Diplomarbeit 1 Überarbeitung
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Diplomarbeit 1 Überarbeitung
Helmut Opitz Obergassolding 14 A-4342 Baumgartenberg Genossenschaften und Caritas Geschichtlicher Werdegang Solidarisch – soziales Handeln Gemeinsamkeiten und Unterschiede Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Magister der Theologie an der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz eingereicht bei: Dir. Prof. DDr. Markus Lehner Institut für Caritaswissenschaft Linz 2009 2 Inhaltsverzeichnis Vorwort 4 Einleitung 7 1 Genossenschaftsidee und Caritas - Gründer und Gründungsmotivation 9 1.1 Politisches, wirtschaftliches und soziales Umfeld 9 1.2 Die Genossenschaftsidee bei Friedrich Wilhelm Raiffeisen 1.2.1 Seine Biographie 1.2.2 Seine Gründungsmotivation 1.2.3 Die Genossenschaftsidee in Österreich und in Oberösterreich 1.2.4 Die Rolle der Kirche bei der Gründung und Führung (Leitung) der ersten Genossenschaften 1.2.5 Exkurs: Hermann Schulze-Delitzsch 1.3 Die Entwicklung der Caritas 1.3.1 Die Caritas als kirchliche Grundfunktion 1.3.2 Die Caritas in Deutschland bis 1945 1.3.3 Die Caritas in Österreich bis 1945 12 12 13 18 22 26 28 28 29 34 2 Die Entwicklung des Raiffeisensektors und der Caritas in Oberösterreich nach 1945 42 2.1 Die Entwicklung des Raiffeisensektors in Oberösterreich nach 1945 42 2.1.1 Die Entwicklung der Raiffeisenkassen in Oberösterreich nach 1945 45 2.2 Die Entwicklung der Caritas in Oberösterreich nach 1945 50 2.3 Die Raiffeisenkassen und die Caritas in Oberösterreich nach 1945 – Gemeinsamkeiten und Unterschiede 59 3 Der Begriff der Solidarität 62 3.1 Etymologie des Begriffes der Solidarität 62 3.2 Empirische Studien zur Solidaritätsbereitschaft 63 63 3.2.1 Solidarität in der deutschen Schell – Studie 2006 3.2.2 Solidarität in der österreichischen Jugend – Werte – Studie 2006/07 64 3 3.3 Sozialwissenschaftliche Definitionen von Solidarität 66 3.4 Theologische Definitionen von Solidarität 68 4 Solidarisches Handeln von Raiffeisenkassen und Caritas in Oberösterreich 75 4.1 Solidarisches Handeln der Raiffeisenkassen in Oberösterreich 4.1.1 Ableitung solidarischen Handelns aus Satzungsbestimmungen 4.1.2 Ableitung solidarischen Handelns aus freiwilligen, solidarischen Zusammenschlüssen 4.2 Solidarisches Handeln der Caritas in Oberösterreich 4.2.1 Bereich: Caritas für Menschen in Not 4.2.2 Bereich: Caritas für Betreuung und Pflege 4.2.3 Bereich: Caritas für Kinder und Jugendliche 4.2.4 Bereich: Caritas für Menschen mit Behinderung 4.2.5 Solidarisches Handeln von Raiffeisenkassen und Caritas in Oberösterreich – Gemeinsamkeiten und Unterschiede 75 75 78 81 82 85 87 89 91 5 Resümee und Perspektiven 93 5.1 Zusammenfassendes Resümee 93 5.2 Weiterführende Perspektiven 94 6 Literaturverzeichnis 99 Abkürzungsverzeichnis 103 Lebenslauf 104 4 Vorwort Meine beruflichen Tätigkeiten haben mich mehr oder weniger durch alle gesellschaftlichen Bereiche geführt und dazu beigetragen, dass ich die Stimmungen, die Gefühle und die Lebensumstände dieser Bereiche aus eigenem Erfahren kennen und verstehen lernen durfte. Die rund vier Jahre als Tischlerlehrling und Tischlergeselle ließen mich die Berufs- und Lebenswelt des (damals noch goldenen?) Handwerkes mit seinen noch sehr einfachen, weil meist händischen (es war eben noch Handwerk) Produktionsmethoden, kennen lernen. Der Erfahrungswert, das geschaffene Möbelstück nach dessen Fertigstellung sehen, greifen und vor allem „begreifen“ zu können, erfüllte mit Stolz und Befriedigung. Allerdings, die im damaligen handwerklichen Bereich vorhandenen Aufstiegschancen deckten sich nicht mit meinen Vorstellungen. Es war daher fast logisch, dass ich das Angebot der damaligen Post- und Telegraphendirektion für Oberösterreich und Salzburg (mit Sitz in Linz), die Ausbildung vom Hilfsdienst über Zustelldienst zum Postamtsleiter zur späteren Leitung des Postamtes meines Heimatortes zu absolvieren, nach nur kurzer Überlegungsdauer angenommen habe. Dazu kam es aber nicht. Die Postamtsleitung wurde einem Kollegen zugesprochen, der einige Dienstjahre mehr und offensichtlich die genehmere politische Einstellung vorzuweisen hatte. Dieser Umstand verstärkte meine sich langsam herausbildende Meinung, dass ein beruflicher Aufstieg im damaligen Vertragsbediensteten- und Beamtenbereich weniger mit Leistung und Können, den mit opportunistischem Verhalten zu tun habe. Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis war die Eigenkündigung nach ca. fünf Jahren Postdienst (einschließlich ordentlicher Präsenzdienst) – auch deshalb, weil sich in meinem Heimatort ein neues Betätigungsfeld auftat. Ich wechselte in die damalige Raiffeisenkasse Baumgartenberg (heute Bankstelle der Raiffeisenbank Perg), die, erst vor wenigen Jahren auf Tagesverkehr umgestellt und als 5 kleine Einmann/Frau - Kasse interimistisch geführt (mehrere Wechsel von auswärtigen Kräften), nach Kontinuität durch eine einheimische Person strebte. Dieses neue Betätigungsfeld bot mir die Chance, im Rahmen der gesetzlichen und sektoralen Rahmenbedingungen, eigenes Engagement und eigene Ideen einzubringen und umzusetzen. Vor allem aber hatte ich die Möglichkeit, im Rahmen von öffentlichen Investitionsförderungen, im Besonderen mit dem Schwerpunkt Wohnbau, vielen Menschen (Familien) zu einem leistbaren Dach über dem Kopf zu verhelfen. Nach 37 Jahren Tätigkeit als Bankverantwortlicher erfüllt es mich auch im Ruhestand noch mit Genugtuung, dass von ca. 300 Wohnbaufinanzierungen nur einige Wenige finanzielle Probleme bekamen und dies deshalb, weil sie durch überhöhte und unnotwendige Konsumausgaben ihre wirtschaftlichen Lebensbedingungen entsprechend einschränkten. Gerade diese wenigen, aber schwierigen Fälle, lösten bei mir einen Nachdenkprozess aus, der sich im Rahmen des sich dem Ende zuneigenden Theologiestudiums noch verstärkte. Im Besonderen waren es Vorlesungen und die sich daraus ergebende Beschäftigung mit sozialen Themenstellungen aus dem Fachbereich der PraktischTheologischen Fächer wie: „Christliche Gesellschaftslehre“ oder „Soziale Arbeit der Kirche“ u.a., in denen der Stellenwert der Caritas im pastoralen Handeln der Kirche entsprechend thematisiert und (biblisch) begründet wurde. Aus meinem stark öffentlichkeitsbetonten beruflichen Umfeld, den daraus gewonnenen Erfahrungen, aber auch aus meinen pfarrlichen Interessen heraus empfand ich es und empfinde ich es immer noch als bedrückend, wie sowohl die Raiffeisen-Bankengruppe, als auch die Caritas trotz ihres positiven Wirkens, in einem (vermutlich) gar nicht so kleinen Teil der Bevölkerung gesehen werden. Gängige Aussagen wie: „Raiffeisen würde sich im Grabe umdrehen, wenn er das heutige Handeln der vom ihm gegründeten Genossenschaften sehen würde“, 6 oder: „Caritas ist ein Geldsammelverein wie viele andere auch“, deuten darauf hin, dass beide Organisationen in ihrer Informations- und Imagepolitik Verbesserungen überlegen sollten. Sie haben mich aber auch bewogen, mich in meiner Diplomarbeit mit beiden Organisationen näher zu befassen, Gemeinsamkeiten und Unterscheidungen darzustellen und auf mögliche neue Betätigungsfelder und Kooperationen hinzuweisen. An dieser Stelle möchte ich mich ganz besonders bei meinem Diplomarbeitsbetreuer, Herrn Dir. Prof. DDr. Markus Lehner, für seine Unterstützung und Hilfestellung, bedanken. Ein weiterer Dank gilt Herrn Univ.-Ass. Dipl. Theol. M.A. Dr. theol. Ansgar Kreutzer von der Katholisch Theologischen Privat Universität Linz und Herrn Dir.-Stv. Dr. Josef Weissenböck vom Raiffeisenverband Oberösterreich sowie allen, die mich in der Zeit meines Studiums und bei der Abfassung der Diplomarbeit begleitet haben. 7 Einleitung Um dem obigen Anliegen gerecht werden zu können, ist es mir wichtig, die Genesis beider Organisationen zu beleuchten. Nur wenn Entwicklungsgeschichte und Gründungsmotivation bekannt sind, wird heutiges Handeln verständlich und begreifbar. Im ersten Kapitel werden sowohl das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umfeld der Genossenschaftsgründungen sowie die Biographie und die Gründungsmotivation des Genossenschaftspioniers Friedrich Wilhelm Raiffeisen dargestellt. Darauf folgt die Beleuchtung der Verwirklichung der Genossenschaftsidee in Österreich und in Oberösterreich und die Darstellung der Rolle der Kirche, sowohl bei der Gründung, als auch bei der Führung der ersten Genossenschaften. Ein Seitenblick zu einem weiteren bedeutenden Entwickler der Genossenschaftsidee, zu Hermann Schulze-Delitzsch, ergänzt den Raiffeisen-Schwerpunkt. Dem folgt die Entwicklung der Caritas als Spurensuche nach ihrer biblischen und frühchristlichen Grundlegung, ihrer kirchlichen Grundfunktion und ihrer Entwicklung in Deutschland und in Österreich bis 1945. Das zweite Kapitel konzentriert sich auf den Neuaufbau und die Entwicklung beider Organisationen nach 1945 – im Besonderen auf die Bewältigung und Bereinigung der durch die NS-Herrschaft entstandenen Probleme und in der weiteren Folge auf die Entwicklung im Zuge wirtschaftlicher Stabilisierung und zunehmenden Wohlstandes, wobei am Schluss des Kapitels Gemeinsamkeiten und Unterschiede dargelegt werden. Den Schwerpunkt des dritten Kapitels bildet der Begriff der Solidarität an Hand von zwei aktuellen empirischen Studien, der deutschen Schell-Studie 2006 und der österreichischen Jugend-Werte-Studie 2006/07. Beiden Untersuchungen folgt eine Spurensuche des Begriffes sowohl aus sozialwissenschaftlicher, als auch aus theologischer Sichtweise. 8 Das vierte Kapitel beleuchtet das solidarische Handeln der Raiffeisenkassen und der Caritas in Oberösterreich, wobei bei den Raiffeisenkassen auf entsprechende Satzungsbestimmungen, aber auch auf freiwillige solidarische Zusammenschlüsse, eingegangen wird. Im Bereich der Caritasarbeit werden vier große Bereiche vorgestellt, in denen die Caritas Oberösterreich derzeit tätig ist. Das Kapitel wird wiederum mit einem Verweis auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede abgeschlossen. Im fünften Kapitel (Schlusskapitel) erfolgt eine kurze Zusammenfassung und der Versuch, weiterführende Perspektiven aufzuzeigen. Für den Bereich der Caritas kommt hier auch Ernst Bräuer, der derzeitige geistliche Rektor der Caritas Oberösterreich aufgrund eines Interviews, das vom Verfasser im November 2008 geführt wurde, zu Wort. 9 1 Genossenschaftsidee und Gründungsmotivation Caritas – Gründer und 1.1 Politisches, wirtschaftliches und soziales Umfeld Mit Beginn des neuzeitlichen Denkens ab dem 15. Jahrhundert, im Besonderen aber auch im Zuge der Aufklärung (16. bis 18. Jahrhundert) verlor die Herrschaftsverfassung des Mittelalters allmählich ihre geistige Basis. Die bis ins 15. Jahrhundert hinein alleine gültige Grundherrschaft als anerkannte Form europäischer und damit auch deutscher und österreichischer Agrarverfassung wurde durch eine so genannte Gutsherrschaft bzw. Rentherrschaft (Reste der alten Grundherrschaft) abgelöst. Beide (neuen) Begriffe waren durch eine besondere Betonung des Obrigkeitsverhältnisses und der Betrachtung des Bauern als „Unfreien“ gekennzeichnet.1 Zwar traten unter Kaiserin Maria Theresia und deren „Robotpatente“ Erleichterungen ein, die aber noch keine grundsätzliche Änderung der bestehenden Agrarverfassung bedeuteten. Erst durch die „Leibeigenschaftsaufhebungspatente“ 1781 unter Josef II. wurde die Erbuntertänigkeit aufgelöst. Die Guts- bzw. Grundherrschaft blieb zwar weiterhin bestehen, wandelte sich aber zu einer Verwaltungs- und Gerichtsbehörde, in welcher der Grundherr die Funktion einer Art heutigen Bezirkshauptmannes und Bezirksrichters wahrnahm und sozial- und wirtschaftspolitische Agenden geeigneten Verwaltungsbeamten übertrug.2 Von den Regierenden wurde die Notwendigkeit weiterer Veränderungen (Modernisierungen) der Agrarverfassung sehr wohl erkannt, aber aus Angst vor Unruhen und der Provozierung revolutionärer Stimmungen nicht in Angriff genommen: Zitat Kaiser Franz Josef dazu: „die Angelegenheit sei glühendes Eisen, man könne sie nicht anfassen, ohne Blasen zu bekommen…“).3 1 Vgl., Kreinecker, Günther, Die Anfänge der Raiffeisenkassen in Oberösterreich (1889-1914). Die wirtschaftliche Entwicklung und ihre sozioökonomische Bedeutung für Gesellschaft und Wirtschaft, in: Otruba, Gustav (Hg.), Linzer Schriften zur Sozial - u. Wirtschaftsgeschichte, Linz 61982, 1. 2 Vgl., ebd., 2. 3 Ebd., 3, zit. n. Müller, Paul, Österreich seit 1848, in: Mayer, H. (Hg.), Österreichische Wirtschaftsentwicklung 1848 – 1948, Wien 1949, 2. 10 Dieser Umstand war die Ursache dafür, dass zwischen 1781 und 1848 in der Weiterentwicklung der Freiheit der Bauern kaum Fortschritte erreicht wurden. Erst die in ihren Anfängen stark von den Freiheitsbestrebungen der Bauern getragene bürgerliche Revolution von 1848, durch die eine Änderung des gesamten Regierungssystems erzwungen wurde, brach in radikaler und umstürzender Weise in die bestehenden, alt überlieferten Ordnungen ein mit dem Ziel einer endgültigen Befreiung des Bauerstandes und der Beseitigung aller, den Grundverkehr hemmenden Einschränkungen und Lasten.4 Die durch die Revolution und in deren Erbe durch den Neoabsolutismus geschaffene neue Situation, brachte in relativ kurzer Zeit dem Agrarsektor bürgerliche Freiheit, Gleichheit und wirtschaftlichen und bürgerlichen Liberalismus. Dies aber um den Preis der Aufhebung des alten Bauernschutzes, ohne für neue notwendige Bindungen und Schutzmechanismen zu sorgen. Der neue „freie Bauer“ war Wucher, Bodenspekulation und freien Marktkräften schutzlos ausgeliefert. Alle diese Umstände waren Ursache der Agrarkrise des 19. Jahrhunderts.5 Als eine der wesentlichen Maßnahmen, diese Situation zu verbessern, ist im kaiserlichen Patent vom 7. September 1848 über die Aufhebung des Untertänigkeitsverbandes und die Entlastung des bäuerlichen Besitzes, zu sehen. Als die wesentlichsten und nachhaltigsten Folgen dieser Entscheidungen sind - die Abschaffung der Juristiktions- und Verwaltungsrechte der Grundherren, - die Umwandlung der bisherigen bäuerlichen Besitzrechte (Erbrecht, Leibrente) in freies Eigentum und 4 Vgl., Kreinecker, Günther, Die Anfänge der Raiffeisenkassen in Oberösterreich (1889-1914). Die wirtschaftliche Entwicklung und ihre sozioökonomische Bedeutung für Gesellschaft und Wirtschaft, in: Otruba, Gustav (Hg.), Linzer Schriften zur Sozial - u. Wirtschaftsgeschichte, Linz 61982, 3-4. 5 Vgl., ebd., 4. 11 - die Beseitigung der auf den bäuerlichen Besitzungen lastenden (Geld-, Natural-, Dienst-) Pflichtigkeiten zu nennen.6 Mit dieser Grundentlastung waren sowohl die rechtlichen als auch die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den Grundherren und den Bauern aufgehoben. Die früheren Unterschiede zwischen Herr und Untertan wurden von der staatsbürgerlichen Gleichheit aller Grundbesitzer abgelöst. Allerdings war damit der nunmehr freie Bauer in eine liberalisierte, freie Wirtschaftsordnung gestellt, der er fürs erste aufgrund seiner Jahrhunderte langen Abhängigkeit nicht gewachsen war und die er als völligen Bruch zu seiner bisherigen Entwicklung empfinden musste (Handel und Gewerbe waren durch schon wesentlich früher einsetzende genossenschaftliche Zusammenschlüsse zu wirtschaftlicher Selbstverantwortung erzogen worden). Leistete er früher seine Verpflichtungen gegenüber Volk und Staat überwiegend in Naturalien, so musste er nunmehr durch Verkauf seiner Produkte am freien Markt jenes Geld verdienen, das er zum Lebensunterhalt seiner Familie, zur Beschaffung der Produktionsmittel (Bauten, Geräte, Viehbestand u.ä.) und für die anfallenden Steuern und Abgaben, benötigte. Ebenso musste er jetzt selbst (bisher war das Aufgabe der Grundherren) Vorsorge für Notzeiten und Unglücksfälle treffen und die Eingliederung seines Bauernbetriebes in die kapitalistische Geldwirtschaft vollziehen. Alle diese neuen Gegebenheiten erforderten einen nicht gewohnten und nicht vorhandenen Kapitalbedarf, der daher nur mit Fremdkapital abgedeckt werden konnte. Dazu kam, dass in dieser Umbruchszeit berufsständische und genossenschaftliche Zusammenschlüsse noch weit entfernt waren und die landwirtschaftliche Berufsbildung noch in den Kinderschuhen steckte. Der Bauer dieser Zeit hatte seine Abhängigkeit vom Grundherrn mit einer neuen Unfreiheit in wirtschaftlicher Beziehung, nämlich mit einer Abhängigkeit vom 6 Vgl., Kreinecker, Günther, Die Anfänge der Raiffeisenkassen in Oberösterreich (1889-1914). Die wirtschaftliche Entwicklung und ihre sozioökonomische Bedeutung für Gesellschaft und Wirtschaft, in: Otruba, Gustav (Hg.), Linzer Schriften zur Sozial - u. Wirtschaftsgeschichte, Linz 61982, 8-10. 12 (privaten) Geldgeber und Gläubiger vertauscht. Er war weit davon entfernt, sich als Unternehmer zu fühlen und als solcher zu handeln.7 In etwa der gleichen Zeitperiode entwickelte sich der Freiheitskampf des Sozialismus, um die Emanzipation des Proletariates voranzutreiben und die immer weiter um sich greifende soziale Not zu überwinden.8 Dieser Notsituation stand auch die Kirche mehr oder weniger ratlos gegenüber. Sie sah die Problemlösung nicht in der Schaffung einer freiheitlichen Ordnung, sondern in einer Restauration der alten feudalen Gesellschaftsverfassung, die durch die Französische Revolution verloren gegangen war.9 Auf diesem Hintergrund ist das Wirken und Handeln Friedrich Wilhelm Raiffeisens, als auch jenes der christlichen Wohlfahrtseinrichtungen (später Caritas), zu sehen und zu verstehen. 1.2 Die Genossenschaftsidee bei Friedrich Wilhelm Raiffeisen 1.2.1 Seine Biographie Um die Charaktereigenschaften und die sich daraus ableitenden Handlungsweisen eines Menschen zu verstehen, ist es notwendig, dessen Lebensgeschichte zu kennen. Aus diesem Grund und im Rahmen der Beschäftigung mit Friedrich Wilhelm Raiffeisen sollen nachstehend die wichtigsten Stationen seines Lebens dargestellt werden. 7 Vgl., Kreinecker, Günther, Die Anfänge der Raiffeisenkassen in Oberösterreich (1889-1914). Die wirtschaftliche Entwicklung und ihre sozioökonomische Bedeutung für Gesellschaft und Wirtschaft, in: Otruba, Gustav (Hg.), Linzer Schriften zur Sozial - u. Wirtschaftsgeschichte, Linz 61982, 13-15. 8 Brüls, Karl-Heinz, Die Katholiken und die Sozialgesetzgebung im 19. Jahrhundert, in: Mockenhaupt, Hubert (Hg.), Gesellschaftspolitische Impulse. Das soziale Seminar. Beiträge zu den Fragen der Zeit, Trier 1989, 49. 9 Vgl., ebd., 49. 13 Friedrich Wilhelm Raiffeisen wird 1818 in Hamm an der Sieg (heutige Bundesrepublik Deutschland) als siebtes von neun Kindern des Ehepaares Raiffeisen geboren.10 Er strebt eine Offizierslaufbahn an und leistet von 1835 bis 1843 Militärdienst. Seine Entlassung erfolgt aus gesundheitlichen Gründen (schweres Augenleiden).11 1845 wird Raiffeisen zum Amtsbürgermeister der „Samtgemeinde Weyerbusch“, der zweiundzwanzig kleinere Dorfgemeinden angehören, ernannt. Im gleichen Jahr ehelicht er seine Frau Emilie Storck aus Remagen am Rhein. Der Ehe entstammen sieben Kinder. Hier gründet er den „Weyerbuscher Brodverein“.12 1848 wird Raiffeisen als Bürgermeister nach Flammersfeld versetzt und gründet dort den „Flammersfelder Hilfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte“.13 1852 erfolgt die Versetzung als Bürgermeister nach Heddesdorf bei Neuwied am Rhein. Dort kommt es zu weiteren Vereinsgründungen, dem „Wohltätigkeitsverein für den Verwaltungsbezirk Heddesdorf“ und dem „Darlehenskassenverein“ für das „Kirchspiel“ Anhausen.14 1865 erfolgt (wegen seines Augenleidens) die Versetzung in den Ruhestand.15 1888 stirbt Friedrich Wilhelm Raiffeisen in Neuwied am Rhein.16 1.2.2 Seine Gründungsmotivation Wenn auch nicht anzunehmen ist, dass das unter 1.1 geschilderte Umfeld dem jungen Raiffeisen in seiner Differenziertheit und seiner Komplexität schon bekannt war, so war er doch in jungen Jahren sehr handfest mit dessen Auswirkungen auf die 10 Vgl., Braumann, Franz, Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Eine Idee erobert die Welt, Salzburg 1985, 94. Vgl., ebd., 94. 12 Vgl., ebd., 94. 13 Vgl., ebd., 94. 14 Vgl., ebd., 95. 15 Vgl., ebd., 95. 16 Vgl., ebd., 96. 11 14 Lebenssituation der damaligen (meist bäuerlichen) Landbevölkerung konfrontiert. Dies führt uns sehr eindrucksvoll Franz Braumann in seinem, im Verlag „Das BerglandBuch“ erschienen Werk, „Friedrich Wilhelm Raiffeisen – eine Idee erobert die Welt“, vor. Hier erfahren wir Erinnerungen des 27-jährigen Raiffeisen anlässlich seines ersten Amtsantrittes als Bürgermeister in der Samtgemeinde17 Weyerbusch im Westerwald an eine Begebenheit, die dieser als etwa 14-jähriger erlebt hat und die ich in einer zusammenfassenden Kurzschilderung wiedergeben möchte: Dieser Begebenheit zufolge war Raiffeisen einer der wenigen in Hamm an der Sieg, der des Lesens, Schreibens und Rechnens kundig war. Also bittet ihn ein Bauer (Hansen), die Zinsrechnung eines Geldverleihers (Berger) zu überprüfen. Sehr schnell erkennt Raiffeisen, dass entgegen der vereinbarten vierteljährlichen, eine monatliche (und damit wesentlich höhere) Verrechnung zur Anwendung kam. Der Geldverleiher wird zur Rede gestellt, gibt sich vorerst entrüstet und versetzt Raiffeisen eine Ohrfeige, muss letztlich aber seinen „Irrtum“ einbekennen und die Zinsrechnung korrigieren.18 Wenn uns heute die Psychologie darauf hinweist, dass einschneidende Kindheits- und Jugenderlebnisse prägend für das spätere Leben sind, dann war diese Begebenheit wahrscheinlich eines dieser prägenden Erlebnisse für das spätere Leben und Wirken Raiffeisens. Seine bisherige schulische Bildung erfuhr der junge Friedrich Wilhelm in der einklassigen Dorfschule in Hamm an der Sieg. Diese reichte aber nicht für die Aufnahme in die Feuerwerkerschule in Köln und die damit angestrebte militärische Berufslaufbahn. Zwischen dem vierzehnten und dem siebzehnten Lebensjahr bildete ihn daher der mit dem Elternhaus befreundete Pastor Seippel weiter. Neben den Unterweisungen in Deutsch, Mathematik und Geschichte verankerte Seippel sehr stark den Gedanken der christlichen Nächstenliebe im jugendlichen Raiffeisen. Damit 17 Unter Samtgemeinde ist eine politische Gemeinde mit mehreren Kleingemeinden zu verstehen. Vgl., Braumann, Franz, Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Eine Idee erobert die Welt, Salzburg 1985, 1013. 18 15 verstärkte er die im Elternhaus genossene christliche Vorbildwirkung und Erziehung und brachte diese wohl auch zu einem gewissen positiven Abschluss.19 Zusammen mit dem oben geschilderten Ohrfeigenerlebnis dürfte sich schon in dieser Zeit (zumindest gedanklich) das Engagement gegen Ungerechtigkeiten und ungerechte Strukturen auf Basis eines zutiefst christlichen Gedankengutes herausgebildet haben. Deutlich bringt Raiffeisen seine soziale Haltung in der Zielsetzung seiner dritten Vereinsgründung 1854, dem „Heddesdorfer Wohltätigkeitsverein“, und seine christliche Grundausrichtung in seinem Brief an „seine Kinder“ vom 26. Juli 1881, zum Ausdruck: -Die Zielsetzung des Heddesdorfer Wohltätigkeitsvereines „Von dem Gesichtspunkt ausgehend, dass durch die Hebung der leiblichen Wohlfahrt auch die geistige gefördert wird, hat der Verein den Zweck, für die erstere nach Möglichkeit zu wirken und seine Wirksamkeit so weit als möglich auszudehnen…“20 -Aus dem Brief an seine Kinder vom 26. Juli 1881 „Ich habe meine Thätigkeit gegründet auf den Ausspruch meines Herrn und Heilandes Matth. 25;40: „Was ihr getan habt einem dieser meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir gethan.“ Ich habe diese Geschäfte also gleichsam für Gott geführt und Ihm solche gerecht geführt (geführt) und dadurch Seine und gewiß auch mancher Mitarbeiter Unterstützung erhalten“.21 Es versteht sich fast von selbst, dass diese starke christliche Komponente im Denken F.W. Raiffeisens nicht überall ungeteilte Zustimmung fand. Darauf deutet beispielhaft der Briefwechsel zwischen Raiffeisen und Professor Dr. Gustav Marchet (1846 bis 1916) hin, einer führenden Persönlichkeit der österreichischen Innenpolitik und Raiffeisen-Experte in der Zeit der Genossenschaftsgründungen in Österreich um das Jahr 1886, aber auch ein Gegner kirchlicher Bevormundung: 19 Vgl., Braumann, Franz, Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Eine Idee erobert die Welt, Salzburg 1985, 1415. 20 Ebd., 65. 21 Vgl., Koch, Walter, F.W. Raiffeisen. Briefe 1875-1883, Wien 1986, 129. 16 Raiffeisen schreibt an Marchet: „Aber auch in sittlich religiöser Beziehung, wir mögten sogar sagen, hauptsächlich, sind die Vereine von größter Wichtigkeit. Mit zunehmender Verarmung, immer größer werdender Noth, wird in der Regel die Entsittlichung in jeder Beziehung gleichen Schritt halten. Ohne materielle Hilfe wird sogar die auf den besten Willen, auf das aufrichtige Streben sich gründende geistliche Wirksamkeit wenig helfen; es wird ihr allein nicht gelingen, der zunehmenden Verkommenheit kräftig genug entgegenzuwirken. Almosen oder sonstige ähnliche Zuwendungen können dazu nicht dienen, sie werden in der Regel mehr schaden als nützen. Die Hilfe muß sich gründen auf den Spruch: ´So Jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen.´ Sie muß dahin gehen, die Fähigkeiten und Kräfte der Hilfsbedürftigen möglichst zu entwickeln, und für diese zu erheblichen erlaubtem Vermögenserwerbe zur Anwendung zu bringen, kurz in dieser Weise die Selbsthilfe zu fördern. Dann wird die Lust zum Sparen und Arbeiten erzeugt, dann wird das Vertrauen zu sich selbst, zu den Menschen und zu Gott gehoben und es wird der Boden zu echt christlicher Einwirkung mehr vorbereitet werden, als in sonstiger Weise geschehen kann. Es dürfte die Mitwirkung, nicht allein der Herren Beamten überhaupt, sondern auch besonders der Herren Geistlichen und Lehrer wünschenswerth sein.“22 Marchets Antwort an Raiffeisen vom 2. Juni 1873: „Die Hauptsache der Darlehenskassen-Vereine ist nicht der Geldumlauf, sondern die ´sittliche Einwirkung´, sagen Sie. Ich gestehe Ihnen offen, dass mir diese Seite nicht gefällt. Ich glaube nämlich, dass es nicht ganz richtig ist. Die Hebung der Sittlichkeit ist die Folge, nicht der Zweck.“23 Daraus geht meiner Meinung nach sehr klar hervor, dass für Raiffeisen die sittliche Förderung der Menschen vor deren materieller Förderung stand, dass die Geldbeschaffung nicht Zweck, sondern Mittel zum Zweck (der sittlichen Förderung) der Raiffeisen-Vereine war und die Motivation dazu aus seinem Verständnis auf Grundlage der oben zitierten Bibelstelle zu erfolgen hatte. Trotz, oder gerade wegen der christlichen Grundhaltung und der sich daraus ergebenden sittlichen Zielrichtung seiner Genossenschaftsidee zeigt Raiffeisen eine sehr realistische 22 Werner, Wolfgang, Raiffeisenbriefe erzählen Genossenschaftsgeschichte. Die Frühzeit der RaiffeisenOrganisation an Hand der Briefe von Raiffeisen an Marchet (1872-1884), Wien 1988, 79-80, zit. n. Raiffeisen F. W. : Die Darlehenskassen-Vereine…, 1. Auflage, a. a. O., 6. 23 Ebd., 80, zit. n. Nachlaß Marchet, Buch 20. 17 Einstellung zur Darlehensvergabe und zum Wert des Geldes. Sehr deutlich kommt das in seinem Werk, „Die Darlehenskassen-Vereine“ zum Ausdruck, wo er schreibt: „Noch viel wichtiger ist aber die sittliche Einwirkung der Vereine auf ihre Mitglieder. Es ist gewiß zur Genüge bekannt und bedarf wohl keiner weiteren Ausführung, dass zu leichtes Bewilligen von Darlehen in den meisten Fällen schädlich wirkt. Dies geschieht aber, wenn man den Anträgen von nachlässigen Haushaltern, leichtsinnigen Schuldenmachern, oder gar Spielern, Trunkenbolden usw., bei welchen man im voraus annehmen kann, dass sie das Geld nicht gut verwenden, willfahrt. Werden also von Personen, von welchen man nicht überzeugt ist, dass sie, dem Vereinszwecke entsprechend, das Geld zur Verbesserung ihrer Wirtschaft anwenden, Anträge um Bewilligung von Darlehen gestellt, so ist es im Interesse derselben, sowie auch des Vereins aufs dringendste geboten, solche vorab zurückzuweisen. Die Antragsteller werden aber eindringlich zur Besserung zu ermahnen und es wird ihnen die Bewilligung nur für den Fall der Beachtung der gegebenen Ermahnungen in Aussicht zu stellen sein. Es wird dies in der Folge immer mehr der Fall sein, je mehr das Bestreben in ihnen wachgerufen, erhalten und gestärkt wird, nicht allein auf die Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse, sondern auch auf die moralische Hebung der Mitglieder hinzuwirken, dadurch die Armut, welche eine Quelle aller Laster ist, zu beseitigen und der Tugend gleichsam den Weg zu bahnen. Möglich ist eine derartige Wirksamkeit aber nur in einem kleinen Vereinsbezirk.“24 Alleine in diesem einen Abschnitt spricht Raiffeisen nach Meinung des Verfassers vier wesentliche, auch heute noch gültige Prämissen bei der Darlehensgewährung durch Genossenschaftsbanken an: -die Sorgfaltspflicht des Darlehensgebers -die Darlehensvergabe nur für nachhaltige Investitionen (keine Konsumkredite) -die Erziehung des Mitgliedes zum sorgsamen Umgang mit geliehenem Geld -die Überschaubarkeit des Einzugsgebietes einer Genossenschaftsbank. Und weiter: „Das Geld ist eine Ware, deren Wert wie derjenige jeder anderen steigt und fällt. Es ist nicht ratsam, selbst auch dann nicht, wenn ein bedeutendes Reservekapital 24 Vgl., Drüsedau, Arno / Kleinhans Joachim, F.W. Raiffeisen – Die Darlehenskassen-Vereine, Neuwied am Rhein 81966, 38. 18 angesammelt worden ist, das Geld unter dem gewöhnlichen Wert bzw. Zinsfuße auszuleihen. Ware unter dem Preis wird gewöhnlich nicht gehörig in acht genommen. So ist es auch mit dem Gelde. Man soll deshalb den Zinsfuß niemals unter den gangbaren Wert setzen. Eher kann später, sobald das Reservekapital hinreichend angesammelt worden ist, die Provision ermäßigt werden. Bei Berechnung der Provisionen und der Zinsen muß von Anfang an vor allen Dingen auf Ansammlung und Erhaltung des Reservekapitals, des gemeinschaftlichen, unteilbaren Vermögens, Rücksicht genommen werden, indem dieses den Vereinen erst die feste Basis und den Halt für die Zukunft gibt.“25 Dieser, meines Erachtens ganz wesentliche Abschnitt, unterstreicht die Verpflichtung (auch) einer Genossenschaftsbank zu marktüblicher Zinsgestaltung einerseits, und zu entsprechender Eigenkapitalausstattung der Genossenschaft andererseits, um deren Risikotragfähigkeit und damit den nachhaltigen Bestand zu sichern. Auf Basis obiger Schilderungen gründet meiner Meinung nach das Wirken Friedrich Wilhelm Raiffeisens zum einen auf seiner christlichen Grundhaltung (Bibel; Vorrang sittlich religiöser Bildung) und zum anderen auf einer (sich daraus ergebenden) Zielsetzung der Nachhaltigkeit wirtschaftlichen Handelns. 1.2.3 Die Genossenschaftsidee in Österreich und in Oberösterreich Schon in den 50-ziger Jahren des 19. Jahrhunderts war das System der Vorschusskassenvereine F.W. Raiffeisens in Österreich bekannt, ohne vorerst Fuß zu fassen. Mit Dr. Gustav Marchet (1846 bis 1916), Professor für Rechtslehre und Nationalökonomie an der Hochschule für Bodenkultur, Abgeordneter zum Niederösterreichischen Landtag und Minister für Kultur und Unterricht26, hatten die Ideen Raiffeisens in österreichischen landwirtschaftlichen und politischen Kreisen zwar Anerkennung, noch nicht aber den praktischen Durchbruch geschafft (vor allem sein Werk, „Zur Organisation des landwirtschaftlichen Kredites in Österreich“, war hier ausschlaggebend). Erst am 1873 in Wien abgehaltenen „Agrarkongress“ wurde einstimmig beschlossen, dass „die Kassenvereine nach dem System Raiffeisen sich 25 Vgl., Drüsedau, Arno / Kleinhans Joachim, F.W. Raiffeisen – Die Darlehenskassen-Vereine, Neuwied am Rhein 81966, 76. 26 Vgl., Werner, Wolfgang, Raiffeisenbriefe erzählen Genossenschaftsgeschichte. Die Frühzeit der Raiffeisen-Organisation an Hand der Briefe von Raiffeisen an Marchet (1872-1884), Wien 1988, 20-22. 19 auch für die österreichische Landbevölkerung als eine höchst nachahmenswürdige Kreditorganisation empfehlen“. Es vergingen aber weitere zehn Jahre bis zum „Budapester landwirtschaftlichen Kongress“ 1883, der die landwirtschaftlichen Kreditverhältnisse diskutierte und die Erfolge der Raiffeisenkassen (in Deutschland) in besonderer Weise hervorhob.27 Die Folge davon waren dann aufgrund privater Initiativen 1886 und 1887 die Erstgründungen nach den Musterstatuten Raiffeisens auf damaligem österreichischem Staatsgebiet. Die Gründungen von Rosswein bei Marburg (damals zur Steiermark gehörend) und von Petersdorf (Mähren), beide im Jahr 1886, können daher als die ältesten österreichischen Raiffeisen-Vorschusskassen bezeichnet werden.28 Weitere Gründungen folgten 1887 in Mühldorf bei Spitz (Wachau, Niederösterreich, sie gilt damit als die älteste Raiffeisen-Vorschusskasse des heutigen Österreich), sowie in Bölten (Mähren) und in Jungferndorf (Schlesien).29 Eine regelrechte Breitenbewegung entstand aber erst, als einzelne Landesverwaltungen (Vorreiter dabei war Niederösterreich nach einem Bericht des Abgeordneten Ritter von Mitscha) sich mit dem Thema beschäftigten. So beschloss die niederösterreichische Landesvertretung am 21. Jänner 1887: „die nach dem Muster der Raiffeisen`schen Vereine sich bildenden ländlichen Kreditgenossenschaften in ihrer Einrichtung zu unterstützen“ und gleichzeitig wurde der Landesausschuss angewiesen: „Musterstatuten, Geschäftsinstruktionen und Drucksortenformulare entwerfen und …an die Interessenten zu verteilen“.30 27 …zu Vgl., Kreinecker, Günther, Die Anfänge der Raiffeisenkassen in Oberösterreich (1889-1914). Die wirtschaftliche Entwicklung und ihre sozioökonomische Bedeutung für Gesellschaft und Wirtschaft, in: Otruba, Gustav (Hg.), Linzer Schriften zur Sozial – u. Wirtschaftsgeschichte, Linz 61982, 34-35. 28 Vgl., ebd., 35. 29 Vgl., ebd., 35. 30 Ebd., 36, zit. n. Statistik der registrierten Creditgenossenschaften…, in: österreichische Statistik, Hrsg. von der k.k. statistischen Centralcommission, LVII Band, 1. Heft, 1. Abteilung, Wien 1902, S III. 20 Mit ähnlichen Beschlüssen folgten die Landesverwaltungen von Oberösterreich, Tirol, Salzburg, Steiermark, Kärnten und Vorarlberg, so dass diese öffentliche Unterstützung und Förderung die rasche Zunahme von Genossenschaftskassen in Österreich, nach dem System Raiffeisen, zur Folge hatte.31 Auf Oberösterreich bezogen verlief die Entwicklung ähnlich der von Niederösterreich. Es gab zwar schon eine größere Zahl von Geldinstituten (vornehmlich Sparkassen, Oberösterreichischer Bauernkredit und Oberösterreichischer Volkskredit) die sich mit der Vergabe von Hypothekarkrediten beschäftigte. Für landwirtschaftliche Investitionsund Betriebsmittelkredite (so genannte Personalkredite ohne hypothekarische Besicherung) standen aber nur 21 Vorschusskassen (meist den Sparkassen angegliedert) zur Verfügung. Ihre Tätigkeit beschränkte sich vornehmlich auf Handel und Gewerbe.32 Mit dieser unbefriedigenden Situation in Oberösterreich befasste sich schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts die so genannte „K.K. Landwirtschafts-Gesellschaft“ als bäuerliche Interessensvertretung, deren Zentralausschuss für die Generalversammlung am 31. März 1887 folgenden Antrag formulierte: „Der Zentralausschuss wolle die Gründung der Raiffeisen`schen Spar- und Darlehens-Cassen in Erwägung ziehen und bei der diesjährigen Generalversammlung beantragen, dass zur Gründung von zwei solchen Cassen für zwei sich bewerbende Gemeinden denselben aus dem Gesellschaftsvermögen 2.000 fl als Darlehen zu 3 % bewilligt werde.“33 Mit weiterreichenden Ergänzungen wurde dieser Antrag in der Generalversammlung angenommen. Aufgrund dieser und ähnlicher Initiativen kamen letztlich die entscheidenden Impulse vom oberösterreichischen Landtag, der sich seit den Landtagswahlen von 1884 31 Vgl., Kreinecker, Günther, Die Anfänge der Raiffeisenkassen in Oberösterreich (1889-1914). Die wirtschaftliche Entwicklung und ihre sozioökonomische Bedeutung für Gesellschaft und Wirtschaft, in: Otruba, Gustav (Hg.), Linzer Schriften zur Sozial – u. Wirtschaftsgeschichte, Linz 61982, 36. 32 Vgl., ebd., 37. 33 Ebd., 45-46, zit. n. Sitzung des Zentralausschusses, Bericht darüber in der Landwirtschaftlichen Zeitschrift Nr. 7 aus 1887, S 49. 21 mehrheitlich aus konservativen Abgeordneten (vornehmlich aus dem Kreis des 1871 gegründeten katholischen Volksvereines) zusammensetzte. Sowohl Landesausschuss als auch Landtag, befassten sich über mehrere Jahre und Sitzungsperioden hinweg mit der tristen Situation des ländlichen (bäuerlichen) Raumes. So wurde z.B. vom Landesausschuss 1885 erhoben, dass eine wesentliche Zunahme der exekutiven Veräußerungen von Bauerngütern von 1875 bis 1884 festzustellen sei, deren Ursachen in der zunehmenden Verschuldung durch hohe Übergabewerte bäuerlicher Realitäten einerseits, und durch negative Auswirkungen der überseeischen Konkurrenz auf dem Getreidemarkt andererseits, zu suchen sei.34 Aufgrund dieses, vom Abgeordneten Huber in den Landtag eingebrachten Berichtes fasst der Landtag mehrheitlich den Beschluss, „dass der Personalkredit der Landwirte Genossenschaftswesens gehoben …werde.“ auf Grundlage des Und, „dass zur Besserung der landwirtschaftlichen Creditverhältnisse die Gründung von Raiffeisen`schen Darlehenscassen ins Auge gefasst werden möge.“35 Alle diese und ähnliche Bemühungen führten letztlich dazu, dass der Oberösterreichische Landtag in seiner Sitzung am 5. Oktober 1888 das vom Landesausschuss entwickelte, so genannte „Normalstatut“, zum Beschluss erhob, per Erlass die oberösterreichischen Gemeinden darüber informierte und zusagte, bei der Errichtung von Darlehensvereinen einen mit der Materie vertrauten Landesbeamten auf Landeskosten zur Gründungsversammlung zu entsenden. Damit war der Bann gebrochen. Die geschilderte Vorgehensweise fand breites Echo durch die Unterstützung durch die k.k. Statthalterei, das bischöfliche Ordinariat, die k.k. Bezirkshauptmannschaften, dem Landeskulturrat und der k.k. LandwirtschaftsGesellschaft. Darüber hinaus machten die „Landwirtschaftliche Zeitschrift von und für 34 Vgl., Kreinecker, Günther, Die Anfänge der Raiffeisenkassen in Oberösterreich (1889-1914). Die wirtschaftliche Entwicklung und ihre sozioökonomische Bedeutung für Gesellschaft und Wirtschaft, in: Otruba, Gustav (Hg.), Linzer Schriften zur Sozial – u. Wirtschaftsgeschichte, Linz 61982, 50-53. 35 Ebd., 54, zit. n. Bericht über die Tätigkeit des Oberösterreichischen Landtages, 7. Wahlperiode… a.a.O. S 55. 22 Oberösterreich“ und die „Land- und Volkswirtschaftlichen Mitteilungen“ ihre Leser mit dem Werk Raiffeisens bekannt.36 Der Erstgründung einer Raiffeisenkasse in Oberösterreich in Weißkirchen an der Traun am 3. Februar 1889, nach dem Normalstatut, folgten im gleichen Jahr 23 weitere Neugründungen. „Im Jahr 1889 begann somit, tatkräftig gefördert durch die autonome Landesverwaltung, die äußerst erfolgreiche Entwicklung der oberösterreichischen Raiffeisenkassen, welche später das Fundament des gesamten landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens (Warengenossenschaften, Verwertungsgenossenschaften) bilden sollten.“37 1.2.4 Die Rolle der Kirche bei der Gründung und Führung (Leitung) der ersten Genossenschaften Der schon erwähnte Einfluss von Pastor Seippel auf den jungen Raiffeisen und später von Pastor Müller auf den Bürgermeister Raiffeisen, hatten positive Auswirkungen auf die Führung der neuen Vereine.38 Die grundsätzliche christliche Motivation des Handelns F.W. Raiffeisens führte, speziell in der Anfangsphase der Gründungen, zu verschiedenen Engagements kirchlicher Repräsentanten (Kleriker) in den neuen Genossenschaften. Zusätzlich dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass in einer Zeit mangelnder Bildung, diese Personen zusätzlich zu ihrer sittlichen Eignung, des Schreibens und Rechnens kundig und somit auch von praktischem Nutzen waren. Ein Beleg dafür ist der Schriftverkehr zwischen Raiffeisen und Marchet aus 1873, in dem Raiffeisen die Position des „Rechners“ (heute: Geschäftsführer, Geschäftsleiter) beschreibt: 36 Vgl., Kreinecker, Günther, Die Anfänge der Raiffeisenkassen in Oberösterreich (1889-1914). Die wirtschaftliche Entwicklung und ihre sozioökonomische Bedeutung für Gesellschaft und Wirtschaft, in: Otruba, Gustav (Hg.), Linzer Schriften zur Sozial – u. Wirtschaftsgeschichte, Linz 61982, 61-64. 37 Vgl., ebd., 66-67. 38 Vgl., Braumann, Franz, Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Eine Idee erobert die Welt, Salzburg 1985, 1415, 57. 23 „Die Stellung des Rechners ist für das gute Bestehen des Vereines eine sehr wichtige, eigentlich die wichtigste. …so bildet er gleichsam die Seele des Vereines. …Die Wahl des Rechners muss also mit besonderer Vorsicht vorgenommen werden. Es wird nöthig sein, einen Mann von zuverlässigem Character, mit möglichster Geschäftskenntniß, welcher das allgemeine Vertrauen genießt, und, wo möglich Vermögen besitzt, zu wählen.“39 Eine so genannte „Enquete-Kommission“ bestätigt die Arbeit der Rechner im Sinne einer korrekten Buch- und Kassenführung und damit die Aussagen Dr. Marchets, die er im Zusammenhang mit dem Thema des Rechners von seiner Reise zu Raiffeisen mitbrachte: „Es wäre eine wahre Freude zu sehen, wie die Geistlichen, Bürgermeister, Lehrer und andere Gemeindemitglieder tätig seien.“40 Wie Markus Lehner in seinem Werk: „Caritas – Die soziale Arbeit der Kirche – Eine Theoriegeschichte“41 schreibt, dürfte es, trotz grundsätzlich positiver Einstellung zur Raiffeisen-Idee, immer umstritten gewesen sein, ob und in welchen Funktionen sich der Klerus in der Führung von Genossenschaften engagieren soll. Argumentiert wurde, dass es auf die örtlichen Verhältnisse ankomme und die bischöfliche Zustimmung einzuholen sei. In dieser ambivalenten Haltung schwingt die (verständliche) Sorge mit, dass für ein eventuelles Scheitern die Kirche verantwortlich gemacht werden könnte. Die an der Front stehenden Pfarrer und Kapläne hatten allerdings weniger Bedenken. Gerade in Österreich hat der Klerus einen überdurchschnittlich hohen Anteil am Zustandekommen von neuen Genossenschaften. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Umfrage des Raiffeisenverbandes Oberösterreich die zeigt, dass 71 % der Raiffeisenkassen und 32 % der Lagerhäuser unter Mitwirkung von Pfarrern gegründet wurden und dass bei rund einem Fünftel der befragten Genossenschaften die 39 Werner, Wolfgang, Raiffeisenbriefe erzählen Genossenschaftsgeschichte. Die Frühzeit der RaiffeisenOrganisation an Hand der Briefe von Raiffeisen an Marchet (1872-1884), Wien 1988, 66, zit. n. Raiffeisen F. W.: Die Darlehenskassen-Vereine…, 2. Auflage, a.a.O., Seite 37. 40 Ebd., 66, zit. n. Marchet G.: Zur Organisation…, Wien 1873, Seite 14. 41 Lehner, Markus, Caritas - Die soziale Arbeit der Kirche. Eine Theoriegeschichte, Freiburg im Breisgau 1997. 24 Funktion des Obmannes und bei rund der Hälfte die Funktion des Buch- und Kassenführers, von Pfarrern bekleidet wurde.42 Einige (belegbare) Beispiele führe ich aus eigener Recherche zur Untermauerung an: Raiffeisenkasse Altenberg (heute Bankstelle der Raiffeisenbank Gallneukirchen) Georg Lang, Pfarrer, Buch- und Kassenführer (Nachweis: Kopie des Vertrages vom 1. April 1906) Raiffeisenkasse Bad Kreuzen (heute Bankstelle der Raiffeisenbank Perg) Josef Ertl, Pfarrer, Obmann des ersten Vorstandes (Nachweis: Kopie des Protokolls vom 24. Februar 1893) Raiffeisenkasse Dimbach (heute Bankstelle der Raiffeisenbank Grein) Johann Bernecker, Pfarrer, Obmann des ersten Vorstandes (Nachweis: Kopie des Protokolls vom 25. April 1900) Raiffeisenkasse Ort im Innkreis (heute Bankstelle der Raiffeisenbank Innkreis Mitte) Firmin Neudegger, Kooperator, Protokollführer der Gründungsversammlung (Nachweis: Kopie des Protokolls der Gründungsversammlung vom 22. Mai 1893) Raiffeisenkasse Pergkirchen (heute Zentrale der Sitzverlegung von Pergkirchen nach Perg) Leo Riedl, Pfarrer, Obmann des ersten Vorstandes (Nachweis: Kopie des Protokolls vom 14. Juni 1900) Raiffeisenbank Perg durch Ein Unterstützer dieser personellen Hilfestellungen war der Breslauer Kardinal Kopp. Er bezeichnete die Förderung des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens als Pflichtaufgabe der Seelsorger, weil dadurch neben materieller Hilfe auch Gemeinsinn, Sparsamkeit und Schaffensfreude angeregt und dem Klerus eine gute Möglichkeit der Einflussnahme auf die Bevölkerung geboten werde.43 In diesem Zusammenhang ist aber auch auf das päpstliche Dekret „Docente Apostolo“ von 1910 zu verweisen, in dem katholischen Geistlichen die Mitarbeit bei 42 Vgl., Lehner, Markus, Caritas - Die soziale Arbeit der Kirche. Eine Theoriegeschichte, Freiburg im Breisgau 1997, 233. 43 Vgl., ebd., 234. 25 Raiffeisenkassen verboten, bzw. von der Erlaubnis des Heiligen Stuhles abhängig gemacht wurde. Als Begründung wurde auf das Pauluswort: „Kein Streiter Gottes soll sich in weltliche Geschäfte verwickeln“, sowie auf Bestimmungen des Konzils von Trient: „dass die Kleriker für höhere als bloß irdische Aufgaben bestimmt sind“, 44 verwiesen. Entsprechende Eingaben einzelner Genossenschaften führten dazu, dass die Funktionstätigkeit an die Zustimmung des jeweiligen Bischofs gebunden und diese letztlich generell erteilt wurde.45 Auch wenn sich die Kirche später im Lauf der Jahrzehnte aus der Bereitstellung personeller Ressourcen für das Genossenschaftswesen zurückgezogen hat, ist ihre positive Einstellung der Idee und der Anwendung gegenüber, über den agrarischen Bereich hinaus, nach wie vor gegeben. So bezeichnete in den 1920-ziger Jahren Oswald von Nell-Breuning die genossenschaftliche Selbsthilfe durchaus als einen Weg zur Lösung der Wohnungsfrage. Den sozialistischen Konsumgenossenschaften gesteht er volkserzieherisches Wirken bei der „Entproletarisierung des Proletariates im Sinne der päpstlichen Enzyklika „Quadragesimo Anno“, zu.46 Diese Schilderung zeigt aus meiner Sicht das hohe Engagement kirchlicher Amtsträger, gerade auch in Oberösterreich, bei der Gründung und Führung genossenschaftlicher Einrichtungen nach dem System Raiffeisen. 44 Kreinecker, Günther, Die Anfänge der Raiffeisenkassen in Oberösterreich (1889-1914). Die wirtschaftliche Entwicklung und ihre sozioökonomische Bedeutung für Gesellschaft und Wirtschaft, in: Otruba, Gustav (Hg.), Linzer Schriften zur Sozial – u. Wirtschaftsgeschichte, Linz 61982, 135, zit. n. Deutsche landwirtschaftliche Genossenschaftspresse, Fachzeitschrift für das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen Nr. 9, vom 15. Mai 1911, 38. Jahrgang. 45 Vgl., ebd., 135-136. 46 Vgl., Lehner, Markus, Caritas - Die soziale Arbeit der Kirche. Eine Theoriegeschichte, Freiburg im Breisgau 1997, 234. 26 1.2.5 Exkurs: Hermann Schulze-Delitzsch Etwa zur gleichen Zeit wie F.W. Raiffeisen lebte und wirkte Franz Hermann Schulze (1808 bis 1883) aus Delitzsch. Seine schulische Bildung erfuhr er in Leipzig, dem damaligen Zentrum des deutschen Geisteslebens. Seine Studien der Jurisprudenz absolvierte er an der Leipziger Universität und an der Friedrichs-Universität in HalleWittenberg. Nach verschiedenen öffentlichen Tätigkeiten im Verwaltung- und Gerichtsdienst widmete er sich der Politik. Er war unter anderem Abgeordneter des Berliner Parlamentes und der in Frankfurt tagenden Nationalversammlung. In der Berliner Versammlung agierte er im „Linken Zentrum“ (Vorläufer der heutigen konstitutionellen Liberalen) und setzte sich für die parlamentarische Monarchie und das demokratische Wahlrecht ein. Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 war er bis zu seinem Ableben dessen Abgeordneter. Beginn des genossenschaftlichen Engagements von Schulze-Delitzsch war wie bei Raiffeisen das Notjahr 1846. Zusammen mit dem Pfarrer von Delitzsch, Eduard Baltzer, gründete er ein Hilfskomitee zum Ankauf von Getreide, dessen Lagerung, die Verarbeitung zu Mehl und die Verteilung an die Bedürftigen. Nicht zuletzt aufgrund dieser sozialen Aktivität kam er über die Preußische Nationalversammlung in eine „Kommission für Handel und Gewerbe unter besonderer Berücksichtigung der Handwerkerverhältnisse“, deren Schriftführer er wurde. Über diese und weitere ähnliche Tätigkeiten war er intensiv mit der „Sozialen Frage“ konfrontiert, die durch das „Kommunistische Manifest“ von 1848 zusätzlich an Schärfe gewann. Über die 1849 erfolgten Gründungen einer Kranken- und Sterbekasse und einer Rohstoffvereinigung für Tischler und Schuhmacher folgte 1850 ein Vorschussverein zum Zwecke der Geldverleihung zu günstigen Bedingungen, dem außer der Handwerkerschaft auch Angestellte, Beamte und Kaufleute angehörten. 27 Im Rahmen des ersten (1858) und des zweiten (1859)Volkswirtschaftlichen Kongresses gelang Schulze eine bedeutende Öffentlichkeitsarbeit für die Genossenschaften, indem er breite Kreise gesellschaftlich maßgebender Gruppen dafür interessieren bzw. überzeugen konnte. Daraus wiederum resultierte der Wunsch eines eigenständigen Forums und einer eigenständigen Organisationszentrale, aus dem 1864 der „Allgemeine Verband der auf Selbsthilfe beruhenden Deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften“ entstand, dessen erster Anwalt Schulze war. Nach diesen organisatorischen Weichenstellungen widmete sich Schulze ab 1862 einem engeren Gedankenaustausch mit F.W. Raiffeisen, der letztlich darin gipfelte, dass die Raiffeisenschen Genossenschaften 1865 dem von ihm geführten Anwaltschaftsverband beitraten. Beide Genossenschaftspioniere verfolgten die gleichen Ziele (Bekämpfung der Armuts- und Notsituationen), allerdings aus verschiedenen Grundeinstellungen heraus. Während bei Schulze „Selbsthilfe“ das Leitmotiv war, stand bei Raiffeisen „Nächstenliebe“ im Vordergrund. Diese unterschiedliche Grundhaltung führte zu Reibereien, die 1877 zur eigenen Verbandsgründung (und damit Herauslösung aus dem Schulzeschen Verband) durch Raiffeisen führte. Unbestritten und für beide Genossenschaftssysteme von wesentlicher Bedeutung waren die Bemühungen Schulzes beim Zustandekommen der Vorläufer unseres heutigen Genossenschaftsgesetzes aus 1873, nämlich des Preußischen Genossenschaftsgesetzes aus 1867, das 1869 auch für den Bereich des Norddeutschen Bundes und ab 1871 für das ganze Deutsche Reich in Kraft trat.47 47 Vgl., Klös, Peter, Der Lebensweg Hermann Schulze-Delitzschs, in: Deutscher Genossenschaftsverband (Schulze-Delitzsch) e.V.i.L. (Hg.), Schulze-Delitzsch – ein Lebenswerk für Generationen, Wiesbaden 1987, 225-244. 28 1.3 Die Entwicklung der Caritas 1.3.1 Die Caritas als kirchliche Grundfunktion Die Spurensuche nach der heutigen, kirchlich institutionalisierten Caritas führt unweigerlich in die frühchristliche Zeit zurück. Ausgangspunkt waren die gottesdienstlichen Gemeinschaftsmähler (Herrenmähler – noch nicht Eucharistiefeier genannt) der jungen Gemeinden, in denen zusätzlich zur eucharistischen Speise die von den reicheren Gottesdienstteilnehmern an den Vorsteher des Herrenmahles entrichteten freiwilligen Gemeindebeiträge, an die nicht anwesenden Bedürftigen in der Gemeinde verteilt wurden. Diese sozial-caritative Dimension unterstreicht die Verantwortung des Liturgievorstehers für diesen Dienst und drückt sich in der Bezeichnung als „episkopaldiakonales Doppelamt“ aus, das den jeweiligen Bischof zugleich auch als „Vater der Armen“ definiert. Darin widerspiegelt sich die Überzeugung der frühen Kirche, dass das Handeln an den Randgruppen (die tätige Predigt) genauso kirchenkonstituierend ist wie die Wortverkündigung. Das kommt auch in diversen Texten der Kirchenväter zum Ausdruck, in denen sie die Diakonie als „Dienst an Christus, der uns in den Armen begegnet“, interpretieren (Beispiele: Gregor von Nyssa in Anlehnung an Mt 25,35-46: „Verachte die Erniedrigten nicht, als hätten sie keine Würde: Sie haben das Aussehen unseres Erlösers angenommen. …“,48 und Gregor von Nazianz in Anlehnung an Hos 6,6 / Mt 9,13 / Dan 3,40: „Solange noch Zeit ist, wollen wir Christuns besuchen, Christus pflegen, Christus speisen, Christus bekleiden, Christus aufsammeln, Christus schätzen…“).49 Diakonie (und damit Caritas) ist also Dienst an Christus selbst, der in den Armen hilfsbedürftig ist. Aus diesem Zusammenhang heraus hat man dieses Anliegen nicht 48 Mette, Norbert, Theologie der Caritas, zit. n. Brox, Norbert, in: Lehner, Markus / Zauner Wilhelm (Hg.), Grundkurs Caritas, Linz 1993, 116. 49 Ebd., 116. 29 dem Zufall überlassen und noch in der apostolischen Zeit nach Apg 6,1-7 einzelne Personen damit betraut. Hier begegnet uns die erste Ausdifferenzierung der Caritas.50 Die bis heute gültige Motivation der Caritasarbeit stellt uns der Evangelist Lukas im Gleichnis vom „Barmherzigen Samariter“ (Lk 10,25-37) vor. Im Anschluss an das so genannte Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe praktiziert der heidnische Samariter situationsbezogene Barmherzigkeit als Ausdruck jener Gottesliebe, die Jesus im Einheitsgebot fordert. Sowohl Helfer als auch Hilfsbedürftiger spüren, dass Gott selbst eingreift. Die Gottesliebe als erstes Gebot behält Vorrang trotz der Betonung des zweiten Gebotes der Nächstenliebe.51 In diesen neutestamentlichen biblischen Grundlegungen (zum Teil unter Anknüpfung an das alte Testament) ist die Nächstenliebe (Diakonia / Caritas) als eine der vier Grundvollzüge einer christliche Gemeinde neben Zeugnis (Martyria), Gottesdienst (Liturgia) und Gemeinschaft (Koinonia) definiert, die sich gegenseitig zu durchdringen und zu ergänzen haben.52 1.3.2 Die Caritas in Deutschland bis 1945 Das Problem der Armenpflege in Deutschland generell (wie in anderen christlichen Ländern auch) war deren Zersplitterung und Unorganisiertheit und mündete um die Wende vom 19. in das 20. Jahrhundert in entsprechende Organisations- und Konzentrationsbemühungen. Max Brandts, Düsseldorfer Landesrat, schreibt 1891: „Was unserer katholischen Wohltätigkeit abgeht, das sind vor allem zwei Dinge: erstens die Publizität unserer Einrichtungen, ihre öffentliche Bekanntmachung, die Mitteilung ihrer Aufgaben und Resultate; zweitens die organische Verbindung derselben untereinander, ihre Organisation“.53 50 Vgl., Mette, Norbert, Theologie der Caritas, in: Lehner, Markus / Zauner Wilhelm (Hg.), Grundkurs Caritas, Linz 1993, 117. 51 Vgl., ebd., 120. 52 Vgl., ebd., 122-123. 53 Wollasch, Hans-Josef, Lorenz Werthmann und der Deutsche Caritasverband, zit. n. Brandts, Max, in: Gatz, Erwin (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – Die katholische Kirche – Bd. V., Caritas und soziale Dienste, Freiburg im Breisgau 1997, 173. 30 Diesem Manko entgegen zu wirken, kam es 1895 in Freiburg unter dem dortigen Bischofssekretär Lorenz Werthmann zur Konstituierung eines „Charitas-Comites“ mit der Aufgabenstellung, eine Organisation der gesamten katholischen Nächstenliebe in Deutschland zu schaffen. Diesem wesentlichen ersten Schritt folgte 1896 der erste Caritastag in SchwäbischGmünd mit dem Aufruf zur Gründung eines „Charitas-Verbandes für das katholische Deutschland“. Zu dieser Verbandsgründung kam es 1897 am zweiten Caritastag in Köln mit der Aufgabenstellung der „planmäßigen Förderung der Werke der Nächstenliebe“, unter bischöflicher Autorität, mit Sitz in Freiburg unter dem Vorsitz von Lorenz Werthmann und unter zunehmender Aktivierung der Laienmitarbeit. Diese Gründung wurde zunehmend als Zeichen eines erstarkenden katholischen Selbstbewusstseins und als Erfüllung der Forderung Papst Leos XIII., in dessen Enzyklika „Graves de communi“ von 1901, wahrgenommen. Mit einer 1909 vorgenommenen Änderung der Schreibweise von „Charitas“ zu „Caritas“ (vom griechischen „charis“ – lateinisch „gratia“ zu „agape“ – lateinisch „caritas“) wird eine Gewichtsverlagerung von bisher eher spirituellen, zu mehr aktiven handfesten sozialen Diensten hin ausgedrückt. Werthmann ging es dabei nicht darum, Wohltätigkeits- Bestrebungen Anderer zu konkurrieren, sonder die „leibliche und geistige Noth des Nächsten zu bekämpfen“.54 In den Folgejahren kam es im Zusammenhang mit dem Aufbau regionaler und lokaler Caritasverbände (Teilorganisationen) zu Phasen von Ablehnung und Anerkennung, die letztlich im „Anerkennungsbeschluss“ der Fuldaer Bischofskonferenz von 1916 mündete und dem „Caritasverband für das katholische Deutschland“ die entsprechende Legitimität innerhalb des deutschen Episkopates sicherte.55 54 Vgl., Wollasch, Hans-Josef, Lorenz Werthmann und der Deutsche Caritasverband, in: Gatz, Erwin (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – Die katholische Kirche – Bd. V., Caritas und soziale Dienste, Freiburg im Breisgau 1997, 173-176. 55 Vgl., ebd., 181. 31 Die größte Bewährungsprobe der beiden ersten Jahrzehnte hatte der Caritasverband im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg 1914 bis 1918 zu bestehen. Von Freiburg aus agierte die eigens dafür eingerichtete „Kriegshilfestelle“, die über die Militärseelsorge Frontsoldaten und Kriegsgefangene mit Nahrungsmittel, Kleidung und Lektüre versorgte und einen eigenen Vermisstensuchdienst organisierte. In der Gefangenenfürsorge wurden Reisen von Bevollmächtigten der deutschen Bischöfe in die Gefangenenlager nach Frankreich und Russland finanziert, um Verpflegung, Behandlung, sanitäre Verhältnisse und religiöse Versorgung der Gefangenen zu prüfen und gegebenenfalls Situationsverbesserungen zu erreichen. Die caritativen Aktivitäten der kirchlichen Kriegshilfe erstreckten sich über Sprachgrenzen, Nationen und Konfessionen hinweg und leisteten sowohl den Gefangenen selbst als auch deren Angehörigen wertvollen Beistand. Ein Neustart in der Weimarer Nachkriegsrepublik gelang dem Deutschen Caritasverband 1921 auf seiner Tagung in Limburg. Zum einen war durch die Eingliederung der bayerischen Diözesancaritasverbände (sie gingen bisher einen eigenen Weg) „die völlige Einheitsfront der deutschen Katholiken auf caritativem Gebiete nunmehr endgültig und vollkommen hergestellt“.56 Damit konnte sich der Verband jetzt noch zutreffender „Deutscher Caritasverband“ (DCV) nennen.57 Zum Anderen übernahm der Priester Benedict Kreutz nach dem verstorbenen Gründer Lorenz Werthmann die gesamtdeutsche Präsidentschaft. Er war eine Integrationsperson und fand als solche die Zustimmung der Fuldaer, wie auch der Freisinger Bischofskonferenz. Sein unbefangen-offenes Wesen und sein diplomatisches Geschick ermöglichten ihm Zugang zu höchsten politischen und staatlichen Stellen. Damit konnte er den DCV als sachkundigen Partner organisierter deutscher Sozialarbeit positionieren.58 56 Vgl., Wollasch, Hans-Josef, Lorenz Werthmann und der Deutsche Caritasverband, in: Gatz, Erwin (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – Die katholische Kirche – Bd. V., Caritas und soziale Dienste, Freiburg im Breisgau 1997, 184-188.. 57 Die bayrischen Bischöfe haben sich dem DCV bei dessen Gründung noch nicht angeschlossen. 58 Vgl., Wollasch, Hans-Josef, Von Lorenz Werthmann zu Benedict Kreutz: Caritas in der Weimarer Republick, in: Gatz, Erwin (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – Die Katholische Kirche – Bd. V., Caritas und soziale Dienste, Freiburg im Breisgau 1997, 203. 32 Auf sein Drängen und unter Nutzung seiner persönlichen Verbindungen gründete sich 1924 die „Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege“ als ein Forum, das eigene Überzeugungen, Konzeptionen und Realisierungen sozialer Sicherung gegenüber dem Staat geltend machte. Dieser Einfluss erlangte elementare Bedeutung in der Sozialgesetzgebung für Kriegshinterbliebene und Kriegsbeschädigte, für Klein- und Sozialrentner, für Erwerbs- und Wohnungslose und in der Gesundheitsfürsorge.59 Als Hauptarbeitsgebiete des DCV nannte Kreutz 1924 Hausarmenpflege, Familienfürsorge, Hilfe in der Seelsorge, Caritaspflege auf dem Lande, Kinder- und Jugendfürsorge, Mädchenschutz, Krankenfürsorge u.v.m.60 Geprägt von Einschränkung und Zurückdrängung war für den DCV (und nicht nur für ihn) die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges. Es lag in der logischen Konsequenz des totalitären Staates, auch die Wohlfahrtspflege in seine alleinige Zuständigkeit zu ziehen. Dazu wurde bereits 1933 die „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ (NSV) als eigene Reichsorganisation, „zuständig für alle Fragen der Volkswohlfahrt und der Fürsorge“, gegründet. Während alle bisher auf diesem Gebiet tätigen Organisationen entweder aufgelöst oder in die NSV eingegliedert wurden, konnte der DCV seine Selbständigkeit erhalten. Seine Aktivitäten konnten aber (wie die des Deutschen Roten Kreuzes auch) nur im Rahmen einer „Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege Deutschlands“ unter Führung des NSV weitergeführt werden. Während der NSV-Leiter Hilgenfeldt noch 1934 von „Selbständigkeit und Unabhängigkeit“ für den DCV sprach, wurde dessen Stellvertreter Althaus 1935 deutlicher. Er wollte das Nebeneinander durch eine Vereinheitlichung der gesamten Wohlfahrtsarbeit ersetzt wissen mit dem Ziel der „Sicherstellung einer planwirtschaftlichen Gestaltung der gesamten Wohlfahrtspflege in Sinne des 59 Vgl., Wollasch, Hans-Josef, Von Lorenz Werthmann zu Benedict Kreutz: Caritas in der Weimarer Republick, in: Gatz, Erwin (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – Die Katholische Kirche – Bd. V., Caritas und soziale Dienste, Freiburg im Breisgau 1997, 205-206. 60 Vgl., ebd., 207. 33 nationalsozialistischen Staates“. Dazu aber leistete die Arbeitsgemeinschaft keinen nennenswerten Beitrag, so dass sie 1940 von Hilgenfeldt wieder aufgelöst wurde. Während die NSV unter dem internen Begriff „Volkspflege“ volkserzieherische Aufklärungsarbeit zu den NS-Themen „Rassenhygiene“, Erbbiologie“ und „Bevölkerungspolitik“ auf den Gebieten der Gesundheits- und Erziehungsfürsorge mit dem Ziel des „erbgesunden germanischen Menschen und der Heranbildung einer völkischen Führungselite“ betrieb, sollte die kirchliche Liebestätigkeit des DCV auf die Anstalten für Erbkranke und Behinderte eingeschränkt werden und damit den Boden für das Vorgehen gegen psychisch Kranke bilden. Die sich auf diesem Konfliktfeld ergebenden Auseinandersetzungen zwischen NSV und Caritas wurden seitens der Caritas in mehreren Situationsschilderungen der Fuldaer Bischofskonferenz vorgetragen mit dem Ziel, das amtskirchliche Gewicht in Verhandlungen mit dem Regime für die Verteidigung des Freiraumes caritativer Arbeit, einzusetzen. Seitens des DCV wurde in diesem Zusammenhang aber eine „schwer verstehbare Zurückhaltung“ bei einigen Bischöfen beobachtet.61 Wie wichtig dem NS-Regime die Kinder- und Jugenderziehung war, ist am Ringen um die Kindergärten abzulesen. Sowohl auf kommunaler, regionaler und letztlich ab 1940 auch auf Gauebene wurden Neugründungen konfessioneller Kindergärten unterbunden und bestehende möglichst in die NSV übergeführt. Das überwiegend aus Ordensfrauen bestehende pädagogische Fachpersonal der Caritaskindergärten wurde entweder entlassen, oder zur Weiterarbeit unter der NSV-Trägerschaft verpflichtet.62 Ähnlich, aber aufgrund eines beharrlicheren Widerstandes der kirchlichen Träger nicht so erfolgreich, erging es den Gemeindepflegestationen der Caritas. Auch sie wurden in die NSV übergeführt. Eher erfolglos war die NSV bei den von der Caritas geführten katholisch-sozialen Ausbildungsstätten für Laien. Hier wehrte sich Dr. Kreutz erfolgreich gegen eine NSIdeologisierung. „Der erfolgreichen Tätigkeit des Dr. Kreutz wird es zugeschrieben, dass alle Schüler und Schülerinnen, die innerhalb des Caritasverbandes in Freiburg ihre 61 Vgl., Wollasch, Hans-Josef, Caritas im Dritten Reich und im Zweiten Weltkrieg, in: Gatz, Erwin (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – Die Katholische Kirche – Bd. V., Caritas und soziale Dienste, Freiburg im Breisgau 1997, 240-242. 62 Vgl., ebd., 242-243. 34 Ausbildung erfahren, hundertprozentig zur katholischen Anschauung stehen und viele Aktivisten aus diesem Verband hervorgehen“63 resümiert das Geheime Staatspolizeiamt Berlin 1942. Zusätzlich zur staatlichen Vereinnahmung caritativer Tätigkeiten kam das Verbot der jährlichen Lebensmittelsammlungen 1935 und der jährlichen öffentlichen Haus- und Straßensammlung 1937 (Ergebnis pro Jahr über 2 Mio RM). Damit wollte man die Caritas von ihren Geldquellen abschneiden. Allerdings ergaben innerkirchliche Kollekten Jahresergebnisse von ca. 8,5 Mio RM und damit das rund Vierfache der Vorkriegsjahre – ein eindeutiges Votum des Kirchenvolkes zur Caritas und zum christlichen Glauben, das auch vom Staatssicherheitsdienst (SD) so interpretiert wurde.64 1.3.3 Die Caritas in Österreich bis 1945 Die soziale Not an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert führte 1900 in Österreich zur Zusammenführung bis dahin bestehender caritativer Vereine, Stiftungen und sonstigen, ähnlichen Einrichtungen, in eine „Zentralstelle der katholischen Vereine für freiwillige Wohltätigkeit“. Diese Zentralstelle organisierte im Mai 1900 den ersten von insgesamt fünf Caritaskongressen vor dem Ersten Weltkrieg und war damit Startschuss und Motor für die Entwicklung der Caritasorganisation in Österreich. Dieser erste Kongress befasste sich schwerpunktmäßig mit den vier Themenbereichen von Kinderschutz und Jugendfürsorge, dem Volksbildungswesen, dem sozialen Hilfswesen und der Armen- und Krankenfürsorge. Ein weiteres Kongressanliegen war die Errichtung von Landeskomitees als Kontaktstellen zu den jeweiligen zuständigen Landesbehörden, für die Gründung notwendiger neuer, bzw. für die Reformierung bestehender Einrichtungen unter Beachtung der vier, am Kongress festgelegte Themenbereiche. 63 Wollasch, Hans-Josef, Caritas im Dritten Reich und im Zweiten Weltkrieg, zit. n. der Facsimile des Schreibens des geheimen Staatspolizeiamtes Berlin 1942, in: Gatz, Erwin (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – Die Katholische Kirche – Bd. V., Caritas und soziale Dienste, Freiburg im Breisgau 1997, 244. 64 Vgl., ebd., 245. 35 Unter diesen Aspekten entstanden 1901 die ersten Landeskomitees in Niederösterreich, Oberösterreich, Steiermark, Tirol, Kärnten und Krain (damals noch zu Österreich gehörend).65 Der zweite Österreichische Caritaskongress 1903 in Graz war geprägt von der Gründung des „Reichsverbandes der katholischen Wohltätigkeitsorganisationen in Österreich“ mit dem Ziel, „bei aller Wahrung der Selbständigkeit der angeschlossenen Organisationen in Caritasfragen von gemeinsamem Interesse einheitlich vorzugehen, den Organisationsgedanken zu verbreiten und den katholischen Wohltätigkeitsbestrebungen die ihnen gebührende Stellung auch bei den weltlichen Behörden zu sichern“.66 Der Nestor der österreichischen Caritasbewegung schlechthin, Baron Max VittinghoffSchell (gest. 1926) wurde zu dessen Präsidenten gewählt und der Herausgeber der 1901 ins Leben gerufenen Caritas-Zeitschrift „Der Barmherzige Samariter“, Robert Perkmann, zum Generalsekretär bestellt. Über die am ersten Kongress festgelegten Themenbereiche hinaus, wurde über die Waisenfürsorge, die Alkoholfrage, die Fürsorge für geistig Behinderte (damals als „Schwachsinnige“ bezeichnet), dem Mädchenschutz sowie über die Caritas am Lande, beraten. Dieser „Reichsverband“ schloss sich 1905 als eigene Sektion der am eben erst stattgefundenen „5. Allgemeinen Österreichischen Katholikentag“ neu gegründeten „Nichtpolitischen Zentralorganisation der Katholiken Österreichs“ an, die sich ab 1909 „Katholischer Volksbund“ nannte. Das vom Reichsverband ab 1908 herausgegebene „Österreichische Caritasblatt“ ging 1910 im „Volkswohl“, dem Organ des Volksbundes auf. Das „Volkswohl“ war damit Sprachrohr der österreichischen Caritas bis zur Gründung der „Österreichischen Caritaskorrespondenz“ im Jahr 1913. Dieses caritaseigene Vierteljahresmedium berichtete sowohl über alle caritativen Bestrebungen, als auch über die laufende praktische Caritasarbeit.67 65 Vgl., Kronthaler, Michaela, Caritasorganisation in Österreich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Gatz, Erwin (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – Die Katholische Kirche – Bd. V., Caritas und soziale Dienste, Freiburg im Breisgau 1997, 213-214. 66 Ebd., 214, zit. n. Tongelen, J., Karitas 209. 67 Vgl., ebd., 214-215. 36 Der dritte Österreichische Caritas-Kongress fand 1906 in Linz statt und war zugleich Gründungsveranstaltung des „Caritas-Verbandes für Oberösterreich“.68 Am 1910 in Wien abgehaltenen vierten Kongress wurden sozialpolitische Forderungen, hinsichtlich Schaffung eines (staatlichen) Arbeitslosenunterstützungsfonds und preiswerter Arbeiterwohnungen, erhoben.69 Der fünfte Caritas-Kongress in Brünn war die letzte Großveranstaltung österreichischer Wohltätigkeitsvereine vor dem Ersten Weltkrieg und war jenen Persönlichkeiten gewidmet, die sich besondere Verdienste um den Aufbau der Caritas in Österreich erworben haben. Im Besonderen waren dies der Präsident des Reichsverbandes, Baron Vittinghoff-Schell, Gräfin Aloisia Fünfkirchen-Lichtenstein als Begründerin der Katholischen Bahnhofsmission und Gräfin Stephanie Wenckheim als Begründerin der Hauskrankenpflege.70 Während des Ersten Weltkrieges war die Caritasentwicklung eingeschränkt und von Rückschlägen gekennzeichnet. In den Nachkriegsjahren bzw. in der Zwischenkriegszeit bildeten sich in fast allen österreichischen Diözesen, auf Initiative des jeweiligen Bischofs, Caritasverbände mit der Einrichtung von Caritaszentralen an den Bischofssitzen und der Bestellung hauptamtlicher Caritasdirektoren. Im Gegensatz zur Laienbewegung der Gründerzeit (Jahrhundertwende) rückte „caritatives Tun“ in die Nähe von amtlicher Beauftragung mit entsprechend bestimmendem Einfluss der Diözesanbischöfe. Auf dieser Basis entstanden neben den schon vor dem Krieg bestehenden Landesverbänden: 1919 der Salzburger Landesverband „Barmherzigkeit“ auf Anregung von Erzbischof Ignatius Rieder. 68 Kronthaler, Michaela, Caritasorganisation in Österreich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Gatz, Erwin (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – Die Katholische Kirche – Bd. V., Caritas und soziale Dienste, Freiburg im Breisgau 1997, 215. 69 Vgl., ebd., 215. 70 Vgl., ebd., 215. 37 1921 der Kärntner Caritasverband für Wohlfahrtspflege und Fürsorge auf Veranlassung von Fürstbischof Adam Hefter und der Caritasverband für die Erzdiözese Wien unter Kardinal Friedrich Gustav Piffl. 1924 der Caritasverband Vorarlberg unter Bischof Weitz und der Steiermärkische Caritasverband unter Generalvikar Franz von Oer. 1927 der Caritasverband der Diözese St. Pölten unter Bischof Michael Memelauer.71 Im Jahre 1924 gründeten die einzelnen Diözesan- bzw. Landescaritasverbände den „Österreichischen Caritasverband“ (ÖCV) durch Umbenennung des vormaligen „Reichsverbandes“. Die behördliche Genehmigung hiefür erfolgte aber erst 1929. Dieser neu gegründete Dachverband war in seinen Beschlüssen an die Zustimmung der Bischöfe gebunden. Zu seinen Aufgaben gehörte die Vertretung bei den Behörden, die Erörterung gemeinsamer Landesverbänden, die Angelegenheiten Führung von und deren Initiierung gesamtösterreichischen in Statistiken, den die Veranstaltung von Caritasberatungen, Schulungen und Kursen, sowie die Erteilung von Auskünften in allen die Fürsorge betreffenden Fragen. Die Verbandsleitung oblag einem Präsidium, dessen Vorsitz in alphabetischer Reihenfolge alle drei Jahre zwischen den Präsidenten der angeschlossenen Verbände wechselte. Beschlüsse waren rechtskräftig, wenn sie nicht binnen vier Wochen von einem Diözesanbischof beeinsprucht wurden. Der ÖCV arbeitete bischofsorientiert nach dem Grundsatz, „nichts ohne die Bischöfe, sondern alles nach ihren Direktiven“, wie dessen damaliger Generaldirektor, Prälat Joseph van Tongelen, schrieb.72 Die weitere Zwischenkriegszeit war geprägt von Hilfeleistungen ausländischer Staaten und Organisationen. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang sind die Erholungsaktionen für österreichische Kinder in der Schweiz und in Holland, sowie die Hilfsaktionen Großbritanniens, Amerikas, Dänemarks, Norwegens und Schwedens und 71 Vgl., Kronthaler, Michaela, Caritasorganisation in Österreich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Gatz, Erwin (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – Die Katholische Kirche – Bd. V., Caritas und soziale Dienste, Freiburg im Breisgau 1997, 216-218. 72 Vgl., ebd., 219. 38 des internationalen Roten Kreuzes. Geldspenden kamen von Papst Benedikt XV. und der spanischen Königin. Aus den Erträgen des von den österreichischen Bischöfen eingeführten Kindergroschens, des Zweigroschenblattes und der Caritas-Sterbevorsorge (eine Einrichtung für die ärmere Bevölkerung, um sich ein würdiges christliches Begräbnis leisten zu können – auch als Gegenpool zur Feuerbestattung des sozialdemokratischen Vereines „Die Flamme“ gedacht) entstanden caritative Einrichtungen im ganzen Land. Ein Beispiel dafür war in den 30-ger Jahren die Caritas-Winterhilfe für Arbeitslose und in Not geratene Familien. Herausragende Caritas-Persönlichkeiten dieser Zeit waren die aus dem Judentum konvertierte Sozialpolitikerin (Österreichs erste christlichzoziale Parlamentsabgeordnete) Dr. Hildegard Burjan (gest. 1933) und die Fürsorgerin Berta Heiß (gest. 1948). Burjan gründete die Frauenvereinigung „Caritas Socialis“ für „der jeweiligen Not der Zeit“ entsprechende Projekte. Heiß schuf in Wien die Kongregation der „Agnesschwestern“ als fürsorgerisch tätige, sozial-caritative Schwesterngemeinschaft, mit Schwerpunkt Familienpflege und Kinderfürsorge.73 Mit dem 1938 erfolgten Anschluss Österreich an Hitler-Deutschland verlor das österreichische Konkordat von 1933/34 seine Gültigkeit. Dadurch gestaltete sich das kirchliche Leben in der nunmehrigen „Ostmark“ wesentlich schwieriger als im „Altreich“. Albert Hoffmann als so genannter „Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände“ war beauftragt, eine Neuordnung des Verbands- und Vereinswesens vorzunehmen und als Schaltstelle der NSV-Interessen zu agieren. Er ordnete innerhalb eines Jahres die Auflösung von ca. 110.000 Vereinen und Organisationen, darunter auch konfessionelle und caritative, an, so dass nur mehr ein Restbestand von rund 5.000 verblieb.74 Obwohl das Interesse der Diözesan-Caritasverbände aufgrund der relativen Eigenständigkeit des DCV eher in Richtung Zusammenschluss ging (Hilgenfeldt 73 Vgl., Kronthaler, Michaela, Caritasorganisation in Österreich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Gatz, Erwin (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – Die Katholische Kirche – Bd. V., Caritas und soziale Dienste, Freiburg im Breisgau 1997, 220-221. 74 Vgl., ebd., 222. 39 drängte Kreutz dazu), schloss van Tongelen im April 1938 mit dem NSV-Leiter für die Ostmark, Franz Langoth, ohne Absprache mit den Diözesen ein Abkommen außerhalb eines Zusammenschlusses. Damit sollten die Einrichtungen der österreichischen Caritas unter NSV-Aufsicht gestellt werden. Damit wäre der ÖCV „in allen grundsätzlichen Fragen der freien Wohlfahrtspflege“ von der Zustimmung des Hauptamtes für Volkswohlfahrt abhängig geworden. Eine außerordentliche Generalversammlung der österreichischen Caritasdirektoren am 7. Mai 1938 lehnte dieses Abkommen ab und sprach sich weiterhin für einen Anschluss an den DCV aus. Im Zuge der Neuregelung der österreichischen Verhältnisse wurde dann am 17. Mai 1938 das „Gesetz über die Überleitung und Eingliederung von Vereinen, Organisationen und Verbänden“ erlassen, das den Anschluss an den DCV untersagte, finanzielle Unregelmäßigkeiten unterstellte und noch im Mai 1938 auf Grundlage dieses Gesetzes die österreichischen Caritasverbände und ihnen angeschlossene Vereine, Werke und Anstalten unter kommissarische Aufsicht stellte. Als Gegenleistung für die Aufhebung der kommissarischen Besetzung forderte Reichsamtsleiter Hoffmann die einzelnen Caritasverbände auf, der am 22. Juli 1938 gegründeten „Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in der Ostmark“ beizutreten, ihre Satzungen dahingehend zu ändern und vor jeder künftigen Satzungsänderung die Zustimmung der Arbeitsgemeinschaft einzuholen. Am 6. August 1938 versicherte Hoffmann einer Delegation des ÖCV, dass „selbstverständlich im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft die Wesensart des Österreichischen Caritas-Verbandes und der ihm angeschlossenen Diözesan-CaritasVerbände erhalten“ bleibe und dass „nach Aufhebung der kommissarischen Besetzung … der Caritas-Verband in seiner Selbständigkeit nicht beeinträchtigt“ werde. Am 17. August 1938 fand die erste Sitzung der „Arbeitsgemeinschaft“ statt. Bis zu diesem Tag hatte nur der Wiener Caritasverband die verlangte Satzungsänderung vollzogen. Nach einer entsprechenden Rüge durch Hoffmann fungierte die „Arbeitsgemeinschaft“ nur mehr als Befehlszentrale ohne weitere Sitzungen.75 75 Vgl., Kronthaler, Michaela, Caritasorganisation in Österreich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Gatz, Erwin (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – Die Katholische Kirche – Bd. V., Caritas und soziale Dienste, Freiburg im Breisgau 1997, 222-224. 40 Als in den folgenden Monaten klar wurde, dass die nationalsozialistischen Zusicherungen (durch Hoffmann) nicht eingehalten wurden, sandte der ÖCV im Anschluss an seine Sitzung am 18. Oktober 1938, eine Denkschrift an die Arbeitsgemeinschaft für freie Wohlfahrtspflege und an Hoffmann, in der die Caritasvertreter den Verlust der Autonomie und die den Verbänden auferlegten Beschränkungen, beklagten. Diese Denkschrift trug letztlich wesentlich zur Trübung des gegenseitigen Verhältnisses bei. Den Caritasverbänden wurden einschneidend ihre Wirkmöglichkeit und damit auch deren finanzielle Basis genommen. Immobilienverkäufe, Verpachtungen, Vermietungen und Umwidmungen bedurften der vorherigen Genehmigung durch die Arbeitsgemeinschaft (Leiter Paul Heigl). Per Erlass des Ministeriums für innere und kulturelle Angelegenheiten in der Ostmark vom 17. Oktober 1938 wurden sämtliche konfessionelle Schulen, Schülerheime und Tageskinderstätten geschlossen bzw. in die NSV übergeführt. In einem Schreiben vom 21. März 1939 erklärte Hilgenfeldt die NSV als einzige zuständige Organisation in der freien Wohlfahrtspflege. Den Caritasverbänden sollte die „geschlossene Fürsorge bewahrender und versorgender Natur (Alters- und Siechenheime, Krankenhäuser und Krankenasyle, Obdachlosenasyle, Bewahrungsanstalten für körperlich und geistig Behinderte bzw. nicht erziehungsfähige oder erbkranke Kinder und Jugendliche) verbleiben. Dagegen protestierten die österreichischen Bischöfe am 26. April 1939 direkt bei Hitler unter Verweis auf die vom Stillhaltekommissar gemachten Zusicherungen, unterstrichen ihre „grundsätzliche Nähe zum Regime“, das Wirken der Caritas für die Stärkung „des völkischen Gedankens“ und ihren Willen, im Kriegsfall mit „bestqualifizierten Kräften“ bereit zu stehen. Außer das dieser Protest beim Reichskirchenminister und im Reichsinnenministerium Unmut über den NSV auslöste, blieb der Protest aber wirkungslos.76 76 Vgl., Kronthaler, Michaela, Caritasorganisation in Österreich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Gatz, Erwin (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – Die Katholische Kirche – Bd. V., Caritas und soziale Dienste, Freiburg im Breisgau 1997, 225. 41 Aufgrund der Wirkungsbeschränkungen wurden 1940 der Tiroler und 1942 der Vorarlberger Caritasverband liquidiert. Mit der (süffisanten) Argumentation, „da der Verband keine Tätigkeit mehr ausübt und durch das Bestehen der Arbeitsgemeinschaft für freie Wohlfahrtspflege die Voraussetzungen für ein Weiterbestehen dieses Vereines entfallen sind“, wurde mit Bescheid vom 14. April 1942 der ÖCV aufgelöst. Allerdings: So weit als möglich trugen die Pfarren die caritative Arbeit weiter. Der Mädchenschutz und die Bahnhofsmission übernahm die „Wandernde Kirche“. In Wien wirkte die schon 1940 von Kardinal Innitzer (gest. 1955) errichtete „Hilfsstelle für nichtarische Juden“ weiter. Diese und die „Beratungsstelle für katholische Auswanderer“ diente der Hilfe für getaufte Juden.77 77 Vgl., Kronthaler, Michaela, Caritasorganisation in Österreich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Gatz, Erwin (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – Die Katholische Kirche – Bd. V., Caritas und soziale Dienste, Freiburg im Breisgau 1997, 226. 42 2 Die Entwicklung des Raiffeisensektors und der Caritas in Oberösterreich nach 1945 2.1 Die Entwicklung des Raiffeisensektors in Oberösterreich nach 1945 Unmittelbar nach der Übernahme der Macht durch das NS-Regime in Österreich wurde das im „Allgmeinen Verband“ organisierte österreichische Genossenschaftswesen in den so genannten „Reichsnährstand“ eingegliedert. Der Generalanwalt wurde durch einen kommissarischen Verwalter ersetzt, der Verband per 31.12.1938 aufgelöst und durch drei Revisionsverbände (Verband der donauländischen landwirtschaftlichen Genossenschaften in Wien <mit Oberösterreich>, Verband der südmärkischen landwirtschaftlichen Genossenschaften in Graz und Verband der alpenländischen landwirtschaftlichen Genossenschaften in Innsbruck) ersetzt. Das Spitzeninstitut des Raiffeisen-Geldsektors, die „Girozentrale der österreichischen Genossenschaften“ wurde als Tochterinstitut der Deutschen Zentralgenossenschaftskasse in Berlin unter der neuen Bezeichnung „Genossenschaftliche Zentralbank der Ostmark Aktiengesellschaft“ weitergeführt und in ihrer Tätigkeit auf die Erfordernisse der Kriegswirtschaft eingeschränkt.78 Angesichts der dramatischen Kriegsfolgen wurde auf diesem Hintergrund unmittelbar nach Kriegsende mit dem Neuaufbau und der Neustrukturierung des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens begonnen. Welcher Stellenwert diesem Neuaufbau seitens des (kaum lebensfähigen) Staates beigemessen wurde unterstreicht ein Appell, denn der damalige Bundespräsident Dr. Karl Renner an die Genossenschaftsfunktionäre richtete: „Der Einbruch des Nationalsozialismus hat mit seinem autoritären Führerwahn den Versuch unternommen, den genossenschaftlichen Instituten ihre Seele, ihren schöpferischen Geist, ihren sozialen Charakter zu nehmen, allen Genossenschaften, ohne Unterschied, ob sie ihre Gründung auf die redlichen Pioniere von Rochdale oder auf Schultze-Delitzsch oder auf Raiffeisen 78 Vgl. Österreichischer Raiffeisenverband (Hg.), Raiffeisen und sein Werk in Österreich, Wien 11986, 364-365. 43 zurückführen. Ihnen allen dient als gemeinsame Idee Selbsthilfe des Einzelnen durch freie Einordnung in die solidarische Wirtschaftsgemeinschaft aller Gleichstrebenden. So besitzen sie, bewusst oder unbewusst, das Geheimnis zum Neubau der Gesellschaft, das Zaubermittel, das Privatinitiative und Privatinteresse durch freien Entschluss zusammenfasst zur disziplinierten Gemeinschaftsarbeit, das Demokratie und wirksamste Ordnung zugleich verwirklicht.“79 Ähnlich argumentiert der Vater des oberösterreichischen Genossenschaftswesens Viktor Kerbler, wenn er im Genossenschaftsjahrbuch 1947 schreibt: „…dass die Genossenschaften nicht nur materielle Ziele verfolgen dürfen, sondern auch ideelle“. Und weiter: „Die Genossenschaft …sie muss zeigen, dass jeder Mensch auf die Hilfe des anderen angewiesen ist und dass der krasse Egoismus eine ungerechte Unterdrückung des wirtschaftlich Schwächeren bedeutet. …“80 Erwähnenswert im Zusammenhang mit der Umsetzung dieser Genossenschaftsideale, gepaart mit der wirtschaftlichen Förderung der Mitglieder, war der Umstand, dass alle Maßnahmen in den ersten Nachkriegsjahren an die Zustimmung der amerikanischen Militärverwaltung gebunden waren und darüber hinaus das Mühlviertel unter russischer Besatzung stand. Trotz dieser widrigen Vorzeichen wurde bereits per 1. Juli 1945 die „Anwaltschaft der land- und forstwirtschaftlichen Genossenschaften für das Land Oberösterreich“ errichtet. Ihr Aufgabenbereich bezog sich vorerst auf jene Belange, die bis März 1938 vom Genossenschaftsbüro der Oberösterreichischen Landesregierung wahrgenommen wurden und bestand vorwiegend in organisatorischen und rechtlichen Hilfestellungen der einzelnen Genossenschaften. Das geschah im Wesentlichen im Rahmen der regelmäßigen Genossenschaftsrevisionen (die wegen der Kriegsereignisse jahrelang nicht durchgeführt wurden), die sich mit den Schwerpunkten von Revision, 79 Schilcher, Hans, Die Raiffeisenkassen Oberösterreichs im Wiederaufbau 1945 – 1952 (unter Berücksichtigung der Landwirtschaft), zit. n. Genossenschaftsjahrbuch 1946, Seite 5 in: Otruba, Gustav (Hg.), Linzer Schriften zur Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte, Linz 121984, 77. 80 Ebd., zit. n. Genossenschaftsjahrbuch 1947, Seite 5, 78. 44 Bilanzerstellung, Steuerberatung, Drucksortenerstellung, statistische Erhebungen und Schulung befasste.81 Ein wesentlicher solidarischer Schritt erfolgte am ersten oberösterreichischen Landesgenossenschaftstag am 21. Mai 1946 mit der Beschlussfassung über die Gründung eines „Aufbaufonds“ zur Sanierung kriegsgeschädigter Genossenschaften. Mit der Fondsverwaltung wurden die Raiffeisen-Zentralkasse (heute: RaiffeisenLandesbank) beauftragt. Die der Anwaltschaft angehörenden Genossenschaften verpflichteten sich, 15 bis 25 % ihrer Reserven in diesen Fonds einzuzahlen. Mit einem Betrag von rund 3,2 Mio. Schillingen konnten die vordringlichsten Kriegsschäden saniert werden.82 Bevor ich mich auf die Entwicklung der Raiffeisenkassen konzentriere, werde ich an einigem Zahlenmaterial und einigen wenigen Kommentaren auf den gesamten Genossenschaftssektor nach dem System Raiffeisen in Oberösterreich eingehen, um einen Überblick darüber zu geben, welche wirtschaftliche Bedeutung und welch ideeller und gesellschaftspolitischer Stellenwert der Idee Raiffeisens in unserem Bundesland zukommt. Nachstehende Oberösterreich Zahlen herausgegebenen sind den jährlich vom Raiffeisenverband Genossenschaftsjahrbüchern (Jahresberichten) entnommen: Stellt man dem Durchschnitts – Oberösterreicher die Frage, was er sich unter Genossenschaften vorstellt, dann werden überwiegend die Raiffeisenkassen genannt. Erst in weiterer Folge sind Lagerhäuser und Molkereien als genossenschaftlich organisierte Unternehmen bekannt. Großteils unbekannt (bzw. nur Insidern bekannt) ist die Existenz von weiteren kleineren, aber für das Funktionieren gerade des ländlichen Raumes umso wichtigeren, dem Raiffeisenverband Oberösterreich angehörenden Genossenschaften wie: 81 Vgl., Schilcher, Hans, Die Raiffeisenkassen Oberösterreichs im Wiederaufbau 1945 – 1952 (unter Berücksichtigung der Landwirtschaft), in: Otruba, Gustav (Hg.), Linzer Schriften zur Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte, Linz 121984, 84-85. 82 Vgl., ebd., 86. 45 Biomassegenossenschaft, Einforstungsgenossenschaften, Mahl- und Mischgenossenschaften, Weidegenossenschaften, Wassergenossenschaften und einer Reihe sonstiger Spezialgenossenschaften. Dazu ist anzumerken, dass es im Lauf der Jahrzehnte seit 1945, im Sinne wirtschaftlicher Veränderungen und sich daraus ergebender Notwendigkeiten, nicht nur Neugründungen, sonder auch Verschmelzungen und Schließungen von Einzelgenossenschaften gegeben hat. Veränderungen dieser Art wird es in einer prosperierenden und sich ständig weiterentwickelnden Wirtschaft und Gesellschaft auch in Zukunft geben, ja geben müssen. Gesamtübersicht der Entwicklung der Raiffeisen - Genossenschaften seit 1945: Gesamtanzahl der Genossenschaften Incl. Raiffeisenkassen Gesamtanzahl der Mitglieder 1945 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2007 722 883 994 1.247 1.347 1.441 1.514 1.824 161.049 178.897 245.183 337.785 398.918 439.112 522.812 419.832 2.1.1 Die Entwicklung der Raiffeisenkassen in Oberösterreich nach 1945 Für das Bemühen, die bis 1938 bestehende Struktur der Raiffeisenkassen wieder herzustellen (während der NS-Zeit erfolgten zwangsweise Verschmelzungen – auch mit sektorfremden Geldinstituten) kam auch politische Unterstützung durch den oberösterreichischen Landtag, der am 20. März 1946 mit einstimmigem Beschluss die Landesregierung beauftragte, die Anwaltschaft der land- und forstwirtschaftlichen Genossenschaften bei der Wiedererrichtung dieser Genossenschaftsbanken entsprechend zu fördern und zu unterstützen.83 Eine erste Bewährungsprobe hatte die sich im Wiederaufbau befindliche österreichische Bankenlandschaft in den ersten Nachkriegsjahren generell, die Raiffeisenkassen 83 Vgl., Schilcher, Hans, Die Raiffeisenkassen Oberösterreichs im Wiederaufbau 1945 – 1952 (unter Berücksichtigung der Landwirtschaft), in: Otruba, Gustav (Hg.), Linzer Schriften zur Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte, Linz 121984, 98. 46 aufgrund ihres nebenberuflich tätigen und daher wenig bankspezifisch ausgebildeten Personals im Besonderen, zu bestehen. Es handelt sich dabei um die Exekution der ersten, den Bankbereich betreffenden, Gesetze. Zum einen ging es um das mit 5. Juli 1945 in Kraft getretene „Schaltergesetz“, wodurch die im Zuge der letzten Kriegshandlungen im Frühjahr 1945 erfolgten Bankenschließungen aufgehoben und die Geschäftstätigkeit wieder aufgenommen wurde. Zum zweiten war das mit 1. Dezember 1945 wirksam werdende „Schilling-Gesetz“ umzusetzen, das der Loslösung von der Reichsmark durch Einführung der österreichischen Schilling-Währung einerseits und der Senkung des Preisauftriebes durch eine Minderung der Geldumlaufmenge andererseits, diente. Die dritte gesetzliche Maßnahme betraf das „Währungsschutzgesetz“ vom 10. Dezember 1947, dessen Zielsetzung einerseits ebenfalls die Abschöpfung des Banknotenumlaufes und andererseits die Bereinigung der Bankbilanzen von den kriegsbedingten Reichsschuldtiteln, war. Dass alle drei gesetzlichen Vorgaben vom Raiffeisen-Sektor trotz der zum Teil problematischen Personalsituation gut bewältigt wurden, erfuhr auch öffentliche Würdigung durch den außerordentlichen Ministerrat am 4. Februar 1948.84 Als Konsequenz eines starken Einlagenzustromes zu den Kreditinstituten bei schwacher Kreditnachfrage kam es vermehrt zu Schieflagen im Bereich der Rentabilität. Der Gesetzgeber begegnete diesem Problem mit dem „Zinsenstreichungs-Gesetz“ aus 1946, auf dessen Basis die Einlagenverzinsung in den Jahren 1945 und 1946 zu unterbleiben hatte. Erst mit 1. Jänner 1948 trat ein zwischen den Institutsverbänden abgeschlossenes und vom Finanzministerium genehmigtes Habenzinsabkommen in Kraft, mit dem die Einlagenverzinsung wieder aufgenommen wurde. Für die damaligen Raiffeisenkassen trat damit der den Genossenschaftsbanken als Ersatz für den Mangel an Mündelsicherheit eingeräumte so genannte „Zinsvoraus“ in Kraft, mit dem Spar- und Giroeinlagen mit einem um ein viertel Prozent höheren Zinssatz (als im 84 Vgl. Schilcher, Hans, Die Raiffeisenkassen Oberösterreichs im Wiederaufbau 1945 – 1952 (unter Berücksichtigung der Landwirtschaft), in: Otruba, Gustav (Hg.), Linzer Schriften zur Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte, Linz 121984, 103-118. 47 Habenzinsabkommen festgelegt) verzinst werden konnten. Dieses Privileg führte zu einem ersten Konkurrenzdenken zwischen Raiffeisensektor und Sparkassensektor, der dieses Privileg bis zur Zinsliberalisierung in den 1970-ziger Jahren mehr oder weniger offen bekämpfte.85 Die Phase bis 1950 diente in Ihrer Schwerpunktsetzung dem Ausbau und der Wiederherstellung bestehender Strukturen mit nebenberuflich (und meist nur im Sonntagsverkehr) tätigen Buch- und Kassenführern (so die damalige Bezeichnung). Damit wurde man allerdings den Anforderungen des wirtschaftlichen Aufschwunges nicht mehr in vollem Umfang gerecht. Neue Bankprodukte, steigende Mittelzuflüsse, stärkere Nachfrage nach Investitions- und Betriebsmittelkrediten sowohl in der Landwirtschaft, als auch im örtlichen Gewerbe und letztlich auch stärker werdende Aktivitäten der Mitbewerber am Markt, erforderten ein Umdenken im Personalbereich wie im Bereich der Geschäftslokalitäten (Anmietung geeigneter Räumlichkeiten).86 Begleitet war dieses Umdenken in den 1950-ziger Jahren (etwa bis 1960) von der Rentabilitätssorge und der Sorge um den Förderungsauftrag, der wesentlich auch in der zur Verfügung Stellung möglichst günstiger (billiger) Kredite gesehen wurde. Die Umsetzung erfolgte nach einem vorsichtigen „Prinzip der kleinen Schritte“. Damit war die Abwägung zwischen „Notwendigkeit“ und der gegebenen bzw. zu erwartenden „Ertragskraft“ gemeint. Einer der Schwerpunkte der 1950-ziger, 1960-ziger und auch noch 1970-ziger Jahre war die Weckung der Spargesinnung von Schülern und Jugendlichen, der in der Etablierung des Schul- und des Sparvereinssparens seinen sichtbaren Ausdruck fand. Verbesserte öffentliche Kommunikationsmittel erleichterten den Zugang breiter Bevölkerungskreise zu allgemeinen Informationen und damit auch zu Informationen über Bankprodukte und über Förderungsmöglichkeiten der öffentlichen Hand in den Bereichen des privaten Wohnbaues und der landwirtschaftlichen und gewerblichen 85 Vgl., Schilcher, Hans, Die Raiffeisenkassen Oberösterreichs im Wiederaufbau 1945 – 1952 (unter Berücksichtigung der Landwirtschaft), in: Otruba, Gustav (Hg.), Linzer Schriften zur Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte, Linz 121984, 207-208. 86 Die Mitbewerber am Markt agierten mit hauptberuflichen Mitarbeitern in meist eigenen Lokalen und waren damit für den Wiederaufbau besser gerüstet. 48 Investitionen. Im Rahmen ihres Förderungsauftrages sahen (und sehen) es die Raiffeisenkassen als eine ihrer Verpflichtungen, im Rahmen ihrer Mitgliederversammlungen und sonstigen eigenen Themenveranstaltungen, aufklärend zu wirken. Neben einer korrekten Geschäftabwicklung war (und ist) das ein wirksames Mittel, das Vertrauen der Kunden und Mitglieder zu ihrem örtlichen Geldinstitut zu stärken. Den Zentralinstituten (im Besonderen der Raiffeisen-Zentralkasse – heute RaiffeisenLandesbank) war eine wesentliche Beraterrolle in organisatorischen, baulichen, personellen und geschäftspolitischen Fragen zugedacht, die sie als Tochterinstitut der selbständigen Raiffeisenkassen, zu deren voller Zufriedenheit wahrnahmen.87 Neben einer ständigen Anpassung der Geschäfts- und Produktpolitik an sich verändernde Marktverhältnisse forderten die 1970-ziger und 1980-ziger Jahre hohe Investitionen in moderne Banktechnologien, verbunden mit der Errichtung neuer, im Eigenbesitz befindlicher Bankgebäude.88 In der Kreditpolitik gelang ohne größere Probleme der Umstieg von einem starren „Sicherheitsdenken“ zu einer „dynamischen Kreditbeurteilung“. Dadurch konnten neue Kundengruppen gewonnen und durch höhere Geschäftsvolumen die Ertragssituation der Raiffeisenkassen verbessert werden.89 Entscheidende Veränderungen für Kreditgenossenschaften brachte das 1979 in Kraft getretene Kreditwesengesetz mit der wesentlichen Bestimmung, dass ab 28. Februar 1982 alle Institute von mindestens zwei Geschäftsleitern zu führen sind, die ihre Tätigkeit ab 1. Jänner 1985 hauptberuflich ausüben mussten. Gleichzeitig wurden verschärfte Eigenkapitalbestimmungen in Kraft gesetzt. Der damit verbundene zusätzliche Kostendruck betraf vermehrt kleinere Einheiten und führte zu einer Welle von Verschmelzungen (Fusionen), mit denen es gelang, diesen Kostendruck aufzufangen. 87 Vgl., Schilcher, Hans, Die Raiffeisenkassen Oberösterreichs im Wiederaufbau 1945 – 1952 (unter Berücksichtigung der Landwirtschaft), in: Otruba, Gustav (Hg.), Linzer Schriften zur Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte, Linz 121984, 259-261. 88 Vgl., ebd., 261-262. 89 Vgl., ebd., 262. 49 Eine weitere Bestimmung betraf die Verpflichtung zur jährlichen Prüfung des Jahresabschlusses (bisher nur alle zwei Jahre) mit erhöhtem Prüfungsumfang. Mit den Auswirkungen dieser Gesetzesbestimmung waren die Revisionsverbände (Raiffeisenverband Oberösterreich – vormals Anwaltschaft) personell und damit auch wirtschaftlich gefordert.90 Die Mehraufwendungen wurden und werden zum überwiegenden Teil über die Tagessätze der Revisionsgebühren an die Raiffeisenbanken der Primärstufe weiterverrechnet und müssen dort wieder entsprechend erwirtschaftet werden (Anm. d. Verf.). Die Raiffeisen – Bankengruppe in Oberösterreich ist den Prinzipien ihres Gründers in Bezug auf Regionalität und örtlicher Verantwortung (Friedrich Wilhelm Raiffeisen nannte es „Kirchspiel“) bis heute gerecht geworden - das Mitglied, der Kunde weiß, mit wem er es im Ort zu tun hat. Seit der Gründerzeit stehen die Person, die Gemeinschaft, die Wirtschaftlichkeit und die örtliche Verantwortung im Mittelpunkt des Handelns (Anm. d. Verf.). Diese grundsätzliche Sektorpolitik führte zu einem hohen Kundenvertrauen und damit entsprechend positiver Entwicklung, die sich im nachstehenden Zahlenmaterial (besonders im Mitgliederzuwachs), entnommen den jährlich erscheinenden Genossenschaftsjahrbüchern (Jahresberichte), widerspiegelt: Raffeisenkassen (Banken) Anzahl Anzahl der Mitglieder Führung nebenberuflich Führung hauptberuflich 1945 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2007 289 286 296 287 270 238 132 48.006 52.572 98.448 173.824 269.022 314.071 328.906 273 268 163 32 0 0 0 110 * 304.977 ** 0 16 18 133 255 270 238 132 110 * Laufende Abnahme der Raiffeisenbanken durch Verschmelzungen (Strukturbereinigung). Ehemalige Hauptanstalten werden als Bankstellen weitergeführt. Daher 2007: 110 Hauptanstalten + 316 Bankstellen ergibt 426 Raiffeisen-Bankplätze in Oberösterreich. 90 Vgl., Dellinger, Markus (Hg.), Genossenschaftsgesetz samt Nebengesetzen, Kommentar, Wien 2005, 11. 50 ** Verringerung der Anzahl der Mitglieder durch Verschmelzungen Mitgliederverzeichnisse durch Streichung von Doppelmitgliedschaften. – Bereinigung der 2.2 Die Entwicklung der Caritas in Oberösterreich nach 1945 Nichts schildert die Situation Österreichs, und damit auch Oberösterreichs, in ihrer Dramatik deutlicher und eindringlicher, als die Worte des ersten Bundeskanzlers der Zweiten Republik, Leopold Figl, in seiner Weihnachtsansprache 1945, wo er bekennt: „Ich kann euch zu Weihnachten nichts geben. Ich kann euch für den Christbaum, wenn ihr überhaupt einen habt, keine Kerzen geben, kein Stück Brot, keine Kohle zum Heizen, kein Glas zum Einschneiden…Wir haben nichts.“91 Auf diesem Hintergrund war auch die Caritas in Österreich und damit in Oberösterreich (Diözese Linz) gefordert, entsprechend Hilfe zu leisten. Unmittelbar nach Kriegsende war allerdings unklar, auf welch struktureller Basis die Caritas ihre Arbeit aufnehmen sollte. Der Rumpfvorstand des vor dem Krieg agierenden und während des Krieges von der NS-Ideologie eingeschränkten Caritas-Verbandes, legte Bischof Fließer im August 1945 Statuten für einen (neuen) „Kritasverband für Oberösterreich“ vor. Parallel dazu sollte ein „Bischöfliches Seelsorgeamt der Diözese Linz“ entstehen, in dem die Caritas als ein eigenes Referat tätig sein sollte. Die Entscheidung hierüber fällt im Herbst 1945 durch die Österreichische Bischofskonferenz, bei deren erster Zusammenkunft nach Kriegsende, in eine völlig neue Richtung: Caritasarbeit soll in den Diözesen „grundsätzlich als bischöfliches Werk ohne Vereinsstatut“ errichtet werden. In diesem Sinne erfolgte Anfang 1946 im Linzer Diözesanblatt die amtliche Mitteilung der Auflösung des „Karitasverbandes“ im Verständnis eines zeitgemäßen Umbaues der Seelsorge und im Anschluss daran die Verlautbarung des „Provisorischen Statutes“ der künftigen Diözesan-Caritas. Bemerkenswert in diesem Staut ist folgender Absatz: 91 Lehner, Markus, zit. n. Hanisch, Schatten, 408, in: Caritas-Die soziale Arbeit der Kirche. Eine Theoriegeschichte, Freiburg im Breisgau 1997, 261. 51 „Wir halten es daher für unerlässlich, dass in Pfarre und Diözese die CaritasOrganisation und Caritasarbeit immer mehr in eine rein religiöse, aus dem Evangelium, der Liturgie und dem kirchlichen Recht gleichsam ewig fundierte Form gegossen wird und dadurch den Änderungen der Zeit und der Willkür des politischen Geschehens möglichst entrückt wird“(Statut 1946). Die Begründung für das Abgehen von der fast hundert Jahre bestehenden Caritasstruktur als Verein bürgerlichen Rechtes ist an drei wesentlichen Fakten festzumachen: -Die Herausforderungen der unmittelbaren Nachkriegszeit erforderten rasch eine schlagkräftige Organisation. Es war daher nicht die Zeit, die gerissenen Fäden zu den von den Nationalsozialisten beschlagnahmten und mit Betätigungsverboten belegten caritativen Anstalten und Einrichtungen aufzunehmen. -Gerade die restriktiven Maßnahmen der NS-Behörden machten deutlich, wie anfällig Strukturen öffentlichen Rechtes in politischen Extremsituationen sind und sein können (während der Kriegsjahre haben sich die kirchlichen Kernstrukturen von Diözese und Pfarren wesentlich weniger verletzlich gezeigt). -Schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde in pastoralen Überlegungen erkannt, dass die Caritas als „Bruderdienst“ ein Wesenselement der Kirche, damit nicht nur Pflicht des einzelnen Christen, sondern und vor allem ein „lebensnotwendiger Inhalt des Gemeindelebens“ sein muss (in den vorherigen Vereinsstrukturen wurde großteils die Vereinsmitgliedschaft als ausreichend empfunden).92 Diese theologische Argumentation des dritten Fakts findet sich deutlich im „Provisorischen Statut“ von 1946 wider wo es heißt: 92 Vgl., Lehner, Markus, Vom Dachverband zur Holding – Strukturwandel der Caritasarbeit im 20. Jahrhundert, in: Kalb, Herbert / Sandgruber, Roman (Hg.), FS für Rudolf Zinnhobler zum 70. Geburtstag, Linz 2001, 125-126. 52 „Wenn es Aufgabe der Seelsorge ist, die Forderungen des Evangeliums im christlichen Leben zu verwirklichen, dann muß eine richtig orientierte Seelsorge die Pflege und Übung der christlichen Nächstenliebe – der Caritas – sowohl bei den einzelnen Gläubigen, wie bei der Pfarrgemeinde als einen Zentralpunkt ihrer Aufgabe betrachten. Sie kann daher die Erfüllung dieses Gebotes nicht dem Zufall, der Willkür und dem guten Willen und der Laune des einzelnen überlassen, sondern muß in Pfarre und Diözese mit einer geordneten, planmäßigen, systematischen Pflege und Förderung der Caritasidee und Caritasarbeit einsetzen, und dies noch mehr als bisher“(Statut 1946). Damit ist definiert, dass Caritas eine mit der Weihe übernommene Amtspflicht von Bischof und Pfarrer darstellt, die nicht (so zu sagen) als lästiges Nebengeschäft wahrgenommen werden kann. Bischöfe und Priester haben als Vorstufe zur Priesterweihe auch die Diakonatsweihe empfangen, sie sind also auch Diakone. Der Diakon definiert sich biblisch aber sehr stark am Dienst an den Armen (Apg 6,1-7). Daraus leitet sich deutlich ab, dass diözesane Caritas nunmehr ein Amt des Bischofs zu sein hat. Sie ist „die vom Bischof ermächtigte und ihm allein verantwortliche Stelle für die Weckung, Förderung, Vertiefung und einheitliche Leitung des ganzen caritativen Lebens und Schaffens in der Diözese“ (Statut 1946). Darin ist der wesentliche Unterschied zum früheren Caritas-Verband zu sehen, in dem die Statuten nur einen Vertreter des Diözesanbischofs als Mitglied der Verbandsleitung vorsahen.93 Doch auch in dieser Neukonstruktion wurde auf die im vorgängigen Caritas-Verband gehandhabte Doppelstruktur nicht verzichtet, wie uns die neue Personalstruktur zeigt. Die erste Führungsrolle nimmt ein hauptamtlicher Caritassekretär ein, der mit der Leitung der Caritasstelle und der so genannten „offenen Caritas“ betraut war. Unter offener Caritas war die Caritasarbeit in den Pfarren (Bewusstseinsbildung und Schulung von Klerus und Laien), sowie die gesamte mobile und teilstationäre Caritasarbeit zu verstehen. Erst an zweiter Stelle fungierte ein ehrenamtlicher „Caritasdirektor“, der für den gesamten Personal- und Finanzbereich, aber auch für den stationären Bereich, zuständig war. Die Schwerpunkte seiner Arbeit waren die Zusammenfassung und der Ausbau 93 Vgl., Lehner, Markus, Vom Dachverband zur Holding – Strukturwandel der Caritasarbeit im 20. Jahrhundert, in: Kalb, Herbert / Sandgruber, Roman (Hg.), FS für Rudolf Zinnhobler zum 70. Geburtstag, Linz 2001, 127. 53 caritativer Einrichtungen und die Rückführung der in der NS-Zeit enteigneten Anstalten und Stiftungen.94 In der Mittelaufbringung geht die Diözese Linz (gegenüber anderen österreichischen Diözesen) einen völlig neuen Weg. Mit Datum 14. Mai 1946 errichtet Bischof Fließer das so genannte „Diözesan-Caritasinstitut“ als kirchliche Stiftung mit eigener Rechtspersönlichkeit. Über dieses Institut laufen die vom jeweiligen Diözesanbischof initiierten Caritaskollekten. Auf dieser Basis heißt es daher im provisorischen Statut: „Die Mittel zur Ausführung der caritativen Aufgaben werden vom Bischof bereitgestellt“ (Statut 1946).95 Interessant in diesem Zusammenhang ist das Faktum, dass dieses Provisorium rund 21 Jahre (Neues Statut 1965 durch Diözesanbischof Franz Zauner) den Anforderungen der Nachkriegsjahre, in denen Improvisationstalent und Flexibilität gefordert waren, genügte. Erst durch die Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungskraft, verbunden mit einer Konsolidierung der sozialen Lage der Menschen in den 60-ziger Jahren, denkt man wieder an strukturelle Veränderungen bzw. Anpassungen. Dies drückt sich schon ab 1949 darin aus, dass sich das Gewicht der Caritasarbeit immer mehr auf den ehrenamtlichen Caritasdirektor (Hermann Pfeiffer) verlagert und der geschäftsführende Caritassekretär (Josef Haltmayer) zum Direktorstellvertreter (1960) ernannt wird. Diese Konstellation lässt bereits eine neue Funktionsaufteilung erkennen. 96 Mit dem Statut von 1965 wird eine einheitliche Rechtsgrundlage angestrebt. Mit Bezugnahme auf die Canones 1489 und 1495 des Codex des kanonischen Rechtes (CIC 1917) erlässt Bischof Zauner per 31. Mai 1965 für die Caritas der Diözese Linz ein neues Statut und verleiht ihr als Stiftung kirchlichen Rechtes eigene Rechtspersönlichkeit im Sinne des Diözesan-Caritasinstitutes von 1946 (Statut 1965). In der Person eines Caritasdirektors erhält sie nunmehr eine klare (alleinverantwortliche) Spitze mit entsprechenden umfassenden Vollmachten und einem 94 Vgl., Lehner, Markus, Vom Dachverband zur Holding – Strukturwandel der Caritasarbeit im 20. Jahrhundert, in: Kalb, Herbert / Sandgruber, Roman (Hg.), FS für Rudolf Zinnhobler zum 70. Geburtstag, Linz 2001, 127. 95 Vgl., ebd., 127-128. 96 Vgl., ebd.,128. 54 zugeordneten Direktionssekretariat (auf den im Statut gedeckten Titel „CaritasSekretär“, für den Leiter des Sekretariates, wird in der Folge verzichtet). Die Beratung und Kontrolle (insbesondere der Haushaltskontrolle) der Caritasarbeit erfolgt durch ein Kuratorium aus anderen Amtsleitern der Diözese und aus Pfarrer- und Laienvertretern. Dieses Gremium unterstreicht die diözesane Mitverantwortung für die Tätigkeiten der Caritas. In der Aufgabenbeschreibung dieser neuen Diözesancaritas kommt sehr deutlich ein geändertes Selbstverständnis zum Ausdruck. Dem Grundauftrag der „Weckung der tätigen Caritasgesinnung“ folgt unmittelbar die „selbständige Errichtung oder Führung aller Arten von Caritaseinrichtungen wie Heime, Anstalten, Kindergärten, …“ (Statut1965, I). Aus diesen, im sozialstaatlichen Interesse liegenden Aufgaben, fließen zusätzlich zu den Sammlungen und privaten Unterstützungen nunmehr auch Subventionen und Unterstützungen durch die öffentlichen Stellen, die im Statut 1965 entsprechend Erwähnung finden. Während also das Statut von 1946 (nachkriegsbedingt) noch den Aufbau und die Unterstützung der Pfarrcaritas als Tätigkeitsschwerpunkt nennt, ist dieses Anliegen nunmehr nachrangig (als vierter Punkt) genannt (und bekam erst wieder 1980, mit der Errichtung eines Referates „Pfarrcaritas“ auf Wunsch des diözesanen Pastoralrates, neues Gewicht und institutionellen Charakter).97 Zweifellos war das bedeutendste kirchliche Ereignis des 20. Jahrhunderts die Einberufung, der Abschluss und die Ergebnisse des II. Vatikanischen Konzils von 1963 bis 1965. Im Besonderen ist es die Pastoralkonstitution „Die Kirche in der Welt von heute – Gaudium et spes“, und deren Einleitungssatz „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi“ (GS 1),98 97 Vgl., Lehner, Markus, Vom Dachverband zur Holding – Strukturwandel der Caritasarbeit im 20. Jahrhundert, in: Kalb, Herbert / Sandgruber, Roman (Hg.), FS für Rudolf Zinnhobler zum 70. Geburtstag, Linz 2001, 128-129. 98 Rahner, Karl / Vorgrimmler, Herbert, Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums, Freiburg im Breisgau 62007, 449. 55 mit dem die Kirche ihre enge Verbundenheit mit der ganzen Menschheitsfamilie zum Ausdruck bringt. Die Konkretisierung dieses Einleitungssatzes erfolgt dann in GS 29 mit dem Verweis auf die Gleichheit aller Menschen und deren Anspruch auf soziale Gerechtigkeit. Auf Diözesanebene erfolgt die Umsetzung der Konzilsbeschlüsse im Rahmen der von 1970 bis 1972 abgehaltenen Diözesansynode. Im Blick auf die Caritas und deren Weiterentwicklung ist hier die Verabschiedung der Vorlage „Sozial-karitative Dienste der Kirche“ in der vierten Synodenvollversammlung im Herbst 1972 maßgebend, wo unter anderen nachstehende, richtungweisende Beschlüsse gefasst wurden: „Caritas ist Grundaufgabe jedes Christen, jeder Gemeinde und der Kirche insgesamt.“99 Dieser Beschluss ist mit kleinen Variationen ein Standardelement in späteren Statutenformulierungen. Oder: „In erster Linie ist die Pfarrgemeinde für die Bewältigung der sozial-karitativen Aufgaben in ihrem Bereich zuständig…Übersteigen in besonderen Fällen die geforderten Aufgaben die Kräfte der Pfarrgemeinde, müssen überpfarrliche Einrichtungen in Anspruch genommen werden.“100 Das ist ein deutlicher Hinweis auf die Erstverantwortung der Pfarrgemeinde einerseits und die subsidiäre Rolle übergeordneter Einrichtungen andererseits. Der von den Synodalen erkannte und benannte Grundauftrag der Kirche wird unter anderem auch darin zum Ausdruck gebracht, dass ein Teil des reinen Verwaltungsaufwandes der Diözesancaritas aus dem Diözesanbudget getragen werden sollte. Untermauert wird diese neue theologische Basis im Statut vom 14. Mai 1986 mit Zitaten aus Konzilstexten. Zusätzlich waren es auch formale Gründe, die sich aus dem Codex des kanonischen Rechts von 1983 ableiten. Künftige Anforderungen durch immer neue Tätigkeitsbereiche und dadurch eine Zunahme von Mitarbeitern, verlangten nach einer breiteren Führungsebene. In diesem Sinne wurde der alleinverantwortliche 99 Lehner, Markus, Vom Dachverband zur Holding – Strukturwandel der Caritasarbeit im 20. Jahrhundert, zit. n. LDBL 119 (1973) Nr. 6, in: Kalb, Herbert / Sandgruber, Roman (Hg.), FS für Rudolf Zinnhobler zum 70. Geburtstag, Linz 2001, 129. 100 Ebd., 129. 56 Caritasdirektor durch ein Team, bestehend aus dem Direktor, einem Rektor (1982 wurde mit Franz Stauber erstmals ein Laie zum Caritasdirektor bestellt, dem gemäß kirchlicher Gepflogenheit ein Priester zur Seite zu stellen ist), einem DirektorStellvertreter und einem Wirtschaftsleiter, ersetzt.101 Eine wesentliche Aufgabenerweiterung gegenüber 1965 erfährt das Statut 1986, indem 1) die Weckung und Förderung der Caritasgesinnung einerseits mit Artikel 8, Absatz 3 des Konzilsdekretes über das Laienapostolat „Apostolicam actuositatem“ und dem Synodenzitat „ … niemand kann Christ sein ohne tätige Liebe“ (Synode S. 49) bekräftigt wird und in der 2) neuen, zusätzlichen und bewußtseinbildenden Aufgabe mündet, „die Öffentlichkeit auf die vielfältige Not und Armut aufmerksam zu machen … und sie zum Helfen einzuladen“. Caritas sieht also nunmehr Sozialkritik und Sensibilisierung der Öffentlichkeit für soziale Probleme als zusätzliches Handlungsfeld. Die 3) Aufgabenstellung betrifft die subsidiäre Unterstützung der pfarrlichen Caritasarbeit und erst an 4) Stelle werden Errichtung und Führung von sozialen Diensten und Einrichtungen genannt.102 Diese neue, erweiterte Aufgabenstellung ist eingebettet in ein Umfeld einer rasch wachsenden, außerkirchlichen Mitbewerberanzahl in der sozialen Arbeit in den 90-ziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Daraus ergibt sich logischerweise ein Wettbewerb am Spendenmarkt und eine stärkere Verflechtung und damit Abhängigkeit (administrativ und finanziell) mit und von den Sozialbehörden und Sozialeinrichtungen der öffentlichen Hand. Die Ausweitung der Arbeitsfelder lässt sich auch an einer steigenden Anzahl von Mitarbeitern ablesen. Deren Anzahl hat sich von ca. 500 Personen 1980 auf knapp 1200 im Jahr 1998 erhöht. In stärkerem Ausmaß als bisher war die Diözesan-Caritas gefordert, sich um zeitgemäße Organisationsformen, um strategische Planung und (ganz wesentlich) um ein modernes, die Menschen ansprechendes Leitbild zu bemühen.103 101 Vgl. Lehner, Markus, Vom Dachverband zur Holding – Strukturwandel der Caritasarbeit im 20. Jahrhundert, in: Kalb, Herbert / Sandgruber, Roman (Hg.), FS für Rudolf Zinnhobler zum 70. Geburtstag, Linz 2001, 129. 102 Vgl., ebd., 129-130. 103 Vgl., ebd,130. 57 Diese Bemühungen finden ihren Niederschlag in dem 1996 von Bischof Maximilian Aichern, anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens der Caritas der Diözese Linz, erlassenen neuen Statuts. Darin ist deutlich der Versuch zu erkennen, zeitgemäße Organisationsformen mit den theologischen Traditionen der Caritas in Einklang zu bringen. Abzulesen ist dieses Bemühen ganz wesentlich an folgenden Punkten dieses Statutes: Erstmals sieht sich die Caritas der Diözese Linz in Ihrer Wesensbeschreibung (Statut 1996, I) als „Hilfs- und Dienstleistungsorganisation“. Dieser neue Begriff findet sich des Öfteren im Statut von 1996. Die Aufgabenbeschreibung (Statut 1996, II) spricht von der Bereitstellung „fachlich qualifizierter Hilfs- und Dienstleistungsangebote“ und im Artikel über (Caritas-)-Einrichtungen (Statut 1996, IV) wird beschrieben, welche „Dienstleistungen“ angeboten werden sollen. Ebenso wird im Artikel über die Mittelaufbringung (Statut 1996, III) neben der „Gründung von und der Beteiligung an Kapitalgesellschaften“ im Rahmen der Gemeinnützigkeit, auch von „Erlösen aus Dienstleistungen und Betrieben“ gesprochen. In der Aufgabenbeschreibung (Statut 1996, II) rückt die Unterstützung der Pfarrgemeinden und von Gemeinschaften und Gruppierungen an die erste Stelle und zusammenfassend für alle (auch künftigen) Aufgaben, erfolgt die Betonung des subsidiären Rollenverständnisses der Diözesan-Caritas. Neu in diesem Statut ist auch der Hinweis, Hilfe und Dienstleistungen auch dann wirksam werden zu lassen, wenn die eingetretene Notsituation ihre Wurzel im persönlichen Verschulden des Hilfsbedürftigen hat. Die Ursachen der Nöte aufzuzeigen und das soziale Gewissen in Gesellschaft und Kirche zu schärfen, erfährt wiederum eine entsprechende Betonung. Im Blick auf die Leitungsstruktur wird vom Modell des Leitungsteams wieder abgegangen und die Gesamtverantwortung bei einem Caritasdirektor angesiedelt, dem vom Diözesanbischof ein Rektor beigestellt werden kann. Für die Bestellung weiterer 58 Führungsorgane durch den Direktor werden -nicht unbedingt bindende- Vorgaben gemacht (Statut 1996, V).104 Weiter zunehmende Notsituationen als Folge politischer Konflikte und kriegerischer Auseinandersetzungen im Ausland, aber auch Strukturschwächen bei öffentlichen Einrichtungen (stationäre und mobile Altenbetreuung, Behindertenbetreuung, Betreuung von Kindern mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung usw.) machen es zusehends schwieriger, ein großes Dienstleistungsunternehmen, wie es die Caritas der Diözese Linz mittlerweile geworden ist, von einer Spitze her zu steuern. Überlegungen, größere Caritasorganisationen als eigenständige operative Einheiten zu organisieren und diese in einer Art Holding zu führen werden diskutiert, aber zugunsten der Schaffung von Institutionen nach kirchlichem Recht wieder aufgegeben. Um den wachsenden Anforderungen gerecht zu werden erlässt Bischof Aichern in diesem Sinne per 1. Jänner 2000 wiederum ein neues Statut, das im Punkt Einrichtungen (Statut 2000, IV) auf diese Problemfelder (mobile Dienste für Familien und alte oder pflegebedürftige Menschen im Inland und Katastrophen- und Aufbauhilfe im Ausland; Führung von Kinder-, Jugend- und Behinderteneinrichtungen; Beratung und Begleitung von Pfarrcaritas- und Ordenskindergärten und in besonderer Weise die Führung von Betreuungseinrichtungen für körperlich und geistig behinderte Kinder) eingeht. Wesentlich in diesem Zusammenhang erscheint der Hinweis, dass sich die Gesamtorganisation „Caritas“ in „Bereiche, Abteilungen und Dienststellen, sowie rechtlich eigenständige Institute, die der Gesamtorganisation jeweils zugeordnet sind“, gliedert. Es bleibt daher vorläufig bei einer Gesamtorganisation kirchlichen Rechtes (Statut 2000, IV).105 An nachstehenden Kennziffern, entnommen den jeweiligen Jahresberichten, soll die Entwicklung der Leistungskraft der Caritas der Diözese Linz dargestellt werden: 104 Vgl., Lehner, Markus, Vom Dachverband zur Holding – Strukturwandel der Caritasarbeit im 20. Jahrhundert, in: Kalb, Herbert / Sandgruber, Roman (Hg.), FS für Rudolf Zinnhobler zum 70. Geburtstag, Linz 2001, 130-131. 105 Vgl., ebd., 131. 59 Gesamteinnahmen* Euro/Mio. davon Spenden Euro/Mio. Personalentwicklung** Anzahl 1947 1953 1961 1982 1990 2000 2005 2007 00.103.000 00.591.000 01.088.000 1980 04.607.000 07.098.000 46.203.000 72.792.000 79.595.000 00.098.000 00.192.000 00.434.000 01.542.000 02.144.000 06.463.000 09.889.000 08.666.000 137 242 1389 2088 2374 117 1996 931*** * Für die Jahre 1962 bis 1980 liegen keine gesicherten Einnahmenzahlen vor. **Eine gesicherte Personalstatistik gibt es erst seit 1980. ***Der überdurchschnittliche Sprung in der Personalentwicklung im Jahre 1996 resultiert aus der Einbeziehung des Personals der Caritasheime (sie waren aber auch schon vorher Teil der Caritas). 2.3 Die Raiffeisenkassen und die Caritas in Oberösterreich nach 1945 – Gemeinsamkeiten und Unterschiede Die Aussagen zu diesem Thema beziehen sich aufgrund der Tätigkeit des Verfassers in der Raiffeisen – Bankengruppe nur auf diese Genossenschaftssparte und damit auf die Ausführungen unter 2.1.1. und geben dessen Meinung aus eigner Wahrnehmung wider. Hinsichtlich der Caritas wird auf den Punkt 2.2 Bezug genommen. Die Feststellungen zu beiden Institutionen erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. 1) Beide Organisationen stehen 1945 vor der schwierigen Situation eines verlorenen Krieges und der Besetzung des Landes durch die Siegermächte. Beiden gemeinsam ist der Wille, ihre Einrichtungen entsprechend den Erfordernissen dieser Umstände (und mit den verfügbaren Mitteln) wieder funktionsfähig zu machen. Dabei ist auf die erste Unterschiedlichkeit zu verweisen: Während Raiffeisen im Wesentlichen „nur“ die Loslösung aus den NS-Rechtsstrukturen vornehmen und zwangsfusionierte Kassen in die vor 1938 bestehende Selbständigkeit zurückführen musste, ging es bei der Caritas um eine Richtungsentscheidung zwischen der bisherigen Verbandsstruktur oder um eine Neustrukturierung unter der Letztverantwortung des Diözesanbischofs. 2) Die Raiffeisenkassen hatten sich den erforderlichen gesetzlichen Notwendigkeiten (Schaltergesetz, Schillinggesetz, Währungsschutzgesetz u.a) 60 unterzuordnen, während sich die Caritas als kirchliche Einrichtung im Rahmen des bestehenden Konkordates bewegte und damit für Struktur- und Organisationsänderungen offen war. 3) Während sich die Raiffeisenkassen bei der Mittelaufbringung im Rahmen des, von der Aufsichtsbehörde (Finanzministerium) genehmigten, so genannten Habenzinsabkommens zu bewegen hatten, konnte sich die Caritas aus Spendensammlungen und aus Erträgen bischöflicher Fonds (beides in den ersten Nachkriegsjahren eher bescheiden) finanzieren. 4) Eine Änderung der Bankenstruktur bei etwa gleich bleibender Bankplatzdichte erfolgte und erfolgt bei den Raiffeisenbanken durch demokratische Beschlüsse der Mitgliederversammlungen. Änderungen in Struktur und Organisation der Caritas erfolgen durch ein jeweils neues Statut des Diözesanbischofs. 5) Hinsichtlich Prüfung und Revision unterliegen Raiffeisenbanken einschlägigen gesetzlichen Vorschriften (Genossenschafts-Revisions-Gesetz), während im Bereich der Caritas entsprechende interne Gremien (Kuratorien) zuständig sind. 6) Während Raiffeisenbanken aufgrund aktueller gesetzlicher Rahmenbedingungen (Bankwesengesetz) mit Blick auf den Gläubigerschutz (Einlegerschutz) zur Erwirtschaftung von Ertragsorientierung) Reserve- verpflichtet und sind, Haftkapital bewegt sich (und die damit zur Caritas im nichtgewinnorientierten Bereich (Gemeinnützigkeit). 7) Eine wesentliche, von beiden Organisationen praktizierte Gemeinsamkeit, ist die selbst auferlegte Informationspflicht der Öffentlichkeit. Ist es bei Raiffeisen Aufklärungsarbeit hinsichtlich wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, neuer Produkte im Bereich von Veranlagung und Finanzierung – unter besonderer Beachtung von deren Risikolosigkeit oder Risikobehaftetheit u.a.m, so ist es bei der Caritas das Bemühen, in Richtung von politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Verantwortungsträgern, auf die mögliche Armutsgefährdung 61 bestehender und geplanter Maßnahmen (Gesetze u.ä.) aufmerksam zu machen und so schon im Vorfeld solcher Maßnahmen das Gefährdungspotenzial zu verringern bzw. zur Gänze auszuschalten. 62 3 Der Begriff der Solidarität 3.1. Etymologie des Begriffes der Solidarität Etymologisch entstammt der Solidaritätsbegriff der römischen Rechtssprache und bedeutete dort eine Haftungsverpflichtung, nach der jedes Mitglied einer (meist familiären) Gemeinschaft für die Gesamtheit der bestehenden Schulden der Gemeinschaft aufzukommen hatte. Andererseits haftete die Gemeinschaft für die Verbindlichkeiten einzelner Mitglieder. 106 Mit dem Entstehen der modernen Industriegesellschaft ab dem 19. Jahrhundert, gekennzeichnet u.a. durch den Wegfall traditioneller Bindungen (Familie, Klan, Dorf) und damit der Freisetzung der Individuen, wird der Solidaritätsbegriff zur Antwort auf die neu entstehenden sozialen Probleme der Industriegesellschaften auf der Ebene von zwei unterschiedlichen Erörterungen: a) als Schlüsselkonzept einer sich entwickelnden Soziologie in deskriptivanalytischer Form zur Beschreibung sozialer Bindungen und b) als Kampfsolidarität in einer entstehenden Protestkultur des Arbeitermilieus in appellativ-normativer Form zur Hebung von Gemeinschaftsgefühlen für den politischen Kampf bzw. für die politische Debatte.107 Wie Solidarität heute verstanden und großteils gelebt wird, kann an den Ergebnissen von empirischen Studien abgelesen werden. 106 107 Vgl., http://www.wiege-linz.at/band1 (19.12.2008), 16. Vgl., ebd., 16-17. 63 3.2 Empirische Studien zur Solidaritätsbereitschaft Sowohl die „Deutsche Shell – Studie 2006“, als auch die „Österreichische Jugendwerte - Studie 2006/07“ lassen für beide Länder in etwa gleiche Schlussfolgerungen zu. 3.2.1 Solidarität in der deutschen Shell - Studie 2006 108 Die deutsche Shell - Studie wird seit über 50 Jahren auf Basis einer breiten Befragung von über 2500 Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 12 bis 25 Jahren durchgeführt und kommt in Bezug auf solidarisches und altruistisches Verhalten zu folgendem Ergebnis: Aufgrund der angespannten wirtschaftlichen Situation werden die Perspektiven am Arbeitsmarkt zunehmend als problematisch und damit die Berufschancen als ungünstig beurteilt. Der daraus entstehende sozioökonomische Druck erzeugt ein Gefühl von Unsicherheit und Angst vor einem sozialen Abstieg. Lösungen werden auf der individuellen Ebene in einem Hang bzw. einem Zwang zur „Selbstbezogenheit“ gesucht und drücken sich in einem hohen Maß an persönlicher Selbstorganisation, einer großen Problemverarbeitungskompetenz und einer flexiblen Virtuosität des Verhaltens aus. Damit drängt sich die Frage auf, ob die Option des ethischen Wertes der Solidarität bei der jungen Generation verschwunden ist. Sie ist aufgrund der Studienergebnisse durchaus mit nein zu beantworten. Allerdings muss dieses Nein differenziert, nämlich als Nachfrage und als Angebot von Solidarität gesehen werden: a) Aus der geschilderten sozialen Unsicherheit ergibt sich zusehends der Wunsch nach kollektiver Absicherung individueller Risiken, der sich in der zunehmenden Bedeutung von, auf den Nahbereich bezogener, sozialer Netzwerke (Freunde, Familie u.ä.) stützt (Nachfragesolidarität). 108 Vgl., http://www.wiege-linz.at/band1 (19.12.2008). 64 b) Ebenso ist aber auch eine gefestigte, durchaus als altruistisch zu bezeichnendeGesinnung festzustellen, die sich im „Engagement für andere“ artikuliert. In Summe geben 33 % der Jugendlichen an, dass sie „oft“ und weitere 42 %, dass sie „gelegentlich“ in ihrer Freizeit für soziale und gesellschaftliche Anliegen tätig sind (Angebotssolidarität). Allerdings: Politik, politische Parteien, NGOs u.ä. verzeichnen einen abnehmenden Trend. Offenbar hat die junge Generation den Glauben an politische und ideologische Visionen verloren. Sowohl das Bedürfnis nach sozialer Absicherung (Nachfrage), als auch die Bereitschaft zu solidarischem Verhalten (Angebot) ist überwiegend auf den sozialen Nahbereich fokussiert, so dass von einer begrenzten Solidarität gesprochen werden kann. 3.2.2 Solidarität in der österreichischen Jugend - Werte - Studie 2006/07 109 Die österreichische Jugend - Werte - Studie basiert auf einem Sample von 1200 befragten Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 24 Jahren, wurde schon in den Jahren 1990/91 und 1999/00 durchgeführt und bietet daher entsprechende Vergleichsmöglichkeiten. Auf den ersten Blick ist auffallend, dass die österreichische Studie die Ergebnisse der deutschen Shell - Studie über weite Bereiche bestätigt. Auch die österreichischen Jugendlichen artikulieren das Gefühl von Verunsicherung in den Bereichen: soziale Beziehungen, Ausbildung und Beruf und der generellen Zukunftsaussichten. Allerdings sind sie auch bereit, sich diesen Herausforderungen zu stellen, in dem die Mehrheit der Befragten meint: „Man muss dem Leben selbst einen Sinn geben“. Im Versuch einer Differenzierung zwischen nachgefragter und angebotener Solidarität tritt bei den österreichischen Jugendlichen ebenfalls ein hohes Bedürfnis nach sozialer 109 Vgl., http://www.wiege-linz.at/band1 (19.12.2008). 65 Sicherheit und solidarischer Absicherung in den Vordergrund (Nachfrage). Dezidierter als die deutsche Studie gibt die Österreichische Antwort auf der Angebotsseite (Angebot). Hier unterscheidet sie drei Ebenen: a) Das individualisierte Glücksstreben, das auf die Einzelperson abstellt und (ähnlich wie in Deutschland) die höchste Zustimmung unter den Wertedimensionen erhält. b) Die so genannte Mikrosolidarität, eine auf den unmittelbaren Nahbereich (Familie, Freunde u.ä.) zielende Solidarität. c) Die Mesosolidarität, unter der eine mittlere soziale Reichweite zu verstehen ist. In der Beurteilung der Wertigkeit bleiben Mikro- und Mesosolidarität deutlich hinter dem individualisierten Glücksstreben zurück. Beide Studien belegen demnach ziemlich eindeutig das Bedürfnis nach Solidarität einerseits und die Bereitschaft zur Solidarität, unter den Bedingungen einer individualisierten Gesellschaft, andererseits. Individualisierungstendenzen (Herauslösung des Einzelnen aus überlieferten Bindungen) ziehen gleichzeitig Kollektivierungstendenzen (Einbindung in neue Formen von Solidarität wie: Selbsthilfegruppen, Unterstützungsgruppen für Asylanten, sozial-caritative Netzwerke, Dritte-Welt-Gruppen u.ä.) nach sich. Der Soziologe H. Berking bezeichnet diese Einstellung als „solidarischen Individualismus“ – soll heißen: „Je stärker eine Person selbstbezogene Werte in den Vordergrund rückt, desto deutlicher betont sie die Relevanz altruistischer Normen für das eigene Leben“. 110 110 Vgl., http://www.wiege-linz.at/band1 (19.12.2008), 14-15. 66 3.3 Sozialwissenschaftliche Definitionen von Solidarität Nach diesem Einblick in zwei aktuelle empirische Untersuchungen zum Thema Solidarität bzw. solidarischen Verhaltens folgen noch einige Definitionen des Begriffes der Solidarität, entnommen dem 2002 im Suhrkamp Verlag erschienen Werk von Rainer Zoll: „Was ist Solidarität heute“ ?111 Aus der Vermutung, dass dem Solidaritätsbegriff verschiedenste Deutungen zugeschrieben werden, lässt Rainer Zoll mehrere Experten zu Wort kommen. Auf drei dieser Definitionen soll näher eingegangen werden: 112 Mit einer Gliederung in vier Punkte beschreibt Alfred Vierkandt den Solidaritätsbegriff. Sein Focus liegt auf unterschiedlichen Menschen (Vielheit), die sich in einer Gemeinschaftsgesinnung (Einheit) gegen störende Eingriffe von außen, mit dem Ziel der Abwehr dieser Eingriffe, zur Wehr setzt. Es geht bei Vierkandt nicht um einen Zusammenschluss zu einer Interessenvereinigung, sondern um eine Gesinnung innerer Verbundenheit: „1. Solidarität bedeutet stets einen Zustand, in dem eine Vielheit sich als eine Einheit verhält. 2. Dieses Vorhaben hat einen praktischen Sinn; es ist stets erregt durch störende Eingriffe aus der äußeren Welt. 3. Sein Sinn ist eine Abwehr solcher Störungen, Eingriffe oder Angriffe. 4. Zugrunde liegt dem solidarischen Verhalten (…) eine Gesinnung der Gemeinschaft. Gemeinschaft bedeutet dabei nicht einen Zusammenschluss zu einem praktischen Zweck, keine Interessenvereinigung, sondern (…) einen Zustand innerer Verbundenheit“.113 Der Schwerpunkt in der Definition bei Irene von Reitzenstein114 liegt im gemeinsamen Handeln einer Vielzahl von Menschen gleicher Lebenslage zur Durchsetzung gleicher Ziele. Sie geht in ihrer Beschreibung von einem Gegenüber aus, gegen das diese Ziele durchzusetzen sind und bezieht sich damit vornehmlich auf Gewerkschaftsbewegungen: 111 Zoll, Rainer, Was ist Solidarität heut? Frankfurt am Main 2000. Vgl., ebd., 13. 113 Ebd., 13, zit. n. Vierkant, Alfred: Solidarität, in: Bernsdorf, Wilhelm (Hg.): Wörterbuch der Soziologie, Bd. 3, Frankfurt/M. 1972, S. 704. 114 Vgl., ebd., 13-14. 112 die 67 „Solidarität soll (…) ein gemeinsames solidarisches Handeln bedeuten, bei dem eine Vielzahl von Menschen aus einer ihnen gleichen und gemeinsamen Lebenslage heraus und um gemeinsamer und gleicher Ziele willen, einem ‚sozialen Gegenpart’ gegenüber füreinander einsteht“.115 Einen völlig anderen Begriffszugang wählen Jean Cohen und Andrew Arato.116 Sie haben als Adressaten von Solidarität den einzigartig Anderen - von mir Verschiedenen im Blick. Solidarität bei Cohen / Arato meint die Bereitschaft, das Schicksal dieses Anderen zu teilen: „Solidarität schließt die Bereitschaft ein, das Schicksal des anderen zu teilen; des anderen nicht als eines Exemplars der Gruppe, zu der man selber gehört, sondern als einer einzigartigen und von mir verschiedenen Person“.117 Während Vierkandt in seinem Verständnis von Solidarität die Gemeinschaft, nicht als Zweckgemeinschaft, sondern als eine Gemeinschaft ‚innerer Verbundenheit’ mit dem Ziel sieht, von außerhalb der Gemeinschaft kommende negative Eingriffe oder Angriffe abzuwehren, liegt die Betonung bei Reitzenstein auf einem gemeinsamen Handeln zur Erreichung gleicher sozialer Ziele für Menschen in gleicher Lebenslage. Begründend für eine Solidargemeinschaft im Sinne Reitzensteins ist ‚die gleiche Lebenslage’ und ein ‚sozialer Gegenpart’, dem gegenüber die Mitglieder der Solidargemeinschaft füreinander einstehen. Cohen / Arato wiederum legen den Focus auf die Verschiedenheit des Anderen und die Bereitschaft, dessen Schicksal zu teilen. Das Anerkennen dieser Verschiedenheit sehen sie als konstitutiv für eine konkrete Alltagssolidarität. Die Definition von Solidarität bei Irene von Reitzenstein ist durchaus als dem Begriff der ‚Kampfsolidarität’ nahe kommend zu sehen, während sowohl bei Alfred Vierkandt (innere Verbundenheit der Gemeinschaftsmitglieder), als auch bei Jean Cohen und Andrew Arato (Anerkennung der Verschiedenheit der Gemeinschaftsmitglieder) der Begriff der Empathie, des wechselseitigen Einfühlens, der gegenseitigen Anteilnahme, im Vordergrund steht. 115 Ebd., Zoll, Rainer, Was ist Solidarität heut? Frankfurt am Main 2000, 13-14, zit. n. Reitzenstein, Irene von, in: Solidarität und Gleichheit. Ordnungsvorstellungen im deutschen Gewerkschaftsdenken nach 1945, Berlin 1961. 116 Vgl., ebd., 199. 117 Ebd., 199, zit. n. Cohen, Jean / Arato, Andrew, in: Civil Society and Political Theory, Cambridge/Mass./London 1992. 68 3.4 Theologische Definitionen von Solidarität In der Theologie wird der Solidaritätsbegriff erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Bedeutung. In der pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“ des II. Vatikanischen Konzils, schreibt das Lehramt dem Begriff erstmals eine soteriologische, d.h. heilsgeschichtliche, Dimension zu (GS 32), in dem es einen Paradigmenwechsel in der Deutung des Erlösungsgeschehens von der Genugtuung Gottes durch den Kreuzestod Jesu, hin zu Gottes Liebe und Solidarität mit den Menschen, vollzieht. Diese Liebe und Solidarität Gottes mit den Menschen gründet in der Menschwerdung des Gottessohnes Jesus Christus, durch die er das Menschengeschlecht zu einer neuen solidarischen Gemeinschaft untereinander befreit. Die von Jesus gelebte und praktizierte Solidarität mit allen Menschen, besonders aber mit den Armen, Bedrängten und Marginalisierten, erfährt darin die universaleschatologische Bedeutung als Urbild und Vollendung einer universalen, alle Zeiten und Generationen umfassenden Solidarität und damit als bleibend gegenwärtigen Ursprung einer neuen Gemeinschaft der Menschen mit Gott und untereinander.118 Wie sich dieser Paradigmenwechsel in der theologischen Literatur wieder findet soll in der Folge aus einer sozialethischen, einer lehramtlichen und einer pastoraltheologischen Perspektive dargestellt werden: Eine sozialethische Perspektive: 119 Schon im Vorwort seines Buches, „Baugesetze der Gesellschaft“, bezeichnet der Theologe und Jesuit Nell-Breuning das Solidaritätsprinzip (neben dem Subsidiaritätsprinzip) als das wichtigste Baugesetzt der menschlichen Gesellschaft und als das Grundgesetz gegenseitiger Verantwortung. Er vergleicht es mit einem 118 Vgl., Drumm, Joachim, Solidarität. II. Systematisch-theologisch, in: Kasper, Walter (Hg.), LThK, Bd. 9, Freibug im Breisgau u.a., 32000, 708-709. 119 Vgl., Nell-Breuning, Oswald, Baugesetze der Gesellschaft. Gegenseitige Verantwortung – Hilfreicher Beistand, Freiburg im Breisgau 1968. 69 Baugerüst, das die Gesellschaft trägt wie die Strebepfeiler einen gotischen Dom bzw. ein Stahlskelett einen Wolkenkratzer tragen. 120 Die Entfaltung dieses Prinzips erfolgt bei Nell-Breuning einerseits als Strukturprinzip und andererseits als Seinsprinzip: Unter „Strukturprinzip“ versteht der Autor eine Solidarverpflichtung (oder Solidarhaftung) als Rechtsbegriff, in der jeder Einzelne für die ganze Verpflichtung (Schuld) einer Gruppe herangezogen werden kann. Den Gläubiger (Geschädigten) braucht es nicht zu kümmern, ob und wie das Tragen der Verpflichtung innerhalb der Gruppe aufgeteilt wird. Jedes Glied der Gruppe haftet für das Gemeinschaftswohl als Gesamtschuldner. Umgekehrt haftet aber auch die Gruppe für jedes einzelne Gruppenmitglied. Erst diese wechselseitige Bezogenheit und Haftung bewirkt die vollkommene Solidarität und ist in einem wechselseitigen Aufeinander-angewiesenSein grundgelegt. Nell-Breuning nennt es „Gemeinverstrickung“. Die Gemeinhaftung hat also ihren Grund in der Gemeinverstrickung (alle sitzen im gleichen Boot). 121 Mit dem „Seinsprinzip“ stellt der Autor auf das Faktum ab, das es kein Zufall ist, dass der Mensch nicht Einzelwesen ist, ganz im Gegenteil: „Der Mensch ist seiner Natur nach auf das Leben in Gemeinschaft angelegt – seiner ganzen Natur nach, d. i. seiner Leibnatur nach und seiner Geistnatur nach“. 122 Unter Leibnatur versteht Nell-Breuning die Geschlechterfolge, nach der der Mensch sich nicht sich selbst, sich auch nicht unmittelbar seinem Schöpfer, sondern sich einem Elternpaar verdankt und damit seine Fortpflanzung an das Zusammenwirken zweier Geschlechtspartner gebunden ist: „Wenn Gott es nicht für gut fand, dass der Mensch (Mann) allein sei, sondern beschloss, ihm eine Gefährtin beizustellen, die seinesgleichen sei (1 Mos. 2,18), 120 Vgl., Nell-Breuning, Oswald, Baugesetze der Gesellschaft. Gegenseitige Verantwortung – Hilfreicher Beistand, Freiburg im Breisgau 1968, 11. 121 Vgl., ebd., 16-17. 122 Ebd., 22. 70 so deswegen, weil er von Anfang an den Menschen so geschaffen hatte, dass er zum Allein- und Für-sich-Sein nicht taugte, sondern dazu bestimmt war, Hilfe zu empfangen und Hilfe zu gewähren“.123 Daraus leitet der Autor ab, dass der Mensch (Mann und Frau) seiner Leibnatur nach je seinen Beitrag zum menschlichen Gesamtleben beizutragen hat. Ebenso gemeinschaftsabhängig ist der Mensch seiner Geistnatur nach. Sie ist Voraussetzung geistigen Lebens, Selbständigen Denkens, wissenschaftlichen Forschens, kurzum von allem, was bis heute unter dem Begriff der „Kultur“ subsumiert. 124 Eine lehramtliche Perspektive: 125 In seiner Enzyklika „Sollicitudo rei Sozialis“ aus 1987 sieht Johannes Paul II. im Solidaritätsbegriff die moralische Bedingung für die Entwicklung einer menschengerechten Welt. Er begründet dies mit dem biblischen Terminus der Umkehr, bezieht sich dabei auf die Bibelstellen Mk 1,15; Lk 13,3.5; Jes 30,15 und Ez 36,26 und meint damit eine Änderung im Verhalten, in der Mentalität und damit in der Lebensweise der Menschen. Der Papst betont die gegenseitige Abhängigkeit zwischen den einzelnen Menschen einerseits und zwischen den einzelnen Nationen andererseits und sieht im wachsenden Bewusstsein dieser Abhängigkeiten schon ein sich entwickelndes positives Signal, in Richtung „Umkehr“ zu mehr moralischer Qualität und Überwindung vorhandener „sündiger“ Strukturen, wenn er meint: „Diese Haltungen und ‚Strukturen der Sünde’ überwindet man nur – neben der notwendigen Hilfe der göttlichen Gnade – mit einer völlig entgegen gesetzten Haltung: mit dem Einsatz für das Wohl des Nächsten zusammen mit der Bereitschaft, sich im Sinne des Evangeliums für den anderen zu ‚verlieren’, 123 Vgl., Nell-Breuning, Oswald, Baugesetze der Gesellschaft. Gegenseitige Verantwortung – Hilfreicher Beistand, Freiburg im Breisgau 1968, 23. 124 Vgl., ebd., 24. 125 Vgl., Korff, Wilhelm / Baumgartner, Alois, Solidarität – die Antwort auf das Elend in der heutigen Welt. Enzyklika Sollicitudo Rei Socialis. Papst Johannes Pauls II., Freiburg im Breisgau 1988. 71 anstatt ihn auszubeuten, und ihm zu ‚dienen’, anstatt ihn um des eigenen Vorteils willen zu unterdrücken“.126 Diese Feststellung begründet Johannes Paul II. mit Mt 10,40-42; 20,25; Mk 10,42-45 und Lk 22,25-27. Desgleichen bezeichnet der Papst die Solidarität als christliche Tugend und stellt sie in die Nähe der Liebe, die er als das Erkennungszeichen der Christen schlechthin definiert. In einer so verstandenen und gelebten Solidarität sieht Johannes Paul II. den Nächsten nicht mehr nur als Menschen in seiner grundlegenden Gleichheit mit allen, sondern als Verwirklichung des lebendigen Abbildes Gottes. Dieses Modell der Einheit in der gemeinsamen Vaterschaft Gottes und in der Brüderlichkeit aller Menschen in Christus versteht der Papst als „Gemeinschaft“ (communio).127 Eine pastoraltheologische Perspektive:128 Die Schweizer (Luzern) Pastoraltheologin Stephanie Klein sieht den Solidaritätsbegriff entgegen der Verwendung als Kampfbegriff in der politischen Praxis, in der Theologie als appellativ und normativ verwendeten Begriff zur Benennung von etwas, das in der Gesellschaft (beklagenswerter Weise) fehlt, und weniger als deskriptiv-empirisch beschreibend von etwas, das da ist. 129 Sie spricht dem Begriff keine zentrale Rolle in den einschlägigen Wissenschaften (Sozial-, Politik-, Wirtschaftswissenschaften) zu, bezeichnet ihn aber als wichtigen Terminus und orientierenden Grundbegriff in der kirchlichen Verkündigung, insbesondere der Sozialverkündigung.130 126 Korff, Wilhelm / Baumgartner, Alois, Solidarität – die Antwort auf das Elend in der heutigen Welt. Enzyklika Sollicitudo Rei Socialis. Papst Johannes Pauls II., Freiburg im Breisgau 1988, 72. 127 Vgl., ebd., 75-76. 128 Vgl., Klein, Stephanie, Christliche Solidarität in der Praxis. Praktisch-theologische Aspekte des Solidaritätsbegriffes, in: Krüggeler, Michael / Klein, Stephanie / Gabriel, Karl (Hg.), Solidarität – ein christlicher Grundbegriff? Soziologische und theologische Perspektiven, Zürich 2005. 129 Vgl., ebd., 211. 130 Vgl., ebd., 211 72 Aus pastoraltheologischer Sicht kann sich Kirche nicht im normativen Reden erschöpfen, sondern hat als „Werkzeug des Heils“, im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils (Lumen Gentium 1), auch entsprechend (solidarisch) zu handeln.131 Aufgrund des Umstandes aber, dass der Solidaritätsbegriff nicht aus biblisch- kirchlicher Tradition stammt, ist (nach Klein) zu klären, ob er sich zur Beschreibung der solidarischen Praxis von Christen und christlichen Gruppierungen heute, eignet. Sie tut das unter den Aspekten, ob er a) den Anliegen der christlich-jüdischen Botschaft gerecht wird und b), ob Solidarität ein nur gesellschaftliches Strukturprinzip ist, oder auch eine Praxis, in der die Kirche ihren pastoralen Auftrag in der Gesellschaft verwirklichen kann: Dem Anliegen der christlich - jüdischen Botschaft wird der Solidaritätsbegriff gerecht, da die hebräische Bibel die Beziehung des Volkes Israel zu seinem Gott Jahwe an seinem Verhalten gegenüber Armen und Entrechteten misst. Jahwe-Verehrung ist Zuwendung zu diesen Menschen (Jes 1,10-17; Am 5,21-27). Gottesverehrung bei gleichzeitiger Missachtung von Menschen ist kein Gottesdienst und erreicht Jahwe nicht (Jes 58,1-12).132 Jesus knüpft mit seinem Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,15-37), im Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25,31-46) und mit dem Gebot der Feindesliebe (Mt 5,38-48; Lk 6,27-42) daran an. Die lapidare Aussage Jesu: „Handle danach, und du wirst leben“ (Lk 10,28f) darf durchaus für alle drei Stellen des Neuen Testamentes als zutreffend verstanden werden. „In der biblischen Tradition kann die Einheit von Nächsten- und Gottesliebe als Kernstück der Ethik angesehen werden. Sie hat ihre Begründung in der Menschenliebe Gottes. Was diese Nächsten- und Gottesliebe bedeutet, lässt sich nicht in einem abstrakten Begriff fassen, sondern kann nur in vielen konkreten Erzählungen beschrieben und erläutert werden.“ 133 131 Vgl., Rahner, Karl / Vorgrimmler, Herbert, Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums, Freiburg im Breisgau 62007, 123. 132 Vgl., Klein, Stephanie, Christliche Solidarität in der Praxis. Praktisch-theologische Aspekte des Solidaritätsbegriffes, in: Krüggeler, Michael / Klein, Stephanie / Gabriel, Karl (Hg.), Solidarität – ein christlicher Grundbegriff? Soziologische und theologische Perspektiven, Zürich 2005, 213. 133 Ebd., 215. 73 Dass Solidarität gelebte Praxis des pastoralen Auftrages der Kirche ist, lässt sich an Hand des Vokabulars und damit an Hand der christlichen Begriffe im alten- und im neuen Testament wie: Liebe, Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Brüderlichkeit, Diakonie und Caritas festmachen. Allerdings, alle diese Begriffe sind immer wieder neu zu erklären, biblisch rückzubinden und in der christlichen Praxis zu verifizieren und zu konkretisieren.134 Die Perspektiven im Vergleich Vergleicht man die drei Perspektiven, dann ist aus meiner Sicht anzumerken, dass alle drei im Grunde genommen auf das gleiche Ziel – einer Welt im Sinne des schon angebrochenen Gottesreiches – hinaus wollen. In der Definition des Weges dahin ergeben sich allerdings Unterschiede. Nell-Breuning bezeichnet die Solidarität als wichtigstes Baugesetz der Gesellschaft. Er begründet dies mit dem Begriff eines Strukturprinzips im Sinne von gegenseitiger Verpflichtung und Angewiesenheit und eines Seinsprinzips, das er in der Leibnatur des Menschen aufgrund der Geschlechterfolge aus einem Urelternpaar einerseits und in der Geistnatur im Sinne eines gemeinsamen Kulturschaffens der Menschen (Menschheit) sieht. Johannes Paul II. sieht in der Solidarität eine grundsätzliche moralische Bedingung für eine gerechte Welt und versteht darunter den biblischen Umkehrappell zur Überwindung sündiger (ungerechter) Strukturen. Die Motivation dafür sollte in der Abbildhaftigkeit des Menschen von Gott und damit tugendethisch aus der Gottes- und Nächstenliebe gegeben sein. Demnach sind alle Menschen und ist besonders die Kirche, aufgrund des CommunioGedankens, zur Solidarität besonders mit den Armen und Marginalisierten, gerufen. 134 Vgl., Klein, Stephanie, Christliche Solidarität in der Praxis. Praktisch-theologische Aspekte des Solidaritätsbegriffes, in: Krüggeler, Michael / Klein, Stephanie / Gabriel, Karl (Hg.), Solidarität – ein christlicher Grundbegriff? Soziologische und theologische Perspektiven, Zürich 2005, 215-216. . 74 Bei Stephanie Klein steht aus pastoralen Überlegungen das solidarische Handeln der Kirche und in der Kirche im Vordergrund. Aufgrund des Umstandes, dass Solidarität kein biblischer und auch kein traditioneller Begriff der Kirche ist, muss jedes solidarisch-soziale Handeln in ihr und durch sie auf Bibel und Tradition rückgebunden und entsprechend interpretiert werden. Eine kurze, einfache, zusammenfassende und treffende Definition des Begriffes aus kirchlicher Sichtweise ist meiner Meinung nach im „Kompendium der Soziallehre der Kirche“ gegeben wo es heißt: „Die Solidarität bringt die angeborene Sozialität der menschlichen Person, die Gleichheit der Würde und der Rechte aller sowie den gemeinsamen Weg der Menschen und Völker zu einer immer festeren Einheit in besonderer Weise zur Geltung.“ 135 135 Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg im Breisgau 2006, 152. 75 4 Solidarisches Handeln von Raiffeisenkassen und Caritas in Oberösterreich Nach diesen Erklärungen und Interpretationen des Solidaritätsbegriffes gilt es nunmehr darzulegen, ob und wie die beiden Institutionen, Raiffeisen-Kreditgenossenschaften und Caritas, solidarisch-soziales Handeln in Oberösterreich / Diözese Linz, verwirklichen. 4.1 Solidarisches Handeln der Raiffeisenkassen in Oberösterreich Kreditgenossenschaften nach dem System Raiffeisen arbeiten in Österreich, und damit auch in Oberösterreich (wie andere Geldinstitutsgruppen auch) auf der Grundlage einschlägiger Gesetze. In erster Linie handelt es sich dabei um das Genossenschaftsgesetz (speziell für genossenschaftlich organisierte Institute) und das Bankwesengesetz (für alle Sektoren gleich), mit den entsprechenden Eigen- und Haftkapitalvorschriften im Sinne des Einlegerschutzes. Diese Vorschriften können nur mit entsprechend ertragsorientierter Geschäftsgebarung erfüllt werden. Abgesehen von individuellem Sponsoring und von Spenden für örtliche oder regionale Vorhaben kann daher solidarisch-soziales Handeln nur aus wenigen Satzungsbestimmungen und aus freiwilligen Zusammenschlüssen zu Solidareinrichtungen, auf der Ebene der Bundesländer, abgelesen werden. 4.1.1 Ableitung solidarischen Handelns aus Satzungsbestimmungen136 Als Vorbemerkung ist festzuhalten, dass die oberösterreichischen Raiffeisenkassen (Raiffeisenbanken) ihre Tätigkeit auf Basis einer gleich lautenden, so genannten Einheitssatzung, ausüben. Punktuelle inhaltliche Abweichungen erfolgen nur aufgrund besonderer regionaler Gegebenheiten, meist im Zuge von strukturbereinigenden Verschmelzungen und bedürfen der Zustimmung des Raiffeisenverbandes Oberösterreich. 136 Vgl., Raiffeisenbank Perg, Satzung, (aktuelle, unveröffentlichte Satzung der Raiffeisenbank Perg), Perg 2005. 76 Nachstehende Aussagen beruhen auf der aktuell gültigen Satzung der Raiffeisenbank Perg, die in einigen wenigen Punkten von der Einheitssatzung abweicht. Diese abweichenden Passagen sind aber für die Betrachtung in dieser Diplomarbeit nicht von Bedeutung. Im § 2 der Satzung, dem so genannten Zweckparagraphen, wird die Tätigkeit der Genossenschaftsbank wie folgt definiert: „Der Zweck der Raiffeisenbank ist im wesentlichen die Förderung des Erwerbes oder der Wirtschaft ihrer Mitglieder. Die Raiffeisenbank bietet allen Menschen in ihrem Tätigkeitsgebiet eine demokratische Grundlage zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit. Sie motiviert die Menschen, in der Gemeinschaft ihre Probleme selbständig und eigenverantwortlich zu lösen.“ 137 Diese Satzungsbestimmung ist sehr weitläufig abgefasst. Sie verpflichtet aber die Raiffeisenbank – und hier sehe ich den solidarisch-sozialen Aspekt – zur Förderung (Unterstützung) des Mitgliedes einerseits, und darüber hinaus zur Partnerschaft mit allen Menschen und zu einem eigenverantwortlichen Leben in der Gemeinschaft, andererseits. Der § 9 regelt die Pflichten der Mitglieder hinsichtlich Geschäftsanteilszeichnung und Haftung: „Jedes Mitglied hat mindestens einen Geschäftsanteil zu zeichnen und sofort einzuzahlen. Die Zeichnung weiterer Geschäftsanteile bedarf der Zustimmung des Vorstandes.“ 138 „Ein Geschäftsanteil beträgt EUR 7,27 (in Worten: Euro sieben Cent siebenundzwanzig).“139 „Die Mitglieder haften für alle Verbindlichkeiten der Raiffeisenbank außer mit ihrem(n) gezeichneten Geschäftsanteil(en) auch noch mit einem 20fachen ihres(r) Geschäftsanteiles(e).“140 137 Raiffeisenbank Perg, Satzung, (aktuelle, unveröffentlichte Satzung der Raiffeisenbank Perg), Perg 2005,4. 138 Ebd., 9. 139 Ebd., 9. 140 Ebd., 9. 77 Der solidarisch-soziale Aspekt liegt hier eindeutig in der geringen Höhe eines Geschäftsanteiles, die es in der Regel jedermann ermöglicht, der Genossenschaft beizutreten und in der Generalversammlung das volle Stimmrecht wahrzunehmen. Ebenso unterliegen die Geschäftsanteile keiner Verzinsung, sondern dienen einzig und alleine der Eigenkapitalstärkung der genossenschaftlichen Gemeinschaft (viele kleine Anteile ergeben eine hohe Haftungssumme). Die sich daraus im Extremfall ergebende Haftungshöhe ist im Einzelfall kaum Existenz bedrohend und meiner Erfahrung nach noch nie zur Anwendung gekommen. Ein dritter solidarisch-sozialer und zusätzlich sehr demokratischer Aspekt findet sich im § 21 über die Beschlussfassung und die Abstimmungsmodalitäten (Ausübung der Mitgliederrechte) in der Generalversammlung. Hier heißt es im ersten Absatz: „Die Beschlüsse der Generalversammlung werden mit absoluter Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen gefasst.“ 141 Und im Absatz drei: „Die Abstimmung erfolgt durch Aufstehen oder Handaufheben; mit Stimmzettel ist abzustimmen, wenn dies ein Viertel der anwesenden Stimmberechtigten verlangt.“ 142 Während der Absatz eins die Genossenschaftsdemokratie festschreibt, liegt der soziale Aspekt im Absatz drei. Aufstehen und Handaufheben zwingen zu persönlicher Anwesenheit und zusätzlich zu einer gleichen Wertung der Stimme eines jeden Stimmberechtigten (Kopfstimmrecht). Hier liegt der wesentliche Unterschied zu anderen Unternehmensformen, im speziellen zu den Aktienbanken, wo ein höheres Aktienpaket (eines Kapitalstärkeren) zu höherer Stimmgewichtung führt (Anteilsstimmrecht). 141 Raiffeisenbank Perg, Satzung, (aktuelle, unveröffentlichte Satzung der Raiffeisenbank Perg), Perg 2005, 21. 142 Ebd., 21. 78 4.1.2 Ableitung solidarischen Zusammenschlüssen Handelns aus freiwilligen, solidarischen Um Mitgliedern und für die Genossenschaft tätigen Funktionären und Mitarbeitern, aber auch Nichtmitgliederkunden (meist nur Einlegerkunden) in prekären Situationen helfen zu können, wurden (durchaus im Sinne des Gründers Friedrich Wilhelm Raiffeisen) auf nicht gewinnorientierter Vereinsbasis Vereine gegründet, um solidarisch zusammenzustehen, wenn Einzelpersonen aus den genannten Personengruppen zu Schaden kommen. Hier verweise ich auf den so genannten „Raiffeisen-Solidaritätsverein für Mitglieder der Oberösterreichischen Raiffeisen-Geldorganisation“, dessen Vereinszweck im § 2 wie folgt festgeschrieben ist: „Zweck des Vereines ist die Unterstützung von unverschuldet in Not geratenen physischen Mitgliedern von oberösterreichischen RaiffeisenKreditgenossenschaften oder von Angehörigen dieser Mitglieder, soferne es sich um Härtefälle handelt, insbesondere die Unterstützung in Unfalls- und Krankheitsfällen, die Unterstützung an Angehörige im Sterbefalle, die Unterstützung an Witwen und Waisen von Mitgliedern.“ 143 Und weiter: „Die Tätigkeit des Vereines ist nicht auf Gewinn gerichtet, sondern verfolgt ausschließlich gemeinnützige und mildtätige Zwecke.“144 Mitglieder dieses Vereines sind alle Oberösterreichischen Raiffeisenbanken und damit zählen alle physischen Mitglieder dieser Raiffeisenbanken, wenn sie mindestens 10 Geschäftsanteile gezeichnet haben zum Begünstigtenkreis, soferne sie die Voraussetzungen nach dem § 2 der Vereinssatzung erfüllen. Die Vereinsleistung erfolgt in der Abdeckung eines Soll-Saldos am Girokonto bis zu einem Maximalbetrag von Euro 5.000,--. Ebenso ist ein so definiertes Mitglied, ohne zusätzliche Prämienzahlung, 143 Raiffeisen Solidaritätsverein, Satzung, (aktuelle, unveröffentlichte Satzung des RaiffeisenSolidaritätsvereines), Linz 2008, 1. 144 Ebd., 1. 79 automatisch gegen Unfallinvalidität bis zu einer maximalen Leistung in Höhe von Euro 22.500,-- (je nach Invaliditätsgrad) versichert. Mit diesem Verein verfügt die Raiffeisen-Bankengruppe Oberösterreich meiner Meinung nach über eine echte und direkt auf das einzelne Mitglied gerichtete, solidarisch-soziale Einrichtung. Ähnlich gelagert, allerdings auf Mitarbeiter und Funktionäre eingeschränkt, stellt sich der „Oberösterreichische Raiffeisen-Unterstützungsverein“ dar, dessen Zweckparagraph (§ 2) wie folgt lautet: „Zweck des Vereines ist die Unterstützung von unverschuldet in Not geratenen Mitarbeitern und Funktionären von oö. Raiffeisen-Kreditgenossenschaften oder von Angehörigen dieser, soferne es sich um Härtefälle handelt, insbesondere die Unterstützung in Unfalls- und Krankheitsfällen, die Unterstützung an Angehörige im Sterbefalle, die Unterstützung an Witwen und Waisen von Mitarbeitern sowie die Unterstützung an Pensionsempfänger. Als Angehörige gelten Ehegatten und Kinder im Sinne des § 106 EStG 1988. Die Tätigkeit des Vereines ist nicht auf Gewinn gerichtet, der Verein ist eine Unterstützungskassa im Sinne des § 6 Abs. 2 KStG 1988.“ 145 Dieser Verein erbringt dann Leistungen (deren Höhe im Einzelfall durch den Vereinsvorstand festgelegt wird), wenn ein Härtefall in Ausübung der Tätigkeit als Mitarbeiter oder Funktionär der Raiffeisenbank eintritt. Hierbei handelt es sich um Unfallfolgen bei der Fahrt zur und von der Tätigkeit, bzw. um solche während der Tätigkeit (auch Folgen von Banküberfällen). Auch bei dieser Einrichtung steht das solidarisch-soziale Zusammenrücken und Zusammenstehen bei folgenschweren Einzelfällen im Vordergrund. Eine ganz wesentliche Säule und Grundlage der Marktaktivitäten von Banken ist das (in der gegenwärtigen Finanzkrise angeschlagene) Kundenvertrauen – und hier im Besonderen jenes der Sparer. Diese Erkenntnis hat Raiffeisen Oberösterreich schon vor rund 10 Jahren bewogen, den „Raiffeisen-Kundengarantierfonds Oberösterreich“ ins Leben zu rufen, in dessen Präambel auf die Prinzipien des Gründers, Friedrich Wilhelm 145 Raiffeisen Unterstützungsverein, Statuten,(aktuelle, unveröffentlichte Statuten des Oberösterreichischen Raiffeisen-Unterstützungsvereines), Linz 2008, 1. 80 Raiffeisen, verwiesen wird. Im § 2 der Fondssatzung wird der Zweck des Fonds folgendermaßen beschrieben: „(1) Zweck des Vereins ist die Aufrechterhaltung des Vertrauens der Kunden und insbesondere der Einleger in die wirtschaftliche Bonität und Solvabilität derjenigen Mitglieder der Raiffeisen-Bankengruppe, die gleichzeitig Mitglieder dieses Vereines, des Raiffeisen-Kundengarantiefonds Österreich (in der Folge kurz: ‚RKÖ’) oder eines dem RKÖ angehörenden anderen RaiffeisenLandeskundengarantiefonds sind, wobei ein direkter Durchgriff des RKÖ auf die Mitglieder des Landesfonds ausgeschlossen ist. (2) Zu diesem Zweck garantieren die Vereinsmitglieder solidarisch die zeitgerechte Erfüllung aller Verpflichtungen gegenüber Kunden nach Maßgabe des in den §§ 12 bis 16 dieser Satzung näher geregelten, über die gesetzliche Einlagensicherung im Sinne der §§ 93 f BWG hinausgehenden, besonderen Kundenschutzes bis zur Grenze der Tragfähigkeit (§ 15 Abs 3). (3) Der Verein kann sich im Interesse des Vereinszweckes auch an Kapitalgesellschaften und sonstigen juristischen Personen beteiligen; insbesondere hat er auch dem RKÖ als Mitglied beizutreten und hat dort die ihm zukommenden Rechte und Pflichten wahrzunehmen. (4) Die Mitgliedschaft zum Verein ist Ausdruck der Solidarität der beteiligten Kreditinstitute. Sie erfolgt unter Wahrung ihrer Selbstverantwortung und Selbstverwaltung; insbesondere wird das normale genossenschaftliche Bankgeschäft durch diese Mitgliedschaft in keiner Weise eingeengt.“146 Der in diesem Paragraphen festgeschriebene Vereinszweck besagt also, dass den Einlagekunden (nicht nur Mitgliedern) einer oö. Raiffeisenbank, die Mitglied dieses Fonds ist, in deren Insolvenzfall die Einlage (Spar- und/oder Giroeinlage) bis zu 100 % gesichert ist. Das heißt, dass alle Mitgliedsraiffeisenbanken in Oberösterreich (und das sind nach derzeitigem Stand alle oö. Raiffeisenbanken), mit ihrem gesamten Vermögen, für die Rückführung von Kundenforderungen der Kunden einer ihrer in Schwierigkeiten gekommenen Mitgliedsbanken über eine allenfalls zum Tragen kommende, gesetzliche (aus Steuermitteln gespeiste) Einlagensicherung hinaus, haften. Durch Bundesländer übergreifende Verschränkung im „Raiffeisen- Kundengarantierfonds Österreich“ ist diese gegenseitige Hilfestellung und damit Kundensicherheit auf das ganze Bundesgebiet ausgedehnt. 146 Raiffeisen Kundengarantiefonds, Satzung, (aktuelle, unveröffentlichte Satzung des RaiffeisenKundengarantiefonds Oberösterreich), Linz 2006, 1. 81 Die Belastung der einzelnen Mitglieds-Raiffeisenbanken erfolgt in allen drei Einrichtungen immer dann, wenn tatsächlich ein Hilfe benötigender Fall eingetreten ist. Sowohl die aufgeführten Satzungsbestimmungen, als auch die konkreten solidarischen Zusammenschlüsse zeigen deutlich, was Ludwig Scharinger meint, wenn er Verbund wie folgt definiert: „Ein Verbund ist der freiwillige Zusammenschluss von selbständigen, gleichgesinnten Einheiten auf dezentraler Ebene in Form einer ‚organisierten Dezentralisation’. Dieser freiwillige Zusammenschluss führt zur arbeitsteiligen Zusammenarbeit, und daraus erwächst gegenseitiger wirtschaftlicher Nutzen. Wirtschaftlicher Nutzen wird ergänzt durch soziale, immaterielle Ziele wie Erfolg, Sicherheit, soziale Integration und Solidarität. Der Verbund besteht aus den einzelnen Mitinhabern (Terminus für Mitglied, Anm.d.Verf.) sowie aus den Verbundeinrichtungen, denen bestimmte Aufgaben satzungsmäßig zugedacht sind und deren Aufgabengebiet im Verbundinteresse weiterzuentwickeln ist.“ 147 4.2 Solidarisches Handeln der Caritas in Oberösterreich: In kurzer, aber prägnanter Weise geben sowohl der aktuelle Folder, „Bewegt. Für Menschen“, zusammen mit dem aktuellen Organigramm vom November 2007 und einer Tätigkeitsbeschreibung des Mediendienstes, sowie die Jahresschrift 2008 mit dem Jahresbericht 2007 der Caritas in Oberösterreich, über die Arbeitsfelder und damit über die Tätigkeit der Caritas in der Diözese Linz Auskunft. Unter „Bewegt“ wird darin in Kurzform das Programm der Caritas in folgender Weise definiert: „So vielfältig wie Lebenssituationen sein können, sind auch unsere Hilfs- und Dienstleistungsangebote, mit denen wir ein tragfähiges ‚Netz für das Leben’ für Menschen knüpfen möchten. Eine wichtige Verankerung für dieses Netz sind unsere regionalen Anlaufstellen in ganz Oberösterreich sowie die Pfarren, deren caritative Arbeit wir unterstützen. Darüber hinaus arbeiten wir eng mit der gesamtösterreichischen und der internationalen Caritas zusammen.“148 147 Scharinger, Ludwig / Rummel, Peter, Im Verbund liegen Stärke und Sicherheit. Die RaiffeisenBankengruppe in Oberösterreich – eine moderne Wirtschaftsdemokratie, Linz 1996, 10. 148 Caritas Oberösterreich, Bewegt. Für Menschen, aktueller, unveröffentlichter Folder mit Organigramm und Tätigkeitsbeschreibung des Mediendienstes der Caritas und die Jahresschrift 2008 mit dem Jahresrückblick 2007, Linz 2008. 82 Als Motivation dafür wird genannt: „Beweggrund und Richtschnur unserer Arbeit ist der christliche Auftrag aus dem Evangelium. Caritas, die ‚gelebte Nächstenliebe’, ist eine unverzichtbare Aufgabe der Katholischen Kirche und jedes einzelnen Christen.“149 In beiden Statements kommt Regionalität und Überregionalität (Subsidiaritätsprinzip) einerseits und die Aufgabenstellung der Kirche und damit auch die theologische Verantwortung des jeweiligen Diözesanbischofs und jedes einzelnen Christen (Universalität und Individualität) andererseits, sehr deutlich zum Ausdruck. Die konkrete Arbeit leistet die Caritas der Diözese Linz unter diesen programmatischen Gesichtspunkten organisatorisch und in der Praxis in folgenden vier großen Bereichen: 4.2.1 Bereich: Caritas für Menschen in Not 150 Dieser Bereich ist in die drei Einheiten Flüchtlings- und Migrantenhilfe, Sachspenden und soziale Dienste gegliedert und wird in elf regionalen Beratungsstellen in Oberösterreich sowohl für Österreichische StaatsbürgerInnen, als auch für EUBürgerInnen angeboten. Gemeinsam mit den Betroffenen wird versucht, Wege aus der Krise und neue Perspektiven zu finden. Im Rahmen dieser drei Einheiten wurden 2007 nachstehende Betreuungsleistungen und Hilfestellungen erbracht: -In der „Beratung und Hilfe für InländerInnen“ gab es ca. 8.900 Kontakte in Oberösterreich. -In der „WeGe, der Wohngemeinschaft für Haftentlassene“ in Wels, konnten vier neue Betreuungsplätze eingerichtet werden. SozialarbeiterInnen begleiten und unterstützen die Betroffenen bei deren sozialer Integration, bei der Arbeits- und Wohnungssuche, beim Aufbau von Beziehungen und bei der Schuldenregelung und Konfliktbewältigung. 149 Caritas Oberösterreich, Bewegt. Für Menschen, aktueller, unveröffentlichter Folder mit Organigramm und Tätigkeitsbeschreibung des Mediendienstes der Caritas und die Jahresschrift 2008 mit dem Jahresrückblick 2007, Linz 2008. 150 Vgl., ebd. 83 -Das Sozialprojekt „Hartlauerhof – Werkstatt für wohnungs- und arbeitslose Männer“ in Asten, bietet für zwölf Männer Lebensraum, Beschäftigung und fachliche Begleitung, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Bei einem ‚Tag der offenen Werkstätte’ und bei verschiedenen anderen Ausstellungen wurden im Jahr 2007 Kunstwerke aus dieser Einrichtung gezeigt.. -Das Projekt „Lena – Beratungsstelle für Menschen in der Prostitution“ konnte in einer Jubiläumsfeier auf seinen 10-jährigen Bestand zurückblicken. Ausstiegswilligen Frauen wird in dieser Einrichtung fachliche Hilfestellung und Unterstützung geboten. -Das „Haus für Mutter und Kind“ ist voll ausgelastet. Aufgrund einer notwendigen Sanierung wurde 2007 der Umzug in ein Ausweichquartier vorbereitet. Die Einrichtung bietet schwangeren Frauen und Müttern mit Kindern in Krisensituationen eine zeitlich (auf rund zwei Jahre) begrenzte Wohnmöglichkeit unter professioneller Beratung und Begleitung. Betroffene können dadurch zur Ruhe kommen, Hoffnung schöpfen und neue Zukunftsperspektiven entwickeln. -Die Angebote der „Wärmestube“ und des Frauenprojektes „Frida“ wurden von mehr als 1.100 Hilfesuchenden genützt. Das Tageszentrum ‚Wärmestube’ versteht sich als Anlaufstelle für wohnungslose Menschen. Es bietet Raum, Zeit und Unterstützung, sich mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen und im Leben wieder Fuß zu fassen. Das angeschlossene Frieda-Projekt schafft als Tageseinrichtung einen Regenerations- und Rückzugsort für von Wohnungslosigkeit bedrohten Frauen. -Im Rahmen der „Auslandshilfe“ wurde mit Hilfe der Caritas das ‚Cafe Mozart’, ein Ausbildungsprojekt für Straßenkinder der Don Bosco Schwestern in Kinshasa/DR Kongo, aufgebaut und eröffnet. 84 -In der „Flüchtlingshilfe“ wurden trotz eines leichten Rückganges monatlich immer noch ca. 2.000 Personen im Rahmen der ‚Grundversorgung’ betreut. Ehrenamtliche Mitarbeiter engagierten sich für das ‚Bleiberecht’ gut integrierten Familien. Im Rahmen der ‚Rückkehrhilfe’ konnte 183 Personen die Rückkehr in ihre Heimat ermöglicht werden. -Im Rahmen der „MigrantInnenhilfe stieg die Zahl der Beratungen auf 4.760 (+ 25 %). In Kirchdorf wurde eine neue Beratungsstelle eingerichtet. In einer guten Startphase befand sich das Projekt ‚Riko’ zur Unterstützung von Menschen mit positivem Asylbescheid (Büros in Linz und Wels). - Über den Bereich der ‚Carla’s’ (Second-Hand-Geschäfte) wurden rund 350 Tonnen an Sachspenden gesammelt und verteilt. Das Tätigkeitsfeld und die Entwicklung des Bereiches „Caritas für Menschen in Not“ im Jahr 2007 zeigt deutlich, dass Notsituationen nicht nur auf den Asyl-, Migrantenund Auslandsbereich beschränkt, sondern zunehmend auch bei Inländern anzutreffen sind. Es geht darum, den Betroffenen möglichst nachhaltig zu helfen. Mathias Mühlberger, der derzeitige Direktor der Caritas in Oberösterreich, drückt das so aus: „Es darf nicht darum gehen, Almosen zu verteilen, sondern gemeinsam in einer ‚menschengerechten’ Gesellschaft zu bauen, in der jeder die Chance auf ein ‚lebenswertes’ Leben hat.“151 Für den umfangreichen Bereich der Flüchtlings- und Migrantenhilfe geht es nach Albert-Peter Rethmann152 aus theologischer Perspektive letztlich darum, die Spannung zwischen Zuwanderungsregeln des Staates und dem Anspruch der Zuwanderer auf Menschenwürde so weit als möglich auszugleichen, bzw. die Kluft zwischen der Universalität des christlichen Liebesgebotes und der Begrenztheit seiner Einlösbarkeit 151 Caritas Oberösterreich, Bewegt. Für Menschen, aktueller, unveröffentlichter Folder mit Organigramm und Tätigkeitsbeschreibung des Mediendienstes der Caritas und die Jahresschrift 2008 mit dem Jahresrückblick 2007, Linz 2008. 152 Vgl., Rethmann, Albert-Peter, Gastfreundschaft und Integration. Theologische Perspektiven in der Migrationsarbeit, in: Krockauer, Rainer / Bohlen, Stephanie / Lehner, Markus (Hg.), Theologie und soziale Arbeit. Handbuch für Studium, Weiterbildung und Beruf, München 2006, 220. 85 schrittweise zu verkleinern. In letzter Konsequenz sollte zwischen Zuwanderern und Einheimischen den gleichen Gerechtigkeitskriterien zum Durchbruch verholfen werden. 4.2.2 Bereich: Caritas für Betreuung und Pflege153 Der Betreuungs- und Pflegebereich umfasst die Schwerpunkte Bildung, Mobile Dienste, Mobiles Hospiz – Palliative Care, pflegende Angehörige, psycho-soziale Begleitung und das Seniorenwohnen. Diese sechs Arbeitsfelder erbrachten im Jahr 2007 nachstehende Leistungen: -Die „Mobilen Dienste“ leisteten rund 342.000 Betreuungsstunden (+8,7 % gegenüber 2006) für 7.464 betroffene Menschen. Sie bieten Hilfe, die direkt ins Haus kommt. FamilienhelferInnen kümmern sich um Kinderbetreuung, Haushaltsführung und Pflege kranker Familienmitglieder. AltenfachbetreuerInnen helfen bei der täglichen Körperpflege und stehen begleitend bei Arzt- oder Behördenbesuchen zur Verfügung. Für einfache Pflegehilfen und Unterstützung im Haushalt kann die so genannte Heimhilfe beansprucht werden. -Im Tätigkeitsfeld „Pflegende Angehörige“ wurden zusätzlich zu den Angeboten von Gesprächsgruppen und Erholungstagen 169 Beratungsgespräche für die Pflege im häuslichen Umfeld pflegebedürftiger Personen geführt. -Das Angebot für „Betreubares Wohnen“ konnte weiter ausgebaut und in sieben neuen Wohnanlagen die Hausleitung übernommen werden. Unter der Devise, ‚soviel Selbständigkeit wie möglich – soviel Hilfe wie nötig’, haben SeniorInnen die Möglichkeit, selbständig zu leben bei gleichzeitiger Sicherheit, dass Hilfe da ist, wenn sie gebraucht wird. 153 Vgl., Caritas Oberösterreich, Bewegt. Für Menschen, aktueller, unveröffentlichter Folder mit Organigramm und Tätigkeitsbeschreibung des Mediendienstes der Caritas und die Jahresschrift 2008 mit dem Jahresrückblick 2007, Linz 2008. 86 -Im Bereich der „Psycho-sozialen Begleitung - invita“ wurden in Zusammenarbeit mit dem Diakoniewerk und dem Land Oberösterreich Unterrichtsmaterialien Einrichtung bietet für eine ‚Kultursensible Betreuung’ spezialisierte Betreuungs-, erstellt. Förderungs- Die und Beschäftigungsangebote für Menschen mit den unterschiedlichsten psychischen Erkrankungen und Leistungsminderungen. -Mit einer Zunahme um ca. 25 % auf 427 PatientInnen erlangt das Arbeitsfeld „Mobiles Hospiz – Palliative Care“ immer größere Bedeutung und ist in sechs Bezirken tätig. Patienten kommen in diesem Bereich aus allen Altersgruppen. Die jüngste Patientin 2007 war sechs und die Älteste 98 Jahre alt. Betreut werden Menschen mit nicht heilbaren Erkrankungen und deren Familien mit dem Ziel, dass die Erkrankten bis zu ihrem Tod möglichst schmerzfrei und in Würde leben können. Das Arbeitsfeld initiiert auch Trauergruppen. Für das Gebiet Steyr und Steyr Land konnte eine Gruppe neu gegründet werden. Neu ins Leben gerufen wurde für den Großraum Linz die ‚Alltagshilfe’. Sie steht ältern Mitmenschen bei der Bewältigung des täglichen Lebens (Behördengänge, Einkäufe u.ä.) zur Seite. -Im Tätigkeitsfeld „Seniorenwohnen“ wurden in vier ‚Seniorenwohnhäuseren’ 317 ältere Menschen von 267 MitarbeiterInnen betreut. Wie der Geschäftsführer des Bereiches „Caritas für Betreuung und Pflege“ betont, ist dieser Bereich das derzeit am stärksten wachsende Arbeitsfeld der Caritas in Oberösterreich und spiegelt damit die zunehmende Bedeutung der Altenarbeit in unserer Gesellschaft wider. Im Sinne von Erika Heusler 154 geht es aus biblisch-theologischer Sichtweise nicht nur um die möglichst gleiche Behandlung Betroffener, sondern ganz wesentlich auch um 154 Vgl., Heusler, Erika, Gerechtigkeit und Parteilichkeit. Theologische Perspektiven in der Pflege, in: Krockauer, Rainer / Bohlen, Stephanie / Lehner, Markus (Hg.), Theologie und soziale Arbeit. Handbuch für Studium, Weiterbildung und Beruf, München 2006, 188. 87 Beziehung (Empathie) und Parteinahme mit ihnen, aber auch um Parteinahme für die Pflegenden selbst. 4.2.3 Bereich: Caritas für Kinder und Jugendliche 155 Dieser Schwerpunkt umfasst die Bereiche der pädagogischen Beratung plus Service, Heilpädagogik, junges Wohnen, Logopädie, Sozialpädagogik, Kindertageseinrichtungen und den Verlag ‚Unsere Kinder’. -Der Bereich der „Kindertageseinrichtungen“ ist zweigeteilt in die caritaseigenen und in die kirchlichen (pfarrlichen) Einrichtungen. Die elf caritaseigenen ‚Krippen, Kindergärten und Horte’ wurden 2007 von 530 Kindern genützt. In Riedau wurde ein Hort neu eröffnet. Der Kindergarten Eferding erfuhr eine Ausweitung um eine alterserweiterte Gruppe. Im kirchlich-pfarrlichen Umfeld wurden 220 ,Kindertageseinrichtungen’ mit rund 16.000 Kindern geführt. Für die dort beschäftigten 1.100 Pädagoginnen und 1.050 Hilfskräfte wurde von der Caritas für Kinder und Jugendliche neben der fachlichen Beratung auch die Lohnverrechnung durchgeführt. In diesen 220 Kindergärten wurden 82 Gruppen als alterserweiterte Gruppen für Kinder unter drei Jahren oder für Schulkinder geführt. -Im Sinne eines neuen Kinderbetreuungsgesetzes wurde im Arbeitsgebiet der „Pädagogischen Beratung und Service“ die ‚Mobile Integrationsberatung’ eingeführt. In Krabbelstuben wurden erstmals Integrationskinder mitbetreut und mit der zuständigen Stelle bei der Oberösterreichischen Landesregierung konnte ein Handbuch für die Integration betroffener Kinder in oberösterreichischen Kindergärten und Horten erarbeitet werden. 155 Vgl., Caritas Oberösterreich, Bewegt. Für Menschen, aktueller, unveröffentlichter Folder mit Organigramm und Tätigkeitsbeschreibung des Mediendienstes der Caritas und die Jahresschrift 2008 mit dem Jahresrückblick 2007, Linz 2008. . 88 -Das Arbeitsfeld der „Sozialpädagogik“ bezieht sich auf das ‚Sozialpädagogische Zentrum in Steyr/Gleink’. In dieser Einrichtung werden männliche Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 18 Jahre betreut. 2007 konnte der Umbau der Turnhalle abgeschlossen und die Sanierung von zwei Gruppenräumen begonnen werden. -Der Bereich des „Jungen Wohnens“ umfasste das Schülerheim ‚Guter Hirte’ mit 180 SchülerInnen und StudentInnen und mehrere Wohngemeinschaften mit 85 BewohnerInnen. Beide Wohnformen waren fast ganzjährig voll ausgelastet. Jugendlichen und jungen Erwachsenen werden gemeinschaftliche Wohnmöglichkeiten im Zentrum von Linz geboten. -Im Schwerpunkt der „Logopädie“ wurden in Reihenuntersuchungen 3.912 Kinder auf Sprachauffälligkeiten regelmäßige Therapie für getestet. Bei 459 Kindern wurde eine notwendig erachtet und übernommen. Die Untersuchungen werden von mobilen Logopädinnen in den kirchlichen Kindergärten in Oberösterreich vorgenommen. -Vom „Verlag Unsere Kinder“ wurde ein neues Sprachbuch mit dem Titel: ‚Sprechen lernen, Sprache finden’ herausgegeben. Die ebenfalls vom Verlag herausgegebene Fachzeitschrift ‚Unsere Kinder’ ist Österreich weit die Fachzeitschrift schlechthin für Kindergarten- und Kleinkindpädagogik. Hans Hobelsberger156 stellt fest, dass die katholische Kirche in ihrer Jugendarbeit eine Vielzahl von Leistungen der gesetzlichen Jugendhilfe abdeckt. In diesem traditionellen kirchlichen Bemühen um junge Menschen tritt dabei ein eigenes Verständnis von Jugendarbeit zu Tage, das sich nicht nur in theologischen Begriffen, sonder auch in entsprechenden zusätzlichen Akzentsetzungen in der Praxis ausdrückt. Es geht der 156 Vgl., Hobelsberger, Hans, Leben und Engagement. Theologische Perspektiven in der Jugendarbeit, in: Krockauer, Rainer / Bohlen, Stephanie / Lehner, Markus (Hg.), Theologie und soziale Arbeit. Handbuch für Studium, Weiterbildung und Beruf, München 2006, 147. 89 Kirche dabei nicht um Abgrenzungen, sonder um eigene, theologisch verantwortete Qualitätsstandards. 4.2.4 Bereich: Caritas für Menschen mit Behinderung157 Dieses Tätigkeitsfeld umfasst die Bereiche von Ausbildung und Arbeit, Kinder und Familien, eine Lehranstalt für heilpädagogische Berufe, spezielle Dienste und das Wohnen von Behinderten. Kernaufgabe ist die Förderung von Integration für Menschen mit Beeinträchtigungen. -Im Schwerpunkt „Ausbildung und Arbeit“ werden Kooperationen mit verschiedenen Betrieben eingegangen, um Jugendlichen mit Beeinträchtigung Ausbildungs- und Arbeitschancen zu geben. Im Jahr 2007 gelangen solche Kooperationen mit dem bauMax Kleinmünchen, dem Voest-Recyclingcenter und der Stadtgemeinde Leonding. Im Zentrum für Hör- und Sehbehinderung wurde ein neues Berufsbild für die Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann geschaffen und angeboten. -Das ‚Kinderhotel in St. Isidor’, im Bereich von „Kinder und Familien“, stand an den Wochenenden für Kinder und Jugendliche mit und ohne Beeinträchtigung für Begegnungen offen und wurde dafür mit dem Familienoskar des Landes Oberösterreich ausgezeichnet. ‚Meander’ nennt sich ein Gesundheitsförderungsprojekt für Angehörige von Menschen mit Beeinträchtigungen, das vom zuständigen Bundesministerium als Familienberatungsstelle anerkannt wurde. -In den Bereich der „Speziellen Dienste“ sind sportliche und kulturelle Aktivitäten einzuordnen. Die von St. Pius in Steegen/Peuerbach organisierten und durchgeführten ‚10. Österreichischen Staatsmeisterschaften im Stocksport für 157 Vgl., Caritas Oberösterreich, Bewegt. Für Menschen, aktueller, unveröffentlichter Folder mit Organigramm und Tätigkeitsbeschreibung des Mediendienstes der Caritas und die Jahresschrift 2008 mit dem Jahresrückblick 2007, Linz 2008. 90 Special Olypics’ konnten auf ein Teilnehmerfeld von 180 SportlerInnen mit Beeinträchtigung aus ganz Österreich verweisen. Mit einer Gold-, einer Silberund sechs Bronzemedaillen haben die oberösterreichischen Teilnehmer aus St. Pius sehr erfolgreich abgeschnitten. Ein Teilnehmer aus St. Pius (Markus Allersdorfer) kam mit einer Goldmedaille im 50-m-Freistilschwimmen von den Special-Olympics-Weltsommerspielen in Shanghai zurück. Den Literaturpreis ‚Ohrenschmaus’ für Menschen mit Behinderung erhielt Klaus Lackinger, ebenfalls ein Bewohner von St. Pius. Werke verschiedenster KünstlerInnen aus St. Pius schmückten im Herbst 2007 die Wände des Bundesparlamentes in Wien. Mit einem ‚Kids Charity Day’, einem ‚Golfturnier’ und einer ‚integrativen Kindermodenschau’ wurden Beeinträchtigte selbst zu Akteuren von Veranstaltungen, deren Erlös sozialen Zwecken zufloss. Ulf Liedke158 sieht in der derzeitigen Form der Behindertenhilfe einen sich vollziehenden Paradigmenwechsel von der reinen Betreuung hin zu Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Integration. Dieser Wandel entspricht dem Verständniswandel von Behinderung in den biblischen Texten, wo Behinderung als Strafe für Sünden gesehen wurde, hin zur Überzeugung, dass Gott an der Seite der Behinderten steht und an ihrer Lebenssituation teilnimmt. Behinderte sind aus dieser Sichtweise Teil der guten Schöpfung Gottes. Auf Basis solchen Denkens hat die Gesellschaft für geeignete Rahmenbedingungen zu sorgen, in denen behinderte Menschen lernen, ihre Stärken zu entdecken und eigene Kompetenzen zu entwickeln. In einem derartigen Umfeld können sich die Betroffenen als von Gott (und den Menschen) angenommen, gesellschaftlich integriert und selbst bestimmt handelnd, empfinden. 158 Vgl., Liedke, Ulf, Gottebenbildlichkeit und Kompetenz. Theologische Perspektiven in der Behindertenhilfe, in: Krockauer, Rainer / Bohlen, Stephanie / Lehner, Markus (Hg.), Theologie und soziale Arbeit. Handbuch für Studium, Weiterbildung und Beruf, München 2006, 195. 91 4.2.5 Solidarisches Handeln von Raiffeisenkassen und Caritas in Oberösterreich Gemeinsamkeiten und Unterschiede Als grundsätzliche Gemeinsamkeit beider Organisationen kann schlechthin „der Mensch“, dessen sittliche, wirtschaftliche, persönliche, gesellschaftliche und solidarisch-soziale Entwicklung, als Betätigungsfeld und Ziel der Arbeit gesehen werden. Während „der Mensch“ im genossenschaftlichen Bankwesen (im Sinne gesetzlicher und satzungsmäßiger Rahmenbedingungen) definiert wird als Mitglied, als Funktionär, als Mitarbeiter und als Kunde und solidarisch-soziales Handeln daher gruppenspezifisch auf diese Gruppen zielt, bezieht sich „der Mensch“ aus Sicht der Caritas (und ihres aus dem Evangelium abgeleiteten Auftrages) auf alle Menschen. Auf alle Menschen heißt hier, alle Individuen und alle Nationalitäten, ohne Unterschied von Hautfarbe, Rasse, Geschlecht, Weltanschauung und Religion. Entscheidend für das Handeln der Caritas ist die aktuelle, prekäre Situation des/der betroffenen Menschen, gleichgültig, ob diese Situation unverschuldet oder selbstverschuldet eingetreten ist. Im wirtschaftlichen Bereich heißt das, pointiert gesagt: Caritasarbeit kommt (auch) dort zum Tragen, wo den Banken generell – und damit auch den Raiffeisenbanken - die Hände gebunden sind. Wie aber können beide Organisationen in das heutige Denken der Menschen, wie sie im Ergebnis der deutschen Shell-Studie 2006 (sieh Kap. 3.2.1) und der österreichischen Jugend-Werte-Studie 2006/07 (siehe Kap. 3.2.2) zum Ausdruck kommt, eingeordnet werden: Grundsätzlich ist festzuhalten, dass sich beide Organisationen in ihrer täglichen Arbeit überwiegend im Bereich der Angebotssolidarität bewegen. Ihre Klienten haben das eigene, individuelle Glücksstreben im Auge. Für die Bankklientel generell, damit auch jenes der Raiffeisen-Bankengruppe in Oberösterreich, steht die Hebung des eigenen Wohlstandes im Vordergrund. Es erwartet sich seriöse Beratungs- und Problemlösungskompetenz für die eigenen Anliegen. Mit entsprechenden, auf Nachhaltigkeit zugeschnittenen Beratungsleistungen und adäquaten 92 Produkten im Veranlagungs-, Finanzierungs- und Dienstleistungsbereich versuchen die Raiffeisenbanken dieser Erwartungshaltung gerecht zu werden. Ein wesentliches Ziel dieser Bemühungen liegt darin, gemeinsam mit dem Kunden einen wirtschaftlichen Weg zu gehen, der dessen finanziellen Spielraum zusehends vergrößert und ihn damit von caritativen Unterstützungsleistungen unabhängig macht – im Gegenteil, ihn in die Lage versetzt, selbst caritativ tätig zu sein. Ob und wie er das tut, bleibt allerdings seiner eigenen altruistischen Einstellung überlassen. Hinsichtlich der Grenzen (Reichweite), in denen sich eine Raiffeisenbank mit ihren Aktivitäten bewegt, ist im Wesentlichen das eigene Einzugsgebiet (Gemeinde) definiert. So gesehen bewegt sie sich im Rahmen einer, in der österreichischen Jugendwertestudie als Mikrosolidarität bezeichneten Reichweite. Für überregionale Aktivitäten (Bundesland, Bundesgebiet, International), in der Studie als Mesosolidarität beschrieben, sind die Landeszentralen und die Bundeszentrale (z.B.: Raiffeisen-Landesbank Oberösterreich, Raiffeisen-Zentralbank Österreich) zuständig. Weitgehend anders gelagert ist das Tätigkeitsfeld der Caritas. Beim individuellen Glücksstreben von deren Klientel geht es nicht um Wohlstandshebung, sondern in den meisten Fällen um die Bereitstellung der minimalen Lebens- und Überlebensgrundlagen von Menschen, denen diese Grundlagen entweder nie zur Verfügung gestanden sind, oder aber die ihrer durch Fremdverschulden, eigenes Fehlverhalten oder Naturkatastrophen verlustig geworden sind. Denkt man das Tätigkeitsgebiet der Caritas in Oberösterreich in den Kategorien der oben erwähnten Studien, dann sind die Caritasaktivitäten auf der Ebene von Pfarren in die Kategorie der Mikrosolidarität einzuordnen. Die vielen anderen, von der Diözesancaritas initierten, organisierten und von dort aus gesteuerten Aktivitäten, einschließlich (erweiterten) Mesosolidarität zuzuordnen. internationaler Einsätze, wären einer 93 5 Resümee und weiterführende Perspektiven 5.1 Zusammenfassendes Resümee Die Gründungsmotivation beider Organisationen geht eindeutig auf biblische Ursprünge zurück, die von beherzten Personen, die Not der Menschen der jeweiligen Zeit erkennend, in konkretes Handeln umgesetzt wurden. Dieses Handeln war – und ist bis heute – den konkreten Situationen und damit ständigen Veränderungsnotwendigkeiten angepasst. Während sich die Raiffeisenkassen, Rahmenbedingungen jener Länder, eingegliedert in die gesetzlichen in denen sie tätig sind, zu modernen Dienstleistungsunternehmen entwickelt haben, liegt die Modernität der Caritas in unserer hoch entwickelten Wohlstandsgesellschaft im Erkennen und im Mildern (oder auch Beseitigen) der trotz allem nach wie vor vorhandenen, vielfältigen Not von Menschen und Menschengruppen, die der gesellschaftlichen Entwicklung, aus welchen Gründen auch immer, nicht folgen konnten. Beide Organisationen haben ihr Ohr bei den Menschen. Sie erfüllen damit für die Gesellschaft den wertvollen Aufgabenbereich des rechtzeitigen Erkennens von Problemen und Fehlentwicklungen, die sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten in die Beratung gesetzgebender Einrichtungen einfließen lassen. Im Blick auf die Entstehung und Entwicklung von Genossenschaftsbanken nach dem System Raiffeisen und im Besonderen auch der Caritas, lassen sich in dieser zusammenfassenden Sichtweise die im Vorwort artikulierten Kritikpunkte an beiden Einrichtungen klar widerlegen: Stünde Friedrich Wilhelm Raiffeisen heute vor einer Gründersituation, dann würde er – sein damaliges nachhaltiges Denken und Handeln zugrunde gelegt – die Gründung mit den heute zur Verfügung stehenden technischen und organisatorischen (modernen) 94 Mitteln betreiben. Eine Gründung im Denken der Mitte des 19. Jahrhunderts würde heute auf Unverständnis stoßen und nicht angenommen werden. So gesehen war die ständige Weiterentwicklung des genossenschaftlichen Bankensektors ein Gebot der jeweiligen Zeit. Caritas beruft sich auch heute noch – und das zu Recht – auf die Perikope vom „Barmherzigen Samariter“ im Lukasevangelium (Lk 10,25-37), in der neben den in der Nachfolge Jesu Stehenden (die heutigen Christen), alle Menschen angesprochen sind. Diesen Auftrag Jesu zu erfüllen gilt daher allen Menschen, gleichgültig ob dieser Auftrag unter dem biblischen Liebesgebot (Doppelgebot), oder in der Verwirklichung des Solidaritätsgedankens gesehen wird. Der Vorwurf reiner Geldsammlerei geht daher ins Leere. Wie weit zur Beseitigung dieser unhaltbaren Vorwürfe Marketingfachleute heranzuziehen sind, bleibt entsprechenden Überlegungen der Verantwortlichen beider Organisationen vorbehalten. 5.2 Weiterführende Perspektiven Dieser Abschnitt bildet den zukunftsgerichteten Abschluss meiner Diplomarbeit. Dazu habe ich hinsichtlich der Caritasarbeit am 20. November 2008 ein Interview mit dem geistlichen Leiter der Caritas der Diözese Linz, Ernst Bräuer, mit zwei konkreten Fragestellungen geführt, das ich nachstehend sinngemäß (und mit Zustimmung des Interviewpartners) wiedergebe: Frage 1) Welche neuen Betätigungsfelder hat die Diözesancaritas unmittelbar vor bzw. sind schon im Anlaufstadium: 95 Antwort Ernst Bräuer: „Im Inlandsbereich gehe ich davon aus, dass die Caritas in der Bevölkerung einen hohen Vertrauensbonus genießt und von da her gesehen nach wie vor prädestiniert ist, als Nothilfeorganisation bei Katastrophenfällen regional und überregional, aber auch in Einzelfällen, zur Verfügung zu stehen. Darüber hinaus geht es auch darum, in Beratungsgesprächen gemeinsam mit den Betroffenen nach gangbaren Lösungen zu suchen und Seismograph für Fehlentwicklungen zu sein (derzeit aktuelles Beispiel: Anstieg der Miet- und Heizkosten um rund 36 %, wovon überwiegend Alleinerziehende empfindlich betroffen sind). Im Sinne von: Anwaltschaft Notleidender zu sein – nahe an der Not dran zu sein, soll die begonnene Regionalisierung der Caritasarbeit, angelehnt an die Struktur der öffentlichen Sozialhilfeverbände, weiter voran getrieben werden. Neben dieser Zielsetzung soll es auch Aufgabe dieser Regionalisierung sein, Caritas als intelligente Nächstenliebe zu positionieren. In diese Richtung von Hilfestellung einerseits und Imagepflege andererseits, ist auch die ‚Young Caritas’, bekannt geworden durch die Aktion ‚72 Stunden ohne Kompromiss’ und das Projekt ‚Laufwunder’ von Schülern und Schulklassen zu sehen. Jugendliche arbeiten 72 Stunden spontan und kostenlos an vorher nicht bekannten Sozialprojekten bzw. Schüler und ganze Schulklassen laufen bestimmte Strecken, deren Kilometerleistung von Eltern, Verwandten, Bekannten oder Firmen mit bestimmten Beträgen gesponsert wird und Sozialprojekten zu gute kommt.“ Die Weiterführung dieser Aktivitäten ist uns auch in den nächsten Jahren ein großes Anliegen.“ Frage 2) Welche Visionen hat die Diözesancaritas für die mittlere bzw. weitere Zukunft: Antwort Ernst Bräuer: „Im Rahmen der Auslandshilfe sieht es die Caritas als ein sinnvolles Projekt, in Zukunft weniger mit staatlichen, dafür aber mehr mit kirchlichen Stellen zusammen zu arbeiten. Hier könnten Kooperationen mit Partnerdiözesen, vorerst aus dem ehemaligen Ostblock (Serbien, Bosnien), aber auch im Kongo, angestrebt werden. Zielgruppe wirtschaftlicher Hilfe in diesen Gebieten sollten vorwiegend Frauen sein. Von ihnen (als Mütter) ist am ehesten zu erwarten, dass positive Effekte an die Kinder übergehen und damit eine entsprechende Nachhaltigkeit erreicht wird. Die Hilfestellung könnte in der Organisation von Mikrokrediten bestehen. Dafür bedürfte es allerdings der Mithilfe inländischer (österreichischer) Banken bzw. Bankensektoren, um an entsprechende Refinanzierungsmittel zu kommen.“ 96 Im Weiterdenken der Antwort von Ernst Bräuer auf die zweite Fragestellung sehe ich eine sehr gute und zielführende Kooperationsmöglichkeit zwischen der Caritas der Diözese Linz und der Raiffeisen-Bankengruppe Oberösterreich im Sinne und in Anlehnung an die Aktivitäten des Friedensnobelpreisträgers (Verleihung 2006) Muhammad Yunus aus Bangladesch.159 Der 1940 geborene Muhammad Yunus war Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Chittagong in Bangladesch. Geschockt von einer 1974 grassierenden, katastrophalen Hungersnot in seinem Heimatland und vom Unvermögen der von ihm bisher vertretenen traditionellen Volkswirtschaftslehre, Abhilfe zu schaffen, schlug er einen völlig neuen Weg ein. In einer von ihm inszenierten Befragung Betroffener eruierte er, dass pro Person der (lächerliche) Betrag von 27 US-Dollar notwendig wäre, um sich Rohstoffe für ihre Arbeit zu beschaffen und sie damit aus einem Teufelskreis von Zwischenhändlern und Geldverleihern zu Wucherzinsen zu befreien (frappierende Ähnlichkeit zur Gründerzeit F.W. Raiffeisens). Er verlieh an 42 Personen persönlich diese 27 Dollar mit der Auflage, dass die Rückzahlung erfolgen sollte, sobald diese dazu in der Lage wären. Das funktionierte – damit war der Grundstein für den Aufbau einer „Bank für die Armen“, der späteren „Grameen Bank“ (Dorf-Bank) gelegt.160 Yunus widmete sich intensiv diesem revolutionären Konzept nach dem Motto: „Einfach genau das Gegenteil tun“ (von dem, wie etablierte Banken arbeiten).161 Seine dabei entscheidende Erkenntnis war das Faktum, dass arme Menschen über keinerlei „dingliche Sicherheiten“ (Gebäude, Sachwerte) verfügen, die sie für den Fall der Uneinbringlichkeit des Kleinkredites anbieten können. Allerdings – und das sah Yunus als die viel bessere Sicherheit: „ihren schicksalserprobten Überlebenswillen. Für diese Menschen ist ein Kredit die vermutlich einzige Chance, die sie je in ihrem Leben erhalten, um aus eigener Kraft einer ansonsten hoffnungslosen Situation zu entkommen.“162 159 Vgl., Spiegel, Peter, Muhammad Yunus – Banker der Armen. Der Friedensnobelpreisträger. Sein Leben. Seine Vision. Seine Wirkung, Freiburg im Breisgau 32006. 160 Vgl., ebd., 21-27. 161 Vgl., ebd., 7. 162 Ebd., 29. 97 Ganz bewusst konzentrierte sich Yunus mit seiner Grameen Bank nicht auf die Armen, sondern auf die Allerärmsten in der Überzeugung, dass diese eine nur auf sie zugeschnittene Bank am nötigsten haben. Dazu kam eine weitere überraschende Erfahrung, die er immer wieder bestätigt sah: „Je weniger Sicherheiten jemand vorzuweisen hatte, desto sicherer und pünktlicher zahlte er seinen Kredit zurück.“163 Er agiert also ganz bewusst entgegen dem Sicherheitsdenken normaler Banken, ja „pervertiert“ diesen geradezu, in dem einen Kleinkredit nur jemand erhält, der nachweislich über keine Sicherheiten verfügt.164 Ein weiterer, ganz wesentlicher Sicherheitsfaktor und damit verantwortlich für die hohe Rückzahlungsquote von über 99 %, ist das Geschlecht der Kreditnehmer. Sie rekrutieren sich zu 94 % aus Frauen und das aus der Erfahrung heraus, dass Frauen auf knapp 100 % Rückzahlungsquote, Männer aber nur auf eine solche von 85 % kommen. Daraus resultiert die Tatsache, dass der Vorstand der Grameen Bank von Frauen dominiert wird. Dazu Muhammad Yunus: „Sobald die Frauen auch nur die allerbescheidenste Möglichkeit erkennen, sich aus der Armut zu befreien, erweisen sie sich als kämpferischer als die Männer.“165 Und: „Wir haben festgestellt, dass die im Elend lebenden Frauen sich besser und schneller an den Prozess der Selbsthilfe anpassen als die Männer. Außerdem sind sie aufmerksamer, sind intensiver darum bemüht, die Zukunft ihrer Kinder sicherzustellen, und zeigen eine größere Beständigkeit bei der Arbeit.“166 163 Spiegel, Peter, Muhammad Yunus – Banker der Armen. Der Friedensnobelpreisträger. Sein Leben. Seine Vision. Seine Wirkung, Freiburg im Breisgau 32006, 31. 164 Vgl., ebd., 31. 165 Ebd., 34. 166 Ebd., 34. 98 Es ist nicht Aufgabe dieser Diplomarbeit, jedes Detail der Arbeitsweise der Grameen Bank wiederzugeben. Es geht mir eher um einen Einblick in die Philosophie und in die Denkweise des Gründers, um auf dieser Basis eine sinnvolle und nachhaltig fruchtbringende Kooperation zwischen Caritas und der Raiffeisen-Bankengruppe anzuregen. Ausgehend von der Annahme, dass die vor Ort tätige Caritas die Verhältnisse und die in Frage kommenden Personen und Personengruppen in Ländern der Dritten Welt (oder auch in ehemaligen Ostblockländern) beurteilen kann, wäre gerade der Raiffeisen-Sektor als genossenschaftliche Bankengruppe prädestiniert dafür, langfristige Refinanzierungsmittel zu - diesen Ländern angepassten Konditionen - zur Verfügung zustellen. Neben der langfristigen Sicherung der Lebensgrundlagen und der Wiederherstellung der Menschenwürde für die Betroffenen, könnten sich durchaus auch ebenso langfristige und faire Geschäftsbeziehungen zu diesen Ländern entwickeln. Eine solche Handlungsweise wäre auch im Sinne der Verantwortung christlicher Kirchen wie sie im „Sozialwort des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich“ definiert ist: „(14) Ausgehend von der Weltzuwendung Gottes wissen sich die Kirchen in besonderer Weise an die Seite der Armen und Ausgestoßenen gestellt. Sie betrachten die Wirklichkeit von Welt und Gesellschaft aus der Perspektive des Evangeliums. Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt Armen und Menschen am Rande der Gesellschaft. Hilfe für Hungernde, Fremde und Obdachlose, für Kranke und Gefangene ist für Jesus unerlässliche Voraussetzung für eine geglückte Gottesbeziehung.“167 Beide Organisationen würden damit aber auch einen weiteren Baustein im Sinne ihrer biblischen Gründungs- und Handlungsmotivation (Mt 25,40 im Rahmen des Gleichnisses vom Weltgericht für F.W. Raiffeisen – siehe Kapitel 1.2.2 und Lk 10,2537 im Rahmen des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter für die Caritas – siehe Kapitel 1.3.1), im Sinne einer gerechteren Welt und damit auch im Sinne der Verwirklichung des Reiches Gottes, setzen. 167 Ökumenischer Rat der Kirchen in Österreich (Hg.), Sozialwort des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich, Wien 2003, 15. 99 6 Literaturverzeichnis Braumann, Franz, Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Eine Idee erobert die Welt, Salzburg 1985. Brüls, Karl-Heinz, Die Katholiken und die Sozialgesetzgebung im 19. Jahrhundert, in: Mockenhaupt, Hubert (Hg.), Gesellschaftspolitische Impulse. Das soziale Seminar. 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Jänner 1943 / Linz Staatsbürgerschaft: Österreich Religionsbekenntnis: Römisch – katholisch Familienstand: Verheiratet, zwei Töchter, fünf Enkelkinder Familie: Vater: Franz Paungartner (gefallen im 2.Weltkrieg) Mutter: Maria Opitz (verstorben 2006) Geschwister: Ilse (1944) Schulbildung: 1949 – 1953 Volksschule Baumgartenberg 1953 – 1957 Hauptschule Perg Berufliche Tätigkeiten: 1957 – 1961 Tischlerlehre mit Lehrabschluß / Tischler 1961 – 1966 Post- und Telegraphenverwaltung für Oberösterreich und Salzburg, Vertragsbediensteter 1966 – 2003 Kassenleiter / Geschäftsleiter der Raiffeisenkasse Baumgartenberg, ab 1990 Geschäftsleiter der Raiffeisenbank Perg Studium: Seit dem Herbstsemester 2003 Studium „Katholische Theologie – Studienrichtung Fachtheologie“.