My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote
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My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote
Fallstudien zum Buch Mass Customization und Kundenintegration: Neue Wege zum innovativen Produkt, von Frank Piller und Christof Stotko (Hg.), erschienen im Symposion Verlag, Düsseldorf. Erste Auflage 2003. Erweiterte Auflage 2006. Das Buch ist im Buchhandel vergriffen, aber weiterhin über amazon.de bestellbar!! ISBN 3-93660-8059 Diese Fallstudiensammlung ist rein für den persönlichen Gebrauch bestimmt. Weitergabe und Vervielfältigung sind nicht gestattet. www.mass-customization.de My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote Dank neuartiger Möglichkeiten der digitalen Übertragung, Speicherung und Verarbeitung von Daten hat sich die Medienbranche erheblich verändert. Dazu zählt vor allem auch die Entwicklung von personalisierten Angeboten im Bereich der Fernsehunterhaltung. Stichworte: Mass Customized TV, My personal Channel, Digital Video Broadcasting, Personal Video Recorder, Electronic Program Guides, interaktive Fernsehdienste, MultimediaHome-Platform, Video-on-Demand, Pay-per-View, Bundling, Pay-TV-Gebühren 2120.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Sebastian Hafenbrädl, Melanie Müller Konvergenz von Medien und Informationstechnologie Durch die rasante Entwicklung der Technik bei der Übertragung, Speicherung und Verarbeitung von Daten hat die Medienbranche in den letzten Jahren weitreichende Veränderungen erlebt. Zentrales Thema ist die Konvergenz von Medien und Informationstechnologie (IT), von Fernsehen, Internet und digitaler Speichertechnik, von Kabel- und Telefonanschluss, von Broadcasting, DFÜ-Netzwerken und Mobilfunk. Jüngstes Beispiel hierfür ist das Vorhaben von Kabel Deutschland, dem mit 10 Millionen Kunden größten Kabelnetzbetreiber in Deutschland, seinen Kunden einen Internet- und Telefonanschluss über das TV-Kabel anzubieten. Bis Ende 2005 sollen bereits drei Millionen Kabelkunden das Angebot nutzen können. Erstmals müssen die Telekom-Gesellschaften einen ernsthaften Angriff der Kabelnetz- My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote Land Deutschland Anschrift T-Online International AG, Waldstr. 3, 64331 Weiterstadt Telefon +49 / 61 51 / 6 80-0 Internet Adresse http://www.t-online-vision.de E-Mail [email protected] Launch des Services 15. März 2002 Branche Entertainment Produkt Individuelles Fernsehen Bezug zu Kapitel 4.5 Formen der Kundenintegration 5.1 Produkt- und Leistungsgestaltung betreiber fürchten. Grund hierfür ist auch der Preis für das Angebot: Kabel Deutschland verlangt für einen Breitband- und Telefonanschluss sowie Internet-Flatrate knapp 30 Euro. [1] Spannend ist in diesem Zusammenhang auch die Entwicklung von kundenindividuellen Angeboten im Bereich der Fernsehunterhaltung. Dabei geht es um das, was der einzelne Kunde tatsächlich aus dem Fernsehen konsumiert: die individuelle, personalisierte Fernsehunterhaltung, der »My personal Channel«. Dieses Thema bildet den Inhalt der folgenden Fallstudie. 2120.01.01 – © Symposion Publishing 2006 5.2 Prozessgestaltung: Aufbau des Interaktionssystems My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote Veränderte Wettbewerbsbedingungen durch technische Innovationen 2120.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Digitalisierung der Fernsehübertragung Eine wesentliche Entwicklung, die in diesem Zusammenhang relevant erscheint, ist die Digitalisierung der Fernsehübertragung. Bis zum Jahr 2010 plant die Bundesregierung alle Arten der Fernsehübertragung (Kabel, Satellit, Terrestrisch) auf Digital Video Broadcasting (DVB) umzustellen. In einigen Ballungszentren und Regionen wird bereits heute digital gesendet, beispielsweise im Ballungszentrum Berlin/Potsdam. DVB bewirkt Verbesserungen bei Übertragungsqualität und Bandbreitenausnutzung durch MPEG2-Codierung und digitale Modulationsverfahren. Dank Datenreduktion lassen sich die Übertragungskapazitäten von Kabel und Satellit effektiver nutzen: So können anstelle eines analogen Kanals nun bis zu zehn digitale Kanäle parallel übertragen werden. [2] Bessere Bild- und Tonqualität und die Möglichkeit zur Verbreitung von mehr Programmen sind die Folge. Die Angebotsvielfalt steigt grundsätzlich und damit die Chance für den Konsumenten, eine für ihn ideale individuelle Auswahl zu treffen. Viele neue TV-Apparate und Computer verfügen bereits über einen integrierten DVB-T-Empfänger. Ältere Fernsehgeräte können das digitale Signal allerdings nicht verarbeiten; in diesem Fall wird eine so genannte Settop Box (»Obendraufkiste«) benötigt, die die digitalen Daten in Audio- und Videosignale übersetzt. Das Angebot an verfügbaren Geräten ist in den letzten beiden Jahren immens gestiegen und heute gibt es Settop Boxen bereits in den unterschiedlichsten Ausführungen und Preisklassen. [3] Die Digitalisierung der Fernsehübertragung bewirkt damit insgesamt, dass neue, innovative Geräte und Techniken bis zum Jahr 2010 in den meisten Haushalten zu finden sein werden. Praktischer, aber auch teurer, als die einfachen Empfänger sind DVB-T-Empfänger mit integrierter Festplatte. Diese Kombination von Digitalempfängern und Personal Video Recorder (PVR), einem digitalen Videorekorder mit großer Speicherkapazität, gilt als wichtigster Ausstattungstrend im Zusammenhang mit dem digitalen Fernsehen. [4] Die kombinierten Geräte zeichnen das Programm digital auf und ermöglichen damit auch zeitversetztes Fernsehen: Während die Sendung noch aufgenommen wird, kann man zurück zum Anfang oder beliebigen anderen aufgezeichneten Abschnitten springen. Viele Zuschauer nutzen die Time-Shift-Funktion vor allem, um lästige Werbeunterbrechungen zu überspringen. [3] Dies zeigt beispielsweise auch eine Untersuchung der Yankee Group. Das Unternehmen fand heraus, dass 4/5 aller PVR-Haushalte die Abendsendung erst später einschalten, um dann 2/3 der Werbeblöcke zu überspringen. [5] Neben dem umfangreichen Speicherplatz liegen die großen Vorteile der digitalen Videotechnik damit in den flexiblen Abspiel- und Aufnahmemöglichkeiten. Darüber hinaus kann der PVR oft noch weitergehend in die IT-Welt integriert sein, etwa durch Vernetzung mit dem Internet oder dem PC im Heimnetzwerk, was wesentlich zur Konvergenz von IT und Medien beiträgt. Durch weltweiten Zugriff über das Internet lassen sich die Geräte auch außerhalb des Wohnzimmers steuern. Manche Geräte verfügen beispielsweise auch über integrierte DVD-Brenner. Integrierte Electronic Program Guides (EPGs) runden das Angebot ab: Damit können Kunden das Programm nach Kriterien wie inhaltlichen Beschreibungen, Schlüsselwörtern oder Anfangszeiten bequem durchsuchen und sich damit auf einfache Art und Weise ihr Programm zusammenstellen. Mit Hilfe von EPGs kann man beispielsweise anhand des Sendeplatzes programmieren, dass ab sofort jede Folge des Tatorts aufgezeichnet wird. Derzeit arbeiten bereits einige Verlage an der Entwicklung von umfangreichen EPGs. Einen Schub für den EPG erwartet die Branche nun von der Digitalisierung der Kabelnetze: Die wachsende Zahl von TV-Kanälen lässt sich in den gedruckten Ausgaben kaum abbilden. Außerdem ist das Zappen mit 250 Kanälen weniger attraktiv. [6] Es gibt PVRs, die mit einer Software ausgestattet sind, die die Interessen und Fernsehgewohnheiten 2120.01.01 – © Symposion Publishing 2006 My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote 2120.01.01 – © Symposion Publishing 2006 des Benutzers analysiert und daraus ein persönliches Profil erstellt. Danach wird der Speicher durchlaufend mit einem dem Profil entsprechenden Fernsehprogramm gefüllt, so dass jederzeit, wenn der Fernseher eingeschaltet wird, etwa 160 Stunden (je nach Speicherkapazität) individuelles Programm verfügbar sind. Eine weitere, spannende Innovation sind interaktive Fernsehdienste, die den Multimedia-Home-Platform (MHP)-Standard nutzen (siehe Abb. 1). MHP ist eine einheitliche, offene Software-Schnittstelle für systemübergreifende multimediale Mehrwertdienste. Der Dienst Abb. 1: Mulitmedia-Home-Platform der ARD bietet dem Kunden die Möglichkeit, mit Hilfe des Fernsehgerätes interaktiv zu werden, zum Beispiel Zusatzinformationen zu Produkten in einem Werbeblock abzurufen oder im Internet zu surfen. Das Bayerische Fernsehen bietet Zuschauern über MHP beispielsweise einen personalisierten Nachrichtenticker, das ZDF sendet einen grafisch aufbereiteten »Digitext« mit einer breiten Palette an Diensten und My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote Informationen. Voraussetzung für den Empfang ist eine MHP-fähige Settop-Box. Bisher unterstützen allerdings nur wenige Receiver die neuen Standards. [3] Webcasting Abb. 2: T-Online-Vision Portal 2120.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch das so genannte Webcasting. Durch steigende Bandbreiten und zunehmende Übertragungskapazitäten im Internet erweitern sich die Möglichkeiten hinsichtlich Größe und Übertragungsgeschwindigkeit der angebotenen Informationen. So entstehen zunehmend Portale, die den Besuchern Download- oder Streaming-Angebote für audiovisuelle Medienprodukte anbieten, beispielsweise das T-Online-Vision-Portal (siehe Abb. 2). My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote 2120.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Am 15. März 2002 startete T-Online das Breitband Portal T-Vision (http://www.t-online-vision.de) mit dem Lifestream eines Konzerts der Bands BroSis und No Angels. [7] In Kooperation mit Fujitsu Siemens entwickelte das Unternehmen das »ACTIVY Media Center«, das neben vollen PVR-Funktionalitäten auch das Downloaden aus dem Video-on-Demand-Downloadbereich des Portals integriert. Am 19. März 2004 kam das Gerät auf den Markt. [8] Programmieren lässt sich das Gerät von zu Hause oder unterwegs via Internet über den EPG »TV Programm Plus«, bereitgestellt von T-Online in Kooperation mit tvtv Services. Die Möglichkeit, im Internet zu surfen, Daten wie Bilder, Musik oder Videos vom PC an Stereoanlage und Fernseher weiterzusenden, machen das Gerät zum Mittelpunkt des Wohnzimmers. Durch den integrierten DVDBrenner lassen sich aufgezeichnete Inhalte längerfristig speichern und übertragen. Auch auf der inhaltlichen Seite entwickelt sich das Angebot von T-Online rasant. So hat T-Online inzwischen erweiterte Bun- Abb. 3: T-Vision Portal – Unterseite Video-on-Demand desligarechte, Verträge mit Filmstudios wie Twentieth Century Fox, MGM, Universal und Dreamworks. [9] In der noch weitergehenden Version »direkt +« von Premiere, die am 24.6.2005 gestartet wurde, hält ein speziell programmierter PVR etwa 30 Top Filme schon auf der Festplatte vor, die dann per Internet, Telefon oder SMS freigeschaltet werden können. Einmal wöchentlich wird das Filmangebot aktualisiert. [10] So entfallen lästige Verzögerungen für die Downloadzeiten; der Kunde bezahlt selbstverständlich nur das, was er tatsächlich anschaut. [11] Es gibt eine unglaubliche Vielzahl an weiteren technischen Innovationen, die mehr oder weniger direkt oder indirekt mit dem Medium Film und Fernsehen zu tun haben. Das beginnt mit immer größeren LC- und Plasmadisplays über Nachfolgetechnologien der CD und DVD wie HD-DVD oder BlueRay bis hin zu volldigitalen Filmkameras in High Definition (HD)-Auflösungen und immer schnelleren Rechnern, die immer ausgefallenere digitale Effekte und Animationen ermöglichen. In Hinblick auf neue Möglichkeiten für die Zusammenstellung des persönlichen Fernsehprogramms ist beispielsweise noch die »Fernseh-Fee« zu erwähnen. Dieses Gerät erlaubt es dem Konsumenten, automatisch Werbeblöcke zu überspringen, in dem es auf andere werbefreie Kanäle schaltet und natürlich auch rechtzeitig nach der Werbung wieder zurück. Auch eine Individualisierung des Aufenthaltsortes beziehungsweise des Geräts, mit dem man fernsieht, ist möglich. Über den neuen Übertragungsstandard DVB-H kommen die bewegten Bilder auf die Displays von Handys, Laptops und Handheld-Computern. Veränderungen des Marktes Rund 17 Prozent der deutschen TV-Haushalte nutzen derzeit das digitale Fernsehen. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist Deutschland damit eher rückständig. Beispielsweise sind in Schweden 30 Prozent aller TV-Haushalte digital, in Großbritannien sind es 2120.01.01 – © Symposion Publishing 2006 My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote 2120.01.01 – © Symposion Publishing 2006 My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote sogar 50 Prozent. [12] Neben Deutschland planen auch die meisten anderen EU-Mitgliedstaaten das analoge Fernsehen bis spätestens zum Jahr 2010 abzuschaffen. Die EU-Kommission rät allen anderen Mitgliedstaaten dringend bis zum Jahr 2012 auf den neuen Standard umzustellen. Damit ist der Trend zur Digitalisierung abzusehen und nicht aufhaltbar. Die britische BskyB-Plattform ist das Vorzeigeobjekt eines erfolgreichen digitalen TV-Unternehmens und hat gegenwärtig über 300 Kanäle im Angebot. Auch in Deutschland wird es einen starken Anstieg der Sender geben. Die Belegungsliste des Astra-Satelliten zeigt heute bereits 83 deutschsprachige Free-to-Air-Programme und 40 Abokanäle. Darin sind Pay-per-View- und On-Demand-Angebote noch gar nicht eingerechnet. Die kostengünstige Ausdehnung der Anzahl an Kanälen fördert die Zweit- und Drittverwertung von Programmen, indem auf Genrekanälen selektiv Zielgruppensegmente angesprochen werden. [13] Die PVR-Technologie wurde im März 1999 in den amerikanischen Markt eingeführt; zuerst als eigenständiges Gerät, dann in Kombination mit anderen Geräten wie Sattelitenempfängern. Inzwischen besitzen fast vier Millionen Haushalte in den USA einen PVR; 70 Prozent der Geräte sind Kombinationen. [5] [13] In Deutschland gibt es derzeit bereits ein großes Angebot an PVR-Geräten der verschiedensten Hersteller, wiederum sowohl als eigenständige als auch als kombinierte Geräte, eingebaut im Fernseher, Satellitenreceiver oder der Playstation. Auch im Bereich Video-on-Demand (VoD) gibt es dank der fast flächendeckenden Verbreitung von DSL-Anschlüssen inzwischen einige Anbieter. Internetanbieter wie Arcor oder T-online wollen ihr Geschäftsmodell vom reinen Internetzugangsanbieter zum Contentprovider wandeln. Doch auch reine Contentprovider wie die 4friends Verlags GmbH werben verstärkt mit aggressiven Flatrate-Angeboten um Kunden. Auch die Produzenten der Inhalte planen eine Vorwärtsintegration. So kündigen die Hollywood Studios Universal und Time Warner mit starken technischen Partnern wie Microsoft oder Apple My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote eigene VoD-Angebote an. [14] Die amerikanischen TV-Sender CBS und NBC haben sich ebenfalls gerade entschlossen, ihre erfolgreichsten Programminhalte per Video-on-Demand zur Verfügung zu stellen. [15] »My personal Channel« – Mass Customization im Bereich der Fernsehunterhaltung Bei Mass-Customization-Angeboten kann man grundsätzlich zwischen Soft und Hard Customization unterscheiden. Bei Soft Customization geschieht die Individualisierung nicht durch den Anbieter, sondern auf einer nachgelagerten Stufe der Wertschöpfungskette, zum Beispiel durch den Kunden selbst oder durch einem zwischengeschalteten Dritten (beispielsweise dem Webportal-Betreiber). Bei Hard Customization wird das Produkt schon vom Produzenten selbst individualisiert. Dazu muss er schon bei der Planung der Produktion die Präferenzen der Nachfrager kennen. Darüber hinaus kann man zwischen Einzelprodukt und Produktbündel unterscheiden: Das Anbieten verschiedener Varianten eines Einzelproduktes nennt man Versioning, verschiedener Varianten eines Bündels Bundling. Betrachtet man nun die Fernsehunterhaltungsbranche, kann man folgende Aussagen zu den Individualisierungsoptionen treffen: Produktion und Angebot unterschiedlicher, kundenindividueller Varianten eines Einzelproduktes (Hard Customization), zum Beispiel eines Films, erscheinen nicht wirtschaftlich. Die Individualisierung einzelner Produkte auf nachfolgenden Wertschöpfungsstufen (Soft Customization), zum Beispiel direkt beim Kunden, ist dagegen unproblematisch im Hinblick auf bestimmte Optionen. Der Kunde kann schon immer entscheiden, ob er etwas Bestimmtes sehen will. Außerdem kann er festlegen, wann und wie oft er es sehen will (sofern er es zum Beispiel aufzeichnen kann) sowie die Form, in der er es sehen möchte 10 2120.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Individualisierungsmöglichkeiten My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote (Qualität, Sprache, Untertitel, mit oder ohne Werbeunterbrechungen usw. mit entsprechender Ausstattung). Im Bereich Bundling erhält der Kunde durch die zunehmende Digitalisierung der Fernsehlandschaft ganz neue Möglichkeiten: er kann sich sein Bündel an Medienprodukten nun viel einfacher zusammenstellen als dies früher der Fall war. Auch die Anbieter erhalten durch die neuen Technologien, die zum Beispiel die Bereitstellung von Sendern sehr kostengünstig machen, neue Möglichkeiten. Zu erwähnen ist hier insbesondere das zielgruppenspezifische Bündeln auf bestimmten Spartenkanälen, wie zum Beispiel einzeln abonnierbare Sport-Pay-TV-Kanäle. Der »My personal Channel« wird also Wirklichkeit. Der Kunde erhält sein persönliches, individuelles Medienprogramm, (bisher) jedoch nicht von einem einzelnen Anbieter. Erst das Zusammenspiel von Fernsehkanälen, PVR-Herstellern, Service Providern für EPGs, Onlineplattformen mit Video-on-Demand-Angeboten etc. führt dazu, dass der Kunde seine personalisierte, individuelle Fernsehunterhaltung konsumieren kann. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er auf die einzelnen audiovisuellen Medienprodukte inhaltlich Einfluss nehmen kann. 2120.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Prozesse aus Kundensicht Die beschriebenen Innovationen in der Fernsehunterhaltungsbranche verändern die Prozesse aus Kundensicht wesentlich. War es am Anfang nur einigen Computerbegeisterten vorbehalten, ihren PC als Videorekorder zu benutzen und Videos aus dem Internet herunterzuladen, so wird dies jetzt auch für die breite Masse möglich – und das ohne spezielle PC- oder Fachkenntnisse. Der Kunde genießt heute also den Komfort, sich sein eigenes, individuelles Fernsehprogramm auf einfache Art und Weise zusammenzustellen – sei es mittels PC oder digitaler Fernsehausstattung. 11 My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote Weitere Hilfestellung können Bewertungen von Programminhalten in EPGs sowie Profile geben, die auf Basis des bisher gesehenen Programms oder abgefragter Präferenzen erstellt werden. Denkbar sind außerdem virtuelle Foren, in denen Gleichgesinnte über das Programm diskutieren. [16] Dies könnte nach Hans-Bernd Brosius, Professor für empirische Kommunikationsforschung der LudwigMaximilians-Universität München, zur gesellschaftlichen Integration beitragen: »Die Menschen werden kommunikationsfähig, weil das Fernsehen ihnen gemeinsame Gesprächsthemen liefert.« [17] Auch innerhalb solcher Communities, in denen sich Mitglieder mit ähnlichen Präferenzen zu bestimmten Interessensgebieten austauschen, könnte sich dieser Effekt zeigen. Die Produzenten nutzen hauptsächlich die Reputation, zum Beispiel von Schauspielern und Regisseuren, um die Kunden von ihrem Angebot zu überzeugen. Alternativ wird der Konsument direkt durch den Inhalt des Medienangebots angesprochen, indem Trailer oder Previews eingesetzt werden. [16] Gerade im Video-on-Demand- beziehungsweise Pay-per-View-Bereich sind aber auch neue Bezahlmodelle geeignet, die Unsicherheit des Kunden zu senken. So könnte zum Beispiel das Anschauen der ersten Hälfte eines Films kostenlos sein. Wenn der Film den Kunden überzeugt hat, ist er bestimmt bereit, für die zweite Hälfte des Films zu bezahlen. Tatsächlich kann man feststellen, dass eine Reduktion der Suchkosten erheblich mehr Einfluss auf die tatsächlich genutzte Individualisierung hat als eine Vergrößerung des Angebots. [16] 12 2120.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Wichtig werden nun Funktionen, die die Auswahl und Zusammenstellung der audiovisuellen Medienprodukte verbessern und vereinfachen. Schnell kann die erheblich vergrößerte Auswahlmöglichkeit zu Mass Confusion führen. Das bedeutet, dass der Kunde durch die komplexere Entscheidungssituation mehr überfordert wird, als dass er von der größeren Auswahl und damit der Möglichkeit, eine für seine Präferenzen bessere Entscheidung zu treffen, profitiert. Mit Hilfe von EPGs und einer integrierten, datenbankgestützten Suchfunktion beispielsweise wird das neue Angebot beherrschbar. My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote 2120.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Prozesse aus Unternehmenssicht Auch aus Unternehmenssicht gibt es Änderungen im Hinblick auf Prozesse und Profitmöglichkeiten. Es sind zahlreiche Prozesse notwendig, um Fernsehinhalte zu produzieren, zu vermarkten und schließlich auszustrahlen. Hinzu kommen Produktion und Verkauf der nötigen Hardware und ergänzende Angebote wie Fernsehzeitungen. Hier soll nur auf die unmittelbaren und signifikanten Veränderungen in wesentlichen Prozessen eingegangen werden. Die Programmstruktur verliert an Bedeutung; Lead-in-Effekte oder Primetime sind Geschichte, da sich jeder Konsument sein Programm selbst zusammenstellt. Auch der Werbeblock wird sich nicht in der heutigen Form erhalten lassen, da er, wenn er nicht schon automatisch ausgeblendet wird, durch einen Tastendruck am PVR übersprungen werden kann. Das heißt aber nicht, dass Kunden generell keine Werbung mögen, sondern eher, dass sie Werbeblocks innerhalb einzelner Sendungen, häufige Wiederholungen und langweilige Spots als Störungen empfinden. Es gibt Studien, die herausgefunden haben, dass ein Großteil der PVR-Benutzer häufig Spots zurückspult, um sie mehrmals anzuschauen und, dass ein Drittel gerne über die Fernbedienung weitergehende Informationen über das beworbene Produkt anfordern würde. [18] Gerade durch die MHP-Technologie bieten sich hier weitreichende neue Möglichkeiten. Theoretisch sind auch die PVR-Hersteller beziehungsweise Serviceanbieter geeignet, gezielt Werbeformen anzubinden. Da sie über die Kundenprofile verfügen, könnten sie zielgruppenspezifische Werbeplatzierungen verkaufen und dem Kunden Spots, die nicht übersprungen werden können, in sein individuelles Programm einbinden. So könnten Laufzeitverträge ähnlich dem Mobilfunk entstehen, mit einem Preisnachlass auf den PVR, wenn man dafür monatlich eine bestimmte Anzahl Spots akzeptiert. 13 My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote Profitmechanismen Im Wesentlichen gibt es vier Profitmechanismen im »Mass Customized TV«: ð der Hardwareverkaufspreis für neue Fernsehendgeräte (durch DVB mit besserer Qualität), für PVR und eventuell Settop Boxen, ð Services wie EPGs, Profilverwaltung und Communities, ð Werbeeinnahmen, ð Pay-TV-Gebühren (zum Beispiel »Pay-per-Channel« wie bei Premiere oder »Pay-per-View« wie die Video-on-Demand-Services von T-Online Vision). Bei allen Mechanismen lassen sich die Cash Flows, die von den Konsumenten kommen, auch durch Cash Flows von werbenden Firmen ersetzen. Der Mechanismus bleibt jedoch gleich. Da der Konsument an Werbung gewöhnt ist, könnten sich Kundennutzen und abgeschöpfte Marge maximieren lassen, indem man dem Kunden anbietet, in einem gewissen Ausmaß finanziellen Aufwand durch das Akzeptieren von Werbung zu substituieren. Stärken und Chancen ð Zu den Stärken des »My personal Channels« zählt zunächst der zusätzliche Kundennutzen, der dem individuellen Fernsehen innewohnt. Ein jeder träumt wohl manchmal von einem Fernsehprogramm, das besser seinen Wünschen und Bedürfnissen entspricht. ð Die Produzenten haben umfassendere Möglichkeiten, nicht nur die relative Quote, sondern auch genaue Zuschauerzahlen von 14 2120.01.01 – © Symposion Publishing 2006 SWOT-Analyse Nachfolgend werden die wesentlichen positiven Aspekte sowie die zentralen Herausforderungen des individuellen Fernsehens dargestellt. My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote Medienprodukten zu ermitteln. Hierdurch lassen sich Trends schneller erkennen und Flops vermeiden. ð Eine große Chance liegt in der Konvergenz zwischen Internet und Fernsehen. Inzwischen etablierte Internetanwendungen können so über den Fernseher Einzug ins Wohnzimmer halten. ð Unterstützt wird die Entwicklung auch durch den gesellschaftlichen Trend zu mehr Individualisierung und zu bewussterem Umgang mit der eigenen Zeit. 2120.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Schwächen und Risiken ð Fehlende Standardisierung führt zu nicht-kompatiblen Geräten und Services verschiedener Hersteller und behindert dadurch vollständigen Wettbewerb und die Weiterentwicklung des individuellen Fernsehens. ð Eine weitere Schwäche liegt in der fehlenden Transparenz des Marktes. Für den Kunden stellt es eine hohe Hürde dar, sich in dem dynamischen Markt zurechtzufinden und ermitteln zu müssen, welche Produkte sich untereinander und mit welchen Services kombinieren lassen. ð Hinzu kommt, dass der Kunde erst lernen muss, wie er mit dem individuellen Programm umgehen kann. Dies wird dadurch verstärkt, dass der Kunde sich auch erst an die neue Situation gewöhnen muss, dass Fernsehen zwar jetzt Geld kostet, dafür aber auch viel mehr bietet. ð Eine weitere Grenze besteht in der Menge der produzierten und verbreiteten Medienprodukte. Niemand kann sich ein nach seinen Präferenzen zugeschnittenes Programm zusammenstellen, wenn die einzelnen Bestandteile wie Filme, Sportereignisse, Serien, Talkshows etc. nicht den eigenen Präferenzen entsprechen. ð Zu den Risiken zählt, dass die urheberrechtliche Situation der Aufzeichnungen noch nicht vollständig geklärt ist; die Aufzeichnung des Nutzerverhaltens könnte zu Datenschutzproblemen führen. 15 My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote ð Auch die Digitalisierung stellt nicht nur eine Chance dar. »Wenn die Filmindustrie nicht rasch Vorkehrungen ergreift, könnte ihr das Schicksal der Musikindustrie drohen, die heute mit dramatischen Umsatzeinbußen kämpft, weil sie nicht rechtzeitig auf die technische Entwicklung reagiert und deren Auswirkungen unterschätzt hat», sagt Sonja Moser, Partnerin bei Ernst & Young und verantwortlich für die Filmbranche. [19] Hierunter fällt beispielsweise die Bedrohung des Geschäftsmodells des Werbefernsehens durch Free-TV-Angebote. So suchen die Hersteller auch Allianzen mit der Werbeindustrie und umgekehrt. [20] 2120.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Ausblick Gerade an den eher schleppenden Verkaufszahlen von PVR sieht man, dass noch ein langes Tal zu durchschreiten ist, bevor die große Mehrheit der Bevölkerung die hier aufgezeigten Potenziale nutzt. T-Online hat erst einige tausend ACTIVY Media Center verkauft. Selbst Björn Fehrm, Vice President von Fujitsu Siemens, sagt: »Wir sind noch ganz am Anfang, es dauert sicher noch einige Jahre, bis jeder ein solches Gerät haben will.« [21] Durch die neuen technischen Möglichkeiten sind jedoch vielfältige Entwicklungen und Wendungen möglich. Auch wenn sich noch kein perfektes Bild des Fernsehens der Zukunft zeichnen lässt, so ist die Richtung ziemlich klar. 16 My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote Melanie Müller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre – Information, Organisation und Management an der TU München. Innerhalb der Research Group »Customer-driven Value Creation« befasst sie sich vorwiegend mit der Kundeninteraktion bei Mass Customization und Open Innovation. Sie unterrichtet außerdem an der TUM Business School in den Bereichen Mass Customization und Open Innovation sowie Organisation, Führung und Strategie. Melanie Müller studierte Betriebswirtschaftslehre an der Ludwig Maximilians Universität München und der University of California Los Angeles. Zusätzlich absolvierte sie ein zweijähriges Zusatzstudium und erwarb ein Certificate in Technology Management am Center for Digital Technology and Management (CDTM). Praktische Erfahrung sammelt sie u.a. bei DaimlerChrysler, Steppenwolf, BMW und der DZ BANK AG. Kontakt: [email protected]. Sebastian Hafenbrädl studiert Technologie- und Managementorientierte Betriebswirtschaftlehre an der Technischen Universität München sowie Betriebswirtschaftslehre an der HEC, der Université de Lausanne. Seine Studienschwerpunkte liegen in den Bereichen »Information, Organisation und Management« und »Unternehmensführung, Produktion und Logistik«, sowie in der »Elektround Informationstechnik«. Praktische Erfahrungen sammelte er unter anderem durch Praktika und Beratungsprojekte bei Siemens Com, Alphatec Software, der Lichtwerk GmbH und bei Arnold & Richter Cine Technik. Im Rahmen seiner aktuellen Nebentätigkeit bei der Firma Spiritec befasst er sich mit Projektmanagement, Konzeption und Marketing bei zahlreichen von ihm begleiteten Softwareund Medienprojekten. Kontakt: [email protected]. 2120.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Literatur [1] Heuzeroth, Thomas: Wettrennen um die Kabelmacht, Welt am Sonntag vom 16. Oktober 2005, Heft 42/2005, S. 33 [2] http://www.digitalfernsehen.de, Zugriff am 25.10.2005 [3]Remien, Andreas: Kleine Einkaufshilfe für die »Obendraufkiste«, Süddeutsche Zeitung vom 12. Mai 2005, Beilage, S. V2/2 [4] o.V.: Digitales Fernsehen, Elektronik Praxis vom 25. August 2005, Heft 16, S. 17 [5] http://www.ftd.de/tm/tk/1071297910566.html, Zugriff am 25.10.2005 [6] Hülsen, Isabell und Meier, Lutz: Bauer startet elektronische Fernsehzeitung, Financial Times Deutschland vom 22. Juli 2005, Nr. 141, S. 5 [7] http://www.teltarif.de/arch/2002/kw11/s7459.html, Zugriff am 1.8.2004 [8] http://www.teltarif.de/arch/2004/kw12/s13207.html, Zugriff am 1.8.2004 17 My Personal Channel: Kundenindividuelle Fernsehangebote [9] http://www.ftd.de/tm/tk/1091258306925.html?nv=lnen, Zugriff am 5.8.2004 [10] http://www.golem.de/0506/38825.html, Zugriff am 25.10.2005 [11] Jaklin, Philipp: Premiere setzt auf digitales Video, Financial Times Deutschland vom 22.6.2004, S. 6 [12]Brechtel, Detlef: Abschied von der analogen Denkart, HORIZONT vom 21. 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Am Beispiel des IKEA-Konzerns wird aufgezeigt, wie dem Kunden individualisierte Küchenlösungen angeboten werden können. Zentrales Element ist dabei ein spezieller Konfigurator, der den Kunden zum Co-Designer seiner Küche macht. Stichworte: Küchenkauf, IKEA-Küchenplaner, kundenbezogene Konfiguration, Drag&Drop-Verfahren, Warenverfügbarkeitsauskunft, Fertigungsprozess, Konstensenkungspotenziale 2121.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Thomas Schmeisser, Melanie Müller Küchenkauf – individuelle Lösungen zu angemessenen Preisen Wer heutzutage eine Küche kaufen möchte, sieht sich zunächst einigen Entscheidungen gegenüber. Ist man sich über die eigenen Bedürfnisse und Wünsche sowie den angestrebten Preis im Klaren, muss man unter den vielen Herstellern und Händlern den Partner finden, der diese Kriterien am Besten erfüllt. Dies ist nicht immer einfach, da die meisten Küchenproduzenten und -händler eine große Angebotspalette mit einer Vielzahl an Variationsmöglichkeiten anbieten. Sie haben erkannt, dass der Großteil der Kunden Wert auf individuelle Lösungen zu einem angemessenen Preis legt. Von der preiswerten, schlichten Küchenzeile von der Stange bis zur maßgeschneiderten Luxusküche ist alles möglich. Einige Hersteller bieten aber auch individualisierte Küchenlösungen zu einem Preis an, der dem ei- IKEA: Die individuelle Lösung für Ihre Küche Land Europa/Deutschland Anschrift Hauptniederlassung Am Wandersmann 2-4 65719 Hofheim-Wallau Hotline Service-Center 01 80/5 35 34 35 Internetadresse www.ikea.de E-Mail [email protected] Branche Möbelindustrie Produkt Individualisierte Küchenmöbel Bezug zu Kapitel 4.5Formen der Kundenintegration 5.1Produkt- und Leistungsgestaltung 5.2Prozessgestaltung: Aufbau des Interaktionssystems 7 Die Kosten: Economies of Mass Customization ner vergleichbaren, massengefertigten Küche entspricht. Zu diesen Herstellern gehört das schwedische Einrichtungshaus IKEA, dessen Produktions- und Vertriebskonzept für Küchen in der folgenden Fallstudie vorgestellt wird. 2121.01.01 – © Symposion Publishing 2006 8.3Kundenintegration als Basis für erfolgreiches CRM IKEA: Die individuelle Lösung für Ihre Küche Das Unternehmen IKEA 2121.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Die Unternehmensgeschichte Die Wurzeln des IKEA-Konzerns liegen in Schweden, wo das Unter-nehmen 1943 durch Ingvar Kamprad gegründet wurde. In den ersten Jahren verkaufte der Firmengründer Gebrauchsgegenstände wie Geldbörsen, Schmuck, Uhren usw. Bald hatte er ebenfalls Möbelstücke in seinem Sortiment, das er mit Hilfe eines Kataloges unter die Bevölkerung brachte. Mitte der 1950er Jahre wurde die erste dauerhafte IKEA-Möbelausstellung in Schweden eröffnet und bald darauf begann das Unternehmen, eigene Möbelentwürfe zu erstellen. Zu dieser Zeit wurde auch das IKEA-typische Konzept der flachen Verpackungen geboren. Die Möbelstücke wurden nicht mehr fertigmontiert verkauft, sondern in Einzelstücken oder teilmontierten Modulen. Das brachte für die Kunden den Vorteil, dass sie ihre Ware leichter als bisher nach Hause transportieren konnten. Dafür mussten sie jedoch eine Stufe der Produktion übernehmen: die Endmontage. Durch die Verlagerung der Endmontage auf die Seite des Kunden, wurde der Möbelkauf nachhaltig verändert. Für manche Kunden bedeutete der Zusammenbau der Möbel eine Erhöhung des Spaßfaktors, andere brachte genau dies an den Rand der Verzweiflung. In den 1970er Jahren expandierte IKEA in Länder außerhalb Skandinaviens. Einrichtungshäuser wurden in anderen europäischen Ländern, wie zum Beispiel der Schweiz und Deutschland, aber auch in Australien und Kanada eröffnet. Mitte der 1980er Jahre wurde der amerikanische Markt in Angriff genommen. Mittlerweile hat der IKEA-Konzern in 33 Ländern 220 Einrichtungshäuser und insgesamt 90.000 Mitarbeiter in 44 Ländern. Der Umsatz im Geschäftsjahr 2005 betrug 14,8 Milliarden Euro. Die bedeutendste Geschäftsregion ist Europa; hier ist insbesondere der deutsche Markt sehr wichtig. [1,2] IKEA: Die individuelle Lösung für Ihre Küche Die Vision »Die IKEA-Geschäftsidee besteht darin, ein breites Sortiment formschöner und funktionsgerechter Einrichtungsgegenstände zu Preisen anzubieten, die so günstig sind, dass möglichst viele Menschen sie sich leisten können«. [3] Anhand dieser Aussage lassen sich die Ziele erkennen, die IKEA mit seinem Warenangebot verfolgt. Das Unternehmen will seinen Kunden eine große Auswahl an Produkten bieten, welche mit gutem Design und guter Funktionalität zu einem niedrigen Preis überzeugen sollen. Besonders im Bereich der Küchen setzt IKEA auf die Idee, möglichst viele individuelle Kundenbedürfnisse zu befriedigen. Ein bereits im Jahr 1990 eingeführtes Konzept verhilft dazu, die Vorteile der traditionellen Möglichkeiten beim Küchenkauf miteinander zu verbinden: Zum einen ist der Preis vergleichbar mit dem Preis einer Küche von der Stange, die in Massen gefertigt wird. Zum anderen entspricht die Variantenvielfalt hinsichtlich Funktionen und Design der Vielfalt, die der Kunde von maßgeschneiderten Küchen kennt. [4] Wie sieht nun das Angebot an Küchen bei IKEA aus? Im Mittelpunkt steht die Einbauküchenreihe »Faktum«, die alle wichtigen Grundelemente einer Küche umfasst. Dies sind beispielsweise verschiedene Unter-, Wand- und Hochschränke, Schränke für Einbaugeräte sowie diverse Sockel und Beingestelle. Alle Schränke sind in verschiedenen Fronten und Designs erhältlich. Hinzu kommt eine breite Auswahl an Knöpfen und Griffen. In weiteren Produktreihen wird eine große Anzahl an Spezialschränken und Zubehör sowie an Elektrogeräten angeboten. Zusätzlich gibt es in den Einrichtungshäusern eine große Vielfalt an Accessoires und Ausstattungsgegenständen für die Küche, zum Beispiel Aufbewahrungssysteme, Geschirr, Besteck. Tabelle 1 fasst das Küchenangebot (Stand: Juli 2004) von IKEA zusammen: [5,6] 2121.01.01 – © Symposion Publishing 2006 IKEA’s Angebot individueller Küchen IKEA: Die individuelle Lösung für Ihre Küche 2121.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Tabelle 1: Das Küchenangebot von IKEA Grundelement Variationen Unterschränke 5 verschiedene Breiten (30-80 cm) 2 verschiedene Eckvarianten Einlegeböden, Drahtkörbe, Schubladen, Auszüge 16 verschiedene Fronten Verschiedene Beine, Sockel und Beingestelle 12 verschiedene Griffe und Knöpfe Auch für Einbaugeräte und Spülen verfügbar Wandschränke 8 verschiedene Breiten 2 verschiedene Eckvarianten Einlegeböden, Vitrinentüren, Glaseinlegeböden 16 verschiedene Fronten 12 verschiedene Griffe und Knöpfe Auch für Einbaugeräte und Dunstabzugshauben verfügbar Hochschränke 3 Höhen, je 2 Breiten und Tiefen Einlegeböden, Glaseinlegeböden, Auszug 16 verschiedene Fronten 12 verschiedene Griffe und Knöpfe Auch für Einbaugeräte verfügbar Schränke für Einbaugeräte 3 Höhen Verstärkte Einlegeböden 16 verschiedene Fronten 12 verschiedene Griffe und Knöpfe Arbeitsplatte 4 verschiedene Modelle und Farben Standardtiefe 60 cm Maßschneiderung möglich Einbauspülen 11 verschiedene Modelle Mischbatterien 8 verschiedene Modelle Spezialschränke und Zubehör Jalousienschränke, Regale, Dekorleisten, Drahtkörbe etc. Elektrogeräte 7 Einbaubacköfen, 3 Einbauherde, 3 MW-Geräte 15 Kochfelder, 3 Geschirrspüler Waschmaschinen und Wäschetrockner Einbaukühlgeräte/-kombigeräte, frei stehende Kühlgeräte 12 Dunstabzugshauben IKEA: Die individuelle Lösung für Ihre Küche Der Mass-Customization-Prozess aus Kunden- und Unternehmenssicht Aus Sicht des Kunden umfasst der Kaufprozess mehrere Phasen: ð Die ersten wichtigen Informationen wie Produktangebot, Variationsmöglichkeiten, Preise, Bezugsmöglichkeiten usw. kann der Kunde auf mehreren Wegen erhalten: über das Internet, den IKEA-Küchenkatalog und bei einem Besuch in einem der IKEAEinrichtungshäuser, wo er Anregungen und Eindrücke durch die ausgestellten Musterküchen gewinnen kann. ð Nachdem sich der Kunde über die grundlegenden Möglichkeiten informiert hat, kann er mit der genauen Planung der Küche beginnen. Hierzu bietet IKEA mehrere Arten von Hilfestellungen: ð Hilfreiche Fragen, zum Beispiel »Wie nutzen Sie Ihre Küche?« Der Kunde wird dabei unterstützt, seine Wünsche und Vorstellungen auszudrücken. ð Ratschläge für das Abmessen und das Skizzieren des Umrisses der Küche, um alle relevanten Daten, zum Beispiel Fensterhöhe, Strom- und Wasseranschlüsse, möglichst genau zu erhalten. ð Anregungen und Empfehlungen für die Auswahl des Küchengrundrisses, damit alle Elemente in eine optimale Position gebracht werden. ð Ein 3D-Küchenplaner, der von der IKEA-Homepage kostenlos heruntergeladen werden kann. Mit diesem Tool kann man alle Küchengrundelemente spielerisch zur eigenen Traumküche zusammenfügen und die eigene Küche in 3D und Farbe vorab betrachten. Zusätzlich erhält der Kunde eine Einkaufsliste und den Gesamtpreis. ð Planungsmodelle und Zeichenvorlagen in Papierform, die sowohl im Küchenkatalog enthalten sind als auch in der Küchenabteilung der Einrichtungshäuser ausliegen. Mit diesen Hilfsmitteln können 2121.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Der Prozess aus Kundensicht IKEA: Die individuelle Lösung für Ihre Küche auch weniger technisch versierte Kunden vorab ihre Wunschküche zusammenstellen. ð Mit den gewonnenen Informationen, Maßen und Skizzen kann sich der Kunde nun in einem Einrichtungshaus von dem Fachpersonal in der Küchenabteilung beraten lassen. Er erhält dabei gezielt Unterstützung bei seiner Entscheidung sowie möglicherweise weitere Anregungen. Letzte Probleme können behoben werden. ð Nach Abschluss des Beratungsgespräches kann die gewünschte Ware sofort mit nach Hause genommen werden. Ausnahmen gibt es bei außergewöhnlichen Wünschen und Spezialanfertigungen, wie zum Beispiel maßgeschneiderten Arbeitsplatten. Die Lieferung solcher Waren kann bis zu sechs Wochen dauern. Zu Hause kann die Traumküche dann montiert werden. Bei Problemen mit Transport oder Endmontage stehen zudem verschiedene Serviceleistungen zur Verfügung. [7] 2121.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Der Prozess aus Unternehmenssicht Aus der Sicht des Unternehmens sieht der Mass-Customization-Prozess wie folgt aus: ð Bevor der Kunde das Angebot in Anspruch nehmen kann, bedarf es grundlegender Entscheidungen hinsichtlich des angebotenen Lösungsraums, das heißt alle Spezifikationen, Varianten und notwendigen Prozesse müssen vorab durchdacht werden. Dies bezieht sich vor allem auf die Küchengrundelemente der Produktreihe »Faktum«. Es wird in dieser Phase genau definiert, welche Größen, Funktionen und Designs angeboten werden. Gleichzeitig werden die Leistungserstellungs- und Informationsprozesse ausgestaltet, mit denen eine Durchgängigkeit der Prozesse von der Entwicklung bis zum Kunden und zurück gewährleistet wird. ð Danach findet bei »Swedwood« – dem Produktionsbereich des IKEA-Konzerns – die auftragsneutrale Vorfertigung der einzelnen Module statt. Der Vorfertigungsgrad ist bei IKEA sehr hoch, da IKEA: Die individuelle Lösung für Ihre Küche Der IKEA-Küchenplaner – der Konfigurator des Konzeptes IKEA bietet dem Kunden auf der Homepage eine besondere Hilfestellung, um sich die eigene Traumküche schon vorab in sechs einfachen Schritten zusammenzustellen, und macht den Kunden damit zum »Co-Designer«. Auf der Homepage kann jeder Interessierte ein Designtool mit ansprechender Oberfläche und benutzerfreundlicher Bedienung downloaden (vgl. Abb. 1 und 2). Zuerst muss der Kunde die Maße der Küche eintragen und mit Hilfe des Drag&Drop-Verfahrens Türen und Fenster positionieren. Danach kann er beginnen, 2121.01.01 – © Symposion Publishing 2006 das Unternehmen dem Kunden eine sofortige Mitnahme der gewünschten Produkte ermöglichen will. Am Tag des Kaufes liegen die ausgesuchten Module schon im Lager des Einrichtungshauses bereit. Der Kunde muss sie nur noch mitnehmen und zu Hause aufbauen. ð Für die kundenbezogene Konfiguration stellt IKEA einige Hilfsmittel, wie den IKEA-Küchenplaner, Tipps und Tricks im Küchenkatalog sowie Musterküchen und Berater im Möbelhaus zur Verfügung. Diese Maßnahmen dienen dazu, die Wünsche und Vorstellungen des Kunden auf möglichst einfache Art und Weise bei der Zusammenstellung der optimalen, individuellen Lösung zu berücksichtigen. (Mehr dazu im Abschnitt »Der IKEA-Küchenplaner – der Konfigurator des Konzeptes«.) ð Nach Abschluss des Kaufs bietet IKEA seinen Kunden einige Serviceleistungen an. Beispielsweise können in den Einrichtungshäusern Kleintransporter geliehen werden, um die Küche nach Hause zu transportieren. Alternativ kann sich der Kunde die Ware gegen einen Aufpreis von einem kooperierenden Transportunternehmen nach Hause liefern lassen. Auf Wunsch vermittelt IKEA auch Fachpersonal für die Endmontage. Treten beim Selbstaufbau Probleme auf, kann eine Servicehotline zu Rate gezogen werden. [8,9,10] IKEA: Die individuelle Lösung für Ihre Küche 2121.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Abb. 1: Grundrissoberfläche im Konfigurator den Raum mit den einzelnen Elementen der Einbauküchenreihe »Faktum«, zum Beispiel mit Unter- und Wandschränken, einzurichten – ebenfalls mit dem Drag&Drop-Verfahren. Zusätzlich kann man die verschiedenen Funktionen und Designs der Möbelstücke gestalten. Zusätzliche Hilfestellungen und Tipps für die Planung und Einrichtung seiner individuellen Küchenlösung werden dem Kunden in Form von Zeichnungen, Checklisten und Fragen im Küchenkatalog geboten. Die Module können jederzeit verändert, angepasst oder entfernt werden. Mögliche Konflikte, die beim Zusammenstellen auftreten können, werden angezeigt. Beispielsweise kann es sein, dass die ausgesuchte Spüle nicht mit dem gewünschten Unterschrank kompatibel ist. Während und nach dem Vorgang des Einrichtens kann sich der Kunde seine Traumküche in einer farbigen 3D- beziehungsweise 2D- IKEA: Die individuelle Lösung für Ihre Küche Abb. 2: Die 3D-Ansicht der Küche im Konfigurator 10 2121.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Darstellung anschauen und überprüfen, ob er mit den ausgesuchten Modulen und Kombinationen zufrieden ist. Anschließend kann er sich eine Auflistung der Einzelpreise sowie des Gesamtpreises erstellen lassen. Gleichzeitig bekommt er eine Einkaufsliste mit den einzelnen Produktnummern. Mit Hilfe einer weiteren Serviceleistung – der Warenverfügbarkeitsauskunft – kann sich der Kunde auf der Homepage informieren, ob die ausgesuchten Produkte im Einrichtungshaus seiner Wahl vorrätig sind. [11] IKEA: Die individuelle Lösung für Ihre Küche Bewertung des IKEA-Küchenkonzeptes 2121.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Profitmechanismus des IKEA-Küchenkonzeptes Wesentlicher Profittreiber ist eine gestiegene Zahlungsbereitschaft der Kunden. Zum einen bekommt der Kunde eine auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmte Küche und nicht einfach ein Produkt von der Stange. Durch das Einkaufserlebnis als »Co-Designer« – via Internet oder im Einrichtungshaus – kann die Zahlungsbereitschaft der Kunden gegenüber einem gewöhnlichen Küchenkauf zusätzlich steigen. Dieses Erlebnis ergibt sich aufgrund der aktiven Mitgestaltung bei der Zusammenstellung der individuellen, maßgeschneiderten Küche. Die Kunden erleben die Produktvielfalt im Verlauf des Kaufprozesses und werden so womöglich auch inspiriert, mehr zu kaufen als sie anfangs geplant hatten. Die Kosten für Produktion, Logistik und Beratung liegen insgesamt zwar über den Kosten für eine Standardküche, jedoch weit unter den Kosten, die bei herkömmlicher Maßanfertigung anfallen. Höhere Kosten entstehen hinsichtlich Lagerhaltung und Logistik dadurch, dass IKEA – entsprechend der Unternehmensphilosophie – den Kunden die sofortige Mitnahme der Ware ermöglichen will. Somit muss in jedem Einrichtungshaus eine gewisse Menge und Vielfalt an Küchengrundelementen vorhanden sein. Dies ist weder beim Kauf einer Standardküche derzeit üblich noch bei einer Maßanfertigung aufgrund der Individualität möglich. Im Bereich der Produktion profitiert IKEA von den typischen Merkmalen der Massenfertigung, wie zum Beispiel Größenvorteilen im Einkauf. Durch klare Grenzen hinsichtlich Auswahl und Modulen, werden zudem die Produktionskosten niedrig gehalten. Die Produktionskosten an sich dürften damit aufgrund der Modulbauweise kaum über denen der Serienfertigung, jedoch weit unter denen der Maßanfertigung liegen. Zur Optimierung des Leistungsangebotes und der Lagerhaltung nutzt IKEA das Wissen, das aus der Kundeninteraktion gewonnen 11 IKEA: Die individuelle Lösung für Ihre Küche wurde. Die Erfassung und Verarbeitung des Kundenwissens bringt jedoch erneut höhere Kosten – Transaktionskosten – mit sich. Beispielsweise für die Bereitstellung des Konfigurators oder die Weiterleitung der Informationen aus der Kundeninteraktion in die Produktentwicklung. Für die Beratung in den Küchenabteilungen der Möbelhäuser benötigt man außerdem geschultes Personal, welches den Kunden bei der Zusammenstellung der individuellen Küche unterstützt. Wesentliche Kostensenkungspotenziale entstehen aufgrund der Tatsache, dass vielfältige Aufgaben auf den Kunden übertragen werden. Der Kunde wird als »Co-Designer« aktiv in den Verkaufsprozess einbezogen. Durch die Bereitstellung von zahlreichen Informationen und Hilfsmitteln, zum Beispiel auch des Internet-Konfigurationstools, wird der Großteil der Beratungsgespräche erheblich verkürzt. Einsparungspotenziale gibt es beispielsweise auch hinsichtlich der Personalund Logistikkosten, da Transport und Endmontage auf den Kunden übertragen werden. Nachfolgende Aspekte sprechen für das IKEA-Konzept: Eine Stärke des Konzeptes besteht darin, dass der Kunde seine Küchenmöbel sofort mitnehmen kann. Wochenlange Lieferzeiten fallen nur in Ausnahmefällen an. Hierdurch kann sich IKEA gegenüber einer Vielzahl von Konkurrenten abgrenzen, da die Lieferung einer Küche bei vielen Herstellern mehrere Wochen dauert. Eine weitere Stärke sind die weitgehenden Möglichkeiten, die dem Kunden vor und während des Kaufs geboten werden. Er kann selbst entscheiden, wie aktiv er am Prozess mitwirkt und sich beispielsweise seine Küche schon vorab im Internet zusammenstellen. Dies trägt grundsätzlich zu einer besseren Abstimmung von Kundenwünschen und Produktangebot sowie einer höheren Kundenzufriedenheit bei. 12 2121.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Bewertung des IKEA-Konzeptes IKEA: Die individuelle Lösung für Ihre Küche 2121.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Zudem wird dem Kunden auf diesem Weg ein besonderes Einkaufserlebnis geboten. Viele Kunden suchen ein besonderes Einkaufserlebnis, vor allem wenn es um komplexe und teuere Kaufentscheidungen geht. Mit seinen Co-Design-Prozessen setzt IKEA im Internet und im Einrichtungshaus genau auf dieses Bedürfnis. Gerade bei Küchen ist ein Trend dahingehend erkennbar, dass sich die Kunden das Produkt nach den eigenen Vorstellungen möglichst passformgenau zusammenstellen möchten. Die Ansprüche werden immer höher, die Wünsche ausgefallener und die Kunden immer selbstbewusster. Das breite Angebot an Waren rund um den Themenbereich Küche ist damit ebenfalls eine Stärke von IKEA. Das Konzept überzeugt auch dadurch, dass die Auswahl in einer für den Kunden ansprechenden, verständlichen Art und Weise präsentiert wird. Die Auslagerung der Lieferung und Endmontage auf den Kunden ist eine weitere Stärke des Konzeptes. IKEA kann dadurch Kosten sparen. Zudem ist der Kunde für den korrekten Aufbau der gekauften Küche verantwortlich. Als Schwächen des Konzeptes und mögliche Risiken sind die folgenden Punkte zu nennen: Das Unternehmen hat einen sehr hohen logistischen Aufwand zu bewältigen, um die Sofortmitnahme zu gewährleisten. Es besteht die Gefahr, dass die Kunden von der Vielzahl an Möglichkeiten abgeschreckt werden. Zwar gibt es den Konfigurator, viele Hilfestellungen sowie die Berater, dem Kunden wird jedoch während des Verkaufsprozesses viel abverlangt. Für manche Kunden könnte der Aufwand den Nutzen aus der individuellen Lösung übersteigen. In konjunkturell schlechten Zeiten verzichten die Kunden eher auf die Anschaffung eines teuren Gegenstandes wie einer Küche. Dies heizt den Konkurrenzkampf in der Branche an. 13 IKEA: Die individuelle Lösung für Ihre Küche Ausblick Das Küchenkonzept von IKEA überzeugt, da dem Kunden eine immense Auswahl zu einem akzeptablen Preis geboten wird. Zudem kann der Verkaufsprozess für den Kunden zu einem interessanten Einkaufserlebnis werden. Trotzdem ist es zur Verwirklichung der Unternehmensphilosophie – die Produkte an möglichst viele Menschen zu verkaufen – erforderlich, Angebot und Konfigurator weiter zu optimieren. Andernfalls kann es passieren, dass zu viele Kunden von der Fülle an Möglichkeiten überfordert werden und lieber zu einem anderen Anbieter wechseln. Der 3D-Küchenplaner ist grundsätzlich gut aufgebaut; jedoch benötigt man einiges technisches Geschick und Geduld, um die Traumküche zu planen. Wünschenswert wäre beispielsweise auch eine direkte Verknüpfung des Konfigurators mit der Warenverfügbarkeitsauskunft, damit der Kunde sofort sieht, ob die gewünschten Küchenmöbel beim Einrichtungshaus seiner Wahl auf Lager sind. Auch der Aufbau der Küche in den eigenen vier Wänden ist für einige Kunden eventuell zu komplex. Für IKEA-Kenner und -Fans wird dies kein Hindernis sein, um aber neue Kunden zu gewinnen, ist eine Vereinfachung erforderlich. 14 2121.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Neben IKEA führen auch einige Konkurrenten individuelle Küchen in ihrem Sortiment. Einige dieser Konzepte können für das Unternehmen eine Marktgefährdung darstellen, wie zum Beispiel das Konzept des Unternehmens KücheDirekt. Dieses Unternehmen liefert mit Hilfe eines innovativen Fertigungsprozesses innerhalb weniger Tage eine fertig montierte Küche nach Hause, die preislich mit einer IKEA-Küche vergleichbar ist. IKEA: Die individuelle Lösung für Ihre Küche Melanie Müller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre – Information, Organisation und Management an der TU München. Innerhalb der Research Group »Customer-driven Value Creation« befasst sie sich vorwiegend mit der Kundeninteraktion bei Mass Customization und Open Innovation. Sie unterrichtet außerdem an der TUM Business School in den Bereichen Mass Customization und Open Innovation sowie Organisation, Führung und Strategie. Melanie Müller studierte Betriebswirtschaftslehre an der Ludwig Maximilians Universität München und der University of California Los Angeles. Zusätzlich absolvierte sie ein zweijähriges Zusatzstudium und erwarb ein Certificate in Technology Management am Center for Digital Technology and Management (CDTM). Praktische Erfahrung sammelt sie u.a. bei DaimlerChrysler, Steppenwolf, BMW und der DZ BANK AG. Kontakt: [email protected]. Thomas Schmeißer studiert Technologie- und Managementorientierte Betriebswirtschaftslehre an der Technischen Universität München. Im Rahmen eines Projektes war er bei der Erarbeitung und Einführung einer Geschäftstreiber Scorecard für Siemens Learning Campus beteiligt. Seine Interessenschwerpunkte liegen in den Bereichen Human Resource Management und Organisation, Technologie und Management. Kontakt: [email protected]. 2121.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Literatur [1] IKEA Deutschland GmbH & Co. KG (2004) URL: http://www.ikea.de/ms/de_DE/about_ ikea/timeline/full_story.html [Stand: 20.10.2005] [2] IKEA Deutschland GmbH & Co. KG (2004) URL: http://www.ikea.de/ms/de_DE/about_ ikea/facts_figures/figures.html [Stand: 20.10.2005] [3] IKEA Deutschland GmbH & Co. KG (2004) URL: http://www.ikea.de/ms/de_DE/about_ ikea/our_vision/better_life.html [Stand: 02.08.2004] [4] IKEA Deutschland GmbH & Co. KG (2004) URL: http://www.ikea.de/ms/de_DE/about_ ikea/our_vision/how.html [Stand: 02.08.2004] [5] IKEA Deutschland GmbH & Co. KG (2004) : IKEA Küchenkatalog 2004, S. 4-31 [6] IKEA Deutschland GmbH & Co. KG (2004) : IKEA Küchenkatalog 2004, S. 64-73 [7] IKEA Deutschland GmbH & Co. KG (2004) : IKEA Küchenkatalog 2004, S. 60-63 [8] IKEA Deutschland GmbH & Co. KG (2004) : IKEA Küchenkatalog 2004 [9] IKEA Deutschland GmbH & Co. KG (2004) URL: http://www.ikea.de/ms/de_DE/about_ ikea/splash.html [Stand: 02.08.2004] 15 IKEA: Die individuelle Lösung für Ihre Küche [10] vgl. IKEA Deutschland GmbH & Co. KG (2004) URL: http://www.ikea.de/webapp/wcs/ stores/servlet/CategoryDisplay?storeId=5&langId=3&catalogId=10101&cattype=top&identifi er=00014_nmstree001 [Stand: 02.08.2004] 2121.01.01 – © Symposion Publishing 2006 [11] vgl. IKEA Deutschland GmbH & Co. KG (2004) URL: http://www.ikea.de/ms/de_DE/ rooms_ideas/kitchen/download.html [Stand: 02.08.2004] 16 InVIDO GmbH: Mass Customization in der Möbelindustrie Die InVIDO GmbH produziert maßgefertigte Möbel im mittleren Preissegment. Dem Unternehmen ist es dabei gelungen, die Auswahl an Individualisierungsmöglichkeiten zu vergrößern und den Kundennutzen zu steigern, ohne dass Kosten und Preise deutlich gewachsen sind. Stichworte: Maßgefertigte Möbel, 3D-Planungstool, individuelle Konfiguration, flexible Fertigungstechnologie, Produktgestaltungsprozess, Beratung, Preisniveau, Logistik 2122.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Robert Simm, Melanie Müller Maßgefertigte Möbel Die InVIDO GmbH produziert maßgefertigte Möbel zu einem Preis, der unter dem Preis von Konkurrenzangeboten mit einem ähnlichen Ausmaß an Individualisierung liegt. Das Unternehmen begann Ende der 1990er Jahre zunächst mit der Entwicklung der Software, mit deren Hilfe Möbel in dreidimensionaler Ansicht entworfen werden können. Danach wurde an der fehlerfreien Übertragung der individuellen Daten auf industrielle Produktionsmaschinen gearbeitet. Im Oktober 1998 wurde schließlich mit der Produktion der ersten Möbel begonnen; seit 2000/2001 ist das Unternehmen im Markt vertreten. Mit seinem Angebot ist es dem Unternehmen gelungen, die eigene Position im hart umkämpften Möbelmarkt kontinuierlich auszubauen. Das Konzept des Unternehmens wird im Rahmen dieser Fallstudie beschrieben. InVIDO GmbH: Mass Customization in der Möbelindustrie Land Deutschland Anschrift Neue Schichtstraße 9 09366 Niederdorf Hotline 0 18 05 – 46 84 36 Internet-Adresse www.invido.de E-Mail [email protected] Gründungsjahr 1998 Branche Möbelindustrie Produkt Individuelle Möbelsysteme Bezug zu Kapitel 4.5Formen der Kundenintegration 5.1Produkt- und Leistungsgestaltung 5.2Prozessgestaltung: Aufbau des Interaktionssystems 7 Die Kosten: Economies of Mass Customization Grundlagen zu Markt und Unternehmen Die deutsche Möbelbranche Zwar ist der deutsche Möbelmarkt im internationalen Vergleich von einer hohen Kaufkraft geprägt, trotzdem verzeichnen viele – meist mittelständische Hersteller – sinkende Umsätze. Ein Grund ist der 2122.01.01 – © Symposion Publishing 2006 6.2Preispolitische Potenziale InVIDO GmbH: Mass Customization in der Möbelindustrie aufgrund der zunehmenden Globalisierung steigende Kosten- und Preisdruck, der zu steigenden Importen aus Niedriglohnländern und Konzentrationsprozessen bei Zulieferern und Händlern führt. Darüber hinaus drängen große Möbelhaus-Ketten wie IKEA in den Markt und drücken die Preise. Viele einheimische Betriebe sind daher bereits aus dem Markt verschwunden. Vor allem mittelständische Unternehmen sind betroffen von den schweren Wettbewerbsbedingungen. Ein Mittelständler, der sich bisher gut im Markt behaupten konnte, ist das Unternehmen InVIDO, das sich mit seinem Konzept erfolgreich von den Angeboten der Konkurrenz abgrenzt. 2122.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Das Unternehmen InVIDO Die InVIDO GmbH produziert maßgefertigte Möbel, welche preislich eher mit den Serienprodukten der Konkurrenz als mit den Angeboten von Konkurrenten mit einem ähnlichen Ausmaß an Individualisierung vergleichbar sind. Das Unternehmen fokussiert das mittlere Preissegment und hat durch das Ausmaß an gebotener Individualisierung einen Weg gefunden, sich von der Konkurrenz in diesem Segment abzugrenzen. Bisher ließen sich zu vergleichbaren Kosten nur standardisierte Produkte mit einer begrenzten Anzahl an Varianten und Ausführungen herstellen. InVIDO ist es gelungen, die Auswahl zu vergrößern und damit den Kundennutzen zu steigern, ohne dass gleichzeitig Kosten und damit Preise deutlich gewachsen sind. Als Start-Up begann die Firma Ende der 1990er Jahre zunächst mit der Entwicklung der Software, mit deren Hilfe Möbel in dreidimensionaler Ansicht entworfen werden können. Danach musste die Herausforderung bewältigt werden, diese individuellen Daten fehlerfrei auf industrielle Produktionsmaschinen zu übertragen. Nachdem dies gelungen war, errichtete man das Werk in Niederdorf. Im Oktober 1998 wurde schließlich mit der Produktion der ersten Möbel begonnen. Zum Marktstart 2000/2001 war die Akzeptanz zunächst eher verhalten. Einen Schub erhielt der Absatz 2002, insbesondere, InVIDO GmbH: Mass Customization in der Möbelindustrie nachdem in Fachpublikationen über das Konzept berichtet wurde. Seitdem läuft das Geschäft sehr gut – vor allem die Mund-zu-MundPropaganda durch zufriedene Kunden trägt hierzu bei. InVIDO vertreibt seine Produkte deutschlandweit über Systempartner, welche ein Konfigurationsterminal oder die Software auf einem PC vor Ort haben. Aktuell werden 22 Systempartner auf der InVIDO Homepage aufgeführt. Insgesamt gibt es in Deutschland und den angrenzenden Staaten etwa 1.000 Handelskunden (vgl. [1]). Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung ist mit ihren circa 20 Mitarbeitern zu einem stattlichen mittelständischen Unternehmen gereift. Das Mass-Customization-Angebot von InVIDO Die Einzigartigkeit des Angebots von InVIDO liegt in der Möglichkeit, sich ein Möbelstück millimetergenau am Computer zu entwerfen beziehungsweise entwerfen zu lassen. Das Konzept des Unternehmens wird im Folgenden beschrieben. Die Produktpalette umfasst im Wesentlichen Schranksysteme. Des Weiteren sind Rollcontainer und Regale erhältlich. Das Unternehmen umwirbt mit dem Slogan »Design your Design« eine »funktions- und maßorientierte Zielgruppe« (vgl. [1]), für die ein schlichtes Design im Vordergrund steht. Alle Produkte, zum Beispiel die Schrankelemente, basieren auf einer gemeinsamen, funktionellen, rechteckigen Grundform. Einlegeböden und Schrankwände können in verschiedenen Stärken gewählt werden (vgl. Abb. 1). Unter diesen Restriktionen sind Größe, Zusammensetzung, verwendete Materialien und verschiedene Blenden aus einer beachtlichen Auswahl frei kombinierbar. Lackierungen sind in allen RAL-Farben erhältlich. Neben der Möglichkeit, jedem Bauteil eine andere Funktion (Schubladenelement, offenes Element, Klapptür etc.) zu geben, kann der Kunde auch wählen, ob er sein Produkt in einem Stück oder in Modulbauweise gefertigt 2122.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Das Produkt InVIDO GmbH: Mass Customization in der Möbelindustrie Abb. 1: InVIDO Produktwerbung haben möchte. Wählt der Kunde die Modulbauweise, hat er die Möglichkeit, das System später auseinander zu nehmen, andere Elemente dazuzukaufen und alle Elemente neu zusammenzusetzen. 2122.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Das Tool Umgesetzt wird die kundenindividuelle Produktspezifikation bei System- und Handelspartnern mittels eines auf Windows basierenden Tools. Der Kunde gestaltet sich sein individuelles Möbelstück zusammen mit einem Mitarbeiter beim Vertriebspartner. Diese Art des Vertriebs erlaubt es, den Kunden gezielt durch den Verkaufsprozess zu führen. Des Weiteren kann es für den Kunden hilfreich sein, die Auswahl an Bauteilen, Furnieren, Farben oder Griffen vor Ort ansehen zu können. Anfänglich wurde das Tool dem Kunden direkt für einen Unkostenbeitrag von 10 EUR überlassen. Da es jedoch nicht sinnvoll erschien, für eine verkaufsfördernde Software Geld zu verlangen, wurde diese Möglichkeit eingestellt. Hinzu kommt, dass der Kunde vollständig auf sich allein gestellt ist und auch keine Muster und Beispielprodukte sieht, die ihm die Entscheidung erleichtern. Begonnen wird mit den grundlegenden Produktspezifikationen, zum Beispiel der Festlegung, ob es sich um ein frei im Raum oder ein InVIDO GmbH: Mass Customization in der Möbelindustrie an der Wand stehendes Möbelstück handeln soll. Diese Entscheidung hat beispielsweise Auswirkungen auf die Rückwand. Auch Eckkonstruktionen sind möglich. Eine weitere wesentliche Entscheidung ist, ob das Produkt als ein Stück montiert oder in Modulbauweise zusammengesetzt werden soll, was spätere Änderungen und Ergänzungen ermöglicht. Mittels Drag-and-Drop können neue Kästen auf einfache Art und Weise zur bestehenden Konfiguration hinzugefügt werden. Die Menüführung erlaubt große Flexibilität, zum Beispiel kann man 2122.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Abb. 2: Das Planungstool InVIDO GmbH: Mass Customization in der Möbelindustrie jederzeit Türen gegen Schubläden austauschen. Laminierung, eventuelle Verblendungen oder Farben einzelner Flächen können ebenfalls jederzeit unkompliziert geändert werden. Die Größe kann wahlweise zentimeter- oder millimetergenau variiert werden, indem man einfach die Fläche am Bildschirm mit Hilfe der Maus verändert. Abmessungen bereits vorhandener Elemente werden für neue Elemente übernommen, indem das neue Objekt eine kurze Weile über das alte gehalten wird. Das Objekt kann dreidimensional von allen Seiten betrachtet werden, so dass sich der Kunde das Objekt besser vorstellen kann (vgl. Abb. 2). Während des gesamten Prozesses wird der Preis der aktuellen Zusammenstellung angezeigt. Der Kunde hat somit jederzeit den Überblick und es herrscht absolute Transparenz, welche Veränderungen das Produkt in welchem Maße teuerer oder günstiger machen. Hat der Kunde seine endgültige Auswahl getroffen, wird die Konfiguration in einer Datei gespeichert und via DFÜ-Verbindung an InVIDO nach Niederdorf übermittelt, wo das Produkt gefertigt wird. 2122.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Vermeidung von »Mass Confusion« Es gibt drei Herausforderungen, die dazu führen können, dass beim Kunden mehr Kosten als zusätzlicher Nutzen durch ein individuelles Angebot entstehen. Gelingt es nicht, die Mass Confusion oder Überforderung des Kunden zu verhindern, kann dies zu einem Scheitern des Mass-Customization-Konzeptes führen. Dem Kunden erscheint der Kauf des individuellen Produktes dann eventuell zu aufwändig oder unsicher und er entscheidet sich dagegen. Die drei Herausforderungen werden im Folgenden beschrieben. Theoretisch scheint es zunächst interessant, dem Kunden unendliche Freiheitsgrade einzuräumen. Diese kann es allerdings bei industrieller Fertigung nicht geben, weshalb der Hersteller eine sinnvolle Vorauswahl treffen muss. Manche Parameter können unproblematisch stufenlos variiert werden, einige nur in verschiedenen Ausprägungen, andere Parameter wiederum stehen fest. Werden zu viele Optionen angeboten, kann dies auch zu einer Überforderung der Kunden führen. Im Falle von Möbeln, insbesondere Schrankmöbeln, ist die wesentliche Variable meist die Größe. Unter den angebotenen Holzarten, Farben und Griffen finden wohl die meisten Kunden etwas Ansprechendes. Die zentrale Fragestellung ist jedoch, ob das Produkt auch in die Wohnung passt. Diese Frage stellt sich bei InVIDO nicht, da das Produkt hinsichtlich der Größe frei wählbar ist (innerhalb des funktionalen Grunddesigns). Auch hinsichtlich des weiteren Angebots hat InVIDO eine sinnvolle Vorauswahl getroffen, um den Kunden nicht zu überfordern. Darüber hinaus unterstützt die Nutzung des Konfigurationstools die kundenfreundliche Darstellung der Wahlmöglichkeiten. Eine weitere Herausforderung ist es, die Vorstellungen und Wünsche der Kunden fehlerfrei aufzunehmen und umzusetzen. Oft ist es für die Kunden schwierig, die eigenen Wünsche konkret auszudrücken, so dass das dazu passende Produkt gefunden werden kann. Das InVIDO-Tool bietet eine gute Möglichkeit, das gewünschte Möbel mit Hilfe eines sachkundigen Beraters in einer akzeptablen Zeit zusammenzustellen. Der Kunde kann seine Wünsche mit Hilfe des Tools direkt umsetzen und visualisieren. Auch hier ist es wiederum wichtig, eine sinnvolle Vorauswahl zu treffen, damit dem Kunden nicht zu viele Entscheidungen abverlangt werden. Die dritte Herausforderung betrifft Informationsasymmetrien zwischen Hersteller und Kunde, das heißt auf beiden Seiten stehen unterschiedlich umfassende Informationen zur Verfügung. Zum einen ist der Hersteller oder Händler sachkundiger als der Kunde. Zum anderen hat der Kunde ähnlich wie bei Serviceanbietern nur begrenzte Möglichkeiten, die Leistungsfähigkeit des Herstellers vorab zu bewerten, da sein Produkt erst noch produziert wird und er nur Beispielobjekte vor Ort erleben kann. Auch dieses Problem wird durch die transparente Gestaltung des Tools, speziell durch die aktuelle Preisdarstellung, gut gelöst. Neben dem Konfigurationstool, das eine zentrale Stellung im Verkaufsprozess einnimmt, verhindert die fachliche Un- 2122.01.01 – © Symposion Publishing 2006 InVIDO GmbH: Mass Customization in der Möbelindustrie InVIDO GmbH: Mass Customization in der Möbelindustrie terstützung bei den Handelspartnern, dass sich die Kunden überfordert fühlen. Durch professionelle Unterstützung beim Produktgestaltungsprozess wird die Wahrscheinlichkeit, dass der Kunde doch etwas übersehen oder falsch planen könnte, minimiert. Sollte bei den Abmessungen ein Fehler unterlaufen oder eine Farbe doch nicht so sein, wie sich der Kunde das vorstellt, hätte das Produkt keinen Wiederverkaufswert. Deshalb stellt der Systempartner dem Kunden jemanden zur Seite, der ihm verschiedene Materialien, Farben und Module im Original zeigen und ihn beraten kann. Dies reduziert Unsicherheit, vermittelt Kompetenz und unterstützt dadurch den Kaufprozess. Mass-Customization-Prozesse Im Folgenden wird der Prozess des Kaufes eines InVIDO-Möbelstücks aus Kunden- und Lieferantensicht, das heißt aus Sicht des Unternehmens InVIDO, dargestellt. 2122.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Der Erwerb eines InVIDO-Produktes aus Kundensicht Um die Konfiguration zu starten, müssen die Maße des Endproduktes bekannt sein. In der Regel bringt der Kunde die Abmessungen mit; jedoch bieten einige Systempartner von InVIDO auch diesen Arbeitsschritt an. Liegen die Abmessungen vor, kann die Produktspezifikation mittels des Konfigurationstools vorgenommen werden. Damit sich der Kunde die verschiedenen Materialien, Farbtöne oder sonstigen Ausprägungen besser vorstellen kann, hat der Händler in der Regel einige Originalstücke von InVIDO zu Vorführzwecken vorrätig. Diesen Aspekt hält InVIDO-Geschäftsführerin Kristin Müller für äußerst wichtig: »Die Kunden verstehen Maßmöbel nicht als ein einfaches Produkt. Möbel sind haptische Produkte und wollen angefasst werden. Der Kunde kauft diese Produkte nicht im Internet oder direkt aus dem Katalog, er will Beratung, da er weiß, dass er die Kompetenz selbst (noch) nicht hat und die Vorstellung hierzu fehlt. Bei einem InVIDO GmbH: Mass Customization in der Möbelindustrie Buch oder einer CD weiß der Verbraucher, was er bekommt« (vgl. [1]). Die individuelle Konfiguration kann anschließend abgespeichert, später wieder aufgerufen und neu bearbeitet werden, sollte sich der Kunde nicht sofort festlegen wollen. Ist die endgültige Zusammenstellung fertig, bestellt der Kunde das Stück bei seinem Händler. Nach einer Lieferzeit von üblicherweise vier bis sechs Wochen wird das Produkt vom Händler geliefert und zusammengebaut. Der Zusammenbau kann wahlweise auch vom Kunden selbst durchgeführt werden, was den Preis um circa 5 Prozent reduziert. Aus Sicht von InVIDO startet der Prozess ebenso mit der Konfiguration. Zwar wird der Konfigurations- und Verkaufsprozess von den Systempartnern im Fachhandel zusammen mit dem Kunden durchgeführt, jedoch liegt die Festlegung der angebotenen Individualisierungsmöglichkeiten neben Konfigurationstoolgestaltung und Preisaktualisierung bei InVIDO. Mit dem Vertrieb über den Fachhandel nutzt InVIDO dessen bereits bestehende Präsenz und Kundenkontakte. Zudem ist das nötige Wissen über Möbel generell sowie über Aufmaßnahme und Montage vorhanden. Ist der Produktspezifikationsprozess abgeschlossen, werden die Kundendaten elektronisch zum Firmensitz Niederdorf übermittelt und dort in die Produktionsanlagen eingespeist. Die Anforderungen an die Fertigung sind hoch. Die Produktionslinie muss – bedingt durch die kundenindividuelle Zusammenstellung – höchst flexibel arbeiten können. Jedes Stück ist in der Regel einmalig und hat andere Ausprägungen in den verschiedenen Variablen. Mittels einer neuen Technologie kann äußerst variabel, praktisch »stufenlos« und gleichzeitig kostengünstig produziert werden. Die verwendeten Maschinen stammen vom Maschinenbauer IMA aus Lübbecke, dessen Produkte von anderen Möbelherstellern zur Klein- 10 2122.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Der Prozess aus Lieferantensicht InVIDO GmbH: Mass Customization in der Möbelindustrie 2122.01.01 – © Symposion Publishing 2006 serienfertigung verwendet werden. Die Fertigungszeit beträgt zwei bis vier Wochen, was unterhalb der benötigten Zeit der meisten Möbelhersteller liegt. Insgesamt sind die Produktionskosten nicht höher als bei herkömmlicher Serienfertigung, was unter anderem auch am minimalen Personaleinsatz liegt. InVIDO hat außerdem eine durchgängige Wertschöpfungskette entwickelt, die entscheidend für den Erfolg des Konzeptes ist und die Geschäftsführerin Frau Müller wie folgt beschreibt: »Wir haben ein komplett durchgängiges System vom Kunden bis zu den Maschinen inklusive angeschlossener Warenwirtschaft und Versandlogistik geschaffen. Mittels unserer Software sendet uns der Kunde praktisch alle Daten, die wir für die Produktion seines Möbels benötigen. Der Liefertermin wird ermittelt, die Auftragsbestätigung erstellt und das war’s. Dann beginnt der »Rest« von allein.«(vgl. [1]). Neben der effizienten und flexiblen Produktionstechnologie sowie der durchgängigen Wertschöpfungskette ist die Fähigkeit, die individuellen Spezifikationsdaten problemlos auf die Produktionssteuerung zu übertragen, eine Kernkompetenz des Unternehmens. Ist das Möbelstück oder Möbelsystem gefertigt, wird es an den Händler geliefert, welcher wiederum an den Kunden liefert beziehungsweise das Produkt beim Kunden montiert. Der gesamte Prozess vom Absenden der Kundendaten bis zur Installation des Möbels dauert vier bis sechs Wochen. Profitmechanismus Das Konzept von InVIDO ermöglicht eine rentable Produktion in Deutschland. Dies liegt zum einen am durchdachten Angebot, am minimalen Personaleinsatz in der modernen, hochautomatisierten Fabrik und an der durchgängigen Logistikkette. Darüber hinaus ist die höhere Zahlungsbereitschaft der Kunden entscheidend für den Erfolg des Unternehmens. Wie eingangs erläutert, hat sich InVIDO im mittleren Preissegment platziert. Zielgruppe ist eine etwas zahlungs- 11 kräftigere Käuferschicht, die Wert auf Funktionalität und vor allem Passgenauigkeit legt. Für ein Möbelstück, das ein Kunde hundertprozentig in seine Wohnumgebung einpassen kann, ist er natürlich bereit, etwas mehr zu bezahlen, als für Standardware, bei der er hier und da Einschränkungen hinnehmen muss. Das Problem, etwas in der passenden Größe zu finden, existiert faktisch nicht. Trotzdem versichert Herr Gertis, Systempartner von InVIDO in München Aubing, liegen die Preise für InVIDO-Güter nicht wesentlich über vergleichbaren Serienprodukten. Ein eindeutiger Vergleich ist auch nur schwer zu ziehen, da ein InVIDO-Produkt laut Kristin Müller »natürlich einige Qualitätsmerkmale [hat], die nicht marktüblich sind, die ein Maßmöbel aber haben sollte, zum Beispiel Massivholzschubkästen mit gezinkter Eckverbindung, hochwertige Beschläge, Verwendung von Lacken auf Wasserbasis usw.«(vgl. [1]). Das Spektrum verschiedener Materialien lässt den Kunden das Produkt dann auch preislich noch etwas beeinflussen. Betrachtet man das Ausmaß an Anpassbarkeit sowie die genannten Qualitätsmerkmale, müsste man eigentlich einen Vergleich mit der Einzelanfertigung einer Schreinerei ziehen, deren Produkt natürlich wesentlich teurer wäre. InVIDO ist damit qualitativ eher mit dem mittleren bis hohen, preislich jedoch eher mit dem mittleren Preissegment zu vergleichen. Beim Käufer wird aufgrund der individuellen Anpassbarkeit sowie anderer, hochwertiger Produkteigenschaften höherer Nutzen und damit eine höhere Zahlungsbereitschaft generiert. Bei vergleichsweise niedrigen Produktions- und Logistikosten hat das Unternehmen damit eine profitable Marktposition gefunden. Bewertung Stärken und Chancen Das InVIDO-Konzept hat eine Vielzahl von Stärken. Verbunden mit den nachfolgenden Chancen, könnte das Unternehmen diese für den weiteren Ausbau seiner Position nutzen: 12 2122.01.01 – © Symposion Publishing 2006 InVIDO GmbH: Mass Customization in der Möbelindustrie 2122.01.01 – © Symposion Publishing 2006 InVIDO GmbH: Mass Customization in der Möbelindustrie ð Effiziente und flexible Fertigungstechnologien garantieren eine äußerst weitgehende Individualisierung zu einem Preisniveau, das vergleichbar ist mit dem Preisniveau der Serienfertigung. ð Die Individualisierbarkeit der Produkte ist konkurrenzlos im mittleren Preissegment. Damit kann das Bedürfnis der Kunden nach Individualität hinsichtlich der Maße und des Designs sehr weitgehend erfüllt werden, ohne dass der Kunde die damit üblichen hohen Preise zahlen muss. Dies wiederum führt zu einem gestiegenen Kundennutzen. ð Der Konfigurations- und Verkaufsprozess ist aufgrund des verwendeten Konfigurationstools sehr kundenfreundlich und darauf ausgerichtet, den Kunden bei der Zusammenstellung des individuellen Produktes zu unterstützen und die Komplexität für ihn gering zu halten. ð Hinsichtlich des Vertriebskonzeptes profitiert InVIDO von Sachkompetenz und Marktpräsenz des Fachhandels. ð Ein durchgängiges Logistiksystem reduziert Fehler und Wartezeiten. Kurze Lieferzeiten von 4-6 Wochen differenzieren InVIDO damit ebenfalls deutlich von der Konkurrenz. ð Die Zielgruppe wird in Zukunft voraussichtlich wachsen, da der Trend insgesamt eher zu schlichteren Möbelstücken geht. ð Der zunehmende Trend, sich von der Masse abzuheben und individuell auf die eigene Bedürfnissituation angepasste Produkte zu erhalten, wird in Zukunft das Bedürfnis nach derartiger Individualisierbarkeit und damit die Nachfrage steigern. Schwächen und Risiken Als Schwächen und Risiken sind allerdings die folgenden Aspekte zu nennen: ð Das vorgegebene Grunddesign grenzt die Zielgruppe ein. Kaufkräftige Kunden bevorzugen oft mehr Verzierungen oder auffälliges Design gegenüber schlichter Funktionalität. 13 InVIDO GmbH: Mass Customization in der Möbelindustrie ð Die Beschränkung auf den mittleren Preissektor schließt junge Leute aus, die weniger kaufkräftig sind, für die das Konzept in Hinblick auf das Design allerdings sehr ansprechend wäre. ð InVIDO betreibt keine aktive Marketingstrategie. Kontakte zu Händlern werden auf Messen gesucht und kommen manchmal auch einfach zufällig zustande. Den Endkunden adressiert InVIDO nur via Homepage; er muss von einem Händler auf das Angebot aufmerksam gemacht werden. ð Die Tatsache, dass die Händler neben InVIDO-Produkten auch Produkte anderer Hersteller anbieten, erschwert den Verkauf von InVIDO-Produkten, die grundsätzlich erklärungsbedürftiger sind als Standardprodukte. ð Mit zunehmender Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Deutschland und anderen europäischen Staaten könnte die Zahlungsbereitschaft abnehmen. Davon betroffen sind meist Unternehmen im mittleren Preissegment wie InVIDO. ð Neue Konkurrenten könnten in den Markt kommen. Im Moment sieht sich InVIDO konkurrenzlos. Das Auftauchen eines oder mehrerer Konkurrenten – vielleicht noch ausgehend von einem großen finanzstarken Möbelhersteller – könnte den Erfolg des relativ kleinen Unternehmens InVIDO bremsen. Die Geschäftsentwicklung von InVIDO ist derzeit äußerst positiv zu bewerten und das Unternehmen baut seine Marktposition kontinuierlich aus. Obwohl es derzeit keinen ernsthaften Konkurrenten gibt, der dasselbe Ausmaß an Individualisierung zu vergleichbaren Preisen anbietet, bleibt InVIDO wachsam. »Für uns gilt, einfach immer besser und schneller zu sein, wie das auch für viele andere junge Technologieunternehmen gilt« (vgl. [1]). InVIDO entwickelt sein Angebot deshalb auch ständig weiter. Jährlich gibt es bis zu vier Updates, die von Materialangebot über 14 2122.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Ausblick InVIDO GmbH: Mass Customization in der Möbelindustrie Konstruktionsneuheiten bis zu neuen Planungsmodulen reichen. Kundenimpulse werden hierbei dankbar aufgenommen. Die Produktpalette wird damit für immer mehr Kunden interessant, das Unternehmen bleibt auf dem neuesten Stand. Das existierende Konzept sowie die Einstellung des Unternehmens lassen demnach für die Zukunft der InVIDO GmbH nachhaltigen Erfolg erahnen. Danksagung: Die Autoren danken Herrn Gertis, Systempartner von InVIDO in München Aubing, sowie Frau Kristin Müller, geschäftsführende Gesellschafterin von InVIDO, für ihre Unterstützung bei der Erstellung dieser Fallstudie. 2122.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Robert Simm studiert Technologie- und Managementorientierte Betriebswirtschaftslehre an der TU München und plant, sein Studium im März 2006 abzuschließen. Als technisches Nebenfach wählte er Elektro- und Informationstechnik. Sein Studium finanziert sich Robert Simm mit einer Werkstudententätigkeit im Strategischen Einkauf bei Siemens Communications, wo er sich unter anderem mit dem Thema Standardisierung beschäftigt. Im Sommer 2005 führte er dort mit drei Kommilitonen eine Projektstudie zum Thema »Target Price Setting for Supplier Negotiations by creating and implementing objective criteria« durch. In seiner Freizeit engagiert er sich ehrenamtlich bei Kolping und der Jungen Union, wo er seit März 2004 Vorsitzender des Ortsverbandes Altomünster ist. Kontakt: [email protected]. Melanie Müller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre – Information, Organisation und Management an der TU München. Innerhalb der Research Group »Customer-driven Value Creation« befasst sie sich vorwiegend mit der Kundeninteraktion bei Mass Customization und Open Innovation. Sie unterrichtet außerdem an der TUM Business School in den Bereichen Mass Customization und Open Innovation sowie Organisation, Führung und Strategie. Melanie Müller studierte Betriebswirtschaftslehre an der Ludwig Maximilians Universität München und der University of California Los Angeles. Zusätzlich absolvierte sie ein zweijähriges Zusatzstudium und erwarb ein Certificate in Technology Management am Center for Digital Technology and Management (CDTM). Praktische Erfahrung sammelt sie u.a. bei DaimlerChrysler, Steppenwolf, BMW und der DZ BANK AG. Kontakt: [email protected]. Literatur [1] Interview mit Frau Kristin Müller, geschäftsführende Gesellschafterin von InVIDO, vom 27.07.2004. Zusätzlich wurde eine schriftliche Befragung durchgeführt. 15 Kfz-Versicherungen: Kann man Kundentarife individualisieren? Die Produkte der Versicherungsbranche sind hochgradig abstrakt und bringen dem Kunden beim Kauf keinen unmittelbaren Nutzen. Wer ist schon stolz auf seine neue Autoversicherung? Von Interesse ist daher die Frage, welchen (zusätzlichen) Kundennutzen individuelle Versicherungsangebote stiften können. Stichworte: nutzungsbasierte Kfz-Versicherung, Tarifindividualisierung, Tarifgruppenmerkmale, Versicherungskonfigutator, »Pay-as-you-drive«-Konzept Thomas Prasch, Melanie Müller Umfeld des Mass-Customization-Angebots 2125.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Branchenüberblick Das Auto ist und bleibt »des Deutschen liebstes Kind«. Seit dem Jahre 1975 hat sich der Kfz-Bestand in Deutschland verdoppelt. 2003 waren mehr als 53 Millionen Fahrzeuge, davon allein über 44 Millionen PKW, zugelassen. Diese legten insgesamt über 600 Milliarden Kilometer zurück. [1] Gemäß dem Pflichtversicherungsgesetz ist die Kraftfahrzeug-Versicherung (Kfz-Versicherung) in Deutschland gesetzlich vorgeschrieben und somit die Voraussetzung für die Anmeldung eines Fahrzeugs. Der Markt für Kfz-Versicherungen entwickelte sich dementsprechend und erreichte im Jahre 2003, als volumenmä- Kfz-Versicherungen: Kann man Kundentarife individualisieren? ßig größter Teil der Schadens- und Unfallversicherung, einen Wert von über 20 Milliarden US-Dollar. [2] Im Juli 1994 fand eine Deregulierung in der Versicherungsbranche statt. Bis zu diesem Zeitpunkt mussten alle Tarifänderungen vom Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen explizit genehmigt werden. Durch die neu geschaffene Tariffreiheit können die Allgemeinen Kraftfahrtversicherungsbedingungen (AKB), die die vertraglichen Rechte und Pflichten zwischen dem Versicherer und dem Versicherungsnehmer regeln, von den Versicherungen individuell gestaltet werden. [3] Neben der allgemeinen Marktsättigung intensivierte dies den Wettbewerb und führte zu enormem Preisdruck. Trotz steigender Versicherungsabschlüsse verringerten sich, durch die Konkurrenzsituation, die Versicherungsprämien stetig. Es begann eine Konsolidierungsphase, in der einige Unternehmenszusammenschlüsse und Fusionen stattfanden. Erst seit der Jahrtausendwende stiegen die Prämien wieder; 2002 wurde das Niveau des Deregulierungsjahres 1994 erreicht (vgl. Abb. 1). Nach dem Geschäftsbericht des Bundesaufsichtsamts für Versicherungen (BAV) aus dem Jahre 2001 ist die Allianz-Gruppe mit 17,9 Prozent Marktführer, gefolgt von den öffentlichen Versicherern mit 33,0 52,0 49,7 49,0 47,4 46,8 48,1 50,6 51,1 51,6 52,3 30,0 48,8 27,0 45,8 46,0 43,0 24,0 21,9 22,4 21,5 20,5 40,0 19,9 19,8 20,4 21,3 22,0 22,3 18,0 98 97 96 99 20 00 20 01 20 02 20 03 19 19 19 19 95 15,0 19 19 94 37,0 21,0 Abb. 1: Entwicklung der Anzahl der Verträge und der Prämien von 1994-2003 [4] 2125.01.01 – © Symposion Publishing 2006 55,0 Beitragseinnahmen in Mrd € Anzahl der Verträge in Mio Anzahl der Verträge Beitragseinnahmen Kfz-Versicherungen: Kann man Kundentarife individualisieren? 2125.01.01 – © Symposion Publishing 2006 10,3 Prozent und der HUK-Gruppe mit 10,0 Prozent. Die Aachener Münchener Gruppe, die R+V-Gruppe und die AXA-Gruppe haben Marktanteile zwischen vier Prozent und sieben Prozent. [4] Mit zunehmender Verbreitung des Internets haben sich einige Direktversicherer etabliert, die durch Verzicht auf Außenhandelsvertreter und persönliche Beratung Kostenvorteile erzielen wollen. Direkt Line, Auto Direkt und Cosmos gehören zu den bekanntesten Vertretern. Traditionelle Versicherer, wie zum Beispiel Allianz oder AXA, haben grundsätzlich einen hohen Personalaufwand und werden durch die kostengünstige Angebote unter Druck gesetzt. Viele traditionelle Versicherer haben deshalb zusätzlich eine Online-Tochter gegründet, um die Vorteile des Direktvertriebs ebenfalls zu nutzen und neue Vertriebswege zu erschließen. Wie die Abbildung 2 zeigt, kann man beispielsweise zwischen HUK24 als Online-Direktversicherer und der traditionellen HUK-Coburg auswählen. Die HUK24 bietet zusätzliche Rabatte an, wenn Versicherungen online abgeschlossen werden; dafür entfällt die persönliche Beratung. Abb. 2: HUK24 und traditionelle HUK-COBURG im Vergleich Kfz-Versicherungen: Kann man Kundentarife individualisieren? Zusätzlich drängen neue Konkurrenten auf den Markt. Autohersteller oder Automobilclubs wie der ADAC wollen ihr Geschäft erweitern und sorgen somit für verstärkten Wettbewerb in der Zukunft. Kfz-Versicherungen bestehen in der Regel aus verschiedenen (standardisierten) Bausteinen. Neben der gesetzlich vorgeschriebenen Haftpflichtversicherung kann freiwillig noch eine Teilkasko- oder Vollkaskoversicherung abgeschlossen werden. Zusätzlich bieten viele Versicherungen noch eine Insassenunfallversicherung oder einen Schutzbrief als weitere Absicherungen an. Die Haftpflichtversicherung dient zur Absicherung von Schäden an Unfallopfern beziehungsweise deren Eigentum bis zur gesetzlichen Mindestdeckungssumme. Personenschäden sind mit mindestens 2,5 Millionen Euro, Sachschäden mit 500.000 Euro und Vermögensschäden mit 50.000 Euro versichert. Bei der Teilkaskoversicherung handelt es sich um einen optionalen Teil, der bestimmte Schäden am eigenen Fahrzeug, zum Beispiel Brand, Blitzschlag, Hagel, Diebstahl oder Wildschäden, abdeckt. Diese wird meist mit einer Selbstbeteiligung von circa 150 Euro abgeschlossen. Darüber hinaus deckt die Vollkaskoversicherung auch Schäden ab, die durch mutwillige Handlungen fremder Personen oder durch eigene Schäden bei selbstverschuldeten Unfällen entstanden sind. Zudem erhält der Versicherungsnehmer bei Diebstahl oder Totalschaden den Wiederbeschaffungswert des Kraftfahrzeugs. Dabei werden Selbstbeteiligungen bis zu 1.000 Euro vereinbart. Die Insassenunfallversicherung ist eine freiwillige Ergänzung zur Haftpflichtversicherung. Es werden zusätzlich Schäden erstattet, falls der Fahrer für die Unfallfolgen nicht haftet (zum Beispiel bei höherer Gewalt), der Unfallverursacher Fahrerflucht begangen hat oder die Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers nicht zahlt. Durch den Autoschutzbrief erhält der Versicherungsnehmer zusätzlich Hilfe bei Unfällen und Pannen. Er beinhaltet 2125.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Bestandteile der Kfz-Versicherung Kfz-Versicherungen: Kann man Kundentarife individualisieren? Aufwendungen, die mit den Leistungen einer ADAC Mitgliedschaft vergleichbar sind, zum Beispiel für Bergungen, Rücktransporte oder Mietwagen. [5] Die Produkte selbst sind damit grundsätzlich zumeist sehr ähnlich, da die Optionsmöglichkeiten bezüglich der verschiedenen Produktbestandteile sehr gering sind. Es bleibt lediglich die Wahl, ob man zur Haftpflichtversicherung zusätzlich eine Teil- oder Vollkaskoversicherung, eine Insassenversicherung oder einen Schutzbrief abschließt. 2125.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Tarifindividualisierung als erster Schritt in Richtung Mass Customization Auch wenn das Produkt »Kfz-Versicherung« aufgrund der geringen Auswahl bei den Produktbestandteilen bei unterschiedlichen Kunden meist sehr ähnlich ist, hat sich in den letzten Jahren ein Trend zur Individualisierung gezeigt. Hierfür sind zwei Gründe verantwortlich: Auf der einen Seite schuf erst die Deregulierung des Versicherungsmarktes die Voraussetzung für eine Individualisierung. Diese führte gleichzeitig zu einer Intensivierung des Wettbewerbs und aufgrund zunehmender Marktsättigung zur Notwendigkeit, über neue Wege der Kundengewinnung und -bindung nachzudenken. Die Versicherungsunternehmen suchten zunehmend nach Chancen, sich von ihren Wettbewerbern zu differenzieren. Neue Kunden sollten vor allem durch niedrigere Prämien angelockt werden. Kundenindividuelle Tarife schienen eine geeignet Möglichkeit, sich vom Wettbewerb abzuheben und unterschiedliche Kundengruppen differenziert anzugehen – zumindest hinsichtlich der Prämie. Dabei orientierten sich die Versicherer an Vergangenheitswerten verschiedener Unfallstatistiken. Jeder Kunde zahlt seine persönliche Prämie abhängig von den jeweiligen Merkmalen. Er ist dabei abhängig vom Risikoverhalten anderer Personen, die ähnliche Persönlichkeits- oder Fahrzeugeigenschaften aufweisen. Zwar wird die Prämie individuell für jeden Fahrzeughalter berechnet, jedoch hat der Versicherte selbst kaum Möglichkeiten, den Kfz-Versicherungen: Kann man Kundentarife individualisieren? Versicherungsbetrag zu beeinflussen. Er kann meist nur durch die Wahl der Höhe des Selbstbeitrags die Versicherungspolice verändern. Mittlerweile nutzen fast alle Versicherungen die Möglichkeit, mit Hilfe verschiedener Merkmale individuelle Kundentarife zu berechnen. Generell wird zwischen personen-, fahrzeug- und vertragsspezifischen Daten unterschieden (vgl. Tabelle 1). [6] Tabelle 1: Exemplarische Darstellung von Unterscheidungskriterien bei individuellen Kundentarifen Personenspezifische Daten Fahrzeugspezifische Daten Vertragsspezifische Daten Beruf Fahrzeugtyp Garagenstellplatz Geschlecht Erstzulassung Anzahl der Nutzer Alter Alter des Fahrzeugs Zeitpunkt des Führerscheinerwerbs Zulassungsbezirk Höhe des Selbstbehalts Nutzungsort Jährliche Fahrleistung Versicherungsumfang (Haftpflicht, Teil-/Vollkasko, Insassenversicherung, Schutzbrief) Dauer der Schadensfreiheit Daneben gibt es noch eine Reihe weiterer Unterscheidungsmerkmale, die von Versicherungen berücksichtigt werden, um die Tarife auf die jeweilige Risikosituation auszurichten. Beispielsweise differenziert die HUK24 zwischen Eigenheimbesitzern und Mietern und berücksichtigt, ob eine Person unter 15 Jahren im Haushalt lebt. Zusätzlich werden Rabatte gewährt, wenn man bereits eine andere Versicherung, zum Beispiel Hausrat, dort abgeschlossen hat. Bei der AXA-Versicherung erhalten Beamte und Angehörige des öffentlichen Dienstes Sonderrabatte. Andere Versicherungen bieten spezielle »Ladytarife«, die die besonders sichere Gruppe der Frauen ansprechen soll. [7] Bei der HUK24 beispielsweise ergeben sich durch die vielen unterschiedlichen Merkmalsausprägungen über 1.000.000.000 Tarifmög- 2125.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Verwendungszweck des Fahrzeugs Kfz-Versicherungen: Kann man Kundentarife individualisieren? 2125.01.01 – © Symposion Publishing 2006 lichkeiten. [8] Damit die verschiedensten Tarifgruppenmerkmale den Kunden nicht verwirren und nicht eher zu Mass Confusion (also einer Überforderung des Kunden durch die große Auswahl) als zu Mass Customization führen, helfen Produktkonfiguratoren bei der Bestimmung der individuellen Versicherungsprämie. Der Kunde bekommt zu den unterschiedlichen Kategorien verschiedene Fragen gestellt, bei denen er zumeist aus vorgegebenen Antwortmöglichkeiten wählen kann. Besonders übersichtlich ist die Menüführung der AXA-Versicherung. Zu jeder Frage kann der Kunde bei Bedarf ein Hilfe-Fenster öffnen, indem er das Fragezeichensymbol am rechten Rand anklickt. Zudem erleichtert beispielsweise die graphische Darstellung des Abb. 3: Kfz-Versicherungskonfigurator der AXA Kfz-Versicherungen: Kann man Kundentarife individualisieren? Abschließend lässt sich feststellen, dass die Individualisierung in der Kfz-Versicherungsbranche zwar vorhanden ist, aber nicht aktiv durch den Kunden gesteuert werden kann. Der Kunde hat nicht die Wahl, sich ein Produkt nach den eigenen Präferenzen zusammenzustellen, sondern er wird in eine bestimmte Tarifgruppe abhängig von seinen Merkmalen eingeteilt. Richtige Wahl hat er nur bezüglich weniger Optionen, zum Beispiel der Höhe der Selbstbeteiligung. Der Ansatz »Pay-as-you-drive«, der im Folgenden vorgestellt wird, versucht dem Kunden einen größeren Entscheidungsspielraum über die Höhe sei- 2125.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Kfz-Scheins die Suche nach den fahrzeugspezifischen Daten. Die obere Menüleiste gibt einen Überblick, in welchem Stadium sich der interessierte Kunde befindet. Der Gesamtüberblick zeigt den errechneten Preis und gibt dem Kunden die Möglichkeit, seine persönlichen Daten zu überprüfen. Im letzten Schritt kann dann der Versicherungsantrag abgeschickt werden. Es besteht zudem jederzeit die Möglichkeit, den Konfigurationsvorgang abzubrechen beziehungsweise einen Schritt zurück zu gehen. Um die Sicherheit der vertraulichen Daten zu gewährleisten, erfolgt eine verschlüsselte Übertragung. Der Versicherungsnehmer kann sich somit sein individuelles Angebot berechnen lassen und mit Hilfe des Internets leicht verschiedene Versicherungsangebote vergleichen. Produktkonfiguratoren im Internet helfen bei der Kompensierung der zusätzlichen Kosten, die durch die Tarifindividualisierung entstehen. Spezielle Schulungsmaßnahmen für Vertreter und Außendienstmitarbeiter führen für traditionelle Versicherungen zu erheblichen Zusatzaufwendungen. [8] Zudem erhöhen sich der Verwaltungsaufwand und die IT-Kosten, da für jeden Kunden weit mehr Daten erhoben und gespeichert werden müssen. Onlinekonfiguratoren versuchen diese Zusatzkosten zu vermeiden, indem der Kunde selbstständig seine spezifischen Daten eingibt. Dies ist einer der Gründe, warum mittlerweile die meisten Versicherungsunternehmen Konfiguratoren einsetzen. Sie helfen, die Kosten niedrig zu halten, indem der Kunde befähigt wird, sich sein Produkt selbst zusammen zu stellen. Kfz-Versicherungen: Kann man Kundentarife individualisieren? ner Versicherungsprämie zu gewähren und bietet mehr Individualisierungsoptionen. »Pay-as-you-drive« – Kfz-Versicherung der Zukunft? Grundprinzip »The more you drive, the more you pay!« Dies �������������������������� ist der einfach klingende Grundsatz einer nutzungsbasierten Kfz-Versicherung. Dabei zahlt der Versicherungsnehmer die Prämie in Abhängigkeit davon, wann, wo und wie oft das Auto tatsächlich genutzt wird. Erst durch die Integration von verschiedenen Technologien wie Telematik und IT kann dieses innovative Geschäftsmodell realisiert werden. Bisher wurden die Prämien lediglich auf Basis von Durchschnittswerten ähnlicher Kundengruppen berechnet. Mit Hilfe einer nutzungsbasierten Kfz-Versicherung soll das Angebot weiter individualisiert werden und dem Versicherungsnehmer die Chance geben, die Versicherungsprämie aktiv zu beeinflussen. »Pay-as-you-drive« ist somit eine Art Mass Customization bezüglich der Art und Häufigkeit der Nutzung von Fahrzeugen. Die Abbildung 4 zeigt, dass das Konzept »Pay-as-youdrive« berechtigt ist. Mit der Anzahl an gefahrenen Kilometern steigt Jährliche Unfallmelderate 2125.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Unfallrate in Abhängigkeit der gefahrenen Kilometer 0,1 0,08 gesamt verschuldet 0,06 nicht-verschuldet 0,04 0,02 0 <5 5 < 10 10 < 15 15 < 20 20 < 25 25 < 30 Jährlich gefahrene Kilometer Abb. 4: Zusammenhang zwischen gefahrenen Kilometer und Schadenswahrscheinlichkeit [9] Kfz-Versicherungen: Kann man Kundentarife individualisieren? auch die Unfallwahrscheinlichkeit. Diese Tatsache lässt eine nutzungsbasierte Versicherungsprämie, die sich am Fahrverhalten orientiert, sinnvoll erscheinen. Auf Basis eines Grundbetrags, der nach dem aktuellen Prinzip der Prämienkalkulation errechnet wird, werden zusätzlich variable Bestandteile integriert. Das Konzept einer nutzungsbasierten Kfz-Versicherung beruht dabei auf folgenden drei Schritten: Datenerhebung – Datenübertragung – Datenauswertung (vgl. Abb. 5). In jedes Auto wird ein Ortungsgerät eingebaut, das die gewünschten Daten, beispielsweise die Anzahl der gefahrenen Kilometer, Geschwindigkeiten oder den Aufenthaltsort des Fahrzeugs, übermittelt. Das Ortungsgerät bezeichnet man als black box, die zumeist am Motor angebracht wird. Dabei werden die Daten über ein globales Positionierungssystem (GPS) aufgezeichnet und via Satellit zur Versicherung übertragen. Die Versicherung wertet die erhobenen Daten aus und berechnet die individuelle monatliche Prämie. Letztendlich entscheidet damit sowohl die Qualität als auch die Quantität der Fahrzeugnutzung über die Höhe der Monatsrechnung. [6] Aus fixen 10 2125.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Abb. 5: Grundprinzip einer nutzungsbasierten Kfz-Versicherung [6] Kfz-Versicherungen: Kann man Kundentarife individualisieren? 2125.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Versicherungskosten werden damit variable Kosten. Je nach Ausprägung der black box und Entwicklungsstand der Technologie können neben der Fahrdauer und der Geschwindigkeit noch weitere Daten erfasst und übermittelt werden, beispielsweise die Tageszeit. Da Untersuchungen zeigen, dass das Risiko eines Unfalls zu den Hauptverkehrszeiten zwischen 16 Uhr und 17 Uhr größer ist, könnte dieser Aspekt bei der Prämiengestaltung berücksichtigt werden. [14,15] Es ist zudem geplant, dass neuere Versionen weitere Einzelheiten aufzeichnen können. Beispielsweise, ob eine Person angeschnallt ist, in welchem Zustand sich das Fahrzeug befindet oder ob Verkehrszeichen beachtet werden. [11] Diese werden dann bei der Berechnung der Versicherungsprämie einkalkuliert. Progressive Insurance in den USA war 1998 die erste Versicherung, die mit dem Pilotprojekt »Autograph« eine nutzungsbasierte Autoversicherung mit Hilfe fortschrittlicher Technologien testete. Nach eigenen Angaben war die Kundenzufriedenheit sehr hoch und die Ersparnisse für den Kunden lagen durchschnittlich bei 25 Prozent. [12] Jedoch beendete Progressive Insurance das Projekt, da die Kosten für die neue Technologie zu hoch waren. Die Ausstattung jedes Autos allein kostete 500 US-Dollar pro Testperson. [12] Seit dieser Zeit planen mehrere Versicherungen ähnliche Projekte oder haben sie bereits durchgeführt. Es gibt allerdings noch keine Versicherung, die ihren Kunden eine nutzungsorientierte Kfz-Versicherung anbietet. In Europa führt Norwich Union, die größte Versicherung Großbritanniens, derzeit ein groß angelegtes »Pay-as-you-drive«-Konzept mit über 5.000 Testanwendern durch. IBM liefert gemeinsam mit dem britischen Kommunikationsunternehmen Orange die Telematik- und Telekommunikationstechnologie. [13] Dabei stützen sie sich auf die gleiche Technologie, die Progressive Insurance entwickelt hat. Nach einer Studie, die Norwich Union in Auftrag gegeben hat, wollen neun von zehn Autofahrern ihre Kfz-Versicherung nutzungsabhängig bezahlen. [14] Dies war einer der Hauptgründe, weshalb der britische Versicherungsriese in diese Thematik investiert. 11 Kfz-Versicherungen: Kann man Kundentarife individualisieren? Nutzungsbasierte Kfz-Versicherungen bringen Vorteile für verschiedene Interessengruppen mit sich: Vorteile für den Versicherungsnehmer: Vor allem sichere Fahrer und Gelegenheitsfahrer profitieren von wesentlich geringeren Versicherungsprämien. Wie bereits erwähnt lagen die durchschnittlichen nutzungsbasierten Prämien bei Progressive Insurance um 25 Prozent unter den ursprünglichen Versicherungsbeiträgen. Zudem erhöht sich die Transparenz, da der Kunde die Zusammensetzung seiner Prämie besser nachvollziehen kann. Er kann die Prämie ferner durch sein Verhalten aktiv beeinflussen und wird nicht passiv einer Gruppe zugeordnet, nach der sich sein Beitrag berechnet. Im Falle eines Unfalls kann außerdem mit Hilfe der neuen Technologie der Unfallort schnell geortet und entsprechende Rettungsmaßnahmen sofort eingeleitet werden. Zusatznutzen für die Versicherungen: Die Einführung einer nutzungsbasierten Versicherung hätte grundsätzlich positive Auswirkungen auf das Image des jeweiligen Unternehmens. Der Ruf als kundenorientiertes und sozial-verantwortliches Unternehmen kann neue Kunden anlocken und somit den Marktanteil und die Wettbewerbsposition verbessern. Da noch kein anderes Unternehmen ein vergleichbares Produkt anbietet, hätte man zudem einen »first-mover advantage«. Dies würde sich ebenfalls positiv auf die Reputation der Versicherung auswirken. Neben der erhöhten Transparenz und der damit verbundenen zunehmenden Kundenzufriedenheit, steigt auch die Kundenbindung. Wie bereits erwähnt, profitieren vor allem sichere Fahrer und Wenigfahrer von nutzungsbasierten Prämien. Für die Versicherungen sind dies besonders attraktive Kunden, da sie durchschnittlich weniger Unfälle und damit Kosten verursachen. Nutzen für die Gesellschaft: Einige Umweltschutzorganisationen befürworten das »Pay-as-you-drive«-Konzept und fördern dessen Einführung. Durch das Prinzip »The more you drive, the more you pay« 12 2125.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Zusätzliche Nutzen- und Kostensenkungspotenziale von »Pay-as-you-drive« Kfz-Versicherungen: Kann man Kundentarife individualisieren? besteht der Anreiz, weniger zu fahren. Schätzungen haben ergeben, dass nutzungsbasierte Fahrzeugversicherungen das Gesamtfahraufkommen um 5-15 Prozent reduzieren. Dies wiederum führt zu einem verringerten CO2-Ausstoß und schont somit die Umwelt. Zudem erhöht es die Sicherheit auf den Straßen, da sich bei geringerem Fahraufkommen die Anzahl der Unfälle um bis zu 17 Prozent verringern könnte. Dies entlastet wiederum die Versicherungen. Besonders für Vielfahrer, die mit höheren Prämien rechnen müssen, steigt der Anreiz, umweltfreundlichere Verkehrsmittel zu benutzen. 2125.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Herausforderungen von »Pay-as-you-drive« Neben den zahlreichen Vorteilen bringt die nutzungsabhängige Versicherung einige Herausforderungen und Ungewissheiten mit sich. Die größte Herausforderung liegt in der Festsetzung der nutzungsabhängigen Prämien. Es liegen bisher keine Daten vor, wie viel ein Kunde beispielsweise pro Kilometer oder für ein bestimmtes risikoreiches Fahrverhalten bezahlen soll. Mit Hilfe der Pilotprojekte sollen erste Anhaltspunkte erschlossen werden. Zudem müssen die Computerprogramme modifiziert werden. Um das neue GPS-System einzurichten, sind enorme Investitionen in die technische Infrastruktur notwendig. Ein weiteres Problem stellt die flächendeckende Ausstattung der Autos mit den entsprechenden Geräten dar. Hierzu kann eine engere Zusammenarbeit mit den Automobilherstellern angestrebt werden, die die black boxes bereits bei der Produktion einbauen könnten. Zudem fehlt den Versicherern eine feste Kalkulationsbasis, da die Einnahmen schlechter vorhergesagt werden können. [9] Für einige Menschen klingt die Idee einer nutzungsbasierten Autoversicherung, die mit Hilfe von aufgezeichneten Telematikdaten berechnet wird, nach einer Umsetzung von Georg Orwells Utopie »Big Brother is watching you!«. Dies könnte zu einer eher ablehnenden Einstellung der Kunden führen, da nutzungsbasierte Prämien zwangsläufig mit der Aufzeichnung der Daten verbunden sind. Des Weiteren 13 Kfz-Versicherungen: Kann man Kundentarife individualisieren? Ausblick Es ist umstritten, ob man bei der aktuellen Tarifindividualisierung in Deutschland von Mass Customization sprechen kann. Das Produkt ist, wie erwähnt, häufig sehr ähnlich; der Kunde wird meist passiv in eine Versicherungsgruppe eingeteilt. Pilotprojekte wie »Pay-as-youdrive« kommen dem Gedanken von Mass Customization schon etwas näher, da der Kunde seine Prämie selbst aktiv während der Vertragslaufzeit beeinflussen kann. Dabei wird das individuelle Verhalten in bestimmten Situationen berücksichtigt. Aber auch bei nutzungsbasierten Versicherungskonzepten ist es nicht möglich, dass der Kunde lediglich bestimmte Teile, zum Beispiel nur die vordere Stoßstange seines Fahrzeugs versichert. Eine andere Variante wäre eine streckenindividuelle Versicherung, bei der der Versicherungsnehmer vor der Fahrt angibt, ob er einen bestimmten Versicherungsschutz, zum Beispiel Vollkasko, haben möchte. Nach Meinung von Versicherungsexperten ist diese Art der weitergehenden Individualisierung weder möglich noch rentabel, da der Kunde nur noch seine schlechten Risiken versichern würde. [8] Diese sind wiederum für die Versicherer nicht attraktiv und würden im Endeffekt zu steigenden Prämien führen. Zusätzlich würde der Verwaltungsaufwand steigen und die 50 Millionen Versicherten müssten in ständigem Kontakt mit ihren Versicherern stehen, da sie vor jeder Fahrt ihren Schutz neu wählen müssten. Daneben sollte man auch das Grundprinzip der Solidarität unter den Versicherten nicht vergessen. Kleine Ursachen können eine große Wirkung haben. Es wäre äußerst ungerecht, wenn genau in diesen Fällen die Kosten überwiegend dem Verursacher angelastet werden würden. [16] Diese Aspekte lassen eine weitergehend individualisierte Kfz-Versicherung eher weniger sinnvoll erscheinen. 14 2125.01.01 – © Symposion Publishing 2006 müssen rechtliche Aspekte des Datenschutzes näher berücksichtigt werden. Diese Aspekte könnten ein unüberbrückbares Hindernis für die Einführung des Konzeptes darstellen. Kfz-Versicherungen: Kann man Kundentarife individualisieren? In Deutschland gibt es zurzeit keine konkreten Pläne für die Einführung nutzungsbasierter Kfz-Versicherungen. Sollten jedoch die Ergebnisse des im Moment laufenden Pilotprojekts der Norwich Union positiv ausfallen, müssten sich auch deutsche Versicherer mit dem Thema näher auseinandersetzen. Insbesondere der Umweltschutzaspekt könnte die Regierung dazu bewegen, »Pay-as-you-drive«Konzepte zu unterstützen und deren Einführung zu subventionieren. In diesem Fall wäre eine nutzungsbasierte Kfz-Versicherung eine gute Chance, seinen Kunden ein individuelles und transparentes Produkt anzubieten und zusätzlich ein Image als gesellschaftlich verantwortliches Unternehmen aufzubauen. 2125.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Thomas Prasch ist Student der Technologie- und Managementorientierten Betriebswirtschaftslehre an der Technischen Universität München. In sein Studium integrierte er einen Auslandsaufenthalt an der Hongkong University of Science and Technology. Seine betriebswirtschaftlichen Studienschwerpunkte sind Organization, Technology & Management und Human Resource Management. Als technische Vertiefungsfächer belegt er anorganische und organische Chemie. Kontakt: [email protected]. Melanie Müller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre – Information, Organisation und Management an der TU München. Innerhalb der Research Group »Customer-driven Value Creation« befasst sie sich vorwiegend mit der Kundeninteraktion bei Mass Customization und Open Innovation. Sie unterrichtet außerdem an der TUM Business School in den Bereichen Mass Customization und Open Innovation sowie Organisation, Führung und Strategie. Melanie Müller studierte Betriebswirtschaftslehre an der Ludwig Maximilians Universität München und der University of California Los Angeles. Zusätzlich absolvierte sie ein zweijähriges Zusatzstudium und erwarb ein Certificate in Technology Management am Center for Digital Technology and Management (CDTM). Praktische Erfahrung sammelt sie u.a. bei DaimlerChrysler, Steppenwolf, BMW und der DZ BANK AG. Kontakt: [email protected]. Literatur [1] Statistik des ADAC. http://www.adac.de/images/Allgemeines Prozent20Verkehrsdaten_tcm8948.pdf (Stand: 19. Juli 2004) [2] Data Monitor: Motor Insurance in Germany – Industry Profile. 2003 15 Kfz-Versicherungen: Kann man Kundentarife individualisieren? [3] Deregulierung der Versicherungsbranche 1994: http://www.aspectonline.de/prodinfo/ abc_Kfz/akb.htm (Stand: 15. Juli 2004) [4]E+S Rückversicherungs-AG (Hrsg.): Hannover Forum 2003 [5]Aufbau von Kfz-Versicherungen. http://versicherungs-wiki.de/index.php/KFZ-Versicherung (Stand: 15. Juli 2004) [6]Oberholzer, Matthias: Geschäftsmodell einer nutzungsbasierten Motorfahrzeugversicherung in der Schweiz. Leipzig: 2003 [7] Neues Tarifsystem bei Kfz-Versicherungen, http://www.wdr.de/tv/service/geld/inhalt/20031106/b_1.phtml (Stand 20. Juli 2004) [8]Interview mit Rheinländer, Dr. Jörg: HUK-Coburg. 18. Juli 2004 [9]Litman, Todd: Distance-Based Vehicle Insurance as a TDM strategy. Victoria Transport Policy Institute. März 2003 (www.vtpi.com) [10]Hagerbaumer, Christine: Drive-By Rates. Best‘s Review: April 2004 Vol. 104 Issue 12 [11]Mitchell, Robert: Progressive To Expand Satellite Auto System. National Underwriter/ Property & Casualty Risk & Benefits. 19.03.2001 Vol. 105 Issue 12 [12]MacSweeney, Greg: Progressive Awarded Patent for GPS Rating. Insurance & Technology. October 2003 Vol.25 Issue 10 [13]O’Donnell, Anthony: Norwich Pilots Telematics. Insurance & Technology. Mai 2003 Vol. 28 Issue 5 [15]Murray Elissa: Fakten über pay-as-you-drive Versicherungen. www.northwestwatch.org/reforms/PAYD_facts.pdf (Stand: 25. Juli 2004) [16] Interview mit Matthias Rüegg, Winterthur Versicherung, 14. Juli 2004 16 2125.01.01 – © Symposion Publishing 2006 [14] Umfrage der Norwich Union. http://www.norwichunion.com/pay_as_you_drive (Stand: 19. Juli 2004) Kreditkarten: Die eigene Wunschkarte konfigurieren Immer mehr Kreditkartenunternehmen erkennen, dass sich mit individuellen Kreditkarten attraktive Kunden gewinnen lassen. Prestige und besondere Serviceleistungen zählen dabei ebenso zu den Erfolgsfaktoren wie die Möglichkeit, dass der Kunde gewünschte Optionen für die Karte selbst auswählt. Stichworte: Debit-Card, Charge-Card, Credit-Card, individuell konfigurierbare Kreditkarte, Savvy, Future Switcher, Loyal, Jahresgebühr, Kreditzinsen, Bonusrückerstattungsquote, Online-Konfigurator 1316.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Hansjörg Hegendörfer, Melanie Müller Am Anfang war die Kartonkarte Wie peinlich! Nach einem gelungenen Abend in einem stilvollen und nicht ganz billigen Restaurant stellt man entsetzt fest: der Geldbeutel ist leer! Was werden wohl die anderen Gäste denken? Wie erklärt man es dem Ober? 1950 musste auch Frank McNamara diese Erfahrung in einem New Yorker Restaurant machen. Nach einiger Überzeugungsarbeit gelang es ihm, mit dem Restaurantbesitzer ein Arrangement über die spätere Bezahlung der Rechnung zu treffen. Frank McNamara grübelte auf dem Heimweg darüber nach, wie er zukünftig eine solche Situation vermeiden könne. Die Idee der Kreditkarte wurde geboren; Frank McNamara nannte das Unternehmen passend Diners Club. Im ersten Geschäftsjahr bestand der Diners Club aus rund 200 männlichen Mitgliedern der New Yorker Oberschicht. 28 Restaurants sowie Kreditkarten: Die eigene Wunschkarte konfigurieren zwei Hotels waren bereit, die Ausgaben dieser ausgewählten Kunden mittels einer monatlichen Zusammenfassung in Rechnung zu stellen. Die Jahresmitgliedschaft kostete ganze drei Dollar, das Konto musste monatlich ausgeglichen werden und als Zahlungsmedium wurde eine Kartonkarte benutzt. [1] Heute sind Kreditkarten aus Plastik, sie haben einen Magnetstreifen und mit einer PIN-Nummer kann man sie weltweit zum Abheben von Bargeld nutzen. Von Visa wurden weltweit über 2,1 Billionen Karten ausgegeben, von Mastercard 986 Milliarden und von American Express 298 Milliarden, die an über 23 Millionen Akzeptanzstellen angenommen werden. [2] In Deutschland gab es 2002 bereits circa 20 Millionen Karten und mit einem weiteren Anstieg ist zu rechnen. [3] Auch individualisierbare Kreditkarten gibt es mittlerweile. Dieser Trend wird im folgenden Case genauer beschrieben. Grundlagen zur Kreditkarte Hinter den in Deutschland einheitlich als Kreditkarte bezeichneten Plastikkarten verbergen sich drei unterschiedliche Kartentypen: Als Debit-Card werden Karten bezeichnet, die lediglich eine Zahlfunktion besitzen. Der Betrag wird sofort vom Girokonto abgebucht und ist somit in seiner Höhe auf den Kreditrahmen des Girokontos beschränkt. Die bekannteste Karte ist die EC-Karte, aber auch Visa oder Eurocard bieten Debit-Cards an. Als Charge-Cards werden Karten mit Zahlungsstundung bezeichnet. Der Karteninhaber kann abhängig von seiner persönlichen Bonität unbegrenzt oder im Rahmen eines Limits mit der Karte bargeldlos zahlen. Umsätze mittels Charge-Card werden üblicherweise über einen Zeitraum von vier Wochen von den Kreditkartenorganisationen gesammelt, bevor die Verbindlichkeiten vom Girokonto des Karteninhabers abgebucht werden. In Deutschland ist die Charge-Card die am meisten verbreitete Form der Kreditkarte. 1316.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Was ist eine Kreditkarte? Kreditkarten: Die eigene Wunschkarte konfigurieren Die »echte« Credit-Card ist vom Girokonto unabhängig. Es existiert ein spezielles Kartenkonto, in dessen Rahmen ein Kredit in Anspruch genommen werden kann. Die Höhe der verausgabten Beträge wird dem Karteninhaber einmal monatlich in Rechnung gestellt. Dieser muss für eine ausreichende Deckung des Kontos sorgen; andernfalls nimmt er einen Kredit in Anspruch. Dafür bezahlt er entsprechende Soll-Zinsen, die in der Regel über den Sätzen des Girokontos liegen. International ist diese Form weit verbreitet. [4] Neben der reinen Zahlfunktion der Kreditkarte bei Einkäufen verfügen die meisten Kreditkarten über Service- oder Zusatzfunktionen. Damit können sich Kreditkartenanbieter vom Angebot der Mitbewerber differenzieren. Meist handelt es sich um Versicherungen (Transport-, Unfall-, Reiserücktritt, usw.), Benachrichtigungs- oder Dokumentenservices. Kunden der schwarzen Centurion-Card von American Express steht sogar ein individueller Concierge-Service rund um die Uhr 7 Tage die Woche zur Verfügung. 1316.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Wie funktioniert eine Kreditkarte? Fast jeder kennt die Funktionsweise einer Kreditkarte aus Benutzersicht: Einkaufen gehen, etwas Passendes aussuchen, an der Kasse einfach die Kreditkarte aus dem Geldbeutel ziehen und mit einem lauten Klack auf den Tresen schnappen lassen. Die Daten werden mit einem kleinen Lesegerät aus dem Magnetstreifen eingelesen, anschließend bestätigt der Kunde die Zahlung mit seiner Unterschrift auf dem Beleg. Das geht schnell, ist unkompliziert und im Ausland spart man sich das lästige Wechseln von Bargeld in Devisen. Ein Kontoauszug am Monatsende verschafft den notwendigen Überblick über alle geleisteten Zahlungen. Doch wie sieht der Gebrauch einer Kreditkarte aus Sicht eines Händlers oder einer Bank aus? Worin liegen für diese Parteien die Vorteile einer Kreditkartennutzung? Zahlt ein Kunde mit seiner Kreditkarte, erwirbt der Händler bei einem so genannten Acquirer einen garantierten Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises. Dafür verpflichtet er sich zu einer umsatzabhängigen Gebühr an seinen Acquirer. Die Gebühr (Agio) ist abhängig vom Zahlungsausfallrisiko des Händlers (oder der ganzen Branche) sowie dessen Verhandlungsmacht und variiert zwischen 1 Prozent und 6 Prozent (der Durchschnitt liegt in Deutschland bei 3,5 Prozent). Der Acquirer ist zuständig für Abrechnung, Kontrollaufgaben, Bonitätsprüfung der Kunden und die Werbung neuer Akzeptanzstellen. Er fordert die Begleichung des Kaufpreises von der Bank, die die Kreditkarte emittiert hat. Diese wird vom Acquirer mit festgelegten Interchange Gebühren für ihren Aufwand entschädigt. Einige Kreditkartenunternehmen, zum Beispiel Diners Club oder American Express, verzichten auch auf den Acquirer und wickeln die Transaktionen mit Händlern sowie Banken selbst ab, allerdings ist dies nicht die vorherrschende Strategie. Die entstandenen Kosten werden allein vom Händler getragen, da Zuschläge oder Gebühren für Kartenzahler verboten sind (Diskriminierungsverbot). [5] Warum lohnt es sich nun trotz der hohen Kosten für einen Händler, Kreditkartenzahlungen zu akzeptieren? Kunden erwarten, mit der Karte zahlen zu können; Kreditkartenzahlungen nehmen jährlich um circa 10 Prozent zu. Kartenkunden sind finanziell flexibler. Spontan- und Zusatzkäufe werden auch ohne Bargeld möglich, wodurch die Umsätze steigen. Durch reduzierte Bargeldbestände sinkt das Risiko, Opfer krimineller Angriffe zu werden. Das Handling von Wechselgeld und Bargeldkassen entfällt. Karteneinnahmen sind sicher. Der Händler erhält auf jeden Fall sein Geld; Zahlungsprobleme muss der Kunde mit seiner Bank klären. [6] 1316.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Kreditkarten: Die eigene Wunschkarte konfigurieren Kreditkarten: Die eigene Wunschkarte konfigurieren Umfeld des Mass-Customization-Angebots 1316.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Grundlegende Marktinformationen In Deutschland, dem drittgrößten Kreditkartenmarkt in Europa, teilen sich vier Kreditkartenanbieter den Markt: Marktführer ist Mastercard mit 55,5 Prozent, danach folgt Visa mit 32,7 Prozent, gefolgt von American Express mit 10,6 Prozent und Diners Club mit 1,2 Prozent. [3] Die beiden großen Anbieter besitzen damit über 88 Prozent Marktanteil und haben den Erfolg ihrer Vertriebsstruktur zu verdanken. Obwohl erst seit 1976 beziehungsweise 1987 auf dem deutschen Markt präsent, schafften sie es, Marktanteile über Kooperationspartner rasant zu gewinnen (im Gegensatz hierzu ist Diners Club bereits seit 1955, American Express seit 1964 im deutschen Markt vertreten.). Banken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken geben die Kreditkarten unter eigenem Namen heraus. Acquiring-Aufgaben nehmen derzeit zwar mehr als zehn Acquirer im deutschen Markt wahr; die fünf größten Unternehmen haben jedoch mehr als 99 Prozent Marktanteil. [5] Europas wichtigster Kreditkartenmarkt ist der britische Markt. Barcleys hält 31 Prozent Marktanteile, die HBS Group 17 Prozent, Lloyds TSB 12 Prozent, andere Banken 40 Prozent. Ungefähr 51 Prozent aller Briten haben eine Kreditkarte; 14 Prozent aller Zahlungen werden per Kreditkarte abgewickelt und der Durchschnittsumsatz pro Kreditkartenkunde beläuft sich auf 1.800 Pfund pro Jahr. Der Anteil von Briten mit Kreditkarte hat sich in den letzten 10 Jahren jedoch nur um 5 Prozent erhöht; jeder Brite verfügt bereits über durchschnittlich 2,3 Karten. Damit ist der Kampf um neue Kunden hart und letztendlich zählt nur ein Kunde, der durch die Nutzung seiner Karte auch Umsätze generiert. Grundsätzlich kann man drei Kundentypen im britischen Markt unterscheiden [7]: Savvy: Er ist jung, wohlhabend, wechselfreudig und offen für neue Angebote und hat eher mehr Karten. Grundsätzlich ist diese Kun- Kreditkarten: Die eigene Wunschkarte konfigurieren dengruppe sehr heterogen. Die Kunden können hoch profitabel oder auch verlustbringend sein. Sie machen circa 20 Prozent aller Kunden aus. Future Switcher: Er ist mittleren Alters und Vielkartennutzer. Zwar ist er länger bei seinem bisherigem Anbieter, jedoch kennt er auch zunehmend andere Angebote und ist neuen Karten gegenüber in der Zukunft nicht abgeneigt. Der Wert eines derartigen Kunden hängt von der verbleibenden Zeit bis zum Wechsel ab. Diese Kunden machen am gesamten Kundenstamm circa 20-30 Prozent aus. Loyal: Diese Gruppe zieht sich quer durch die gesamte Bevölkerung. Sie ist unanfällig für andere Angebote; der Kundenwert ist damit hoch. Der Anteil am Kundenstamm beträgt circa 50-60 Prozent. Grundsätzlich hat ein Kreditkartenunternehmen drei Möglichkeiten, um Einnahmen zu erwirtschaften: Händlergebühren: Diese Einnahmequelle war in der Vergangenheit sehr stabil. Da die Gebühren umsatzabhängig sind, muss der Kunde zur Nutzung seiner Karte animiert werden. Sollzinsen für den Kartenkredit: Diese sind in England eine wichtige Einnahmequelle, da circa 90 Prozent aller Karten echte Kreditkarten sind. Eine Anhebung der Zinsen von zum Beispiel 12 Prozent auf 13 Prozent erhöht die Kapitalrendite von 30 Prozent auf 40 Prozent. [7] Kartengebühren: Dabei handelt es sich um eine jährlich vom Kartennutzer zu entrichtende Gebühr, die entweder fix oder an den Umsatz gebunden ist. Sollzinsen und Jahresgebühr stellen für Kartenanbieter wesentliche Einkunftsarten dar. Ihre Bedeutung wird in den kommenden Jahren stark zunehmen, da die Europäische Union entschieden hat, dass die 1316.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Das Geschäftsmodell »Kreditkarte« in Großbritannien Kreditkarten: Die eigene Wunschkarte konfigurieren 1316.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Händlergebühren zu hoch sind und vermindert werden müssen. Visa International beispielsweise muss seine Händlergebühren bis 2006 um 30 Prozent senken. [5] Für Kunden sind Zinsen und Jahresgebühr jedoch der ausschlaggebende Aspekt für die Wahl eines Anbieters. Bei 1.300 angebotenen Karten in Großbritannien und Rabatten für Wechsler in den ersten sechs Monaten gibt es eine Menge an Alternativen. Bonuspunkte, Rückvergütungen der Grundgebühr oder Flugmeilen sollen als Kundenbindungsprogramme die Wechselbereitschaft verhindern. Die Aufwendungen für solche Programme zehren jedoch an den Margen der Kreditkartenanbieter. Etliche Kunden werden so zu echten Verlustbringern, wenn sie ihre Kreditkartensalden sofort begleichen, wenig Umsatz generieren aber an teuren Bonusprogrammen teilnehmen. Der ideale britische Kreditkartenkunde ist deshalb ein Kunde mit hohen Umsätzen, die er bereitwillig per Kredit finanziert. Zudem verzichtet er auf Bonusprogramme oder teure Zusatzserviceleistungen. Um diese Art von Kunden anzulocken, muss man entweder attraktive Zinsen oder einen hohen mit der Karte verbundenen Prestigefaktor bieten. Banken können ihre Einkünfte aus Zinserträgen von durchschnittlich 60 Prozent auf bis zu 85 Prozent erhöhen, wenn sie Kunden mit günstigen Zinsen zum Wechseln bewegen. [7] Niedrige Zinsen sind zwar aus Kundensicht auch der Hauptgrund, um den Kreditkartenanbieter zu wechseln, oft werden mit Kampfzinsen jedoch Kunden angelockt, die schon bonitätsschwach sind oder mit Schulden kämpfen. Entsprechend höher ist das Risiko für Zahlungsausfälle. Die zweite Möglichkeit, attraktive Kunden anzulocken, ist der Prestigefaktor. Für das Prestige und den Service einer goldenen, platinen oder gar schwarzen Kreditkarte ist ein Kunde bereit, höhere Zinsen oder Gebühren in Kauf zu nehmen. Durch den Bezahlvorgang mit einer solchen Karte kann der Inhaber allen Anwesenden die eigene finanzielle Situation vor Augen führen. Genau diese Kunden sind attraktiv, da sie hohe Umsätze generieren, aber selten zu anderen Anbietern wechseln. Kreditkarten: Die eigene Wunschkarte konfigurieren Das Mass-Customization-Angebot von Lloyds TSB Darstellung des Angebots Die Werte für Jahresgebühr, Kreditzinsen und Bonusrückerstattungsquote können online mittels visualisierten Schiebereglern verändert werden, sind jedoch aneinander gekoppelt. So führt die Wahl der Null-Pfund-Monatsgebühr automatisch zum höchsten Zinssatz von aktuell 15,0 Prozent. Umgekehrt kann man mit einer hohen Jahresgebühr (maximal 10 Pfund) den Zinssatz auf aktuell 9,8 Prozent senken. Die Rückerstattungsquote von 0 Prozent bis maximal 0,5 Prozent wirkt sich direkt auf die zu zahlenden Zinsen aus (0-1,9 Prozent Zuschlag). Die Funktionsweise und der optische Aufbau des 1316.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Die Kommerzbank Lloyds wurde 1765 gegründet und fusionierte 1995 mit der 1810 gegründeten Sparkasse Trutee Savings Bank (TSB); in England ist sie die Nummer vier in der Bankenlandschaft. [8] Neben vier Standart-Kreditkarten bietet Lloyds TSB unter dem Label »create« auch eine individuell konfigurierbare Kreditkarte an. Diese ist das erste von mehreren geplanten individualisierbaren Finanzprodukten. Auch andere Emittenten geben die Karte unter eigenem Namen und mit leicht geänderten Konditionen heraus: Accucard [9], eine im Jahre 2000 gegründete Online-Gesellschaft, und more th>n [10], eine 2001 gegründete Online-Tochtergesellschaft des Britischen Versicherungskonzerns Royal & Sun Alliance. Der Kunde kann bei den verschiedenen Anbietern mittels Online-Konfigurator unter folgenden Optionen für seine Karte wählen (vgl. Abb. 1): Höhe von Jahresgebühr, Kreditzinsen sowie Bonusrückerstattungsquote, Begleichung des Kreditkartensaldos per Einzugsermächtigung oder per Überweisung, Versand der Kontoauszüge per Post oder Online-Kontoauszüge, zwei verschiedene Designs für die Kartenoberfläche. Kreditkarten: Die eigene Wunschkarte konfigurieren 1316.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Konfigurators bei Accucard [11] und more th>n [10] sind bis auf die zur Auswahl stehenden Designs identisch. Bei more th>n sind drei Motive wählbar, bei Accucard vier. Abb. 1: Online-Konfiguration bei more th>n Der Konfigurator für die Kreditkarte ist insgesamt sehr einfach zu bedienen, da es nur vier Wahloptionen gibt. Interessant ist das Verschieben der Regler für Zins, Jahresgebühr und Bonuszahlung – die Werte ändern sich dann automatisch. Bevor man seine eigene Kreditkarte wirklich beantragen kann, muss man jedoch wie bei jeder anderen Bank Formulare ausfüllen und Personalien, Bankdaten, vorhandene Kreditkarten, Beruf, Einkommen, etc. angeben. Anhand dieser Daten Kreditkarten: Die eigene Wunschkarte konfigurieren wird die Bonitätsprüfung vorgenommen. Hat man diese erfolgreich bestanden, darf man die eigene Wunschkarte konfigurieren. Der Bestellvorgang an sich unterscheidet sich nicht von Online-Bestellvorgängen anderer Kartenanbieter. Alternativ zur Anschaffung einer individuellen Kreditkarte könnte man sich überlegen, aus dem bestehenden, umfangreichen Angebot die Karte herauszusuchen, die am besten zu den individuellen Bedürfnissen passt. Hierzu steht eine Reihe von Internetportalen zur Verfügung, die Kunden helfen sollen, sich auf dem unübersichtlichen britischen Kreditkartenmarkt zurechtzufinden. Im Gegensatz zur Karte von Lloyds TSB handelt es sich jedoch immer um Standartkreditkarten mit festen Konditionen, an denen nichts geändert werden kann. Auch das Ergebnis der Suche ist nicht immer wie gewünscht und kann mit erheblichem Aufwand verbunden sein. Bei creditcards121.com, creditcardexpert.co.uk oder moneysupermarket.com beispielsweise werden in einer Liste alle möglichen Anbieter mit ihren Karten vorgestellt. Schnell verliert man aufgrund der Fülle an Informationen sowie der Unübersichtlichkeit die Lust, sich weiter mit der Auswahl einer geeigneten Karte zu beschäftigen. Bei creditcardmenu.com hat man die Möglichkeit, die Liste der vorgestellten Kreditkarten einzuschränken. Möglich ist die Festlegung bestimmter Suchkriterien wie Höhe der Jahresgebühr, Höhe des Zinssatzes, Einführungskonditionen, Kreditkartenherausgeber oder Kreditkartenart (zum Beispiel Business-, Studenten-, Flugmeilenkarten). Die Liste ist zwar etwas kürzer als bei den erstgenannten Portalen, eine echte Entscheidungshilfe stellt sie jedoch auch nicht dar. Zu unübersichtlich ist das Angebot, nach einer Sortierfunktion sucht man vergeblich. Immer wieder muss man den Link auf den jeweiligen Anbieter wählen, um Details zu erfahren – bei mehreren entscheidenden Parametern und zusätzlich zeitlich befristeten Rabatten eine 10 1316.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Alternativen zur individuellen Kreditkarte Kreditkarten: Die eigene Wunschkarte konfigurieren wenig erfreuliche Aufgabe. Die Anschaffung einer individuellen Kreditkarte scheint damit eine wirkliche Alternative zu sein, wenn man tatsächlich individuelle Bedürfnisse hinsichtlich bestimmter Aspekte der Karte hat. Bewertung des Angebots von Lloyds TBS 1316.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Stärken des Angebots und damit verbundene Chancen: ð Der Kunde kann einen spannenden Konfigurationsvorgang im Internet erleben, der sich von den Bestellvorgängen klassischer Kreditkarten erheblich unterscheidet. Das Angebot ist im hartumkämpften britischen Kreditkartenmarkt eine echte Innovation. Neue Kunden (vor allem aus den Kundengruppen der Savvy und Future Switcher) können mit dem Angebot gewonnen werden. Die Kundenzufriedenheit und -bindung könnte steigen. ð Für den Kunden ist die Kostenstruktur transparent. Er kann die Parameter seiner Kreditkarte je nach Kaufverhalten auf einfache Art und Weise selbst bestimmen. Zudem kann der Kunde seine Einstellungen jederzeit ändern, ohne hierfür die Karte oder den Anbieter zu wechseln oder einen neuen Vertrag abzuschließen. ð Der Kunde muss keine zeitraubende Suche auf sich nehmen, sollte er eine Karte mit ganz bestimmten Parametern hinsichtlich Jahresgebühr, Kreditzinsen oder Bonusrückerstattungsquote suchen. ð Die Anbieter können die Einstellungen und Bestellungen der Kunden im Sinn von Marktforschungsdaten nutzen. Bevorzugte Kombinationen können für die Standardkarten übernommen werden, um die Kundenbedürfnisse besser zu treffen. Schwächen des Angebots und Risiken, die sich daraus ergeben: ð Der Kunde kann derzeit nur wenige Parameter selbst bestimmen. Die wichtigsten Parameter – Zinshöhe und Grundgebühr – kön- 11 Kreditkarten: Die eigene Wunschkarte konfigurieren nen nicht unabhängig voneinander eingestellt werden. Das wichtige Gebiet zusätzlicher Serviceangebote wird nicht berücksichtigt. ð Die Produkteigenschaften sind anderen Kreditkarten sehr ähnlich. Die möglichen Kombinationen aus Zinshöhe und Grundgebühr sind nicht deutlich besser als bei anderen Anbietern, nur der Konfigurationsvorgang ist anders. Durch das große Angebot an fertigen Karten unterschiedlichster Ausprägung kann man grundsätzlich bestimmt eine Standardkarte mit ähnlichen oder denselben Eigenschaften finden. Ob eine so feine Abstufung wie zwischen den Extremen keine Grundgebühr/hohe Zinsen und hohe Grundgebühr/niedrige Zinsen notwendig ist, ist fraglich. ð Die individualisierten Eigenschaften werden im Alltagsgebrauch nicht sichtbar. Die Karte sieht wie jede andere Kreditkarte aus. Die »Sonderbehandlung« bei der Konfiguration liefert keinen Mehrwert hinsichtlich des Prestiges. Letztendlich ist auch hier der Mehrwert eventuell nicht groß genug sein, um ausreichend neue Kunden für das Angebot zu begeistern. ð Das Produkt kann durch Wettbewerber leicht imitiert werden, da letztendlich nur der Konfigurator etwas Neues ist. Hinsichtlich des Mehraufwands, der für Lloyds TSB entsteht, lassen sich die folgenden Aspekte nennen: ð Der Einmalaufwand zur Programmierung des Konfigurators und Dateneinrichtung bei Kontoeröffnung ist minimal. Zusätzlich sind laufende Wartungskosten zu berücksichtigen. ð Es entsteht kein Mehraufwand pro Abrechnung, da die Abwicklung EDV-gestützt erfolgt. ð Auch die Abhängigkeiten von Zinshöhe, Jahresgebühr und Bonus müssen nur einmal berechnet und in einem Rechenkern hinterlegt werden. 12 1316.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Profitmechanismus Kreditkarten: Die eigene Wunschkarte konfigurieren 1316.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Kosteneinsparungs- oder Gewinnsteigerungseffekte für Lloyds TSB ergeben sich möglicherweise aus folgenden Aspekten: ð Bei richtiger Einstellung der Abhängigkeit von Zinshöhe, Grundgebühr und Bonus wird jeder Kunde »automatisch« profitabel. ð Es sind konstante Umsätze mit loyalen Kunden zu erwarten, die von ihrer individuellen Karte überzeugt sind. ð Provisionen für Vertriebspartner entfallen, da der Kunde sich die Kreditkarte online selbst zusammenstellt. ð Der Vertrieb der Karte über Partner (wie Accucard oder more th>n) bringt zusätzliche Kunden. Fazit Mit dem Angebot ist es Lloyds TSB gelungen, sich in einem Massenmarkt von den Wettbewerbern zu differenzieren. Ohne Risiko und große Investitionen kann die Akzeptanz des Produktes beim Kunden getestet werden. Den Kunden wird ein attraktives, einzigartiges Produkt präsentiert, auch wenn es sich letztendlich in seinen Merkmalen kaum von den Angeboten der Konkurrenz unterscheidet. Mit einem modernen Markenauftritt sollen vor allem junge Kunden angesprochen werden, die man mit dem Faktor Individualität länger binden möchte. Dem prestigeorientierten Kreditkartennutzer bietet die individuelle Kreditkarte keinen Anreiz zu wechseln. Er möchte eine starke Marke wie Diners Club oder American Express, die für Exklusivität stehen. Stärkeres Differenzierungspotenzial könnte die Karte erlangen, wenn der Kunde sich zusätzlich individuelle Services zusammenstellen könnte. Dann wäre sie sicherlich auch für ein gehobenes Klientel attraktiv, welches für Zusatzservices einen entsprechenden Preis zahlt. Als Türöffner für weitere individualisierbare Finanzprodukte oder als Teaser in der Neukundengewinnung für Banken ist die Lloyds TSB Kreditkarte sicherlich gut geeignet. Was aus einem 86 x 54 Millimeter großen Karton doch so alles werden kann! 13 Kreditkarten: Die eigene Wunschkarte konfigurieren Dipl. Ing. Hansjörg Hegendörfer beschäftigt sich im Rahmen seines MBA-Studiums mit dem Thema Mass Customization. Während seines Ingenieurstudiums an der TU-München absolvierte er ein Trainee-Programm zum Finanzberater bei AWD, an dessen erfolgreichen Abschluss sich vier Berufsjahre als Teamleiter im Privatkundengeschäft sowie weitere drei als Regionalleiter für Firmenkunden anschlossen. Seit Ende 2003 betreut Hansjörg Hegendörfer als selbständiger Berater hauptsächlich private Haushalte und strebt parallel dazu den MBAAbschluss an. Hansjörg Hegendörfer ist leidenschaftlicher Volleyballspieler und interessiert sich seit einem fünfjährigen Südamerikaaufenthalt für altamerikanische Kulturen. Kontakt: [email protected]. Melanie Müller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre – Information, Organisation und Management an der TU München. Innerhalb der Research Group »Customer-driven Value Creation« befasst sie sich vorwiegend mit der Kundeninteraktion bei Mass Customization und Open Innovation. Sie unterrichtet außerdem an der TUM Business School in den Bereichen Mass Customization und Open Innovation sowie Organisation, Führung und Strategie. Melanie Müller studierte Betriebswirtschaftslehre an der Ludwig Maximilians Universität München und der University of California Los Angeles. Zusätzlich absolvierte sie ein zweijähriges Zusatzstudium und erwarb ein Certificate in Technology Management am Center for Digital Technology and Management (CDTM). Praktische Erfahrung sammelt sie u.a. bei DaimlerChrysler, Steppenwolf, BMW und der DZ BANK AG. Kontakt: [email protected]. [1] http://www.kreditkarten-infos.de/kreditkarten-wissen/geschichte-der-kreditkarten.html [Stand 02.08.2004] [2] http://www.cardweb.com [Stand 02.08.2004] [3] http://www.scard.de/statistik/bargeldloser_zahlungsverkehr/Anzahl_Kreditkarten/ [Stand 02.08.2004] [4] http://www.netscape.de/index.jsp?cid=1230961&pageId=0&sg=Finanzen_Kredite [Stand 02.08.2004] [5] Uwe Dulleck, Die großen zwei – Wettbewerb im Kreditkartenmarkt?, Working Paper No. 0201, Institut für Wirtschaftswissenschaften, Universität Wien, Hohenstaufengasse 9, 1010 Wien, http://homepage.univie.ac.at/uwe.dulleck/dokumente/VIE0201.PDF [Stand 02.08.2004] [6] http://www.sparkasse-mainz.de/extra/thema-eccash/html/seite7.html [Stand 02.08.2004] 14 1316.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Literatur Kreditkarten: Die eigene Wunschkarte konfigurieren [7] Research Note von PWC: Precious plastic – the UK credit card sector, http://www.pwcglobal. com/images/gx/eng/about/svcs/cfr/pwc_credit_card_article.pdf [Stand 02.08.2004] [8] http://www.lloydstsb.com/about_us.asp [Stand 02.08.2004] [9] http://www.accucard.com/ [Stand 02.08.2004] [10] http://www.morethan.com/bin/bladerunner?REQUNIQ=1091467779&REQHOST=gb04q ws080rsas7&30REQEVENT=&REQAUTH=0 [Stand 02.08.2004] 1316.01.01 – © Symposion Publishing 2006 [11] http://www.accucard.com/card_builder/index.html [Stand 02.08.2004] 15 Lands’ End Custom™: Hosen und Hemden maßgeschneidert Als weltweit größter E-Commerce-Händler für Kleidung bietet Lands’ End seinen Kunden mit einem interaktiven Shopping-Assistenten neben dem passenden Outfit auch eine Typberatung an. Zudem lässt sich mit der Funktion »Lands’ End Custom« maßgeschneiderte Kleidung online bestellen. Stichworte: Bekleidungsversandhandel, Bestellprozess, maßgeschneiderte Kleidung, Shop with a friend, Lands’ End Live, My Personal Shopper, My Virtual Model, Lands’ End Custom, Mass-Customization-Prozess, Produktion, Logistik 1418.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Fabian Uhrich, Melanie Müller Vom Segelshop zum weltweit größten E-CommerceHändler für Kleidung Lands’ End wurde 1963 von Gary C. Comer, einem Werbetexter und passionierten Segler, in den USA gegründet. Der erste Katalog des Unternehmens enthielt vorrangig Segelbedarf und erschien 1975. Weitere Kataloge folgten und der Schwerpunkt verschob sich zunehmend in Richtung Bekleidung. 1978 wurde eine gebührenfreie Rufnummer eingeführt, die seit 1980 jeden Tag rund um die Uhr erreichbar ist. 1986 erfolgte die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft. Nachdem das Unternehmen 1991 die ersten Kataloge an Kunden in Großbritannien verschickt hatte, wurden 1993 ein Distributionszentrum und ein Call Center vor Ort eröffnet. Ein Jahr später folgte der Eintritt in den japanischen Markt. [2] Lands’ End Custom™: Hosen und Hemden maßgeschneidert Anschrift Lands’ End Inc.5 Lands’ End LaneDodgeville, WI 53595 Hotline 1-800-963-4816 Internet Adresse www.landsend.com E-Mail [email protected] Gründungsjahr 1963 Branche Bekleidung und Heimtextilien Produkt Individualisierbare Hosen und Hemden beziehungsweise Blusen Bezug zu Kapitel 4.5 Formen der Kundenintegration 5.1 Produkt- und Leistungsgestaltung 5.2 Prozessgestaltung: Aufbau des Interaktionssystems 6.2 Preispolitische Potenziale 7 Die Kosten: Economies of Mass Customization 1995 ging www.landsend.com online. Lands’ End gehört damit zu den »early adaptors« der Branche und hat in den letzten Jahren zahlreiche Prämierungen für die Webseite erhalten. Ausgezeichnet wurden die Benutzerfreundlichkeit, die Einkaufshilfen und die Breite des Warensortiments: Lands’ End bietet seinen Kunden circa 3000 Produkte über das Internet an. [2] 1996 gründete Lands’ End eine GmbH in Deutschland. Der Bekleidungsversender wurde im deutschen Markt unter anderem dadurch bekannt, dass er aufgrund der Gewährung einer lebenslangen Garantie gegen die deutsche Zugabeverordnung verstieß. 1998 verlor Lands’ End den Prozess vor dem Oberlandesgericht, allerdings wurde 1418.01.01 – © Symposion Publishing 2006 8.3 Kundenintegration für erfolgreiches CRM 1418.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Lands’ End Custom™: Hosen und Hemden maßgeschneidert die Zugabeverordnung im Jahre 2001 – nicht zuletzt wegen Lands’ End – gleichzeitig mit dem Rabattgesetz vom Bundestag abgeschafft. Dennoch führt das Unternehmen bis heute in Deutschland ein Nischendasein. [3] Seit Oktober 2001 ist es amerikanischen und kanadischen Kunden möglich, über die Internetpräsenz maßgeschneiderte Chinohosen zu bestellen: »Lands’ End Custom™« wurde ins Leben gerufen. Im April 2002 wurde das Angebot auf Jeans ausgeweitet, später kamen Hemden und Blusen sowie Jacken hinzu. Das »Lands’ End Custom™«-Projekt konnte sich bereits in der Testphase etablieren, die Anzahl der Bestellungen übertraf die geplanten Verkaufszahlen. [1] Im Juni 2002 wurde Lands’ End von Sears, Roebuck & Co für 1,9 Milliarden US-Dollar übernommen und ist seither eine hundertprozentige Tochter. Lands’ End verspricht sich durch diesen Zusammenschluss wichtige Impulse für seine Ladenverkäufe in den USA, da das Sortiment nun auch in den Kaufhäusern der neuen Mutter angeboten wird. Lands’ End ist – je nach saisonalem Geschäft – auf eine Größe von 7.400 bis 9.800 Mitarbeitern angewachsen und hat im Jahr 2003 1,6 Milliarden US-Dollar umgesetzt. [2] Das Unternehmen ist der drittgrößte Bekleidungsversandhändler in den USA und weltweit der größte E-Commerce-Händler für Kleidung. [3] Im Jahr 2003 beispielsweise wurden 300 Millionen Kataloge in 175 Länder weltweit verschickt. [4] Verkauft werden klassische Kleidung und Accessoires für die ganze Familie, Reisegepäck und Artikel für das Haus. [5] Verkaufskanäle des Unternehmens sind Kataloge, die Internetpräsenz, Inlet- beziehungsweise Outletstores sowie Kaufhäuser von Sears. [4] Als Konkurrenten von Lands’ End sind im klassischen amerikanischen Versandhandel unter anderem Conley’s, Eddie Bauer, American Eagle, Gap und L. L. Bean zu nennen. [6] Insbesondere bekannt ist das Unternehmen für eine ganz besondere Serviceleistung: Lands’ End bietet seinen Kunden eine der einfachsten und doch umfassendsten Garantien der Textilbranche. Jegliche Ware kann lebenslang ohne Angabe von Gründen umgetauscht oder zurückgegeben werden. [7] Der Marketingdirektor von Lands’ End Lands’ End Custom™: Hosen und Hemden maßgeschneidert Erlebniseinkauf im Internet 2003 hat Lands’ End 299 Millionen US-Dollar Umsatz allein über das Internet generiert – das entspricht etwa 20 Prozent des Gesamtumsatzes. Täglich besuchen mehr als 17.000 potenzielle Kunden die Webseite. Das Durchschnittsalter der E-Commerce-Kunden beläuft sich auf 30 bis 35 Jahre. Damit ist diese Kundengruppe jünger als die herkömmlichen Katalogkunden, die in der Altersklasse zwischen 35 und 55 Jahren zu finden sind. Der durchschnittliche Auftragswert einer Online-Bestellung liegt zwischen 95 und 100 US-Dollar. [2] Die Seite www.landsend.com bietet ihren Besuchern neben den üblichen Vorteilen einer Internetpräsenz – wie zum Beispiel die unkomplizierte Erreichbarkeit rund um die Uhr und über Ländergrenzen hinweg – ein außergewöhnliches Einkaufserlebnis: ð Mit der Funktion »Shop with a friend™« können zwei Personen an unterschiedlichen Computern denselben Einkaufskorb füllen und so – trotz örtlicher Distanz – einen gemeinsamen Einkauf im Internet tätigen. ð »Lands’ End Live™« ermöglicht dem Kunden, von einem Berater angerufen zu werden oder wahlweise mit ihm zu chatten, um Fragen zu klären und Hilfestellung zu erhalten. ð Des Weiteren gibt es Lands’ End »My Personal Shopper™«. Nachdem Kunden eine Reihe von Fragen über ihren persönlichen Kleidergeschmack beantwortet haben, werden ihnen Outfits und Accessoires vorgeschlagen, die ihrem Stil entsprechen. Diese Empfehlungsfunktion führt nach Angaben des Unternehmens zu zehn Prozent höheren Bestellsummen. [9] ð »My Virtual Model™« (vgl. Abb. 1) ist seit 1999 in die Homepage integriert. Damit war Lands’ End das erste Unternehmen, welches dieses innovative 3D-Shopping-Tool eingeführt hat. [2] Kunden kreieren mit dem Tool ein dreidimensionales Modell von 1418.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Deutschland, Frank Kriegl, erklärt: »Die Rückgabemöglichkeit erhält uns zufriedene Kunden, und die Kosten dafür stehen in keiner Relation zu dem, was die Gewinnung eines Neukunden kostet.« [8] Lands’ End Custom™: Hosen und Hemden maßgeschneidert 1418.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Abb. 1: 3D-Shopping-Tool »My Virtual Model« sich, indem sie in einer geführten Tour Körpermaße, Gewichtsverteilung, Gesichtskontur und Frisur angeben. Anschließend kann der Kunde mit Hilfe seines Modells unterschiedliche Artikel anprobieren und erhält so einen Eindruck über Passform und Farbwirkung des Outfits. Auch mit diesem Feature hat Lands’ End bisher gute Erfahrungen gemacht: Pro Kunde verkauft das Unternehmen seitdem rund 13 Prozent mehr. [10] Hosen und Hemden maßgeschneidert Eines der neuesten Konzepte ist »Lands’ End Custom™« – Kunden können sich Hosen, Hemden und Blusen sowie Jacken nach Maß schneidern lassen. Es geht nicht um einfache Änderungen wie die der Hosenlänge, die Lands’ End sowieso kostenlos für den Kunden Lands’ End Custom™: Hosen und Hemden maßgeschneidert vornimmt, sondern um die Anpassung der Kleidung an sämtliche Körpermaße und an den Geschmack des Kunden, denn »die Kunden verlangen in zunehmendem Umfang von Händlern maßgeschneiderte Lösungen« [9]. Auf der Startseite von www.landsend.com wird einerseits in der rechten Navigationsleiste dezent auf »Lands’ End Custom™« aufmerksam gemacht (siehe Abb. 2), aber auch in den verschiedenen Online-Katalog-Kategorien besteht bei den entsprechenden Produkten die Möglichkeit, »Lands’ End Custom™« auszuwählen. Interessiert sich der Kunde beispielsweise für maßgeschneiderte Jeans, so wird er zunächst über den Festpreis von 54 US-Dollar und 1418.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Abb. 2: Startseite von Landsend.com Lands’ End Custom™: Hosen und Hemden maßgeschneidert 1418.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Abb. 3: Bei der Produktauswahl erfolgt eine Preisinformation und Angabe über den bevorstehenden Mass-Customization-Prozess den bevorstehenden Ablauf des Mass-Customization-Prozesses informiert (siehe Abb. 3). Bei Schwierigkeiten und Fragen kann der Kunde jederzeit über die Funktion »Lands’ End Live™« ein persönliches Beratungsgespräch mit einem Lands’ End Mitarbeiter führen. Dazu hinterlässt er entweder seine Telefonnummer und wird von einem Service-Mitarbeiter zurückgerufen, oder er öffnet einen Online-Chat. Somit kann der Mitarbeiter den Kunden während des gesamten Konfigurationsprozesses begleiten. Der Kunde hat die Wahl, sich entweder eine neue Jeans zu konfigurieren oder – falls er in der Vergangenheit bereits eine maßgeschnei- Abb. 4: Schritt 1 – »Fabric & Features« 1418.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Lands’ End Custom™: Hosen und Hemden maßgeschneidert 1418.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Lands’ End Custom™: Hosen und Hemden maßgeschneidert Abb. 5: Schritt 2 – »Fit« derte Jeans bestellt hat – diese erneut zu ordern. Entscheidet er sich für eine neue Jeans, so wird er durch einen strukturierten Fragebogen geleitet, damit ein individuelles Profil von ihm erstellt werden kann. Dadurch wird die Komplexität des Mass-Customization-Prozesses aus Kundensicht verringert. Der Prozess soll grundsätzlich so einfach wie möglich sein und ist in drei Schritte gegliedert: »Fabric & Features«, »Fit« und »Finish«. Im Schritt »Fabric & Features« (siehe Abb. 4) legt der Kunde fest, welchen Jeanstyp er gerne hätte. Es werden ihm Fragen zur Farbe, zum Sitz, zur Bundhöhe, zu den Hosentaschen und zur Form der Hosenbeine gestellt. Im zweiten Schritt »Fit« (siehe Abb. 5) ermittelt der Kunde seine persönliche Passform. Er wird aufgefordert, sorgfältig und wahrheitsgemäß seine Körpermaße einzutragen, damit Lands’ End ein mathematisches Modell der Körperform erstellen kann. Außerdem muss er seine Körperkonturen abschätzen. Dabei wird er durch Skizzen und ihm hilfreiche Erläuterungen unterstützt. Fragen nach der Schuhgröße mögen auf den ersten Blick irrelevant erscheinen, werden aber von der Software genutzt, um die Körperproportionen richtig zu berechnen. Werden Maße eingegeben, die außerhalb einer von Lands’ End definierten Bandbreite liegen, so wird der Kunde aufgefordert, diese Maße zu berichtigen. Im dritten Schritt »Finish« wird dem Kunden tabellarisch das Ergebnis seiner Auswahl präsentiert und er hat die Möglichkeit, Korrekturen vorzunehmen. Er wird wiederum über die weitere Vorgehensweise informiert. Abschließend legt er seine maßgeschneiderte Jeans in der gewünschten Menge in den Einkaufskorb und kann seinen Einkauf fortsetzen, wenn er dies möchte. Im Fenster »Einkaufskorb« wird unaufdringlich auf weitere eventuell passende Kleidungsstücke hingewiesen (»Great Go Togethers«). Innovative Produktions- und Logistikprozesse im Hintergrund Lands’ End setzt für »Lands’ End Custom™« eine Software von Archetype Solutions ein. Das Unternehmen hat einen Algorithmus 10 1418.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Lands’ End Custom™: Hosen und Hemden maßgeschneidert 1418.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Lands’ End Custom™: Hosen und Hemden maßgeschneidert entwickelt, der die Kundenmaße aus dem Fragebogen im Onlineshop von Lands’ End in Schnittmuster überträgt. Die Software unterstützt außerdem den Datenaustausch und berücksichtigt Lagervorräte sowie Rückläufe. Die Kundendaten werden zudem in einer Datenbank gespeichert und stehen bei einem späteren Besuch bei Lands’ End jederzeit zur Verfügung. [11] Jeden Abend sendet Lands’ End alle Bestellungen, die im Laufe des Tages über das Internet generiert wurden, an Archetype Solutions. [5] Die Daten werden mit Hilfe der Spezialsoftware mit mehr als 5 Millionen verschiedenen Körperdatensätzen verglichen. Auf diese Weise wird ein mathematisches Körpermodell berechnet. Dabei berücksichtigt die Software beispielsweise, dass Männer im Allgemeinen eher, ihren Hüftumfang unter- und ihre Beinlänge eher überschätzen. [11] Auf Basis des Körpermodells wird ein individuelles Schnittmuster generiert und auf elektronischem Wege von Archetype Solutions zu einem der Vertragshersteller übermittelt, wo die Ware in Spezialfabriken produziert wird. Die individuellen Schnittmuster werden auf NC-Laser übertragen, die die verschiedenen Stoffteile in wenigen Sekunden schneiden. [5] Die NC-Laser-Technik kann überzeugen, denn sie bietet eine Schnittqualität auf höchstem Niveau. (Im Vergleich hierzu werden in der Massenproduktion circa 50 Stofflagen auf einmal mit einer technisch ausgefeilten Bandsäge geschnitten. Die Kosten pro Stofflage sind zwar geringer, aber die Produktionstechnik führt zu beachtlichen Qualitätsschwankungen je nach Position des Stoffes im Stapel. [11]) Nachdem alle benötigten Teile des Kleidungsstücks zurechtgeschnitten wurden, werden sie verpackt und zur Nähmaschine gebracht. Hier wird das Kleidungsstück – anders als bei der üblichen Kleiderfertigung – in Einzelfertigung genäht. Um nicht den Überblick zu verlieren, wird jedem Kleidungsstück ein Barcode zugewiesen, um jederzeit dessen Status nachprüfen zu können. Kleine Produktionsteams sind für die Einzelstücke verantwortlich, nicht aber für die Arbeitsschritte. Ähnlich der klassischen Einzelfertigung wandern die Produktions- 11 Lands’ End Custom™: Hosen und Hemden maßgeschneidert Custom Clothing ist profitabel und soll weiter wachsen Kunden, die Kleidung bei »Lands’ End Custom™« kaufen, geben pro Jahr 39 Prozent mehr Geld bei Lands’ End aus als der »normale« Lands’ End Kunde. Die Kunden sind außerdem loyaler: Die Wiederkaufrate liegt um 34 Prozent über der der Käufer von Standardkleidung. [12] Kaufen die Kunden erst einmal ein zweites paar Hosen, entspricht dies beinahe ihrer Jahresausgabe für Hosen. [9] Die Custom Clothing Kunden sind dabei geringfügig jünger und haben ein etwas höheres Einkommen als die »normalen« Kunden. [13] Potenzielle Kunden werden über ganzseitige Werbeanzeigen in entsprechenden Magazinen oder Zeitungen wie dem Wallstreet Journal angesprochen und Werbespots werden in ausgesuchten Fernsehkanälen geschaltet. Die größte Bedeutung misst Lands’ End allerdings der Mund-zu-Mund-Propaganda bei. [4] Eine Studie von Jupiter Research im November 2002 ergab, dass 51 Prozent der Befragten bereit wären, 10 US-Dollar mehr für eine maßgeschneiderte Hose zu bezahlen. 28 Prozent wären bereit, 20 USDollar mehr zu zahlen, 18 Prozent würden sogar 30 US-Dollar mehr ausgeben. [11] Dieses Potenzial an zusätzlicher Zahlungsbereitschaft bei Kunden macht sich auch Lands’ End zunutze. Lands’ End hat laut eigenen Angaben den Preis für Custom Clothes so berechnet, dass die Gewinnspanne der von »normaler« Kleidung entspricht. [13] Die 12 1418.01.01 – © Symposion Publishing 2006 teams mit ihren individuellen Kleidungsstücken von Station zu Station. [11] Die letzte Instanz im Fertigungsprozess vermisst das Kleidungsstück. Wenn eines der kritischen Maße nicht eingehalten wird, wird das Kleidungsstück entsorgt und neu hergestellt. Die fertigen Kleidungsstücke werden nun zu einem Logistikzentrum verschickt, wo sie sortiert, verpackt und direkt an die Kunden gesendet werden. [5] Die Auslieferung der maßgeschneiderten Artikel an die Kunden erfolgt drei bis vier Wochen nach Eingang der Bestellung, langfristig sollen Custom Clothes jedoch innerhalb von ein bis zwei Wochen geliefert werden. [4] Lands’ End Custom™: Hosen und Hemden maßgeschneidert 1418.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Preise liegen bei 54 US-Dollar für maßgeschneiderte Chinohosen und Jeans, für Hemden und Blusen beläuft sich der Preis auf 49 US-Dollar. Damit sind die Preise bei Chinohosen 19 US-Dollar teurer als die der Standardkonfektionen, was demnach den zusätzlichen Kosten für Produktion, Logistik und Kundenintegration entsprechen müsste. Mittlerweile werden 27 Prozent aller über landsend.com georderten Hosen und Hemden maßgeschneidert bestellt. [2] 40 Prozent der Online-Käufer ziehen ein maßgeschneidertes Kleidungsstück den Standardgrößen vor, wenn es verfügbar ist, und das, obwohl der Preis um mindestens 19 US-Dollar über dem des Standardproduktes liegt und es drei bis vier Wochen dauert, bis das Produkt beim Käufer ankommt. [12] Das Unternehmen plant daher, das Angebot an maßgeschneiderter Kleidung auszuweiten. Frank Kriegl, Marketingdirektor Lands’ End Deutschland, glaubt allerdings nicht, »dass Mass Customization das normale Geschäft überflügeln wird«. [14] Die Bekleidungsindustrie ist prädestiniert für Mass Customization Die Märkte wandeln sich weltweit schnell und die Kunden sind anspruchsvoller denn je. Diese beiden Aspekte führen dazu, dass Mass Customization von Unternehmen in vielen Märkten zunehmend als strategische Option wahrgenommen wird. Mass Customization ermöglicht die Erfüllung der immer heterogener werdenden Kundenbedürfnisse mit einer Effizienz, die mit der Massenproduktion verglichen werden kann. Die Kunden werden dabei tief in die Wertschöpfung integriert. [15] Joseph B. Pine II, Experte für Mass Customization, hat schon 1993 festgestellt, dass die Bekleidungsindustrie prädestiniert für Mass Customization ist, da die Einzigartigkeit des menschlichen Körpers im Widerspruch mit den Standardgrößen steht. [11] Höhere Kosten in manchen Bereichen (etwa der Produktion – gefertigt wird nun jedes Kleidungsstück individuell und nicht in größeren Mengen ) können durch Kosteneinsparungen in anderen Bereichen aufgefangen werden. Beispielsweise müssen keine Restbestände 13 Lands’ End Custom™: Hosen und Hemden maßgeschneidert 1418.01.01 – © Symposion Publishing 2006 vernichtet werden, wenn Produkte nicht verkauft werden konnten. Darüber hinaus wird der Bestellprozess vom Kunden übernommen, was Kosten in der Kundeninteraktion spart. Der Kunde ist außerdem grundsätzlich bereit, mehr zu zahlen, wenn seine Bedürfnisse besser erfüllt werden. [11] Dies führt möglicherweise auch zu einer stärkeren Kundenbindung durch höhere Kundenzufriedenheit. Neben Lands’ End haben zahlreiche weitere Anbieter das Potenzial erkannt, das im Angebot kundenindividueller Kleidung liegt. Während klassische Schneiderläden aufgrund höherer Preise sowie des meist fehlenden Internet-Verkaufskanals nur eingeschränkt mit Lands’ End konkurrieren können, gibt es weitere Unternehmen, die maßgeschneiderte Kleidung über das Internet anbieten. Auch von diesen Anbietern differenziert sich Lands’ End erfolgreich durch seine Marke, die beworbene Qualität, den Service und die umfassende Garantie. [13] Die besondere Herausforderung für Lands’ End ist es – laut Bill Bass, dem Senior Vice President E-Commerce – den Kunden das Vorurteil zu nehmen, maßgeschneiderte Kleidung sei teuer und kompliziert zu bestellen. Mit der Garantie, auch maßgeschneiderte Ware jederzeit unkompliziert umzutauschen oder zurückzunehmen, setzt sich Lands’ End von allen Wettbewerbern ab und nimmt den Kunden einen Großteil der Ängste. [4] 14 Lands’ End Custom™: Hosen und Hemden maßgeschneidert Fabian Uhrich studiert seit Oktober 2001 Technologie- und Managementorientierte Betriebswirtschaftslehre an der Technischen Universität München. In sein Studium integrierte er Aufenthalte an der Hong Kong University of Science and Technology, der Ecole des Hautes Etudes Commerciales Paris und der University of California at Berkeley. Zugleich nimmt er an einem viersemestrigen Zusatzstudium am Center for Digital Technology and Management (CDTM) in München teil. Mit Mass Customization beschäftigte er sich bereits während seiner Tätigkeit als studentischer Mitarbeiter am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre – Information, Organisation und Management der TU München (Prof. Dr. Dr. h.c. Ralf Reichwald). Kontakt: [email protected]. Melanie Müller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre – Information, Organisation und Management an der TU München. Innerhalb der Research Group »Customer-driven Value Creation« befasst sie sich vorwiegend mit der Kundeninteraktion bei Mass Customization und Open Innovation. Sie unterrichtet außerdem an der TUM Business School in den Bereichen Mass Customization und Open Innovation sowie Organisation, Führung und Strategie. Melanie Müller studierte Betriebswirtschaftslehre an der Ludwig Maximilians Universität München und der University of California Los Angeles. Zusätzlich absolvierte sie ein zweijähriges Zusatzstudium und erwarb ein Certificate in Technology Management am Center for Digital Technology and Management (CDTM). Praktische Erfahrung sammelt sie u.a. bei DaimlerChrysler, Steppenwolf, BMW und der DZ BANK AG. Kontakt: [email protected]. Literatur [1]Cox, B. (2002): The Secret to Jeans that Fit. Mass Customization, http://www.ecommerce guide.com (Zugriff am 26.07.2004) 1418.01.01 – © Symposion Publishing 2006 [2]Lands’ End Presse (2004): http://www.landsend.de/presse (Zugriff am 30.07.2004) [3]Scharbau, S. (2002): Versender eröffnet erstes Geschäft. Lands’ End wächst in Deutschland stetig, in: Handelsblatt, Nr. 105, S. 16 [4]Bass, B. (2003): Experten-Interview vom 8.10.2003 mit der Technischen Universität München, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre – Information, Organisation und Management [5]Drickhamer, D. (2002): A Leg up on Mass Customization. Software Enables Lands’ End Customers to be Particular about their Pants, http://www.industrieweek.com (Zugriff am 26.07.2004) [6] Hornig, F. (1997): Lands’ End. Hemd aus Wisconsin, in: Wirtschaftswoche, Nr. 40, S. 132. [20] (vgl. Lands’ End Presse 2004) 15 Lands’ End Custom™: Hosen und Hemden maßgeschneidert [7]Lands’ End (2004): http://www.landsend.com (Zugriff am 26.07.2004), http://www. landsend.com/cd/fp/prod/0,,1_2_1931_45145_61673_42965_5:view=-1,00.html?CM_ MERCH=PAGE_41177&sid=6970024151044171020 à How it works (Zugriff am 26.07.2004) [8] Münster, T. (1999): Wettbewerbsrecht. Spürbar dünner, in: Wirtschaftswoche, Nr. 48, (S. 168) [9]Electronic Commerce Info Net (2002): http://www.ecin.de/news/2002/08/08/04620 (Zugriff am 26.07.2004) [10]Lange, E. (2003): Internet. Virtuelle Kabine, in: Wirtschaftswoche, Nr. 10, S. 94 [11] 1 to 1 Magazine (2003): Is Custom Apparel Finally Taking off, http://www.1to1.com (Zugriff am 26.07.2004) [12] o.V. (2005): Fortune, http://www.fortune.com/fortune/photoessay/0,,832954,00.html (Zugriff am 04.11.2005) [13]Kreipl, A. (2004): Anfrage per E-Mail vom 29.07.2004 [14]Schwarzmann, O. W. / Pracht, S. (2003): Trends. Ware Sehnsucht, in: Acquisa, Ausgabe 08/2003 1418.01.01 – © Symposion Publishing 2006 [15] Piller, F. T. / Stotko C. M. (2003): Mass Customization und Kundenintegration. Neue Wege zum innovativen Produkt, Symposion, Düsseldorf 16 Karstadt und Maile: Zwei Konzepte für Herrenmode nach Maß Das Konzept der Maßkonfektion gibt es schon lange, doch dank moderner Informations- und Produktionstechnologien eröffnen sich neue Potenziale. Mit Hilfe der industriellen Maßanfertigung ist es heute möglich, die individuellen Anforderungen der Kunden zu Preisen von Konfektionsware zu erfüllen. Stichworte: Maßkonfektion, 3D-Body-Scanner, Kundeninteraktion, Körpervermessung, computergestützte Produktauswahl, Bestellversand, Outfit-Konfigurator, Persönliche Beratung, Betreuung Ulrike Schwarz, Melanie Müller, 2123.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Das Umfeld des Mass-Customization-Angebots Branchenentwicklung Die ursprüngliche Motivation für die Wahl einer Maßanfertigung liegt in der Abweichung von Normgrößen. Studien belegen, dass 55 Prozent der Kunden Änderungen an gekaufter Konfektionsware vornehmen lassen. Gleichzeitig zeigen Umfragen im Konsumentenbereich, dass die Zahlungsbereitschaft für individualisierte Damen- und Herrenbekleidung 10-20 Prozent über den normalen Preisen liegt. [1] Hinzu kommt heute, dass die maßgefertigte Konfektionsware dem zunehmenden Streben der Konsumenten nach Individualisierung Karstadt und Maile: Zwei Konzepte für Herrenmode nach Maß Anschrift Karstadt Haus Oberpollinger am Karlsplatz Neuhauser Str. 18, 80331 München Internet-Adresse www.karstadt.de Maßkonfektion seit 2002 Branche Bekleidung Produkt Herrenmaßkonfektion Anschrift Maile Leopoldstr. 171, 80804 München Internet-Adresse www.maile.com Branche Bekleidung Produkt Herrenmaßkonfektion Bezug zu Kapitel 4.5Formen der Kundenintegration 5.1Produkt- und Leistungsgestaltung 5.2Prozessgestaltung: Aufbau des Interaktionssystems 6.2Preispolitische Potenziale 7 Die Kosten: Economies of Mass Customization 8.3Kundenintegration als Basis für erfolgreiches CRM 2123.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Maßkonfektion seit 1995 2123.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Karstadt und Maile: Zwei Konzepte für Herrenmode nach Maß entgegen kommt, da auch das Design individuell gestaltbar ist. Der moderne Mensch fordert Produkte und Leistungen, die genau auf ihn zugeschnitten sind, denn mittels individueller Produkte, speziell auch individueller Kleidung, können Käufer ihre Persönlichkeit zeigen. Der Kunde hat in der Regel eine Vielzahl an Stoffen, Schnitten, Accessoires zur Auswahl, aus denen er ein an seine Bedürfnisse angepasstes, individuelles Stück bestellen kann. Außerdem hat er nicht das Risiko, dass das gewünschte Kleidungsstück in seiner Größe nicht vorrätig ist. Mit Hilfe der industriellen Maßanfertigung, das heißt dem Konzept »Mass Customization«, ist es seit einigen Jahren möglich, die individuellen Anforderungen der Konsumenten zu Preisen zu erfüllen, die vergleichbar sind mit den Preisen von Konfektionsware. Möglich wird dies durch neue Technologien, die Kauf und Herstellung unterstützen. Zu Beginn des Kaufs wird der Kunde zunächst vermessen. Anhand dieser Daten und entsprechend seiner Designwünsche wird in einer Kleidungsfabrik ein individuelles Kleidungsstück gefertigt. Dieser Fertigungsvorgang kann durch den Einsatz moderner elektronischer Techniken, beispielsweise mit Hilfe spezieller Schnittsoftware oder computergestützter Fertigung, unterstützt und verbessert werden. So können Anzüge, Hemden und Kostüme in einer Art Fließband-Fertigung erstellt werden. Zudem erleichtern und beschleunigen neue Technologien wie dreidimensionale Body-Scanner, die seit einigen Jahren im Handel eingesetzt werden, das aufwändige Maßnehmen. Die Körperdaten können jetzt millimetergenau abgemessen, sowie direkt und frei von Eingabefehlern ins EDV-System des Herstellers übernommen werden. Die Individualisierung wird damit entscheidend vereinfacht und rationalisiert. Die Maße werden automatisiert in Schnittmuster überführt und anschließend an die Cutter weitergeführt. Somit können die Kosteneinsparungspotenziale der industrialisierten Fertigungsweise und die Vorzüge der technologisierten, präzisen Maßnahme optimal genutzt werden. Zugleich ergeben sich positive Auswirkungen auf Profit und Gewinnmarge. [2] Zudem werden durch das Angebot von Maßkonfektion Kosten durch Über- Karstadt und Maile: Zwei Konzepte für Herrenmode nach Maß Branchenüberblick Grundsätzlich lassen sich im Bereich der Maßkonfektion zwei Geschäftsmodelle unterscheiden: Neben Unternehmen, die Maßkonfektion als Hauptleistung anbieten, gibt es Unternehmen, welche die Maßkonfektion als Zusatzangebot zur herkömmlichen Konfektionsware führen. Die meisten Anbieter bieten ausschließlich Maßkonfektionsware für Herren an, nur wenige Unternehmen (zum Beispiel 2123.01.01 – © Symposion Publishing 2006 produktion, Lagerhaltung, Rabatte etc. gesenkt, welche sich in der Bekleidungsbranche weltweit immerhin auf 300 Milliarden US-Dollar belaufen. [3] Den Trend zur Maßkonfektion und die Vorzüge des technologisierten Maßnehmens erkennen zunehmend auch große Textilunternehmer und Kaufhäuser, wie zum Beispiel C&A und Karstadt. In der Regel treten die Textilhersteller nämlich nicht direkt mit dem Kunden in Kontakt, sondern der Einzelhandel erhebt die Informationen für die Individualisierung und interagiert mit dem Kunden. Darüber hinaus entstanden auch eine Reihe von Bekleidungsunternehmen, die sich auf das Angebot von hochwertiger, individueller Konfektionsware und das Prinzip »Mass Customization« spezialisiert haben. Aufgrund der ständig sinkenden Umsatzzahlen [4] im Bereich Einzelhandel mit Textilien und Bekleidung in den letzten Jahren wird der Wettbewerb in der Branche immer stärker. Mass Customization bietet den Anbietern die Möglichkeit, sich zu differenzieren und eine Nische im umkämpften Bekleidungsmarkt einzunehmen. Die Anbieter, die sich auf Mass Customization konzentrieren, nutzen den Trend zur Individualisierung, die erhöhte Zahlungsbereitschaft und die Vorteile der verbesserten technologischen Produktions- und Anpassungsmöglichkeiten und setzen sich somit vom Markt ab. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die Maßkonfektion in der Bekleidungsbranche gegeben. Anschließend werden exemplarisch zwei Anbieter mit unterschiedlichen Konzepten miteinander verglichen. 2123.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Karstadt und Maile: Zwei Konzepte für Herrenmode nach Maß Dolzer, Corpus-Mass, Weingarten) haben zusätzlich Maßkonfektion für Damen im Angebot. Mit Ausnahme einiger weniger Unternehmen (Dolzer, Walbusch), die schon seit den sechziger Jahren Maßkonfektion anbieten, sind viele Unternehmen erst in den letzten zehn Jahren gegründet worden. Auch die großen Handelsunternehmen (Karstadt, C&A) bieten Mass Customization erst seit einigen Jahren an. Die durchschnittliche Liefer- und Fertigungszeit variiert von zwei bis sechs Wochen. Preislich liegt das günstigste Angebot für einen maßgeschneiderten Anzug bei circa 150 Euro (Dolzer). Andere Unternehmen bieten Maßkonfektionsanzüge dagegen erst ab Preisen von circa 700 Euro an (zum Beispiel Peter Herrschelmann, Loden-Frey). Die Firma Dolzer setzt sich mit ihren tiefen Preisen eindeutig ab. Möglich sind diese dadurch, dass das Unternehmen die in Deutschland computergesteuert zugeschnittenen Stoffe im Billiglohnland Tschechien zusammennähen lässt. Der Vorgang der Vermessung und Kundeninteraktion unterscheidet sich bei den verschiedenen Anbietern. Ein wesentliches Unterscheidungskriterium ist die Anwendung von Body-Scannern. Auffallend ist, dass bei den Unternehmen, die ausschließlich Maßkonfektion anbieten, die manuelle Vermessung dominiert. Ein Grund hierfür ist, dass diese Unternehmen aufgrund ihrer Spezialisierung auf Maßkonfektion in der Vermessung äußerst kompetent sind. Ein weiterer Grund könnten die hohen Anschaffungskosten sein: die Einrichtung eines Scan-Stores liegt immerhin bei circa 100.000 Euro. Dennoch liegen Body-Scanner im Trend und viele Unternehmen setzen diese gezielt als Marketingstrategie ein wie das Beispiel Harvey Lewis aus den Niederlanden zeigt: dort wird das Body-Scannen als Event in einem zu einem Laden umgebauten LKW inszeniert. Eine Sonderstellung in der Kundeninteraktion nehmen die Unternehmen ein, die Maßkonfektion (primär) per Versandhandel vertreiben. Diese Unternehmen nutzen Kataloge und das Internet für den Konfigurationsprozess. Anhand von Maßtabellen und Maßanleitungen nimmt der Kunde selbst seine Maße auf. Alternativ zur Selbstvermessung Name Maßkonfektion seit Angebot für Preis für einen Maßanzug Lieferzeit in Wochen Scanner vorhanden Karstadt www.karstadt.de 2002 Herren ab 399 Euro 4-5 ja Maile www.maile.de 1995 Herren ab 480 Euro 3-4 nein Loden-Frey www.loden-frey.de Anfang 80er Herren ab 699 Euro 4 Ja Walbusch www.walbusch.de Mitte 60er Herren ab 550 Euro 4-6 nein C&A www.CundA.de 2000 Herren ab 318 Euro 2-4 nein Erdmann www.erdmann-kleidung.de 2001 Herren ab 499 Euro 4-6 ja Weingarten www.weingarten-koeln.de - Damen und Herren ab 350 Euro 5 ja Corpus Masskonfektion www.corpus-mass.de 2002 Damen und Herren ab 369 Euro 3 ja Dolzer www.dolzer.de 1963 Damen und Herren ab 149 Euro 4-6 nein Herschelmann www.dermassanzug.de 1998 Herren ab 700 Euro 2 nein Cut for You www.cutforyou.de 1999 Damen und Herren ab 499 Euro 4 ja Mangas www.mangas-muenchen.de 1996 Herren ab 269 Euro 4-6 nein 2123.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Karstadt und Maile: Zwei Konzepte für Herrenmode nach Maß Tabelle 1: Branchenüberblick mit ausgewählten Unternehmen Karstadt und Maile: Zwei Konzepte für Herrenmode nach Maß wird oft in einem Verkaufsraum auf Wunsch vermessen und beraten (zum Beispiel Maile, Walbusch). Der Vergleich zeigt, dass es in der Branche unterschiedliche Geschäftsmodelle und damit Differenzierungsmöglichkeiten hinsichtlich Leistungsangebot und Preisniveau gibt. Tabelle 2 zeigt ausgewählte Unternehmen, die im deutschen Markt tätig sind, im Überblick. Die Unternehmen Karstadt und Maile 2123.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Karstadt, München [5] Seit September 2002 bietet das Warenhaus Karstadt im Haus Oberpollinger in München neben der Stangenware auch Maßkonfektion für Herren an (neben dem Münchner Haus wird Maßkonfektion noch in weiteren ausgewählten Kaufhäusern deutschlandweit angeboten). Anzüge, Sakkos und Hosen werden vom Maßkonfektionsfabrikanten Odermark unter der Linie Corpus-Line hergestellt und bei Karstadt unter dem Haus-Label »Yorn« vertrieben. Das Angebot bei Karstadt umfasst rund 150 Anzug- und Hemdenstoffe, die dem Kunden zur Auswahl stehen. Darüber hinaus werden Formen, Schnitte, Futterstoff, Monogramme, Taschenvarianten oder Knopfstellungen entsprechend der Kundenbedürfnisse zusammengestellt. Die Lieferzeit für einen Anzug beträgt – bei einem Preis ab 399 Euro – in der Regel vier Wochen; gegen einen Aufpreis ist auch eine Express-Lieferung innerhalb von zwei Wochen möglich. Neben Anzügen werden auch Maßhemden angeboten, was durch eine Body-Scanner-Schnittstelle mit dem Hemdenhersteller Europex unterstützt wird. Die Beratung, Maßaufnahme und der Verkauf finden in einem separaten Bereich in der Herrenmodenabteilung des Kaufhauses statt. Neben einem Musteranzug liegen im Bereich Maßkonfektion verschiedene Proben, wie unterschiedliche Hemdenkrägen, Knopfmuster und Stoffmusterkataloge, zur Ansicht und ersten Information bereit. Nach einer Terminvereinbarung erfolgt eine ausführliche, persönliche Beratung über das Angebot, Konditionen und infrage kommende Karstadt und Maile: Zwei Konzepte für Herrenmode nach Maß Kombinationsmöglichkeiten. Zentraler Inhalt des Konfigurationsvorganges ist die Vermessung mit Hilfe des 3D-Scanners der Firma Human Solutions (vgl. Abb. 1). Durch die Systemlösung RETAILOR werden automatische Körpervermessung, computergestützte Produktauswahl und sofortiger Bestellversand miteinander verbunden. Bereits auf den im Kaufhaus ausliegenden Werbeflyern wird der Scanner und die technologische Vermessung in den Vordergrund gestellt. Der Slogan lautet: »Ich will Bekleidung nach Maß mit der Technik von Morgen«. Nachdem der Kunde mit Hilfe des Beraters das Design des Anzugs ausgewählt hat, erfolgt die Vermessung mittels Scanner. Hierfür stellt sich der Kunde – nur in Unterwäsche bekleidet – in die 2123.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Abb. 1: 3D-BodyScanner [6] 2123.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Karstadt und Maile: Zwei Konzepte für Herrenmode nach Maß Mitte der elektronischen Messkabine, in deren Ecken sich vier rote Laser-Säulen befinden. Innerhalb von Sekunden erfassen die Laserstrahlen Hunderttausende von Daten und übertragen diese auf den PC im Vorraum. Hier kann der Kunde auf dem Bildschirm seinen digitalen virtuellen Zwilling begutachten. Zudem werden von der Software Angaben zu Größen und Besonderheiten gemacht und außerdem der Preis kalkuliert. Damit der Kunde fühlen kann, wie der Anzug wirklich sitzt, wird anschließend mit Anzügen in so genannten »Schlupfgrößen« gearbeitet. Aus der standardisierten Größenpalette wird der schwarze Musteranzug ausgewählt und anprobiert, der der Größe des Kunden am ehesten entspricht. Der Anzug wird entsprechend der Figur des Kunden abgesteckt, zum Beispiel an den Schultern angepasst. Der Verkäufer kann nun den Sitz überprüfen, die digitalen Angaben der Maßaufnahme kontrollieren und gegebenenfalls korrigieren. Vorgegeben wird diese Passformbestimmung mittels Schlupfgrößen von der Firma Odermark, um die individuellen Tragepräferenzen jedes einzelnen Kunden zu berücksichtigen und maximale Individualisierung in der Passform zu erzielen. [7] Zudem ist es bei der Anprobe des Musteranzugs möglich, die Körperhaltung des Kunden zu berücksichtigen. Diese wird zwar auch mittels Scanner erfasst, jedoch stehen viele Kunden beim Vermessungsvorgang nicht in ihrer natürlichen Körperhaltung, sondern oftmals aufrechter, was zu Verzerrungen führen kann. Nach Abschluss der Vermessung und nach Auftragserteilung werden die Daten elektronisch zur Firma Odermark übermittelt, wo die Fertigung stattfindet. Bei Karstadt werden die Kundendaten gespeichert, was den Kunden weitere Käufe erleichtert. Aus Unternehmenssicht wird der Konfigurationsvorgang durch den Body-Scanner vereinfacht. Die Maßaufnahme geschieht bedeutend schneller als bei manueller Aufnahme und Übertragungsfehler werden vermieden. Durch das zusätzliche Anprobieren der Schlupfgrößen soll die Passform optimiert werden. Zwar steigt der Zeitaufwand, allerdings können individuelle Vorlieben des Kunden hinsichtlich Passform und Tragekomfort erfasst und beachtet werden. Beim zweiten wesentlichen Schritt des Konfigurationsvorgangs – der Karstadt und Maile: Zwei Konzepte für Herrenmode nach Maß Für viele Kunden stellen Beratung und Bodyscannen ein neues und zugleich interessantes Erlebnis dar. Aufgrund der relativ günstigen Preise werden auch Kundengruppen angesprochen, die möglicherweise vorher noch keine Erfahrung mit Maßkonfektion hatten. Für sie ist der Prozess oftmals eine komplett neue Erfahrung und sie genießen es, ihr Produkt zu designen. Die Kombination mit einem Scan-Vorgang macht den Prozess noch spannender und vermittelt Kompetenz. Kunden, denen der Zeitaufwand für Vermessung und Design eher nachteilig erscheint, können zumindest bei Folgeaufträgen mit einem verkürzten Prozess rechnen, da die Kundendaten bereits elektronisch gespeichert sind. Dies gilt natürlich nur, wenn sich die Kundenmaße und -wünsche nicht entscheidend geändert haben. Ein weiterer Vorteil aus Kundensicht ist, dass der Kunde ein Produkt erhält, das besser passt und, das seinen individuellen Designvorstellungen besser entspricht als ein Standardprodukt. Zudem kann er den Preis über Stoff- und Variantenwahl direkt steuern. Maßanzüge des Labels Yorn gibt es bereits ab 399 Euro im Vergleich zur Konfektionsware mit circa 200 Euro. Somit ist der günstigste maßkonfektionierte Anzug zwar deutlich teurer als ein angebotener Standardanzug, jedoch ist das Angebot im Branchenvergleich relativ günstig und richtet sich an ein preisbewusstes Klientel. Insgesamt hat ein derartiges Angebot äußerst 10 2123.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Aufnahme der Designwünsche des Kunden – ist der Zeitaufwand seitens des Handels relativ hoch. Der Kunde muss kompetent beraten werden, damit er nicht durch die Fülle von Stoffen und Kombinationsmöglichkeiten überfordert wird. Schließlich hat der Hersteller Odermark beispielsweise 2.500 Oberstoffe zur Verfügung. Mit Hilfe statistischer Auswertung trifft der Hersteller zwar bereits eine Vorauswahl der Kombinationsmöglichkeiten, dennoch stehen dem Kunden noch 150 verschiedene Stoffe im Kaufhaus zur Auswahl. Der Berater muss deshalb kundenspezifisch vorselektieren und entscheiden, welche Optionen er anbietet. Er muss also neben der handwerklichen Vorbildung zwangsläufig auch Mode- und Designkenntnisse aufweisen. 2123.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Karstadt und Maile: Zwei Konzepte für Herrenmode nach Maß positive Auswirkungen auf das Image des Kaufhauses Karstadt und hilft dabei, neue Kundengruppen zu erschließen. Neben den Vorteilen für das Kaufhaus bringt das Angebot von Maßkonfektion natürlich auch Herausforderungen für das Unternehmen mit sich. Höhere Preise lassen sich aufgrund von Mehrkosten in Produktion, Logistik und Kundeninteraktion nicht vermeiden. Mehrkosten bei Karstadt entstehen durch die aufwändigere Produktion beim Hersteller, aufgrund erhöhter Transportkosten und durch die Investition in den Scanner sowie durch die zeitintensive Beratung durch Fachpersonal. Aufgrund des Mehrwertes (Passform, individuelles Design, Verfügbarkeit) werden seitens des Kunden jedoch höhere Preise akzeptiert, so dass die zusätzlichen Kosten ausgeglichen werden können. Zudem wird die Vergleichbarkeit von Preisen aufgrund der Individualität jedes Kleidungsstückes reduziert. Das Unternehmen entzieht sich dadurch dem direkten Vergleich mit Wettbewerbern und damit dem Preisdruck. Kostenvorteile entstehen bei Karstadt durch die technologischen Vorteile des Scanners (weniger Korrekturen durch exakte, schnelle Vermessung und korrekte Datenübertragung) sowie durch geringere Lagerkosten, ein geringeres Moderisiko und die Vermeidung von Rabatten. Zudem wird vor allem durch die Kundenintegration Wert geschaffen: Durch die intensive Interaktion mit dem Kunden kann besser auf seine Bedürfnisse eingegangen und eine Beziehung zu ihm aufgebaut werden. Dadurch wird zum einen das Image des Händlers verbessert, zum anderen wird das Cross-SellingPotenzial erhöht und Folgeaufträge, die weit weniger zeitintensiv sind, werden wahrscheinlicher. Die Kundenbindung ist für den Handel enorm wichtig. Kunden, die kommen und Maßkonfektionsware erwerben möchten, kaufen in der Regel auch wieder, da sie mit der Ware zufrieden sind. Im Durchschnitt werden von circa 40 Prozent der Kunden innerhalb von 6 Monaten Folgebestellungen aufgegeben. Die Kosten, welche für einen Maßcorner mit Body-Scanner (Mietkosten, Ladenbau, Werbungskosten), anfallen, amortisieren sich gemäß dem Hersteller Human Solutions bereits im zweiten Jahr – bei einem durchschnittlichen Umsatz von circa 30 Maßanzügen und 11 Karstadt und Maile: Zwei Konzepte für Herrenmode nach Maß 50-70 Maßhemden [8] pro Monat. Gemäß dem Kundenbetreuer bei Karstadt in München – Nikolas Kyriakopoulos – ist der Zulauf für den Bereich Maßkonfektion ungebremst, obwohl es seit einer Marketing-Offensive bei Einführung der Maßkonfektion keine gezielten Werbemaßnahmen gibt. 1995 wurde das Bekleidungsunternehmen Maile gegründet. Das Motto lautet »MAILE möchte Ihr Leben vereinfachen«. Ziel ist es, Maßkonfektion für Herren nach persönlichen Vorlieben überall liefern zu können. Neben dem Angebot an Maßkonfektion besteht auch die Möglichkeit, standardisierte Herrenmode zu beziehen, jedoch stellt das Angebot von Maßkonfektion das Kerngeschäft des Unternehmens dar. Seit 1995 versendet das Unternehmen Kataloge; seit 1999 gibt es eine Internetpräsenz. Das Angebot bei Maile ist äußerst umfangreich: Neben Anzügen, Sakkos, Westen, Hemden und Schuhen werden Serviceleistungen, wie Änderungs-, Reinigungsservice und Expresslieferung, aber auch Standardprodukte, wie zum Beispiel Socken, angeboten. Der Kunde kann im Bereich Maßkonfektion wiederum aus unzähligen Formen sowie 400 Stoff- und Ausstattungsvarianten auswählen. Die Lieferzeit für einen Anzug beträgt circa vier Wochen. Der Konfigurationsvorgang kann auf zwei Wegen erfolgen: Zum einen besteht die Möglichkeit, sich im Verkaufsraum von Maile in München vermessen und beraten zu lassen. Zum anderen ist es auch möglich, die Vermessung selbst vorzunehmen und via Internet zu bestellen. Maile spricht durch dieses Angebot gezielt Kunden mit wenig Zeit an, die Bestellungen via Internet mit einem Outfit-Konfigurator aufgeben möchten. Außerdem werden zusätzliche Kundengruppen (überregionale Kundschaft sowie Kunden, die keine persönliche Beratung benötigen) bedient. Alle Variationsmöglichkeiten (Stoffe, Formen, Ausstattung, Größe, Maßabweichungen) werden erklärt, 12 2123.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Maile, München [9] Karstadt und Maile: Zwei Konzepte für Herrenmode nach Maß 2123.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Abb. 2: Auswahl des Stoffes und der Ausstattung mit dem Online-Konfigurator (1) [10] abgebildet und können ausgewählt werden (vgl. Abb. 2 und 3). Daneben sind Preise und aktuelle Liefertermine einsehbar. Am Ende der Bestellung erhält der Kunde eine schriftliche Zusammenfassung. Maile empfiehlt den Kunden bei Online-Konfiguration die persönliche Maßaufnahme mit dem so genannten »Try-MAILE-Service«, welcher 10 Euro extra kostet. Es werden Probierteile zugesendet; mit einem Maßband kann der Kunde dann individuelle Abweichungen zu den Standardgrößen ermitteln. Das Konzept von Maile bringt den Vorteil mit sich, dass Kosten für repräsentative und große Räumlichkeiten in zentraler Lage sowie Personalkosten (Zeit- und Qualifikationsaspekt) gespart werden. Allerdings besteht kein direkter Kontakt zu den Kunden, die online 13 Karstadt und Maile: Zwei Konzepte für Herrenmode nach Maß bestellen. Dies macht es schwierig, spezielle Kundenwünsche zu erfassen, das Vertrauen des Kunden zu gewinnen und das von ihm wahrgenommene Risiko zu reduzieren. Manche Kunden empfinden die fehlende Beratung, die Verantwortung für den Messvorgang sowie das fehlende Erlebnis des individualisierten Einkaufes möglicherweise als nachteilig. Andererseits bietet der Service den Vorteil, bequem von zu Hause aus zu bestellen, was – wie bereits erwähnt – für bestimmte Zielgruppen sehr attraktiv ist. Zudem versucht Maile, durch ausführliche Informationen auf einer gut gegliederten Website Vertrauen aufzubauen und das Risiko des Kunden zu reduzieren. Es ist ferner natürlich immer möglich, die Konfiguration zusammen mit einem Verkäufer im Shop in München durchzuführen. Zumindest bei der 14 2123.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Abb. 3: Auswahl des Stoffes und der Ausstattung mit dem Online-Konfigurator (2) [10] Karstadt und Maile: Zwei Konzepte für Herrenmode nach Maß ersten Bestellung könnte dies für die Kunden sehr hilfreich sein. Maßkonfektionsanzüge sind bei Maile ab 480 Euro erhältlich. Inzwischen gibt es keine gezielten Werbemaßnahmen mehr; neben dem Katalog spielt vor allem die gute Mund-zu-Mund-Propaganda eine wichtige Rolle. 2123.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Vergleich der Unternehmen Karstadt und Maile Beide Unternehmen bieten maßkonfektionierte Anzüge und Hemden für Herren an. In Bezug auf Passform und Design stehen bei beiden Unternehmen unzählige Varianten zur Verfügung. Die Geschäftsmodelle der beiden Unternehmen unterscheiden sich insofern, dass Karstadt die Maßkonfektion als Zusatzleistung anbietet. Maile hingegen versteht sich als Hauptleister und sieht im Angebot von Maßkonfektion das Kerngeschäft. Preislich gesehen richten sich die Unternehmen an unterschiedliche Zielgruppen und Marktsegmente. Der Fokus von Karstadt liegt auf einem eher preisbewussten Klientel, dem Maßkonfektion als Service und Erlebnis angeboten wird. Maile zielt mit seinem Angebot auf ein Klientel mit eher gehobenen Ansprüchen, das den zeitintensiven Vermessungs- und Konfigurationsvorgang vermeiden möchte und offen gegenüber Internet-Anbietern ist. Bei Karstadt ist eine Erstbestellung ausschließlich in den eigenen Ladenräumen möglich. Bei Maile hingegen kann die Konfiguration zwar auch im Laden stattfinden, allerdings richtet sich der Service gezielt an Internet-Kunden, die sich anhand eines Online-Konfigurators Passform und Design selbst zusammenstellen. Maile hat damit die Möglichkeit, überregionale Kundschaft anzusprechen, während Karstadt eher das regionale Publikum bedient. Karstadt nutzt im Gegensatz zu Maile einen Scanner zur Maßaufnahme und stellt den Konfigurationsvorgang in den Mittelpunkt des Verkaufsprozesses. Vorteile ergeben sich hierdurch in Bezug auf die millimetergenaue Aufnahme und die fehlerfreie Datenübertragung. Außerdem wird der Scanner gezielt als besonderes Verkaufserlebnis 15 Karstadt und Maile: Zwei Konzepte für Herrenmode nach Maß Insgesamt kann man sagen, dass die Beratungsleistung bei Karstadt sehr intensiv, ausführlich und persönlich ist. Kundenvertrauen kann somit aufgebaut und gewonnen werden und die Kundenzufriedenheit durch Kennen und Erfüllen der Kundenwünsche erhöht werden. Ziel ist eine erhöhte Kundenbindung sowie der Aufbau intensiver Kundenbeziehungen durch die intensive Interaktion mit dem Kunden am Verkaufsort. Die Maßkonfektion bringt Reputation und Zusatz-Umsätze. Im Gegensatz hierzu setzt Maile auf den Vertrieb und die Konfiguration über das Internet und den Katalog. Vorteile des Versandhandels werden genutzt, Personalkosten und Raumkosten gespart und darüber hinaus die Verantwortung für die Passgröße auf den Kunden übertragen. Kundenzufriedenheit und -bindung erzielt das Unternehmen neben dem individuellen Produkt vor allem durch den unkomplizierten Service. Zusätzlich bietet Maile den Kunden die Möglichkeit, sich persönlich vor Ort beraten zu lassen. Dadurch, dass 16 2123.01.01 – © Symposion Publishing 2006 vermarktet. Dadurch, dass der Kunde während des Kaufs bei Karstadt von einem Verkäufer unterstützt wird, kann er gezielt durch den Verkaufsprozess geführt und seine Ängste können reduziert werden. Allerdings bringt dieses Konzept auch höhere Kosten mit sich, zum Beispiel für Beratung, Räumlichkeiten und den Body-Scanner. Maile konzentriert sich im Gegensatz zu Karstadt eher darauf, den Kunden im Internet ausführliche Informationen übersichtlich zur Verfügung zu stellen. Der Kaufprozess ist weniger auf die Vermittlung eines Erlebnisses ausgerichtet, sondern soll den Kunden einen effizienten Einkauf ermöglichen. Die umfassende Darstellung von Auswahl und Konfigurationsprozess im Internet ersetzt jedoch nicht den Verkäufer, der individuell auf persönliche Wünsche oder Ängste eingehen kann. Auf der anderen Seite ist die Kaufbarriere für den Kunden möglicherweise niedriger, wenn er sich im Internet den Anzug zusammenstellt, da er unabhängig von Zeit und Ort agieren kann. Zudem ist die von Maile angesprochene Kundengruppe möglicherweise bereits erfahren mit Maßkonfektion und besitzt das entsprechende Selbstbewusstsein, autonom im Internet zu konfigurieren. Karstadt und Maile: Zwei Konzepte für Herrenmode nach Maß sich der Kunde keinem anonymen Internetanbieter gegenüber sieht, werden Vertrauen sowie Kundenbindung gestärkt. Abschließend lässt sich feststellen, dass beide Unternehmen mit ihrem Maßkonfektionsangebot derzeit sehr erfolgreich sind. Ausgehend von unterschiedlichen Kundengruppen mit individuellen Bedürfnissen hinsichtlich Preis, Betreuung und Interaktion haben wohl beide Unternehmen ein lukratives Betätigungsfeld gefunden. Forschungsergebnisse zeigen, dass die Kunden neben dem individuellen Produkten häufig auch gezielt einen individuellen Service kaufen. Dieses Bedürfnis der Kunden erfüllt Karstadt. Auf der anderen Seite spricht Maile mit seinem Angebot gezielt eine Zielgruppe an, die im individuellen Konfigurationsprozess kein Erlebnis sieht, sondern zeiteffizient einkaufen möchte. Damit fokussieren beide Unternehmen unterschiedliche Kundengruppen. Wesentlich für den langfristigen Erfolg ist nun, dass sich beide Unternehmen auf das Angebot eines auf diese Zielgruppen abgestimmten Angebotes konzentrieren. Tabelle 2 zeigt die beiden Unternehmen zusammenfassend im Überblick. 2123.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Tabelle 2: Überblick des Angebots von Karstadt und Maile Marketing-Konzept Karstadt Maile Produkte Maßkonfektion für Herren Maßkonfektion für Herren Maßkonfektion ist Zusatzangebot Maßkonfektion ist Hauptangebot Preis Ab 399 Euro/Anzug Ab 480 Euro/Anzug Distribution Erstkauf im Geschäft Erstkauf via Internet oder im Geschäft Konfiguration Vermessung mit 3D-Scanner und Schlupfgrößen zur Passformanpassung Vermessung durch den Kunden selbst beziehungsweise manuell (bei Kauf im Geschäft) Designauswahl möglich Persönliche Beratung Designauswahl möglich Online-Konfiguration oder persönliche Beratung Kommunikation Flyer in der Abteilung Katalog, Internet 17 Karstadt und Maile: Zwei Konzepte für Herrenmode nach Maß Melanie Müller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre – Information, Organisation und Management an der TU München. Innerhalb der Research Group »Customer-driven Value Creation« befasst sie sich vorwiegend mit der Kundeninteraktion bei Mass Customization und Open Innovation. Sie unterrichtet außerdem an der TUM Business School in den Bereichen Mass Customization und Open Innovation sowie Organisation, Führung und Strategie. Melanie Müller studierte Betriebswirtschaftslehre an der Ludwig Maximilians Universität München und der University of California Los Angeles. Zusätzlich absolvierte sie ein zweijähriges Zusatzstudium und erwarb ein Certificate in Technology Management am Center for Digital Technology and Management (CDTM). Praktische Erfahrung sammelt sie u.a. bei DaimlerChrysler, Steppenwolf, BMW und der DZ BANK AG. Kontakt: [email protected]. Dipl.-Ing., Dipl.-Wirtsch.-Ing. Ulrike Schwarz absolvierte nach mehrjähriger Tätigkeit in Planungsbüros im In- und Ausland von 2003 – 2005 das MBA-Studium an der Technischen Universität München mit den Schwerpunkten »Information, Organisation, Management« sowie »Arbeits- und Organisationspsychologie«. In dieser Zeit arbeitete sie als studentische Mitarbeiterin an diversen Projekten am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre – Information, Organisation und Management der TU München. Kontakt: [email protected]. Literatur [1] Piller, Frank T.; Stotko, Christof M.(Hrsg.): Mass Customization und Kundenintegration – Neue Wege zum innovativen Produkt, Symposium 2003 [2] o.A.: [3]Kornacher, Nicole; Stotko, Christof M.: Mass Customization in der Bekleidungsindustrie: Voraussetzungen, Chancen und Herausforderungen. Expertenbeiträge und Fallstudien zu Piller, Frank T.; Stotko, Christof M.(Hrsg.): Mass Customization und Kundenintegration – Neue Wege zum innovativen Produkt, Symposium 2003 [4]Warich, Bert: Branchendaten Einzelhandel 2003, Verdi, URL: http://verdi.de/handel/einzelhandel/branchendaten/branchendaten_einzelhandel_2003 [23.06.2004] [5] Gespräch mit Herrn Myland (Fa. Odermark) und Herrn Kyriakopoulos (Leitung Abt. Maßkonfektion, Fa. Karstadt) am 30.06.04 [6]Human Solutions GmbH: VITUS 3 D Body Scanner, URL: http://www.human-solutions. com/produkte_vitus.php [Stand 24.06.2004] [7]Human Solutions GmbH: Retailor – Body Scanning für Maßbekleidung, Präsentation, o.J. 18 2123.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Pressebericht Textilwirtschaft, März 2001 Karstadt und Maile: Zwei Konzepte für Herrenmode nach Maß [8]Human Solutions GmbH: Retailor – Ihre Investition zahlt sich aus, Die Kollektionen, Infoflyer, o.J. [9] Maile: URL http://www.maile.com [Stand 03.07.04] sowie Individuals of Style, Katalog No. 10, o.J. 2123.01.01 – © Symposion Publishing 2006 [10] Maile: URL http://www.maile.com [Stand 03.07.04] 19 NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen Im Hinblick auf Mass Customization ist die Sportartikelbranche recht weit entwickelt, was aus einem harten Wettbewerb resultiert. Pionier im Markt ist das Unternehmen Nike, das mit dem kundenindividuellen Angebot NIKEiD bereits 1999 startete. Es umfasst einen vierstufigen Konfigurationsprozess. Stichworte: individualisierbare Sportartikel, NIKEiD, miadidas, Mongolian Shoe BBQ, Design, Sportschuhmodelle, Online-Konfigurator, Kundenbindung, Rundumversorgung, Internet-Direktvertrieb Martin Drescher, Melanie Müller Umfeld des Mass-Customization-Angebots 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Branchenüberblick Der Wettbewerbsdruck in der internationalen Sportschuhindustrie hat sich vor allem in den letzten Jahren erneut verstärkt, nachdem sich die Branche bereits seit den 1980er Jahren tiefgreifenden Veränderungen gegenübersieht. Seit dieser Zeit sind die Bereiche Sport und Mode immer mehr zusammengewachsen, was sich zum Beispiel im Entstehen eines Lifestyle-Marktsegments gezeigt hat. Zudem sind immer mehr Modemarken in den Sportschuhmarkt eingestiegen, wodurch sich der Wettbewerb noch einmal intensiviert hat. Neben Lifestyle-Aspekten sind es in erster Linie neue Technologien, die die NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen NIKE, Inc. Land USA Anschrift Nike USA Inc. One Bowerman Drive Beaverton, OR 97005-6453 Hotline (Deutschland) 0800 – 1811466 Internet-Adresse www.nike.com, www.nikeid.com E-Mail [email protected] Gründungsjahr 1962 Branche Sportbekleidung und -artikel Produkt Individualisierbare Schuhe, Taschen, Uhren Bezug zu Kapitel 3.1Wollen Kunden individuelle Produkte? 4.5Formen der Kundenintegration 5.1Produkt- und Leistungsgestaltung 6.2Preispolitische Potenziale 7 Die Kosten: Economies of Mass Customization 8.3Kundenintegration als Basis für erfolgreiches CRM Marke eines Unternehmens in dieser Branche heute ausmachen. Die Sportartikelfirmen versuchen demzufolge, permanent mit neuen Innovationen auf sich aufmerksam zu machen. Nachdem die letzten Jahre für die Player im Markt nicht einfach waren, hat sich die Lage im Markt im Jahr 2004 insgesamt etwas entspannt, obwohl das Marktumfeld in Europa weiterhin als schwierig 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 5.2Prozessgestaltung: Aufbau des Interaktionssystems 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen bezeichnet werden kann. Beispielsweise wurde aufgrund von hohen Lagerbeständen ein teilweise aggressiver Preiskampf entfacht. Positiver war die Entwicklung in den Vereinigten Staaten, wo die gesamte Sportartikelbranche um vier Prozent wuchs. In China und Lateinamerika entwickelte sich der Markt 2004 besonders erfreulich, dort wurden jeweils hohe Wachstumsraten erzielt. [1] Hauptkonkurrenten auf dem weltweiten Sportartikelmarkt sind im Moment die amerikanischen Sportartikelfirmen Nike und Reebok sowie die beiden in Herzogenaurach bei Nürnberg ansässigen Unternehmen Adidas und Puma. Nike ist Marktführer mit einem weltweiten Marktanteil von 33,3 Prozent, gefolgt von Adidas mit 15,5 Prozent, Reebok mit 9,6 Prozent und Puma mit 6,9 Prozent in 2004. [2] Aber auch die großen Player sehen sich ständig neuen Herausforderungen gegenüber, zum Beispiel Konsumenten, die qualitativ hochwertige Schuhe zu moderaten Preisen fordern und sich dabei sehr wohl ihrer Machtposition bewusst sind. Der harte Wettbewerb – auch unter den großen Unternehmen – zeigt sich nicht zuletzt auch in verstärkten Konzentrationstendenzen, zum Beispiel dem kürzlichen Zusammenschluss von Adidas und Reebok. In Hinblick auf das Angebot von Mass Customization ist die Sportartikelbranche bereits relativ weit entwickelt, was wiederum auf den harten Wettbewerb zurückzuführen ist. Drei der vier großen Unternehmen sind bereits mit entsprechenden Angeboten im Markt: Adidas bietet seit 2000 individuelle Sportschuhe an; Puma startete mit dem Angebot individueller Schuhe im Jahr 2005. Pionier im Tabelle 1: Vergleich konkurrierender Mass-Customization-Angebote Anbieter Programmbezeichnung Individualisierungsoptionen Vertriebskanal Nike NIKEiD Design Internet Adidas miadidas Design, Fit, Funktionalität Events, Händler, eigene Stores Puma Mongolian Shoe BBQ Design PUMA Concept Stores NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen Markt ist das Unternehmen Nike, das mit dem kundenindividuellen Angebot 1999 startete. In Tabelle 1 erfolgt eine kurze Gegenüberstellung von NIKEiD und den beiden anderen großen Anbietern kundenindividueller Sportschuhe. Das Unternehmen Nike Abb. 1: Swoosh (1971) [5] 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Nach einem abgeschlossenen Wirtschaftsstudium an der Universität von Oregon gründete Phil Knight im Jahr 1962 das Unternehmen Blue Ribbon Sports Inc. (BRS), das als exklusiver Vermarkter und Vertreiber von Laufschuhen der japanischen Firma Onitsuka Tiger operierte. Zwei Jahre später schloss er sich mit seinem früheren Lauftrainer Bill Bowerman zusammen, um das Geschäft weiter auszubauen. [3] 1971 entwarf die Design-Studentin Carolyn Davidson für einen Lohn von gerade einmal 35 US-Dollar den Swoosh (vgl. Abb. 1), der ab sofort das neue Markenzeichen von Blue Ribbon Sports wurde. Im gleichen Jahr wurde nach einem neuen Namen gesucht. Letztendlich setzte sich der Name Nike gegen andere Vorschläge durch. Jeff Johnson, der erste auf Vollzeit beschäftigte Mitarbeiter, hatte von der gleichnamigen griechischen Siegesgöttin geträumt. 1978 wurde der Vertrieb von Nike-Produkten schließlich auf Europa ausgeweitet, wobei anfangs nur Schuhe im Angebot waren. [4] 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen Nach dem erfolgreichen Börsengang im Jahr 1980 überstieg der Umsatz des Unternehmens sechs Jahre später zum ersten Mal die »magische« Grenze von einer Milliarde Dollar. Der Erfolg des Unternehmens hielt an und 1990 konnte das Unternehmen die neue Unternehmenszentrale Nike World Campus in Beaverton (Oregon) eröffnen. Der Rückzug von Bill Bowerman aus dem Unternehmen im Dezember 1999 bedeutete für Nike einen herben Rückschlag, von dem sich das Unternehmen jedoch schnell erholen konnte. 2003 waren die Absatzzahlen auf dem internationalen Markt schließlich zum ersten Mal höher als die auf dem US-Markt. [3] Nike beschäftigt heute weltweit circa 23.000 Mitarbeiter. Koordiniert werden diese vom Unternehmenssitz in Beaverton und der Europazentrale in Hilversum (Niederlande), die vor allem für die Aktivitäten in Europa, Afrika und dem Nahen Osten (EMEA) verantwortlich ist. [4] Im Geschäftsjahr 2004/2005, das am 31.Mai 2005 endete, erwirtschaftete das Unternehmen einen Umsatz von 13,7 Milliarden Dollar, was einem Zuwachs um zwölf Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Der Gewinn stieg um 28 Prozent auf 1,2 Milliarden Dollar. [6] Nike besitzt weltweit 15 Nike Towns, über 80 Factory Stores, zwei Nikegoddess Boutiquen, die ausschließlich Artikel für Frauen führen, und 100 Verkaufs- und Verwaltungsbüros. Zum Markenportfolio des Unternehmens gehören neben der Hauptmarke Nike auch Cool Haan, bekannt für hochwertige Freizeitschuhe und Accessoires für Männer und Frauen, sowie Bauer Nike Hockey, dem weltweit führenden Hersteller von Hockeyausrüstung. Hinzu kommen die weltweit bekannten Schuhhersteller Converse [4] und Starter. [6] Darüber hinaus ging das Unternehmen 2002 eine Partnerschaft mit Hurley, einer Premium-Lifestyle-Marke für Jugendliche, ein. [4] Die Nike-Produkte werden mittlerweile in 33 Ländern weltweit hergestellt. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, wird die Produktion jedoch zunehmend in so genannte Billiglohnländer verlagert, die vor allem im asiatischen Raum und in Mittel- und Südamerika zu finden sind. Der Anteil der in den USA gefertigten Produkte sank demnach im Jahr 2001 auf nur noch 14 Prozent. Um einen schnellen, reibungs- NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen losen Transport der bestellten Artikel zu den Kunden beziehungsweise den Einzelhändlern und den Nike-Stores zu gewährleisten, ist ein leistungsstarkes Logistiknetzwerk nötig: Nike unterhält deshalb insgesamt vier große Warenverteilzentren. Das Zentrum in Wilsonville im US-Bundesstaat Oregon ist zuständig für Schuhe und Teile der Ausrüstung. Zwei weitere Zentren sind in Memphis, wovon eines für Schuhe und das andere vorwiegend für Kleidung für den US-Markt verantwortlich ist. Das vierte Logistikzentrum befindet sich in Laakdal, Belgien, und bedient den europäischen und afrikanischen Markt sowie den Nahen Osten. [4] Das NIKEiD Angebot Im November 1999 führte Nike das Programm NIKEiD ein. Seitdem kann sich der Kunde im Internet einen Sportschuh nach den eigenen Vorstellungen designen. Zu Beginn konnte man »nur« zwischen den beiden Modellen Nike Air Famished und Nike Air Turbulence wählen. Für die Individualisierung, für die Nike eine Gebühr von zehn Dollar berechnete, standen insgesamt 84 verschiedene Farbkombinationen zur Auswahl. Außerdem bestand die Möglichkeit, eine persönliche Nachricht mit drei bis zehn Zeichen auf der Ferse des Schuhs zu platzieren. Diese persönliche »identification« (iD) ist der Grund für die Wahl des Namens des Mass-Customization-Programms: NIKEiD. [7] Aus Komplexitätsgründen wurde die Anzahl der angenommenen Bestellungen anfangs auf 400 Paar pro Tag beschränkt. Das Unternehmen wollte auf diese Art und Weise sukzessive Erfahrung mit dieser Art der Fertigung sammeln. Vergleicht man diese Zahl mit den circa 200 Millionen Paar Schuhen, die Nike auf dem »Massenmarkt« jedes Jahr absetzt, wird ersichtlich, dass das NIKEiD Angebot das Massengeschäft nicht ersetzen sollte. Der Hauptgrund für die Erprobung bestand darin, dass man Erfahrungen im Direktverkauf an den Kunden über das Internet sammeln und sich von der Konkurrenz abgrenzen 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Was NIKEiD ist und wie alles begann NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen wollte: »NIKEiD brings us back to our roots when we designed and sold shoes one-by-one out of the trunk of my old Plymouth. We �������� have now come full circle, using our design and performance expertise combined with Internet technology to offer customized products. This holiday season marks the first time in our history that customers have the opportunity to literally leave their mark on a personalized pair of Nike shoes.« [8] ���������������������������������������������� Um einen Konflikt mit den Händlern zu entgehen, die sich durch den Direktvertrieb angegriffen fühlten, schuf man für das Internet diese komplett neue Art des Verkaufs sowie der Interaktion mit dem Kunden und argumentierte, dass eine Abwicklung über die Händler zu aufwändig und daher unrentabel sei. [8] Im Jahr 2001 wurde das Angebot auf die Märkte Europa und Japan sowie auf 15 Modelle erweitert. Zudem konnte der Kunde nun aus einer größeren Farbpalette wählen, wodurch sich die Anzahl möglicher Farbkombinationen auf mehrere Tausend erhöhte. Dieser Schritt war nötig, da NIKEiD laut dem Hauptverantwortlichen für das Programm, Mark Allen, sehr erfolgreich war. Die Kunden nahmen das Angebot sehr gut an, forderten jedoch eine größere Auswahl: »NIKEiD is growing strong. Consumers ��������������������������������������� have been very vocal. We did not offer a basketball shoe at the initial launch, and were inundated with request for one.« [9] ��� 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 NIKEiD heute Monatlich gehen in der Europazentrale in Hilversum ungefähr 3.000 Bestellungen für individuelle Produkte über die NIKEiD-Homepage ein, die dann per E-Mail an die Lieferanten gesendet und von diesen verarbeitet werden. Dabei findet die Herstellung in den Produktionsanlagen statt, in denen auch die herkömmlichen Nike-Artikel produziert werden. [10] Mittlerweile kann der Kunde zum Beispiel in Deutschland unter sechs verschiedenen Schuh-Kategorien wählen: Sport Culture, Laufen, Basketball, Fußball, Fitness/Training und Leichtathletik. Wie viele NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen Modelle dabei jeweils für Männer oder Frauen zur Verfügung stehen, ist in Tabelle 2 aufgelistet. In den USA können zusätzlich BaseballSchuhe individualisiert werden. Tabelle 2: Übersicht über die Auswahl an Schuhmodellen in Deutschland [11] Männer Frauen Gesamt Sport Culture 7 4 11 Laufen 8 9 17 Basketball 3 --- 3 Fussball 5 --- 5 Fitness/Training 1 3 4 Leichtathletik 2 --- 2 Seitdem die neueste Softwareversion des Konfigurators am 31.03.2005 [10] online gegangen ist, können nicht nur Schuhe gestaltet werden, sondern auch andere Ausrüstungsgegenstände wie Taschen und Uhren. Insgesamt hat der Kunde die Auswahl zwischen fünf verschiedenen Taschen und vier Uhren. In den USA hat der Kunde wiederum eine zusätzliche Wahlmöglichkeit hinsichtlich der Produktkategorie: Nike Golf. Außerdem stehen innerhalb des MassCustomization-Angebots in Deutschland zusätzlich zwei verschiedene Kollektionen zur Auswahl (in den USA sind weitere drei Kollektionen verfügbar: 10//2, World Running Events, und NIKEiD Studios): ð Nike Free: Je ein Schuhmodell für Männer und Frauen, als Inspiration werden die original Designs von verschiedenen Stars gezeigt. ð Soul of Brazil: Drei Schuhmodelle für Männer und ein Modell für Frauen sowie zwei Taschen, alle Produkte enthalten typisch brasilianische Elemente. In Europa kann die Auslieferung insgesamt in 19 Länder erfolgen. Alle Bestellungen in Deutschland beispielsweise werden innerhalb von vier bis fünf Wochen (USA: drei bis vier Wochen) mit den Logistikdienstleistern UPS oder GeoPost an den Kunden versandt. Je 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Kategorie NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen nachdem, wohin die Zustellung erfolgt, wird von Nike zusätzlich eine Versandgebühr von 5 bis 35 Euro erhoben. Der Kunde hat nach Aufgabe der Bestellung die Möglichkeit, den momentanen Status seines Produktes über ein so genanntes Tracking-System auf der NIKEiDHomepage abzufragen. Dabei erfährt er, ob es noch in der Planung, schon in der Produktion, gerade auf dem Weg zu Nike oder bereits unterwegs zu ihm ist. [7] Sobald die Ware bei Nike ankommt, erhält der Kunde eine Information per E-Mail und drei bis fünf Werktage später wird die Ware zugestellt. Sehr kulant zeigt sich Nike in Sachen Rückgaberecht. Der Kunde kann die bestellte und unbenutzte Ware innerhalb von 30 Tagen ohne Angabe von Gründen zurückschicken. Konfigurationsprozess 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Der folgende Abschnitt beschreibt den Konfigurationsprozess beispielhaft anhand des Fußballschuhs NIKE AIR ZOOM TOTAL 90 III FG/SG. Auf der Startseite von NIKEiD (www.nikeid.com) kann Abb. 2: Deutsche Homepage von NIKEiD [12] NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen Abb. 3: Beginnen kann der Kunde mit einer Inspiration oder einem leeren Modell [12] Bei Inspirationen ist für jedes Modul des Schuhs schon eine Farbe vorgewählt, wodurch sich insgesamt eine vordefinierte Farbkombination ergibt. Der User hat dann die Möglichkeit, diesen Vorschlag entweder zu übernehmen, um nur noch seine persönliche »identifica- 10 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 zunächst zwischen verschiedenen Sprachen gewählt und dann das betreffende Land ausgesucht werden, in dem man das Angebot von NIKEiD in Anspruch nehmen möchte. Dadurch gelangt der Kunde auf die länderspezifische Homepage, zum Beispiel auf die deutsche Seite (vgl. Abb. 2). Hier kann sich der User dann entscheiden, welchen Gegenstand er individualisieren möchte. Er kann dabei unter den bereits in Abschnitt NIKEiD heute dargestellten Schuhen, Ausrüstungsgegenständen und Kollektionen wählen. Bei Fußballschuhen stehen insgesamt fünf verschiedene Modelle zur Verfügung, die sich der Kunde jeweils nach den individuellen Wünschen gestalten kann. Zu Beginn des Konfigurationsprozesses muss der Kunde entscheiden, ob er lieber mit einer so genannten Inspiration oder mit einem »leeren« Modell, das heißt ganz von vorne, starten will (vgl. Abb. 3). NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen tion« und seine Schuhgröße festzulegen, oder er kann den einzelnen Schuhmodulen andere Farben zuordnen. Beginnt man mit einem leeren Modell, so muss ein vierstufiger Konfigurationsprozess durchlaufen werden: Start 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Schritt eins beinhaltet die Möglichkeit, eine kurze Produktbeschreibung über den Link Artikel-Info abzurufen. Bei Schuhen wählt der Kunde zusätzlich die gewünschte Schuhgröße, wobei die US-amerikanische, britische oder europäische Skala verwendet werden kann. Außerdem wird bis auf Fußballschuhe, bei der nur Männer-Modelle zur Verfügung stehen, auch noch zwischen der Herren- und DamenVariante des Modells unterschieden (vgl. Abb. 4). Hat der Kunde eine Auswahl bezüglich aller Wahlmöglichkeiten getroffen, so erscheint neben Schrittnummer und -bezeichnung die Anzeige »Fertig«, um zu signalisieren, dass die Angaben komplett sind (dies gilt ebenso für alle nachfolgenden Schritte). Abb. 4: Schritt 1 des vierstufigen Konfigurationsprozesses [12] 11 NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen Design Bei dem NIKE AIR ZOOM TOTAL 90 III FG/SG Fußballschuh gibt es im Vergleich zu beispielsweise Laufschuhen lediglich zwei Möglichkeiten, das Design zu verändern. Der Kunde hat dabei die Auswahl zwischen zwei verschiedenen Sohlenarten, nämlich für harten und weichen Boden, und vier Grundfarben. Beim Laufschuh NIKE SHOX TURB OZ iD dagegen stehen sechs Designoptionen, von der Grundfarbe bis hin zur Farbe der Schürsenkel, mit einer Palette von 10 bis 14 verschiedenen Farben zur Wahl. Personalisieren Nachdem der Designvorgang abgeschlossen wurde, kann eine persönliche »identification« auf dem Schuh angebracht werden. Bei Fußballschuhen stehen hierfür zwei verschiedene Stellen – Schuhseite (maximal zehn Zeichen) und Ferse (maximal zwei Zeichen) – sowie drei verschiedene Farben zur Verfügung. Dieser Platz reicht aus, um sich zum Beispiel eine Glückszahl oder die Trikotnummer aufsticken zu lassen. Man kann jedoch auch auf die Möglichkeit der Anbringung einer persönlichen »Nachricht« verzichten oder dort ein Nike-Symbol platzieren. Im letzten Schritt erhält der Kunde die Möglichkeit, die gemachten Eingaben zu überprüfen. Hierzu werden die wichtigsten Auswahlelemente noch einmal dargestellt. Zusätzlich kann der individuell erstellte Schuh abschließend aus sechs verschiedenen Blickrichtungen betrachtet werden (vgl. Abb. 5). Diese Option ist auch bereits während der vorhergehenden Schritte verfügbar. Der Kunde hat nun mehrere Möglichkeiten für das weitere Vorgehen (vgl. Abb. 5). Er kann seinen Entwurf dem Warenkorb hinzufügen und dann im nächsten Schritt den Bestellvorgang vollständig abschließen, sich sein erstelltes Design ausdrucken, 12 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Anschauen NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Abb. 5: Abschluss des Konfigurationsprozesses [12] den Entwurf an Freunde versenden, um sie zum Beispiel um ihre Meinung hinsichtlich des gestalteten Schuhs zu fragen, sein Design in MY LOCKER, einem persönlichen Speicherplatz auf NIKEiD, speichern, um zu einem späteren Zeitpunkt erneut darauf zuzugreifen. Dabei ist es möglich, den gestalteten Schuh erneut zu betrachten, zu verändern, zu löschen oder dem Warenkorb hinzuzufügen. Somit können mehrere Entwürfe miteinander verglichen oder die Kaufentscheidung noch einmal überdacht werden. Der Kunde hat während des gesamten Konfigurationsprozesses die Möglichkeit, eine (kostenlose) Service-Hotline anzurufen, sollten Probleme auftreten. In den USA steht zusätzlich ein Live-Chat zur Verfügung, bei dem der User direkt mit einem Nike-Mitarbeiter verbunden wird, der versucht, die gestellten Fragen zu beantworten. [12] Die Hauptaufgabe der Mitarbeiter besteht dabei darin, bei technischen Problemen im Ablauf des Konfigurationsprozesses weiterzuhelfen. 13 NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen Nike erfüllt mit dem NIKEiD-Angebot den Wunsch der Kunden, sich die Produkte nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Es ist anzunehmen, dass die Kunden hierfür auch bereit sind, einen Preis zu zahlen, der über dem Preis vergleichbarer Standardprodukte liegt. Beispielsweise kann der Nike Free 5.0 für Herren bereits für 89,90 Euro im Sportfachgeschäft oder über das Internet bezogen werden. Bei NIKEiD kostet der gleiche Schuh 110 Euro, wodurch sich ein Preispremium von ungefähr 20 Euro ergibt. Dieses Preispremium ist aus Sicht des Unternehmens unerlässlich, da es nicht möglich ist, die individuellen Produkte zu den Kosten der Massenproduktion herzustellen und zu vertreiben. Jeder einzelne Schuh muss zunächst separat in den Produktionsprozess eingeplant werden, was zusätzliche Ressourcen in der Produktion beansprucht. Zusätzlich müssen die Informationen permanent an die Produktionsstätte übermittelt und im Produktionsprozess berücksichtigt werden. Die Produktion der individuellen Produkte bringt zudem zusätzliche Anforderungen hinsichtlich des Qualitätsmanagements mit sich. Hinzu kommt, dass das individuelle Produkt nicht auf dem langsamen Seeweg zum Zielort transportiert werden kann. Es muss auf schnellere Transportmittel, zum Beispiel den Lufttransport, zurückgegriffen werden, möchte man dem Kunden das Produkt innerhalb von drei bis fünf Wochen liefern. Den vermutlich gestiegenen Produktions- und Logistikkosten stehen Kostensenkungspotenziale an anderen Stellen der Wertschöpfungskette gegenüber. Durch den Direktvertrieb können Lagerkapazitäten, zum Beispiel bei den vier großen Verteilzentren eingespart werden, da die Schuhe direkt, das heißt ohne lange Lagerung zum Kunden versandt werden. Damit wird der Zwang zur Bereithaltung auf den Produzenten übertragen, da dieser die nötigen Materialien für alle Kombinationen vorrätig haben muss. Hinzu kommt, dass die Produktionskosten grundsätzlich zwar steigen, jedoch können Module des Schuhs vorab produziert werden. Diese müssen nach Eingang der Kundenorder nur noch zusammengestellt werden. Denkbar ist 14 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Profitmechanismus NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 sogar, dass einzelne Modelle vorab hergestellt werden, da zum Beispiel bei Fußballschuhen aufgrund der begrenzten Kombinationsmöglichkeiten immer wieder die gleichen Farbkombinationen gewählt werden. Es müsste dann nur noch die persönliche ID individuell aufgebracht werden. Außerdem könnte sich das Risiko vermindern, gesamte Kollektionen herzustellen, die der Kunde überhaupt nicht will, da sie nicht seinen Wünschen entsprechen. Aufgrund der geringen Anzahl individuell hergestellter Nike-Produkte im Vergleich zur Massenware ist dieser Aspekt jedoch eher von untergeordneter Bedeutung. Viel wichtiger ist, dass mit Hilfe des NIKEiD-Angebots Trends und Kundenvorlieben ermittelt werden können, indem die Informationen aus den individuellen Bestellungen als eine Art Marktforschungsinformation für die Massenproduktion herangezogen werden. Zudem ist die Plattform ideal, um neue Produktinnovationen kostengünstig zu testen. Kosten für reguläre Marktforschung können dadurch gesenkt werden. Hinzu kommt, dass sich NIKEiD aufgrund des Direktvertriebs nicht nur Logistikkosten spart, sondern auch Kosten der Kundeninteraktion, die im klassischen Handel anfallen. Der Kunde wird befähigt, sich sein Produkt selbst zu gestalten. Hilfe erhält er bei Bedarf via Service-Hotline oder Live-Chat mit einem Nike-Mitarbeiter; jegliche sonstige Beratung entfällt. Aufgrund des Direktvertriebs sichert sich Nike zudem die gesamte Gewinnmarge und muss diese nicht mit Vertriebspartnern teilen. Bewertung des NIKEiD-Angebots Im folgenden Abschnitt werden die Stärken und Chancen von NIKEiD aufgezeigt. Außerdem findet eine Einschätzung der Schwächen sowie potenziellen Gefahren statt. 15 NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen Ein großer Vorteil für Nike, wie auch für die Konkurrenten Puma und Adidas, besteht darin, dass bereits eine starke Marke mit einer gewissen Bekanntheit und einem entsprechenden Image vorhanden ist. Die Marke Nike bietet dem Kunden von Anfang an Sicherheit und schafft Vertrauen in das individuelle Angebot. Kleinere, unbekannte Unternehmen dagegen stehen vor der Herausforderung, dass Kunden eventuell davor zurückschrecken, sich ein Produkt im Internet zu gestalten, da ihnen der Vorgang zu riskant erscheint. Für die individuelle Zusammenstellung des Produktes steht bei NIKEiD ein Online-Konfigurator zur Verfügung, der in einem sehr sauberen und daher übersichtlichen Internetauftritt integriert ist. Durch den sehr einfachen Aufbau des Konfigurationsprozesses aus vier Schritten behält der Kunde zu jeder Zeit die Übersicht und er weiß intuitiv, was als nächstes zu tun ist. In Situationen, in denen zum Beispiel Fachausdrücke für bestimmte Komponenten des Schuhs verwendet werden, öffnet sich sofort ein kleines Fenster mit einer kurzen Erklärung. Außerdem werden Farbänderungen oder die Eingabe einer ID automatisch am digitalen Abbild des Schuhs visuell umgesetzt. Der Kunde erhält durch NIKEiD die Möglichkeit, seinen Schuh selbst zu entwerfen. Damit ist es grundsätzlich möglich, die sehr heterogenen Kundenwünsche in diesem Markt besser zu erfüllen. Dies lässt die Kundenzufriedenheit und unter Umständen sogar die Bindung des Kunden an das Unternehmen steigen. Das erkannte Mark Allen, der General Manager von NIKEiD, bereits im Jahr 2001: »Nike is committed to NIKEiD. It’s a strong relationship builder between Nike and the customer, and the customer and the product« [9] Weiterhin bietet NIKEiD dadurch, dass nicht nur Schuhe sondern auch mehrere Taschen und Uhren gestaltet werden können, eine Art »Rundumversorgung«. Der Kunde kann somit zum Beispiel seine Uhr, seine Tasche und seine Schuhe farblich aufeinander abstimmen. Auch hinsichtlich des Schuhangebots sind genügend Sportvarianten 16 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Stärken und Chancen 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen abgedeckt und auch sehr modische Kunden können etwas für sich finden. Diese Aspekte verstärken die positiven Effekte auf Kundenzufriedenheit und -loyalität. Eine weitere Stärke, die jedoch unter bestimmten Gesichtspunkten auch als Schwäche gedeutet werden kann (vgl. hierzu auch den nächsten Abschnitt), liegt in der Möglichkeit, sich seinen Schuh online und in einer gewohnten Umgebung designen zu können. Dies hat zur Folge, dass die »Hemmschwelle«, den Prozess überhaupt zu starten, sehr gering ist: weder ist man auf fremde Hilfe angewiesen, noch muss man sich nach bestimmten Öffnungszeiten richten. Anders als beim individuellen Angebot von Adidas, das bisher nur auf großen Sportevents und vereinzelte Geschäfte begrenzt ist, ist der Zugang zum Produkt damit leichter. Bei »miadidas« muss zudem meist vorab ein Termin vereinbart werden und der Konfigurationsprozess kann nur mit Hilfe des Verkaufspersonals durchgeführt werden, wodurch die Hemmschwelle erneut steigen könnte. Anzumerken ist, dass Adidas neben einem individuellen Design auch die Passform der Schuhe individualisiert. Hierzu werden die Füße des Kunden vermessen, was einen Online-Verkauf weniger sinnvoll erscheinen lässt beziehungsweise die Komplexität erheblich steigert. Nike hat durch sein Mass-Customization-Programm außerdem die Möglichkeit, den Direktvertrieb über das Internet besser kennen zu lernen. Dieser Vertriebskanal könnte in Zukunft durchaus auch für diese Art von Produkten verstärkt relevant sein und Nike kann die Kosten für teure Vertriebsstrukturen, zum Beispiel für Händlernetze, reduzieren. Zudem sichert sich das Unternehmen aufgrund des Direktvertriebs eine höhere Marge. Darüber hinaus erhält Nike durch den engen Kontakt zu den Kunden mehr und vor allem reichere Kundendaten, als dies bei einem zwischengeschalteten Vertriebskanal der Fall ist. Das Unternehmen hat die Möglichkeit, mehr über Kundengruppen und bevorzugte Produkte herauszufinden. Letztendlich ist es sogar möglich, aus den gewählten Farbkombinationen auf neueste Trends zu schließen und sich diese Erkenntnisse im Massengeschäft zunutze zu machen. Künftig 17 NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen könnte Nike auch versuchen, die Innovationskraft der Kunden online verstärkt einzubeziehen, indem Designwettbewerbe oder ähnliches angeboten werden. Zudem könnte das Unternehmen ein offizielles Forum im Rahmen der NIKEiD-Homepage einrichten, in dem Kunden mit anderen Kunden diskutieren, Ideen austauschen sowie Kreationen anderer Kunden bewerten können. Dies hätte zusätzlich positive Auswirkungen auf die Beziehung zu den Kunden (ein Austausch über Produkte ist bisher nur über das inoffizielle Forum von niketalk.com möglich). Nike hat mit der Eröffnung des NIKEiD labs in New York im März 2005 einen Schritt in diese Richtung getan, allerdings bindet das Unternehmen bisher nur wenige ausgewählte Kunden in den Designprozess ein. [13] Wie bereits im vorherigen Abschnitt erwähnt, kann die Möglichkeit, sich seinen Schuh von zu Hause aus über das Internet zu konfigurieren, auch als Schwäche des Systems ausgelegt werden, da der Kunde letztlich bei seinen Entscheidungen auf sich allein gestellt ist. Treten Probleme auf, kann zwar eine (kostenlose) Service-Hotline angerufen (und in den USA zusätzlich der Live-Chat in Anspruch genommen) werden, allerdings ist fraglich, inwieweit die Nike-Mitarbeiter den Kunden unterstützen können. Sie können zwar bei technischen Unklarheiten Hilfestellung leisten, aber nicht bei Design-Fragen, da sie keinen direkten Einblick in die aktuelle Konfiguration des Kunden haben. Die Mitarbeiter können beispielsweise nur sagen, ob bestimmte Kombinationen häufig gewählt werden oder nicht. Ebenfalls kritisch zu betrachten ist die niedrige Hemmschwelle, den Konfigurationsprozess vor Bestellung eines Produktes abzubrechen. Wenn sich der Kunde wie bei miadidas in einem Geschäft oder auf einem Event befindet und sich ein Mitarbeiter um ihn kümmert, dann ist die Wahrscheinlichkeit weitaus größer, dass es zu einer erfolgreichen Kaufentscheidung kommt. Allerdings ist anzumerken, dass 18 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Schwächen und Risiken 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen sich die Kunden bei miadidas womöglich erst gar nicht auf eine Konfiguration einlassen, während sie bei NIKEiD vielleicht einfach aus Spaß herumprobieren und dann spontan kaufen. Eine weitere Schwäche besteht darin, dass NIKEiD im Gegensatz zum Mitkonkurrenten Adidas nicht die Möglichkeit bietet, einen passformgenauen Schuh zu erwerben, obwohl das den wahrgenommenen Kundennutzen sehr wahrscheinlich erhöhen würde. Nike musste bei dieser Frage sicherlich einen Kompromiss eingehen, da eine mögliche Erhöhung des Nutzens gleichzeitig mit einer drastisch steigenden Komplexität des gesamten Prozesses verbunden wäre. Außerdem wäre damit der Internet-Direktverkauf nicht mehr beziehungsweise nur mit erhöhter Komplexität möglich, da die Füße des Kunden erst vermessen werden müssten. Eine Herausforderung besteht darin, bestehende Vertriebskanäle, insbesondere die Händler, durch den Online-Vertrieb nicht zu kannibalisieren. Falls NIKEiD in Zukunft weiter erfolgreich ist und sich die Absatzzahlen des Internet-Direktvertriebs erhöhen, könnte dies Konflikte hervorrufen. Außerdem ist der gesamte Wertschöpfungsprozess bei NIKEiD um einiges leichter zu kopieren als dies bei miadidas der Fall ist, wo sich der Kunde neben dem Design auch einen passformgenauen Schuh gestalten kann. Dies erhöht die Komplexität grundsätzlich, ermöglicht allerdings eine nachhaltige Abgrenzung von der Konkurrenz. Dadurch ist die Gefahr, dass Konkurrenten dieses Angebot nachahmen, bei NIKEiD viel akuter. Eine erste Kopie des Systems stellt das von Puma gerade eingeführte Mongolian Shoe BBQ dar, bei dem sich der Kunde – jedoch in einem Puma Concept Store – ebenfalls seinen eigenen Schuh designen kann. Ausblick Grundsätzlich sind die zukünftigen Entwicklungschancen von NIKEiD sehr positiv zu bewerten. Einen zumindest kurzfristigen positiven Schub wird die gesamte Branche besonders in Europa durch die Fußballweltmeisterschaft 2006 erfahren. Dieses Ereignis könnte zu- 19 NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen gleich für NIKEiD eine hervorragende Möglichkeit sein, die Bekanntheit und Popularität zu erhöhen. Beispielsweise könnte man den Fans ermöglichen, sich ihre Schuhe mit den Namen, Designs oder Trikotnummern ihrer Stars zu versehen. NIKEiD selbst will sein Angebot in Zukunft weiter ausbauen. Noch im Jahr 2005 sollen individualisierbare T-Shirts hinzukommen. Langfristig hat sich das Unternehmen das ehrgeizige Ziel gesetzt, dem Kunden eine komplette individuelle Sportausrüstung anzubieten. [10] Melanie Müller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre – Information, Organisation und Management an der TU München. Innerhalb der Research Group »Customer-driven Value Creation« befasst sie sich vorwiegend mit der Kundeninteraktion bei Mass Customization und Open Innovation. Sie unterrichtet außerdem an der TUM Business School in den Bereichen Mass Customization und Open Innovation sowie Organisation, Führung und Strategie. Melanie Müller studierte Betriebswirtschaftslehre an der Ludwig Maximilians Universität München und der University of California Los Angeles. Zusätzlich absolvierte sie ein zweijähriges Zusatzstudium und erwarb ein Certificate in Technology Management am Center for Digital Technology and Management (CDTM). Praktische Erfahrung sammelt sie u.a. bei DaimlerChrysler, Steppenwolf, BMW und der DZ BANK AG. Kontakt: [email protected]. Literatur [1]Adidas-Salomon AG: Geschäftsbericht 2004, Herzogenaurach, 2004, S. 81 [2]Tietz, Janko: Bereit zum Endspurt, in: Der Spiegel vom 8. August 2005, Heft 32/2005, S. 66 [3] 20 Nike – niketimeline, http://www.nike.com/nikebiz/media/nike_timeline/Nike_timeline.pdf, 26.07.2005 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Martin Drescher ist Student der Technologie- und Managementorientierten Betriebswirtschaftslehre (TUM-BWL) an der Technischen Universität München. Im Rahmen eines Auslandsaufenthaltes studierte er außerdem an der Hong Kong University of Science and Technology. Seine betriebswirtschaftlichen Studienschwerpunkte sind Organization, Technology and Management und Service & Operations Management. In Rahmen seines Technikfachs Maschinenwesen belegt er die Module Ergonomie und Technisches Produktionsmanagement. Kontakt: [email protected]. NIKEiD: Individuelles Design von Sportschuhen [4]Nike – The facts, http://www.nike.com/nikebiz/nikebiz.jhtml?page=3&Item=facts, 26.07.2005 [5]Nike – Origin of the swoosh, http://nike.com/nikebiz/nikebiz.jhtml?page=5&item=origin, 26.07.2005 [6]N-tv.de (2005): Nike legt Rekordergebnis hin, http://www.n-tv.de/548842.html, 29.07.2005 [7] Protokoll des Online Live-Chats mit NIKEiD Agent Suzanne auf der amerikanischen Homepage von NIKEiD am 29.07.2005 [8] Piller, Frank T.: Mass Customization News – Der Newsletter zu Mass Customization und CRM, 2. Jg., Nr. 12, 1999 [9]Nike: Press release 2001– Get Personal With Nike iD, http://www.nike.com/nikebiz/news/ pressrelease_print.jhtml?year=2001&month=11&letter=b, 26.07.2005 [10] Telefonat mit NIKEiD-Europe Supervisor Abdel Belkasmi am 03.08.2005 [11] Eigene Darstellung in Anlehnung an www.nikeid.com, 26.07.2005 [12] nikeid.com, 26.07.2005 2124.01.01 – © Symposion Publishing 2006 [13]Silva, Horacio (2005): Just Do It Vourself – At the Nike iD lab, even the totally untrained get into the sneaker-design game, The New York Times Magazine, 29.05.2005, S. 46-49 21 Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche Individualreisen werden immer beliebter. Damit gewinnt der Mass-Customization-Gedanke auch in der Tourimusbranche an Bedeutung und eine Orientierung des Reiseangebotes an den individuellen Kundenbedürfnissen wird zunehmend wichtiger. Dynamic Packaging heißt der vielversprechende Ansatz. Stichworte: Dynamic Packaging, Touristikdienstleistungen, Reisevermittlung, Pauschalreise, Individualreise, OnlineReiseagenturen, Internet Booking Engine, Click&Mix, Tourdesigner, Kostenstruktur, Erfolgsfaktoren 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Daniel Rögelein, Maribel Rodríguez, Melanie Müller Kundenindividuelles Reisen mit Dynamic Packaging Die Reisebranche hat im letzten Jahrzehnt einen nachhaltigen Wandel erfahren. Konnten Reiseveranstalter und Reiseagenturen in den 1990er Jahren noch gut davon leben, verschiedene Reiseleistungen (Hotel, Flug etc.) als pauschal geschnürtes Paket im Reisebüro anzubieten, so hat sich das Kundenverhalten mit aufkommender Beliebtheit des Internets drastisch verändert. Neue Online-Reiseagenturen, die so genannten »Reiseportale«, erfreuen sich immer größerer Beliebtheit und offerieren eine Angebotsvielfalt, mit der ein konventionelles Reisebüro kaum noch konkurrieren kann. Klassische Pauschalreisen verlieren zugunsten von Individualreisen immer mehr an Bedeutung. Damit wird der Mass-CustomizationGedanke auch in dieser Branche immer aktueller und eine Orientierung des Reiseangebotes an den individuellen Kundenbedürfnissen Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche Anschrift Deutschland Anschrift Landshuter Allee 1080637 München Hotline 01805 900 560 Internet Adresse www.expedia.de E-Mail [email protected] Gründungsjahr 1999 Branche Tourismus erscheint sinnvoll. Die vorliegende Branchenanalyse untersucht die gegenwärtige Marktdurchdringung und die zukünftigen Erfolgsaussichten des so genannten »Dynamic Packagings«, des kundenindividuellen Angebots von Touristikdienstleistungen für einen (relativ) großen Absatzmarkt. Unter den »Best-Practice«-Beispielen der Branche können die Angebote der Online-Reiseagenturen expedia.de und lastminute.com gezählt werden. Aber auch kleine Unternehmen wie die Münchner Jacana Tours GmbH bieten erfolgreich kundenindividuelle Reisen an, konzentrieren sich jedoch häufig auf einen kleineren Absatzmarkt. Im Fall von Jacana Tours ist das Angebot auf Individualreisen nach Afrika beschränkt. Die Konzepte der Anbieter expedia.de (lastminute. com bietet ein sehr ähnliches Angebot an) und Jacana Tours werden in dieser Fallstudie genauer erläutert, da sie gewisse Extrempunkte auf dem Mass-Customization-Spektrum der Reisebranche darstellen. 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Produkt Pauschal-, Lastminute-, Individualreisen Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche Anschrift Deutschland Anschrift Willibaldstraße 2780639 München Hotline 089 580 80 41 Internet Adresse www.jacana.de E-Mail [email protected] Gründungsjahr 1991 Branche Tourismus Produkt Individualreisen nach Afrika Bezug zu Kapitel 4.5 Formen der Kundenintegration 5.1 Produkt- und Leistungsgestaltung 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 5.2 Prozessgestaltung: Aufbau des Interaktionssystems 6.2 Preispolitische Potenziale 7 Die Kosten: Economies of Mass Customization Die Analyse zeigt, wie beide Unternehmensklassen ihr Angebot weiter verbessern könnten: expedia.de durch ein höheres Maß an Kundenorientierung und Flexibilität, Jacana Tours durch effizientere Prozesse. Der Beitrag zeigt so, welche Möglichkeiten Mass Customization für Reiseveranstalter der unterschiedlichsten Größenklassen bietet. Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche Branchenumfeld Bereits um 770 v. Chr. verleitete der Beginn der Olympischen Spiele Menschen zu einem Ortswechsel. Der Grieche Herodot (480 bis 421 v. Chr.) war einer der Ersten, der sich zum Entdecken neuer Sitten und Gebräuche auf eine Bildungsreise begab. Er unternahm Fahrten zu Heilzwecken ebenso wie Wallfahrten zu den Göttertempeln – ein wesentliches Reisemotiv in der Antike. Reisen zur Erholung und zum Vergnügen unternahm man auch im alten Rom. Der Ausbau des Straßennetzes zu militärischen Zwecken förderte die Reiselust und die Vorlieben für ferne Thermalquellen und Bäder (Badeverkehr). Erst mit der Zeit der Kreuzzüge und Pilgerfahrten wurde das Reisen gefährlicher und strapaziöser. Hauptgründe für das »Reisen« waren jetzt Raubzüge und Kriege, aber auch Handel, Entdeckung und Geschäftsverkehr. Im 15. und 16. Jahrhundert begann die Zeit der Weltumseglungen. Seefahrer und Literaten weckten die Sehnsüchte und die Abenteuerlust der Menschen. Das Reisen ohne religiöse oder kriegerische Intentionen, wie wir es heute kennen, erlebte erst im 18. Jahrhundert wieder einen Aufschwung. [1] Doch das damalige Reisen unterscheidet sich vom heutigen in einem ganz entscheidenden Punkt: dem Personenkreis. Reisen war bis weit ins 20. Jahrhundert eine Freizeitbeschäftigung, die den Reichen vorbehalten blieb, das heißt Geschäftsleuten, Adel, Kirche, Besitzbürgertum und später Beamten. [1] Erst durch die Ausweitung des Wohlstands in allen Gesellschaftsschichten und ein Mehr an freier Zeit entwickelte sich der »Massentourismus«, welcher das Gesicht der Tourismusbranche im 20. und angehenden 21. Jahrhundert prägt. Seit einigen Jahren erlebt die europäische Tourismusindustrie jedoch tiefgreifende Veränderungen. Die ehemals treibende Kraft der Branche, die Pauschalreise, macht in Deutschland nur noch einen Anteil von circa 44 Prozent des Gesamtreisevolumens aus. [2] 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Historie und gegenwärtige Situation der Reisebranche 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche Einen nachhaltigen Einbruch des Umsatzes von 25 Prozent erfuhr der Pauschalreisemarkt durch die Anschläge des 11. September, den Irak-Krieg sowie SARS. [3] Neben den für viele Unternehmen schädigenden Preiswettkämpfen des Sommers 2002 [4] dämpft überdies die momentane Wirtschaftskrise die Reiselust der Deutschen. [2] Insbesondere die Reiseagenturen, welche als Vermittler zwischen Anbietern beziehungsweise Veranstaltern und Kunden fungieren, sehen sich einem harten Verdrängungswettbewerb gegenüber. [5] Seitdem viele Anbieter den direkten Kundenkontakt über das Internet suchen, brechen die Gewinne der Vermittler nachhaltig ein. [5] Für diese Entwicklung werden insbesondere die so genannten »Billigflieger« beziehungsweise »No Frills«-Airlines verantwortlich gemacht. [6] Sie lassen ihren Kunden – vielfach aus Rationalisierungsgründen – keine andere Wahl, als die Flugtickets direkt im Internet zu erwerben. Während dies generell dazu führt, dass klassische Reiseagenturen weniger genutzt werden [6], erkennen die Touristen auch zunehmend, dass sie durch eine individuelle Zusammenstellung ihrer Reise – vor allem unter Einbezug von Angeboten dieser Fluggesellschaften – günstiger reisen als bei Buchung einer vergleichbaren Pauschalreise. [7] Darüber hinaus wird die wirtschaftliche Situation der Reiseagenturen dadurch belastet, dass die meisten Fluggesellschaften im Jahr 2003 ihre Kommissionszahlungen auf 1 Prozent kürzten, um mit den Billigfluggesellschaften weiter konkurrieren zu können. [7] Neben den Reiseagenturen müssen sich auch klassische Reisekonzerne dem gewandelten Wettbewerbsumfeld stellen. Der TUI Konzern beispielsweise strebt eine Neustrukturierung als voll integrierter Touristik-Konzern an, der seinen Kunden einen Traumurlaub aus einer Hand anbieten kann. [8] Reiseveranstalter und Reiseagenturen sehen sich also vor die Herausforderung gestellt, in diesem vom Individualitätsbedürfnis der Kunden einerseits und Margendruck andererseits geprägten Wettbewerbsumfeld zukünftig zu bestehen. Als viel versprechender Ansatz wird das Angebot kundenindividueller Reisen im Internet gesehen, welches als Dynamic Packaging bezeichnet wird. Beim Dynamic Pa- Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche Zentrale Begriffe und Definitionen ðComputer-Reservierungssysteme (CRS) »sind spezielle Software-Dienstleister der Reisebranche. Sie sind das technische Bindeglied zwischen den InhouseSystemen zum Beispiel der Reiseveranstalter und den Reisebüros. CRS bündeln verschiedene Anbieter unter einer einheitlichen Bedienermaske. So können zum Beispiel alle Reiseveranstalter im Reisebüro gebucht werden.« [10] ðDynamic Packaging »ist die in Echtzeit erfolgte kundengerechte Auswahl, Bündelung und Buchung von Reisekomponenten aus unterschiedlichen Quellen nach den Regeln des Veranstaltergeschäfts zu einem Gesamtpreis.« [9] ðInternet-/Online-Booking-Engine (IBE) »Software, die die Angebote der Reisebüros und Reiseveranstalter im Internet buchbar macht. [...] Erst durch den Einsatz einer Online-Booking-Engine kann der Kunde am PC Angebote abfragen und diese ohne Medienbruch selbständig buchen.« [10] ðReiseagenturen/Reisebüros »vermitteln in aller Regel Reiseleistungen, und zwar auf Provision von Beförderungsunternehmen (zum Beispiel Fluggesellschaften) oder Reiseveranstaltern.« [10] ðReiseveranstalter »bündeln Einzelleistungen wie Flug und Hotel zu einem Gesamtpaket mit einem Gesamtpreis.« [10] ckaging kann der Kunde Reisekomponenten aus unterschiedlichen Quellen auswählen, bündeln und buchen. [9] Dynamic Packaging ist die Mass-Customization-Strategie der Reiseindustrie. Wie aus Abbildung 1 ersichtlich ist, belief sich der Gesamtumsatz der deutschen Reisebranche im Jahr 2002 auf 33 Milliarden Euro, wozu Internet-basierte Angebote zu circa 10 Prozent beitrugen. Dieser Wert erscheint im EU-weiten Vergleich überdurchschnittlich hoch – im Mittel erwirtschaften virtuelle Touristikunternehmen circa 3 Prozent des Gesamtumsatzes der Branche [2], was erwarteten 10 Milliarden Euro in 2004 entspricht. [5] Betrachtet man die deutschen Reiseveranstalter isoliert, setzten sie im Jahr 2001 164 Millionen Euro um, wobei von einem Anstieg auf 2,2 Milliarden Euro bis zum Jahre 2006 ausgegangen wird. [10] Allgemein wird ein weltweites Wachstum der Reisebranche in Höhe von circa 10 Prozent jährlich erwartet. [11] 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Wichtige Wettbewerber und deren Angebote Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Abb. 1: Gesamtumsatz und Umsatzentwicklung der deutschen Reisebranche on- und offline 1999 bis 2006 [12] Der Anteil von Dynamic Packaging basierten Reisen am Gesamtumsatz wird in den nächsten Jahren kontinuierlich ansteigen wie Branchenexperten vermuten. Die Gesellschaft für Konsumforschung fand heraus, dass fast 70 Prozent der Kunden es bevorzugen, ihre Urlausreise selbst zusammenzustellen. Begünstigt wird dieser Trend durch die äußerst gute Akzeptanz des Internets beim Buchen von Reisen. Branchenkenner erwarten 2005 einen Anstieg des Umsatzvolumens bei Online-Buchungen auf rund acht Milliarden Euro oder circa 40 Prozent des Umsatzes der deutschen Reisebranche. Es wird damit gerechnet, dass der Umsatz der Buchungen über das Internet in wenigen Jahren den Umsatz der Reisebüros übertrifft. [13] Der deutsche Markt für Tourismusdienstleistungen wird neben einer Vielzahl kleiner, vielfach inhabergeführter Unternehmen im Wesentlichen durch zwei große Anbieterkreise dominiert. Hierzu zählen die »klassischen« Reiseveranstalter sowie die in den letzten Jahren hin- Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche x x www.expedia.de x x x www.ferien.de x x www.flyloco.de x x www.lastminute.com x www.lcc24.com x x – x Dynamic Package x x Click&Mix x x x x x x x x Locomat x x x x x e-basket x x x x x – x x Urlaubsbaukasten x x – x x – x x – x x x x www.onlineweg.de x x x x www.opodo.de x x x x www.reisen.de x x x x www.start.de x x x x x www.tiscover.de x x x x x x x x x x x x x x – – www.travel24.com x x x x x – www.travelchannel.de x x x x x x x – www.travelocity.de x x x x x x x – www.traveloverland.de x x x x x x – zugekommenen Online-Reiseagenturen beziehungsweise Reiseportale, zum Beispiel expedia.com oder lastminute.com. Die Tabellen 1 und 2 geben einen Überblick über die namhaftesten Anbieter der Branche. Insbesondere bei den Online-Reiseagenturen ist festzustellen, dass fast durchgängig Pauschal-, Lastminute-, Flugreisen sowie Hotels und Mietwagen angeboten werden. Vielfach wird den Kunden die Mög- 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 x Bezeichnung des Dynamic-PackagingAngebots x x Tickets www.ebookers.de x Mietwagen x Busreisen x Städtereisen nur Hotel x Kreuzfahrten nur Flug x Ferienhäuser Lastminute www.billigweg.de Bahnreise Pauschalreise Online-Reiseagentur Tabelle 1: Wichtige Angebote großer Online-Reiseagenturen im Internet Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 www.alltours.de x www.bucherreisen.de x www.dertour.de x www.fti.de x x x www.its.de x x x www.jahn-reisen.de x x x www.ltur.de (kein Dynamic Packaging, sondern Filterfunktion für das Pauschalreiseangebot) x x x www.meiers-reisen.de x www.neckermannreisen.de x x www.thomascookreisen.de x x www.tjaereborg.de x x www.tui.de x x x x x x x Bezeichnung des Dynamic-PackagingAngebots Tickets Mietwagen Busreisen x – – x – x – x – – x x x – x x x Städtereisen x x x Kreuzfahrten x x Ferienhäuser nur Hotel x www.airtours.de Bahnreise nur Flug Lastminute Pauschalreise Reiseveranstalter Tabelle 2: Wichtige Angebote großer, »klassischer« Reiseveranstalter im Internet x x x – – x – x – – x x x x Kombisuche lichkeit an die Hand gegeben, unter Einbezug von Partnerangeboten (zeitlich) zusammenpassende Reisemodule selbst zu bündeln. Eine voll ausgeprägte Dynamic Packaging-Funktionalität, die Verfügbarkeit und Abhängigkeiten aller Module berücksichtigt, konnte hingegen nur bei sechs der 29 Online-Anbieter vorgefunden werden (Stand: Oktober 2004). Bei den sechs Anbietern ebookers.de, expedia.de, fly- Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche Neben den großen Unternehmen existiert eine Vielzahl kleiner und mittelständischer Anbieter, deren Geschäftsmodell insbesondere auf der Spezialisierung auf einen kleineren Abnehmerkreis beruht. Ein solcher Anbieter ist die Münchner Jacana Tours GmbH, der im Folgenden als prototypisches Beispiel dargestellt wird. Dieser Veranstalter offeriert individualisierte Reisen in den südlichen Teil Afrikas mit Hilfe eines online verfügbaren Konfigurationstools. Im Gegensatz zu den großen Reiseportalen und den bekannten »klassischen« Reiseveranstaltern fokussiert das Unternehmen damit eine relativ kleine Zielgruppe: Kunden, die sich eine Individualreise nach Afrika nach den eigenen Bedürfnissen zusammenstellen möchten. Das Unternehmen orientiert sich dabei maßgeblich an den Wünschen und Vorstellungen der Kunden, was zu einer schier unbegrenzten Anzahl unterschiedlicher Reisen führt. Damit ermöglicht Jacana Tours mehr Individualität, als es die großen Reiseportale derzeit bieten. Das Angebot der Jacana Tours GmbH und ähnlicher Anbieter stellt damit eine weitere spannende Möglichkeit dar, in der Reisebranche auf die kundenindividuellen Bedürfnisse einzugehen. Aufgrund der Vielzahl kleinerer Anbieter, die sich auf das Angebot verschiedenster Arten kundenindividueller Reisen spezialisiert haben, ist es im Rahmen dieser Fallstudie nicht möglich, einen Überblick zu liefern. Die Jacana Tours GmbH 10 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 loco.de, lastminute.com, onlineweg.de und TUI ist es nicht nur möglich, Verfügbarkeit und Abhängigkeit der Reisekomponenten online zu prüfen, sondern eine Reise auch direkt zu buchen. Neben diesen Agenturen und Veranstaltern, welche hauptsächlich gebündelte Reisepakete offerieren (also mindestens Anreise und Unterkunft), tritt eine Reihe von Anbietern spezieller Leistungen über das Internet in direkten Kontakt mit den Kunden. Hierzu zählen zum Beispiel Fluglinien wie Hapag-Lloyd (hlx.com, hlf.de) oder Germania Express (gexx.de). Sie bieten jedoch in der Regel keine (ausgeprägte) Möglichkeit zur Bündelung von Einzelleistungen. Kunden greifen auf diese Angebote jedoch gerne zurück, wenn sie ihre Reise »von Hand« zusammenstellen möchten. Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche wird aufgrund ihres erfolgversprechenden Konzeptes beispielhaft dargestellt. Das Mass-Customization-Angebot der Reisebranche 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Hintergrund der Einführung von Dynamic Packaging Das kundenindividuelle Angebot von Reiseleistungen ist nicht etwa eine Errungenschaft des Internet-Zeitalters, sondern wurde bereits vor 150 Jahren praktiziert. Im Jahre 1841 organisierte Thomas Cook unter Zuhilfenahme von Morsetelegraphie eine Zugreise für 500 Gläubige von Leicester nach Loughborough inklusive Teilnahmemöglichkeit an einer religiösen Veranstaltung. [14] Dieser individuelle Ansatz wirkte jedoch nicht nachhaltig – »vorgebündelte« Pauschalreisen mit starrer Dauer von 7 oder 14 Tagen bestimmten im letzten Jahrzehnt das Bild der Reisebranche. [14] Doch die Regeln des Wettbewerbs haben sich in den letzten Jahren gewandelt. Insbesondere die Vermittler von Reisen sehen sich einer erhöhten Preistransparenz gegenüber, welche die Abnehmermacht des Kunden stärkt und seine Loyalität zu bestimmten Anbietern schwächt. [5] Diese Entwicklung wirkt sich ungünstig auf die Gewinnmargen der Anbieter aus. Zudem werden die Wünsche der Kunden immer individueller, weshalb sich Anbieter von Pauschalreisen vor die Frage gestellt sehen, nach welchen Maßgaben diese zu bündeln sind, um die Bedürfnisse einer möglichst großen Menge von Kunden überhaupt noch zu befriedigen. [15] Als Folge dieses Wandels wurden die Pauschalreiseangebote notgedrungen wieder entflochten, um den Kunden die Möglichkeit zu geben, Hotels, Flüge und Mietwagen individuell zusammenstellen zu können. [5] Dieses Vorgehen prägte vor allem im Umfeld der Reiseveranstalter den Begriff des »Baukastentourismus«. [15] Die Online-Reiseagenturen reagierten zunächst pragmatisch und entwarfen immer aufwändigere Filtermechanismen, um den Kunden die Auswahl aus dem reichhaltigen Angebot an Pauschalreisen zu vereinfachen. Dieses Prinzip liegt noch heute den meisten Reiseportalen 11 Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche zugrunde. [16] Die Filterfunktion wird allerdings weder der Definition von Mass Customization noch der von Dynamic Packaging gerecht, da die Bedürfnisse des Kunden bei der Bündelung der Einzelleistungen nicht miteinbezogen werden. Einen neuartigen, an den Kundenbedürfnissen orientierten Ansatz stellt das Dynamic Packaging dar, das die Auswahl und Bündelung zusammenpassender Einzelleistungen durch den Kunden in Echtzeit ermöglicht. Nur wenige Anbieter, unter ihnen expedia.de und lastminute.com, bieten es bereits heute in einer zur Pauschalreise konkurrenzfähigen Form an. Ob Dynamic Packaging die Pauschalreise zukünftig verdrängen wird oder diese nur komplementiert, kann nur schwer vorhergesagt werden. [16] In England zeichnet sich allerdings bereits ein Rückgang des Anteils der Pauschalreisen zugunsten des Dynamic Packagings ab. [7] Einen der umfangreichsten Ansätze zum Dynamic Packaging bietet der Anbieter expedia.de. In Tabelle 3 werden expedia.de und weitere wichtige Dynamic-Packaging-Angebote verglichen (mit Stand Oktober 2004). Das Angebot des Anbieters Jacana Tours GmbH wurde ebenfalls in die Betrachtung aufgenommen. Zwar kann das Unternehmen nicht als klassischer Dynamic-Packaging-Anbieter betrachtet werden, allerdings bietet Jacana Tours ein wesentlich höheres Maß an Individualisierungsmöglichkeiten. Neben Rundreise, Hotel, Hoteleigenschaften oder ganzen Touren kann der Kunde Hoteltransfer, Kamelritte und andere Ausflüge wählen. Darüber hinaus können individuelle Wünsche »manuell« Berücksichtigung finden, da eine Machbarkeitsprüfung durch die Jacana Mitarbeiter erfolgt. Jacana kann damit als eine moderne Interpretation der klassischen individuellen »Einzelfertigung« einer Dienstleistung gesehen werden. 12 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Vergleich ausgewählter Dynamic-Packaging-Angebote Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche Tabelle 3: Funktionaler Vergleich wichtiger Dynamic-Packaging-Angebote Anbieter Anzahl Destinationen Kombination von Individualisierungsmöglichkeiten 99 Flug, Hotel Flug, Hotel >> 100 Flug, Hotel, Mietwagen Flug, Eigenschaften Hotelzimmer, Mietwagen www.flyloco.de – »Locomat« 63 Flug, Hotel Flug, Hotel www.jacana.de – »Tourdesigner« 75 Flug, Hotel, Mietwagen Flug, Hotel, Mietwagen Hoteltransfer, Ausflüge etc. (individuell abstimmbar) lastminute.com (UK) – »e-basket« >> 100 Flug, Hotel, Mietwagen Flug, Eigenschaften Hotelzimmer, Mietwagen Versicherung, Sight Seeing, Restaurantbesuche, Hoteltransfer... www.lastminute. com (D) – »e-basket« 47 Flug, Hotel, Mietwagen Flug, Hotel, Mietwagen Versicherung www.onlineweg.de – »Urlaubsbaukasten« 10 Flug, Hotel, Mietwagen Flug, Eigenschaften Hotelzimmer, Mietwagen Versicherung >> 100 Flug, Hotel, Mietwagen Flug, Hotel, Mietwagen www.ebookers.de – »Dynamic Package« www.expedia.de – »Click&Mix« 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Charakteristika des Angebots www.tui.de – »Kombisuche« Zusatz-leistungen – Versicherung, Sight Seeing, Restaurantbesuche etc. – – Prozesse und Strukturen von Mass Customization in der Reisebranche Reiseagenturen aller Größen setzen ein weitgehend einheitliches Modell für die unternehmensinternen Prozesse der Reisevermittlung ein. In diesen Prozessen können sich jedoch Unterschiede in der Interaktion mit den Kunden ergeben. Kleine Reiseagenturen wie die Münch- 13 Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche ner Jacana Tours GmbH setzen in stärkerem Maße auf persönlichen Kundenkontakt als beispielsweise große Anbieter wie expedia.de. Der Prozess der Vermittlung einer Dynamic-Packaging-Reise im Internet wird im Wesentlichen durch das Zusammenspiel von IT-Systemen der Komponentenanbieter, Reiseveranstalter, Reiseagenturen und des Kunden realisiert. So veröffentlichen beispielsweise Anbieter von Flügen oder Hotels ihre freien Kapazitäten in so genannten »Inventories« (Datenbanken), auf die Reiseagenturen mit Hilfe von Computer-Reservierungs-Systemen zugreifen können. [17] Reiseveranstalter, die Kontingente der Anbieter aufkaufen und beispielsweise zu Pauschalreisen bündeln, veröffentlichen diese Komplettangebote ebenfalls in entsprechenden Inventories. Der Kunde kommuniziert mit der Online-Reiseagentur in der Regel über deren Internetpräsenz beziehungsweise »Internet Booking Engine« (oder zum Beispiel über ein Callcenter). Während bei der Vermittlung von Komplett- beziehungsweise Pauschalreisen in der Regel eine Selektion der Angebote der Reiseveranstalter gemäß der vom Kunden vorgegebenen Kriterien erfolgt (»Filterung«), werden beim Dynamic Packaging sämtliche in Frage kommenden Komponenten der Reise einzeln und in Echtzeit in den entsprechenden Inventories recherchiert. Das System hat dabei vor allem die Verfügbarkeit und Abhängigkeit der einzelnen Komponenten zu berücksichtigen und die Preisbildung durchzuführen. Die Dynamic Packaging Logik sollte auch Zugriff auf verfügbare Pauschalreisen haben. Dies hat zweierlei Gründe: zum einen erhöht sich hierdurch die Wahrscheinlichkeit, dass eine den Wünschen des Kunden entsprechende Reise gefunden und angeboten werden kann. Zum anderen muss das System Kenntnis von verfügbaren Pauschalreiseangeboten haben, die sich mit den Eigenschaften einer vom Kun- 14 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Generische Prozessbeschreibung aus Sicht der beteiligten Unternehmen Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche Abb. 2: Schema der Reisevermittlung durch Online-Reiseagenturen den konfigurierten Individualreise decken. Da anzunehmen ist, dass Kunden selbst Preisvergleiche durchführen, kann der Gesamtpreis der Individualreise so gewählt werden, dass er den der Pauschalreise nicht oder nur geringfügig übersteigt. [17] Eine zusammenfassende Darstellung dieses Prozesses ist Abbildung 2 zu entnehmen. 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Prozessbeschreibung aus Kundensicht »Click&Mix« von expedia.de »Click&Mix« von expedia.de stellt derzeit eines der umfangreichsten Dynamic-Packaging-Angebote im deutschen Raum dar. Es wird auf der Homepage neben Pauschal- und Lastminute-Reisen direkt beworben. Hier kann sich der Kunde eine Reise zu weit mehr als 100 Destinationen nach individuellen Wünschen zusammenstellen lassen. Das System kombiniert hierbei Reisekomponenten wie zum Beispiel Flug, Hotel, Mietwagen oder Theaterbesuche unter Berücksichtigung von Abhängigkeiten und Verfügbarkeit. Den Ausgangspunkt bildet die 15 Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche Auswahl von Reiseziel, -zeitraum und Anzahl der reisenden Personen beziehungsweise Hotelzimmer (vgl. Abb. 3). Im nachfolgenden Schritt kann der Kunde aus einer Reihe von Basisvarianten seiner Reise auswählen, die den zuvor festgelegten Kriterien entsprechen (vgl. Abb. 4). Jede Variante repräsentiert eine Kombination aus Flug, Hotel und Mietwagen und wird zu einem Gesamtpreis ausgewiesen. Nach Auswahl einer Basisvariante kann der Kunde Modifikationen hinsichtlich des Fluges (Airline, Zeit), der Zimmerausstattung des zuvor gewählten Hotels sowie der Beschaffenheit des Mietwagens vornehmen. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit zum Abschluss einer Reiseversicherung (vgl. Abb. 5). Im Anschluss an die Selektion der Grundkomponenten Flug, Hotel und Mietwagen kann der Benutzer noch aus einer großen Anzahl zusätzlicher Aktivitäten an der Destination auswählen (vgl. Abb. 6). Hierzu gehören zum Beispiel Musicalaufführungen, Sight Seeing oder Restaurantbesuche. Im Angebot solcher Zusatzleistungen kann ein entscheidender Differenzierungsvorteil von Dynamic-PackagingReisen gegenüber der konventionellen Pauschalreise gesehen werden, 16 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Abb. 3: »Click&Mix«-Angebot auf expedia.de Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Abb. 4: Auswahl verfügbarer Flug/Hotel/Mietwagen-Kombinationen im Sinne einer Basiskonfiguration der Reise (gekürzte Darstellung) da sie der Reise einen einzigartigen Charakter geben und somit dem Wunsch der Kunden nach einem einmaligen und exklusiven Erlebnis entgegen kommen. Den Abschluss der Buchung bildet die Bestätigung der ausgewählten Optionen sowie der Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Anbieters. Hierzu ist das Anlegen eines Benutzerkontos erforderlich. Der Konfigurationsvorgang ist insgesamt sehr durchgängig und übersichtlich, vermittelt jedoch vor allem aufgrund des hohen Textanteils und der bei der Buchung erforderlichen Aufmerksamkeit kein »Fluss-Erlebnis«, wie es sich zum Beispiel bei interaktiven, graphisch orientierten Mass-Customization-Konfiguratoren einstellen kann. Die 17 Abb. 5: Individualisierung des Fluges, der Zimmerausstattung, des Mietwagens sowie Auswahl einer Reiseversicherung 18 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Abb. 6: Auswahl zusätzlicher Aktivitäten (gekürzte Darstellung) Darstellung der Preise der einzelnen Komponenten ist für den Benutzer bewusst weniger transparent gestaltet, um ein direktes Vergleichen unterschiedlicher Angebote durch den Kunden zu erschweren. Bei der Individualisierung der Komponenten werden lediglich preisliche Abweichungen von der Basisvariante ausgewiesen. »Tourdesigner« von Jacana Tours GmbH Eine andere Vorgehensweise zur Zusammenstellung einer individuellen Reise bietet der »Tourdesigner« der Jacana Tours GmbH (www. jacana.de) für das Reiseziel Afrika an. Der Vorteil für den Kunden 19 Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche Abb. 7: Tourdesigner der Jacana Tours GmbH Der Kunde erhält zunächst ein Angebot zu dem von ihm ausgewählten Reiseplan. Die Buchung erfolgt letztendlich mit einer Unterzeichnung des zugesandten Angebots. Sollte der Kunde mit dem Angebot nicht einverstanden sein, bietet die Jacana Tours GmbH zusätzlich die 20 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 liegt darin, dass er seine eigene Route gestalten kann. Der Tourdesigner vermittelt als Hilfestellung einen Einblick in die einzelnen Reiseziele. Der Kunde klickt sich bei Jacana Tours etappenweise durch das Land seiner Wahl und erhält zu jeder Stadt die wichtigsten Informationen sowie ausgewählte Unterkünfte angeboten. Sowohl bei den einzelnen Etappen als auch bei den Unterkünften und Mietwagen entscheidet er ganz nach seinen Wünschen. Der Kunde sendet den gewünschten Reiseplan anschließend per E-Mail an den Reiseveranstalter Jacana Tours GmbH. Dabei ist es möglich, die Reiseplanung über einen Zeitraum von 14 Tagen auszudehnen, da der persönliche Reiseplan unter einem Benutzernamen abgespeichert und somit immer wieder aufgerufen werden kann. In Abbildung 7 wird der Prozess aus Sicht des Kunden dargestellt. Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche Möglichkeit, einzelne Reisekomponenten zu verändern. [18] Auch der Prozess bei Jacana ist sehr übersichtlich und einfach handhabbar gestaltet. Im Gegensatz zu expedia.de kann der Kunde die beabsichtigte Reise jedoch nicht online buchen, sondern muss auf die Bestätigung durch das Unternehmen warten. Es handelt sich damit nicht um eine Konfiguration der Leistung im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr um eine sehr strukturierte Übermittlung einer Buchungsanfrage, die anschließend individuell von einem Mitarbeiter des Anbieters bearbeitet wird. Durch die Vorstrukturierung kann allerdings diese klassische Leistung eines Reiseanbieters effizienter und schneller erbracht werden. Bei »Click&Mix« von Expedia ist dagegen die gesamte Zusammenstellung und Reisebuchung automatisiert. Preislich liegt Jacana Tours GmbH über den Angeboten der großen DynamicPackaging-Anbieter. Hierfür werden allerdings auch umfassende Individualisierungsoptionen und – auf Wunsch – eine individuelle Beratung geboten, die die Zahlungsbereitschaft erhöhen. Zudem sind die angebotenen Reiseziele eher im gehobenen Segment und oft exklusiv über diesen Anbieter buchbar. 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Veränderung der Kostenstruktur durch Dynamic Packaging Aus theoretischer Sicht bietet Dynamic Packaging dem Anbieter die Möglichkeit, die Konsumentenrente der Kunden abzuschöpfen, da den Kunden der Preisvergleich erschwert oder nicht möglich ist. Hierbei kann der Fokus beispielsweise auf eine komplett nach den eigenen Bedürfnissen zusammengestellten Reiseroute oder auf Zusatzleistungen an der Destination gerichtet werden, deren Preisstruktur sich dem Kunden nicht ohne weiteres erschließt (zum Beispiel Tagesausflüge). Jedoch zeigt sich heute, dass Dynamic Packaging in der Regel nicht als Instrument zu Preissteigerungen genutzt werden kann. Wie bereits erläutert, ist die Einführung von Dynamic Packaging als Antwort auf die branchenweit rückläufigen Umsätze, insbesondere im Pauschalreisemarkt, zu werten. Aufgrund des hohen Konkurrenz- 21 drucks auf Anbieterseite und der Transparenz des Marktes sehen sich die Dynamic-Packaging-Anbieter momentan vielfach nicht imstande, die Zahlungsbereitschaft der Kunden im Vergleich zur Pauschalreise zu erhöhen. Ziel ist vielmehr, angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage mit Hilfe von Dynamic Packaging den jeweiligen Umsatz zu sichern oder ausbauen. [17] Während Anbieter TUI sein Individualreiseangebot generell nicht teurer als die pauschalen Angebote gestaltet [17], stellt expedia.de den »Click&Mix«- Kunden sogar Preisersparnisse bis zu 30 Prozent im Vergleich zur Buchung von Einzelleistungen in Aussicht. [19] In einer von der Marktforschungsfirma Ulysses im Frühjahr 2003 durchgeführten Studie wurden bei Gegenüberstellung vergleichbarer Individual- und Pauschalreiseangebote Preiszuschläge von 7 Prozent beziehungsweise 1,5 Prozent, aber auch Preisnachlässe von 3 Prozent beziehungsweise 0,5 Prozent festgestellt. [15] Die mangelnde Zahlungsbereitschaft ist überdies vor dem Hintergrund zusätzlicher Kosten durch die Einführung von Dynamic Packaging zu sehen. Insbesondere die Entwicklung neuer Datenbanken (Inventories) zur Speicherung der komponentenbezogenen Informationen und deren Betrieb parallel zu den bestehenden KomplettreiseInventories stellt eine zusätzliche Kostenbelastung dar. [17] Darüber hinaus müssen Reiseveranstalter beziehungsweise Reiseagenturen geeignete Dynamic-Packaging-Softwarelösungen erwerben und in ihre Internet Booking Engines integrieren. [17] Der zusätzlichen finanziellen Belastung durch Dynamic Packaging stehen jedoch auch neue Kosteneinsparpotenziale gegenüber. Ein Vorteil ergibt sich dadurch, dass die großen Reiseveranstalter weniger Kataloge drucken müssen, wenn die Kunden ihre Reise online via Dynamic Packaging buchen. Hinzu kommt, eine in sich höhere Flexibilität des Angebots, das grundsätzlich geeignet ist, mehr Kunden besser zufrieden zu stellen, und sich damit positiv auf den Absatz insgesamt auswirkt. [13] Insbesondere könnten Reiseveranstalter theoretisch auf den »vorsorglichen« Aufkauf von Kontingenten der Anbieter verzichten beziehungsweise diese nur nach tatsächlichem 22 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche Bedarf der Kunden in Anspruch nehmen. Während dieser Ansatz auf wenig Gegenliebe der Anbieter stoßen dürfte und daher eher theoretischer Natur ist, können Reiseveranstalter jedoch durch das Angebot von Dynamic-Packaging-Reisen viel über die Präferenzstrukturen ihrer Kunden lernen. Hierdurch ließe sich in einem ersten Schritt das Angebot von Pauschalreisen besser an den Kundenbedürfnissen ausrichten, was ebenfalls den Anteil aufgekaufter und nicht genutzter Anbieterkontingente reduzieren könnte. Außerdem können Reiseveranstalter nicht nur durch die Umwandlung von Pauschalreisen in (günstige) Lastminute-Reisen versuchen, ihre schwer absetzbaren Komplettreisen zu verkaufen, sondern die Komponenten dieser Reisen separat in entsprechenden Inventories anbieten. [9] Durch die Einführung von Dynamic Packaging können bei Reiseveranstaltern also vor allem Risikokosten gesenkt werden. Die Anbieter kommen allerdings um die Einführung neuer Angebote insgesamt nicht herum, da es im Moment eher darum geht die Marktposition zu halten und nicht vom Markt zu verschwinden. 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Bewertung des Mass-Customization-Angebots in der Reisebranche Die Stärken und Chancen sowie Schwächen und Risiken des Dynamic-Packaging-Modells stellen die beiden Kästen »Starken und Chancen« und »Schwächen und Risiken« gegenüber. Erfolgsfaktoren für die zukünftige Entwicklung von Mass Customization in der Reisebranche Branchenintern stehen Anbieter von Dynamic-Packaging-Reisen vor allem in Konkurrenz zu Pauschalreiseveranstaltern, wobei der Wettbewerb nicht über Produktdifferenzierung, sondern hauptsächlich über den Preis geführt wird. Es ist daher wesentlich für die Anbieter von Dynamic-Packaging-Reisen, eine kostengünstige Reisevermittlung auf Basis stabiler und durchrationalisierter Prozesse zu verwirklichen, von 23 Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche Stärken und Chancen von Dynamic Packaging ihren Kunden zu lernen und diese unter Nutzung dieses Wissens an sich zu binden. Ähnlich Pauschalreiseveranstaltern müssen sie ihren Kunden das Gefühl geben, aus einer großen Angebotsvielfalt wählen zu können und die Reise aus einer Hand sowie zu einem günstigen Preis zu erhalten. Hierzu ist zum einen ein großes Netz von Komponentenlieferanten aufzubauen. Zum anderen erscheint ein Auftreten als Reiseveranstalter trotz der Haftungsproblematik unumgänglich, zumal Anbieter wie Hotelketten oder Fluglinien ihre günstigen »Tour Operator Preise« nur Reiseveranstaltern anbieten. [9] Trotz der Er- 24 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 ðDynamic-Packaging-Anbieter können ihr Angebot sehr flexibel an den Kundenwünschen ausrichten. Dies kommt dem beobachtbaren Individualisierungstrend bei den Reisenden entgegen. [15] ðMit Hilfe von Dynamic Packaging ist es möglich, die Kundenpräferenzen genau zu ermitteln und zu erfassen. Einer rückläufigen Loyalität der Kunden zu den Anbietern [5] kann durch Maßnahmen zur Kundenbindung, insbesondere durch Nutzung der gespeicherten Kundendaten, begegnet werden. ðEin Abschöpfen von Zahlungsbereitschaft ist durch ein besonders gut auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmtes Angebot möglich. ðKunden können sich ihre Individualreise zwar auch selbst aus den Komponenten verschiedener, günstiger Anbieter zusammenstellen und sind damit nicht unbedingt auf Dynamic-Packaging-Angebote angewiesen. Die Stärke von Dynamic Packaging ist, dass Kunden einen Sicherungsschein vom Online-Reiseveranstalter erhalten, wodurch sie bei Insolvenz, beispielsweise der Fluglinie, abgesichert sind. ðInsbesondere bei großen Reiseveranstaltern können Risikokosten aus aufgekauften, nicht genutzten Anbieterkontingenten durch genauere Kenntnis der Kundenpräferenzen reduziert werden. ðInsbesondere kleine Unternehmen können unter Einsatz von Mass-Customization-Technologie mit geringem Personalaufwand Nischenmärkte erschließen beziehungsweise dort auftreten. ðDie »Reise« ist ein Informationsgut, stark emotional geprägt und somit prädestiniert für Präsentation und Verkauf im Internet. [11] Dies kommt den Anbietern von Online-Reisen generell, aber insbesondere auch den DynamicPackaging-Anbietern entgegen, die sich weitgehend auf einen internetgestützten Kundenkontakt konzentrieren. ðDie flexible Integration von Angeboten der »Billigflug-Airlines« schafft die Chance für Dynamic-Packaging-Anbieter, konkurrenzfähige Preise zu bieten beziehungsweise den Kunden die Alternative eines optimalen Flugplans im Gegensatz zu einem günstigen Preis einfacher zu verdeutlichen. [11] Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche Schwächen und Risiken von Dynamic Packaging 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 ðHöhere Margen sind bei Dynamic Packaging schwer zu erzielen, da der Markt transparent ist und Kunden jederzeit Individual- mit Pauschalreiseangeboten vergleichen können. ðEs besteht die Gefahr, dass Kunden von einer zu hohen Variantenvielfalt überwältigt werden und den Konfigurationsprozess abbrechen. ðDynamic Packaging verursacht bei großen Anbietern ein hohes Datenaufkommen in den Inventories, welches in einem ungünstigen Verhältnis zu den Abschlüssen steht (»Look-to-book-rate«). [20] ðEs entstehen zusätzliche Kosten durch Neuentwicklung von Datenbank-Systemen und Web-Frontends. ðRechtliche Aspekte: Wer Dynamic Packaging anbietet, wird juristisch fast immer als Veranstalter eingestuft. [21] Hieraus ergibt sich eine Verantwortlichkeit des Anbieters für die Erbringung der Leistung insgesamt (Haftung!). [22] ðAbhängigkeit des Erfolgs von Dynamic Packaging von der Konjunktur beziehungsweise der generellen Entwicklung der Reisebranche, zum Beispiel auch von Krisen, Krankheiten oder Anschlägen. Es zeigt sich beispielsweise auch der Trend, dass junge Menschen, ihre Reisen selbst zu organisieren beziehungsweise »spontan« reisen. fordernis einer »kritischen Größe« muss die Unternehmensstruktur der Anbieter flexibel genug bleiben, um zukunftsfähige Lösungen zur Neukundengewinnung und Kundenbindung zu realisieren und auf plötzliche Veränderungen der Nachfragesituation schnell und nachhaltig reagieren zu können. Hier können größere Anbieter von den kleineren Unternehmen lernen. In Kundenorientierung und Flexibilität sind somit die wesentlichen Erfolgsfaktoren für einen weiteren Bedeutungsgewinn des Dynamic Packagings gegenüber der Pauschalreise zu sehen. Jedoch bleibt abzuwarten, ob ausschließlich große Unternehmen mit gut skalierenden Prozessen und hoher, gleichwohl begrenzter Angebotsvielfalt Gewinner dieses Paradigmenwechsels hin zum individuellen Reisen sein werden. Gerade kleine Unternehmen könnten durch ihre Fähigkeit, wirklich individuell auf die Kundenwünsche eingehen zu können und sie nicht auf einen diskreten Lösungsraum reduzieren zu müssen, im Vorteil sein. 25 Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche Dipl.-Ing. Daniel Rögelein studierte von 1997 bis 2002 Elektrotechnik und Informationstechnik mit Schwerpunkt Kommunikationsnetze an der Technischen Universität München. Nach einjähriger Tätigkeit in der Geschäftsführung eines Münchner Ingenieurbüros nahm er 2003 das Managementorientierte betriebswirtschaftliche Aufbaustudium an der TU München auf. Sein Interesse gilt dem Themenkomplex der Netzwerkorganisationen. Kontakt: [email protected]. Dipl.-Ing. Dipl.-Wirt.-Ing. Maribel Rodríguez studierte Elektro- und Informationstechnik an der »Universitat Autònoma de Barcelona«, Spanien. Nach vier Jahren Berufserfahrung in der Automobilindustrie, nahm sie das Managementorientierte betriebswirtschaftliche Aufbaustudium an der TU München mit den Schwerpunkten Logistik und Internationale Wirtschaftsbeziehungen auf. Sie ist derzeit als Projektleiterin bei einem deutschen, weltweit tätigen Automobilhersteller beschäftigt. Kontakt: [email protected]. Melanie Müller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre – Information, Organisation und Management an der TU München. Innerhalb der Research Group »Customer-driven Value Creation« befasst sie sich vorwiegend mit der Kundeninteraktion bei Mass Customization und Open Innovation. Sie unterrichtet außerdem an der TUM Business School in den Bereichen Mass Customization und Open Innovation sowie Organisation, Führung und Strategie. Melanie Müller studierte Betriebswirtschaftslehre an der Ludwig Maximilians Universität München und der University of California Los Angeles. Zusätzlich absolvierte sie ein zweijähriges Zusatzstudium und erwarb ein Certificate in Technology Management am Center for Digital Technology and Management (CDTM). Praktische Erfahrung sammelt sie u.a. bei DaimlerChrysler, Steppenwolf, BMW und der DZ BANK AG. Kontakt: [email protected]. Literatur o.A.d.V.: Die Schweizer Reisebranche. Zürich: 2004 [2] Deraëd, Pierre: Potenziale in der Tourismus-Krise. 2003 [3] o.A.d.V.: Online-Tourismus: Die Fernweh-Warenhäuser, in: manager-magazin.de, 07.11.2003 [4] o.A.d.V.: TUI: Schlechte Zeiten für Kurzentschlossene, in: manager-magazin.de, 06.11.2003 [5] Schmidt, Holger: Internet – Im Online-Reisemarkt tobt ein harter Verdrängungswettbewerb, in: faz.net, 26.07.2004 [6] Strobel y Serra, Jakob: Reisebuchungen – Alles im Netz, in: faz.net, 07.07.2004 26 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 [1] Dynamic Packaging: Mass Customization in der Reisebranche [7] o.A.d.V.: Dynamic Packaging – the UK market, Anite travel systems, 2003 [8] Machatschke, Michael: TUI: Schön wie im Katalog, in: manager-magazin.de, 01.10.2003 [9] Rogl, Dirk: Schwieriges Spiel mit den Bausteinen, in: FVW 24, Band 37, Heft 24, S. 56 – 61. Hamburg: 2003 [10]Geisen, Bernd: E-facts – Informationen zum E-Business, Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, 2003 [11] o.A.d.V.: [12] o.A.d.V. E-Business und Tourismus, Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, 2003 (Umsatz, 2003): Web-Tourismus 2003: Gesamtumsatz und Umsatzentwicklung der Reisebranche on- und offline 1999 bis 2006, HighText Verlag [13]Büchsel, Christiane: Günstig in den Urlaub klicken, in: Welt am Sonntag, 31.07.2005, Heft 31/2005, S. 35 [14]Kärcher, Karsten: Urlaub per Mausklick: Die Potenziale des Dynamic Packaging, Tiscover AG, 2003 [15] o.A.d.V.: Baukasten-Tourismus:Pauschal vs. individualisierte Pauschalreise Ulysses, 2003 [16] Spiers, Ed: Dynamic Packaging: The Consumer’s Choice, Anite travel systems, 2002 [17] Gespräch vom 01.07.2004 mit Stephan Haller, Dr. Fried&Partner UB, München 1970.01.01 – © Symposion Publishing 2006 [18] Gespräch vom 26.07.2004 mit der Geschäftsführung von Jacana Tours [19] o.A.d.V.: Click&Mix, expedia.de [20] o.A.d.V.: Dynamic Packaging – Integration in Backoffice-Systeme, Bewotec Deutschland, 2003 [21] o.A.d.V.: DRV-Expertenkreis Onlinevertrieb: Fast 100 Teilnehmer beim Forum Dynamic Packaging, Deutscher Reisebüro und Reiseveranstalter Verband [22] Vogel, Hans-Josef: Dynamic Packaging: Rechtliche Aspekte, 2002 27 Linel: Mass Customization in der Wasseraufbereitungsbranche Anlagen zur Wasserfiltration müssen vielen spezifischen Gegebenheiten gerecht werden und sind hoch individuell. In der Abwasserbehandlungsbranche gibt es allerdings noch kein ausgereiftes Mass-CustomizationAngebot. Der Beitrag beleuchtet die Realisierungschancen am Beispiel der Linel GmbH. Stichwörter: Trinkwasseraufbereitung, Abwasserfiltration, Entsorgungs- und Abfallwirtschaft, Filtrationsanlagen, OnlineKonfiguration, Modulbauweise, Einsparpotenziale, Customer Relationship Management Michael Erspamer, Melanie Müller Branchen- und Unternehmensüberblick 1982.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Die Wasser- und Abwasserbehandlungsbranche Wasser ist ein wichtiges und lebensnotwendiges Gut. Sowohl als Trinkwasser im täglichen Leben als auch als Wasch-, Lösungs- und Kühlmittel in der Industrie ist Wasser unverzichtbar. Dabei sind lediglich 0,3 Prozent des gesamten Wasserreservoirs der Erde als Trinkwasser nutzbar. Im Gegensatz zu anderen Rohstoffen unterliegt der Wasservorrat einem ständigen Kreislauf aus Verdunstung und Niederschlag. Somit kann sich die Menge an Wasser insgesamt nicht verringern. Allerdings kann sich die Qualität verschlechtern, beispielsweise dadurch, dass belastende Stoffe in Gewässer eindringen. [1] Auch andere ökologische Faktoren lassen Wasser als ein zunehmend Linel: Mass Customization in der Wasseraufbereitungsbranche Land Europa/Italien Anschrift Hauptniederlassung Alfred-Ammon-Str. 20 39042 Brixen, Italien Hotline Service-Center 0472/275000 Internetadresse www.linel.it E-Mail [email protected] Branche Filtrationstechnik, Gebäudetechnik, Netzbau, Telekommunikation Produkt Anlagen zur Wasserfiltration Bezug zu Kapitel 4.5Formen der Kundenintegration 5.1Produkt- und Leistungsgestaltung 5.2Prozessgestaltung: Aufbau des Interaktionssystems 6.2Preispolitische Potenziale 7 Die Kosten: Economies of Mass Customization knappes Gut erscheinen. So herrscht beispielsweise in Süditalien ein derart großer Süßwassermangel, dass in vielen Gemeinden täglich nur wenige Stunden fließendes (»süßes«) Wasser zur Verfügung steht. Der Bedarf an innovativen Lösungen wie Wasserentsalzungs- oder Trinkwasseraufbereitungsanlagen scheint damit ständig zu wachsen. Zudem erfordern verschärfte Umweltauflagen auch die Behandlung von Prozesswasser, zum Beispiel in der Metallverarbeitungsindustrie. Zur Befriedigung dieser Nachfrage steht ein sehr großes Angebot an Lösungen zur Verfügung. Genaue Daten über die weltweite Anzahl entsprechender Unternehmen liegen nicht vor, da es sich oft um 1982.01.01 – © Symposion Publishing 2006 8.3Kundenintegration als Basis für erfolgreiches CRM Linel: Mass Customization in der Wasseraufbereitungsbranche recht kleine und lokal spezialisierte Betriebe handelt. Einen guten Anhaltspunkt liefern allerdings Daten der weltweiten Leitmesse für Entsorgungs- und Abfallwirtschaft, der IFAT München [2]: So stellten im Jahre 2002 919 Unternehmen aus dem Bereich Wasser- und Abwasserbehandlung aus. Der spezielle Bereich der Membrananlagenbauer, zu denen auch das Unternehmen Linel GmbH gehört, umfasste 81 Anbieter. Im Vergleich zur Messe im Jahre 1999 waren jedoch rund 40 Prozent der damals teilnehmenden Unternehmen nicht mehr anwesend. Dies deutet auf einen hart umkämpften Markt, in dem das Überleben für kleinere unabhängige mittelständische Unternehmen schwer ist und der zunehmend von größeren Unternehmen beherrscht wird. Das Unternehmen Linel GmbH 1982.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Die Linel GmbH war ursprünglich ein italienisches Tochterunternehmen der SAG Energieversorgungslösungen GmbH und ist seit nunmehr 30 Jahren als eigenständiges Unternehmen vorwiegend auf dem deutsch- und italienischsprachigen Markt tätig. Das Unternehmen beschäftigt derzeit etwa 80 Mitarbeiter. Neben den ursprünglichen Sparten Netzbau und Gebäudetechnik wurde vor 20 Jahren die Sparte Depurtec als dritter Geschäftsbereich gegründet. Die Produktpalette reicht von der Trinkwasser- über die Prozesswasseraufbereitung bis hin zur Meerwasserentsalzung. Die Kerntechnologie liegt dabei in der Membranfiltration, welche die Mikro- und Ultrafiltration sowie die Umkehrosmose umfasst. Der Gesamtumsatz der Sparte Depurtec beläuft sich auf circa 9 Millionen Euro, wobei circa 5 Millionen Euro auf das Segment der Mikro- und Ultrafiltration zurückgehen und circa 4 Millionen Euro durch den Verkauf der Umkehrosmose-Anlagen (sie liefern voll entsalztes Wasser) erwirtschaftet werden. [3] Das Unternehmen spricht mit seinen Produkten folgende Zielgruppen an (vgl. Abb. 1): Linel: Mass Customization in der Wasseraufbereitungsbranche RO-Compact VE-Wasser NF Foto FTKS Metall RO Getränkeindustrie MFK/UFK Metall Unsere Produktpalette MF Wine Einzelne Haushalte und Gemeinden: In niederschlagsarmen Regionen wird Süßwasser rund um die Uhr verfügbar. Gastronomie: Durch Entsalzung des Spülwassers können Gläser und Besteck lufttrocknen, ohne später Flecken aufzuweisen. Industrie: Abwässer werden unter Berücksichtigung umweltrechtlicher Auflagen für die Metallverarbeitungs-, Automobil- und Lebensmittelbranche bearbeitet. Konzeption eines potenziellen Mass-CustomizationAngebots Überlegungen zum Produkt Filtrationsanlagen sind kein Prestigeobjekt wie etwa Autos. Design sowie sichtbare Merkmale wie Farbe oder Form sind in den Augen des Kunden eher nebensächlich. Der Bedarf für derartige Anlagen resul- 1982.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Abb. 1: Produktpalette der Linel GmbH im Bereich Wasser- und Abwasseraufbereitung 1982.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Linel: Mass Customization in der Wasseraufbereitungsbranche tiert aus der generellen Knappheit der Ressource Wasser in bestimmten Regionen sowie aus umweltrechtlichen Bestimmungen, die etwa bei Lackierereien die Nachbehandlung des Abwassers vorschreiben. Aufgrund der vielfältigen Anwendungsbereiche sind Filtrationsanlagen ein höchst kompliziertes Produkt, das individuell auf den einzelnen Abnehmer abgestimmt werden muss. Die Konfiguration einer Filtrationsanlage wird durch verschiedene Parameter bestimmt. Wichtigster Einflussfaktor ist das zu behandelnde Wasser selbst. Das Abwasser muss zunächst genau analysiert und die Zieleigenschaften, zum Beispiel Trinkwasser, festgelegt werden. Die Permeatleistung (Resultat des Filtriervorgangs) pro gegebener Zeiteinheit sowie die qualitative Ausführung der Anlage sind weitere Parameter, die stark variieren können. Da Filtrationsanlagen in der Regel über viele Jahre im Dauerbetrieb laufen, sind aus Kundensicht weiterhin Service und Wartung der Anlage wichtige kaufentscheidende Kriterien. Deshalb müssen auch Nachkaufleistungen wie Wartungsvereinbarungen individuell definiert werden. Ziel des Unternehmens Linel ist es, dem Kunden qualitativ hochwertige Produkte in »maßgeschneiderter« Form als Lösung zu präsentieren. Derzeit stehen wenigen standardisierten Produkten viele Einzelfertigungen für individuelle Abnehmer gegenüber. Für die Mehrzahl der Aufträge erfolgt eine eigene Planung und Projektierung in Losgröße eins. Viel effektiver wäre hingegen eine Projektierung und Fertigung aus Baukastenelementen, die sich der Kunde innerhalb bestimmter Grenzen nach individuellen Wünschen zusammenstellt. [4] Möglich wäre dies durch ein Mass-Customization-Angebot, das auf dem Konzept einer quantitativen Modularisierung beruht, das heißt der Kunde kann durch Hinzufügen und Variieren eines oder mehrerer Module den Nutzen des funktionstüchtigen Produkts erhöhen. Beispielsweise kann einer funktionierenden Abwasserfiltrationsanlage das Modul »Digitale Steuerung und Datenerfassung mittels Kleincomputer« hinzugefügt werden. Abbildung 2 gibt einen Überblick über mögliche Module einer Filtrationsanlage sowie ihre Ausprägungen (es wird dabei kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben). Linel: Mass Customization in der Wasseraufbereitungsbranche Steuerung Tank Verbundwerkstoff Edelstahl Verchromt Nicht veredelt … … Manuell Digital Mit Kennfeldanzeige Ohne Kennfeldanzeige Pumpe Mit Druckanzeige Mit Display Ohne Druckanzeige Ohne Display Abb. 2: Mögliche Module einer Filtrationsanlage und ihre Ausprägungen In der Wasser- und Abwasserbehandlungsbranche zeichnet sich ein erfolgreiches Unternehmen durch die Fähigkeit aus, mit dem Kunden im Leistungserstellungsprozess zu interagieren. Aufgrund der individuellen Eigenschaften des zu behandelnden Wassers erwartet der Abnehmer, dass sich der Anbieter intensiv mit ihm auseinandersetzt, um die beste individuelle Lösung zu erhalten. Neben den Kosten für die Maßfertigung der Anlagen erhöhen damit die für die Kundeninteraktion anfallenden Kosten den Verkaufspreis einer Anlage wesentlich. Es ist üblich, dass Vertriebsmitarbeiter und Kunde zunächst für ein intensives Verkaufsgespräch zusammenkommen, um die beste Lösung für den jeweiligen Kunden zu finden. Nach circa zwei Wochen intensiver Planung und Konstruktion beim Hersteller wird dem Kunden ein Angebot übermittelt, allerdings entspricht dies meist nicht genau 1982.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Überlegungen zum Vertrieb Linel: Mass Customization in der Wasseraufbereitungsbranche dem Kundenbedürfnis. Kosten- und zeitintensive Nachbesserungen sind die Regel. Ein Mass-Customization-Konzept würde es nun ermöglichen, neben den Produktionskosten auch die Kosten für die Interaktion mit dem Kunden zu senken. Denkbar ist beispielsweise, dass der Kunde sich mittels eines Online-Konfigurators sein Produkt auf einfache Art und Weise selbst zusammenstellt und eine Anfrage an das Unternehmen sendet. Der Konfigurator ersetzt damit zumindest teilweise den Verkäufer. Indem alle Lösungen im Konfigurator bereits vorab durchdacht wurden, entfallen überdies zeitraubende Nachbesserungsprozesse. Der Kunde erkennt sofort, wie seine Wünsche in das Produkt umgesetzt werden. Dadurch reduziert sich auch die Zeit, bis die individuelle Anlage produziert werden kann; die Kosten sinken ebenfalls. Der Mass-Customization-Prozess bei Linel 1982.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Prozessbeschreibung aus der Sicht der Linel GmbH Der Erstellungsprozess einer Filtrationsanlage beginnt mit der Einreichung einer Wasserprobe zur Laboranalyse durch den Kunden. Das Abwasser wird untersucht und ein passender Membrantyp gesucht; dieser ist für die Filtrierqualität und das störungsfreie Funktionieren der Anlage wesentlich. Anschließend beginnt der eigentliche Konfigurationsprozess der Anlage. Ein Internet-Konfigurator (siehe Abb. 3) scheint geeignet, die individuellen Kundenbedürfnisse in Produktmerkmale zu übertragen und dabei gleichzeitig die Kosten niedrig zu halten. Hierbei sollte der Kunde die aus der Abwasseranalyse gewonnenen Daten hinsichtlich Membranbeschaffenheit sowie benötigter Permeatleistung pro Zeiteinheit in den Konfigurator eingeben können, worauf dieser aus einer Bibliothek bereits vorhandener Lösungen ein Basisprodukt zur Auswahl anbietet. Dieses Basisprodukt beinhaltet die Anzahl notwendiger Pumpen, die Kapazität des Speichertanks, die Anzahl der notwendigen Membranen, sowie weitere grundlegende Linel: Mass Customization in der Wasseraufbereitungsbranche Unternehmen F&E Konfigurator Zum Nachschlagen Pumpen Schaltschränke Typ Grundfos - bitte wählen - Dosierleistung (Q) l/h 0-990 Betriebsdruck (P) bar 10-4 Medientemperatur (T) max. 50° Preis: 250 € Ihre derzeitige Anlage Membrane Tank Cheramische Membrane - bitte wählen - Aktueller Preis: 11.500€ Aktuelle Maße: 1,8x0,6x2,3m Typ: cheramische Membrane Lebensdauer: 3 Jahre Preis: 100€/Stück Weiter Komponenten. Zudem sollten Preis und weitere wichtige Daten wie Größe und Gewicht angegeben werden. Anschließend sollte der Online-Konfigurator dem Kunden die Möglichkeit bieten, zwischen verschiedenen Optionen wie Material des Tanks (Verbundstoff, INOX,…) oder Qualität der Pumpen zu wählen, die Anlage um bestimmte Module wie zusätzliche Regler oder digitale Anzeigen zu erweitern, zwischen Finanzierungsoptionen und Servicekonditionen wie Wartungsverträge oder Garantieleistungen auszuwählen. Da das Konfigurieren für einen Kunden eventuell komplex ist, sollte jederzeit ein Berater kostenlos zu Rate gezogen werden können, beispielsweise via Hotline. Nach Abschluss des Konfigurationsprozesses 1982.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Abb. 3: Darstellung eines Konfigurators für Membranfiltrationsanlagen Linel: Mass Customization in der Wasseraufbereitungsbranche 1982.01.01 – © Symposion Publishing 2006 erhält Linel eine Bestellung beziehungsweise Anfrage. Diese wird sofort an das Produktdatenmanagement-(PDM-)System weitergeleitet, das die Bestellung auf Teileverfügbarkeit überprüft und dann einen Liefertermin berechnet, der dem Kunden per E-Mail mitgeteilt wird. Erhält das Unternehmen eine Bestätigungsmail für den Auftrag vom Kunden, wird der Anlage eine Seriennummer zugewiesen und die Fertigung beginnt. Idealerweise sind die Lieferanten in das Lagerverwaltungs- und Bestellsystem eingebunden. Im Falle fehlender Teile kann dadurch eine automatische Bestellung beim Lieferanten erfolgen. Neben der Einbeziehung des Kunden in den Anlagenentwurf mittels Online-Konfigurator könnte Linel auch neue Impulse für das Kundenbeziehungsmanagement bekommen. Ziel ist der Aufbau von Kundenbindungen und damit eine bessere Nutzung von weiteren Geschäftsmöglichkeiten. Bisher bricht der Kontakt zum Kunden nach dem Verkauf einer Anlage größtenteils ab; eine Ausnahme bilden kostspielige Reparaturleistungen. Vor allem Erlöse aus dem Verkauf ergänzender und zusätzlicher Leistungen gehen damit verloren. Ein entscheidendes Potenzial, das ein Mass-Customization-Konzept mit sich bringt, liegt gerade in der Nutzung der bereits vorhandenen Kundendaten zum Aufbau intensiver Kundenbeziehungen. Informations- und Kommunikationstechnologien erlauben es seit einigen Jahren, den Kundenkontakt zu vergleichsweise niedrigen Kosten aufrecht zu erhalten. Beispielsweise könnte ein regelmäßig erscheinender Newsletter über Produktneuheiten informieren. Denkbar ist außerdem die Einrichtung eines Internetportals, auf dem Kunden untereinander und mit Experten des Unternehmens über Erfahrungen, Probleme und Verbesserungsvorschläge diskutieren. Zusätzlich können ergänzende Serviceleistungen in modularer Form angeboten werden (vgl. Abb. 4). Auch das Angebot der präventiven Wartung erscheint lukrativ und auch hier kann der Kunde aktiv eingebunden werden, indem er selbst die Anlage beobachtet und Erfahrungen mit der Entwicklungsabteilung der Linel GmbH online austauscht. Linel: Mass Customization in der Wasseraufbereitungsbranche Wartung & Reparatur Präventiver Wartungsvertrag Kostenlose Membran reinigung Halbjährlicher Routinecheck Garantieleistung und Reparatur bei Schäden … … Leasingkonzept … … Eine weitere Idee ist die Realisierung eines Leasingkonzepts, bei dem der Kunde seine Anlage für einen entsprechenden Jahresbeitrag least. Für das Funktionieren der Anlage ist grundsätzlich der Hersteller verantwortlich, allerdings ist auch der Abnehmer bemüht (oder vertraglich verpflichtet), Informationen weiterzugeben, da dies der Einsatzzeit der Anlage und damit seinen Kosten zugute kommt. Damit entsteht eine partnerschaftliche Beziehung zwischen der Linel GmbH und dem Kunden, denn beide Seiten profitieren von der engen Kooperation. Zudem steigen die Chancen für den Aufbau langfristiger Kundenbeziehungen, da der Abnehmer kein Interesse haben wird, aus der funktionierenden Partnerschaft auszutreten. Der Mass-Customization-Prozess aus Kundensicht Produkte im Markt für Wasser- und Abwasserfiltration werden in jeder Preisklasse angeboten. Allerdings erscheinen Billiganbieter auf der einen Seite oft wenig vertrauenswürdig. Auf der anderen Seite sind die Produkte renommierter Hersteller oft in ihrer Ausführung zu teuer und entsprechen nicht dem einfacheren Verwendungszweck des Kun- 10 1982.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Abb. 4: Beispielmodul Wartung & Reparatur 1982.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Linel: Mass Customization in der Wasseraufbereitungsbranche den. Aufgrund des vielfältigen Angebots ist es für den Kunden derzeit äußerst schwierig, das für ihn passende Produkt auf einfache Art und Weise zu finden. Durch Mass Customization erlebt der Kunde nun zwei wesentliche Vorteile: Er erhält das Produkt, das am besten zu seinen individuellen Bedürfnissen passt auf vergleichsweise einfache Art und Weise, und das zu einem für ihn akzeptablen Preis. Wird der Konfigurationsprozess ins Internet verlagert, kann der Kunde jederzeit zeit- und ortsunabhängig Informationen über Angebot der Linel GmbH abrufen und sich ein (Probe-)Produkt zusammenstellen. Der Kunde sieht unmittelbar, wie seine Bedürfnisse am Produkt umgesetzt werden und kann jederzeit nachbessern. Zudem fühlt er sich vom Unternehmen als Partner wahrgenommen, da er aktiv an der Produkterstellung mitarbeitet. Kunden, die Unterstützung benötigen, steht eine kostenlose Hotline zur Verfügung. Weitere Vorteile für den Kunden ergeben sich beispielsweise hinsichtlich der Wartezeit zwischen Anfrage und Angebotserstellung, die mit Hilfe des integrierten Konfigurationssystems verkürzt wird. Zudem entfällt die Zeit (und die Kosten) für Nachbesserungen am Produkt, da der Konfigurator von vornherein nur realisierbare Lösungen enthält. Allerdings sollte bedacht werden, dass ganz spezifische Kundenwünsche mit dem modularen Angebot eventuell nicht mehr erfüllt werden können. Es könnten also einige Kunden für das Unternehmen verloren gehen. Jedoch scheinen die Potenziale, die ein Mass-Customization-Konzept mit sich bringt, diese Verluste mehr als aufzuwiegen. 11 Linel: Mass Customization in der Wasseraufbereitungsbranche Bewertung des Mass-Customization-Ansatzes in der Wasser- und Abwasserbehandlungsbranche Die Einführung eines auf den Prinzipien der Mass Customization beruhenden Konzepts bietet ein großes Potenzial zur Kostensenkung. Erster wichtiger Ansatzpunkt ist die Komplexitätsreduktion in der Fertigung. Allen Anlagen muss eine Modulbauweise zugrunde gelegt werden. Dadurch können die hohen Rüstzeiten der bisherigen Einzelfertigung reduziert, Fertigungsprozesse wie das Drehen standardisiert und somit die effektive Auslastung der Maschinen erhöht werden. Die Produktionskapazität steigt, was die durchschnittlichen Stückkosten senkt. Zudem kann die Verwendung von modularisierten Gleichteilen (zum Beispiel Steuerungskästen) Verbundeffekte hervorrufen. Erfahrungs- und Lerneffekte führen ebenso zu einer Reduktion der Fertigungskosten. Auch im Einkauf ergeben sich Einsparungspotenziale. Durch die Modulbauweise werden größere Mengen eingekauft; die Einkaufspreise sinken grundsätzlich. Zudem werden die Logistikkosten verringert. Bei einer sinnvollen Konzentration auf möglichst wenige unterschiedliche Teile, sinken außerdem die Lagerkosten. Planung und Konstruktion müssen auch nicht mehr für Teile erfolgen, die nur einmalig verwendet werden können, sondern nur für die mehrfach verwendbaren Module. Der für eine Implementierung des Mass-Customization-Konzepts notwendige Konfigurator bedeutet zunächst eine Kostenerhöhung. Es entstehen einmalige Programmierkosten zu Beginn sowie laufende Kosten für die Wartung. Doch gerade durch den Konfigurationsprozess öffnen sich weitere wesentliche Kosteneinsparungspotenziale. Der Kunde stellt sich sein Angebot praktisch selbst zusammen, wodurch Vertriebskosten in erheblichem Maße eingespart werden. Durch eine kontinuierliche Auswertung der Konfigurationsdaten erhält Linel zu- 12 1982.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Profitmechanismus Linel: Mass Customization in der Wasseraufbereitungsbranche dem Informationen über bevorzugte Produktvarianten und kann sein Produkt- und Serviceangebot generell und im Hinblick auf den einzelnen Kunden dementsprechend weiterentwickeln. Intensive Kundenbeziehungen beeinflussen zudem das Weiterempfehlungs- sowie Wieder- und Zusatzkaufverhalten der Kunden. Außerdem können Marktforschungstests überflüssig werden, da viele Informationen mit Hilfe des Konfigurators und aufgrund der intensiven Kundenbeziehung gewonnen werden. So können zum Beispiel die typischen Konfigurationen der Kunden einer Region als Ausgangspunkt für eine standardisierte, aber genau passende Lösung für diese Region angeboten werden. Dies würde Linel ermöglichen, die Umsatzzahlen auch im Bereich der preiswerteren Lösungen effizient zu bedienen. 1982.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Die Stärken und Chancen des Konzepts liegen in den folgenden Aspekten: Als erster Mass Customizer der Branche würde die Linel GmbH über ein Alleinstellungsmerkmal verfügen und sich deutlich von der Konkurrenz abgrenzen. Der Bedarf an Anlagen zur Trinkwasseraufbereitung ist stark wachsend. Mit dem Mass-Customization-Angebot könnte sich Linel in neuen Marktsegmenten schnell und flexibel etablieren. Vor allem potenzielle Massenmärkte wie Meerwasserentsalzungsanlagen für Haushalte in süßwasserarmen Gebieten könnten durch eine Produktionssteigerung bei gleichzeitiger Kostensenkung besser bedient werden. Durch den Konfigurationsprozess erstellt sich der Kunde sein individuelles Produkt auf einfache Art und Weise. Auch das Risiko von Fehlinnovationen und langwierigen Nachbesserungsprozesse sinkt. Das Unternehmen ist attraktiver für Kunden, da Kosten und Zeit bis zur Auslieferung des individuellen Produktes sinken. Ein durchdachter Konfigurationsprozess hilft zudem, die Kosten der Kundeninteraktion zu senken. 13 Durch die Darstellung der verschiedenen Optionen wird den Kunden zudem die Leistungsfähigkeit des Anbieters besser bewusst, der Konfigurator dient gerade bei technisch anspruchsvollen Produkten wie denen von Linel nicht nur zur Konfiguration einer individuellen Leistung, sondern auch zur Darstellung des möglichen Lösungsraumes und der Kompetenz des Anbieters. Ein integriertes Customer Relationship Management Konzept von der Konfiguration bis zur Nachkaufbetreuung hat positive Auswirkungen auf die Zufriedenheit des Kunden und damit auf dessen Folge- und Zusatzkäufe sowie positive Weiterempfehlungen. Damit steigt letztendlich der Profit des Unternehmens. Die Einführung des Mass-Customization-Programms »zwingt« den Anbieter, die bestehenden Produktstrukturen zu überdenken und vorhandene Spezialteile und Sonderanfertigungen auf Gleichteile und standardisierte Module zu überprüfen. Diese Aufgabe verursacht zwar einmalig größere Kosten und Umstellungsaufwand, ist aber langfristig die zentrale Ausgangslage für eine effiziente Kostenposition. Durch die Modularisierung der Anlagenkomponenten sowie den Einsatz von CIM-Programmen und Rapid Manufacturing werden Größen- und Verbundvorteile erzielt. Die Abkehr von Losgröße eins in der Fertigung (Maßfertigung) ermöglicht eine bessere Auslastung der Maschinen sowie die Verkürzung von Rüstzeiten. Hierdurch entstehen Kosteneinsparungen im Vergleich zur Konkurrenz. F&E-Kosten können durch die Einbeziehung des Kunden reduziert werden. Basierend auf regelmäßigen Auswertungen der Kundenkonfigurationen wird das Angebot in Hinblick auf die Kundenbedürfnisse optimiert. 14 1982.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Linel: Mass Customization in der Wasseraufbereitungsbranche Linel: Mass Customization in der Wasseraufbereitungsbranche Als Gefahren für Linel sind die folgenden Punkte zu nennen: 1982.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Das Konzept muss grundlegend durchdacht und neu eingeführt werden, es gibt keinen Vorreiter. Damit ist großer Implementierungsaufwand zu erwarten. Es ist mit erheblichen Widerständen im Unternehmen selbst zu rechnen, da viele der klassischerweise im einzelkundenbezogenen Projektgeschäft tätigen Mitarbeiter und Entwickler vollkommen umdenken müssen. Ihre Aufgabe ist nicht mehr die Konkretisierung einer einzelkundenbezogenen Lösung, sondern vielmehr die langfristige Optimierung der Optionen, der Produktarchitekturen und des Konfigurationswerkzeugs. Der Konfigurationsprozess könnte für den Kunden ungewohnt sein. Kunden könnten ablehnend reagieren, da ihnen die Vorteile nicht sofort ersichtlich werden oder weil sie auf die persönliche Beratung durch den Verkäufer nicht verzichten möchten. Das Mass-Customization-Angebot besitzt Grenzen. Besonders ausgefallene Kundenwünsche können eventuell nicht mehr befriedigt werden. Durch die zu Beginn anfallenden Investitionen in Informationsund Kommunikationstechnologien, zum Beispiel den Konfigurator, sowie die Kosten der Umstrukturierung des Fertigungsablaufs entsteht das Risiko, aus dem hart umkämpften Markt gedrängt zu werden, sollte sich der Erfolg nicht sofort einstellen. Ausblick Wasser wird in Zukunft noch wertvoller und knapper werden. Immer neue Gesetze zwingen Unternehmen, Haushalte und Gemeinden, ihr Abwasser umweltgerecht zu entsorgen und gegebenenfalls wieder zu verwenden. Der Bedarf nach Lösungen zur Bewältigung des Problems der Wasserknappheit steht erst am Anfang, der Markt befindet sich im Wachstum. Die Realisierung eines Mass-Customization-Konzepts er- 15 Linel: Mass Customization in der Wasseraufbereitungsbranche öffnet die Chance, sich grundlegend von der Konkurrenz abzuheben. Die anfänglichen Investitionen könnten sich rasch amortisieren. Das Bedürfnis nach individuellen Lösungen auf Seite der Kunden wird dabei weiterhin befriedigt, jedoch sind Kosten und damit Preise niedriger, weshalb dieses Konzept sowohl Anbietern als auch Abnehmern entscheidende Vorteile bringt. Michael Erspamer studiert nach Aufenthalten an der TU Graz und der Uni Innsbruck seit Oktober 2002 Technologie- und Managementorientierte Betriebswirtschaftslehre an der Technischen Universität München. Neben dem Studium konnte er während zahlreicher Praktika und bei der Mitarbeit am studentischen Fahrzeugbau-Projekt »TUfast« erste praktische Erfahrungen sammeln. Mit Mass Customization beschäftigte er sich u.a. während eines Seminars am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre – Information, Organisation und Management an der TU München. Kontakt: [email protected]. Literatur [1] http://www.offenbach.de/stepone/data/pdf/e7/01/00/Vollst ProzentE4ndiger Prozent20 Umweltbericht Prozent20Wasser Prozent20im Prozent20pdf Prozent20Format [2] http://www.ifat.de/index.php?id=19020&pagepart=list&pge=2&fair=99&key=2.2.13&level =3&PHPSESSID=52d463423b6a63ed6c195aedcece2dc8 [3] Ergebnisse einer Befragung der Geschäftsleitung der Linel GmbH [4]Schlemper, Dirk / Vossenkaul, Klaus (2003): Spaghetti im Klärwerk, Umwelt Magazin 09/2003, S. 46 16 1982.01.01 – © Symposion Publishing 2006 Melanie Müller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre – Information, Organisation und Management an der TU München. Innerhalb der Research Group »Customer-driven Value Creation« befasst sie sich vorwiegend mit der Kundeninteraktion bei Mass Customization und Open Innovation. Sie unterrichtet außerdem an der TUM Business School in den Bereichen Mass Customization und Open Innovation sowie Organisation, Führung und Strategie. Melanie Müller studierte Betriebswirtschaftslehre an der Ludwig Maximilians Universität München und der University of California Los Angeles. Zusätzlich absolvierte sie ein zweijähriges Zusatzstudium und erwarb ein Certificate in Technology Management am Center for Digital Technology and Management (CDTM). Praktische Erfahrung sammelt sie u.a. bei DaimlerChrysler, Steppenwolf, BMW und der DZ BANK AG. Kontakt: [email protected].