Schrumpfende Städte wachsen und wachsende Städte schrumpfen

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Schrumpfende Städte wachsen und wachsende Städte schrumpfen
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 7.2009
443
Schrumpfende Städte wachsen
und wachsende Städte schrumpfen
Hans-Peter Gatzweiler
Antonia Milbert
1 Stadtentwicklung zwischen
Wachstum und Schrumpfung
Seit Beginn der Industrialisierung im 19.
Jahrhundert ist die Entwicklung der Städte
in Deutschland – von Ausnahmen abgesehen – durch stetiges Wachstum gekennzeichnet. Bis Mitte der 1960er Jahre befand
sich Deutschland auf einem Entwicklungspfad, der in eine wirtschaftlich prosperierende und sozial ausgeglichene Gesellschaft
führte. Er war verbunden mit einem starken
Urbanisierungsprozess, der sich in einer
rasanten Zunahme der städtischen Bevölkerung und durch ein scheinbar unaufhaltsames Wachstum von Wirtschaftskraft und
Arbeitsplätzen manifestierte.
Wirtschaftsstruktureller und demographischer Wandel und damit einhergehende Arbeitsplatz- und Bevölkerungsverluste führen spätestens aber schon seit den 1970er
Jahren dazu, dass sich wesentliche Voraussetzungen der Stadtentwicklung ändern.
Zudem wird im Zuge der aufkommenden
Umweltdebatte der Glaube an ein kontinuierliches Wohlstandswachstum als Normalfall erschüttert. Konträr zu den typischen
Formen der Stadtentwicklung seit der Industrialisierung, d. h. wachsenden Städten,
kommt eine Entwicklung in Gang, die zu einem neuen Stadttypus führt: schrumpfende
Städte.1
Die Ergebnisse einer vom Bundesamt für
Bauwesen und Raumordnung erstmals
2003 für den Zeitraum 1997 bis 2001 durchgeführten Analyse der Verlaufsformen von
Stadtentwicklung belegen, dass Wachstum,
Stagnation und Schrumpfung in Deutschland ungleich verteilt sind.2 Im Osten konzentrieren sich die schrumpfenden, im Westen die wachsenden Städte und Gemeinden.
Besonders von Schrumpfung betroffen im
Osten sind Mittel- und Kleinstädte. Die
wenigen Wachstumsgemeinden im Osten
finden sich vor allem im Berliner Umland
sowie im Einzugsbereich einiger Großstädte (z. B. Dresden, Leipzig, Magdeburg, Rostock). Dagegen ist im Westen – von Ausnahmen wie dem Ruhrgebiet, dem Saarland
oder Oberfranken abgesehen – Schrump-
fung in der Regel noch ein singuläres, räumlich begrenztes Problem.
Zwei ursächliche Prozesse vor allem kennzeichnen heute schrumpfende Städte: Zum
einem verlieren sie massiv und auf Dauer
Arbeitsplätze durch wirtschaftlichen Strukturwandel. Hinzu kommen zum anderen
starke und andauernde Einwohnerverluste,
insbesondere durch selektive Abwanderung,
d. h. Abwanderung der jüngeren, erwerbsorientierten, qualifizierteren Bevölkerung.
Zusammen mit den Folgen dieser Prozesse
auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, für
die städtische Infrastruktur, die Kommunalfinanzen usw. ergeben sich Aufgaben und
Optionen für die künftige Stadtentwicklung:
Stadtentwicklungspolitik wird in Zukunft
noch weniger als in der Vergangenheit dadurch bestimmt sein, Wachstum räumlich
zu verteilen. Vielmehr gilt es rückläufige
Entwicklungen umfassend und nachhaltig
zu gestalten. Stadtumbau in Ost und West
ist der seit längerem leitende Impetus der
Stadtentwicklung in Deutschland.
Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht – ausgehend von der 2003 durchgeführten Analyse – eine aktuelle Analyse der Verlaufsformen von Stadtentwicklung in Deutschland
2002 bis 2007. Auf Basis der gleichen Indikatoren wird die Entwicklung von wachsenden und schrumpfenden Städten in
der jüngeren Vergangenheit beschrieben:
Was hat sich verändert? Hat sich der Typus
schrumpfende Stadt weiter von Ost nach
West ausgebreitet? Gefragt wird aber auch
nach den notwendigen Antworten der
Stadtpolitik in Deutschland: Reichen die
aktuellen stadtpolitischen Aktivitäten, die
Städtebauförderungsprogramme Stadtumbau Ost und West aus? Gibt es alternative
Antworten?
Dr. Hans-Peter Gatzweiler
Antonia Milbert
Bundesinstitut für Bau-, Stadtund Raumforschung (BBSR)
Im Bundesamt für Bauwesen
und Raumordnung
Deichmanns Aue 31–37
531790 Bonn
E-Mail: hans-peter.gatzweiler@
bbr.bund.de
[email protected]
Hans-Peter Gatzweiler, Antonia Milbert:
Schrumpfende Städte wachsen und wachsende Städte schrumpfen
444
2 Zirkularität von Schrumpfung
und Wachstum
Die Beantwortung der Frage, welche Städte
in Deutschland aktuell noch wachsen und
welche schrumpfen, macht das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung
(BBSR) an folgenden sechs Indikatoren fest:
• Bevölkerungsentwicklung in % der letzten
ca. 5 Jahre
• Gesamtwanderungssaldo je 1 000 Einwohner (Dreijahresdurchschnitt)
• Arbeitsplatzentwicklung in % der letzten
ca. 5 Jahre
• Arbeitslosenquote (Zweijahresdurchschnitt)
• Realsteuerkraft in € je Einwohner (Zweijahresdurchschnitt)
• Kaufkraft in € je Einwohner.
Die Auswahl dieser Indikatoren geht davon aus, dass es sich bei Schrumpfung
bzw. Wachstum um ein multidimensionales, „systemisches“ Phänomen handelt, das
aus einer negativen bzw. positiven Synergie
von Teilprozessen mit Schrumpfungs- bzw.
Wachstumstendenzen resultiert.3 SchrumpAbbildung 1
Zirkularität von Schrumpfung und Wachstum
Bevölkerungsentwicklung
8
0,3
7
0,1
5
4
Arbeitsplatzentwicklung
0,21
0,20
8
3
0,1
3
0,1
0,2
0,3
0
-0,34
-0,30
4
Arbeitslosigkeit
8
0,1
1
Kaufkraft
-0,4
-0,4
0,1
0,15
0,09
-0,30
0,12
0,12
0,29
0,21
56
-0,
45
Gesamtwanderungssaldo
0,2
0,2
-0,
8
0,7
5
Realsteuerkraft
-0,26
1
0,9
,18
-0
-0,34
Zeitraum 1997-2001
-0,30
Zeitraum 2002-2007
Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR
Diese einfachen Kreislaufzusammenhänge
werden durch die zwischen den Indikatoren
bestehenden korrelativen Zusammenhänge
weitgehend „bestätigt“ (Abb. 1). Sie sind zudem recht zeitstabil, wie ein Vergleich der
aktuellen Analyse für den Zeitraum 2002 bis
2007 mit dem Beobachtungszeitraum 1997
bis 2001 zeigt.
In den korrelativen Beziehungen sind nur
geringe Veränderungen festzustellen: Der
positive Zusammenhang zwischen Bevölkerungsentwicklung und Wanderungssaldo ist
in seiner Eindeutigkeit von 0.91 auf einen
Korrelationskoeffizienten von 0.78 gesunken, da das natürliche Saldo als treibende
Kraft für die Bevölkerungsentwicklung gegenüber den Wanderungen in der jüngeren
Vergangenheit an Bedeutung gewinnt. Der
negative Zusammenhang zwischen Bevölkerungsentwicklung und Arbeitslosigkeit
ist von 0.46 auf 0.56 gestiegen, was die Bedeutung von Arbeitslosigkeit als Antriebsmoment für eine negative Zirkularität in
der Stadtentwicklung bekräftigt. Die positive Korrelation zwischen Bevölkerungsentwicklung und Kaufkraft ist von 0.18 auf
0.37 gestiegen, d. h. der angenommene Zusammenhang zwischen Schrumpfung und
Kaufkraftverlusten bzw. Wachstum und
Kaufkraftgewinnen zeigt sich deutlicher.
Schrumpfung als mehrdimensionaler, zirkulärer Prozess der Stadtentwicklung legt
es nahe, alle Indikatoren bei der Festlegung
von schrumpfenden bzw. wachsenden
Städten und Gemeinden gleichgewichtet zu
,08
-0
Korrelationen zwischen den betrachteten Strukturindikatoren
stark
mittel
schwach
fung bedeutet also eine negative Zirkularität in der Stadtentwicklung, d. h. rückläufige Entwicklungen werden dominant
und tendieren dazu, sich wechselseitig zu
verstärken.4 Bevölkerungsabnahme ist auf
Arbeitsplatzverluste und dadurch bedingte
Wanderungsverluste zurückzuführen, hohe
Arbeitslosigkeit auf starke Arbeitsplatzverluste. Der Rückgang von Bevölkerung und
Arbeitsplätzen führt zu Kaufkraft- und Realsteuerkraftverlusten. Abnehmende private
und öffentliche Mittel bewirken sinkende
Investitionen in private Betriebe und öffentliche Infrastruktur, was sich wiederum
verstärkend auf Schrumpfungsprozesse von
Arbeitsplätzen und Bevölkerung auswirkt.
© BBR Bonn 2009
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 7.2009
445
3 Aktuell schrumpfende und wach­
sende Städte in Deutschland
berücksichtigen. Eine Stadt ist demzufolge
umso mehr mit dem Problem Schrumpfung
konfrontiert, je stärker die Bevölkerungsab­
nahme, je größer die Wanderungsverluste,
je stärker der Arbeitsplatzrückgang, je hö­
her die Arbeitslosigkeit und je geringer die
Realsteuer- und Kaufkraft sind.
Aktuelle Situation
Schrumpfung und Wachstum sind in
Deutschland nach wie vor ungleich verteilt
(Tab. 1; Abb. 2): Im Osten konzentrieren sich
die schrumpfenden, im Westen die wach­
senden Städte und Gemeinden. Während
im Westen nicht einmal 1% aller Kommu­
nen(betroffeneBevölkerunglediglich0,2%)
von starker Schrumpfung betroffen sind, ist
es im Osten mehr als jede zweite (betroffe­
ne Bevölkerung rd. 31%). Dagegen gelten
fast 10% aller Städte und Gemeinden im
Westen als stark wachsend mit einem Be­
völkerungsanteil von 12,5%. Im Osten sind
es lediglich 0,3% mit einem Bevölkerungs­
anteil von 0,2%. Dennoch: Schrumpfung
breitet sich auch im Westen aus. Immerhin
sind knapp 30% aller westdeutschen Kom­
munen mittlerweile von Schrumpfung ge­
nerell betroffen.
Schrumpfung gilt als Problem, wenn eine
Stadt bei den einzelnen Indikatoren jeweils
im unteren Quintil liegt, also zur Klasse
der 20% Gemeinden am unteren Ende der
Rangskala gehört. Das heißt: Je höher die
Anzahl der Indikatoren im unteren Quintil
ist (maximal 6), umso größer ist das Pro­
blem Schrumpfung (Schrumpfung als ku­
mulatives Problem). Bei 4 bis 6 Indikato­
ren im untersten Quintil wird von „starker
Schrumpfung“, bei 1 bis 3 Indikatoren dort
von „Schrumpfung“ schlechthin gespro­
chen. Entsprechendes gilt für den Gegen­
pol Wachstum. Städte und Gemeinden, die
bei keinem der Indikatoren in das unterste
oder oberste Quintil fallen, gelten als „sta­
bil“ bzw. stagnierend.
Mit Ausnahme der Großstädte sind im Os­
ten alle Stadt- und Gemeindetypen mit
starken Schrumpfungstendenzen konfron­
tiert. Ungefähr 40% der Klein- und Mittel­
städteund60%derländlichenGemeinden
schrumpfen stark; ihr Bevölkerungsanteil
bewegt sich zwischen 35% (Mittelstädte)
und knapp 60% (Ländliche Gemeinden).
Die wenigen Wachstumsgemeinden im Os­
ten sind Kleinstädte und ländliche Gemein-
Tabelle 1: Schrumpfende und wachsende Städte und Gemeinden stark schrumpfend: 4 und mehr Indikatoren im untersten Quintil
West
Gemeinden
absolut
in %
Ost
Bevölkerung
absolut
Gemeinden
in %
absolut
in %
Bund
Bevölkerung
absolut
Gemeinden
in %
absolut
in %
Bevölkerung
absolut
in %
Großstädte
0
0,0
0
0,0
1
8,3
101 618
1,7
1
1,3
101 618
0,4
Mittelstädte
1
0,2
17 984
0,1
54
40,6
1 248 556
33,5
55
8,2
1 266 540
5,4
Kleinstädte
2
0,4
20 909
0,2
33
38,8
496 956
40,1
35
5,6
517 865
5,3
Ländliche Gemeinden
27
1,1
93 628
0,5
468
59,6
3 283 304
58,8
495
15,5
3 376 932
14,1
Gesamt
30
0,8
1 352 521
0,2
556
54,8
5 130 434
31,0
568
12,8
5 262 955
6,4
stark wachsend: 4 und mehr Indikatoren im obersten Quintil
West
Gemeinden
absolut
Großstädte
9
Mittelstädte
Kleinstädte
in %
Ost
Bevölkerung
absolut
Gemeinden
in %
absolut
in %
20,4
0
0,0
13,8
3 905 017
39
7,2
1 382 545
7,1
0
88
16,2
1302 568
15,2
2
Bund
Bevölkerung
absolut
Gemeinden
in %
absolut
Bevölkerung
in %
absolut
in %
11,7
3 905 017
15,5
0
0,0
9
0,0
0
0,0
39
5,8
1 382 545
5,9
2,4
26 406
2,1
90
14,3
1328 974
13,5
Ländliche Gemeinden
214
8,9
1 630 370
8,9
1
0,1
12 462
0,2
215
6,7
1 642 832
6,9
Gesamt
350
9,8
8 220 500
12,5
3
0,3
38 868
0,2
353
7,7
8 259 368
10,0
Hans-Peter Gatzweiler, Antonia Milbert:
Schrumpfende Städte wachsen und wachsende Städte schrumpfen
446
Abbildung 2
Schrumpfende und wachsende Städte und Gemeinden in Deutschland – 2002 bis 2007
Kiel
Rostock
Schwerin
Hamburg
Szczecin
Bremen
Berlin
Amsterdam
Hannover
Magdeburg
Potsdam
Bielefeld
Essen
Cottbus
Halle/S.
Dortmund
Düsseldorf
Leipzig
Kassel
Erfurt
Köln
Chemnitz
Dresden
Bonn
Liège
Wiesbaden Frankfurt/M.
Praha
Mainz
Luxembourg
Nürnberg
Mannheim
Saarbrücken
Stuttgart
Strasbourg
München
Freiburg i.Br.
Zürich
100 km
Innsbruck
Schrumpfende und wachsende Städte und Gemeinden
Häufigkeit der Städte und Gemeinden
stark
schrumpfend
schrumpfend stabil
wachsend
Stadt- und Gemeindetyp
Großstädte
stark
wachsend
800
700
Zeitraum
600
1997-2001
500
2002-2007
400
© BBR Bonn 2009
Ulm
Mittelstädte
Kleinstädte
Ländliche Gemeinden
Siedlungsstruktureller
Regionstyp
Agglomerationsraum
Verstädterter Raum
Betrachtete Strukturindikatoren:
Bevölkerungsentwicklung 2002-2007
Gesamtwanderungssaldo 2005/06/07
Arbeitsplatzentwicklung 2002-2007
Arbeitslosenquote 2006/07
Realsteuerkraft 2006/07
Kaufkraft 2007
Ländlicher Raum
300
200
100
0
6
5
4
3
2
1
0
Anzahl Indikatoren im untersten Quintil
1
2
3
4
5
6
Anzahl Indikatoren im obersten Quintil
Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung
des BBSR
Geometrische Grundlage: BKG, Gemeindeverbände, 31.12.2007
Informationen zur Raumentwicklung
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Abbildung 3
Veränderungen bezüglich Schrumpfungs- und Wachstumstendenzen von Städten und Gemeinden in Deutschland
Kiel
Rostock
Schwerin
Hamburg
Szczecin
Bremen
Berlin
Amsterdam
Hannover
Magdeburg
Potsdam
Bielefeld
Essen
Cottbus
Halle/S.
Dortmund
Düsseldorf
Leipzig
Kassel
Erfurt
Köln
Chemnitz
Dresden
Bonn
Liège
Wiesbaden Frankfurt/M.
Praha
Mainz
Luxembourg
Nürnberg
Mannheim
Saarbrücken
Stuttgart
Strasbourg
München
Freiburg i.Br.
100 km
Zürich
Veränderung in der Einstufung zwischen den Zeiträumen 1997-2001 und 2002-07
3
2
Verschlechterung
um Stufen
1
© BBR Bonn 2009
Ulm
Innsbruck
Stadt- und Gemeindetyp
Großstädte
Mittelstädte
Kleinstädte
Ländliche Gemeinden
Siedlungsstruktureller
Regionstyp
Agglomerationsraum
Verstädterter Raum
Ländlicher Raum
unverändert
1
2
3
Verbesserung
um Stufen
Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR
Geometrische Grundlage: BKG, Gemeindeverbände, 31.12.2007
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Hans-Peter Gatzweiler, Antonia Milbert:
Schrumpfende Städte wachsen und wachsende Städte schrumpfen
den vor allem im Berliner Umland und im
Einzugsbereich von Dresden und Leipzig.
Im Westen treffen Schrumpfungsprozesse nicht mehr nur Städte und Gemeinden in den Montanregionen des Ruhrgebiets und des Saarlandes, die schon seit
längerem von wirtschaftlichen Struktur­
umbrüchen gekennzeichnet sind. Auch
entlang der ehemaligen innerdeutschen
Grenze in der bayerischen Grenzregion zu
Tschechien schrumpfen Gemeinden, vereinzelt aber auch in allen anderen Gebieten.
Cluster stärkeren Wachstums finden sich im
Westen vornehmlich noch im Umland einiger Kernstädte und innerhalb der großen
Agglomerationen/Metropolregionen. Allerdings scheint stärkeres Wachstum immer
mehr zu einer lokalen Spezifität zu werden. Die Zeiten großräumigen, ubiquitären
Wachstums sind auch im Westen vorbei.
Entwicklung
Ist es von Vorteil gegenüber ländlichen Gemeinden, eine Stadt oder gar Großstadt
zu sein? Dieser Schluss drängt sich bei der
Betrachtung der Ergebnisse der aktuellen
Schrumpfungs- und Wachstumsanalyse auf.
Und welche Rolle spielt die Lage noch, wenn
zwar der Großteil der stark schrumpfenden
Städte und Gemeinden im Osten liegt, aber
das Phänomen Schrumpfung zunehmend
auch im Westen zu beobachten ist?
Erste Hinweise und eine Ahnung von den
(zukünftigen) Entwicklungen gibt ein Vergleich der aktuellen Ergebnisse für den
Zeitraum 2002–2007 mit den früheren für
den Zeitraum 1997–2001.
Zunächst fragt sich, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Stadt oder Gemeinde,
die im Zeitraum 1997–2001 als schrumpfend oder aber wachsend galt, auch aktuell noch in diese Kategorie fällt. Oder: Wie
wahrscheinlich ist es, dass Städte und Gemeinden in eine andere Klassenstufe wechseln? Ein Blick auf Tabelle 2 mit den Übergangswahrscheinlichkeiten zeigt, dass dies
von der Ausgangssituation und vom Typ
und der Größe der Stadt abhängt.
Dass stark schrumpfende Städte und Gemeinden auch sechs Jahre später noch
in diese Kategorie fallen, ist für rund drei
Viertel von ihnen wahrscheinlich. Weniger wahrscheinlich ist es dagegen für stark
wachsende Städte und Gemeinden, dann
immer noch zu diesen zu zählen; nur für
weniger als die Hälfte von ihnen trifft dies
zu. Eine Ausnahme bilden die Groß- und
Mittelstädte: Fast alle Großstädte konnten
den Prozess des starken Schrumpfens so
weit stoppen bzw. auffangen, dass sie heute als „nur noch“ schrumpfend gelten. Bei
stark schrumpfenden Mittelstädten beträgt
die Chance einer solchen Positionsverbesserung immerhin über 40 %.
Waren dagegen die Schrumpfungstendenzen einer Stadt oder Gemeinde im früheren
Zeitraum weniger gravierend, war sie also
lediglich als schrumpfend eingestuft, ist die
Wahrscheinlichkeit eines „Klassenwechsels“
größer – im Positiven wie im Negativen.
Zwar können auf der einen Seite einige von
diesen Städten und Gemeinden durchaus
in starkes Schrumpfen „abrutschen“, jedoch konnten auf der anderen Seite zahlreiche unter ihnen ihre Position verbessern
und gelten aktuell als stabil oder gar wachsend. Am größten ist hier die Gefahr des
Ab­rutschens für die ländlichen Gemeinden,
etwas geringer für die Kleinstädte und am
geringsten – wenn auch in einigen Fällen
durchaus gegeben – für die Groß- und Mittelstädte.
Eine höchst labile Klasse bilden die stabilen
Städte und Gemeinden, die sich im Übergang zwischen wachsend und schrumpfend
befinden. In dieser Klasse verbleiben maximal 52 % der Kleinstädte; ansonsten liegt
die Wahrscheinlichkeit dafür zwischen 34 %
bis 46 %. Für ländliche Gemeinden ist es mit
jeweils rund 34 % fast ebenso wahrscheinlich, dass sie entweder zu den schrumpfenden Gemeinden abrutschen oder aber
zu den wachsenden aufrücken. Ein solches
Aufrücken ist bei den Städten umso wahrscheinlicher, je höher ihre zentralörtliche
Funktion ist; bei Großstädten beträgt die
Wahrscheinlichkeit immerhin 50 %. Dass Schrumpfung oder Wachstum alles andere als starre und/oder distinkte Prozesse
sind, machen die Veränderungen zwischen
den beiden Analysezeiträumen deutlich
(Abb. 3). Scheinbar unsystematisch verteilen sich die Städte und Gemeinden über
das Bundesgebiet, die ihre Position in der
Fünferklassifikation von Schrumpfung und
Wachstum um ein, zwei oder gar drei Stufen verbessern konnten oder verschlechtert
haben. Doch eines ist klar ersichtlich: Die
Tendenz des Schrumpfens macht sich auch
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 7.2009
449
Tabelle 2
Übergangswahrscheinlichkeiten von schrumpfenden und wachsenden Städten und Gemeinden
Zeitraum 2002 bis 2007
von nach
stark
schrumpfend
schrumpfend
Mittelstädte
Kleinstädte
Ländliche
Gemeinden
Zeitruum 1997 bis 2001
Großstädte
Zeitruum 1997 bis 2001
Zeitruum 1997 bis 2001
Städte und
Gemeinden
insgesamt
Zeitruum 1997 bis 2001
Zeitruum 1997 bis 2001
stark schrumpfend
0,754
0,241
stabil
0,000
wachsend
stark
wachsend
0,005
0,000
schrumpfend
0,104
0,615
0,072
0,197
0,012
stabil
0,002
0,289
0,386
0,314
0,009
wachsend
0,002
0,164
0,111
0,617
0,107
stark wachsend
0,000
0,036
0,014
0,486
0,464
stark schrumpfend
0,167
0,833
0,000
0,000
0,000
schrumpfend
0,000
0,800
0,000
0,200
0,000
stabil
0,000
0,167
0,333
0,500
0,000
wachsend
0,000
0,182
0,023
0,614
0,182
stark wachsend
0,000
0,000
0,000
0,000
1,000
stark schrumpfend
0,588
0,413
0,000
0,000
0,000
schrumpfend
0,070
0,643
0,104
0,183
0,000
stabil
0,000
0,211
0,463
0,326
0,000
wachsend
0,000
0,126
0,115
0,684
0,075
stark wachsend
0,000
0,000
0,030
0,576
0,394
stark schrumpfend
0,828
0,172
0,000
0,000
0,000
schrumpfend
0,097
0,442
0,071
0,363
0,027
stabil
0,000
0,156
0,519
0,312
0,013
wachsend
0,000
0,143
0,070
0,646
0,140
stark wachsend
0,000
0,015
0,015
0,412
0,559
stark schrumpfend
0,784
0,210
0,000
0,006
0,000
schrumpfend
0,111
0,627
0,070
0,180
0,012
stabil
0,003
0,339
0,339
0,309
0,011
wachsend
0,003
0,180
0,126
0,588
0,104
stark wachsend
0,000
0,051
0,011
0,500
0,438
rot = Verbesserung, blau = Verschlechterung, weiß = keine Veränderung
Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR
im Westen breit, als zumindest „parallele
Normalität’“ urbaner Entwicklung.5
Viele vormals wachsende und stabile Städte und Gemeinden im Westen sind ein,
zwei oder drei Klassen tiefer in Richtung
Schrumpfung gerückt. Dabei handelt es
sich nicht nur um randständige, ländliche
Gemeinden, sondern auch um Städte und
Gemeinden im Umkreis von Mittel- und
Großstädten, die lange Zeit Gewinner des
Suburbanisierungsprozesses waren. Es
betrifft auch nicht nur die westdeutschen
„Verdachtsgebiete“, die altindustrialisierten
Regionen. Augenscheinlich hält Schrumpfung auch Einzug in die (noch) wachsenden,
(noch) dynamischen Agglomerationen wie
München, Stuttgart, Rhein-Main, Bielefeld
und Hannover.
Im Osten dagegen hat sich die „Ausgangs“Situation stabilisiert, wenn nicht gar verbessert. Wenn auch immer noch der
Großteil der Städte und Gemeinden dort
gegenwärtig mit Schrumpfung zu kämpfen
hat, scheint doch für viele Städte der Verlauf
gebremst, die Talsohle durchschritten. Vor
allem viele Mittelstädte im Osten konnten
zwischen den beiden Zeiträumen 1997–
2001 und 2002–2007 ihre Position um ein
bis zwei Klassen verbessern.
Hans-Peter Gatzweiler, Antonia Milbert:
Schrumpfende Städte wachsen und wachsende Städte schrumpfen
450
Folgen für die Wohnortzufriedenheit
Die zunehmende bundesweite Ausbreitung
des Stadttyps „schrumpfende Stadt“ lässt
sich mittlerweile auch in der (Un-)Zufriedenheit der Bürger mit ihrem Wohnort ablesen (Abb. 4).
Abgesehen davon, dass diese Zufriedenheit zwischen Ende der 1990er Jahre und
heute generell leicht abgenommen hat, ist
der Einfluss der Situation vor Ort nunmehr
deutlicher im Urteil der Bürger zu spüren.
Je stärker eine Stadt oder Gemeinde von
Schrumpfung betroffen ist, desto niedriger
ist der Anteil zufriedener Bewohner. Umgekehrt sind Einwohner in stark wachsenden
Städten und Gemeinden am zufriedensten.
Dieser Zusammenhang von (wirtschaftlicher) Situation der Wohnortgemeinde und
Zufriedenheit ihrer Bürger hat sich verstärkt;
die Unterschiede im Urteil der Bürger zwischen den verschiedenen Verlaufsformen
von Stadtentwicklung, von Wachstum bis
Schrumpfung, sind größer geworden.
Abbildung 4
Zufriedenheit mit dem Wohnort
Zeitraum 2001 bis 2007
Zeitraum 1997 bis 2001
% der Befragten
100
% der Befragten
100
80
80
60
60
40
40
20
20
0
stark schrumpfend stabil
schrumpfend
wachsend stark
wachsend
0
stark schrumpfend stabil
schrumpfend
wachsend stark
wachsend
unzufrieden
teils, teils
zufrieden
© BBR Bonn 2009
Datenbasis: Laufende BBSR-Umfrage, Laufende Raumbeobachtung des BBSR
4 Wirkung der Stadtumbauförderung
Angestoßen durch den Kommissionsbericht
„Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel
in den neuen Bundesländern“ Ende 2000
erfolgte 2001 mit dem Bundesprogramm
Stadtumbau Ost eine schnelle Reaktion der
Politik. Und spätestens mit dem 2004 im
Rahmen der Städtebauförderung gestarteten Bund-Länder-Programm Stadtumbau
West wird das Thema Schrumpfung heute
bundesweit nicht mehr tabuisiert, sondern breit und offen als gesellschaftliches
Problem diskutiert – und findet politische
Resonanz. Es ging und geht bis heute im
Wesentlichen um angebots- und betriebswirtschaftlich begründete wohnungspolitische Maßnahmen – d. h. vor allem im Osten
um eine Verringerung des Wohnungsbestands durch Abriss – und um Stadtsanierung und -erneuerung, um städtische
Innenentwicklung mit dem Ziel, die Wohnund Standortattraktivität städtischer Quartiere zu verbessern und an die heutigen
Bedürfnisse und zukünftige Erfordernisse
anzupassen.6
Mittel aus den Programmen Stadtumbau
Ost und West nehmen vornehmlich die
Städte in Anspruch, die schrumpfen oder
stark schrumpfen. Die Programme werden
also weitgehend problemadäquat vollzogen,
wie der Vergleich der Stadtumbaustädte mit
den übrigen Städten zeigt (Abb. 5). Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass sich der
Schrumpfungsprozess teilweise so kleinräumig bzw. auf Quartiere beschränkt vollzieht, dass für die Stadt insgesamt im interkommunalen Vergleich keine Schrumpfung
messbar ist, sie sogar als wachsend eingestuft werden kann. Beispiele dafür sind u.a.
Kiel, Hamburg, Würzburg oder Dresden für
die Gruppe der Großstädte oder Ditzingen,
Esslingen, Flensburg und Lüneburg für die
Mittelstädte.
Es zeigt sich jedoch, dass Stadtumbau Ost
und West zwar in erster Linie dem Typus
„Schrumpfende Städte“ zugute kommen,
hier aber keine Trendumkehr bewirken
können – was sicher auch ein vermessener Anspruch an die Wirkungen der Stadt­
umbauförderung wäre. Bei allen Indikatoren zur Analyse der Verlaufsformen von
Stadtentwicklung hinken die Stadtumbaustädte den anderen Städten hinterher
(Abb. 6). Die Entwicklungslinien der am
Programm beteiligten Groß-, Mittel- und
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 7.2009
451
Städte
Abbildung 5
Programme Stadtumbau Ost und West – Verlaufsformen der Stadtentwicklung
Bevölkerung in den Städten
Stadtumbaustädte
Großstädte
Mittelstädte
Kleinstädte
sonstige
Städte
Großstädte
Mittelstädte
Kleinstädte
0
20
40
60
80
100
0
20
40
60
80
100
Anteil Städte in schrumpfenden/wachsenden Städten 2007 in %
stabil
Städte im Programm Stadtumbau (Stand 2007)
Bevölkerung
Anzahl in%
in 1000
in%
Großstädte
54
7 0 ,1
1 8 3 5 2 ,8
7 3 ,1
wachsend
Mittelstädte
230
3 4 ,3
8 4 3 4 ,0
3 6 ,2
stark wachsend
Kleinstädte
79
1 2 ,6
1 3 5 7 ,4
1 3 ,8
stark schrumpfend
schrumpfend
© BBR Bonn 2009
Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR
Abbildung 6
Ausgewählte Entwicklungen von Städten unter Berücksichtigung des Programms Stadtumbau
110
Bevölkerung
Wanderungssaldo
10
1997=100
je 1000 E.
Großstädte
Mittelstädte
5
Kleinstädte
100
Großstädte
0
Mittelstädte
90
110
1997
2000
2003
2005
2007
Arbeitsplätze
-10
100
12
90
6
80
600
1997
2000
2003
1997
2005
2007
0
2000
2003
2005
2007
Arbeitslosenquote
18
1997=100
übrige Städte
Kleinstädte
-5
80
“Stadtumbaustädte”*
%
1998
2000
2003
2005
2007
Kaufkraft
Realsteuerkraft
22
je E.
1000 je E.
20
18
400
16
14
200
* Stadtumbau West und Stadtumbau Ost alle laufenden und ruhenden Maßnahmen im
Programmjahr 2008
12
10
0
1997
2000
2003
2005
2007
8
1997
2000
2003
2005
2007
Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR
© BBR Bonn 2009
452
Hans-Peter Gatzweiler, Antonia Milbert:
Schrumpfende Städte wachsen und wachsende Städte schrumpfen
Kleinstädte verlaufen zu denen der übrigen Städte zwar parallel, aber entweder im
negativen Bereich (Bevölkerungs- und Arbeitsplatzentwicklung, Wanderungssaldo),
auf einem höheren bzw. niedrigeren Niveau
(Arbeitslosenquote, Realsteuerkraft, Kaufkraft) und/oder weniger steil bzw. dynamisch (Kaufkraftentwicklung).
Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus
den Ergebnissen? Stadt ist mehr als Wohnen.
Stadtumbau muss mehr als nur Marktanpassung örtlicher Wohnungsbestände sein.
Städtebauförderung bedeutet Förderung
der städtebaulichen Entwicklung, letztlich der Stadtentwicklung. Lokal wirkende
Wirtschaftsförderung ist ein erhoffter Effekt,
darf aber nicht nur eine auf einzelne Wohnungsunternehmen ausgerichtete Subventionierung wirtschaftlicher Tätigkeit sein.
Stadtumbau – verstanden als Umbau der
Stadt – muss also mehr als der wohnungswirtschaftlich begründete Abriss von nicht
marktgängigen Wohnungen und mehr als
die traditionelle Städtebauförderung sein.
Fördergegenstände und Verfahren sowie
Gebietsabgrenzungen stehen in Frage. Angesichts rückläufiger Entwicklungen wie
Bevölkerungs- und Arbeitsplatzverlusten
und sich verschärfender Finanznot benötigen die betroffenen Kommunen Unterstützung für einen intelligenten Rückbau
im Sinne eines geordneten Rückzugs. Dies
betrifft insbesondere solche Projekte, für
die keine Rendite zu erwarten ist. Egal auf
welcher Maßstabsebene, ob einzelnes Objekt, Block, Stadtteil oder gesamte Stadt:
Der Umbau der Stadt stellt eine wenn auch
nicht gänzlich neue, so doch substanziell
veränderte Herausforderung für eine nachhaltige Stadtentwicklung dar – und damit
auch für die Städtebauförderung.7
Über die bewährte, flexible, problemorientierte Weiterentwicklung der Städtebauförderung hinaus ist es besonders wichtig,
die EU-Strukturfonds für eine nachhaltige
Stadtentwicklung zu nutzen: Die Europäische Union hat erkannt, dass die Ziele von
Lissabon und Göteborg auch einer urbanen
Dimension bedürfen. Vor diesem Hintergrund sind die Fördermöglichkeiten durch
Brüssel stetig erweitert worden, besonders
im Rahmen der europäischen Strukturpolitik. Daher ist es wichtig, dass die Länder
und Städte die europäischen Strukturfonds
für substanzielle integrierte Stadtentwicklungsprogramme nutzen.
5 Wachstum und Schrumpfung – eine
Herausforderung für die künftige
Stadtentwicklungspolitik
Ausgehend vom anhaltenden wirtschaftsstrukturellen und demographischen Wandel
lassen sich die mittelfristigen Entwicklungsperspektiven von Städten und Gemeinden
an zwei Indikatoren festmachen: zum einen
an der Entwicklung des Dienstleistungssektors und zum anderen am Vorhandensein
gut ausgebildeter, flexibler jüngerer Menschen. Diese beiden Indikatoren hängen
zusammen. Denn Träger der Zunahme von
Beschäftigten im Dienstleistungssektor sind
vor allem in die Städte zuwandernde, qualifizierte junge Erwachsene im Alter zwischen
20 und 40 Jahren.
Schrumpfende Städte und Gemeinden weisen alle einen mehr oder weniger starken
negativen Entwicklungstrend im Dienstleistungssektor auf (Abb. 7). Umgekehrt verfügen stark wachsende Städte und Gemeinden
über positive Trends bei den Arbeitsplätzen
in diesem Sektor. Es besteht also ein klarer
Zusammenhang zwischen der Entwicklung
des Dienstleistungssektors und den Verlaufsformen der Stadtentwicklung zwischen
Wachstum und Schrumpfung.
Der demographische Wandel, vor allem die
Alterung der Bevölkerung, verspricht mittelfristig keine kräftigen Impulse für eine Renaissance der Städte. Denn das für die Entwicklung des Dienstleistungssektors wichtige
jüngere, qualifizierte Arbeitskräftepotenzial,
die Zahl der 20- bis unter 40-Jährigen, die in
erster Linie Träger der wissensbasierten Entwicklungsdynamik der Städte sind, nimmt
mittelfristig bis auf wenige Städte und Umlandgemeinden überall mehr oder weniger
stark ab (Karte in Abb. 7).
Die mittelfristigen Stadtentwicklungspotenziale der deutschen Städte und Gemeinden sind in Abbildung 8 dargestellt. Die
Potenziale bzw. die Zukunftsfähigkeit der
Gemeinden werden dabei definiert über die
Beschäftigtentrends der im Dienstleistungssektor von 1997 bis 2007 und die prognostizierte mittelfristige Entwicklung der jungen,
erwerbsfähigen Bevölkerung im Alter von
20 bis unter 40 Jahren. Diese Trends werden
mit einer für jede Stadt und Gemeinde angepassten Regressionsgeraden beschrieben
und gehen über die standardisierten Regressionskoeffizienten in die Betrachtung
ein. Im Ergebnis zeichnen sich jenseits der
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 7.2009
453
Abbildung 7
Mittelfristige Stadtentwicklungspotenziale – Indikatoren
Trend der Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor 1997-2007 Regressionskoeffizient
Mittelfristige Entwicklung der 20- bis unter 40-Jährigen
stark
positiv
Kiel
Hamburg
Schwerin
Bremen
Berlin
Hannover
stabil
Potsdam
Magdeburg
Düsseldorf
Dresden
Erfurt
stark
negativ
Wiesbaden
Mainz
stark
schrumpfendschrumpfend stabil
stark
wachsend wachsend
Saarbrücken
Schrumpfende und wachsende Städte und Gemeinden 2002-2007
}
Stuttgart
Maximum*
München
oberes
Quartil
100 km
}
Median 50%
aller Werte
Minimum*
}
unteres
Quartil
* bereinigt um Extremwerte
und Ausreißer
Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR
erwarteten Ost-West-Unterschiede auch
kleinräumig große Unterschiede ab. Die
Stadtentwicklungspotenziale unterscheiden
sich von Ort zu Ort, und dies sowohl innerhalb wie außerhalb der Stadtregionen.
Entsprechend unterschiedlich sind auch die
Herausforderungen: Eine Stadt, die gleichzeitig einen sehr positiven Trend im Dienstleistungsbereich und noch eine Zunahme
jüngerer Altersgruppen zu verzeichnen hat,
muss Strategien anwenden, um diese in der
Stadt zu halten. Vor größeren Herausforderungen stehen die Städte, die trotz positiver
Entwicklungstendenzen im Dienstleistungssektor einen Rückgang jüngerer Menschen
zu verzeichnen haben. Städte mit in beider
Hinsicht negativen Aussichten sind mit der
Anforderung konfrontiert, ihre wirtschaftliche und demographische Entwicklung zu
stabilisieren und stadtpolitische Antworten
auf Schrumpfungsprozesse zu finden.8
Als Herausforderung an eine zukunftsbeständige Stadtentwicklungspolitik zeichnet
sich schon seit längerem ab, einen Paradigmenwechsel vom „gesteuerten Wachstum“
auf „geordneten Rückzug“ zu kommunizieren, anzunehmen und umzusetzen. Dies ist
Entwicklung der 20- bis unter 40-Jährigen 2006 bis 2025 in %
bis unter -35,0
-35,0 bis unter -25,0
-25,0 bis unter -15,0
Datenbasis: Laufende BBSR-15,0 bis unter -7,5
Bevölkerungsprognose
-7,5 bis unter
0
© BBR Bonn 2009
0 und mehr
gut so, denn alle Bemühungen um Trend­
umkehr, d. h. Schrumpfung zu verhindern,
würden auf ein Nullsummenspiel hinauslaufen und zu einer Verschärfung räum­
licher Disparitäten führen.9 Aufgabe muss
es sein, die Tatsache des Schrumpfens zu
akzeptieren und rückläufige Entwicklungen
unter sozialen, ökonomischen und ökologischen Gesichtspunkten nachhaltig zu
gestalten. Die Akzeptanz und der Erfolg solcher Strategien und Konzepte des Umbaus
hängen davon ab, wie dieser Wandel nicht
als Verlust, sondern als Gewinn von Lebensqualität und örtlicher Standortattraktivität
erkennbar und vermittelbar wird, dies im
Sinne von „weniger ist mehr“.
Die Aufgabe Stadtumbau stellt auch neue
Anforderungen an die Stadtentwicklungsplanung. Integrierte Stadtentwicklungskonzepte, die einen ressourcenbewussten
Umgang mit der Stadt als Lebensraum
zum Maßstab der Politik erheben, haben
sich mittlerweile als Instrument für einen
fundierten Stadtumbau bewährt. Sie sind
informell und umsetzungsorientiert angelegte Zukunftsentwürfe einer Stadt, enthalten konkrete Leitbilder, Ziele sowie einzelne
Projekte. Gerade knapper werdende Res-
Hans-Peter Gatzweiler, Antonia Milbert:
Schrumpfende Städte wachsen und wachsende Städte schrumpfen
454
Abbildung 8
Mittelfristige Entwicklungspotenziale von Städten und Gemeinden in Deutschland
Kiel
Rostock
Schwerin
Hamburg
Szczecin
Bremen
Berlin
Amsterdam
Hannover
Magdeburg
Potsdam
Bielefeld
Essen
Cottbus
Halle/S.
Dortmund
Düsseldorf
Leipzig
Kassel
Erfurt
Köln
Chemnitz
Dresden
Bonn
Liège
Wiesbaden Frankfurt/M.
Praha
Mainz
Luxembourg
Nürnberg
Mannheim
Stuttgart
Strasbourg
Ulm
München
Freiburg i.Br.
100 km
Mittelfristige Entwicklungspotenziale von
Städten und Gemeinden*
sehr schlecht
eher schlecht
mittel
Zürich
Innsbruck
Stadt- und Gemeindetyp
Großstädte
Mittelstädte
Kleinstädte
Ländliche Gemeinden
Siedlungsstruktureller
Regionstyp
Agglomerationsraum
Verstädterter Raum
Ländlicher Raum
* Mittelfristige Entwicklung der 20- bis unter 40-Jährigen 2006-2025
und Trend der Arbeitsplätze im Dienstleistuungssektor 1999-2007
eher gut
sehr gut
Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR
Geometrische Grundlage: BKG, Gemeindeverbände, 31.12.2007
© BBR Bonn 2009
Saarbrücken
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 7.2009
455
sourcen verlangen nach einem Konzept, das
den großen Bogen spannt vom detaillierten
Einzelobjekt, z. B. der Wiedernutzung einer
innerstädtischen Brachfläche, bis hin zu interkommunalen Kooperationsformen mit
den Nachbargemeinden, z. B. bei der regio­
nalen Flächennutzungsplanung oder der
Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge
unter den Bedingungen des demographischen Wandels und knapper Kassen.
Auch für die „Städtebauförderung“ im weitesten Sinne, d. h. für alle wesentlichen
investiven Instrumente der Stadtentwicklungspolitik stellt sich die Frage, ob sie
geeignet sind, rückläufige Entwicklungen
durch gebündelten Mitteleinsatz räumlich
und funktional zu steuern. Es geht zum einen um die Frage förderungsbedürftiger/würdiger Städte und Gemeinden, d. h. eine
problem- und zielgerechte Mittelverteilung.
Sind bzw. sollen z. B. die schrumpfenden
Städte und Gemeinden, insbesondere die
Klein- und Mittelstädte, Schwerpunkte der
Förderung werden? Zum anderen geht es
um die Frage neuer Fördergebietskatego­
rien (jenseits von Sanierungs- und Entwicklungsgebieten) und neuer Fördertatbestände (jenseits von baulichen Defiziten). Die
Weiterentwicklung der Städtebauförderung
als Stadtumbauförderung i. w. S. darf nicht
die Finanzierung eines „resignativen Rückzugs“ leiten. Vielmehr gilt es, eine neue,
gezielte „Qualitätsoffensive“ für den Lebensraum Stadt zu starten, Schrumpfung
als Chance zur Schaffung von mehr Lebensqualität in den Städten zu nutzen.10
Stadtentwicklung ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, der sich die Kommunen, die
Länder und der Bund gemeinsam stellen
müssen. Dabei geht es nicht um neue Kompetenzverteilungen. Auf nationaler Ebene
muss aber allen Ministerien deutlicher bewusst werden, dass den Städten eine wichtige Rolle für die gesamtwirtschaftliche und
gesellschaftliche Entwicklung zukommt,
und dass ihre jeweiligen fachpolitischen
Maßnahmen möglicherweise Auswirkungen
auf die Entwicklung der Städte haben. Diese einschlägigen Maßnahmen müssen besser aufeinander abgestimmt und gebündelt
werden. Die Vision ist eine aktive, gestaltende, integrative Stadtentwicklungspolitik, die
die aktuellen und zukünftigen Chancen in
städtischen Transformationsprozessen zur
Stärkung urbaner Lebensräume besser und
gezielter nutzt.
Anmerkungen
(1)
Lampen, A.; Owzar, A. (Hrsg): Schrumpfende
Städte. Ein Phänomen zwischen Antike und
Moderne. – Köln, Weimar, Wien 2008
(6)
www.bmvbs.de/Anlage/Original 1075468/Stadtentwickungs-bericht-der-Bundesregierung-2008.
pdf, S. 55 ff.
(2)
Gatzweiler, H.-P.; Meyer, K.; Milbert, A.:
Schrumpfende Städte in Deutschland? Fakten
und Trends. Informationen z. Raumentwicklung (2003) H. 10/11., S. 557–574
(7)
Göddecke-Stellmann, J.; Wagener, T.: Städtebauförderung – Investitionen für die Zukunft der
Städte. Informationen z. Raumentwicklung (2009)
H. 3/4, S. 181–192 (190 f.)
(3)
Kaufmann, F.-X.: Schrumpfende Gesellschaft.
Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen. – Frankfurt/M. 2005, S. 22
(8)
Gatzweiler, H.-P.; Milbert, A.; Sturm, G.: Potenziale deutscher Städte in Zeiten des Wandels.
Informationen z. Raumentwicklung (2009) H. ¾,
S. 157–180
(4)
Spars, G.: Schrumpfende Städte – Folgerungen für Stadtökonomie und Infrastruktur.
In: Stadtumbau, Dokumentation. Hrsg.: ISW.
– Frankfurt/Oder 2001, S. 53 f.
(5)
Killisch, W.; Siedhoff, M.: Probleme schrumpfender Städte. Geogr. Rundschau 57 (2005),
S. 60
(9)
Häußermann, H.; Läpple, D.; Siebel, W.: Stadtpolitik. – Frankfurt/M.. 2008, S. 220 ff.
(10)
Vgl. Hollbach-Grömig, B. et al.; Deutsches Institut für Urbanistik (Difu): Ressortforschungsprojekt: Der Beitrag des Bundes zur nachhaltigen
Stadtentwicklung“. 2. Zwischenbericht. (unveröff.
Manuskript). Ein Überblick und eine Systematisierung der stadtentwicklungspolitischen Dimen-
sion der Fachressorts auf Bundesebene liegen
bislang nicht vor. Vor diesem Hintergrund hat
das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung gemeinsam mit dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
2008 obiges Forschungsgutachten in Auftrag
gegeben. In seinem Zentrum stehen drei Fragen: (1) Welche stadtentwicklungspolitisch
relevanten Instrumente und Programme der
Bundesressorts können identifiziert werden?
(2) Was trägt die städtische Politik der Bundesressorts zu den Prioritäten der nationalen
Stadtentwicklungspolitik bei? (3) Was trägt
die Politik der Bundesressorts im Rahmen
der verfassungsmäßigen Zuständigkeiten zur
Problemlösung in den Städten und Gemeinden bei? Das Gutachten behandelt ein breites
Spektrum an Maßnahmen des Bundes zur
nachhaltigen Stadtentwicklung, erhebt aber
keinen Anspruch auf Vollständigkeit, zumal die
Thematik der Stadtentwicklung mit sehr vielfältigen Problemstellungen verbunden ist. Die
Zusammenstellungen sollten von den einzelnen Fachressorts des Bundes stetig geprüft,
ergänzt und weiterentwickelt werden.