausforderung, der europäischen Integration, auseinander. INHALT I. 60 Jahre Grundgesetz – in Identität II. Die normative Kraft der Verfassung – vor und nach 1990 1. Das Grundgesetz als einigende Verfassung: das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag a) Grenzen der Deutschlandpolitik b) Deutschlands Identitäten c) Deutschlands Norm – Wirklichkeit und Verfassungsmut d) Sinnvariabilität und Deutschlands Verfassungsidentität e) Gebundenheit künftiger Deutschlandpolitik f) Franz Josef Strauß 2. Die normative Kraft der Einheitsverfassung a) Bewährungsproben: Militär- und Finanzverfassung * b) Kontrolldichte im Wehrverfassungsrecht: Vollkontrolle c) Kontrolldichte im Staatsschuldenrecht: Kontrollfassade III. Artikel 146 GG – vor und nach 1990 1. Art. 146 GG als Ablösungsvorbehalt bis zur Wiedervereinigung 2. Art. 146 GG n. F.: das deutsche Volk als aktivierbare verfasste Gewalt IV. 60 Jahre Grundgesetz – zurück in die europäische Zukunft 1. Art. 23 GG: Vom Deutschland-Artikel zum Europa-Artikel 2. Individualrechtsschutz gegen das Integrationsgesetz 3. Von der Staatsbürgerschaft zur Unionsbürgerschaft Summary ____________ * Geb. 1967 in Mainz. Studium, Promotion (1996) und Habilitation (2002) in Heidelberg. 2003–2008 Professor für Staats- und Europarecht an der Deutschsprachigen Andrássy Universität Budapest, Gründungsdekan ihrer Fakultät für Vergleichende Staats- und Rechtswissenschaft. Seit 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Steuerrecht an der Helmut-Schmidt-Universität/ Universität der Bundeswehr Hamburg. Forschungsschwerpunkte im Staats- und Europarecht, deutschen und internationalen Steuerrecht und der Verfassungsgeschichte der Neuzeit. Zahlreiche Publikationen zu diesen Themen, jüngst „Europas Verfassungsgemeinschaft – Staatsrechtliche Perspektive“ in Hufeld/Epiney (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (Textsammlung, 2009). .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. Druckerei C. H . Beck Jahrbuch für Ostrecht, Band 01, 1. Halbband 2009 Medien mit Zukunft ..................................... Erstversand, 13.08.2009 .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. 16 Ulrich Hufeld _________________________________________________________________________________ I. 60 JAHRE GRUNDGESETZ – IN IDENTITÄT Die Generation der ungefähr Vierzigjährigen, der auch der Autor angehört – geboren in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre –, hat von heute aus betrachtet Deutschland in zweierlei Verfassung erlebt: in der ersten Hälfte ihres bisherigen Lebens das geteilte, in der zweiten das wiedervereinigte Deutschland; zwanzig Jahre in alter, seit zwanzig Jahren in neuer Verfassung. Mit dieser Formulierung drängt sich sogleich die Frage auf: Zweierlei Verfassungen? Gilt nicht das identische Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ununterbrochen seit dem 23. Mai 1949? Feiern wir nicht in diesem Jahr den zwanzigsten Jahrestag des säkularen 9. November 1989 – zugleich jedoch den 60. Geburtstag des Grundgesetzes? Diese Fragen führen zu einigen wichtigen, im wesentlichen unstreitigen Klarstellungen: – Wir unterscheiden zwischen der empirischen, deskriptiven Verfassung – der Realverfassung – auf der einen Seite, und der präskriptiven, normativen Verfassung auf der anderen Seite1. Wie der Mensch, so kann auch ein Land in einer guten oder schlechten Verfassung sein, einem Zustand, der realiter so oder so beschaffen sein mag. Wenn wir also nicht den normativen, sondern den empirischen Verfassungsbegriff zugrunde legen, kann kein Zweifel daran sein, dass sich die Verfassung Deutschlands, sein Zustand, 1989/90 einschneidend verändert hat. – Die normative Verfassung der heutigen Bundesrepublik ist identisch mit der Verfassung der alten Bundesrepublik. Dass das Grundgesetz vielfach, auch im Zuge der Wiedervereinigung2, geändert worden ist, berührt nicht seine Identität. Sie beruht auf der Unantastbarkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, zutreffend als „Identitätsgarantie“ bezeichnet, irreführend auch als „Ewigkeitsgarantie“. Solange diese Norm in Geltung steht und ihre Wirksamkeit behauptet, haben wir es mit einem identischen Grundgesetz zu tun. Die Umwälzungen der Jahre 1989/90 in der Realverfassung Deutschlands waren gewiss gewaltig – nur mag man sie einschätzen wie man will: Normative Identität und materielle Substanz des Grundgesetzes, die österreichischen Kollegen würden sagen: seine Baugesetze, haben Bestand seit der Beschlussfassung im Parlamentarischen Rat unter dem Vorsitz Konrad Adenauers, seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes3 bis heute. Unverändert. Die einzige Norm, die der Verfassunggeber mit der Kraft ausgestattet hatte, aus Anlass der (Chance auf) Wiedervereinigung die Verfassungskontinuität abzubrechen und Deutschlands Verfassung vom Grundgesetz abzukoppeln, war Art. 146 GG; er hat sich als besonderer Ermächtigungstitel der verfassunggebenden Gewalt 1990 historisch erledigt (u. III 1). – Die Generationsgenossen, die bis zur Wiedervereinigung DDR-Bürger waren, haben, wiederum von heute aus betrachtet, nicht nur unter zweierlei Realverfassungen gelebt, sondern auch unter grundverschiedenen normativen Verfassungen – abgesehen von der Frage, ob die DDR unter der SED-Suprematie4 überhaupt jemals eine normative Verfassung im strengen Sinne hatte. Aus all diesen Dualismen ergibt sich eine Zweiteilung auch im Hauptteil (II) der folgenden Skizze über die normative Kraft des Grundgesetzes in zweierlei Realverfassungen Deutschlands. Er handelt vom Wiedervereinigungsgebot – von einem spe____________ 1 Statt vieler: D. Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: J. Isensee, P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR) Bd. I, 3. Aufl. Heidelberg 2003, § 1 Rn. 1. 2 Dazu U. Hufeld, Die Verfassungsdurchbrechung. Rechtsproblem der Deutschen Einheit und der europäischen Einigung. Ein Beitrag zur Dogmatik der Verfassungsänderung, Berlin 1997, S. 188 ff. Zum neuen Art. 146 GG s. u. III. 3 R. Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in Isensee, Kirchhof, HStR Bd. I (Fn. 1), § 8 Rn. 84 ff. 4 G. Brunner, Das Staatsrecht der Deutschen Demokratischen Republik, in Isensee, Kirchhof, HStR Bd. I (Fn. 1), § 11 Rn. 17 ff., zum „Kern des politischen Systems: die Suprematie der SED“. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. .. .. ... ... .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. Druckerei C. H . Beck Jahrbuch für Ostrecht, Band 01, 1. Halbband 2009 Medien mit Zukunft ..................................... Erstversand, 13.08.2009 .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. .. ... ... ... Normativverfassung und Realverfassung des GG 17 _________________________________________________________________________________ zifisch verfassungsrechtlichen Beitrag zur Wiederherstellung der deutschen Einheit –, sodann von der normativen Kraft der Verfassung im vereinten Deutschland, das mit neuen, sehr realen Herausforderungen die Militärverfassung und die Finanzverfassung auf ernste Belastungsproben gestellt hat. Im Anschluss erhebt sich die Frage, welche Bedeutung der Schlussbestimmung des Grundgesetzes, Art. 146 GG, seit der Wiedervereinigung zukommt (III). II. DIE NORMATIVE KRAFT DER VERFASSUNG – VOR UND NACH 1990 Über die normative Kraft des Grundgesetzes bestimmt das Bundesverfassungsgericht. So trivial dieser Satz klingen mag, so markiert er doch ein fundamentales Charakteristikum der Verfassungsordnung Deutschlands. Er verweist nicht nur auf die Kompetenzfülle des Karlsruher Gerichts. Gemeint ist auch, dass das Bundesverfassungsgericht in seine Verfügungsgewalt über den Kontrollmaßstab Grundgesetz die Entscheidung über die Kontrolldichte einschließt. Dieser Satz nun mutet weniger trivial, aber doch harmlos an. Der Eindruck täuscht. In der Bemessung der Kontrolldichte zieht das Gericht die Grenze zwischen Recht und Politik. Im Verfassungsprozess, zumal in der Normenkontrolle – das heißt: in der Kontrolle der parlamentarischen Gesetzgebung –, versteckt sich in der unscheinbaren Entscheidung über die Kontrolldichte nicht selten die Vorentscheidung in der Sache. Wird dem Parlament qua „judicial self-restraint“ eine Prärogative der Gestaltung, Einschätzung oder Prognose zugestanden, vergrößert sich der Raum des Politischen; er verkleinert sich in der Vollkontrolle und kann, in Abhängigkeit von der verfassungsrechtlichen Regelungs- oder verfassungsgerichtlichen Interpretationsdichte, gegen Null tendieren. Das Geheimnis der Verfassungsgerichtsbarkeit besteht darin, dass die Bemessung der Kontrolldichte ihrerseits verfassungsrechtlich kaum determiniert ist, deshalb in Karlsruhe virtuos gehandhabt werden kann. Dass die Grenze zwischen Verfassungsrecht und Politik schwer zu ziehen ist, bedeutet nicht, dass es sie nicht gibt, wirft aber die kritische Frage auf, wer sie zieht. 1. Das Grundgesetz als einigende Verfassung: das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag In Deutschland: das Bundesverfassungsgericht. Und vor der Wiedervereinigung war die Grenzbestimmung im Verhältnis zwischen politischer Gestaltungs- und richterlicher Kontrollmacht in keiner anderen Frage so prekär wie in der Frage aller politischen Fragen, der „deutschen Frage“, in der Präambel des Grundlagenvertrages mit der DDR vom 21. Dezember 19725 als „nationale Frage“ angesprochen6. a) Grenzen der Deutschlandpolitik Das Urteil zum Grundlagenvertrag bemühte sich um eine deutlich markierte Recht-Politik-Grenzziehung, nicht um eine Dogmatik der Kontrolldichte; es erklärt den Verzicht auf Politik, sucht den Rechtstitel Wiedervereinigung: ____________ 5 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, dazu das Zustimmungsgesetz vom 6. Juni 1973, BGBl. II S. 421. 6 BVerfGE 36, 1 (25, 35). .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. Druckerei C. H . Beck Jahrbuch für Ostrecht, Band 01, 1. Halbband 2009 Medien mit Zukunft ..................................... Erstversand, 13.08.2009 .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. 18 Ulrich Hufeld _________________________________________________________________________________ „Der Grundsatz des judicial self-restraint, den sich das Bundesverfassungsgericht auferlegt, bedeutet nicht eine Verkürzung oder Abschwächung seiner eben dargelegten Kompetenz, sondern den Verzicht ,Politik zu treiben‘, d. h. in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Er zielt also darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten. … Die Bundesregierung hat allerdings in eigener Verantwortung zu entscheiden, mit welchen politischen Mitteln und auf welchen politischen Wegen sie das nach dem Grundgesetz rechtlich gebotene Ziel der Wiedervereinigung zu erreichen oder ihm wenigstens näherzukommen versucht. Die Abschätzung der Chancen ihrer Politik ist ihre und der sie tragenden parlamentarischen Mehrheit Sache. Hier hat das Gericht weder Kritik zu üben noch seine Auffassung über die Aussichten der Politik zu äußern. Die politische Verantwortung dafür liegt allein bei den politischen Instanzen. Eine Grenze, die allerdings das Bundesverfassungsgericht deutlich zu machen, zu bestimmen und u. U. durchzusetzen hat, liegt im Rechtsund Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland darin, daß die Verfassung verbietet, daß die Bundesrepublik auf einen Rechtstitel (eine Rechtsposition) aus dem Grundgesetz verzichtet, mittels dessen sie in Richtung auf Verwirklichung der Wiedervereinigung und der Selbstbestimmung wirken kann, oder einen mit dem Grundgesetz unvereinbaren Rechtstitel schafft oder sich an der Begründung eines solchen Rechtstitels beteiligt, der ihr bei ihrem Streben nach diesem Ziel entgegengehalten werden kann“7. Auf dieser Grundlage machte sich das Gericht daran, die „Aussagen des Grundgesetzes über den Rechtsstatus Deutschlands“ zu bekräftigen. Denn in „dieser Begrenzung setzt das Grundgesetz jeder politischen Macht, auch im Bereich der auswärtigen Politik, rechtliche Schranken …“8. b) Deutschlands Identitäten Die DDR kommt im Grundlagenvertrag und im Karlsruher Urteil ohne Anführungszeichen daher. „Die Deutsche Demokratische Republik ist im Sinne des Völkerrechts ein Staat und als solcher Völkerrechtssubjekt“9, bescheinigt ihr auch das Bundesverfassungsgericht. Es kümmert sich freilich nicht um ihr Selbstverständnis10, sondern beurteilt sie und die Bundesrepublik von Verfassungs wegen (!) als „zwei Staaten, die Teile eines noch immer existierenden, wenn auch handlungsunfähigen, weil noch nicht reorganisierten umfassenden Staates Gesamtdeutschland mit einem einheitlichen Staatsvolk sind“11. Das Gericht folgert aus der Präambel, Art. 16, Art. 2312, Art. 116 und Art. 146 GG: „Das Deutsche Reich existiert fort, besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit, ist allerdings als Gesamtstaat mangels Organisation selbst nicht handlungsfähig“13. ____________ 7 BVerfGE 36, 1 (14 f., 18) – Hervorhebung und Klammerzusatz im Original. BVerfGE 36, 1 (14). 9 BVerfGE 36, 1 (22). 10 Spannende Darstellung zum „Positionswechsel der DDR: Zwei deutsche Staaten als Normalzustand“ bei O. Luchterhandt, Die staatliche Teilung Deutschlands, in Isensee, Kirchhof, HStR Bd. I (Fn. 1), § 10 Rn. 65 ff., Rn. 71 f. zur Zwei-Nationen-Theorie ab 1971, Rn. 73 zum Ziel der DDRPolitik: „Ausschließlich völkerrechtliche Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland und Vollendung der Teilung“. 11 BVerfGE 36, 1 (23). 12 Art. 23 GG in der Fassung, die vom 23. Mai 1949 bis zum 28. September 1990 in Geltung stand: „Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen“. 13 BVerfGE 36, 1 (16). 8 .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. .. .. ... ... .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. Druckerei C. H . Beck Jahrbuch für Ostrecht, Band 01, 1. Halbband 2009 Medien mit Zukunft ..................................... Erstversand, 13.08.2009 .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. .. ... ... ... Normativverfassung und Realverfassung des GG 19 _________________________________________________________________________________ Im Zeichen dieser Rechtslage verwandelten sich Wörter wie „Deutschland“ oder „Grenzen der Deutschlandpolitik“ in juristisch konturierte Begriffe, verwandelte sich deutschlandpolitische Rabulistik in Verantwortung. Deutschland war kein dritter Staat. Die Bundesrepublik wurde 1949 auch nicht Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches. Sie war und ist 14 identisch mit Deutschland, mit dem Deutschen Reich, räumlich „teilidentisch“15. Dies – und die Feststellung, dass „die Identität keine Ausschließlichkeit beansprucht“16, samt dem Diktum: auch die DDR „gehört zu Deutschland“ 17 – hatte Konsequenzen: Die Bundesrepublik habe bis auf weiteres ihre Hoheitsgewalt zu beschränken, „fühlt sich aber auch verantwortlich für das ganze Deutschland“18; und die DDR kann von der Bundesrepublik „nicht als Ausland“ angesehen werden19, deshalb könne etwa der innerdeutsche Handel nicht Außenhandel sein. c) Deutschlands Norm – Wirklichkeit und Verfassungsmut Dass Norm und Wirklichkeit, Verfassung und Politik sich nicht wechselseitig dementieren, sondern wechselseitig beeinflussen, wird heute nicht mehr bestritten. Die Verfassung ist selbst ein Stück Wirklichkeit, verarbeitete und verfestigte Wirklichkeit, ein Aggregatzustand des Politischen – mit einem Geltungs- und Steuerungsanspruch. Die Wirklichkeit der Politik andererseits widersetzt sich gelegentlich dem normativen Anspruch der Verfassung, in der Regel jedoch wird die verfassungsrechtliche Kraft der Entpolitisierung akzeptiert. Eine dritte Amtszeit amerikanischer Präsidenten ist seit Jahrzehnten kein Politikum mehr, weil das Verfassungsverbot wie selbstverständlich akzeptiert wird. Unabhängig von Graden der Akzeptanz gilt: Eine normentleerte Wirklichkeit gibt es nicht. Im Sommer 1973 stellte sich den Verfassungsrichtern allerdings umgekehrt die Frage, ob sie mit ihrem Deutschland der zwei Staaten an einer wirklichkeitsentleerten Norm festhalten. Der realpolitische Zeitgeist wehte in eine ganz andere Richtung20. Selbst die gegen Willy Brandts Ostpolitik opponierende CDU hatte es an Mut zur Verfassung fehlen lassen und auf einen Normenkontrollantrag gegen das Vertragsgesetz verzichtet; die Rolle des einsamen Standfesten übernahm Franz Josef Strauß [näher dazu sogleich u. f)]. Die Tapferkeit der Verfassungsrichter bewährte sich im Kampf um die Norm. Sie mögen kalkuliert haben: Der Kampf lohnt sich, weil es keine normentleerte Wirklichkeit gibt; der Norm, die auf die Wiedervereinigung ausgeht, liegt eine ältere Wirklichkeit zugrunde und das Wissen derer, die sie im Parlamentarischen Rat beschlossen haben 21 ; sie muss sich in der Dialektik des Kalten ____________ 14 C. Hillgruber, Der Nationalstaat in der überstaatlichen Verflechtung, in Isensee, Kirchhof, HStR (Fn. 1) Bd. II, 3. Aufl. Heidelberg 2004, § 32 Rn. 2; Luchterhandt (Fn. 10), Rn. 75. 15 BVerfGE 36, 1 (16). Luchterhandt (Fn. 10), Rn. 75, führt die contradictio in adjecto darauf zurück, dass im Urteil die beiden Fortbestandslehren miteinander verwoben waren: Identitätslehre und Teilordnungslehre. 16 BVerfGE 36, 1 (16). 17 BVerfGE 36, 1 (17). 18 BVerfGE 36, 1 (16). 19 BVerfGE 36, 1 (17). 20 J. Isensee, Die deutsche Teilung und die deutsche Einheit im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in Ch. Hillgruber (Hrsg.), Einigkeit und Recht und Freiheit, Münster u. a. 2008, S. 7 (16 ff.). 21 B. Fassbender, Wissen als Grundlage staatlichen Handelns, in Isensee, Kirchhof, HStR (Fn. 1), Bd. IV, 3. Aufl. Heidelberg 2006, § 76 Rn. 21: „Vom Verfassunggeber vorausgesetztes Wissen muß im späteren Verfassungsleben erhalten, wachgehalten und aktualisiert werden, damit die entspre- .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. Druckerei C. H . Beck Jahrbuch für Ostrecht, Band 01, 1. Halbband 2009 Medien mit Zukunft ..................................... Erstversand, 13.08.2009 .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. 20 Ulrich Hufeld _________________________________________________________________________________ Krieges und der Entspannungspolitik behaupten; das ist auch eine Aufgabe der politischen Bildung und des normbewussten Sprachgebrauchs. Nur so lassen sich zwei bemerkenswerte Passagen des Urteils erklären: – „Aus dem Wiedervereinigungsgebot folgt: Kein Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland darf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit als politisches Ziel aufgeben, alle Verfassungsorgane sind verpflichtet, in ihrer Politik auf die Erreichung dieses Zieles hinzuwirken – das schließt die Forderung ein, den Wiedervereinigungsanspruch im Inneren wachzuhalten und nach außen beharrlich zu vertreten – und alles zu unterlassen, was die Wiedervereinigung vereiteln würde“22. – „Wenn heute von der ,deutschen Nation‘ gesprochen wird, die eine Klammer für Gesamtdeutschland sei, so ist dagegen nichts einzuwenden, wenn darunter auch ein Synonym für das ,deutsche Staatsvolk‘ verstanden wird, an jener Rechtsposition also festgehalten wird und nur aus politischen Rücksichten eine andere Formel verwandt wird. Versteckte sich dagegen hinter dieser neuen Formel ,deutsche Nation‘ nur noch der Begriff einer im Bewußtsein der Bevölkerung vorhandenen Sprach- und Kultureinheit, dann wäre das rechtlich die Aufgabe einer unverzichtbaren Rechtsposition“23. d) Sinnvariabilität und Deutschlands Verfassungsidentität Das Urteil des Zweiten Senats war ein Feldzug gegen die systematische Vieldeutigkeit des Grundlagenvertrages. In geltungserhaltender Reduktion legte es das Vertragsgesetz und damit den sinnvariablen Vertrag auf die eine, die verfassungsmögliche Auslegung fest. Mit dem Urteilstext vom 31. Juli 1973 erlebte die Methode der verfassungskonformen Auslegung24 eine historische Sternstunde. Der Vertrag wollte aus der Unbestimmtheit aller (Norm-)Texte eine politische Tugend machen, suchte in der Offenheit der Abreden ein do ut des der politischen Zugeständnisse, verdeckte dilatorische Formelkompromisse hinter unverfänglichen Allerweltswendungen. Das war eine Herausforderung um so mehr, als der Vertrag die Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel krönen sollte; das Bundesverfassungsgericht nannte die Verträge von Moskau und Warschau „herausragende Meilensteine“ der „auf Entspannung angelegten Ostpolitik“, dem Grundlagenvertrag schrieb es „fundamentale Bedeutung“ zu25. Das Gericht unterstellte den vieldeutigen Grundlagenvertrag dem eindeutigen Wiedervereinigungsgebot. Das Urteil setzte der Sinnvariabilität des Vertrages die unzweideutige Verfassungsidentität entgegen. Der „Brief der Bundesregierung zur deutschen Einheit“ (21. Dezember 1972) bestätige nur, „was sich aus der Interpretation des Vertrags selbst ergibt“26: – „Die ,nationale Frage‘ ist für die Bundesrepublik Deutschland konkreter das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes, das auf die ,Wahrung der staatlichen Einheit des deutschen Volkes‘27 geht. Die Präambel28, so gelesen, ist ein entscheidender Satz zur Auslegung des gan____________ chenden Normen wirksam bleiben. So ist es im Zeitraum zwischen der Verabschiedung des Grundgesetzes im Jahr 1949 und der Wiedervereinigung des Jahres 1990 gelungen, das Wissen darüber zu erhalten, was der Parlamentarische Rat mit den Begriffen der ,Übergangszeit‘ (Präambel a. F.) und der ,anderen Teile Deutschlands‘ (Art. 23 a. F.) meinte“. 22 BVerfGE 36, 1 (17 f., 34 f.). 23 BVerfGE 36, 1 (19) – Hervorhebungen im Original. 24 Vgl. BVerfGE 36, 1 (14). 25 BVerfGE 36, 1 (20). 26 BVerfGE 36, 1 (25). 27 Bezugnahme auf die Präambel des GG in der damals geltenden Fassung („… von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren …“). 28 Bezugnahme auf die Präambel des Grundlagenvertrags; s. bereits o. bei Fn. 6; s. auch o. bei Fn. 23 zur Formel „deutsche Nation“. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. .. .. ... ... .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. Druckerei C. H . Beck Jahrbuch für Ostrecht, Band 01, 1. Halbband 2009 Medien mit Zukunft ..................................... Erstversand, 13.08.2009 .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. .. ... ... ... Normativverfassung und Realverfassung des GG 21 _________________________________________________________________________________ zen Vertrags: Er steht mit dem grundgesetzlichen Wiedervereinigungsgebot nicht in Widerspruch“29. – Zum Vertragsbegriff „Grenze“ (Art. 3 Abs. 2): „Für die Frage, ob die Anerkennung der Grenze zwischen den beiden Staaten als Staatsgrenze mit dem Grundgesetz vereinbar ist, ist entscheidend die Qualifizierung als staatrechtliche Grenze zwischen zwei Staaten, deren ,Besonderheit‘ ist, daß sie auf dem Fundament des noch existierenden Staates ,Deutschland als Ganzes‘ existieren, daß es sich also um eine staatsrechtliche Grenze handelt ähnlich denen, die zwischen den Ländern der Bundesrepublik Deutschland verlaufen“30. – Die beiderseitige Beschränkung der Hoheitsgewalt auf das jeweilige Staatsgebiet (Art. 6 des Vertrages) „ist nur mit dem Grundgesetz vereinbar, wenn man sie dahin auslegt, daß für die Bundesrepublik Deutschland die Basis dieses Vertrages der von ihr nach dem Grundgesetz anzuerkennende Fortbestand Deutschlands als (zwar nicht organisierter und deswegen handlungsunfähiger) Staat ist“31. – Keine der Vertragsbestimmungen kann „dahin ausgelegt werden, daß die Bereitschaft (und Aufforderung) der Bundesregierung, das ihr gemäß Art. 23 GG32 zur Pflicht Gemachte zu verwirklichen, ein vertragswidriges Verhalten wäre. Diese Aufnahme der anderen Teile Deutschlands in einen freien deutschen Staat, der rechtlich auch nach Inkrafttreten des Vertrags möglich bleiben muß, ist die grundgesetzlich gebotene Rechtsauffassung, die der politischen Vorstellung der Deutschen Demokratischen Republik entgegenzusetzen ist, daß es eine Vereinigung nur in einem kommunistischen deutschen Staat der Zukunft geben dürfte“33. Den Passus „andere Teile Deutschlands“ (Art. 23 GG a. F.) bezieht das Urteil zum Grundlagenvertrag konkret auf den Raum der DDR34. – „Müßte der Vertrag dahin verstanden werden, daß die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik im Geltungsbereich des Grundgesetzes nicht mehr als Deutsche im Sinne des Art. 16 und des Art. 116 Abs. 1 GG behandelt werden dürften, so stünde er eindeutig im Widerspruch zum Grundgesetz. Der Vertrag bedarf daher, um verfassungskonform zu sein, der Auslegung, daß die Deutsche Demokratische Republik auch in dieser Beziehung nach dem Inkrafttreten des Vertrags für die Bundesrepublik Deutschland nicht Ausland geworden ist. Der Vertrag bedarf weiter der Auslegung, daß – unbeschadet jeder Regelung der Deutschen Demokratischen Republik – die Bundesrepublik Deutschland jeden Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, der in den Schutzbereich der Bundesrepublik und ihrer Verfassung gerät, gemäß Art. 116 Abs. 1 und 16 GG als Deutschen wie jeden Bürger der Bundesrepublik behandelt“35. – Damit blieb das Gericht auf der bereits 1953 vorgezeichneten Linie, das Grundrecht der Freizügigkeit (Art. 11 GG) auch den Deutschen in der sowjetischen Besatzungszone und dem sowjetischen Sektor Berlins zuzusprechen36. Die Bundesrepublik hält die Grenze auf ihrer Seite offen37! – „Schließlich muß klar sein, daß mit dem Vertrag schlechthin unvereinbar ist die gegenwärtige Praxis an der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, also Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl. Insoweit gibt der Vertrag eine zusätzliche Rechtsgrundlage dafür ab, daß die Bundesregierung in Wahrnehmung ihrer grundgesetzlichen Pflicht alles ihr Mögliche tut, um diese unmenschlichen Verhältnisse zu ändern und abzubauen“38. ____________ 29 BVerfGE 36, 1 (25) – Hervorhebung nicht im Original. BVerfGE 36, 1 (26) – Hervorhebung im Original. BVerfGE 36, 1 (27 f.) – Klammerzusatz im Original. 32 Der Text des Art. 23 a. F. findet sich in Fn. 12. 33 BVerfGE 36, 1 (29) – Klammerzusatz und Hervorhebung im Original. 34 Isensee (Fn. 20), S. 12: „zukunftsermöglichende(r) Interpretationstat“. 35 BVerfGE 36, 1 (30 f.). 36 BVerfGE 2, 266 – Notaufnahmelager. 37 Isensee (Fn. 20), S. 10: „… der praktisch wichtigste Beitrag zur Aufrechterhaltung der deutschen Einheit“. 38 BVerfGE 36, 1 (35). 30 31 .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. Druckerei C. H . Beck Jahrbuch für Ostrecht, Band 01, 1. Halbband 2009 Medien mit Zukunft ..................................... Erstversand, 13.08.2009 .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. 22 Ulrich Hufeld _________________________________________________________________________________ e) Gebundenheit künftiger Deutschlandpolitik Das Urteil ging von der ersten bis zur letzten Zeile auf Wirkung in der Realpolitik aus. Das Bundesverfassungsgericht hatte allen Grund, die realpolitische Funktion des Grundlagenvertrages hoch zu veranschlagen, zumal er (Art. 7) auf Konkretisierung in Folgeverträgen angelegt war. So musste sich die Bundesregierung wiederholt an ihre Pflicht erinnern lassen, das öffentliche Bewusstsein für Gemeinsamkeiten und weltanschauliche Unterschiede in „Deutschland“ wachzuhalten – und musste sich warnen lassen, der DDR im neuen Vertragsrahmen keine Handhabe zu geben, deutschlandpolitische Aufklärung als vertragswidrige Einmischung in innere Angelegenheiten zu beschränken39. Ebenso stellte das Bundesverfassungsgericht klar, dass der Grundlagenvertrag keine Rechtsgrundlage dafür abgebe, Rundfunk- und Fernsehsendungen zu unterbinden, die in der DDR unerwünscht sind40. f) Franz Josef Strauß Dass der Verfassungsprozess in Sachen Grundlagenvertrag ohne Franz Josef Strauß zustande gekommen wäre, darf man als sehr unwahrscheinlich bezeichnen. Wo kein Kläger, da kein Richter. Bevor ein Gericht mit seinem Urteil in der Wirklichkeit Rechtswirkung entfalten kann, muss sich ein Antragsteller finden, der die Klage erheben will – das ist die Tatfrage – und die Klage erheben darf – das ist die Rechtsfrage. Die Verfassungsbeschwerde für den Jedermann (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG) stand jedoch nicht zur Verfügung. Denn dem parlamentarischen Zustimmungsgesetz zum Grundlagenvertrag, dem Streitobjekt, fehlte der unmittelbare Grundrechtsbezug41. In Betracht kam nur die abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) mit den drei Antragsberechtigten: Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Drittel der Mitglieder des Bundestages. Die Regierung Brandt wollte vieles, aber gewiss keinen Verfassungsprozess um den Grundlagenvertrag; sie schied als Antragstellerin von vornherein aus. In der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion konnte sich der Abgeordnete Strauß nicht durchsetzen. Die Fraktionsmehrheit fürchtete eine Niederlage in Karlsruhe und damit einen womöglich noch größeren Schaden für die Deutschlandpolitik; damit fiel auch dieser Antragsteller aus, das antragsberechtigte Drittel im Bundestag formierte sich nicht. So blieben die Landesregierungen. Keine hat sich getraut, aus unterschiedlichen Gründen, auch nicht, zunächst, die bayerische Staatsregierung unter Alfons Goppel. In dieser Lage trat Franz Josef Strauß als Parteivorsitzender auf den Plan. Ein fulminantes Kapitel seiner Memoiren handelt von seinem „Schlag gegen die von Brandt und Bahr entwickelte Politik des doppelten Bodens“: „dem Vertragspartner DDR gegenüber die eigene Interpretation gar nicht ernsthaft zu verteidigen und damit dessen Interpretation gelten zu lassen, zu Hause aber mit Entrüstung das Gegenteil für sich in Anspruch zu nehmen“42. Strauß konnte freilich nicht als Privatmann nach Karlsruhe ziehen, auch nicht als Mitglied des Deutschen Bundestages – und das Amt des Ministerpräsidenten hat er erst fünf Jahre später übernommen. „Ich mußte voll und ganz mein Gewicht als Parteivorsitzender zur Geltung bringen“, um ____________ 39 BVerfGE 36, 1 (34 f.). BVerfGE 36, 1 (33 f.). Demgegenüber s. u. IV 2 zur Verfassungsbeschwerdebefugnis aus Art. 38 Abs. 1 GG gegen Integrationsverträge. 42 F. J. Strauß, Die Erinnerungen, 4. Aufl. Berlin 1989, S. 456. 40 41 .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. .. .. ... ... .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. Druckerei C. H . Beck Jahrbuch für Ostrecht, Band 01, 1. Halbband 2009 Medien mit Zukunft ..................................... Erstversand, 13.08.2009 .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. .. ... ... ... Normativverfassung und Realverfassung des GG 23 _________________________________________________________________________________ in einer „erbitterten dreistündigen Redeschlacht“ das bayerische Kabinett umzustimmen43. So kam der Verfassungsprozess zustande, und Strauß kommentierte das Urteil in seinen Memoiren mit Genugtuung: „Der Grundlagenvertrag war nun an die Leine eines Interpretationszwanges gelegt worden, der die deutsche Verfassungswirklichkeit berücksichtigte, den Begriff Deutschland am Leben erhielt und künftige Regierungen verpflichtete … Unsere Verfassung war nicht erdolcht worden“44. Dass die Wiedervereinigung geglückt ist, verdanken wir politischer Klugheit und Stärke der USA, der Konkursverwaltung Gorbatschows, den Deutschen in der DDR, dem Aufbruch in Ungarn 45 und ganz Ostmitteleuropa – und jenen in der alten Bundesrepublik, die willens waren, „festzuhalten am Bewußtsein der Einheit der Nation“46. Das Bundesverfassungsgericht hat seinen Beitrag geleistet. 2. Die normative Kraft der Einheitsverfassung Josef Isensee hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur deutschen Einheit auf den Punkt gebracht: „Bis 1990 war es ihre Aufgabe, die Hoffnung auf Wiedervereinigung forensisch aufrechtzuerhalten. Seit 1990 ist es ihre Aufgabe, die Enttäuschungen der Wiedervereinigung forensisch zu verarbeiten. Die erste Aufgabe hat das Bundesverfassungsgericht glorreich gemeistert. In der zweiten Aufgabe ist kaum Ruhm zu gewinnen“ 47 . Auf Isensees Analyse der Begleitentscheidungen im Prozess der Wiedervereinigung und der ruhmlosen Judikatur zu den Nachwirkungen der Teilung im geeinten Deutschland48 sei verwiesen. Die folgenden Überlegungen lenken die Aufmerksamkeit auf Bewährungsproben der Einheitsverfassung, die mit den heutigen, dramatisch veränderten Wirklichkeiten zu tun haben. a) Bewährungsproben: Militär- und Finanzverfassung Dass die Bundesrepublik der NATO nicht nur als Protegé und Financier angehören kann, vielmehr auch militärische Lasten der Mitgliedschaft zu tragen hat, ist politisch erst nach der Wiedervereinigung und schrittweise anerkannt worden. Inzwischen stellt das Bundesverfassungsgericht nüchtern und wie selbstverständlich fest: „Denn die Bündniszugehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland und der sich daraus für Deutschland ergebende Schutz sind untrennbar mit der Übernahme vertraglicher Pflichten im Rahmen des Bündniszwecks der Friedenswahrung verbunden. … Wegen der politischen Dynamik eines Bündnissystems ist es umso bedeutsamer, dass die größer gewordene Verantwortung für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte in der Hand des Repräsentationsorgans des Volkes liegt“49. Auslandseinsätze gehören heute zum Alltag der Bundeswehr. Den Verteidigungsetat veranschlagt das Haushaltsgesetz 2009 bei 31 Milliarden €. Abgesehen vom Sozialbudget (126 Milliarden €), lässt sich der Verteidigungsminister nur vom Finanzmi____________ 43 Strauß (Fn. 42), S. 451. Strauß (Fn. 42), S. 456 f. 45 A. Oplatka, Der erste Riss in der Mauer. September 1989 – Ungarn öffnet die Grenze, Wien 2009. 46 H. Schmidt, Außer Dienst, 4. Aufl. München 2008, S. 77 f.; H. Kohl, Ich wollte Deutschlands Einheit, Berlin 1996. 47 Isensee (Fn. 20), S. 7. 48 Isensee (Fn. 20), S. 22 ff., 25 ff. 49 BVerfG v. 7. Mai 2008 – 2 BvE 1/03 –, EuGRZ 2008, S. 312 (318, 319) – AWACS II. 44 .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. Druckerei C. H . Beck Jahrbuch für Ostrecht, Band 01, 1. Halbband 2009 Medien mit Zukunft ..................................... Erstversand, 13.08.2009 .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. 24 Ulrich Hufeld _________________________________________________________________________________ nister übertreffen, der (nicht für die Entschuldung, sondern) allein für den Schuldendienst im Jahre 2009 nicht weniger als 44 Milliarden € aufzuwenden hat. In diesen beiden Etatansätzen – zu schweigen vom Schuldensockel des Bundes in Höhe von rund einer Billion € – spiegeln sich elementare Herausforderungen für die deutsche Politik der Gegenwart. Wie die militärpolitische, so hat auch die verschuldungspolitische „Verfassungswirklichkeit“ nicht wenig mit der Wiedervereinigung und ihren Folgen zu tun50, die Verschuldung vor allem mit der realsozialistischen Erbschaft. Aber nicht nur dieser historische Zusammenhang legt eine parallele Betrachtung nahe. Hinzu kommt, dass sich der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in gleicher personeller Zusammensetzung binnen weniger Monate, im Juli 2007 und im Mai 2008, zu beiden Herausforderungen in Grundsatzentscheidungen äußerte – dabei einerseits die normative Kraft der Militärverfassung maximiert51, andererseits die der Finanzverfassung reduziert hat, indem er sich, folgt man nur der (Selbst-)Kritik im Spruchkörper selbst, aus der Aufgabe zurückzog, „einer zentralen finanzverfassungsrechtlichen Norm Geltung zu verschaffen“52. b) Kontrolldichte im Wehrverfassungsrecht: Vollkontrolle Das Bundesverfassungsgericht hat die neue Militärpolitik nach der Wiedervereinigung mit einer Reihe wichtiger Urteile begleitet, grundlegend 1994 die NATO als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit der materiellen Legitimationsgrundlage des Art. 24 Abs. 2 GG zugeordnet53 und den wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt formuliert54. Mit ihm ist jeder einzelne „Einsatz bewaffneter Streitkräfte“ von vorheriger parlamentarischer Zustimmung abhängig geworden. „Das Grundgesetz hat die Entscheidung über Krieg und Frieden dem Deutschen Bundestag als Repräsentationsorgan des Volkes anvertraut. … Die auf die Streitkräfte bezogenen Regelungen des Grundgesetzes sind darauf angelegt, die Bundeswehr nicht als Machtpotential allein der Exekutive zu überlassen … Die funktionsgerechte Teilung der Staatsgewalt im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten gestaltet sich im Hinblick auf Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit damit so, dass das Parlament durch seine Mitentscheidung grundlegende Verantwortung für die vertragliche Grundlage des Systems einerseits und für die Entscheidung über den konkreten bewaffneten Streitkräfteeinsatz andererseits übernimmt, während im übrigen die nähere Ausgestaltung der Bündnispolitik als Konzeptverantwortung ebenso wie konkrete Einsatzplanungen der Bundesregierung obliegen“55. Wann aber sieht sich das Parlament mit dem Tatbestand „Einsatz bewaffneter Streitkräfte“ konfrontiert? Sobald „deutsche Soldaten in bewaffnete Unternehmun____________ 50 BVerfGE 119, 96 (146): „Ins Gewicht fallen dagegen die tatsächliche Entwicklung und der Stand der seit 1989 insbesondere auch in der Folge der deutschen Vereinigung weiter in bemerkenswertem Umfang gewachsenen Verschuldung des Bundes“. P. Badura, Die Talfahrt der öffentlichen Finanzen, in: K. Grupp, U. Hufeld (Hrsg.), Recht – Kultur – Finanzen, FS Mußgnug, Heidelberg 2005, S. 149 (153 f.); H. Pünder, Staatsverschuldung, in Isensee, Kirchhof, HStR (Fn. 1) Bd. V, 3. Aufl. Heidelberg 2007, § 123 Rn. 77; C. Waldhoff, Anm. zu BVerfGE 119, 96, in: JZ 2008, 200 (201): „seit der Wiedervereinigung ansetzenden Dammbruch staatlicher Verschuldung“. 51 BVerfG v. 7. Mai 2008 – 2 BvE 1/03 –, EuGRZ 2008, S. 312 – AWACS II. 52 Sondervotum der Richter Di Fabio und Mellinghoff, BVerfGE 119, 96 (156) zu BVerfG v. 9. Juli 2007 – 2 BvF 1/04 –, BVerfGE 119, 96. 53 BVerfGE 90, 286 (350 f.); jüngst BVerfG v. 7. Mai 2008 – 2 BvE 1/03 –, EuGRZ 2008, S. 312 (318). 54 BVerfGE 90, 286 (381 ff.); T. Wagner, Parlamentsvorbehalt und Parlamentsbeteiligungsgesetz. Zur Beteiligung des Bundestages bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr, 2009. 55 BVerfG v. 7. Mai 2008 – 2 BvE 1/03 –, EuGRZ 2008, S. 312 (317, 319). .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. .. .. ... ... .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. Druckerei C. H . Beck Jahrbuch für Ostrecht, Band 01, 1. Halbband 2009 Medien mit Zukunft ..................................... Erstversand, 13.08.2009 .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. .. ... ... ... Normativverfassung und Realverfassung des GG 25 _________________________________________________________________________________ gen einbezogen sind“56. Sind sie in diesem Sinne einbezogen erst mit Beginn eines Kampfgeschehens? Es genügt, wenn die Einbeziehung „konkret zu erwarten ist“ – vorausgesetzt wird „die qualifizierte Erwartung einer Einbeziehung in bewaffnete Auseinandersetzungen“57. Und wer befindet darüber – quis iudicabit? Denkbar wäre, dass Bundesregierung und Bundestag in einem qualifizierten Verfahren, im ständigen Kontakt mit den Militärs am Einsatzort, gemeinsam über die Grenzüberschreitung hin zur „qualifizierten Erwartung“ entscheiden. Keinesfalls muss sich das Parlament einer Einschätzungsprärogative der Regierung beugen; es muss befugt sein, kraft eigener Einschätzung über die konkrete militärische Gefahrenlage und die Nähe der Anwendung von Waffengewalt58 zu befinden. Der traditionell anerkannte Primat der Regierung in der Außen- und Militärpolitik stößt hier notwendig auf die mit dem wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt markierte Grenze. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Mai 2008 zum Einsatz deutscher Soldaten in AWACS-Flugzeugen der NATO zur Luftraumüberwachung über dem Hoheitsgebiet der Türkei im Frühjahr 2003 geht einen bemerkenswerten Schritt weiter: Es zieht nicht nur die unausweichliche Konsequenz, den Parlamentsvorbehalt vor der sicherheitspolitischen Einschätzungsprärogative der Regierung in Schutz zu nehmen. Ohne weiteres knüpft es an den parlamentarischen Kompetenzvorbehalt das Recht auf verfassungsgerichtliche Vollkontrolle59. Es verabschiedet den noch in der ISAF-Entscheidung von 2007 hochgehaltenen Kontrolldichte-Standard, der die gerichtliche Kontrolle nicht dahin führen könne, dass das Bundesverfassungsgericht „die notwendigen sicherheitspolitischen Einschätzungen und Bewertungen der Sache nach durch eigene ersetzt“60. Welch ein Triumph für die normative Kraft der Verfassung! Das Urteil vom 7. Mai 2008 handelt alle Tatfragen nach dem Modell der verwaltungsgerichtlichen Vollkontrolle ab – setzt sich auseinander mit AWACS-Aufklärungsflügen, Radarsensoren, PATRIOT-Bodenluftraketen, der Funkverbindung mit dem Bodengefechtsstand und der Feuerleitführung für aufsteigende Jagdflugzeuge. Der Auslandseinsatz der Bundeswehr unterliegt der maximalen verfassungsrechtlichen Verrechtlichung und Rechtskontrolle. Das vereinigte Deutschland nimmt seine Verantwortung in der Welt wahr, nach einer neuen Doktrin – nicht minder aber auch das Bundesverfassungsgericht, einstimmig61, mit einer präzisierten Doktrin zur Kontrollintensität in einer wichtigen Frage der Außen- und Militärpolitik. c) Kontrolldichte im Staatsschuldenrecht: Kontrollfassade Man kann nur staunen, wenn man diese richterliche Ge- und Entschlossenheit vergleicht mit der Uneinigkeit und Zögerlichkeit – mit der bedrückenden Zurückhaltung, die der gleiche Senat in der Schicksalsfrage deutscher Verschuldungspolitik übt. Er hat die Chance vergeben, alle gebotenen Konsequenzen zu ziehen aus seinem ____________ 56 BVerfG v. 7. Mai 2008 – 2 BvE 1/03 –, EuGRZ 2008, S. 312 (320). BVerfG v. 7. Mai 2008 – 2 BvE 1/03 –, EuGRZ 2008, S. 312 (320). 58 Vgl. zu diesen Kriterien BVerfG v. 7. Mai 2008 – 2 BvE 1/03 –, EuGRZ 2008, S. 312 (320 f.). 59 BVerfG v. 7. Mai 2008 – 2 BvE 1/03 –, EuGRZ 2008, S. 312 (321). 60 BVerfGE 118, 244 (269); s. auch S. 259: „Rolle … der rechtsprechenden Gewalt … in diesem Bereich beschränkt“. 61 Der Zweite Senat hat in den letzten Jahren wichtige Entscheidungen kaum je einstimmig getroffen. Bedeutsame Ausnahmen aber sind die einstimmig erlassenen Urteile ISAF/Tornado (BVerfGE 118, 244) und AWACS II (EuGRZ 2008, 312). 57 .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. Druckerei C. H . Beck Jahrbuch für Ostrecht, Band 01, 1. Halbband 2009 Medien mit Zukunft ..................................... Erstversand, 13.08.2009 .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. 26 Ulrich Hufeld _________________________________________________________________________________ noch behutsamen, aber doch richtungweisenden Urteil vom April 198962, aus der Zeit vor der Wiedervereinigung. Seither ist die Staatsverschuldung explodiert. Das Gericht stellt das heraus63, um dann fortzufahren: „Gleichwohl ist festzuhalten an den vom Zweiten Senat entwickelten Grundsätzen zur Anerkennung der Einschätzungs- und Beurteilungsspielräume des parlamentarischen Gesetzgebers bei der Beurteilung, ob eine ernste und nachhaltige Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorliegt oder unmittelbar droht und ob eine erhöhte Kreditaufnahme zu ihrer Abwehr geeignet ist. … Regierung und Parlament haben auf der Basis sachverständiger Beratung zur Diagnose und Prognose der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sowie zur Wahl geeigneter Steuerungsmittel zukunftswirksame, risikobehaftete Entscheidungen zu treffen und deren Folgen politisch zu verantworten“64. Der Kontrast könnte nicht größer sein: In der AWACS-Frage hat sich das Gericht in Wahrnehmung der Vollkontrolle selbst sachverständig beraten und von Generalleutnant Dora die Welt des Militärischen erklären lassen65. Die Welt des Ökonomischen dagegen scheint sich aller Rationalität, nicht nur jedem Orientierungswissen, sondern sogar schlichtem Verfügungswissen66 zu widersetzen67. Die Finanzkrise hat immerhin das Erfahrungswissen rehabilitiert, dass der Staat Kontrolle schuldet; dass der unkontrollierte Markt zum Schwarzmarkt degenerieren kann; dass die staatliche Reaktion ihrerseits nicht außer Kontrolle geraten darf. Dass die Kontrolle der staatlichen Politik in Deutschland dem Bundesverfassungsgericht obliegt und der Begriff „Kontrolldichte“ das Kraftzentrum bezeichnet, war allezeit bekannt. Das Verschuldungs-Urteil vom Juli 2007 indessen gibt den politischen Instanzen freie Hand in der Entscheidung über die „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ und ihre „Abwehr“ (Art. 115 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz GG), somit darüber, ob die Restriktionen der Staatsverschuldung unter Berufung auf das Verfassungsrecht der Ausnahme überspielt werden dürfen68. Das Sondervotum der Richter Di Fabio und Mellinghoff argumentiert überlegen: „Die eigentliche Ausnahme vom Gebot eines ausgeglichenen Haushalts ohne Kreditfinanzierung sieht der 2. Halbsatz von Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG vor. Nach dem Wortlaut sowie ihrem Sinn und Zweck lässt diese Regelung keinen Zweifel daran, dass sie nur für eng begrenzte Ausnahmesituationen gilt. … Schon das Wort ,Abwehr‘ macht die situative Singularität deutlich … Die strikte Formulierung ,Ausnahmen sind nur zulässig‘ ist für das Grundgesetz nicht anders als sonst in der Sprache des Gesetzes ein unübersehbares Signal dafür, dass strengere Maßstäbe gelten sollen. … Der Sinn und Zweck des Art. 115 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz GG erlaubt es somit nicht, dem Bundesgesetzgeber hinter einer nahezu völlig ausgedünnten Kontrollfassade im Ergebnis plein pouvoir zu geben“69. ____________ 62 BVerfGE 79, 311. Zitiert o. in Fn. 50. BVerfGE 119, 96 (146 f.). 65 BVerfG v. 7. Mai 2008 – 2 BvE 1/03 –, EuGRZ 2008, S. 312 (322 f.). 66 Zum Begriffspaar Fassbender (Fn. 21), Rn. 14: Orientierungswissen als „Wissen um Handlungsmaßstäbe“, Verfügungswissen als „anwendungsfähiges kognitives Wissen“. 67 I. Härtel, Grenzen der Illusion: Schuldenbremse als Regulativ staatlichen Handelns, in ZG 2007, S. 399 (404): „… angesichts der üblichen größeren Zahl einander widersprechender Gutachten für das Bundesverfassungsgericht schwierig, eine verfassungsrechtlich fundierte Entscheidung zu finden“. 68 Überzeugende Kritik: Waldhoff (Fn. 50), S. 202 f. 69 BVerfGE 119, 155 (160 f.). 63 64 .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. .. .. ... ... .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. Druckerei C. H . Beck Jahrbuch für Ostrecht, Band 01, 1. Halbband 2009 Medien mit Zukunft ..................................... Erstversand, 13.08.2009 .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. .. ... ... ... Normativverfassung und Realverfassung des GG 27 _________________________________________________________________________________ III. ARTIKEL 146 GG – VOR UND NACH 1990 1. Art. 146 GG als Ablösungsvorbehalt vor der Wiedervereinigung Für eine Verfassungsneuschöpfung im Zeichen freier Selbstbestimmung des deutschen Volkes hätte sich das Grundgesetz aufgeopfert. Das war die Botschaft des alten Art. 146 GG: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Dieser Art. 146 GG hielt – neben Art. 23 GG a. F. – einen zweiten Weg zur Wiedervereinigung offen. Das Grundgesetz wollte nicht im Wege stehen, wenn sich im Zuge originärer Verfassunggebung die Chance der Wiedervereinigung ergeben hätte. Die Norm setzte freilich ihrerseits eine Wiedervereinigung voraus – (noch) nicht die staatliche, wohl aber die des Volkes70, des gesamten deutschen Volkes, politisch hinreichend unabhängig und aktionsfähig, als pouvoir constituant die deutsche Frage zu beantworten. Im Sommer 1990 kam es auf Deutschlands NATO-Bündnistreue und EuropaVerlässlichkeit an. Das hat den Ausschlag für den Beitritt (Art. 23 GG a. F.) und gegen eine Verfassunggebung auf der Grundlage des Art. 146 GG a.F. gegeben71. Verfassungsrechtliche Destabilisierung, eine förmliche Distanzierung ausgerechnet vom Grundgesetz und der von seiner Fortgeltung abhängigen Verfassungsrechtsprechung, hätte den Wiedervereinigungsprozess nur stören können. 2. Art. 146 GG n. F.: das deutsche Volk als aktivierbare verfasste Gewalt Seit dem 29. September 1990 liest sich Art. 146 GG wie folgt: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Die Norm ist ein Produkt der verfassungsändernden Gesetzgebung. Dass der Gesetzgeber einen auf die Wiedervereinigung bezogenen, mit der „Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands“ eigentlich gegenstandslos gewordenen Text aufgegriffen und neu festgeschrieben hat, ändert daran nichts. Damit erhebt sich die Frage, ob der Verfassungsgesetzgeber eine Norm erzeugen kann, welche die „Gültigkeit“ des Grundgesetzes zur Disposition stellt. Die Antwort lautet ja und nein: Nein, wenn die Norm auch die Abkehr von Art. 79 Abs. 3 GG erlauben soll, vom Geltungsgrund des Grundgesetzes, von seiner Identität seit 1949. Einem Gültigkeitsverlust dieser Dimension vermochte der Parlamentarische Rat mit dem alten Art. 146 GG den Weg zu ebnen, freilich nur im Tausch gegen Deutschlands Einheit und Freiheit. Dagegen sind alle pouvoirs constitués – und zu diesen gehört auch der verfassungsändernde Gesetzgeber – außerstande, die Identitätsgarantie des Art. 79 Abs. 3 ____________ 70 J. Isensee, Schlußbestimmung des Grundgesetzes: Artikel 146 GG, in Isensee, Kirchhof, HStR (Fn. 1) Bd. VII, Heidelberg 1992, § 166 Rn. 12. M. Kilian, Der Vorgang der deutschen Wiedervereinigung, in Isensee, Kirchhof, HStR Bd. I (Fn. 1), § 12 Rn. 66 f. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. 71 .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. Druckerei C. H . Beck Jahrbuch für Ostrecht, Band 01, 1. Halbband 2009 Medien mit Zukunft ..................................... Erstversand, 13.08.2009 .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. 28 Ulrich Hufeld _________________________________________________________________________________ GG und dessen Geltungsgrund in der Verfassunggebung von 1949 aus den Angeln zu heben. Im übrigen ja, steht die „Gültigkeit“ des Grundgesetzes zur Disposition, auch in einer „Totalrevision“. Die Schweizer Bundesverfassung bindet den Gesetzgeber in der Totalrevision lediglich an die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts72; eine deutsche Totalrevision dagegen bleibt, wenn sie nicht in Revolution umschlagen will, der Identitätsgarantie des Grundgesetzes verpflichtet. Diese einzige verfassungskonforme Auslegung des Begriffs „Gültigkeit“ 73 im neuen Art. 146 GG bestreitet dem deutschen Volk weder seine ohnehin nicht normierbare verfassunggebende Gewalt, die sich in der Revolution zu regen vermöchte, noch seine Zugehörigkeit zu den pouvoirs constitués. Art. 79 Abs. 3 GG sperrt nicht die Einschaltung des Volkes in die Verfassungsgesetzgebung; Art. 79 Abs. 2 GG, der die (innerstaatliche, nicht europarechtlich induzierte) Verfassungsänderung Bundestag und Bundesrat vorbehält, kann geändert oder ausnahmsweise durchbrochen 74 werden – etwa in einer Volksabstimmung über den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union75. Die Einschaltung des Volkes in die Verfassungsgesetzgebung hängt freilich ihrerseits von einer Verfassungsänderung oder Verfassungsdurchbrechung ab. Art. 146 GG n. F. trägt dazu nichts bei. Er erweist sich als rein deklaratorische Norm. Sie kann nicht mehr erlauben als der Verfassungsgesetzgeber nach den Regeln des Art. 79 GG ins Werk zu setzen vermag. Und das ist viel: Das Räsonnieren über das Änderungspotential des neuen Art. 146 GG lenkt ab vom neuen Art. 23 GG. Er hat die Grundlage geschaffen für eine strukturelle Europäisierung des Grundgesetzes, eine Totalrevision im Zeichen der europäischen Einigung. IV. 60 JAHRE GRUNDGESETZ – ZURÜCK IN DIE EUROPÄISCHE ZUKUNFT 1. Art. 23 GG: Vom Deutschland-Artikel zum Europa-Artikel Auf dem historischen Platz Artikel 23 Grundgesetz hat das triumphal erfolgreiche Beitrittsangebot an „andere Teile Deutschlands“ einen Nachfolger gefunden, der Europa eine weit reichende Mitwirkungszusage macht. Art. 23 GG n. F. verpflichtet Deutschland der Europäischen Union. Deren Gründung 1992/93 war kein Fall des neuen Art. 146 GG76. Mitwirkungszusage und Verpflichtung auf das Staatsziel Europa löst das Grundgesetz in den Prozeduren der Integration durch Revision ein77. ____________ 72 Art. 193 Abs. 4 BV; Abdruck der Schweizer BV in der neuesten Fassung bei U. Hufeld, A. Epiney, Europäisches Verfassungsrecht, Baden-Baden 2009, S. 450–490. 73 A. A. H.-P. Schneider, Die verfassunggebende Gewalt, Isensee, Kirchhof, HStR Bd. VII (Fn. 70), § 158 Rn. 38 f., der einerseits in Art. 146 GG eine Bezugnahme auf die verfassunggebende Gewalt findet, diese aber andrerseits als „pouvoir constituant constitué“ an Art. 79 Abs. 3 GG gebunden sieht. So soll „eine neue Verfassung“ möglich sein, die „freilich den Anforderungen des Art. 79 Abs. 3 GG genügen muß“. 74 Die Verfassungsdurchbrechung ist allerdings rechtfertigungsbedürftig: Hufeld (Fn. 2), S. 212 ff. 75 Vgl. Art. 88–5 Abs. 1 der Verfassung Frankreichs; Abdruck der französischen Verfassung in deutscher Übersetzung unter Berücksichtigung der großen Reform vom Juli 2008 bei Hufeld, Epiney (Fn. 72), S. 270–295. 76 A. A. J. Wolf, Die Revision des Grundgesetzes durch Maastricht. Ein Anwendungsfall des Art. 146 GG, in JZ 1993, S. 594. 77 Ausführlich U. Hufeld, Europas Verfassungsgemeinschaft – Staatsrechtliche Perspektive, in Hufeld, Epiney (Fn. 72), S. 35–66. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. .. .. ... ... .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. Druckerei C. H . Beck Jahrbuch für Ostrecht, Band 01, 1. Halbband 2009 Medien mit Zukunft ..................................... Erstversand, 13.08.2009 .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. .. ... ... ... Normativverfassung und Realverfassung des GG 29 _________________________________________________________________________________ Die Formel gilt auch umgekehrt: Revision durch Integration. Mit Art. 23 Abs. 1 GG öffnet sich das Grundgesetz für ein demokratisches, rechtsstaatliches, soziales und föderatives Europa. Dafür nimmt es in Kauf, seine normative Kraft weit reichend einzuschränken, zurückzustehen hinter dem Primär- und Sekundärrecht aus europäischer Rechtsquelle. Das europapolitisch motivierte Integrationsgesetz nimmt wenig Rücksicht auf die Verfassungsurkunde – Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG verweist nicht auf Art. 79 Abs. 1 GG –, verfügt aber über das Grundgesetz, wie der reguläre Verfassungsgesetzgeber, bis zur Grenze der Identitätsgarantie. Im Streit um den Grundlagenvertrag widersetzte sich das Bundesverfassungsgericht noch der Idee, „die geltende Verfassungsordnung könne durch einen Vertrag geändert werden“. Das Gericht stellte damals klar: Der Vertrag „schafft weder materielles Verfassungsrecht noch kann er zur Auslegung des Grundgesetzes herangezogen werden. Es ist vielmehr umgekehrt: Ein Vertrag, der mit dem geltenden Verfassungsrecht in Widerspruch steht, kann verfassungsrechtlich nur durch eine entsprechende Verfassungsänderung mit dem Grundgesetz in Einklang gebracht werden“78. Indessen hat Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG exakt dies ermöglicht und das Grundgesetz zu einer Teilverfassung in der Europäischen Verfassungsgemeinschaft gemacht. Die Europäisierung benötigt und bewirkt Verfassungsänderungen. Mitgliedstaatliche Integrationsgesetzgebung ist Verfassungsgesetzgebung, fundiert das Vertragsrecht und mit ihm eine höherrangige Leitverfassung. Zudem haben die Mitgliedstaaten im vertraglichen Europaverfassungsrecht einen europäischen Gesetzgeber etabliert, der sich mit Rückhalt in Art. 23 GG auch gegen das Grundgesetz durchsetzt (verfassungsänderndes Sekundärrecht) – nicht jedoch gegen seinen Identitätskern (Art. 79 Abs. 3 GG). Der staatliche Souveränitätsvorbehalt markiert die Grenze der integrationsgesetzlichen Verfassungsänderung79. Das Grundlagenurteil bescheinigte dem alten Art. 23 GG, zu den „zentralen Vorschriften“ zu gehören, „die dem Grundgesetz sein besonderes Gepräge geben“80. Das gilt nicht minder für den neuen Art. 23 GG. Auch das „rechtlich Offensein“81 scheint der Europa-Artikel vom Deutschland-Artikel geerbt zu haben. Allerdings lag das Offensein für andere Teile Deutschlands „spezifisch darin, daß sie, die Bundesrepublik, rechtlich allein Herr der Entschließung über die Aufnahme der anderen Teile ist, sobald sie sich dafür entschieden haben beizutreten. Diese Vorschrift verbietet also, daß sich die Bundesregierung vertraglich in eine Abhängigkeit begibt, nach der sie rechtlich nicht mehr allein, sondern nur noch im Einverständnis mit dem Vertragspartner die Aufnahme verwirklichen kann“82. Das hat sich in Europas Verfassungsgemeinschaft geändert. Die Staaten der Union sind nur gemeinsam noch Herren der Verträge. Gewiss bleibt ihnen der einseitige Austritt und die einsame Veto-Position, wo immer die Verträge Konsens voraussetzen (insbesondere: Vertragsänderung und Beitritt neuer Mitgliedstaaten). Konstruktive Gestaltungspolitik jedoch, auch die Rückgewinnung von einmal übertragenen Kompetenzen, gelingt nur in und mit der Gemeinschaft der Unionsstaaten. ____________ 78 BVerfGE 36, 1 (14). Näher Hufeld (Fn. 77), S. 51 ff. 80 BVerfGE 36, 1 (28). 81 BVerfGE 36, 1 (28). 82 BVerfGE 36, 1 (28) – Hervorhebungen im Original. 79 .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. Druckerei C. H . Beck Jahrbuch für Ostrecht, Band 01, 1. Halbband 2009 Medien mit Zukunft ..................................... Erstversand, 13.08.2009 .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. 30 Ulrich Hufeld _________________________________________________________________________________ 2. Individualrechtsschutz gegen das Integrationsgesetz Auch verfassungsprozessual steht die Europapolitik nach der Wiedervereinigung unter anderen Vorzeichen als die Deutschlandpolitik vor der Wiedervereinigung. Gegen den Grundlagenvertrag musste eine Einzelperson, ein politisches Schwergewicht zu Felde ziehen, kraftvoll genug, eine Landesregierung auf die Antragstellung in Karlsruhe zu verpflichten83. Dagegen brachte das Maastricht-Urteil die Integrationsgesetzgebung unter Jedermann-Kontrolle: „Art. 38 GG schließt es im Anwendungsbereich des Art. 23 GG aus, die durch die Wahl bewirkte Legitimation von Staatsgewalt und Einflußnahme auf deren Ausübung durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen so zu entleeren, daß das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 i.V. m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird“84. Methodisch allerdings folgte das Maastricht-Urteil der Entscheidung zum Grundlagenvertrag (o. II 1 d), indem es sinnvariable Passagen der Verträge verfassungskonform auslegte und das Vertragsgesetz in geltungserhaltender Reduktion auf diese Auslegungsergebnisse festlegte. Mit der Bezugnahme auf das Wahlrecht hat das Bundesverfassungsgericht im Oktober 1993 die europäische Integration zu einer verfassungsbeschwerdefähigen Angelegenheit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG) erhoben. Jedermann – der wahlberechtigte Staatsbürger – kann Rechtsschutz suchen gegen das Integrationsgesetz. Eine bedeutende verfassungsrichterliche Weichenstellung: Solange das Wahlrecht aus Art. 38 GG unter Substanzschutz steht und prozeduralen Begleitschutz findet in der Verfassungsbeschwerde, erübrigt sich das heikle Unterfangen, Verfassungsschutz in der Verfassunggebung zu suchen und ein Mitwirkungsrecht aus Art. 146 GG verfassungsbeschwerdefähig zu machen85. 3. Von der Staatsbürgerschaft zur Unionsbürgerschaft Die Gewährleistung der deutschen Staatsbürgerschaft gehörte zu den herausragenden Anliegen in der Deutschland-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts86. Die Identität des Staatsvolks erhalten zu haben, rechnet zu den Großtaten des Gerichts (s.o. II 1 d). Heute steht es eher ratlos dem Befund gegenüber: Mit der Verdichtung der europäischen Integration verliert die Staatsbürgerschaft im Raum der Union die Kraft einer personenrechtlichen Elementarunterscheidung. Brünn, das tschechische Verfassungsgericht, hat das in der Auseinandersetzung mit dem Europäischen Haftbefehl konsequenter aufgedeckt als Karlsruhe87. Im Zentrum der Integration steht nach wie vor das subjektive Recht. Es ist aber heute – in dem Europa, das sich nach der Wiedervereinigung aufmachte, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Politischen Union mit Unionsbürgerschaft auszubauen – nicht mehr nur das Recht der ökonomisch interessierten Marktbürger. Die europäische Rechtsprechung bündelt die Vielzahl subjektiver öffentlicher euro____________ 83 Näher hierzu o. II 1 f). BVerfGE 89, 155 (172) – Maastricht. Wolf (Fn. 76), S. 600 f.: grundrechtsgleicher Charakter des Art. 146 n.F. 86 BVerfGE 36, 1 (29 ff.); zuletzt, eindrucksvoll BVerfGE 77, 137 – Teso-Beschluss. 87 U. Hufeld, Staatliches Europaverfassungsrecht in Tschechien. Die Grundlagen und der Richterspruch zum Europäischen Haftbefehl, in JOR 48 (2/2007), S. 263 (271 ff.). 84 85 .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. .. .. ... ... .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. Druckerei C. H . Beck Jahrbuch für Ostrecht, Band 01, 1. Halbband 2009 Medien mit Zukunft ..................................... Erstversand, 13.08.2009 .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. .. ... ... ... Normativverfassung und Realverfassung des GG 31 _________________________________________________________________________________ päischer Rechte – darunter auch und immer häufiger Grundfreiheiten ohne Markt88 – im grundlegenden Status89 der Unionsbürgerschaft. Dieser Status garantiert Rechtsgleichheit in der Wahrnehmung der europäischen Individualrechte. Der Europäische Gerichtshof hat in jahrzehntelanger Rechtsprechung ein europäisches Grundrecht der Zugehörigkeit begründet. Dessen Integrationserfolg geht auf die gleiche normativ-inklusive Kraft zurück, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zur Staatsangehörigkeit aller Deutschen zu schützen wusste, bis sie sich Bahn brach und zur Wiederherstellung der deutschen Einheit führte. Seitdem kündet die Präambel des Grundgesetzes vom Willen des gesamten deutschen Volkes, in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. SUMMARY In 1989, in Germany, too, a socialist constituional and legal system came to an end. Unlike the East European states, Germany was in the special situation of the reunification which enabled the country to extend the existing Grundgesetz to the former GDR. Naturally, this had a strong impact on constitutional realities, although reunification as such caused only comparatively modest changes in the text of Germany’s basic law. This essay analyses the real constitution and the normative constitution of Germany before and after reunification. It also discusses the fundamental challenge the German constitutional system faces today: European integration. ____________ 88 89 F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, Tübingen 2007. Wendung des EuGH, so etwa in der paradigmatischen Entscheidung v. 11. 9. 2007, Rs. C-76/05 – Schwarz und Gootjes-Schwarz. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . .. .. ... ... ... ..