Schrumpfende Städte wachsen und wachsende Städte schrumpfen
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Schrumpfende Städte wachsen und wachsende Städte schrumpfen
Informationen zur Raumentwicklung Heft 7.2009 443 Schrumpfende Städte wachsen und wachsende Städte schrumpfen Hans-Peter Gatzweiler Antonia Milbert 1 Stadtentwicklung zwischen Wachstum und Schrumpfung Seit Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert ist die Entwicklung der Städte in Deutschland – von Ausnahmen abgesehen – durch stetiges Wachstum gekennzeichnet. Bis Mitte der 1960er Jahre befand sich Deutschland auf einem Entwicklungspfad, der in eine wirtschaftlich prosperierende und sozial ausgeglichene Gesellschaft führte. Er war verbunden mit einem starken Urbanisierungsprozess, der sich in einer rasanten Zunahme der städtischen Bevölkerung und durch ein scheinbar unaufhaltsames Wachstum von Wirtschaftskraft und Arbeitsplätzen manifestierte. Wirtschaftsstruktureller und demographischer Wandel und damit einhergehende Arbeitsplatz- und Bevölkerungsverluste führen spätestens aber schon seit den 1970er Jahren dazu, dass sich wesentliche Voraussetzungen der Stadtentwicklung ändern. Zudem wird im Zuge der aufkommenden Umweltdebatte der Glaube an ein kontinuierliches Wohlstandswachstum als Normalfall erschüttert. Konträr zu den typischen Formen der Stadtentwicklung seit der Industrialisierung, d. h. wachsenden Städten, kommt eine Entwicklung in Gang, die zu einem neuen Stadttypus führt: schrumpfende Städte.1 Die Ergebnisse einer vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung erstmals 2003 für den Zeitraum 1997 bis 2001 durchgeführten Analyse der Verlaufsformen von Stadtentwicklung belegen, dass Wachstum, Stagnation und Schrumpfung in Deutschland ungleich verteilt sind.2 Im Osten konzentrieren sich die schrumpfenden, im Westen die wachsenden Städte und Gemeinden. Besonders von Schrumpfung betroffen im Osten sind Mittel- und Kleinstädte. Die wenigen Wachstumsgemeinden im Osten finden sich vor allem im Berliner Umland sowie im Einzugsbereich einiger Großstädte (z. B. Dresden, Leipzig, Magdeburg, Rostock). Dagegen ist im Westen – von Ausnahmen wie dem Ruhrgebiet, dem Saarland oder Oberfranken abgesehen – Schrump- fung in der Regel noch ein singuläres, räumlich begrenztes Problem. Zwei ursächliche Prozesse vor allem kennzeichnen heute schrumpfende Städte: Zum einem verlieren sie massiv und auf Dauer Arbeitsplätze durch wirtschaftlichen Strukturwandel. Hinzu kommen zum anderen starke und andauernde Einwohnerverluste, insbesondere durch selektive Abwanderung, d. h. Abwanderung der jüngeren, erwerbsorientierten, qualifizierteren Bevölkerung. Zusammen mit den Folgen dieser Prozesse auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, für die städtische Infrastruktur, die Kommunalfinanzen usw. ergeben sich Aufgaben und Optionen für die künftige Stadtentwicklung: Stadtentwicklungspolitik wird in Zukunft noch weniger als in der Vergangenheit dadurch bestimmt sein, Wachstum räumlich zu verteilen. Vielmehr gilt es rückläufige Entwicklungen umfassend und nachhaltig zu gestalten. Stadtumbau in Ost und West ist der seit längerem leitende Impetus der Stadtentwicklung in Deutschland. Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht – ausgehend von der 2003 durchgeführten Analyse – eine aktuelle Analyse der Verlaufsformen von Stadtentwicklung in Deutschland 2002 bis 2007. Auf Basis der gleichen Indikatoren wird die Entwicklung von wachsenden und schrumpfenden Städten in der jüngeren Vergangenheit beschrieben: Was hat sich verändert? Hat sich der Typus schrumpfende Stadt weiter von Ost nach West ausgebreitet? Gefragt wird aber auch nach den notwendigen Antworten der Stadtpolitik in Deutschland: Reichen die aktuellen stadtpolitischen Aktivitäten, die Städtebauförderungsprogramme Stadtumbau Ost und West aus? Gibt es alternative Antworten? Dr. Hans-Peter Gatzweiler Antonia Milbert Bundesinstitut für Bau-, Stadtund Raumforschung (BBSR) Im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung Deichmanns Aue 31–37 531790 Bonn E-Mail: hans-peter.gatzweiler@ bbr.bund.de [email protected] Hans-Peter Gatzweiler, Antonia Milbert: Schrumpfende Städte wachsen und wachsende Städte schrumpfen 444 2 Zirkularität von Schrumpfung und Wachstum Die Beantwortung der Frage, welche Städte in Deutschland aktuell noch wachsen und welche schrumpfen, macht das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) an folgenden sechs Indikatoren fest: • Bevölkerungsentwicklung in % der letzten ca. 5 Jahre • Gesamtwanderungssaldo je 1 000 Einwohner (Dreijahresdurchschnitt) • Arbeitsplatzentwicklung in % der letzten ca. 5 Jahre • Arbeitslosenquote (Zweijahresdurchschnitt) • Realsteuerkraft in € je Einwohner (Zweijahresdurchschnitt) • Kaufkraft in € je Einwohner. Die Auswahl dieser Indikatoren geht davon aus, dass es sich bei Schrumpfung bzw. Wachstum um ein multidimensionales, „systemisches“ Phänomen handelt, das aus einer negativen bzw. positiven Synergie von Teilprozessen mit Schrumpfungs- bzw. Wachstumstendenzen resultiert.3 SchrumpAbbildung 1 Zirkularität von Schrumpfung und Wachstum Bevölkerungsentwicklung 8 0,3 7 0,1 5 4 Arbeitsplatzentwicklung 0,21 0,20 8 3 0,1 3 0,1 0,2 0,3 0 -0,34 -0,30 4 Arbeitslosigkeit 8 0,1 1 Kaufkraft -0,4 -0,4 0,1 0,15 0,09 -0,30 0,12 0,12 0,29 0,21 56 -0, 45 Gesamtwanderungssaldo 0,2 0,2 -0, 8 0,7 5 Realsteuerkraft -0,26 1 0,9 ,18 -0 -0,34 Zeitraum 1997-2001 -0,30 Zeitraum 2002-2007 Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR Diese einfachen Kreislaufzusammenhänge werden durch die zwischen den Indikatoren bestehenden korrelativen Zusammenhänge weitgehend „bestätigt“ (Abb. 1). Sie sind zudem recht zeitstabil, wie ein Vergleich der aktuellen Analyse für den Zeitraum 2002 bis 2007 mit dem Beobachtungszeitraum 1997 bis 2001 zeigt. In den korrelativen Beziehungen sind nur geringe Veränderungen festzustellen: Der positive Zusammenhang zwischen Bevölkerungsentwicklung und Wanderungssaldo ist in seiner Eindeutigkeit von 0.91 auf einen Korrelationskoeffizienten von 0.78 gesunken, da das natürliche Saldo als treibende Kraft für die Bevölkerungsentwicklung gegenüber den Wanderungen in der jüngeren Vergangenheit an Bedeutung gewinnt. Der negative Zusammenhang zwischen Bevölkerungsentwicklung und Arbeitslosigkeit ist von 0.46 auf 0.56 gestiegen, was die Bedeutung von Arbeitslosigkeit als Antriebsmoment für eine negative Zirkularität in der Stadtentwicklung bekräftigt. Die positive Korrelation zwischen Bevölkerungsentwicklung und Kaufkraft ist von 0.18 auf 0.37 gestiegen, d. h. der angenommene Zusammenhang zwischen Schrumpfung und Kaufkraftverlusten bzw. Wachstum und Kaufkraftgewinnen zeigt sich deutlicher. Schrumpfung als mehrdimensionaler, zirkulärer Prozess der Stadtentwicklung legt es nahe, alle Indikatoren bei der Festlegung von schrumpfenden bzw. wachsenden Städten und Gemeinden gleichgewichtet zu ,08 -0 Korrelationen zwischen den betrachteten Strukturindikatoren stark mittel schwach fung bedeutet also eine negative Zirkularität in der Stadtentwicklung, d. h. rückläufige Entwicklungen werden dominant und tendieren dazu, sich wechselseitig zu verstärken.4 Bevölkerungsabnahme ist auf Arbeitsplatzverluste und dadurch bedingte Wanderungsverluste zurückzuführen, hohe Arbeitslosigkeit auf starke Arbeitsplatzverluste. Der Rückgang von Bevölkerung und Arbeitsplätzen führt zu Kaufkraft- und Realsteuerkraftverlusten. Abnehmende private und öffentliche Mittel bewirken sinkende Investitionen in private Betriebe und öffentliche Infrastruktur, was sich wiederum verstärkend auf Schrumpfungsprozesse von Arbeitsplätzen und Bevölkerung auswirkt. © BBR Bonn 2009 Informationen zur Raumentwicklung Heft 7.2009 445 3 Aktuell schrumpfende und wach sende Städte in Deutschland berücksichtigen. Eine Stadt ist demzufolge umso mehr mit dem Problem Schrumpfung konfrontiert, je stärker die Bevölkerungsab nahme, je größer die Wanderungsverluste, je stärker der Arbeitsplatzrückgang, je hö her die Arbeitslosigkeit und je geringer die Realsteuer- und Kaufkraft sind. Aktuelle Situation Schrumpfung und Wachstum sind in Deutschland nach wie vor ungleich verteilt (Tab. 1; Abb. 2): Im Osten konzentrieren sich die schrumpfenden, im Westen die wach senden Städte und Gemeinden. Während im Westen nicht einmal 1% aller Kommu nen(betroffeneBevölkerunglediglich0,2%) von starker Schrumpfung betroffen sind, ist es im Osten mehr als jede zweite (betroffe ne Bevölkerung rd. 31%). Dagegen gelten fast 10% aller Städte und Gemeinden im Westen als stark wachsend mit einem Be völkerungsanteil von 12,5%. Im Osten sind es lediglich 0,3% mit einem Bevölkerungs anteil von 0,2%. Dennoch: Schrumpfung breitet sich auch im Westen aus. Immerhin sind knapp 30% aller westdeutschen Kom munen mittlerweile von Schrumpfung ge nerell betroffen. Schrumpfung gilt als Problem, wenn eine Stadt bei den einzelnen Indikatoren jeweils im unteren Quintil liegt, also zur Klasse der 20% Gemeinden am unteren Ende der Rangskala gehört. Das heißt: Je höher die Anzahl der Indikatoren im unteren Quintil ist (maximal 6), umso größer ist das Pro blem Schrumpfung (Schrumpfung als ku mulatives Problem). Bei 4 bis 6 Indikato ren im untersten Quintil wird von „starker Schrumpfung“, bei 1 bis 3 Indikatoren dort von „Schrumpfung“ schlechthin gespro chen. Entsprechendes gilt für den Gegen pol Wachstum. Städte und Gemeinden, die bei keinem der Indikatoren in das unterste oder oberste Quintil fallen, gelten als „sta bil“ bzw. stagnierend. Mit Ausnahme der Großstädte sind im Os ten alle Stadt- und Gemeindetypen mit starken Schrumpfungstendenzen konfron tiert. Ungefähr 40% der Klein- und Mittel städteund60%derländlichenGemeinden schrumpfen stark; ihr Bevölkerungsanteil bewegt sich zwischen 35% (Mittelstädte) und knapp 60% (Ländliche Gemeinden). Die wenigen Wachstumsgemeinden im Os ten sind Kleinstädte und ländliche Gemein- Tabelle 1: Schrumpfende und wachsende Städte und Gemeinden stark schrumpfend: 4 und mehr Indikatoren im untersten Quintil West Gemeinden absolut in % Ost Bevölkerung absolut Gemeinden in % absolut in % Bund Bevölkerung absolut Gemeinden in % absolut in % Bevölkerung absolut in % Großstädte 0 0,0 0 0,0 1 8,3 101 618 1,7 1 1,3 101 618 0,4 Mittelstädte 1 0,2 17 984 0,1 54 40,6 1 248 556 33,5 55 8,2 1 266 540 5,4 Kleinstädte 2 0,4 20 909 0,2 33 38,8 496 956 40,1 35 5,6 517 865 5,3 Ländliche Gemeinden 27 1,1 93 628 0,5 468 59,6 3 283 304 58,8 495 15,5 3 376 932 14,1 Gesamt 30 0,8 1 352 521 0,2 556 54,8 5 130 434 31,0 568 12,8 5 262 955 6,4 stark wachsend: 4 und mehr Indikatoren im obersten Quintil West Gemeinden absolut Großstädte 9 Mittelstädte Kleinstädte in % Ost Bevölkerung absolut Gemeinden in % absolut in % 20,4 0 0,0 13,8 3 905 017 39 7,2 1 382 545 7,1 0 88 16,2 1302 568 15,2 2 Bund Bevölkerung absolut Gemeinden in % absolut Bevölkerung in % absolut in % 11,7 3 905 017 15,5 0 0,0 9 0,0 0 0,0 39 5,8 1 382 545 5,9 2,4 26 406 2,1 90 14,3 1328 974 13,5 Ländliche Gemeinden 214 8,9 1 630 370 8,9 1 0,1 12 462 0,2 215 6,7 1 642 832 6,9 Gesamt 350 9,8 8 220 500 12,5 3 0,3 38 868 0,2 353 7,7 8 259 368 10,0 Hans-Peter Gatzweiler, Antonia Milbert: Schrumpfende Städte wachsen und wachsende Städte schrumpfen 446 Abbildung 2 Schrumpfende und wachsende Städte und Gemeinden in Deutschland – 2002 bis 2007 Kiel Rostock Schwerin Hamburg Szczecin Bremen Berlin Amsterdam Hannover Magdeburg Potsdam Bielefeld Essen Cottbus Halle/S. Dortmund Düsseldorf Leipzig Kassel Erfurt Köln Chemnitz Dresden Bonn Liège Wiesbaden Frankfurt/M. Praha Mainz Luxembourg Nürnberg Mannheim Saarbrücken Stuttgart Strasbourg München Freiburg i.Br. Zürich 100 km Innsbruck Schrumpfende und wachsende Städte und Gemeinden Häufigkeit der Städte und Gemeinden stark schrumpfend schrumpfend stabil wachsend Stadt- und Gemeindetyp Großstädte stark wachsend 800 700 Zeitraum 600 1997-2001 500 2002-2007 400 © BBR Bonn 2009 Ulm Mittelstädte Kleinstädte Ländliche Gemeinden Siedlungsstruktureller Regionstyp Agglomerationsraum Verstädterter Raum Betrachtete Strukturindikatoren: Bevölkerungsentwicklung 2002-2007 Gesamtwanderungssaldo 2005/06/07 Arbeitsplatzentwicklung 2002-2007 Arbeitslosenquote 2006/07 Realsteuerkraft 2006/07 Kaufkraft 2007 Ländlicher Raum 300 200 100 0 6 5 4 3 2 1 0 Anzahl Indikatoren im untersten Quintil 1 2 3 4 5 6 Anzahl Indikatoren im obersten Quintil Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR Geometrische Grundlage: BKG, Gemeindeverbände, 31.12.2007 Informationen zur Raumentwicklung Heft 7.2009 447 Abbildung 3 Veränderungen bezüglich Schrumpfungs- und Wachstumstendenzen von Städten und Gemeinden in Deutschland Kiel Rostock Schwerin Hamburg Szczecin Bremen Berlin Amsterdam Hannover Magdeburg Potsdam Bielefeld Essen Cottbus Halle/S. Dortmund Düsseldorf Leipzig Kassel Erfurt Köln Chemnitz Dresden Bonn Liège Wiesbaden Frankfurt/M. Praha Mainz Luxembourg Nürnberg Mannheim Saarbrücken Stuttgart Strasbourg München Freiburg i.Br. 100 km Zürich Veränderung in der Einstufung zwischen den Zeiträumen 1997-2001 und 2002-07 3 2 Verschlechterung um Stufen 1 © BBR Bonn 2009 Ulm Innsbruck Stadt- und Gemeindetyp Großstädte Mittelstädte Kleinstädte Ländliche Gemeinden Siedlungsstruktureller Regionstyp Agglomerationsraum Verstädterter Raum Ländlicher Raum unverändert 1 2 3 Verbesserung um Stufen Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR Geometrische Grundlage: BKG, Gemeindeverbände, 31.12.2007 448 Hans-Peter Gatzweiler, Antonia Milbert: Schrumpfende Städte wachsen und wachsende Städte schrumpfen den vor allem im Berliner Umland und im Einzugsbereich von Dresden und Leipzig. Im Westen treffen Schrumpfungsprozesse nicht mehr nur Städte und Gemeinden in den Montanregionen des Ruhrgebiets und des Saarlandes, die schon seit längerem von wirtschaftlichen Struktur umbrüchen gekennzeichnet sind. Auch entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze in der bayerischen Grenzregion zu Tschechien schrumpfen Gemeinden, vereinzelt aber auch in allen anderen Gebieten. Cluster stärkeren Wachstums finden sich im Westen vornehmlich noch im Umland einiger Kernstädte und innerhalb der großen Agglomerationen/Metropolregionen. Allerdings scheint stärkeres Wachstum immer mehr zu einer lokalen Spezifität zu werden. Die Zeiten großräumigen, ubiquitären Wachstums sind auch im Westen vorbei. Entwicklung Ist es von Vorteil gegenüber ländlichen Gemeinden, eine Stadt oder gar Großstadt zu sein? Dieser Schluss drängt sich bei der Betrachtung der Ergebnisse der aktuellen Schrumpfungs- und Wachstumsanalyse auf. Und welche Rolle spielt die Lage noch, wenn zwar der Großteil der stark schrumpfenden Städte und Gemeinden im Osten liegt, aber das Phänomen Schrumpfung zunehmend auch im Westen zu beobachten ist? Erste Hinweise und eine Ahnung von den (zukünftigen) Entwicklungen gibt ein Vergleich der aktuellen Ergebnisse für den Zeitraum 2002–2007 mit den früheren für den Zeitraum 1997–2001. Zunächst fragt sich, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Stadt oder Gemeinde, die im Zeitraum 1997–2001 als schrumpfend oder aber wachsend galt, auch aktuell noch in diese Kategorie fällt. Oder: Wie wahrscheinlich ist es, dass Städte und Gemeinden in eine andere Klassenstufe wechseln? Ein Blick auf Tabelle 2 mit den Übergangswahrscheinlichkeiten zeigt, dass dies von der Ausgangssituation und vom Typ und der Größe der Stadt abhängt. Dass stark schrumpfende Städte und Gemeinden auch sechs Jahre später noch in diese Kategorie fallen, ist für rund drei Viertel von ihnen wahrscheinlich. Weniger wahrscheinlich ist es dagegen für stark wachsende Städte und Gemeinden, dann immer noch zu diesen zu zählen; nur für weniger als die Hälfte von ihnen trifft dies zu. Eine Ausnahme bilden die Groß- und Mittelstädte: Fast alle Großstädte konnten den Prozess des starken Schrumpfens so weit stoppen bzw. auffangen, dass sie heute als „nur noch“ schrumpfend gelten. Bei stark schrumpfenden Mittelstädten beträgt die Chance einer solchen Positionsverbesserung immerhin über 40 %. Waren dagegen die Schrumpfungstendenzen einer Stadt oder Gemeinde im früheren Zeitraum weniger gravierend, war sie also lediglich als schrumpfend eingestuft, ist die Wahrscheinlichkeit eines „Klassenwechsels“ größer – im Positiven wie im Negativen. Zwar können auf der einen Seite einige von diesen Städten und Gemeinden durchaus in starkes Schrumpfen „abrutschen“, jedoch konnten auf der anderen Seite zahlreiche unter ihnen ihre Position verbessern und gelten aktuell als stabil oder gar wachsend. Am größten ist hier die Gefahr des Abrutschens für die ländlichen Gemeinden, etwas geringer für die Kleinstädte und am geringsten – wenn auch in einigen Fällen durchaus gegeben – für die Groß- und Mittelstädte. Eine höchst labile Klasse bilden die stabilen Städte und Gemeinden, die sich im Übergang zwischen wachsend und schrumpfend befinden. In dieser Klasse verbleiben maximal 52 % der Kleinstädte; ansonsten liegt die Wahrscheinlichkeit dafür zwischen 34 % bis 46 %. Für ländliche Gemeinden ist es mit jeweils rund 34 % fast ebenso wahrscheinlich, dass sie entweder zu den schrumpfenden Gemeinden abrutschen oder aber zu den wachsenden aufrücken. Ein solches Aufrücken ist bei den Städten umso wahrscheinlicher, je höher ihre zentralörtliche Funktion ist; bei Großstädten beträgt die Wahrscheinlichkeit immerhin 50 %. Dass Schrumpfung oder Wachstum alles andere als starre und/oder distinkte Prozesse sind, machen die Veränderungen zwischen den beiden Analysezeiträumen deutlich (Abb. 3). Scheinbar unsystematisch verteilen sich die Städte und Gemeinden über das Bundesgebiet, die ihre Position in der Fünferklassifikation von Schrumpfung und Wachstum um ein, zwei oder gar drei Stufen verbessern konnten oder verschlechtert haben. Doch eines ist klar ersichtlich: Die Tendenz des Schrumpfens macht sich auch Informationen zur Raumentwicklung Heft 7.2009 449 Tabelle 2 Übergangswahrscheinlichkeiten von schrumpfenden und wachsenden Städten und Gemeinden Zeitraum 2002 bis 2007 von nach stark schrumpfend schrumpfend Mittelstädte Kleinstädte Ländliche Gemeinden Zeitruum 1997 bis 2001 Großstädte Zeitruum 1997 bis 2001 Zeitruum 1997 bis 2001 Städte und Gemeinden insgesamt Zeitruum 1997 bis 2001 Zeitruum 1997 bis 2001 stark schrumpfend 0,754 0,241 stabil 0,000 wachsend stark wachsend 0,005 0,000 schrumpfend 0,104 0,615 0,072 0,197 0,012 stabil 0,002 0,289 0,386 0,314 0,009 wachsend 0,002 0,164 0,111 0,617 0,107 stark wachsend 0,000 0,036 0,014 0,486 0,464 stark schrumpfend 0,167 0,833 0,000 0,000 0,000 schrumpfend 0,000 0,800 0,000 0,200 0,000 stabil 0,000 0,167 0,333 0,500 0,000 wachsend 0,000 0,182 0,023 0,614 0,182 stark wachsend 0,000 0,000 0,000 0,000 1,000 stark schrumpfend 0,588 0,413 0,000 0,000 0,000 schrumpfend 0,070 0,643 0,104 0,183 0,000 stabil 0,000 0,211 0,463 0,326 0,000 wachsend 0,000 0,126 0,115 0,684 0,075 stark wachsend 0,000 0,000 0,030 0,576 0,394 stark schrumpfend 0,828 0,172 0,000 0,000 0,000 schrumpfend 0,097 0,442 0,071 0,363 0,027 stabil 0,000 0,156 0,519 0,312 0,013 wachsend 0,000 0,143 0,070 0,646 0,140 stark wachsend 0,000 0,015 0,015 0,412 0,559 stark schrumpfend 0,784 0,210 0,000 0,006 0,000 schrumpfend 0,111 0,627 0,070 0,180 0,012 stabil 0,003 0,339 0,339 0,309 0,011 wachsend 0,003 0,180 0,126 0,588 0,104 stark wachsend 0,000 0,051 0,011 0,500 0,438 rot = Verbesserung, blau = Verschlechterung, weiß = keine Veränderung Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR im Westen breit, als zumindest „parallele Normalität’“ urbaner Entwicklung.5 Viele vormals wachsende und stabile Städte und Gemeinden im Westen sind ein, zwei oder drei Klassen tiefer in Richtung Schrumpfung gerückt. Dabei handelt es sich nicht nur um randständige, ländliche Gemeinden, sondern auch um Städte und Gemeinden im Umkreis von Mittel- und Großstädten, die lange Zeit Gewinner des Suburbanisierungsprozesses waren. Es betrifft auch nicht nur die westdeutschen „Verdachtsgebiete“, die altindustrialisierten Regionen. Augenscheinlich hält Schrumpfung auch Einzug in die (noch) wachsenden, (noch) dynamischen Agglomerationen wie München, Stuttgart, Rhein-Main, Bielefeld und Hannover. Im Osten dagegen hat sich die „Ausgangs“Situation stabilisiert, wenn nicht gar verbessert. Wenn auch immer noch der Großteil der Städte und Gemeinden dort gegenwärtig mit Schrumpfung zu kämpfen hat, scheint doch für viele Städte der Verlauf gebremst, die Talsohle durchschritten. Vor allem viele Mittelstädte im Osten konnten zwischen den beiden Zeiträumen 1997– 2001 und 2002–2007 ihre Position um ein bis zwei Klassen verbessern. Hans-Peter Gatzweiler, Antonia Milbert: Schrumpfende Städte wachsen und wachsende Städte schrumpfen 450 Folgen für die Wohnortzufriedenheit Die zunehmende bundesweite Ausbreitung des Stadttyps „schrumpfende Stadt“ lässt sich mittlerweile auch in der (Un-)Zufriedenheit der Bürger mit ihrem Wohnort ablesen (Abb. 4). Abgesehen davon, dass diese Zufriedenheit zwischen Ende der 1990er Jahre und heute generell leicht abgenommen hat, ist der Einfluss der Situation vor Ort nunmehr deutlicher im Urteil der Bürger zu spüren. Je stärker eine Stadt oder Gemeinde von Schrumpfung betroffen ist, desto niedriger ist der Anteil zufriedener Bewohner. Umgekehrt sind Einwohner in stark wachsenden Städten und Gemeinden am zufriedensten. Dieser Zusammenhang von (wirtschaftlicher) Situation der Wohnortgemeinde und Zufriedenheit ihrer Bürger hat sich verstärkt; die Unterschiede im Urteil der Bürger zwischen den verschiedenen Verlaufsformen von Stadtentwicklung, von Wachstum bis Schrumpfung, sind größer geworden. Abbildung 4 Zufriedenheit mit dem Wohnort Zeitraum 2001 bis 2007 Zeitraum 1997 bis 2001 % der Befragten 100 % der Befragten 100 80 80 60 60 40 40 20 20 0 stark schrumpfend stabil schrumpfend wachsend stark wachsend 0 stark schrumpfend stabil schrumpfend wachsend stark wachsend unzufrieden teils, teils zufrieden © BBR Bonn 2009 Datenbasis: Laufende BBSR-Umfrage, Laufende Raumbeobachtung des BBSR 4 Wirkung der Stadtumbauförderung Angestoßen durch den Kommissionsbericht „Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Bundesländern“ Ende 2000 erfolgte 2001 mit dem Bundesprogramm Stadtumbau Ost eine schnelle Reaktion der Politik. Und spätestens mit dem 2004 im Rahmen der Städtebauförderung gestarteten Bund-Länder-Programm Stadtumbau West wird das Thema Schrumpfung heute bundesweit nicht mehr tabuisiert, sondern breit und offen als gesellschaftliches Problem diskutiert – und findet politische Resonanz. Es ging und geht bis heute im Wesentlichen um angebots- und betriebswirtschaftlich begründete wohnungspolitische Maßnahmen – d. h. vor allem im Osten um eine Verringerung des Wohnungsbestands durch Abriss – und um Stadtsanierung und -erneuerung, um städtische Innenentwicklung mit dem Ziel, die Wohnund Standortattraktivität städtischer Quartiere zu verbessern und an die heutigen Bedürfnisse und zukünftige Erfordernisse anzupassen.6 Mittel aus den Programmen Stadtumbau Ost und West nehmen vornehmlich die Städte in Anspruch, die schrumpfen oder stark schrumpfen. Die Programme werden also weitgehend problemadäquat vollzogen, wie der Vergleich der Stadtumbaustädte mit den übrigen Städten zeigt (Abb. 5). Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass sich der Schrumpfungsprozess teilweise so kleinräumig bzw. auf Quartiere beschränkt vollzieht, dass für die Stadt insgesamt im interkommunalen Vergleich keine Schrumpfung messbar ist, sie sogar als wachsend eingestuft werden kann. Beispiele dafür sind u.a. Kiel, Hamburg, Würzburg oder Dresden für die Gruppe der Großstädte oder Ditzingen, Esslingen, Flensburg und Lüneburg für die Mittelstädte. Es zeigt sich jedoch, dass Stadtumbau Ost und West zwar in erster Linie dem Typus „Schrumpfende Städte“ zugute kommen, hier aber keine Trendumkehr bewirken können – was sicher auch ein vermessener Anspruch an die Wirkungen der Stadt umbauförderung wäre. Bei allen Indikatoren zur Analyse der Verlaufsformen von Stadtentwicklung hinken die Stadtumbaustädte den anderen Städten hinterher (Abb. 6). Die Entwicklungslinien der am Programm beteiligten Groß-, Mittel- und Informationen zur Raumentwicklung Heft 7.2009 451 Städte Abbildung 5 Programme Stadtumbau Ost und West – Verlaufsformen der Stadtentwicklung Bevölkerung in den Städten Stadtumbaustädte Großstädte Mittelstädte Kleinstädte sonstige Städte Großstädte Mittelstädte Kleinstädte 0 20 40 60 80 100 0 20 40 60 80 100 Anteil Städte in schrumpfenden/wachsenden Städten 2007 in % stabil Städte im Programm Stadtumbau (Stand 2007) Bevölkerung Anzahl in% in 1000 in% Großstädte 54 7 0 ,1 1 8 3 5 2 ,8 7 3 ,1 wachsend Mittelstädte 230 3 4 ,3 8 4 3 4 ,0 3 6 ,2 stark wachsend Kleinstädte 79 1 2 ,6 1 3 5 7 ,4 1 3 ,8 stark schrumpfend schrumpfend © BBR Bonn 2009 Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR Abbildung 6 Ausgewählte Entwicklungen von Städten unter Berücksichtigung des Programms Stadtumbau 110 Bevölkerung Wanderungssaldo 10 1997=100 je 1000 E. Großstädte Mittelstädte 5 Kleinstädte 100 Großstädte 0 Mittelstädte 90 110 1997 2000 2003 2005 2007 Arbeitsplätze -10 100 12 90 6 80 600 1997 2000 2003 1997 2005 2007 0 2000 2003 2005 2007 Arbeitslosenquote 18 1997=100 übrige Städte Kleinstädte -5 80 “Stadtumbaustädte”* % 1998 2000 2003 2005 2007 Kaufkraft Realsteuerkraft 22 je E. 1000 je E. 20 18 400 16 14 200 * Stadtumbau West und Stadtumbau Ost alle laufenden und ruhenden Maßnahmen im Programmjahr 2008 12 10 0 1997 2000 2003 2005 2007 8 1997 2000 2003 2005 2007 Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR © BBR Bonn 2009 452 Hans-Peter Gatzweiler, Antonia Milbert: Schrumpfende Städte wachsen und wachsende Städte schrumpfen Kleinstädte verlaufen zu denen der übrigen Städte zwar parallel, aber entweder im negativen Bereich (Bevölkerungs- und Arbeitsplatzentwicklung, Wanderungssaldo), auf einem höheren bzw. niedrigeren Niveau (Arbeitslosenquote, Realsteuerkraft, Kaufkraft) und/oder weniger steil bzw. dynamisch (Kaufkraftentwicklung). Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus den Ergebnissen? Stadt ist mehr als Wohnen. Stadtumbau muss mehr als nur Marktanpassung örtlicher Wohnungsbestände sein. Städtebauförderung bedeutet Förderung der städtebaulichen Entwicklung, letztlich der Stadtentwicklung. Lokal wirkende Wirtschaftsförderung ist ein erhoffter Effekt, darf aber nicht nur eine auf einzelne Wohnungsunternehmen ausgerichtete Subventionierung wirtschaftlicher Tätigkeit sein. Stadtumbau – verstanden als Umbau der Stadt – muss also mehr als der wohnungswirtschaftlich begründete Abriss von nicht marktgängigen Wohnungen und mehr als die traditionelle Städtebauförderung sein. Fördergegenstände und Verfahren sowie Gebietsabgrenzungen stehen in Frage. Angesichts rückläufiger Entwicklungen wie Bevölkerungs- und Arbeitsplatzverlusten und sich verschärfender Finanznot benötigen die betroffenen Kommunen Unterstützung für einen intelligenten Rückbau im Sinne eines geordneten Rückzugs. Dies betrifft insbesondere solche Projekte, für die keine Rendite zu erwarten ist. Egal auf welcher Maßstabsebene, ob einzelnes Objekt, Block, Stadtteil oder gesamte Stadt: Der Umbau der Stadt stellt eine wenn auch nicht gänzlich neue, so doch substanziell veränderte Herausforderung für eine nachhaltige Stadtentwicklung dar – und damit auch für die Städtebauförderung.7 Über die bewährte, flexible, problemorientierte Weiterentwicklung der Städtebauförderung hinaus ist es besonders wichtig, die EU-Strukturfonds für eine nachhaltige Stadtentwicklung zu nutzen: Die Europäische Union hat erkannt, dass die Ziele von Lissabon und Göteborg auch einer urbanen Dimension bedürfen. Vor diesem Hintergrund sind die Fördermöglichkeiten durch Brüssel stetig erweitert worden, besonders im Rahmen der europäischen Strukturpolitik. Daher ist es wichtig, dass die Länder und Städte die europäischen Strukturfonds für substanzielle integrierte Stadtentwicklungsprogramme nutzen. 5 Wachstum und Schrumpfung – eine Herausforderung für die künftige Stadtentwicklungspolitik Ausgehend vom anhaltenden wirtschaftsstrukturellen und demographischen Wandel lassen sich die mittelfristigen Entwicklungsperspektiven von Städten und Gemeinden an zwei Indikatoren festmachen: zum einen an der Entwicklung des Dienstleistungssektors und zum anderen am Vorhandensein gut ausgebildeter, flexibler jüngerer Menschen. Diese beiden Indikatoren hängen zusammen. Denn Träger der Zunahme von Beschäftigten im Dienstleistungssektor sind vor allem in die Städte zuwandernde, qualifizierte junge Erwachsene im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Schrumpfende Städte und Gemeinden weisen alle einen mehr oder weniger starken negativen Entwicklungstrend im Dienstleistungssektor auf (Abb. 7). Umgekehrt verfügen stark wachsende Städte und Gemeinden über positive Trends bei den Arbeitsplätzen in diesem Sektor. Es besteht also ein klarer Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Dienstleistungssektors und den Verlaufsformen der Stadtentwicklung zwischen Wachstum und Schrumpfung. Der demographische Wandel, vor allem die Alterung der Bevölkerung, verspricht mittelfristig keine kräftigen Impulse für eine Renaissance der Städte. Denn das für die Entwicklung des Dienstleistungssektors wichtige jüngere, qualifizierte Arbeitskräftepotenzial, die Zahl der 20- bis unter 40-Jährigen, die in erster Linie Träger der wissensbasierten Entwicklungsdynamik der Städte sind, nimmt mittelfristig bis auf wenige Städte und Umlandgemeinden überall mehr oder weniger stark ab (Karte in Abb. 7). Die mittelfristigen Stadtentwicklungspotenziale der deutschen Städte und Gemeinden sind in Abbildung 8 dargestellt. Die Potenziale bzw. die Zukunftsfähigkeit der Gemeinden werden dabei definiert über die Beschäftigtentrends der im Dienstleistungssektor von 1997 bis 2007 und die prognostizierte mittelfristige Entwicklung der jungen, erwerbsfähigen Bevölkerung im Alter von 20 bis unter 40 Jahren. Diese Trends werden mit einer für jede Stadt und Gemeinde angepassten Regressionsgeraden beschrieben und gehen über die standardisierten Regressionskoeffizienten in die Betrachtung ein. Im Ergebnis zeichnen sich jenseits der Informationen zur Raumentwicklung Heft 7.2009 453 Abbildung 7 Mittelfristige Stadtentwicklungspotenziale – Indikatoren Trend der Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor 1997-2007 Regressionskoeffizient Mittelfristige Entwicklung der 20- bis unter 40-Jährigen stark positiv Kiel Hamburg Schwerin Bremen Berlin Hannover stabil Potsdam Magdeburg Düsseldorf Dresden Erfurt stark negativ Wiesbaden Mainz stark schrumpfendschrumpfend stabil stark wachsend wachsend Saarbrücken Schrumpfende und wachsende Städte und Gemeinden 2002-2007 } Stuttgart Maximum* München oberes Quartil 100 km } Median 50% aller Werte Minimum* } unteres Quartil * bereinigt um Extremwerte und Ausreißer Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR erwarteten Ost-West-Unterschiede auch kleinräumig große Unterschiede ab. Die Stadtentwicklungspotenziale unterscheiden sich von Ort zu Ort, und dies sowohl innerhalb wie außerhalb der Stadtregionen. Entsprechend unterschiedlich sind auch die Herausforderungen: Eine Stadt, die gleichzeitig einen sehr positiven Trend im Dienstleistungsbereich und noch eine Zunahme jüngerer Altersgruppen zu verzeichnen hat, muss Strategien anwenden, um diese in der Stadt zu halten. Vor größeren Herausforderungen stehen die Städte, die trotz positiver Entwicklungstendenzen im Dienstleistungssektor einen Rückgang jüngerer Menschen zu verzeichnen haben. Städte mit in beider Hinsicht negativen Aussichten sind mit der Anforderung konfrontiert, ihre wirtschaftliche und demographische Entwicklung zu stabilisieren und stadtpolitische Antworten auf Schrumpfungsprozesse zu finden.8 Als Herausforderung an eine zukunftsbeständige Stadtentwicklungspolitik zeichnet sich schon seit längerem ab, einen Paradigmenwechsel vom „gesteuerten Wachstum“ auf „geordneten Rückzug“ zu kommunizieren, anzunehmen und umzusetzen. Dies ist Entwicklung der 20- bis unter 40-Jährigen 2006 bis 2025 in % bis unter -35,0 -35,0 bis unter -25,0 -25,0 bis unter -15,0 Datenbasis: Laufende BBSR-15,0 bis unter -7,5 Bevölkerungsprognose -7,5 bis unter 0 © BBR Bonn 2009 0 und mehr gut so, denn alle Bemühungen um Trend umkehr, d. h. Schrumpfung zu verhindern, würden auf ein Nullsummenspiel hinauslaufen und zu einer Verschärfung räum licher Disparitäten führen.9 Aufgabe muss es sein, die Tatsache des Schrumpfens zu akzeptieren und rückläufige Entwicklungen unter sozialen, ökonomischen und ökologischen Gesichtspunkten nachhaltig zu gestalten. Die Akzeptanz und der Erfolg solcher Strategien und Konzepte des Umbaus hängen davon ab, wie dieser Wandel nicht als Verlust, sondern als Gewinn von Lebensqualität und örtlicher Standortattraktivität erkennbar und vermittelbar wird, dies im Sinne von „weniger ist mehr“. Die Aufgabe Stadtumbau stellt auch neue Anforderungen an die Stadtentwicklungsplanung. Integrierte Stadtentwicklungskonzepte, die einen ressourcenbewussten Umgang mit der Stadt als Lebensraum zum Maßstab der Politik erheben, haben sich mittlerweile als Instrument für einen fundierten Stadtumbau bewährt. Sie sind informell und umsetzungsorientiert angelegte Zukunftsentwürfe einer Stadt, enthalten konkrete Leitbilder, Ziele sowie einzelne Projekte. Gerade knapper werdende Res- Hans-Peter Gatzweiler, Antonia Milbert: Schrumpfende Städte wachsen und wachsende Städte schrumpfen 454 Abbildung 8 Mittelfristige Entwicklungspotenziale von Städten und Gemeinden in Deutschland Kiel Rostock Schwerin Hamburg Szczecin Bremen Berlin Amsterdam Hannover Magdeburg Potsdam Bielefeld Essen Cottbus Halle/S. Dortmund Düsseldorf Leipzig Kassel Erfurt Köln Chemnitz Dresden Bonn Liège Wiesbaden Frankfurt/M. Praha Mainz Luxembourg Nürnberg Mannheim Stuttgart Strasbourg Ulm München Freiburg i.Br. 100 km Mittelfristige Entwicklungspotenziale von Städten und Gemeinden* sehr schlecht eher schlecht mittel Zürich Innsbruck Stadt- und Gemeindetyp Großstädte Mittelstädte Kleinstädte Ländliche Gemeinden Siedlungsstruktureller Regionstyp Agglomerationsraum Verstädterter Raum Ländlicher Raum * Mittelfristige Entwicklung der 20- bis unter 40-Jährigen 2006-2025 und Trend der Arbeitsplätze im Dienstleistuungssektor 1999-2007 eher gut sehr gut Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR Geometrische Grundlage: BKG, Gemeindeverbände, 31.12.2007 © BBR Bonn 2009 Saarbrücken Informationen zur Raumentwicklung Heft 7.2009 455 sourcen verlangen nach einem Konzept, das den großen Bogen spannt vom detaillierten Einzelobjekt, z. B. der Wiedernutzung einer innerstädtischen Brachfläche, bis hin zu interkommunalen Kooperationsformen mit den Nachbargemeinden, z. B. bei der regio nalen Flächennutzungsplanung oder der Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge unter den Bedingungen des demographischen Wandels und knapper Kassen. Auch für die „Städtebauförderung“ im weitesten Sinne, d. h. für alle wesentlichen investiven Instrumente der Stadtentwicklungspolitik stellt sich die Frage, ob sie geeignet sind, rückläufige Entwicklungen durch gebündelten Mitteleinsatz räumlich und funktional zu steuern. Es geht zum einen um die Frage förderungsbedürftiger/würdiger Städte und Gemeinden, d. h. eine problem- und zielgerechte Mittelverteilung. Sind bzw. sollen z. B. die schrumpfenden Städte und Gemeinden, insbesondere die Klein- und Mittelstädte, Schwerpunkte der Förderung werden? Zum anderen geht es um die Frage neuer Fördergebietskatego rien (jenseits von Sanierungs- und Entwicklungsgebieten) und neuer Fördertatbestände (jenseits von baulichen Defiziten). Die Weiterentwicklung der Städtebauförderung als Stadtumbauförderung i. w. S. darf nicht die Finanzierung eines „resignativen Rückzugs“ leiten. Vielmehr gilt es, eine neue, gezielte „Qualitätsoffensive“ für den Lebensraum Stadt zu starten, Schrumpfung als Chance zur Schaffung von mehr Lebensqualität in den Städten zu nutzen.10 Stadtentwicklung ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, der sich die Kommunen, die Länder und der Bund gemeinsam stellen müssen. Dabei geht es nicht um neue Kompetenzverteilungen. Auf nationaler Ebene muss aber allen Ministerien deutlicher bewusst werden, dass den Städten eine wichtige Rolle für die gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung zukommt, und dass ihre jeweiligen fachpolitischen Maßnahmen möglicherweise Auswirkungen auf die Entwicklung der Städte haben. Diese einschlägigen Maßnahmen müssen besser aufeinander abgestimmt und gebündelt werden. Die Vision ist eine aktive, gestaltende, integrative Stadtentwicklungspolitik, die die aktuellen und zukünftigen Chancen in städtischen Transformationsprozessen zur Stärkung urbaner Lebensräume besser und gezielter nutzt. Anmerkungen (1) Lampen, A.; Owzar, A. (Hrsg): Schrumpfende Städte. Ein Phänomen zwischen Antike und Moderne. – Köln, Weimar, Wien 2008 (6) www.bmvbs.de/Anlage/Original 1075468/Stadtentwickungs-bericht-der-Bundesregierung-2008. pdf, S. 55 ff. (2) Gatzweiler, H.-P.; Meyer, K.; Milbert, A.: Schrumpfende Städte in Deutschland? Fakten und Trends. Informationen z. Raumentwicklung (2003) H. 10/11., S. 557–574 (7) Göddecke-Stellmann, J.; Wagener, T.: Städtebauförderung – Investitionen für die Zukunft der Städte. Informationen z. Raumentwicklung (2009) H. 3/4, S. 181–192 (190 f.) (3) Kaufmann, F.-X.: Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen. – Frankfurt/M. 2005, S. 22 (8) Gatzweiler, H.-P.; Milbert, A.; Sturm, G.: Potenziale deutscher Städte in Zeiten des Wandels. Informationen z. Raumentwicklung (2009) H. ¾, S. 157–180 (4) Spars, G.: Schrumpfende Städte – Folgerungen für Stadtökonomie und Infrastruktur. In: Stadtumbau, Dokumentation. Hrsg.: ISW. – Frankfurt/Oder 2001, S. 53 f. (5) Killisch, W.; Siedhoff, M.: Probleme schrumpfender Städte. Geogr. Rundschau 57 (2005), S. 60 (9) Häußermann, H.; Läpple, D.; Siebel, W.: Stadtpolitik. – Frankfurt/M.. 2008, S. 220 ff. (10) Vgl. Hollbach-Grömig, B. et al.; Deutsches Institut für Urbanistik (Difu): Ressortforschungsprojekt: Der Beitrag des Bundes zur nachhaltigen Stadtentwicklung“. 2. Zwischenbericht. (unveröff. Manuskript). Ein Überblick und eine Systematisierung der stadtentwicklungspolitischen Dimen- sion der Fachressorts auf Bundesebene liegen bislang nicht vor. Vor diesem Hintergrund hat das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung gemeinsam mit dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 2008 obiges Forschungsgutachten in Auftrag gegeben. In seinem Zentrum stehen drei Fragen: (1) Welche stadtentwicklungspolitisch relevanten Instrumente und Programme der Bundesressorts können identifiziert werden? (2) Was trägt die städtische Politik der Bundesressorts zu den Prioritäten der nationalen Stadtentwicklungspolitik bei? (3) Was trägt die Politik der Bundesressorts im Rahmen der verfassungsmäßigen Zuständigkeiten zur Problemlösung in den Städten und Gemeinden bei? Das Gutachten behandelt ein breites Spektrum an Maßnahmen des Bundes zur nachhaltigen Stadtentwicklung, erhebt aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit, zumal die Thematik der Stadtentwicklung mit sehr vielfältigen Problemstellungen verbunden ist. Die Zusammenstellungen sollten von den einzelnen Fachressorts des Bundes stetig geprüft, ergänzt und weiterentwickelt werden.