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Religion in der Renaissance und die Innovation
des Bartolomé de Las Casas *
von Mariano Delgado
Die historische Forschung hat für »Religion in der Renaissance« Begriffe wie
Reformation, Katholische Reform und Gegenreformation – bzw. »temps des
réformes«, wie die Franzosen sagen –, Konfessionalisierung, Religionsfrieden,
Religionsgespräche, Religionskriege, Glaubenskämpfe, »devotio moderna«, Missionsfrühling, die »Fable mystique« usw. eingeführt. Demnach muss die Renaissance eine religionsproduktive Zeit und der Renaissancemensch ein »homo
religiosus« par excellence gewesen sein. Mehr noch: Mit Kaspar von Greyerz
kann man sagen, dass bei aller Hinwendung zu den vorchristlichen Autoritäten
der Antike die Renaissance »ein im Christentum verwurzeltes Phänomen«
war – sieht man von den Florentinern Humanisten ab, die in der historischen
Forschung vielfach »als Ungläubige betrachtet wurden, die auch hinsichtlich
ihrer Religiosität mit der mittelalterlichen Vergangenheit gebrochen hatten«.1 Die
christliche, religiöse Matrix umfasst auch die politische Ebene, da alle politischen
Ordnungen, »vom absolutistischen Königtum in Frankreich und Spanien über
die schweizerischen Landsgemeinden bis zum Täuferreich in Münster von
1534 / 35«, bestrebt waren, »sich religiös zu legitimieren – und dasselbe gilt für
die Rechtfertigung von Widerstandstheorien des 16. und 17. Jahrhunderts«.2
* Mit Bartolomé de Las Casas hat sich Michael
Sievernich in folgenden Publikationen beschäftigt:
Lateinamerikanische Missionstheologie. Bartolomé de las Casas und José de Acosta, in: Bruno
Schlegelberger / Mariano Delgado (Hg.), Ihre
Armut macht uns reich. Zur Geschichte und
Gegenwart des Christentums in Lateinamerika,
Berlin/Hildesheim 1992, 27-46; Bartolomé de las
Casas (1484-1566). Vom Eroberer zum Verteidiger
der Indianer, in: Geiko Müller-Fahrenholz u. a.,
Christentum in Lateinamerika. 500 Jahre seit der
Entdeckung Amerikas, Regensburg 1992, 30-58;
Missionstheologien »nach« Las Casas, in: Bartolomé de las Casas, Werkauswahl, hg. von Mariano Delgado, Bd. 1: Missionstheologische Schriften,
Paderborn u. a. 1994, 59-85; Die Brevísima als
»Fürstenspiegel«, in: Bartolomé de Las Casas,
Werkauswahl, hg. von Mariano Delgado, Bd. 2:
Historische und ethnographische Schriften, Paderborn u. a. 1995, 27-44; Der unbewaffnete Prophet.
Die Brevísima relación des Las Casas als »Fürstenspiegel«, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft
und Religionswissenschaft 79 (1995) 193-206; Das
Beichthandbuch (Confesionario) des Bischofs Las
Casas, in: Bartolomé de las Casas, Werkauswahl,
hg. von Mariano Delgado, Bd. 3/ 1: Sozialethische
und staatsrechtliche Schriften, Paderborn 1996,
115-127; Las Casas und die Sklavenfrage, in: ebd.,
59-66; Das Amt des Bischofs nach Las Casas, in:
»Den Armen eine frohe Botschaft«. Festschrift
für Bischof Franz Kamphaus zum 65. Geburtstag,
hg. von Josef Hainz / Hans-Winfried Jüngling /
Reinhold Sebott, Frankfurt 1997, 267-281; Bartolomé de las Casas, Kurzgefaßter Bericht von der
Verwüstung der Westindischen Länder, hg. von
Michael Sievernich, Frankfurt 2006.
1 Kaspar von Greyerz, Religion und Kultur.
Europa 1500-1800, Darmstadt 2000, 9.
2 Greyerz, Religion und Kultur (Anm. 1), 12.
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Mariano Delgado
»Religion in der Renaissance« ist also ein »weites Feld«, um es mit Theodor Fontaine auszudrücken. In diesem Beitrag werde ich mich zunächst dem
Religionsverständnis bzw. dem Religionsbegriff in der Renaissance zuwenden,
um in einem zweiten Schritt auf die Innovation des Bartolomé de Las Casas bei
der Deutung indianischer Religionen und Kulturen aufmerksam zu machen.
1 Religionsverständnis und Religionsbegriff
in der Renaissance
Autoren wie Wilfred Cantwell Smith,3 Michel Despland 4 und Ernst Feil 5 haben
sich mit dem Thema intensiv befasst. Aus ihren Forschungen geht hervor, dass
es im Abendland spätestens seit den Römern ein stetes Nachdenken über das
Verhältnis Gott-Mensch »in Lehre, Leben und Kult« gibt, aber dass dafür nicht
immer der Begriff »religio« verwendet wird – und schon gar nicht im neuzeitlichen Sinne, d. h. im Sinne einer »religio naturalis« als »einer einzigen
›Religion‹ bei allen Menschen zu allen Zeiten sowie einer wesentlich ›inneren‹
oder gar ›innerlichen‹, wenn nicht im ›Gefühl‹ situierten ›Religion‹«.6 Folgen
wir Ernst Feil, der m. E. die akribischte Untersuchung geleistet hat, so war in der
Renaissance von Religion im neuzeitlichen Sinne kaum die Rede, ja der Begriff
Religion trat gegenüber Begriffen wie »secta«, »lex«, »fides« oder »pietas« eher
zurück. Wenn sich später der neuzeitliche Religionsbegriff nicht durchgesetzt
hätte, würden wir heute vielleicht eher von komparativer Sektenwissenschaft,
3 Wilfred Cantwell Smith, The Meaning and
End of Religion, Minneapolis, Minn. 1991
(Erstausgabe: 1962).
4 Michel Despland, La religion en occident.
Évolution des idées et du vécu, Montréal 1979.
5 Ernst Feil, Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur
Reformation (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 36), Göttingen 1986 (abgekürzt
als Feil, Religio I); ders., Religio. Die Geschichte
eines neuzeitlichen Grundbegriffs zwischen
Reformation und Rationalismus (ca. 1540-1620)
(Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 70), Göttingen 1997 (abgekürzt als Feil,
Religio II); ders., Religio. Die Geschichte eines
neuzeitlichen Grundbegriffs im 17. und frühen
18. Jahrhundert (Forschungen zur Kirchen- und
Dogmengeschichte 79), Göttingen 2001 (abgekürzt als Feil, Religio III); ders., Religio. Die Geschichte
eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 18. und frühen 19. Jahrhundert (Forschungen zur Kirchenund Dogmengeschichte 91), Göttingen
2007; ders. (Hg.), Streitfall »Religion«. Diskussion
zur Bestimmung und Abgrenzung des Religionsbegriffs (Studien zur systematischen Theologie
und Ethik 21), Münster u. a. 2000; ders., Religion,
in: RGG, 4. Aufl., Bd. 7, Tübingen 2004, 264-274.
6 Feil, Religio III (Anm. 5), 473f.
7 Vgl. u. a. Feil, Streitfall (Anm. 5), 20f.
8 Feil, Streitfall (Anm. 5), 5.
9 Vgl. Axel H. Bergmann, Untersuchungen zur
Geschichte und Vorgeschichte der lateinischen
Vokabel re(l)ligion, Marburg 1984 (Typoskript).
10 Feil, Streitfall (Anm. 5), 18.
11 Feil, Streitfall (Anm. 5), 20.
12 Feil, Religio, in: RGG (Anm. 5), 268; ders.,
Religio I (Anm. 5), 138-159. Feil fasst das Ergebnis
seiner Untersuchung über den Religionsbegriff
des Cusanus folgendermaßen zusammen: »Es
ist daher unangebracht, bei Nikolaus schon
›religio‹ mit ›(Welt-)Religionen‹ zu übersetzten
und ›Religion‹ als ›die Urkategorie‹ zu bezeichnen. ›Religio‹ ist insgesamt für ihn ein seltener
Terminus, der primär speziell ›Gottesverehrung‹
bedeutet.« Ebd., 159.
13 Vgl. Feil, Religio I (Anm. 5), 208-213.
14 Feil, Religio I (Anm. 5), 191-208, bes. 191.
15 Feil, Religio I (Anm. 5), 244.
Religion in der Renaissance …
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Lexwissenschaft, Glaubenswissenschaft oder Pietätswissenschaft als von vergleichender Religionswissenschaft sprechen.7 Feils These ist, »dass der Begriff
›Religion‹ seine spezifische antik-römische Bedeutung faktisch unverändert
beibehielt, bis er im 18. Jahrhundert einen epochalen Wandel erfuhr«.8
Der Name »religio« geht bekanntlich auf die Römer zurück. Gleich ob wir es
mit Cicero von »relegere« (wieder lesen, genau beachten) oder mit Laktanz und
Augustin von »religare/religari« (zurückbinden) oder, wie manche Autoren 9
vorgeschlagen haben, von »res« und »ligare« ableiten, ist damit die »sorgfältige«, »skrupulöse«, »scheue Beachtung« von Bräuchen und Regeln, d. h.
vor allem Kultvorschriften und anderen Handlungsweisen »gegenüber den
Göttern« gemeint.10 Diese Art von »religio« wird – z. B. von Cicero –zusammen
mit der »pietas« der Tugend der Gerechtigkeit zugeordnet. Das Christentum
führt die Unterscheidung zwischen »religio vera« und »religiones falsae« oder
»superstitiones« ein und behält in der Scholastik die Zuordnung zur Tugend
der Gerechtigkeit. Aber weder die Römer noch die antiken Christen verwendeten »religio« als gemeinsamen neutralen Gattungsbegriff für verschiedene
Formen desselben Phänomens. Wie Feil feststellt, war dies ausgerechnet in der
Astrologie der Fall, als man dachte, »dass die verschiedenen Überzeugungen aus
verschiedenen Sternenkonstellationen resultieren«.11 Als Roger Bacon (1220?,
nach 1292) nach einem Oberbegriff dafür sucht, spricht er nicht von »religio«,
sondern von »lex« oder »secta« (im Sinne von Gefolgschaft) und unterscheidet
sechs solcher »leges« oder »sectae principales« (der Hebräer, Chaldäer, Ägypter,
Sarazenen, Christi und Antichristi). Erst im Humanismus zeigen sich erste Auflockerungen des Sprachgebrauchs. Nikolaus von Kues (1401-1464) spricht von
der »diversitas religionum«, meint aber, alle sollten zu der »una religio«, d. h.
zu der durch Christus vermittelten, finden, »wenn auch in rituum varietate«.12
Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494) spricht im astrologischen Bereich
nicht nur von »leges« oder »sectae«, sondern auch von »religiones«.13 Aber
weder bei ihm noch bei Marsilio Ficino (1433-1499) findet sich die neuzeitliche
Annahme einer »communis omnium gentium religio«.14 Vielmehr wird die
römisch-christliche Bedeutung von Religion beibehalten und als gemeinsame
Religion die »Christiana religio«, also die wahre Religion verstanden.
Im 16. Jahrhundert findet sich lediglich bei einer Erklärung, die Philipp Melanchthon (1497-1560) verfasst hat »und die Luther gemeinsam mit einigen Wittenberger Theologen am 18.1.1540 an Kurfürst Johann Friedrich gerichtet hat«, eine
vage Anspielung auf eine »communis omnium gentium religio«: Darin ist von
französischen Weltweisen die Rede, die die Meinung vertreten »es sey aller völcker zu allen zeiten ein religion gewesen, allein die namen sind geendert«. Aber
Melanchthon verwahrt sich gegen diese Annahme, die er für »sophistrey« hält,
da es außerhalb des reformierten Christentums nur falsche Religion und Abgötterei gäbe: »Es ist eben abgotterey bey den papisten mit messen, todtenmessen,
anruffung der heilgen, walfarten, wie es allezeit bey den heiden gewesen«.15 Für
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Mariano Delgado
die Reformatoren gilt generell, was sich von Luther (1483-1546) sagen lässt: dass
sie den Begriff »religio« im römischen Sinne bzw. im Sinne dessen verwenden,
was später Konfession genannt wird; dass sie eher von Glauben (fides) als von
Religion (religio) sprechen und das Wort Religion eher mit negativen Konnotationen 16 assoziieren; dass für sie, auch wenn sie im Zusammenhang mit
Heiden, Türken, Juden und Papisten von »Religion« und »Glauben« sprechen,
wahrer Glaube und wahre Religion nur im reformierten Christentum vorhanden sind, während bei den anderen vielmehr »abgötterey«, »superstitio« oder
»idolatria« herrschen: »Alle ›religiones‹ sanctitates et ardentissimae devotiones,
die ohne das Wort und den Auftrag Gottes Gott ehren (›colere Deum‹), sind
›idolatria‹, und dies gilt ausdrücklich auch für das Papsttum«.17 In Luthers Axiom
»Extra Christum omnes religiones sunt idola« 18 kann das gemeinsame christliche
Verständnis von Religion in der Renaissance ausgedrückt werden. Denn mit dem
Axiom »Extra ecclesiam nulla salus« aus dem Konzil von Florenz (1442) 19 gab
die katholische Seite auch zu verstehen, dass wahre Religion und wahrer Glaube
nur innerhalb der katholischen Kirche möglich waren.
Feil zieht aus seinen Forschungen zum Religionsbegriff folgendes Fazit:
Wir finden in der Renaissance keine Anhaltspunkte dafür, »dass andere Überzeugungen und christlicher Glaube gemeinsam in eine Relation zur ›religio‹
gesetzt werden. Es ging auch nirgends darum, die ›religio‹ als den gemeinsamen
Kern der verschiedenen sich manifestierenden ›Religionen‹ anzusehen.« 20 Im
16. Jahrhundert, so Michel Despland, ist das Wort »Religion« zwar allgegenwärtig, aber man hat Mühe, es mit neuer, kraftvoller Bedeutung zu belegen:
»On lit les Anciens.« 21
Das Religionsverständnis der Renaissance geht auch aus den Friedensverträgen hervor. In der Renaissance beginnt daneben das so genannte Konfessionelle Zeitalter – für viele Forscher bereits in den 1520er Jahren.22 Klar
ist jedenfalls, dass spätestens nach dem Augsburger Religionsfrieden 1555
im Reich bzw. nach dem Religionsgespräch von Poissy 1561 in Frankreich
16 Vgl. Despland, La religion (Anm. 4), 192.
17 Feil, Religio I (Anm. 5), 241.
18 Feil, Religio I (Anm. 5), 241 (dort auch Beleg
aus den Werken Luthers). Zwingli drückt das
so aus: »Vera religio, vel pietas, haec est, quae
uni solique deo haeret«. Ebd., 255 (dort auch
Beleg aus den Werken Zwinglis).
19 »Sie [die hochheilige römische Kirche] glaubt
fest, bekennt und verkündet, daß ›niemand‹
der sich außerhalb der katholischen Kirche
befindet, nicht nur <keine> Heiden‹, sondern
auch keine Juden oder Häretiker oder Schismatiker, des ewigen Lebens teilhaft werden
können […], wenn sie sich nicht vor dem
Lebensende ihr angeschlossen haben«.
Heinrich Denzinger, Enchiridion symbolorum
definitionum et declarationum de rebus fidei
et morum / Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungenn
(Lateinisch-Deutsch), hg. von Peter Hünermann,
Freiburg i. Br. 422009, Nr. 1351.
20 Feil, Religio I (Anm. 5), 232.
21 Despland, La religion (Anm. 4), 179.
22 Vgl. dazu u. a. Harm Klueting, Das Konfessionelle Zeitalter. Europa zwischen Mittelalter
und Moderne, Darmstadt 2007.
23 Feil, Religio I (Anm. 5), 267.
24 Feil, Religio I (Anm. 5), 268f.
25 Feil, Religio I (Anm. 5), 268.
26 Despland, La religion (Anm. 4), 28.
27 Vgl. Despland, La religion (Anm. 4), 239.
28 Despland, La religion (Anm. 4), 165
(dort auch Anm. 17).
Religion in der Renaissance …
401
der Unterschied zwischen den Kirchen mit ihren Lehren und Kulten als ein
Religionsunterschied wahrgenommen wird. Aber was heißt hier Religion?
Der Ausdruck »Augsburger Religionsfrieden« stammt bekanntlich nicht
aus der Zeit. Im 16. Jahrhundert spricht man eher »von ›Landfrieden‹, der
auch ›der spaltigen religion halben‹ geschlossen werden soll«; 23 und zumeist
wird darin nicht von »religion« allein gesprochen, sondern eher wird die
Doppelformulierung verwendet »religion und glauben(ssachen)«.24 Und die
Bezeichnung »Augspurgische confession«, die auch »religion, glauben, kirchengebreuchen, ordnungen und ceremonien« umfasst, »dient noch am ehesten als
terminus technicus zur Bezeichnung derer, die nicht mehr zum ›alten glauben‹
gehören«.25 Später setzen sich Bezeichnungen wie »Religionssachen« oder
»Religions- und Glaubenssachen«, aber auch »Konfession« für ein Verständnis
von Religion im Zusammenhang mit dem kultischen wie moralischen Aspekt
vom Glauben allgemein durch.
In Frankreich beginnt man seit dem Religionsgespräch von Poissy von »einer
Religion« mit unbestimmtem Artikel zu sprechen, um die Konfessionen zu
bezeichnen – sowie man im Mittelalter die verschiedenen Ordensgemeinschaften
als »eine« Religion bezeichnet hat: »Une religion«, d. h. die eine oder die andere
von beiden Kirchen, der katholischen und der hugenottischen; »avoir de la
religion« bedeutet sich mit einer dieser Gruppen zu identifizieren, deren Lehre
zu lernen (einschließlich ihrer Meinung über die Anderen), deren Moral zu
praktizieren und an deren Gottesdiensten teilzunehmen – und diese Merkmale
einer Religion soll man aber vor allem im Rahmen der öffentlichen Ordnung
äußerlich einhalten, unabhängig von der inneren Einstellung.26 In diesem Sinne ist
wohl das »cuius regio, eius religio« als Axiom des Religionsfriedens zu verstehen.
Als Ergebnis können wir festhalten, dass in der Renaissance in zweifacher
Hinsicht von »Religion« die Rede war: einerseits macht der christliche Humanismus im Gefolge der Antike aus Religion im Sinne der Gottesverehrung eine
anthropologische Strukturkonstante; er findet aber nur im christlichen Glauben
wahre Religion und entwickelt eine entsprechende Apologetik; andererseits
wird Religion im Schatten der Religionskriege als jener Aspekt der Glaubenssachen verstanden, der die öffentliche Ordnung tangiert.27
Vor diesem Hintergrund ist von den Europäern der Renaissance bei der
Begegnung mit außereuropäischen Kulturen ein Doppeltes zu erwarten: einerseits dass sie dort mit Spuren von Religion im Sinne der öffentlichen Gottesverehrung und Moral rechnen; andererseits dass sie darauf im Geiste jener
Apologetik reagieren, die im christlichen Humanismus bei Marsilio Ficino und
Girolamo Savonarola (1452-1498) deutliche Konturen erhält: » 1. Gott, seine
Existenz und Vorsehung; 2. die Religion als Band zwischen dem Menschen und
Gott; 3. die Exzellenz der christlichen Religion; 4. die Irrtümer der anderen.« 28
In der Tat verlief die Begegnung christlicher Missionare mit den indianischen
Kulturen und Religionen nach diesem Raster – mit wenigen Ausnahmen.
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Mariano Delgado
2 Die europäische Blindheit gegenüber fremder Religiosität
Aufgrund des oben dargelegten Religionsbegriffs waren die Missionare für
Kulturen blind, die »religiös« sind, auch wenn sie keinen Religionsbegriff
haben und schon gar nicht unseren Religionsbegriff.29 Mit Ciceros Werken im
Gepäck glaubten sie, dass kein Stamm so wild oder zahm unter den Menschen
wäre, »der nicht wusste, daß man einen Gott haben müsse, selbst wenn er in
Unkenntnis lebt, was für ein Gott zu haben sich ziemt.« 30 Aber unter Religion
verstanden sie eine öffentliche Gottesverehrung mit deutlich identifizierbaren
Kultdienern und Kultstätten oder Tempeln. Wo diese Zeichen jedoch auf den
ersten Blick fehlten, hatten die Europäer Schwierigkeiten, die Religiosität der
Indianer überhaupt wahrzunehmen. So dachten Katholiken und Protestanten,
dass die als Halbnomaden ohne feste Kultstätte und ohne die anderen sichtbaren
Zeichen einer öffentlichen Religion lebenden Tupi-Indianer Brasiliens keinen
Gott und keine Religion hätten. Für eine Schamanenreligiosität, bei der Rauschkräuter, Zauberer und Tanz eine zentrale Rolle spielten, hatten die Europäer der
Renaissance kein Verständnis.
Manoel da Nóbrega (1517-1570), Oberer der ersten Jesuitengemeinschaft in
Brasilien, vermerkt 1549 über Land und Leute: »Dieses ganze Heidenvolk betet
weder etwas an, noch kennt es Gott. Lediglich den Donner nennen sie Tupã,
was bedeutet: Der sagt etwas Göttliches. So haben wir kein treffenderes Wort,
um sie zur Kenntnis Gottes zu bringen, als ihn Vater Tupã zu nennen.« 31
Um die Mitte des 16. Jh.s kamen auch französische Hugenotten nach Brasilien,
und zwar im Windschatten der kurzlebigen französischen Versuche (1555-1558),
in der Bucht von Rio de Janeiro die Kolonie France Antarctique zu errichten.
14 Glaubensgenossen entsandte Calvin, darunter Jean de Léry (1534-1613), der
sich 1557 dort aufhielt und uns die Geschichte dieser frühen Mission tagebuchartig erzählt hat: »Cicero sagt, keine Völker wären so roh, keine Nationen so
barbarisch und wild, daß man nicht bei ihnen das Gefühl, daß es irgendeine
Gottheit gibt, feststellen könnte. Jeder macht sich diesen Ausspruch zu eigen
29 Vgl. dazu allgemein Smith, The Meaning
(Anm. 3). Nicht zuletzt aus diesem Grund schlägt
Smith vor, auf einen Religionsbegriff zu verzichten.
30 Marcus Tullius Cicero, Über die Rechtlichkeit
(De legibus). Übers. von Karl Büchner, Stuttgart
1989, 16 (I,24). Vgl. auch ders., Vom Wesen der
Götter (De natura deorum). Lat.-dt. hg., übers.
und erläutert von Wolfgang Gerlach / Karl Bayer,
München 1978, 159 (II,12f ); ders., Gespräche in
Tusculum (Tusculanae disputationes). Lat.-dt.
mit ausführlichen Anmerkungen neu hg. von Olof
Gigon, München / Zürich 1992, 35 (I,30).
31 Mariano Delgado (Hg.), Gott in Lateinamerika. Texte aus fünf Jahrhunderten. Ein
Lesebuch zur Geschichte, Düsseldorf 1991, 124.
32 Jean de Léry, Brasilianisches Tagebuch 1557,
Tübingen 1967, 276.
33 Delgado, Gott in Lateinamerika
(Anm. 31), 125f.
34 Vgl. José de Acosta, Historia natural y moral
de las Indias, hg. von José Alcina Franch (Crónicas
de América 34), Madrid 1987, 314ff. Gleichwohl
betont Acosta mit Bezug auf Röm 2,12, dass allein
Gott, nicht den einfallenden Christen, die Richterrolle zusteht. Vgl. ders., De procuranda indorum
salute, 2 Bde. Hg. von Luciano Pereña u. a.
(Corpus hispanorum de pace 23 und 24), Madrid
1984-1987, Bd. I, 124f, 272f; Bd. II, 252ff.
35 Vgl. u. a. Mariano Delgado, Von der Verteufelung zur Anerkennung durch Umdeutung. Der
Religion in der Renaissance …
403
und hält ihn für einen unbezweifelbaren Grundsatz. Denke ich aber an unsere
Tuupinambaúlts in Amerika, so möchte ich doch auf sie diesen Grundsatz
nicht anwenden. Zunächst einmal haben sie keinerlei Kenntnis des einzigen
und wahren Gottes. Außerdem bekennen sie sich zu keinem Gott – sei es ein
himmlischer oder irdischer. Das steht im Gegensatz zu allen alten Heiden,
die eine ganze Reihe von Göttern hatten. Es steht ferner im Gegensatz zu den
Götzendienern von heute, und sogar die Indianer Perus, deren Land an das ihre
grenzt, wenn es auch etwa fünfhundert Meilen entfernt ist, opfern der Sonne
und dem Mond. Infolgedessen haben die Tuupinambaúlts auch keine Gottesdienstordnung, geschweige denn irgendeinen Ort, an dem sie sich versammeln,
um eine Art von Andacht abzuhalten. Sie kennen keine Form religiöser Gebete,
sei sie öffentlicher oder privater Art«.32
Ähnlich fällt Anfang des 17. Jahrhunderts das Urteil des französischen
Kapuziners Claude d’Abbeville († 1616) über die Einwohner des brasilianischen
Nordostens aus: »Ich bin nicht der Ansicht, dass es irgendeine Nation auf der Welt
gibt, die ohne eine Spur von Religion gewesen wäre, es sei denn die Tupinambá-Indios, die bisher keinen Gott angebetet haben, weder einen himmlischen noch einen
irdischen, weder aus Gold noch aus Silber, weder aus Stein noch aus Holz noch aus
sonst irgendetwas, was es auch sei. Bis heute haben sie weder Religion noch Opfer
und folglich auch keine Priester und Kultdiener, keinen Altar und keine Tempel
noch irgendwelche Kirchen. Sie wissen nichts von Gelübden oder Fürbitten, von
Andachten oder Gebeten, seien sie öffentlich, seien sie persönlich.« 33
Ansonsten herrschte die Meinung, dass die Einwohner der Neuen Welt
überaus fleißige und verstockte »Götzendiener« sein müssten. Denn die festgestellte Religiosität – etwa bei den Maya und den Völkern des Azteken- und
Inkareiches – mit Götterbildern, Tempeln, Priestern und Riten wurde als
Zeichen der Unentschuldbarkeit der Indianer nach dem Römerbrief 1,18-21
interpretiert: »Der Zorn Gottes wird vom Himmel herab offenbart wider alle
Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch
Ungerechtigkeit niederhalten. Denn was man von Gott erkennen kann, ist
ihnen offenbart. Seit der Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen,
seine ewige Macht und Gottheit. Daher sind sie unentschuldbar. Denn sie
haben Gott erkannt, ihn aber nicht als Gott geehrt und ihm nicht gedankt.
Sie verfielen in ihrem Denken der Nichtigkeit, und ihr unverständiges Herz
wurde verfinstert«. Aus diesem Grund hielt etwa der Jesuit José de Acosta
(1539-1600) die Indianer Mexikos und Perus letztlich für untentschuldbar, da
sie zwar dem höchsten Gott zahlreiche Tempel bauten, aber gleichzeitig dort
ihren absonderlichen Götzendiensten nachgingen und polytheistische Darstellungen des Teufels anbeteten.34 »Unentschuldbar« heißt auf Griechisch
»án-apologétous«, also apologielos oder ohne jede Verteidigung. So wurden
die Indianer in religiöser Hinsicht gesehen und auch behandelt.35
404
Mariano Delgado
3 Las Casas’ Apologie indianischer Religiosität
Lediglich ein Europäer der Renaissance, nämlich der Dominikaner Bartolomé
de Las Casas (1484-1566), ging andere Wege. Bei seinem Religionsbegriff folgt
er aber der Tradition. In seinem Werk De unico vocationis modo ad veram
religionem, im Wesentlichen zwischen 1526 und 1534 entstanden, spricht er
vom Christentum als »vera religio«, »christiana religio«, »fides christiana« oder
»fides catholica«, während für die anderen Religionen der Begriff »sectae«, aber
auch »religio« mit konkreter Zuordnung (z. B. Religion der Römer, Religion des
Alten Testamentes) reserviert wird.36 In den Werken Apologia und Apologética
historia sumaria, die in den 1550er Jahren – nach der Kontroverse zu Valladolid
(1550-1551) mit dem Humanisten Juan Ginés de Sepúlveda (1490-1573) – fertig
geschrieben wurden, spricht er natürlich auch vom Christentum im erwähnten
Sinne; 37 er verwendet für die Gottesverehrung der verschiedenen indianischen
Völker den Terminus »religio« (z. B. Religion der Völkerschaften Mexikos usw.),
wie er dies auch für die Völker der Alten Welt (Religion der Römer, Religion der
Karthager, Religion der Ägypter usw.) tut; 38 der Begriff »sectae« wird nur noch
benutzt, wenn er Quellen aus dem Mittelalter zitiert.39 Mit Aristoteles ordnet Las
Casas die Religion – also »die Besorgung des Gottesdienstes, des sogenannten
Kultes« 40 – der politischen Klugheit zu; und er zitiert außer Aristoteles die
klassischen Autoritäten der Antike für ein solches Religionsverständnis wie z. B.
Cicero, Valerius Maximus und Laktanz.41
Die Innovation des Las Casas liegt darin, dass er ausgehend von der Tradition
einen hermeneutischen Ansatz entfaltet, der Würde und Logik indianischer
Religiosität gerecht wird. Seit Sokrates verstand man unter Apologie die Verteidigung der eigenen Position gegen unsachliche Vorwürfe. In diesem Sinne
verteidigten die christlichen Apologeten der Antike das Christentum gegen die
heidnischen Philosophen. Las Casas schreibt nun seine apologetischen Werke,42
um die Wahrheit der Anderen zu verteidigen: damit »man all diese so unendlich
vielen Völker in diesem überaus weiten Erdkreis kennenlernte«, »sie wurden
nämlich von einigen Leuten verleumdet«, die verbreiteten, »diesen Menschen
»Wandel« in der Beurteilung der indianischen
Religionen durch die christliche Theologie im
16. und 17. Jahrhundert, in: Neue Zeitschrift für
Missionswissenschaft 49 (4 /1993) 257-289;
ders., Abschied vom erobernden Gott. Studien
zur Geschichte und Gegenwart des Christentums
in Lateinamerika (Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft, Supplementa 43), Immensee 1996.
36 Vgl. lateinische Originalversion in: Bartolomé
de Las Casas, Obras completas, hg. von Paulino
Castañeda Delgado, Bd. 2, hg. von Paulino
Castañeda Delgado / Antonio García del Moral,
Madrid 1990, 12-23 u. a.; deutsche Übersetzung
in: Las Casas, Die einzige Art der Berufung
aller Völker zur wahren Religion, in: ders.,
Werkauswahl, hg. von Mariano Delgado, Bd. 1:
Missionstheologische Schriften, Paderborn u. a.
1994, 97-335, hier 105-110.
37 Vgl. Las Casas, Apologia, in: ders., Obras completas (Anm. 36), Bd. 9, hg. von Ángel Losada,
Madrid 1988, 106, 118, 128, 152, 158, 162, 166, 206.
38 Vgl. Las Casas, Kurze apologetische Geschichte, in: ders., Werkauswahl, hg. von Mariano
Delgado, Bd. 2: Historische und ethnographische
Schriften, Paderborn u. a. 1995, 343-512 (Auswahlübersetzung der Abschnitte über die indianischen
Religionen).
Religion in der Renaissance …
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fehle es an gesunder Vernunft, um sich selbst zu regieren, sie hätten keine menschengemäße Regierungsform und keine geordneten Gemeinwesen«.43 Ausgehend vom natürlichen Verlangen nach dem wahren Gott betrachtet Las Casas
Götzendienst sowie Menschenopfer der Indianer als entschuldbare »natürliche
Phänomene« und irregeleiteter Ausdruck des genannten Verlangens, wenn das
Licht des Glaubens fehlt. Die Indianer würden also aus »entschuldbarer, unüberwindlicher Unwissenheit« handeln.
Nach der scholastischen Lehre des natürlichen Verlangens (desiderium
naturale) nach dem wahren Gott kann der Mensch mit dem Licht der natürlichen
Vernunft erkennen, »dass« es einen Gott gibt, nicht aber »was« oder »wer«
er sei. Die Ursprünge dieser Lehre gehen auf die Bibel zurück (Röm 1,19-20),
sie erhielt aber ihre entscheidende Prägung durch Thomas von Aquin. Demnach gibt es eine »duale« Gotteserkenntnis, die natürliche und die durch
den Glaubensakt gnadenhaft erfasste, die einander aber nicht widersprechen,
sondern ergänzen, so wie die Gnadenordnung die Naturordnung voraussetzt
und zur Vollendung bringt. Wenn aber die »Möglichkeit« (der wahre Gott kann
mit der natürlichen Vernunft erkannt werden, wenn auch dunkel und konfus)
natürlicher Gotteserkenntnis auch als »Notwendigkeit« (der wahre Gott soll
mit der natürlichen Vernunft erkannt und angebetet werden) verstanden wird,
dann folgt daraus, dass Götzendienst »unentschuldbar« ist. Genauso dachte
die anklagende Partei, die, sich auf die sichtbaren Zeichen von Götzendienst
und Menschenopfern stützend, den Indianern vorwarf, »unentschuldbar« den
wahren Gott verkannt zu haben und den falschen Göttern gefolgt zu sein. Auch
hierfür konnte man sich auf Röm 1,18-23 berufen. Daraus (wie aus Weish 13,1-9
und Ps 96,5) spricht der biblische Zorn gegen Polytheismus und Götzendienst,
die aus monotheistischer Sicht für die Wurzel aller Übel gehalten werden. Weil
Las Casas nun vom natürlichen Verlangen nach dem wahren Gott ausgeht, aber
die authentische, d. h. durch die Gnade des Glaubens offenbarte Gotteserkenntnis in den indianischen Kulturen vor der Ankunft der Christen für faktisch unwirksam hält, da die Indianer weder von weisen Philosophen noch von Aposteln über den wahren Gott genügend unterrichtet worden wären, sind für ihn
39 Las Casas, Kurze apologetische Geschichte
(Anm. 38), 431.
40 Aristoteles, Politik. Übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen versehen von Eugen
Rolfes, mit einer Einleitung von Günther Bien
(Philosophische Bibliothek 7), Hamburg 41981,
VII,8: 1328b, zitiert in: Las Casas, Kurze
apologetische Geschichte (Anm. 38), 382.
41 Vgl. u. a. Las Casas, Kurze apologetische Geschichte (Anm. 38), 384f, 388, 409, 430, 442
(Zitate aus Ciceros Werke De natura deorum,
De legibus und Tusculanae disputationes), 416,
442-444, 465 (Zitate aus Valerius Maximus’ Facta
et dicta memorabilia), 387,397, 424, 429, 503f
(Zitate aus Laktanz’ Divinarum institutionum).
42 Vgl. dazu: Mariano Delgado, Las Casas als
»Anthropologe des Glaubens«, in: Las Casas,
Kurze apologetische Geschichte (Anm. 38),
327-342; Lluis Duch, Religión y Religiosidad en la
»Apologética Historia« de Fray Bartolomé de
Las Casas, in: Fides quaerens intellectum. Beiträge
zur Fudamentaltheologie, hg. von Michael Kessler /
Wolfhart Pannenberg / Hermann Josef Pottmeyer,
Tübingen / Basel 1992, 41-48.
43 Las Casas, Kurze apologetische Geschichte
(Anm. 38), 443.
406
Mariano Delgado
auch Götzendienst und Menschenopfer natürliche Phänomene als redliche
Ergebnisse der konfusen natürlichen Gotteserkenntnis. Paulus, so Las Casas
weiter, beziehe sich im Römerbrief auf die heidnischen Philosophen der Antike,
welche die Existenz eines höchsten Gottes wohl erkannt hätten, ihn aber nicht
entsprechend anbeteten. Das paulinische »án-apologétous« sei jedoch nicht auf
die Indianer anwendbar.44
Denjenigen, die verächtlich behaupten, »Steine« anstelle des wahren Gottes
anzubeten (also »Idolatrie« oder Götzenverehrung zu treiben statt »Latrie«
oder Gottesanbetung), verstoße gegen die natürliche Vernunft, entgegnet Las
Casas mit gesundem Menschenverstand, die wahre Absicht (communis et finalis
intentio) der Götzendiener bestehe nicht darin, Steine anzubeten, sondern
in ihnen und durch gewisse Erscheinungen der göttlichen Macht den Weltenschöpfer und -beweger zu würdigen, gemäß der fragmentarischen Kenntnis, die sie von ihm besäßen. So bestehe die wahre Absicht der Götzendiener
letztlich darin, den wahren Gott anzubeten, von dem sie mit dem Licht der bloß
natürlichen Vernunft wissen, »dass« es ihn gibt, ohne wirklich sagen zu können,
»was« er in seinem Wesen letztlich sei.45 Im Schatten des Götzendienstes haben
wir es also primär mit authentischer Religiosität zu tun und nicht mit teuflischen Phänomenen.46 Durch die Kritik der Gewalt und der Habgier als der
»Götzen« der Christen bekommt Las Casas’ Götzendiensttheorie zudem eine
überraschende Wende: Der Götzendienst gedeiht auch im Schatten der wahren
Religion, wobei der Götzendienst der Christen gravierender ist, denn ihnen
war bereits nicht nur die natürliche, sondern auch die übernatürliche Gotteserkenntnis zuteil geworden.
Las Casas hält die Menschenopfer (samt Anthropophagie) für eine »abscheuliche Bestialität«, zugleich aber für ein in der allgemeinen Religionsgeschichte vorkommendes »natürliches« Phänomen, wenn das Licht des
Glaubens fehlt. So ist Las Casas fest davon überzeugt, man könne den Indianern
nicht so schnell und mit zwingender Evidenz beweisen, dass die Menschenopfer zu Ehren des wahren oder für wahr gehaltenen Gottes wider die bloße
44 Vgl. Las Casas, Apologia (Anm. 37), 255-266;
47 Las Casas, Werkauswahl, hg. von Mariano
vgl. auch ders., Kurze apologetische Geschichte
(Anm. 38), 381-388.
45 Vgl. Las Casas, Apologia (Anm. 37), 266-271;
vgl. auch ders., Kurze apologetische Geschichte
(Anm. 38), 388-399.
46 Außer auf Thomas stützt sich Las Casas besonders auf Wilhelm von Auvergne, der ausgehend vom natürlichen Verlangen nach dem
wahren Gott eine Deutung des Götzendienstes
vornimmt, die tendenziell auf dessen »Entdämonisierung« hinausläuft. Vgl. Guilielmi Alverni,
Opera Omnia, 2 Bde., Paris 1674 (Nachdruck:
Frankfurt 1963), Bd. I, fol. 66f.
Delgado, Bd. 3 / 1: Sozialethische und staatsrechtliche Schriften, Paderborn u. a. 1996, 501.
48 Vgl. Las Casas, Apologia (Anm. 37), 360-481;
vgl. auch ders., Kurze apologetische Geschichte
(Anm. 39), 414-451. Die Menschenopferpraktiken
waren in der Geschichte vielfach, wenn auch
nicht zwingend, mit Anthropophagie oder Kannibalismus verbunden. Beides war sowohl in der
Antike wie auch im Zeitalter der Eroberungen und
Entdeckungen ein Kerntopos der »Hermeneutik
des Fremden«, der Herrschaftsansprüche mit einem zivilisatorischen Argument legitimieren sollte,
denn diese Praktiken machten die »Fremden« zu
»Unmenschen«.
Religion in der Renaissance …
407
natürliche Vernunft seien. Dabei war er sich seiner »Sonderrolle« im 16. Jahrhundert durchaus bewusst. In seinem »Brief an die Dominikaner von Chiapas
und Guatemala« von 1564 rühmt er sich, viele Thesen vertreten und bewiesen
zu haben, »die vor mir kein Mann zu fassen oder aufzuschreiben wagte«.
Dazu zählt Las Casas die These, »daß es nicht gegen das Naturgesetz oder die
natürliche Vernunft ist, wenn diese von jedem positiven menschlichen wie
göttlichen Gesetz getrennt ist (seclusa omni lege positive humana vel divina),
dem falschen oder wahren Gott (wenn man den falschen für den wahren
hält) Menschenopfer darzubringen«.47 Da alle Menschen durch die natürliche
Tendenz der Vernunft den wahren Gott ersehnen, ihn mit dem Besten, was sie
haben, anbeten wollen, und die Menschen eben das höchste Gut seien, müsse
man bei den Menschenopfern der Indianer zuerst von einer rechten Absicht
ausgehen. Außerdem glauben die Indianer, das allgemeine Wohl und Glück
ihrer Gemeinwesen hänge von den Menschenopfern ab, womit es nicht verwunderlich sei, wenn sie in der Not Gott das opfern, was in ihren Augen das
Kostbarste und Gottgefälligste sei. So befänden sich diejenigen, die vom Licht
des Glaubens noch nicht erreicht wurden und nur der bloßen natürlichen Vernunft folgen konnten, im Zustand einer entschuldbaren Unwissenheit, wenn
sie sich freiwillig opfern ließen oder Menschenopfer vollzögen. Die Praxis der
Menschenopfer in der biblischen Zeit (Abrahamsgeschichte!) und in der vorchristlichen Antike einschließlich des alten Spanien sei auch so zu deuten.48
Mit dieser Deutung der Menschenopfer wollte Las Casas vermeiden, dass
sie als Vorwand für die Eroberungskriege instrumentalisiert werden, denn
in der Rechtstiteldiskussion spielte die »defensio innocentium« (die Verteidigung der Unschuldigen, die den Göttern geopfert wurden, also die
Kriegführung aus »humanitären Gründen«) eine zentrale Rolle. In einem
seiner späteren Werke nuanciert er seine Position: Wenn die Indianer nach
wiederholter Ermahnung Menschenopfer und Anthropophagie beibehalten
und Unschuldige dabei zum Opfer fallen sollten, könnte man sie unter Anwendung eines gemäßigten Zwangs zur Aufgabe solcher Praktiken nötigen.
Die Intervention sollte allerdings nur zur Verteidigung der Unschuldigen geschehen und nicht etwa, um die Indianer für solche kriminellen Handlungen
zu bestrafen oder sie gar als Knechte zu unterwerfen und sie ihrer Güter zu
berauben, wie dies in der Tat geschehe; und zuvor sollte genau abgewogen
werden, ob die Zahl der Unschuldigen, die der gewaltsamen Intervention letztlich zum Opfer fallen würden, größer sei, als die Zahl, die man vor dem ungerechten Tod zu retten beabsichtige; man müsse aber auch bedenken, ob der
Skandal, der aus einer solchen Intervention notwendigerweise entstehen würde,
am Ende doch überwiegen und der christlichen Predigt hinderlich sein würde.
In einem solchen Falle müsse man, der göttlichen Weisung folgend, von einer
derartigen Befreiung der Unschuldigen absehen, wäre doch ein solcher Akt
vitiös zu nennen, da er doch gegen die Vernunftregel verstoßen würde, die uns
408
Mariano Delgado
vorschreibt, das kleinere Übel zu wählen. Da Las Casas der Meinung ist, die
Menschenopfer der Indianer seien weniger schlimm als die Eroberungskriege
der Spanier, empfiehlt er, die Menschenopfer (und den Götzendienst) so lange
zu dulden, bis sie mittels Überzeugung des Verstandes mit Argumenten und
sanfter Ermahnung des Willens mit guten Lebensbeispielen freiwillig aus der
Welt geschafft werden können. Den Befürwortern eines gewaltsamen Vorgehens wirft Las Casas vor, sie seien offenbar der Meinung, der Zweck könne
die Mittel heiligen.49
4 Ausblick
Las Casas’ Apologie indianischer Religiosität führt zur Frage nach der unentschuldbar sündigen Vernunft, deren Erhellung Hansjürgen Verweyen für
»eine entscheidende Aufgabe der Apologetik« hält.50 Wirklich unentschuldbar ist der Mensch für ihn nur dann, »wenn er mit seiner faktischen NichtAnerkennung Gottes, seinen Gottes-Surrogaten und Pseudoverhältnissen,
im Widerspruch steht nicht nur zu einer prinzipiell möglichen authentischen
Gotteserkenntnis, sondern zu einer solchen Gotteserkenntnis, die, wenn
auch noch so verdeckt, faktisch dennoch bereits wirksam ist. Jede andere
Erklärung des án-apologétous liefe auf eine Prädestinationslehre hinaus, die
der Glaubende nicht nur vor keinem weltlichen Forum der Vernunft, sondern
erst recht nicht vor seinem eigenen Glauben an den gerechten und befreienden
Gott verantworten könnte«.51
Las Casas’ These im Zusammenhang mit Götzendienst und Menschenopfern steht und fällt mit der vorausgesetzten faktischen Unwirksamkeit einer
unentschuldbar verpflichtenden wahren Gotteserkenntnis. Las Casas wird
zwar die zu seiner Zeit nicht zuletzt zwecks Rechtfertigung der Eroberungs49 Vgl. u. a. Las Casas, Apologia (Anm. 37),
Kap. 28-33, 40 (S. 360-421, 478-491); ders.,
De Thesauris, in: ders., Obras completas
(Anm. 36), Bd. 11 / 1, hg. von Ángel Losada,
Madrid 1992, 432-439.
50 Hansjürgen Verweyen, Gottes letztes Wort.
Grundriß der Fundamentaltheologie,
Düsseldorf 1991, 60.
51 Verweyen, Gottes letztes Wort (Anm. 50), 59.
52 Wenn die Indianer nämlich bereits in der
Vergangenheit eine Chance zum »Hören des
Wortes« durch die apostolische Predigt gehabt
hätten, dann wäre die scholastisch fundierte Argumentation der »entschuldbaren Unwissenheit«
theologisch nicht haltbar. Die großen Theologen
von Salamanca (besonders Domingo de Soto,
der von Las Casas beeinflusst wurde) sprachen
ebenfalls von der »entschuldbaren Unwissenheit«
der Indianer. Vgl. Teófilo Urdánoz, La necesidad
de la fe explícita para salvarse según los teólogos
de la Escuela de Salamanca, in: Ciencia Tomista
59 (1940) 398-414, 529-553; 60 (1941) 109-134;
61 (1941) 83-107, hier 59 (1940) 405.412.
53 Las Casas, Kurze apologetische Geschichte
(Anm. 38), 402.
54 Zur Berufung auf Mt 13,24-30 vgl. u. a.: Las
Casas, Die Disputation von Valladolid (1550-1551),
in: ders., Werkauswahl Bd. 1 (Anm. 36), 347-436,
369; ders., Apologia (Anm. 37), 398-407; ders.,
Werkauswahl Bd. 3/ 1 (Anm. 47), 83, 306. Über die
friedliche Mission vgl. Las Casas, Die einzige Art
der Berufung (Anm. 36), 97-335.
55 Las Casas, Kurze apologetische Geschichte
(Anm. 38), 464.
56 Denzinger, Enchiridion (Anm. 19), Nr. 4196.
Religion in der Renaissance …
409
kriege verbreitete Theorie einer Urevangelisierung Altamerikas in der Apostelzeit durch die Apostel Thomas oder Bartholomäus immer ablehnen, denn die
Indianer wären dann wirklich »unentschuldbar«; 52 gleichwohl ist ihm nicht
entgangen, dass im Hochtal Mexikos der Kulturheros Quetzalcóatl wirksam
war, »der […] nichts von Kriegen, Menschenopfern und anderen dem Gemeinwesen abträglichen Dingen wissen wollte«.53 Auch wenn Las Casas sich
von seiner Apologie nicht abbringen ließ, hat er doch immer wieder betont,
worum es ihm ging: Er will nämlich nicht in Frage stellen, dass die Indianer
wie übrigens die Spanier auch vielleicht »vor Gott unentschuldbar« sind, der
am Tag des Gerichtes über sie richten wird; wohl aber bestreitet er, dass die
Indianer »vor den Spaniern unentschuldbar« sind, denn sie haben diesen
»nichts angetan«. So läuft seine Apologie im Grunde auf eine Widerlegung
der Anmaßung hinaus, dass die Christen berechtigt seien, den vermeintlichen
»Zorn Gottes« gegenüber den Indianern innerweltlich vorwegzunehmen. Es
ist kein Wunder, dass Las Casas sich dabei auf das Gleichnis vom Unkraut
unter dem Weizen (Mt 13,24-30) beruft und die Überzeugung des Verstandes
mit Argumenten sowie die sanfte Anlockung und Ermahnung des Willens
mit dem Beispiel eines guten Lebenswandels für die einzige evangeliumskonforme Art christlicher Mission hält.54
Für Las Casas ist das Christentum selbstverständlich die »wahre Religion«.
Doch durch seine Entdeckung von »authentischer Religiosität« im Schatten
des Götzendienstes stellt er eine Innovation im Religionsverständnis der
Renaissance dar. Seine Apologie indianischer Religiosität gipfelt in der Aussage, dass Christen von den indianischen Formen der Gottesverehrung genug
lernen könnten. So schreibt er über die Religion der Azteken: »Und alle Taten
und Werke, die sie beim Kult ihrer Götter ausführten, waren derart ehrbar, anständig, frei und rein von jeder Gemeinheit, Schändlichkeit und Unzüchtigkeit, daß – wenn man von den entsetzlichen und blutigen Opfern, die sie darbrachten und die von unserer Religion und dem sanften und leichten Gesetz
Jesu Christi verboten werden, und von einigen Zeremonien und Akten absieht,
die offenbar den Götzen gewidmet waren – alles übrige es durchaus verdiente,
dass es in unserer universalen Kirche ausgeführt und vollzogen würde und dass
man es von ihnen lernte.« 55
Las Casas nimmt damit »Nostra aetate« 2 vorweg (»Die katholische Kirche
verwirft nichts von dem, was in diesen Religionen wahr und heilig ist«) 56 und
öffnet in der Renaissance bei der Begegnung des Evangeliums mit anderen
Religionen und Kulturen reale Möglichkeiten einer echten Inkulturation.
410
Mariano Delgado
Zusammenfassung
Im ersten Teil zeigt der Beitrag, dass in der Renaissance in zweifacher Hinsicht
von »Religion« die Rede war: einerseits macht der christliche Humanismus
im Gefolge der Antike aus Religion im Sinne der Gottesverehrung eine anthropologische Strukturkonstante; er findet aber nur im christlichen Glauben
wahre Religion und entwickelt eine entsprechende Apologetik; andererseits
wird Religion im Schatten der Religionskriege als jener Aspekt der Glaubenssachen verstanden, der die öffentliche Ordnung tangiert. Im zweiten Teil geht es
um die Wahrnehmung indianischer Religionen in der Renaissance. Einerseits
wird festgestellt, dass die Europäer für die Wahrnehmung fremder Religiosität
außerhalb des abendländischen Religionsbegriffes blind waren; und andererseits wird auf die Apologie indianischer Religiosität (einschließlich des Götzendienstes und der Menschenopfer) des Bartolomé de Las Casas als »Innovation«
gegenüber dem Religionsverständnis der Renaissance aufmerksam gemacht.
Abschließend wird darauf hingewiesen, dass Las Casas’ Ansatz reale Möglichkeiten einer echten Inkulturation bei der Begegnung des Evangeliums mit den
indianischen Religionen und Kulturen öffnete.
Summary
In the first part the contribution shows that one spoke of »religion« in two
respects during the Renaissance: On the one hand, in the wake of classical antiquity, Christian humanism makes an anthropological structural constant out of
religion understood as worship of God; however, it discovers true religion only
in the Christian faith and develops a corresponding apologetics. On the other
hand, overshadowed by religious wars, religion is understood as that aspect of
matters of faith that affects public law and order. The second part deals with
European awareness of non-European religions in the Renaissance. On the one
hand it is ascertained that Europeans were blind to perceiving unfamiliar religiosity outside the Western concept of religions; and on the other hand attention
is drawn to the apologia of Indian religiosity (including idolatry and human sacrifice) by Bartolomé de Las Casas as an »innovation« in contrast to the understanding of religion in the Renaissance. In conclusion it is pointed out that Las
Casas’ approach opened up real possibilities for an authentic inculturation concerning the encounter of the Gospel with non-European religions and cultures.