Reisereportage 1 - Michaela Doepke
Transcrição
Reisereportage 1 - Michaela Doepke
INDIEN-Special Auf den Spuren des Dalai Lama Text und Fotos: Michaela Doepke Reise ins Tal der Götter Auf den Spuren des Dalai Lama durch den Himalaja Zwei Wochen lang folgen wir, eine sechsköpfige Reisegruppe aus Deutschland, unter Leitung von Inka Jochum den Spuren S. H. des XIV. Dalai Lama. Die abenteuerliche Seminarreise nach Nordindien und in den Himalaja beschenkt uns mit überwältigenden Reiseeindrücken, vielen Begegnungen und Belehrungen durch den Dalai Lama, Interviews mit ihm, seiner Schwester Jetsun Pema sowie einem tibetischen Minister. 12 BUDDHISMUS aktuell 1 | 11 V on Anfang an steht unsere Reise unter einem guten Stern. Vor dem Abflug, aber auch während und nach der Reise erschrecken uns ständig neue Meldungen von Umweltkatastrophen und Überschwemmungen im nahen Pakistan, Ladakh und in der Stadt Leh mit Tausenden von Toten. Doch wohin wir dem Dalai Lama auch folgen, es scheint die Sonne. Von Tibetern und Buddhisten auf der ganzen Welt wird Seine Heiligkeit der XIV. Dalai Lama als Verkörperung von Avalokiteshvara oder Chenresig, dem Bodhisattva des Mitgefühls und Nationalgottheit Tibets, verehrt. Menschen Auf den Spuren des Dalai Lama INDIEN-Special aus allen Ländern der Erde scheuen weder die weite Anreise noch Kosten und Mühen, um zu seinen Belehrungen zu reisen, selbst wenn sie, wie in unserem Fall, auf über 3 000 Metern im Himalaja stattfinden. Wir fliegen ab München und landen nach knapp sieben Stunden in Delhi. Wir, das sind: Inka, unser HoneymoonPärchen Andi und Bea, Karl, seine Tochter Stefanie, Dunja und ich. Es ist Monsunzeit. Die Hauptstadt Indiens empfängt uns mit feuchtwarmer Hitze. Die diesige Stadt kommt uns vor wie eine einzige Baustelle. Delhi, das „Tor nach Indien“, ist mit über 17 Millionen Einwohnern eine der größten Städte der Welt. Außer Inka sind wir alle das erste Mal hier und gewöhnen uns nur mühsam an den chaotischen Straßenverkehr. Der funktioniert nach dem Fischschwarmprinzip, es wird ununterbrochen gehupt und der Stärkste hat Vorfahrt – ein kleiner Vorgeschmack auf Indien. Doch wir sind guter Laune und sehr motiviert von unserem Wunsch, den Dalai Lama persönlich zu treffen und die lebendige buddhistische Kultur der Tibeter an der Quelle zu erleben. Wir sind froh, Inka Jochum als kundige Reiseleiterin dabei zu haben. Seit über zwei Jahrzehnten bereist sie nun den indischen Kontinent und organisiert Semi- Hotelportier empfängt uns mit „Namaste“ narreisen zu Orten der Kraft. Sie ist eine „alte Freundin“ des Dalai Lama – so hat er sie in meiner Anwesenheit bezeichnet – und holte ihn bereits 1985 zum ersten Kongress nach Deutschland. Gleichzeitig ist sie Gründerin und Vorstandsmitglied des Vereins DANA, der Gesellschaft zur Erhaltung tibetischer Kultur und Medizin mit Sitz in München. Außerdem unterrichtet sie seit über 40 Jahren Atemtherapie, Yoga, Qigong und Meditation. Ihre Lebenserfahrung merkt man ihr an, nicht aber ihr Alter: Was die Vitalität angeht, steckt sie uns alle in die Tasche. Durch ihre feurige Vulkanenergie bringt Inka mit blitzenden Augen und lauter Stimme überall Erwachsene und Kinder zum Lachen und verteilt Bonbons, wohin sie kommt. Nicht ohne Grund hat ihr Lehrer Lati Rinpoche einmal zu ihr gesagt: „Erhalte dir deinen guten Humor!“ Manchmal wird sie Inoffizieller Empfang des Dalai Lama im Kloster von Alpho Rinpoche in Vahist unter Leitung von Sey Rinpoche auch für ihre resolute Vajrapani-Kraft gefürchtet, die uns allerdings im Umgang mit Taxifahrern, Hotelpersonal und Security noch oft zugute kommen sollte. Ausgestattet mit all diesen Fähigkeiten ist sie mir eine große unkonventionelle Lehrerin auf dieser einmaligen Entdeckungsreise, die für uns alle nicht nur eine äußere, sondern auch eine innere Reise werden soll. Teatime mit einem tibetischen Minister Nach dem Einchecken in unserem Hotel und drei Stunden Schlaf springen wir zur Erfrischung kurz in den von Palmen gesäumten Swimmingpool. Doch Ausruhen ist auf dieser Reise nicht angesagt, denn schon heißt es: Abfahrt zum Tee mit einem tibetischen Minister im Imperial Hotel. Das Imperial ist ein sehr luxuriöses Grandhotel in der City von Neu-Delhi, eingerichtet im viktorianischen Kolonial- und Art-Déco-Stil. Der in edlem Weiß livrierte Portier mit Turban empfängt uns, wie überall in Indien üblich, mit einem „Namaste“ (auf Deutsch: „Ich grüße das Göttliche in dir“). Das Treffen mit Tempa Tsering, einem von acht Ministern der tibetischen Exilregierung in Indien, gestaltet sich Große Aufregung im Kloster von Kais nahe Manali: Der Abt Dhakpo Rinpoche (Mitte) bereitet den ehrenvollen Empfang für den Dalai Lama vor. BUDDHISMUS aktuell 1 | 11 13 INDIEN-Special Auf den Spuren des Dalai Lama Jung und Alt freut sich über die Ankunft des Dalai Lama: Tibetische Mönche aus den buddhistischen Klöstern im indischen Exil Unten: Wohnen bei der Nichte des Dalai Lama Chuki Mahant (r.) Rechte Seite: Eine Woche lang folgen wir dem Dalai Lama auf teils unwegsamen Straßen quer durch den Himalaja, um an seinen Belehrungen teilzunehmen. erstaunlich unkompliziert und locker im Plauderton. Er ist für den Distrikt Neu-Delhi zuständig und unterhält dort sein Büro. Noch am Vortag ist er mit dem Dalai Lama zusammen gewesen. Der Minister erklärt, dass Seine Heiligkeit nur noch spirituelle Autorität hat, seit auf seinen Wunsch hin die demokratische Exilregierung eingesetzt wurde. Es ist jetzt 51 Jahre her, dass der Dalai Lama und viele seiner Landsleute vor dem Völkermord durch die Chinesen nach Indien geflohen sind und seither dort im Exil leben, überwiegend in Dharamsala. Indien ist den Tibetern heute zu einer zweiten Heimat geworden. Tempa Tsering hat für sein Gastgeberland nur gute Worte. Nach seiner Auskunft leben derzeit rund sechs Millionen Tibeter in Tibet und 140 000 im Exil, davon allein 100 000 in Indien (siehe Interview S. 23). Nach einem herzlichen Abschied decken wir uns im nahen Geschäftszentrum mit farbigen Seidenstoffen, Saris, Ohrringen und Tüchern ein. Todmüde fallen wir abends ins Bett. Bei einem so dichten Programm fällt es mir zunehmend schwer, meine tägliche Meditation einzuhalten. Schon um 3.15 Uhr am 14 BUDDHISMUS aktuell 1 | 11 nächsten Morgen heißt es wieder aufstehen, denn wir fliegen zeitig mit der indischen Airline Kingfisher nach Kullu, ins Tal der Götter. Im Flugzeug gibt uns ein Australier die Information, dass die Belehrungen S. H. in Jispa wegen schlechten Wetters und Überschwemmungen abgesagt werden sollen. Doch vorerst lassen wir uns nicht aus der Ruhe bringen, auch wenn wir bereit sein müssen, ständig umzudisponieren. In Kullu empfängt uns blauer Himmel und strahlendes Sonnenwetter und wir sind voll Zuversicht. Bei der Nichte des Dalai Lama Wir freuen uns auf einige vermeintliche Ruhetage in Manali. Der auf 2 050 Metern gelegene und überwiegend von Hindus bewohnte Ort ist bei Indern, Tibetern, Hippies (bekannt für Haschischanbau) und Bergsteigern aus aller Welt beliebt – für Flitterwochen, zum Relaxen und als Ausgangsbasis für Trekkingtouren. Wir wohnen sehr exklusiv in den Retreat Cottages von Raj und Chuki Mahant, der Nichte des Dalai Lama und Freundin von Inka. „Chuki“, wie alle sie hier rufen, ist die Tochter von Lobang Samten, dem älteren, verstorbenen Bruder des Dalai Lama und der Schwester von Drikung Rinpoche. Ihre edle Abstammung spiegelt sich in jeder Geste. Sie verwöhnt uns mit hervorragendem Essen, komfortablen großen Zimmern und berät uns geduldig und einfühlsam bei allen Fragen. Wir genießen den Blick aus unseren großen Fenstern auf den Himalaja und üben im Garten mit Inka Qigong, reinigen als Vorbereitung auf die kommenden Tage Körper, Rede und Geist. Nachmittags fahren wir mit zwei „Toyota Innova“-Jeeps zum idyllisch gelegenen, heute als Museum genutzten Haus des spirituellen russischen Malers Nicolas Roerich, der dort eine Friedensuniversität gründen wollte. Unterwegs bezaubert uns die wunderschöne Land- Auf den Spuren des Dalai Lama INDIEN-Special schaft mit grünem Mischwald, tiefen Schluchten, Wildwassern und Apfelplantagen, soweit das Auge reicht. Äpfel sind in dieser Gegend neben Kiwis, Oliven und getrockneten Pflaumen die Haupteinnahmequelle der Bevölkerung. Beim Mittagessen im Königsschloss von Naggar überwältigt uns der atemberaubend schöne Weitblick. Am nächsten Tag stehen noch Besuche in einem Hindutempel mit heiligen Quellen sowie im Nationalpark an. Doch damit endet unser Ausflugsprogramm, und wir bereiten uns innerlich, das Mantra Om Mani Padme Hum auf den Lippen, auf die Begegnung mit dem Dalai Lama vor. Empfang des Dalai Lama im Kloster von Kais Am nächsten Tag fahren wir zur Begrüßung und Ankunft des Dalai Lama die Bergstraße hinauf zum nahen Kloster Dhakpo Shedrupling in Kais. Viele Tibeter und Tibeterinnen sind in Tracht und feinsten Roben gekommen und säumen die Straße zum Empfang, ehrfürchtig gebeugt mit Kataks (Begrüßungsschals) über den Händen, um wenigstens einen kurzen Blick auf S. H. zu erhaschen. Über Kontakte Inkas und Chukis erhalten wir überraschend als „special guests“ Einlass ins Kloster. Welch eine kostbare Gelegenheit, in dieser spirituellen Atmosphäre gemeinsam mit tibetischen Mönchen und Nonnen den Belehrungen des Dalai Lama in Asien zu lauschen! Wir nehmen in Meditationshaltung hinter den Schülern des Abtes Dhagkpo Rinpoche Platz. Das Kloster der Gelugpa-Tradition ist überreich geschmückt mit Thangkas und Buddhas. Der Dalai Lama besteigt den goldenen Thron, und zum ersten Mal wohne ich nun einer rituellen Mönchsdebatte über das Thema Selbstlosigkeit von Chandrakirti bei, in der die philosophischen Thesen lautstark von Händeklatschen begleitetet werden. Ich erlebe die Debatten, die wir nun vor jedem Teaching sehen, als verbalen Wettkampf. Sie bereiten den Mönchen sichtlich Spaß und wirken aus meiner Sicht so männlich und sinnlich wie ein handfester Boxkampf. Ganz anders als im Westen, denke ich mir, wo über philosophische Thesen kaum öffentlich oder nur verkopft diskutiert wird. Ab jetzt sind wir immer zum Aufbruch bereit. Am nächsten Tag beginnt der Dalai Lama frühmorgens, überpünktlich wie immer, im Kloster von Kais mit seinen Teachings. Mit einer auf Tibetisch abgehaltenen Zeremonie über die Erweckung von Bodhicitta, dem Erleuchtungsgeist, stimmt er die Anwesenden auf eine Woche Belehrungen ein. Als Vorbereitung auf die kommenden Initiationen nimmt er den Anwesenden das Bodhisattva-Gelübde ab, bei dem wir uns verpflichten, so lange zum Wohl aller Lebewesen in Samsara zu wirken, bis alle von Leiden befreit sind. Mönche teilen in Ritualhandlungen Blumen und rote Bändchen aus und schenken wiederholt den ungewohnt salzigen Buttertee ein. „Stell dir vor, das ist Gemüsebrühe und kein Tee“, flüstert Inka mir zu. Stimmt, denke ich mir, so schmeckt er eigentlich ganz gut. Am Nachmittag findet im nahe gelegenen Kloster bei Sey Rinpoche in Vahist spontan ein inoffizieller Empfang für den Dalai Lama statt – ein großer Segen für das Kloster. Inka kennt Sey Rinpoche, denn sie hat schon bei seinem Vater Alpho Rinpoche die Tummo-Meditation erlernt. Durch diese Verbindung sind wir überraschend als Gäste eingeladen und bringen einen Kuchen BUDDHISMUS aktuell 1 | 11 15 INDIEN-Special Auf den Spuren des Dalai Lama mit. Wir sind lange vor dem Eintreffen S. H. vor Ort und beobachten die hektischen Vorbereitungen. Ein roter Teppich wird eilig ausgerollt, Mönche mit Blasinstrumenten klettern auf ein Garagendach, spielende Kinder werden ermahnt, endlich still zu sein. Das Auto des Dalai Lama fährt vor, ich fotografiere, er kommt näher, Inka stellt mich als Chefredakteurin von „Buddhismus aktuell“ vor, er gibt mir die Hand, streichelt mir über Backe und Kinn, ich murmle benommen ein „Tashi Delek“ und schon entschwindet er ins Kloster. In der kommenden Woche schenkt er mir beim Fotografieren immer ein Lächeln. Er kennt mich nun – und mit dieser Herz-zu-Herz-Begegnung geht für mich ein großer Wunsch in Erfüllung. Bei der Ansprache vor der Gompa weint eine Frau neben mir ergriffen, als sie S. H. sieht. Zum ersten Mal wendet er sich auf Englisch an die Anwesenden: „Ihr Westler, baut nicht so viel auf Glauben oder Segen. Ihr solltet besser die Lehren des Buddhismus gründlich studieren. Die Arbeit müsst ihr selbst tun und negative Emotionen in eurem Geist transformieren. Wer inneren Frieden kultiviert, hat auch Gesundheit.“ Diese mahnenden und ernüchternden Worte wiederholt er künftig immer wieder vor Ausländern, Schülern und einer devoten Glaubensgemeinschaft, die von ihm Heilung oder Lösung der eigenen Probleme erwartet. – Und trotz seiner Mahnungen freuen wir uns sehr, als er am Nachmittag für unsere Reisegruppe Bücher und Fotos signiert, Malas und Ritualgegenstände segnet. Anlässlich dieser besonderen, festlichen Gelegenheit werden wir in den Wohnräumen von Sey Rinpoche, Linienhalter von Shakya Shri, herzlich mit Fruchtsaft und süßem Reis empfangen. Wie alle anderen führen wir die Speisen mit den Händen zum Mund und haben Mühe, bei der Unterhaltung nicht zu kleckern. Sey Rinpoche berichtet, dass seine Klöster hier und in Ladakh rund 100 Mönche beherbergen. Seine Schwester Khandro Thrinley Chodon, die Psychologie im Westen studiert hat, erzählt uns von den Teachings, die sie in der ganzen Welt abhält. Danach fahre ich noch einmal zu einem Kurzbesuch zu Dhakpo Rinpoche zurück, um Fotos von ihm zu machen. Er ist die Güte und Weisheit in Person. Schon im Aufbruch nach Bangalore, berichtet er noch kurz, dass etwa 140 Mönche in seinen Klöstern leben. Seine Assistentin warnt mich, als sie erfährt, dass wir nach Jispa fahren wollen: „Die Straße ist unglaublich schlecht. Es hat schon vier Tote gegeben“ – eine nicht gerade ermutigende Aussage. Gegen den Rat der Security hat der Dalai Lama wegen Unwetterwarnung und Nebel beschlossen, nicht mit dem Helikopter, 16 BUDDHISMUS aktuell 1 | 11 Auf den Spuren des Dalai Lama INDIEN-Special Warten auf die Ankunft des Dalai Lama am Rothang-Pass: Mädchen aus Lahoul stehen in der Morgendämmerung seit Stunden an der Straße, bereit für einen möglichen Empfang S.H. Linke Seite: Avalokiteshvara-Initiation auf über 3000 Meter in Jispa, Nordindien Unten: Begleiter auf der Fahrt: Abt des GadenShartse-Klosters in Mundgod. Wir folgen der Eskorte des Dalai Lama vom Rothang-Pass nach Jispa. einfache Tibeter und Tibeterinnen in Tracht aus Lahoul, bieten uns großzügig Tee an und stehen an der Straße im Qualm des wegen der Kälte entfachten Feuers Spalier. Mönche rezitieren mit blau gefrorenen Fingern Gebetstexte. Alle hoffen, dass der Dalai Lama auf der Durchfahrt anhält und Gebete spricht. Liebevoll wird dazu ein orangefarbener Sessel aus Seide mit Blick auf die gigantischen Berge an der Straße platziert. Sie wollen ihm ihre Ehrerbietung erweisen. Große Enttäuschung, als er nach zwei sondern mit dem Auto auf den RothangPass zu fahren. Er will die Menschen hoch oben in den Bergen nicht mit einer Absage enttäuschen. Wir sind entschlossen, ihm zu folgen und vertrauen auf unser Glück. Gefährliche Fahrt über den Rothang-Pass Am nächsten Morgen brechen wir in der Dunkelheit um 4 Uhr früh von Manali nach Jispa auf. Wir fahren zwei Stunden vor dem Dalai Lama ab, damit wir ihn unterwegs auf der Straße begrüßen können. Chuki wird uns die Zimmer für ein paar Tage reservieren. Die Straße folgt ab Manali dem Fluss Beas und windet sich dann zum Rothang-Pass hinauf. Unterwegs halten wir an einer Imbissbude, verköstigen uns mit Paranta, einem salzigem Pfannkuchen, und Masalatee. Unser versierter indischer Fahrer Narish hat Mühe, den Jeep in den Serpentinen zu steuern, denn die Straße ist voller Schlaglöcher und ausgefahrener, vom Regen aufgeweichter Schlammspuren. Einen Streckenabschnitt bezeichnet selbst er als „very dangerous“, aber sein immer gleicher Singsang der Shiva-Mantren ist unser Rettungsanker. Er bewirkt Gleichmut und Gelassenheit und überdeckt unsere Angst, in den Abgrund zu stürzen. Allmählich wird es hell, und die gigantischen Berge Richtung Spiti und Lahul, wo sich buddhistische Gemeinschaften erhalten haben, tauchen sonnenbeschienen aus den Wolken auf. Ein unglaublicher Anblick. Himachal Pradesh, das Land der schneebedeckten Berge, ist ein Bundesstaat im Himalaja mit unterschiedlichen und sehr reizvollen Landschaften. Wir entdecken sogar den berühmten blauen Mohn, den einst Heinrich Harrer beschrieben hat. Wildpferde laufen den Hang hinunter auf einen Stupa zu, Yaks grasen friedlich, Geier und Adler kreisen am azurblauen Himmel. Allmählich sammeln sich BUDDHISMUS aktuell 1 | 11 17 INDIEN-Special Auf den Spuren des Dalai Lama Heiliger Platz für Buddhisten in aller Welt: Die ca. 40 Meter hohe goldene Statue von Guru Rinpoche in Rewalsar, die sich sich über den legendären See Tso Pema erhebt. Stunden endlich in Sicht kommt, aber nur vorbeifährt und winkt. Wir springen schnell in die Autos und folgen der Eskorte des Dalai Lama, damit wir rechtzeitig am Ziel sind. Weiter geht es über verschlungene Passstraßen mit Blick auf tiefe Schluchten nach Tandi, wo sich die zwei Quellflüsse Chadra und Bhaga zum Cadrabhaga vereinigen, der ins 300 km entfernte Pakistan fließt. Nach insgesamt zehn 18 BUDDHISMUS aktuell 1 | 11 Stunden Anreise treffen wir endlich in Jispa ein. Da die Abendsonne friedlich scheint, können wir kaum glauben, dass das von uns gebuchte Hotel unter Wasser steht. Und welcher Zufall: Im neuen Hotel Ibex Jispa wohnen auch der Sekretär des Dalai Lama und seine Security. Nun können wir uns aus erster Hand aktuell informieren. Wir erfahren, dass rund 4 000 Menschen zu den Teachings angereist sind, darunter circa 150 Ausländer aus Mexiko, Korea, Japan, Russland, Australien, Taiwan und Deutschland. Wir sind uns bewusst, welch eine besondere Gelegenheit es ist, in dieser abgeschiedenen Bergatmosphäre gemeinsam mit Tibetern dem Dalai Lama so nahe zu sein. Die Verehrung der Menschen für ihr spirituelles Oberhaupt so hautnah zu spüren, den Dalai Lama hier so frisch, präsent, entspannt und freundlich zu erleben, so offen für die Bedürfnisse anderer – und gleichzeitig am eigenen Leib erfahren zu haben, welche Reisestrapazen er hinter sich hat. Man merkt es dem 75-Jährigen nicht an. Er sieht aus, als hätte er einen mehrwöchigen Erholungsurlaub hinter sich, im Gegensatz zur Security, die nervlich sehr angespannt und gestresst wirkt. Für die Belehrungen im Freien, mit Blick auf die Berge, Schulter an Schulter dicht gedrängt mit Tibetern, Mönchen und Nonnen, haben wir uns im Lauf der Zeit eine obligatorische Ausrüstung zugelegt: die Umhängetasche mit regendichter Unterlage, aufblasbarem Sitzkissen, Katak, Radio oder Handy mit Ohrhörern für die Übersetzung ins Englische, Texten, Fotoapparat, Block, Stift. Alle teilen auf dem Boden sitzend Tee, Äpfel und Kekse miteinander. Mönche haben Mühe, ihre Füße in den dichtgedrängten Reihen aufzusetzen, um uns aus großen Blechkannen Tee einzugießen. Überall wehen Lungtas, Gebetsfahnen in den Farben der fünf Elemente. S. H. lehrt den Pfad zur Erleuchtung anhand eines Textes von Atisha, „Die Lampe auf dem Weg“. Es folgt eine Heruka- und eine Avalokiteshvara-In- Auf den Spuren des Dalai Lama INDIEN-Special itiation, bei der wir die Einweihung und Erlaubnis erhalten, die Gottheitenpraxis des Bodhisattvas der Liebe und des Mitgefühls zu zelebrieren. Ein Mönch tönt mit tiefer Stimme das weltweit bekannte Mantra OM MANI PADME HUM. Die Menge stimmt ein. Jeder Gedanke an ein „Ich“ vergeht und es entsteht in sakraler Atmosphäre der gemeinsame Wunsch für das Wohl der Lebewesen. In Europa lichten sich hier oft die Reihen, denn die Initiation ist nur für Buddhisten bestimmt und mit einigen ethischen Verpflichtungen verbunden. Überraschend ist eine Pressekonferenz angesetzt. Obwohl zunächst nur inländische Journalisten zugelassen sind, erhalten wir am Ende doch die Erlaubnis teilzunehmen. Und wie schon in Zürich und Frankfurt erhalte ich Gelegenheit, ein Kurzinterview mit dem Dalai Lama zu führen (siehe S. 21). Ein Journalist möchte wissen, ob es stimme, dass er auch als Frau Wiedergeburt erlangen könne. Die humorvolle Antwort des Dalai Lama: „Ja sicher, wenn das günstiger wäre. Aber wenn schon, dann nur als sehr attraktive Frau, damit ich besser wirken kann.“ Alle lachen und die Stimmung ist sehr entspannt. Dafür haben wir Krisensitzung in unserer Reisegruppe. Bis auf Inka und mich hält keiner dem Stress der Reise und der anstrengenden philosophischen Belehrungen über Leerheit und Selbstlosigkeit stand. Für die anderen, die mit dem Buddhismus weniger vertraut sind als wir, wird ein Tag Pause vereinbart, und sofort steigt die Stimmung. Karl und Dunja haben außerdem Probleme mit der Höhe. Wir besuchen gemeinsam den tibetischen Arzt Dr. Tenzin Dhola, der hier im Auftrag des MenTsee-Khang praktiziert, dem Zentrum des Dalai Lama für tibetische Medizin in Dharamsala. Bei dieser Gelegenheit lassen wir uns gleich alle eine Pulsdiagnose stellen. Steffi und Dunja erhalten Kräuterpillen, die in großen Glasflaschen im Regal stehen. Meine Diagno- se: „Alles super“. Stimmt: Ich fühle mich so energiegeladen und in meinem Element wie schon lange nicht mehr. Wir spenden eine Kleinigkeit, denn die Menschen hier sind sehr arm. Inka spendet im Auftrag von DANA eine größere Summe. Der alte Mann, der mit uns im Behandlungszimmer sitzt, bedankt sich gerührt für die kostenfreie Behandlung. Zur rechten Zeit am rechten Ort Auf der Rückfahrt nach Manali nehmen wir einen Mönch und früheren Übersetzer von Lati Rinpoche im Auto mit. Er ist Abt von 1 200 Mönchen im GadenShartse-Kloster in Mundgod. Interessante Gespräche entspinnen sich mit Rinpoche, und wir erfahren, dass heute auch in Indien viele Mönche ein Handy besitzen und sogar Mitglied in Facebook sind. In der Zwischenzeit soll es in Manali ein Unwetter gegeben haben. Unser Glück ist, dass wir dem Autotross des Dalai Lama folgen, im festen Vertrauen darauf, dass die Straßen von den Einheimischen eigens für ihn präpariert werden und wie durch ein Wunder überall die Sonne scheint, wohin er auch kommt. Kurz vor Manali stecken wir fest. Zwei Straßen und eine Brücke sind eingebrochen. Für Inka kein Hindernis: Wir steigen aus, gehen ein kleines Stück zu Fuß, umrunden Felsbrocken, die die Straße blockieren und steigen auf der anderen Seite in ein Taxi. In Manali hat das Teaching über die 37 BodhisattvaÜbungen von Ngülchu Thogme in der Buddhist Society bereits begonnen. Etwa 3 000 Menschen, Tibeter, Mönche, Nonnen und die Ausländer, die wir schon aus Jispa kennen, sitzen gedrängt in der schwülen, sonnigen Luft. Auf dem Podium entdecken wir Sey Rinpoche und den Abt vom Kloster Gaden. Sie kommen uns schon vor wie alte Bekannte, und wir sind versucht, ihnen zuzuwinken. Chuki hat uns mühselig Plätze frei gehalten. Sie ist sehr müde und hat die Nacht damit verbracht, das Schlammwasser und nasse Teppiche aus unseren Zimmern zu entfernen. Der Dalai Lama zelebriert auch hier eine Avalokiteshvara-Initiation für diejenigen, die in Jispa nicht dabei waren. Überhaupt ist er stets präsent für die Bedürfnisse aller Anwesenden, dem Bodhisattva mit den tausend Händen gleich. So winkt er gegen den Widerstand der Security die tibetischen Schüler und Der Künstler, der das Innere der Guru-Rinpoche-Statue mit großer Hingabe ausschmückt, bei der Arbeit BUDDHISMUS aktuell 1 | 11 19 INDIEN-Special Auf den Spuren des Dalai Lama Treffen mit Jetsun Pema, der Schwester des Dalai Lama, in Neu-Delhi Schülerinnen ganz nach vorn oder ermutigt die alten Menschen, die auf Krücken nach vorn drängen, um einmal im Leben von ihm gesegnet zu werden, zu ihm zu kommen. Oft schenkt er gezielt einzelnen Personen in der Menge sein berühmtes Lächeln, das die Herzen auftaut wie die Strahlen der Sonne. Für mich ist er wie für die meisten Buddhistinnen und Buddhisten ein authentisches Vorbild, der wirklich lebt, was er sagt, ein Vorbild, dem ich vertrauen und folgen kann. Das ist in unserer Welt selten geworden, und ich weiß das Glück zu schätzen, diesem Bodhisattva des Mitgefühls schon oft persönlich begegnet zu sein. Zum Abschied folgen letzte Einkäufe in Old-Manali bei den Hippies und ein herzlicher Abschied von Chuki und ihrer Familie. Guru Rinpoche 4 Uhr morgens Abfahrt nach Rewalsar zum See von Guru Rinpoche, auch Padmasambhava, der Lotusgeborene, genannt. Dieser hatte die Lehre des Buddhismus im 8. Jahrhundert von Indien nach Tibet gebracht. Die Vegetation ändert sich. Auf den Bergen sieht man Palmen, und langsam entsteigt dem Morgennebel der Dschungel. Affen turnen auf Mango- und Bananenbäumen. Hunde und Kühe liegen schlafend auf den Straßen und werden von den Autos vorsichtig umfahren. Buntbemalte Lastwa- 20 BUDDHISMUS aktuell 1 | 11 gen kommen uns entgegen. Unser Fahrer stoppt beim Hindutempel und betet wie immer für das Gelingen der Fahrt. Vormittags kommen wir in Rewalsa, dem für Buddhisten heiligen Ort, der Guru Padmasambhava gewidmet ist, an. Uns bleibt vor Staunen die Luft weg: Eine circa 40 Meter hohe goldene Statue von Guru Rinpoche thront am Berg über dem Lotus-See, der neben einem Drikung-Kagyu-Kloster liegt. Im Inneren der Statue fertigt ein Künstler gerade Wandmalereien und Holzstatuen der grünen Tara an. Wir fahren auf den Berg, in dem Mönche und Nonnen in Höhlen meditieren, besichtigen die dunkle Höhle, in der Guru Rinpoche meditiert haben soll und bestaunen seinen Fußabdruck in Gold. Leider drängt die Zeit. Im Stau geht es langsam weiter nach Chandigarh, der reichsten Stadt Indiens. Insgesamt sind wir an diesem Tag 17 Stunden mit dem Auto unterwegs. Erschöpft sinken wir in die Hotelbetten, denn schon am nächsten Tag fliegen wir zurück nach Delhi. Und als hätten wir nicht schon genug erlebt, steht an unserem letzten Tag ein Treffen mit Jetsun Pema, der Schwester des Dalai Lama an, deren Tätigkeit für tibetische Kinderdörfer der Verein DANA seit über 20 Jahren mit Patenschaften und Spenden unterstützt. Wieder treffen wir uns im Hotel Imperial und genießen nach so viel ätzendem Straßenstaub verzaubert den feinen Jasminduft. Die Schwester des Dalai Lama Die sanfte und herzliche Dame Jetsun Pema, die die Leitung des TCV 1964 übernahm, ist in tibetischer Tracht erschienen. Voller Mitgefühl erzählt sie von ihrer Tätigkeit: In den Tibetan Children’s Villages wachsen die tibetischen Flüchtlingswaisen im Geist der tibetischen Kultur auf. Die Kinder haben damit Zugang zu Kindergärten, Schulen und Berufsausbildungen – Lebensgrundlagen, die ihnen in der Heimat verwehrt werden. Derzeit leben in den 31 Ausbildungsstätten circa 15 000 Kinder und Jugendliche. Stolz und gerührt berichtet sie uns, dass das TCV von 42 Ländern der Welt gesponsert wird, die meisten Spenden aber aus Deutschland kommen. Sie lobt die Arbeit und tatkräftige Unterstützung von Irmtraut Wäger und der Deutschen Tibethilfe, den SOS-Kinderdörfern und natürlich von DANA. Wir staunen nicht schlecht, als wir erfahren, dass das TCV nach dem Montessori-Prinzip unterrichtet und jedes Kind individuell gefördert wird. Um die tibetische Kultur zu erhalten, erfolgt der Unterricht an den 87 tibetischen Schulen mit 27 000 Kindern seit 1986 auf Tibetisch und Englisch als zweiter Fremdsprache. 2010, so Jetsun Pema, feiert das TCV seinen 50. Geburtstag und alle freuen sich, dass der Dalai Lama aus diesem Anlass zu Besuch kommen wird. „Er ist einfach ein wunderbarer Botschafter der tibetischen Sache.“ Erfüllt von den überwältigenden Eindrücken dieser ungewöhnlichen Reise auf den Spuren des Dalai Lama kehren wir zurück nach München, erfahren dort von den Umweltkatastrophen, die sich rund um uns ereignet haben. Welch ein Glück wir doch hatten: Mit dem Dalai Lama waren wir immer zur rechten Zeit am rechten Ort – und das auch innerlich. Inspiriert nehmen wir sein segensreiches Mantra nach Deutschland mit und wünschen uns, dass wir auch hier unseren Mitmenschen Liebe und Mitgefühl weitergeben können: Om Mani Padme Hum Hinweis: Ich danke unserer Reisegruppe und besonders Inka Jochum für das Zustandekommen dieser Reise und der glücklichen Umstände. Die Seminarreise in den Himalaja fand vom 11. bis 25. August 2010 statt. Weitere Infos: DANA e.V. Gesellschaft zur Erhaltung tibetischer Kultur und Medizin www.dana-ev.de Auf den Spuren des Dalai Lama INDIEN-Special Wiedergeburt des Dalai Lama als Frau? Interview mit dem Dalai Lama Fotos: © Michaela Doepke Weltweit fördert Seine Heiligkeit der XIV. Dalai Lama Frauen und ermutigt sie sogar, Führungspositionen anzutreten. Nur in seiner eigenen Tradition zeigt er sich machtlos, eine Gleichberechtigung von Mönchen und Nonnen durchzusetzen. Michaela Doepke befragte ihn dazu in Jispa, Nordindien, wo er auf über 3 000 Metern Höhe Belehrungen gab. Hier ein Ausschnitt aus der Pressekonferenz im Himalaja. Auf der Pressekonferenz im Himalaja Michaela Doepke: Die meisten buddhistischen Frauen in der modernen westlichen Welt verstehen nicht, warum es in der tibetischen Tradition keine Gleichheit zwischen den Nonnen und Mönchen gibt. Was könnten wir tun, um die Entwicklung der Gleichstellung von Frauen im tibetischen Buddhismus zu fördern? S. H. Dalai Lama: Es steht außer Frage, dass der Buddha selbst Frauen gegenüber Männern nicht diskriminiert hat. Der höchste Rang im Kloster für einen Mann ist der eines Bhikshu. Ebenso ist der höchste Rang für eine Frau der einer Bhikshuni. Im Grunde haben sie also das gleiche Recht. Und speziell im Tantrayana ist das Weibliche sogar wichtiger. Sehen Sie, wenn wir das Weibliche kritisieren, ist das ein Verstoß gegen das „Ich kann nicht wie ein Deutscher handeln.“ Vajrayana-Gelübde. Im Vajrayana ist aber nicht davon die Rede, dass es Frauen nicht erlaubt ist, das Männliche zu kritisieren. Deshalb hätten wir Männer allen Grund uns zu beschweren (lacht). Es gibt jedoch ein Problem mit der höchsten Ordination zur buddhistischen Nonne, der Bhikshuni. Hier gibt es verschiedene Traditionen des klösterlichen Systems. Thailand, Burma usw. gehören zum Theravada-System. Das tibetische Klostersystem folgt dem Vinaya (Ordensregeln) der Mulasarvastivadins. Es gibt vier große Traditionen in der Vinaya-Tradition.1 In China gibt es mehrere Traditionen.2 Ab dem 8./9. Jahrhundert führte Santarakshita das klös- terliche System in Tibet ein. Ich denke, dass er den Mulasarvastivadins angehörte. Als im 11. Jahrhundert Atisha nach Tibet kam, baten ihn einige Tibeter, die Bhikshu-Ordination zu geben, während einige seiner älteren Schüler wie Dromtönpa ihn baten, keine VinayaGelübde zu geben, denn Atishas Tradition war nicht die der Mulasarvastivadins.3 Sie dachten, es sei besser, nur eine Tradition zu haben, denn unter den Vinaya-Traditionen gibt es leichte Unterschiede. Zum Beispiel enthält der Pratimoksha in der Theravada-Tradition 227 Regeln. In unserer Mulasarvastivada-Tradition enthält der Pratimoksha 253 Regeln. So gibt es einige Unter- BUDDHISMUS aktuell 1 | 11 21 INDIEN-Special Auf den Spuren des Dalai Lama Tibetische Nonnen in Jispa, Himachal Pradesh, Nordindien schiede. Nach unserer Tradition muss die Ordination einer Bhikshuni von einem Bhikshuni-Abt bzw. einer Bhikshuni-Äbtissin durchgeführt werden. Da in unserer Tradition keine Bhikshuni-Äbtissin verfügbar ist, ist nach unserer Tradition hier Schluss. Das ist das Problem. In den letzten 30 Jahren haben wir deshalb untersucht, ob es für einen solchen Fall vielleicht ein paar Ausnahmeregelungen gibt. Einige Gelehrte sagen, Ja, eine Ausnahme sei möglich, während die Mehrheit immer noch Nein sagt. Also bin ich machtlos, zumindest entsprechend dem Vinaya-System (lacht). Ich kann nicht wie ein Deutscher handeln. Nach dem VinayaSystem liegt die endgültige Entscheidung bei einem Sangha, einer Gruppe von Mönchen, sie kann nicht von einem einzelnen Mönch getroffen werden. Ich denke, hier müssen wir uns ein wenig beim Buddha selbst beklagen. Solange er lebte, war immer er die letzte Instanz, alles lag in seiner Hand. Doch nach ihm ging seine Nachfolge nicht an eine einzelne Person über, sondern fortan lag die Zuständigkeit bei einer Gruppe von Mönchen. Das ist das Problem, mit dem wir es jetzt zu tun haben. 22 BUDDHISMUS aktuell 1 | 11 Soweit es die Studien betrifft, haben wir solche Probleme nicht, da gibt es keine solche Einschränkung. Es ist jetzt etwa 40 Jahre her, dass ich in einem Nonnenkloster in Dharamsala damit begonnen habe, ernsthafte Studien einzuführen, wie für die Mönche in den großen Klöstern. Inzwischen haben viele dieser fortgeschrittenen Nonnen durch das Studium und philosophische Debatten ein hohes Bildungsniveau erreicht. Die Qualität ist hervorragend. Ich denke, es ist wichtig, das klarzumachen. Andernfalls würden mich vielleicht einige Feministinnen aus dem Westen beschuldigen: Der Dalai Lama sollte nicht die Autorität in dieser Frage sein, sondern die Frauen sollten das selbst entscheiden. Meinen Sie, der nächste Dalai Lama sollte eine Frau sein? Ja, ich glaube es ist 20, 30 Jahre her, dass mir diese Frage in Frankreich, von einer Frauenzeitschrift zum ersten Mal gestellt wurde: Könnte der Dalai Lama in Zukunft auch als Frau wiedergeboren werden? Ich sage dazu Ja. Denn erstens gibt es schon seit vielen Jahrhunderten hohe weibliche Reinkarnationen. Ein Beispiel ist Samding Dorje Phagmo.4 Diese Inkarnation gibt es schon seit etwa 700 Jahren. Diese Reinkarnation ist fast so alt wie die des Karmapa. Und sehen Sie, auch in unserer Zeit gibt es einige hohe weibliche Lamas. Ja, wir akzeptieren weibliche Reinkarnationen, weibliche Gurus, weibliche Lehrer. Der Zweck von Reinkarnationen ist es, Menschen mit der Lehre des Buddhismus zu dienen. Und wenn die Umstände so beschaffen sind, dass eine weibliche Form nützlicher ist, warum nicht? Das hatte ich gesagt. Und im Scherz hatte ich hinzugefügt: Für den Fall, dass die Reinkarnation des Dalai Lama eine Frau ist, sollte sie sehr attraktiv sein, denn so kann sie mehr Einfluss nehmen. Wenn es eine hässliche Frau wäre, wäre sie vielleicht nicht so effektiv. Ist das nicht so? Wie denken Sie darüber (lacht)? Gut. Vielen Dank! Anmerkungen: 1 Hier bezieht sich S. H. auf die traditionelle tibetische Darstellung der Einteilung der achtzehn Schulen in vier Haupttraditionen. Danach sind die vier Haupttraditionen: Sarvastivada, Mahasanghika, Sthavira und Sammitya. 2 Es wurden mehrere Vinayas ins Chinesische übersetzt: Sarvastivada, Mulasarvastivada, Dharmaguptaka, Mahisasaka und Mahasanghika. Praktiziert wird jedoch nur die Dharmaguptaka-Tradition. Dagegen gibt es für die Theravada- und die tibetische Tradition jeweils nur einen Vinaya, den Pali-Vinaya und den Mulasarvastivada-Vinaya. 3 Er war Mahasanghika. 4 Samding Dorje Phagmo begründete eine der wenigen weiblichen Tulku-Linien. Im frühen 15. Jahrhundert wurde die Prinzessin Chökyi Drönme als Emanation der Meditationsgottheit Dorje Phagmo angesehen. Sie ließ sich daraufhin zur Bhikshuni ordinieren. Anmerkungen und Übersetzung aus dem Englischen: Bhikshuni Jampa Tsedroen (Dr. Carola Roloff) Auf den Spuren des Dalai Lama INDIEN-Special Moralische Autorität, aber keine Macht Interview mit Tempa Tsering, Minister der tibetischen Exilregierung Die Tibetfrage bleibt eine Quelle von Spannungen. China beurteilt ausländische Kritik an seiner Politik als Einmischung in seine inneren Angelegenheiten. Als Hauptvertreter des Dalai Lama mit Büro in Neu-Delhi ist Minister Tempa Tsering einer von acht Ministern der tibetischen Exilregierung mit Sitz in Indien. Er engagiert sich weltweit für die Rechte der Tibeter, setzt sich für Gewaltfreiheit und Dialog mit der chinesischen Regierung ein. Michaela Doepke traf ihn in Neu-Delhi auf eine Tasse Tee. Michaela Doepke: Gibt es derzeit viele junge Exiltibeter, die den Dalai Lama für seine Friedenspolitik kritisieren? Ist das ein Problem für Sie? Minister Tempa Tsering: Nein, das ist kein Problem. Das ist das Zeichen einer gesunden Demokratie. In einer Demokratie gibt es das Recht auf freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit. Auch setzen Menschen unterschiedliche Prioritäten. Manche kritisieren Seine Heiligkeit für seinen Ansatz des mittleren Weges, wonach er keine vollständige Unabhängigkeit für Tibet fordert, keine Loslösung von China. Sie vertreten den Standpunkt, dass Tibet früher unabhängig war und daher auch jetzt die vollständige Autonomie eingefordert werden sollte. Da gibt es einige Kritik. Auch daran, dass der friedliche Ansatz bisher nicht von Erfolg gekrönt war. Trotz der mitfühlenden, kompromissbereiten Haltung des Dalai Lama ging China nicht auf seine Verhandlungsversuche ein. Daher gibt es andere Meinungen, nicht unbedingt Kritik an S. H., aber die Auffassung, dass der mittlere Weg mit China nicht funktioniert und daher ein neuer Ansatz gefunden werden muss. Wie viel Prozent denken so? Sehr wenige. In Prozent vielleicht 6 bis 7 Prozent der Tibeter im Exil. Sie kritisieren nicht, haben aber einen anderen Ansatz. Sie wollen die Unabhängigkeit Tibets erreichen, mit friedlichen Mitteln. Sie sind der Meinung, dass diese Ansicht frei geäußert werden soll. In China werden aber kritische Meinungen, die sich von der Linie der Partei unterscheiden, unterdrückt. Menschen, die eine abweichende Meinung haben, kommen ins Gefängnis. Doch wir leben in einer offenen und transparenten Gesellschaft, in der jeder das Recht auf freie Meinungsäußerung besitzt. BUDDHISMUS aktuell 1 | 11 23 INDIEN-Special Auf den Spuren des Dalai Lama „Äußerlich können die Chinesen die Tibeter kontrollieren, aber auf ihre inneren Überzeugungen haben sie keinen Einfluss.“ Wie viele Tibeter leben derzeit in Tibet und im Exil? Rund 6 Millionen Tibeter leben in Tibet, rund 140 000 im Exil, rund 12 000 in den USA, 3 500 in der Schweiz, 10 000 in Nepal, die meisten allerdings in Indien. Eine Frage zur Politik in Indien: Warum kann der 17. Karmapa Orgyen Trinley Dorje nicht nach Europa reisen? Er war kürzlich nach Europa, in die Schweiz, nach Dänemark, Polen, Frankreich, Großbritannien, Belgien, Spanien und in die Niederlande, eingeladen, bekam jedoch seitens der indischen Regierung keine Erlaubnis dafür. Indien meint, dass der Karmapa noch weiter studieren muss. In Tibet hatte er wenig Möglichkeiten dazu. Er wurde dort sogar aufgefordert, den Dalai Lama zu kritisieren. Das wollte er nicht. Daher ging er ins Exil. Er hatte diese Gelegenheit nicht in Tibet. Er ist jung, und Indien möchte, dass er sich auf seine Studien konzentriert. Einige Menschen in Europa denken, dass Indien ihn zurückhält, damit er nicht so viel Einfluss in der Weltöffentlichkeit in Bezug auf die Tibetfrage erhält wie der Dalai Lama. Die indische Regierung möchte, dass er sich auf seine Studien konzentriert. Von unserer Seite her ist das kein Problem. 24 BUDDHISMUS aktuell 1 | 11 Wir wollen, dass unsere Lamas ein qualifiziertes Studium absolvieren und damit internationalen Kontakten gewachsen sind. Wie ist das Verhältnis des Dalai Lama zum Karmapa? Sie stehen sich sehr nahe. Wir sind sehr glücklich diesen jungen, aufstrebenden Lama zu haben. Viele Menschen im Westen denken über die Zukunft des Dalai Lama nach. Seine Rolle war 300 Jahre lang die des spirituellen und politischen Oberhaupts von Tibet. Jetzt ist er das spirituelle Oberhaupt. Er hat ein demokratisches System im Exil aufgebaut. Seine Rolle ist heute eine rein spirituelle. Bei Wahlen müssen jetzt die Tibeter entscheiden. Die Situation hat sich verändert. Die Frage ist: Möchten die Menschen noch, dass das System der Dalai Lamas weitergeführt wird? Fakt ist: Der Dalai Lama wird sein spirituelles Ziel weiterverfolgen. Und er wird auch wiedergeboren werden. Er selbst hat das gesagt: Meine Wiedergeburt wird erfolgen. Der Zweck der Wiedergeburt, so sagte er, sei es, eine Aufgabe zu übernehmen, die Politiker nicht übernehmen könnten: „Wenn es zu meinen Lebzeiten keine Erleichterung der Situation in Tibet gibt, dann werde ich nicht in Tibet, sondern in einer freien Gesellschaft wiedergeboren werden.“ ... als Frau? ...vielleicht. Das könnte auch sein. Ist es denn nicht zu gefährlich, wenn China versuchen sollte, auf einen potenziellen Nachfolger Einfluss auszuüben? Die Frage der Nachfolge des Dalai Lama werden die Menschen mit dem Herzen entscheiden. Wenn der Dalai Lama stirbt und die Situation noch unklar ist, werden die Chinesen versuchen, einen anderen Dalai Lama zu wählen. Dann wird der jetzige Dalai Lama aber auch schon Hinweise gegeben haben, um sicherzustellen, dass er gefunden wird. Das bedeutet, dass selbst, wenn China einen eigenen Dalai Lama einsetzt, niemand diesem Respekt und Anerkennung entgegenbringen wird. Was ist die derzeitige Situation der tibetischen Exilregierung in Indien? Sie ist die Regierung für das tibetische Volk in den freien Ländern. Aber abgesehen vom tibetischen Volk ist unsere Regierung offiziell nicht anerkannt, zumindest von keiner anderen Staatsführung in der Welt. Andere Regierungen erkennen nur die Einrichtung, der der Dalai Lama vorsteht, an, aber keine Exilregierung. Wir haben im Exil ein demokratisches System. Als der Dalai Lama in Tibet war, sagte er, dass das Regierungssystem dort veraltet und nicht zeitgemäß sei. Daher machte er An- Auf den Spuren des Dalai Lama INDIEN-Special So haben Sie keine Möglichkeit, Einfluss auf die chinesische Politik in Tibet auszuüben? © Michaela Doepke Wir unternehmen Anstrengungen und wenden uns an die internationale Staatengemeinschaft, um für die Tibeter die Grundrechte einzufordern. Aber wir können uns auch an China wenden. Ob die Chinesen uns zuhören, ist dann die Frage. Tempa Tsering, Minister der tibetischen Exilregierung (Mitte) mit Michaela Doepke, Chefredakteurin von Buddhismus aktuell (rechts) und Inka Jochum in Neu-Delhi strengungen, etwas in Tibet zu verändern, aber China erlaubte es nicht. Als er in Indien ankam, brachte er seit 1960 Schritt für Schritt ein demokratisches System voran. Jetzt hat er 51 Jahre im Exil gelebt und wir haben eine funktionierende Demokratie im Exil. Wir haben ein Parlament, das von Exiltibetern gewählt worden ist, einen auf fünf Jahre gewählten Premierminister. Dieser stellt seine Regierung auf. So gibt es momentan acht Minister, den Premierminister eingeschlossen. Und Sie sind einer der Minister ... Genau. Wir haben sieben Aufgabenbereiche, denen jeweils ein Minister vorsteht. Ich war ursprünglich der Leiter des Amtes für Internationale Beziehun- gen, aber dann wurde es zu schwierig, meine Aufgaben in Delhi und Dharamsala zu verbinden, und ich wollte diese Aufgabe abgeben. Doch dann sagte der Premier Samdhong Rinpoche: Nein, du bleibst verantwortlich als leitender Repräsentant S. H. des Dalai Lama für das Tibetbüro in Neu-Delhi. Ihre Regierung hat nur Regierungsgewalt über die Tibeter im Exil? Was können Sie entscheiden? Die Tibeter, ob in Deutschland oder in anderen Ländern, werden durch unsere Regierung vertreten. Aber Tibet selbst untersteht China und so haben wir darüber keine Kontrolle. Unsere Regierung im Exil hat eine moralische Autorität, aber keine praktische Macht. Wie viele Buddhisten gibt es in China? Man sagt, dass ihre Anzahl im Moment wächst. 200 Millionen Buddhisten sollen es in China jetzt sein. Das hören wir. China war ursprünglich ein buddhistisches Land, und auch wenn der Kommunismus den Buddhismus verboten hat, ist es doch eine Frage des Herzens, welche Überzeugung die Menschen haben. Äußerlich können die Chinesen die Tibeter kontrollieren, aber auf ihre inneren Überzeugungen haben sie keinen Einfluss. Und die Menschen verstecken das. Zum Beispiel haben sie ein Foto von Mao, aber auf der Rückseite ist ein Foto vom Dalai Lama. Tagsüber ist Mao zu sehen und abends drehen sie das Foto um. Aktueller Hinweis: Der Dalai Lama will von seinem politischem Amt als Vorsitzender der tibetischen Exilregierung entbunden werden. Spirituell will er die Tibeter aber weiterhin anführen, so ein Sprecher der Exilregierung. Michaela Doepke führte das Interview mit Minister Tempa Tsering am 12.08.2010 in NeuDelhi, Indien. BUDDHISMUS aktuell 1 | 11 25