80 Da ist schon wieder dieser Rolando Villazón. Das ist doch die
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80 Da ist schon wieder dieser Rolando Villazón. Das ist doch die
4. Da ist schon wieder dieser Rolando Villazón. Das ist doch die reinste Folter, dem zuzusehen. Wie er spricht. Wie er singt. Wie er lacht. Ein paar Sekunden und ich bin verzaubert. Und das, obwohl er ja im Prinzip ein ziemlich hässlicher Kerl ist. Er erzählt, die Musik wäre das Refugium seiner Jugend gewesen, sein geheimer Ort. Ich kenne diesen Ort. Deine Existenz löst sich darin, alle Zeit ist eliminiert. Er bedeutet die totale Präsenz. Bei mir hat dieser Ort aufgehört. Irgendwann kam er nicht mehr zu mir oder ich konnte ihn nicht mehr finden. Vielleicht hatte ich auch den Schlüssel verloren oder ihn aus Versehen in den Müll geworfen. Ich kann es kaum ertragen, Villazón dabei zuzusehen, wie er diesen Ort auf der Bühne zelebriert. Dabei lacht er, wie ein kleiner Junge, der eben zum ersten Mal entdeckt hat, dass er am Leben ist. Das Geheimnis: Es ist ein Spiel - das Größte, was das Leben zu bieten hat. Villazón ist ein Genie. Er löst nicht nur sich selbst an diesem Ort. Er löst alle Verhältnisse. All die ernsten Prothesen des Mensch-Seins werden entzaubert im Angesicht des Menschen. Aber wie hält er das aus? All die ernsten Männer, all die Frauen, die sich von den Männern kaum mehr unterscheiden lassen – all die Blicke, all die Blitze! Gerät er niemals in ein Denken, das unweigerlich alles fortreißen muss? Stürzt er nie in den profanen Ernst des Wirklichen? 80 Nein, er stürzt niemals. Selbst durch die knisternden Röhren meines alten Fernsehapparates kann ich spüren, wie die Welt den Atem anhält, all unsere strengen Ordnungen in sich zusammenfallen und alles für einen unendlichen, magischen Moment ganz sinnlos wird. Ein Schauer läuft über meinen Rücken. Ich halte das nicht aus. Da brauche ich mir nichts vormachen. Zwei fettleibige Teenager stehen in der Küche und blicken mit leeren Fischaugen die Wand an. Den Profi-Küchenchef sehen sie lieber nicht an. Der ProfiKüchenchef ist nämlich sehr böse über den zerbrochenen Teller. So geht das nicht weiter. In drei Tagen wird ein neues Lokal eröffnet und die Teenager verhalten sich höchst unprofessionell. Eines der Mädchen sagt: „Ich bin so fett und deswegen bekomme ich keine Arbeit und deswegen bin ich so fett, weil ich mir den Eintritt ins Fitnessstudio nicht leisten kann!“ Der Profi-Küchenchef sagt: „Du bekommst eine Chance, weil jeder soll eine faire Chance bekommen in diesem Land, dafür stehe ich mit meinem Namen!“ Da sind die Mädchen ganz selig. So lieb war noch nie jemand zu ihnen. Sie kommen aus einem schlechten Elternhaus. Der Vater ist Alkoholiker und ein übler Schlägertyp. Die Mutter hat nie für sie gekocht. Sie sieht lieber den ganzen Tag fern und schreibt Liebesbriefe an Oliver Geissen. „Ab heute gehen wir jeden Tag joggen und essen nur mehr Gemüse!“, sagen die Teenager. „So ist es gut!“, sagt der Profi-Küchenchef. Ich fühle mich langsam wieder etwas besser, nachdem 81 ich mir neben Villazón wie der erbärmlichste und einsamste Idiot auf der ganzen Welt vorgekommen bin. Ein Werbespot für ein Gulasch-Basispulver. Ich denke, das ist doch blanker Zynismus, dass sie in der Werbung immer eine Familie zeigen, die dann die Mutter für ihre Kochkünste lobt. Was soll der Scheiß? – Das Zeug hätte doch auch wirklich seine Stärken: kostet so gut wie nichts und kann von jedem Idioten problemlos zubereitet werden – dafür schmeckt es halt wie Pappmaschee. Wo kommen wir denn da hin, wenn das jetzt neuerdings als Kochen durchgeht? Das ist doch das eigentliche Problem: was mittlerweile alles als Denken, Leben, Freiheit, Liebe und, als Symptom dieser ganzen Krankheit der Prothesen, was mittlerweile als Kochen durchgeht. „Tolle Idee, Mama!“ – Der nächste, der mir so was auftischt, dem hau ich’s umgehend in die Fresse. Villazón wartet jetzt hinterm Vorhang auf seinen Auftritt und macht noch Scherze mit irgendeinem Bühnenassi. Beide lachen. Beide wirken absolut natürlich. Ich seziere alles bis in die einzelnen, lichtweißen Atome, doch ich kann keinen Fehler finden. Das einzige, was hier nicht stimmt, ist meine eigene Missgunst. Mit einem Mal fühle ich mich schrecklich müde. Als ich sechzehn war, hatte ich Angst, ich würde nie ein Mädchen finden. Vor allem hatte ich Angst, ich würde nie ficken. Jedes Mal, wenn ich zwei miteinander sah, wurde mir übel. Mein Körper begann sich zu wehren. Bleierne Hände legten sich über meine schwachen Lider. Jede Zelle sträubte sich gegen das Glück der anderen. Ich will das nicht sehen. 82 Ich taumelte. Ich fiel. Ich wandte mich ganz ab, bis ich nur mehr von Dunkelheit umgeben war. Dann lernte ich Lena kennen. Schnell wende ich mich wieder dem Fernseher zu, um mich im bunten Flimmer zu verlieren. Eine kleine, pummelige Frisöse, wird von einem tuntigen Latino in Stöckelschuhen umgestylt. Er sagt: „Du sollst so bleiben wie du bist, aber ganz anders aussehen. Nicht mehr so hässlich, sondern ein bisschen weniger hässlich.“ Das Mädchen stammelt in die Kamera: „An sich bin ich eh eine echte Persönlichkeit, aber jetzt lerne ich, wie ich das auch ausdrücken kann. Vielleicht kann ich jetzt auch mit Martin aus dem Büro einmal ins Kino gehen. Das Shopping mit Carlos war echt der Hammer!“ In einem engen, röhrenartigen Gebilde kriecht ein Mann mit Taucherbrille durch den Schlamm. Ein Loop aus panischen Schreien und Waffenlärm hallt durch die Luft. Es dröhnt wie im Krieg. Über dem Mann öffnet sich nun eine Schleuse aus der tausende schleimbraune Schaben auf ihn herabfallen, die panisch über seinen nackten Körper hinwegwuseln. Sein Gesicht ist zu einer hässlichen Fratze verzerrt, als er verzweifelt versucht, die Tiere abzuschütteln. Ich stelle mir vor, dass es sich so anfühlt, vergewaltigt zu werden. Nur, dass der Trottel da freiwillig mitmacht. Aber ist das nicht eigentlich noch schlimmer? Was bleibt dann noch, wenn man sich nicht einmal mehr zum Opfer erklären kann? 83 Wenn es keinen Spaß macht, machst du etwas falsch. Ich blicke auf die Uhr – eine Stunde noch – und zünde mir eine an. Der Mann windet sich vergeblich hin und her, um sich die Insekten vom Leib zu halten, während er weiter durch die Röhre nach vorne robbt. Ohne dabei anzuhalten, kotzt er jetzt etwas dunkelgelbe Flüssigkeit aus, die sich in dicken Schlieren über sein Gesicht verteilt. Am unteren Bildschirmrand werden jetzt ein Name und eine Telefonnummer eingeblendet, daneben ist ein Portrait von ihm zu sehen: Frank Spreiler: 0900/66554433221 – 08 Auf dem Bild lächelt Frank. Meine Mutter hat mir oft erzählt, dass früher beim Fotografen immer alle ernst schauen mussten und wie furchtbar das gewesen wäre. Heute hat sich das verkehrt. Man muss nur nach einem mäßigen, oder am besten einem schlicht beschissenen Abend im Internet nach Fotos suchen – wieso lachen darauf plötzlich alle? Es war ja doch eigentlich scheiße! Da war doch niemand, der gelacht hat! Ist das zum Lachen – fotografiert werden? Früher war es eine Konvention, heute diktiert uns die Angst, man könnte denken, mit uns sei etwas nicht in Ordnung, die Pose. Immer wieder zeigen wir uns glücklich und sind es doch nicht. Ich hasse die Fotos. Ich hasse, wie die Menschen darauf aussehen. Ich werde ein Album anlegen. Jeden Tag ein neues Bild. Mein Blick leer oder hinter einem stillen Schleier aus Tränen. Darin werde ich mich erkennen. Jetzt geht in der Röhre auch noch das Licht aus. 84 Kurz darauf beginnt es wild zu blitzen, bis endlich ein grelles Stroboskop unter dumpfen, wüsten Paukenschlägen die Szene in lichtschnelle, isolierte Bilder schneidet. Dann kommt der Oberhammer – das Kriegsgetöse verstummt und eine Tatü-Tata-Sirene wird eingespielt, während am unteren Bildrand ein giftgrüner Countdown von der Zehn auf die Null läuft. Und dann, während von oben tausende pelzige Spinnen auf Frank niederprasseln, wird doch tatsächlich das beknackte I will survive eingespielt, während unten auf dem Bildschirm ein grellrot blinkender Button erscheint: „Endspurt!“. Die Furcht, oder was immer da vorher noch hastig in Franks Augen aufflackerte, muss jetzt dem Nichts weichen. Ein letztes Mal sehe ich es in seinen Augen leuchten, bevor alles in kalte Asche erstarrt und sein Körper als fremde Maschine weiter durch den Schmutz robbt. Als sich jetzt erneut eine Schleuse öffnet, aus der einige monströse, grellgrüne Schlangen auf ihn herabfallen, versucht er nicht einmal mehr, sie abzuschütteln, sondern kriecht einfach immer weiter dem Ende zu. Ich bin gar nicht hier. Ich schalte ab und zünde mir eine Zigarette an. Vielleicht wird Frank irgendwann einmal sogar stolz darauf sein, dass er so heldenhaft den Tunnel durchquert hat. Von der Arbeitsmoral her war das freilich eine Spitzenleistung. Ich nehme einen tiefen Zug und blicke in den Spiegel. Unverwandt blickt mein Spiegelbild auf mich zurück. Je länger ich hinsehe, desto leerer werde ich. 85 Bis am Ende nur mehr eine bloße Hülle zurück bleibt. Das ist meine Krankheit. Eine ähnliche Krankheit befällt die Wörter, wenn wir sie uns ganz oft hintereinander aufsagen. Irgendwann spüren wir, wie sie sich in bloße Hüllen zurückverwandeln. Sie verlieren dann ihre eigentliche Bedeutung und es bleibt nichts, als eine scheinbar völlig sinnlose Aneinanderreihung von Lauten. Als ich vor ein paar Jahren beim Friseur war, ist zum ersten Mal dasselbe mit meinem Spiegelbild passiert. … Fünf Minuten Ich sehe in den Spiegel, während Cem meine Haare schneidet. Das bin ich, zweifellos. Derselbe beknackte Typ wie immer. Sonst wurde ich immer ganz milde mit mir, wenn ich mich so lange ansah. Endlich dachte ich immer irgendwas wie: schon ok. Bis an diesen Tag. Zehn Minuten Ein Oszillieren zwischen den Welten. Immer wieder fährt die Leere blitzhaft in meinen Körper, um mich zu vertreiben. Zwanzig Minuten Ich bin verschwunden. Ich sehe mein Spiegelbild und sehe nichts als eine sinnlose, fremde Hülle. Ein abstraktes Bild, mir unverwandt; Formen und Farben, die mir nichts sagen, die nichts mit mir zu tun haben. Totale Leere. … Das war das Ende. Von da an breitete es sich immer mehr aus. Ich konnte nichts dagegen machen. Schließlich 86 begann die Leere auch mein Gehör zu verschlingen und endlich war sie auch da, wenn ich spielte. Die Töne wurden Geräusche wurden Hüllen. Alles war mit einem Mal sinnlos. Mein geheimer Ort war verloren. Da höre ich hinter mir die Tür gehen, die ich offenbar vergessen habe abzusperren. Noch bevor ich etwas sagen kann, hat sich Heinz auch schon in voller Pracht vor mir aufgebaut. Sein Bauchspeck wirft wie ein monströses Seeungeheuer einen großen, unentrinnbaren Schatten über mich. Von seinem Schnurrbart tropft seine Stimme wie Altöl auf mich herab. „Du Jürgen, spiele is – jes sin de Gäst kommen. Spiele, die warden schoun.“ „Mensch Heinz, ich hab Pause, ich meine, das geht echt nicht.“ „Und wie da geht. Ich mein, in den Job muss du flexibel sein, da is so!“ „Ach Heinz, jetzt komm mal nicht so. Ich meine, vorher jagst du mich in die leere Bar und jetzt das. Entscheid dich mal. Ich mach jetzt jedenfalls Pause. Müssen die Leute halt warten.“ „Du, ich ruf ein Ersadz, ich mein, spiel wer andas, mir is da schnurz. Ich sach dia, du rauchs jes schnell aus und dann gehs nach oubm!“ „Scheiße, Heinz!“ Ich ziehe ein letztes Mal hektisch an meiner Zigarette, dämpfe sie aus, erhebe mich und folge Heinz wie ein trotziges Kind nach oben. In der Bar befinden sich gerade mal fünf Leute – Stefan mitgezählt. Bei ihm stehen zwei fettärschige, fantatrinkende Asiatinnen in McDonald’s-Jeans, die natürlich beide so hässliche 87 Schlapphüte tragen und denen freilich auch jeweils ein riesiger Fotoapparat wie eine Kuhglocke um den Hals baumelt. Daneben lehnen zwei Amis mit beknackten Texanerhüten und Schnauzbärten am Tresen und trinken Bier. Heinz folgt mir wie immer bis an meinen Platz. „Du, Jürgn, Blue Moon will ich hörn, Blue Moon! Blue Moon jes!“ „Jaja, ich mach ja schon.“ Heinz gibt endlich Ruhe und stapft stolz nach vorne an die Bar, um sich ein Bier zu holen. Ich beginne die erste Strophe. Ich spüre, dass ich Blue Moon mittlerweile fast genau so sehr hasse wie Heinz. Er hat den Song für mich gekillt. Für immer. Es ist ja klarerweise nicht das, was dich an dein Spiel bindet: dass du im physikalischen Sinn der Urheber bist; dass du die Knöpfe drückst oder die Saiten zupfst oder was auch immer. Jeder Idiot könnte die technischen Fähigkeiten erwerben, die nötig sind, um die richtigen Knöpfe zu drücken. Die Wirkung wird trotzdem immer eine andere sein. Die Töne sind nicht wie die Wörter, die immer mit der gleichen Bedeutung geladen sind. Ihre Bedeutung entspringt einer sprachlosen Sphäre: Präsenz. Sie müssen jedes Mal aufs Neue geladen werden. Die Töne sind absolut unverlässlich und doch, in den guten Momenten, sind sie tausendmal exakter, als es die Sprache je sein kann. Sie sagen: Ich. Spielen: wenn dein Ich die Welt erfüllt. Und ich denke mir das aus, während ich am Flügel sitze! Jetzt kommt Heinz wieder auf mich zu. Wie ein altes, schwermütiges Dampfschiff, das sich durchs Eis 88 kämpfen muss, durch Zonen, für die es nicht gebaut worden ist. Heinz sieht eigentlich ziemlich alt aus, denke ich. „So gfallst ma schoun besser, Jürgen! – Bist ja eh n Gudda, wennsd ma machsd.“ Ich habe keine Ahnung, was ich darauf sagen soll. Ich sage also einfach mal gar nichts und spiele weiter. Heinz bleibt direkt über mir stehen und tut so, als ginge er right into it – damit die Gäste erkennen können, dass er nicht nur saufen und herumbrüllen kann, sondern auch ein sehr feines Gespür für Musik hat. Jetzt schließt er doch tatsächlich die Augen und tut so, als würde er mich dirigieren. Ganz verloren schunkelt er hin und her. Das sieht aus, als wäre das Heinz-Schiff in Seenot geraten. Irgendwie schäme ich mich für ihn. Und abgesehen davon, dass er aussieht wie der Vollidiot, der er ja auch wirklich ist, kann doch jeder hören, dass das nichts ist. Ist doch idiotisch, einzustimmen in mein Blue Moon: ein leeres Geräusch. Naja, lang hält Heinz das sowieso nicht durch. Ich spiele noch eine Strophe, dann geht er wieder zurück und bestellt sich das nächste Bier. Die Japanerinnen fotografieren sich gerade gegenseitig mit Elvis auf der Jukebox, während die Schnauzbärte an der Bar hängen wie die Rindviecher in der Mittagssonne und ein Bier nach dem anderen trinken. Bis hierher kann ich sehen, wie sie Stefan beim lächerlichen Versuch in der hiesigen Landessprache zu bestellen, ins Gesicht spucken: „Nok eine Ho-i-beh, abör prrontoe.“ Stefan zuckt bloß die Schultern und beginnt einzuschenken. Ihm doch egal. Ich denke, es ist doch so, dass 89 sich nur noch die Idioten wirklich gut fühlen können. … Einmal hab ich in der Küche einer Fliege beim Sterben zugesehen. Wie zufällig war mein Blick auf ihr gelandet und nun konnte ich ihn nicht mehr abwenden, wie von einem unsichtbaren Magneten war er an das sterbende Tier gebunden. Immer wieder brauste sie verzweifelt auf. Immer wieder versuchte sie, die Flügel zu schlagen und wurde davon doch nur schwächer und schwächer. Der ganze Kampf steuerte unweigerlich auf ihren Tod zu, war von Anfang an niemals einer um den Ausgang der Sache, sondern bloß um den Zeitpunkt seines Eintretens. Die Fliege zu erschlagen brachte ich trotzdem nicht fertig. Mehrere Stunden saß ich einfach nur da, bis sie endlich tot war. … Ich schaue auf zu Heinz’ beknackter Original-FloridaUhr. Die Zeiger bewegen sich und kommen doch nicht von der Stelle. Das ist echt unerträglich. Ich will endlich vor den Fernseher, auf Standby. Das ist doch immer noch das Beste, auf der Couch liegen und sagen können: Heute nicht mehr. Denken können: Klar, du könntest im Prinzip alles machen, könntest zum Beispiel von hier aus zu Fuß ans Meer gehen und einfach davonschwimmen und dann ist alles anders oder an schlechteren Tagen, du könntest dir ein Schießgewehr kaufen und alle umbringen oder an anderen Tagen wieder, du könntest doch wieder anfangen, auf dem Flügel zu üben, vielleicht passiert was, vielleicht nicht, schlimmer kann es ja wohl ganz sicher nicht werden oder du könntest dir einen Flug buchen nach Hongkong und dann um 90 dein letztes Geld bei Chang die besten Nudeln der Welt essen und dann wird schon irgendetwas passieren oder du könntest doch einfach mal in den falschen Bus steigen für den Anfang. So treibst du nur dahin, wie ein Stück Holz auf einem trägen grauen Fluss, wartest darauf, irgendwo hängen zu bleiben. Aber heute nicht mehr. Es war ein langer, beschissener Tag, da kann man dann halt nichts mehr machen. Das ist die Zeit, in der du alles ganz unverbindlich durchspielen kannst. Die Möglichkeiten sind milde, weil du leer und erschöpft bist. Für heute seid ihr Freunde. Siehst euch gemeinsam in die Zukunft tanzen, wie im Traum. Morgen wachst du auf. All die Möglichkeiten: Ein grandioser Vorwurf. Die Zeiger auf der Uhr fahren immer wieder dieselbe Runde. Ich fühle meine Glieder unheimlich schwer werden, als hielten mich unsichtbare Hände in ihrem bleiernen Griff gefangen, sehe dabei meine fremden Finger die alten, abgegriffenen Wege über die Tastatur gehen. Alles tönt plötzlich wie von unglaublich fern, als hätte es jemand in eine weiche, zarte Watte getaucht. Die Hände legen jetzt einen düster flimmernden Schleier über meinen müden Blick und dahinter sehe ich fremdartige Bilder, die ich kaum noch voneinander unterscheiden kann; als einer der Texaner sein Glas umstößt, kann ich, noch während es birst, einen Augenblick lang die einzelnen Scherben ausmachen, die als blank funkelnde Formation in der Luft gefrieren; auch die Flüssigkeit schwebt für einen unfasslichen Moment als bizarre, dunkelgelbe Wolkenbildung über dem Boden. Immer weiter ticken die Zeiger und rühren sich doch nicht 91 von der Stelle, immer weiter gehen meine Hände übers Klavier, während ich sie hinter dem dunkelschwarzen Vibrieren besehe, als wären sie zwei seltsame Tiere aus einer fremden Welt. Erstaunlich sanft löst sich alles in einzelne, wild zuckende Bilder, bis mein Blick sich in ein atemloses, chaotisch wirbelndes Grau verliert. Der Traum eines Fremden. Ich flüchte. Ich bin gar nicht hier. 92