Der Kiez ist tot, es lebe der Kiez
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Der Kiez ist tot, es lebe der Kiez
KULISSE DER KIE IST ES LEB D NUTTEN, PUFFS UND BÖSE BUBEN: DIE REEPERBAHN KLINGT VERRUCHT – NACH ABENTEUER. BUSLADUNGEN VON TOURISTEN SCHWÄRMEN ÜBER DIE SÜNDIGE MEILE UND LASSEN SICH ZEIGEN, WAS ES DANK IHNEN VIELLEICHT GAR NICHT MEHR GIBT Über der Treppe zur Toilette hängt ein großer Käfig mit Die Reeperbahn mit ihren Seitenstraßen gilt als „die Hamburg, sondern sein Aushängeschild, er wird als einer Gogo-Tänzer-Puppe. Um den Hals trägt sie eine sündige Meile“. Es sind bloß 930 Meter, doch die sind Amüsierviertel und Musicalstätte beworben. Doch geht Federboa und ihr Kopf ist der eines Schweines – eines weltberühmt. Der Kiez steht für Tabus, die hier frei damit nicht der alte Kiez mit seinem Hinterhofcharme geschminkten Schweines. Hier auf dem Kiez passt sich verfügbar sind – ein Sehnsuchtsort für wild-romantische verloren? sogar die Restaurantkette Schweinske dem Image der Vorstellungen, an den man als gutbürgerlicher Mensch, Reeperbahn an. „Die tanzt heute ja gar nicht“, sagt Marco wenn überhaupt, nur heimlich geht. Doch in Zeiten von Vor 21 Jahren kam Gonçalves nach Deutschland – direkt Gonçalves. In dem Moment schaltet ein Kellner die Puppe Shades of Grey, Pornovideos auf Smartphones und einem auf die Große Freiheit. Sein Cousin nahm ihn mit aus an und sie beginnt zu tanzen. Der Kellner grüßt Gonçalves Internet, das vor Sex nur so strotzt, scheint das Verruchte Brasilien, versprach ihm einen guten Job. „Wir gingen ins wie einen alten Freund. Man kennt den Brasilianer auf gar nicht mehr verrucht. Menschenmassen drücken sich Salambo“, erzählt er. „Wir standen vor der Bühne und die dem Kiez, er ist der Vampir – ein Darsteller aus dem über die Meile, begaffen die Auslagen in den Sexshops Darsteller hatten dort Sex“, so der Brasilianer. „Das ist und kaufen Penishüte als Souvenirs. Sex ist gesell- dein neuer Job“, sagte ihm sein Cousin. „Was? Das? Da Safari-Cabaret in der Großen Freiheit. Oder besser: war, denn in diesem Jahr ist auch auf der letzten Live-Sex-Bühne der Vorhang schaftsfähig geworden, der Kiez ist nicht mehr Schandfleck von können doch alle meinen Penis sehen“, erinnert sich Gonçalves und zeigt beim Sprechen auf seinen Schritt: „Ich bin doch eigentlich schüchtern.“ für immer gefallen. Vor den Toren der Stadt hatte sich um den Hamburger Berg ZWEIUNDZWANZIG STADTLICHH # 17 IEZ TOT, EBE DER KIEZ e an der f einer Bühn rd meist au he bledance wi nächster Nä s Ta au im ch Be Tis CE t auf dem em TABLEDAN auch direk und vor all nn ht, ka nic t n of llte ma tanzt, Stange ge . anfassen so er werden rden. Nur schaut we s könnte teu Fleisch be sgeben – da au ink Dr n keinen me Da n de TEXT: Elena Ochoa Lamiño und Friedrich Weiß ILLUSTRATION: Carolin Bremer tz gibt es tro eperbahn um die Re INO Rund uddelige hm OK sc RN hr PO le, teils se Hier trif ft ränder t vie die Filme : ernet unve Inte nicht nur um nn es geht uren. De ye s. Vo ino d ok un Porn hibitionisten ene aus Ex sich eine Sz Matrosen wurden ermordet“, schildert Paul McCartney in und die Große Freiheit schon seit dem 19. Jahrhundert ein gegründeten St. Pauli Museums sitzt. Durant betrieb Amüsierviertel für Matrosen auf Landgang gebildet. Hier für seine Aufführungen nicht nur einen riesigen Aufwand der Beatles-Anthology. Ihre ersten Konzerte spielten sie wurden Prostitution und Stripclubs toleriert, während inklusive 12-Meter-Drehbühne und eigener Kostüm- im Indra, einem ehemaligen Stripclub. „Der Betreiber Ehebruch noch ein Straftatbestand war und Vermieter, schneiderei, er legte es auch darauf an, zu provozieren. hatte die Frechheit besessen, ab und zu ein Mädel in den Pausen zum Strippen auf die Bühne zu schicken“, erzählt die unverheirateten Paaren ein Zimmer überließen, als Kuppler im Gefängnis landen konnten. Noch bis Ende der Darsteller Gonçalves arbeitete erst im Salambo, später im Zint und schüttelt den Kopf: „Also die Beatles machten 1960er war Prüderie gesetzlich verordnet. Deshalb Safari, welches ebenfalls kleine Bühnenshows aufführte, dann quasi Begleitprogramm für ’ne Stripteuse! Das war ’ne krude Mischung.“ schockierte der Franzose René Durant die Welt, als er zuletzt eine Szene mit Playback und Choreografie aus 1965 sein neues „Bumslokal“ – so die damalige Morgen- „Tanz der Vampire“. „Wir waren Artisten, wir mussten post über das Salambo – eröffnete. „Ich sag immer: Das auch schauspielern“, erzählt er, ganz Vampir, und hält Die Beatles wurden weltberühmt und St. Pauli Anlauf- Salambo war das Ohnsorg-Theater, nur mit Sexualunter- sich dabei einen imaginären Umhang vors Gesicht und punkt für mutige Touristen, die sich trauten, den Spuren faucht. der „Fab Four“ zu folgen und mit einem herrlichen Schau- richt drin“, sagt der Journalist und dern die sündige Meile zu besuchen. Das neue Publikum Fotograf Günter Zint, der zwiund Durant verstand es, den zweifelhaften Ruf des Salambos interessierte sich aber weniger für Peepshows und Erotik- einem Computer im Büro zu vermarkten. Er bat Zint, der damals auch die Öffent- Cabarets à la Salambo und Safari. „Hier auf der Großen lichkeitsarbeit für ihn machte: „Schreib was über den Freiheit gab es mal 15 Cabarets in denen Striptease und schen Papierstapeln des von ihm Laden, aber schreib nix Gutes, sonst kommt keiner Livesex gezeigt wurden“, erzählt Gonçalves. Jetzt gibt es mehr.“ Dieses ebenso simple wie wirksame Rezept dort nur noch Diskotheken und Tabledance-Bars. „Früher funktionierte nicht nur für das Erotik-Theater, kamen auch ältere Pärchen und Stammgäste.“ Aber heute sondern auch für den Stadtteil, in dem es kämen besonders die Älteren nicht mehr auf die Große angesiedelt war. So war auch den Beatles der Freiheit. „Hier sind nur noch Diskos, nur noch junge Leute. schillernde Ruf St. Paulis zu Ohren gekommen, bevor sie 1960 zu ihrem ersten Die wollen keine Show sehen“, sagt der Artist, „die wollen saufen.“ Engagement nach Hamburg aufbrachen. „Die Reeperbahn war die berüchtigte Die alten Clubs und Bars verschwinden, moderne Gebäude Strippergegend. Strippergege egend. Sie war als dubioser Ort werden auf ganz St. Pauli gebaut. Gleich am Anfang der bekannt – es gab dort Verbrecher und Reeperbahn stehen die Tanzenden Türme, der ehemalige CABARET Das Cabaret, französisch ausgesprochen, ist ein buntes Showprogramm. Zu Tanz und Kunststücken kommen auf dem Kiez Travestie und einiges an Nacktheit hinzu. Das hat nichts mit Kabarett zu tun, einer unterhaltenden Kleinkunst, bei der es um gesellschaftliche und politische Themen geht. STADTLICHH # 17 DREIUNDZWANZIG KULISSE Zahlen geben ihm Recht. Vor zehn Jahren wurden gerade wurde plattge- liegen nach Auskunft des Ham burger Mieterbundes oft früheren Bavaria- 60 Prozent über dem Hamburger Mietenspiegel. Kleine mal fünf unregelmäßig stattfindende Kieztouren angebo- Vermieter Bars und Sexshops können sich solche Preise nicht leisten ten. Mittlerweile hat sich das Angebot auf über 70 Rund- Preise bis zu 25 Euro pro und werden ausgetauscht gegen Großraumdiskotheken. gänge pro Wochenende mehr als verzehnfacht. Tendenz Quadratmeter. Kleine Motels Der Kiez strafft sein faltiges Gesicht und Unebenheiten steigend. So kann Zint jedes Wochenende aus seinem müssen mit neuen Hotels wie werden glattgebügelt glattgebügel – auf die Gefahr hin, dass es nicht Büro bestaunen, wie sich in der Davidstraße fünf, sechs wiederzuerkennen wiederzuerkenne ist. Touren hintereinander stauen und darauf warten, Esso-Komplex macht, im Quartier verlangen dem East und dem Arcotel konkurrieren. Und die Büro- endlich zur Herbertstraße vorrücken zu können. Ein räume rund um den Kiez, Auch das Publikum hat sich verändert, ein Wandel, den Spektakel, wie „Titten-Tina“ gegen die Konkurrenten wie etwa das Atlantic- Joachim Joachi Harms beobachtet. Er arbeitet seit 20 Jahren in anbrüllt und dabei versucht, ihren Rundgängern glaub- Haus werden nicht nur der Boutique Bizarre, einem der größten Sexshops auf würdig die „sündigsten Ecken“ zu präsentieren. von Kreativen bezo- der Reeperbahn. „Früher gab es hier eher den klas- auch sischen Seemann als Kunden. Gruppen von Jungs auf von Steuerberatern, Steuerberate Landgang sind in den Laden gekommen“, erinnert sich ungefähr 350 Frauen schaffen auf dem Kiez nach Schät- Energ ieu nter neh- der gelernte Einzelhandelskaufmann. „Dieses Publikum zung der Davidwache rund um den Hans-Albers-Platz men, WirtschaftsWir gibt es heute nicht mehr. Der Hafen ist zu modern und die an – und die Besucher kommen ja genau deswegen. „Im ngsgesel lpr ü fu n Schiffe haben kaum noch lange Liegezeiten.“ Stattdessen Grunde sind doch auch die Touristen kleine Voyeure, sie schaften und drücken sich nun immer mehr Schaulustige durch die sind hier, um andere Menschen zu beobachten, wie sie Banken. Die Gänge, lachen über Dildos und Peitschen – Vergnügungs- Mieten im park Sexshop. „Die Leute sind mutiger geworden, Sex ist gen, sondern Vier t el Denn es gibt natürlich noch Puffs und Prostitution – salonfähiger“, meint Harms. Heute ist ein Kiezbesuch Pflicht für jeden Hamburg-Touristen. Ging es auf St. Pauli einmal darum, nackte Haut und Sex an Matrosen zu verkaufen, wird das Publikum jetzt mit massentauglicheren Angeboten gelockt, wie etwa einem der vielen Kiezrundgänge. „Das ist ’ne Sache, die ist seit vier, fünf Jahren schwer am Boomen“, meint St.-Pauli-Chronist Zint – und die STRIPTEASE Das gibt’s heute zwar STRI im Musikclub Indra, wie noch nicht mehr m Beatles-Zeiten – dafür wird sich heute zu Beatl in jedem Tabledance-Laden auf mehr oder weniger anregende Weise ausgezogen. Kommen Stil und Spaß hinzu, nennt sich Komm Disziplin „Burlesque“. die Disz PEEP-SHOW Die Peep-Show PEEP Peep hat SEXSHOP Für manchen Hamburg-Touristen ist schon der Besuch eines der vielen Sexshops eine Mutprobe. Die Sortimente reichen von Reizwäsche über Klamaukartikel bis hin zu High-End-Spielzeug für bislang unerforschte erogene Zonen. ausgedie ei ausgedient. Durch einen Sehschlitz Frau beim Räkeln auf dem einerr nackten n b Präsentierteller scheint Präsenti entierteller zuzuschauen, zuzusch heutzutage heutzuta zutage nicht mehr meh gefragt. Ähnliches bekommt man halt bei Bedarf übers Internet rnet nach Haus geliefert. g VIERUNDZWANZIG STADTLICHH # 17 von Koberern und Prostituierten angesprochen werden, anderen Menschen und um Voyeurismus. In meist klei- Die Szene außerhalb der Pornokinos auf der Reeperbahn mitgehen oder verschämt weglaufen“, sagt Harms. Es ist neren Kabinen laufen auf Bildschirmen diverse Pornos, habe sich geändert, erzählt Harms, auch die Rolle der eben ein Unterschied, ob sich Max Mustermann im je nach Vorliebe. In den Sälen kann man sich vergnügen, Zuhälter. „Die ganzen alten Herren haben sich zur Ruhe stillen Kämmerchen auf ein paar pralle Brüste einen als Pärchen oder mit anderen, und sich dabei durch Glory gesetzt, die Mädels sind selbstbewusster, arbeiten manch- runterholt oder ob er diese als verdatterter Kiezbe sucher Holes beobachten lassen oder auch etwas zum Vergnügen mal selbstständig und für die eigene Tasche“, sagt der von einer Prostituierten ins Gesicht gedrückt bekommt. beitragen. Auf St. Pauli gibt es ein paar Dutzend Kinos für 52-jährige studierte Organist. Er trauere den Zeiten aber Das ist immer noch spannend genug, damit er später mit Schwule und Heteros. nicht hinterher, das sei gerade interessant: „Menschen roten Wangen und kichernd von der Reeperbahn erzäh- verändern sich, der Kiez ist ein lebendiger Organismus. len kann. Nur gucken, nicht anfassen, das gilt für die „Die Anzahl ist heute wie damals ungefähr gleich, nur ist Lebendiger als eine kernseifensaubere Vorstadt. Egal was allermeisten der Touristen. es nicht mehr so voll wie früher“, sagt Harms. „Aber was sich auf dem Kiez verändert hat, eines gilt hier immer Sowohl ums Gucken als auch ums Anfassen geht es sich nicht verändert hat, ist die Einrichtung. Die ist noch: Jeder ist mit seinen Eigenarten willkommen“, sagt immer noch wie vor 20 Jahren.“ Und gerade das mache er: „Stecke dir eine Pfauenfeder in den Hintern und laufe dagegen in der Szene, die sich abseits der Touristenblicke den Reiz dieser Kinos aus, das leicht Versiffte, das An- über die Reeperbahn, die Menschen würden sagen: ‚Oh, in den Pornokinos rund um die Reeperbahn trifft. „Das rüchige – nicht das Moderne, Sterile und Hochtechni- das ist jetzt Mode? Muss ich mal ausprobieren.‘“ Genau fing klein an. Da liefen in Hinterzimmern von kleineren sierte. „Das bestfrequentierte Kino ist wohl das in der darum gehe es, und das mache den Mythos Reeperbahn Läden dänische Pornos auf Super 8“, erzählt Harms. In Talstraße 8. Das ist so nusselig, so schmuddelig, da putzt aus: Die Menschen kommen, weil sie denken, dass hier den Kinos entwickelte sich eine eigene kleine Subkultur. keiner“, erzählt der gebürtige Friese: „Wenn man den alles geht. Im Guten wie im Schlechten. Und das ist für Den Besuchern ging es hier vor allem um Kontakt zu Eingangsbereich gangsbereich betritt, riecht man eine Mischung aus Harms auch die Antwort auf die Frage, ob der „alte Kiez“ Exkrementen, Sagrotan und Alkohol. Das Verruchte des verloren geht oder nicht: „Jeder hier kann nach seiner ei- alten Kiezes ist dort heute immer noch erhalten.“ genen Fasson glücklich sein. Sollte das hier nicht mehr gehen – dann ist es mit dem Kiez vorbei.“ LIVE-SEX Vom klassischen Rein-Raus bis hin zum ausgefeilten Musical mit kopulierenden Darstellern gab es in Hamburg einmal ein abwechslungsreiches „Bumstheater“-Programm. Seit dem Ende des Safaris ist das Geschichte.