polen 2011 - Tagesspiegel

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polen 2011 - Tagesspiegel
POLEN 2011
Zur polnischen EU-Ratspräsidentschaft und zum deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag
DIENSTAG, 13. SEPTEMBER 2011 / NR. 21 095
SEITE B 1
Blick nach vorne. Der Beitritt Polens zur EU und das Verlangen der Städte nach neuer europäischer Identität führen zu neuen Museumsbauten in Polen. Die Computersimulation zeigt das geplante und viel diskutierte Museum für Moderne Kunst und das Theater TR in
Warschau. Spitze in Europa ist auch das Aviation Valley, in dem vor allem MTU Aero Engines Niederdruckturbinen für den Airbus produziert. Archaisch bleibt dagegen die Wildnis der Berge von Bieszczady an der Grenze zur Ukraine.
Fotos: promo, mauritius images
„Verjagen wir den Teufel!“
EDITORIAL
Polen, Europa und die EU-Ratspräsidentschaft – Der Nachbar im Osten versteht sich als Brücke
Von Gerd Appenzeller
Sich in Geschichte auszukennen, gilt
heute als uncool. Viele Menschen leben
im Hier und Jetzt. Und so ist es in einer
weitgehend nicht mehr historisch denkenden Öffentlichkeit fast selbstverständlich geworden, den erreichten Zustand
der politischen Freiheit und des wirtschaftlichen Wohlergehens als gegeben
zu betrachten, ohne sich zu fragen, woher man gekommen ist, wie es um beides
noch 20 oder 30 Jahre zuvor bestellt war,
geschweige denn zu überlegen, was man
tun und lassen muss, um das Bestehende
abzusichern oder vielleicht sogar noch zu
verbessern.
Wer heute daran erinnert, dass die freie
Wahl des Studienortes und des Arbeitsplatzes in ganz Europa noch für die Eltern
der heutigen Abiturienten ein Traum gewesen ist, wird bestaunt wie jemand, der
vom Leben auf dem Bärenfell und in den
Höhlen der Schwäbischen Alp erzählt.
Dass es in der Europäischen Union eine
Niederlassungsfreiheit gibt, dass der dänische Rentner sein Ruhegeld an der Cote
d’Azur so ungestört in Pastis und Meeresfrüchten anlegen darf wie der französische Koch die sinnenfrohen Kopenhagenermitleckereren Dingenals Mayonnaisebrötchen verwöhnen kann – alles geschenkt? Dass an keiner Ländergrenze der
Zoll in den Kofferraum schaut, ob man
auch nicht mehr als zwei Liter Wein dabei
hat – unbedeutend? Dass der deutsche
Tourist in 16 anderen Ländern der EU Urlaub machen kann, ohne Geld wechseln
zu müssen – Nebensache?
Für die Polen ist (vom Euro, den sie
noch nicht haben, einmal abgesehen) dies
alles genießen zu dürfen, ein Triumph
nach Jahrzehnte währendem Kampf um
Freiheit und Demokratie. Wo die Deutschen längst Europa satt zu haben scheinen, sind die Polen noch hungrig darauf.
Heute sind die Polen im Vergleich zu den
Deutschen die etwas anderen, und, pardon, liebe Landsleute, oft die besseren Europäer.
Das freie Polen hat eine Ermahnung
nie nötig gehabt, die der Historiker Heinrich August Winkler dieser Tage der deutschen Politik als Schlussfolgerung aus
dem diplomatischen Libyendebakel mitgab: „Zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung sollte es nach wie vor ein außenpolitischer Imperativ sein, Zweifel an
der Zugehörigkeit Deutschlands zum
Westen gar nicht erst aufkommen zu lassen“. An der eigenen Zugehörigkeit zum
Westen zweifelten die Polen als Nation
und als Volk auch in den Jahren der kommunistischen Diktatur nie. Die millionenfachen Reisen in die USA, die Migration
in das Land der sehnsuchtsvoll vermissten Freiheit, sind dafür Indizien gewesen,
ganz so, wie diese Grundüberzeugung
sich nach dem Ende der Blöcke im Konfliktfall zunächst eher in einer pro-amerikanischen und dann erst in einer pro-europäischen Haltung artikulierte.
Das war nie gegen die EU als supra-nationaleInstitutiongerichtet,sieht maneinmal von der wenig förderlichen doppelten
Kaczynski-Ära ab, in der vorübergehend
der EU gegenüber Züge einer Nehmen-ohne-zu-geben-Mentalität herrschten. Für die Polen waren die Prioritäten
nur immer klar: Die nationale Selbstbestimmung und die Freiheit hatten sie zuerst der Standfestigkeit Amerikas zu verdanken. Der polnische Präsident Bronismaw Komorowski hat den Zusammenhang
zwischen der polnischen Treue zu Europa
und der engen Bindung seines Landes an
die USA in seiner Berliner Rede am 17.
Juni 2011 so artikuliert: „Wir möchten
eine Europäische Union sehen, die ihren
Bürgern ein besseres Leben unter Bedingungen der Freiheit bietet, einer Union,
die in enger Bündniskooperation mit den
Vereinigten Staaten bleibt“.
Polen deswegen als Teil eines leuchtenden „neuen“ Europa gegen ein vermeintlich moralisch verrottetes altes Europa
auszuspielen, konnte nur einem konservativen Ideologen wie dem US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld einfallen. Die Polen waren nach 1990 immer
treuere Europäer als zum Beispiel die Ungarn oder die Tschechen, bei denen öfter
einmal national-chauvinistische Tendenzen die grenzüberschreitende Sicht des
Europas der 27 überlagerten.
Nicht so in Polen. Das Land begreift
sich als Teil Kerneuropas, als dessen
Mitte. Diesen Platz, den einzunehmen
nach ihrem Verständnis die Geschichte
des Kontinentes sie legitimiert, füllen sie
mit Selbstbewusstsein und vor allem mit
Engagement aus. So, wie das wieder vereinigte Deutschland sich als Brücke in den
damals ganz unhistorisch Osteuropa benannten, früher sowjetisch dominierten
Bereich unseres Erdteils verstand, ver-
steht Polen sich als bestimmt für diese
Rollegegenüber denunabhängig gewordenen früheren Teilstaaten der Sowjetunion. Die Ukraine und Weißrussland,
Georgien, ganz selbstverständlich die baltischen Staaten, sind aus polnischer Sicht
auf die Weltkarte geborene Mitglieder einer europäischen Union. Für deren demokratische Entwicklung jedes diplomatischeMitteleinzusetzen,warfüralleRegierungen in Warschau eine Ehrensache.
Wussten sie doch, dass einzig die Einbindung in westliche Bündnisse, ob wirtschaftlicher oder sicherheitspolitischer
Natur, ihnen die Angst vor dem im Osten
aus ihrer Sicht immer noch drohenden alten Hegemon nehmen konnte.
Deshalb war ihnen die Nato-Mitgliedschaft ja fast noch wichtiger gewesen als
der Beitritt zur Europäischen Union.
Nato, das war für jede freie Regierung in
Warschau gleichbedeutend mit den USA,
Polen möchte die
Stabilitätszone in Europa
nach Osten erweitern
und dass erklärt auch das fast schon unreflektierte Einverständnis, einer der Standorte für ein amerikanisches Raketenabwehrsystem in Europa sein zu wollen.
Mochte Washington auch immer wieder
die Planung mit dem Schutz vor iranischen Raketen begründen – für die traumatisierten Polen versprachen die Abwehrsysteme vor allem Schutz vor russischer Bedrohung. George W. Bush, der
amerikanische Präsident dieser Ära, hat
übrigens nie überzeugend den Eindruck
verwischen können, er denke am Ende
ganz ähnlich wie die Polen….
Hier liegen die tiefenpsychologischen
Ursachen für die Wut bebenden Reaktionen auf die Kontakte des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder mit derrussischen Führung über den Bau einer Erdgaspipeline durch die Ostsee, am polnischen Territorium vorbei. Immer wieder
beschworen polnische Politiker damals
eine Energie-Nato, ein Bündnis mit dem
Ziel, die Abkoppelung Osteuropas von
der Erdgas- und Ölversorgung zu verhindern. Lange begriff der Kanzler das nicht.
Diese Mischung aus offensiv betriebener Öffnung gegenüber den früheren Teil-
staaten der Sowjetunion, die heute selbständig sind und der anhaltenden Sorge
vor russischer Dominanz scheint immer
wieder auf. Außenminister Radosmaw Sikorski formulierte das am 5. Dezember
2008 beim XIII. Deutsch-Polnischen Forum in aller Offenheit, als er von der EU in
Richtung Osten eine Politik der „offenen
Tür“ forderte, „um die Stabilitätszone zu
erweitern“. Dazubedürfe es einer gemeinsameneuro-atlantischen Strategie „gegenüber Russland und gegenüber anderen
Staaten, dieinfolge des Zerfalls der ehemaligen UdSSR entstanden sind“.
Geradezu hellsichtig formulierte Sikorski zwei Jahre später bei einer
deutsch-polnischen Tagung aber dann
auch die Angst vor einer Renationalisierung in der Europäischen Union.
Die deutsche Politik gegenüber Russland setzt die Akzente anders. Während
die Regierungen in Warschau permanent
von der Sorge über ökonomischen Druck
aus Moskau getrieben werden – eine
Angst, die man angesichts der russischen
Realpolitik verstehen kann – setzen die
Deutschen auf enge Wirtschaftsbeziehungen, weil sie aus der Geschichte der letzten 40 Jahre die Hoffnung zogen und ziehen, dass vielfältige und enge Verflechtungen durch Handel am ehesten geeignet sind, latente aggressive Strömungen
zu kanalisieren.
Die Politik des Wandels durch Annäherung, deren Instrumentarium sich auf innerdeutscher Ebene bewährte, hatte für
die deutsche Politik immer auch eine Dimension Richtung Osten. Tatsächlich
war diese Politik spätestens seit dem
KSZE-Prozess eher ein Wandel durch
sanfte, gewaltfreie Unterwanderung. Das
Vorbild der freien Gesellschaften des
Westens wirkte auf Dauer zu bestechend,
als dass nicht auch die Macht-Eliten im
Osten Europas irgendwann seiner Strahlkraft erliegen mussten.
Spätestensseit dem Beginn des21. Jahrhunderts, etwa in der Mitte der so genannten Nuller-Jahre, machten sich auch russische Parlamentarier ganz offen Gedanken
darüber, dass in einer Welt der globalisierten Risiken das klassische Blockdenken
endgültig obsolet geworden sein könnte.
Konstantin Kosatchev, der Vorsitzende
des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma,beklagte imvergangenenJahr beieiner Tagung in Berlin: „Gegen Terror, Fanatismus und Proliferation hilft die Nato al-
leinenicht,obwohlsieein wunderbaresSicherheitsmodell ist. Die Russen haben
lange die Wertekomponente der Nato
nichtbegriffen… wir brauchen ein kollektives Sicherheitssystem auch für die, die
nicht drin sind. Irgendwann muss das vereinigte und das geographische Europa zusammen fallen“.
Letztlich ist das wohl auch das langfristige Ziel der polnischen Politik, ein Ziel,
dem die Regierung Tusk während der
sechs Monate der EU-Ratspräsidentschaft zumindest ein Stück näher kommen will. Die Öffnung der EU nach außen ist zwar erst der dritte Punkt auf der
politischen Agenda, aber er genießt
kaum geringere Priorität als die Stärkung
des Wirtschaftsraumes und die Stärkung
der Sicherheit. Polen hat die Wirtschaftskrise seit 2008 bemerkenswert robust
überstanden und kann auf anhaltend gute
Wachstumsraten von vier Prozent pro
Jahr verweisen. Aber es ist nicht überraschend, dass die Pläne für einen baldigen
Beitritt zur Euro-Zone erst einmal auf Eis
gelegt wurden. Donald Tusk hatte nach
der gewonnenen Wahl 2007 noch das
Jahr 2012 als Marke für die Ablösung des
Zloty durch den Euro genannt. Inzwischen ist er vorsichtiger geworden und
sagt nur, noch einmal würde er nicht den
Fehler machen, sich so fest zu legen.
Der Präsident der Polnischen Zentralbank, Marek Belka, ist da weit weniger
diplomatisch. „So lange Griechenland
eine offene Wunde in der Währungsunion bleibt, ist der Euro nicht so attraktiv, wie er einmal war oder möglicherweise wieder werden wird“, hört man
von ihm, auch wenn er den Euro-Beitritt
weiterhin als „strategisches Ziel“ beschreibt.
Das Dilemma der Polen: Sie wollen
nicht den Zerfall der EU in ein schnelles
Europa der 17 Eurostaaten und ein langsames der 27. Und wenn es sich doch in
diese Richtung entwickeln würde, wollen sie unbedingt bei den Schnellen sein.
Zu den retardierenden Elementen gehören unsere Nachbarn im Osten jedenfalls
nicht. Polens Ex-Präsident Aleksander
Kwadniewski, ein großer Europäer, hat
schon vor drei Jahren bei einer Europa-politischen Tagung beider Länder
alle langatmigen Bedenken im Blick auf
Probleme im Einigungsprozess kurz und
knapp so gekontert: „Der Teufel steckt im
Detail? Verjagen wir den Teufel!“
Verlässlicher
Partner
Polen ist präsent in diesem Jahr wie
schon lange nicht mehr. Zum ersten Mal
hat es die Präsidentschaft der Europäischen Union übernommen – was dazu
führt, dass es diesen Herbst ein umfangreiches Kulturprogramm gibt, das uns
Deutschen Polen in den unterschiedlichsten Facetten näher bringt, ob es die große
kulturhistorische Ausstellung „Tür an
Tür“ im Martin-Gropius-Bau ist, die am
23. September öffnet oder die Veranstaltungsreihe „Blickwechsel“ von Polnischem Institut und Akademie der
Künste, um nur einige zu nennen. Aber
Polen ist auch in Europa zu einem starken
wirtschaftlichen Akteur und einem verlässlichen Partner in Sachen Stabilität geworden – eine gute Gelegenheit, in dieser
Beilage das deutsche Polenbild ein wenig
aufzufrischen.
Rolf Brockschmidt
C
INHALT
D
NEUE WEICHEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B2
Polen entwickelt sich zum verlässlichen und stabilen Verbündeten
Deutschlands in Fragen der europäischen Zusammenarbeit.
EINE BOTSCHAFT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B3
Die beiden Botschafter über persönliche Eindrücke und den Wandel des
Verhältnisses beider Staaten.
HANDEL DURCH ANNÄHERUNG . . . . B4
Der deutsch-polnische Warenaustausch ist intensiv. Trotz Wirtschaftskrise investieren beide Länder zudem
beim jeweiligen Nachbarn.
GAST ZWISCHEN DEN POLEN . . . . . . . B5
Der Kabarettist Steffen Möller gibt
deutschen Polen-Auswanderern zehn
wertvolle Tipps zum Überleben.
JUNGE KUNST . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B6
Die Kunst aus Polen ist seit Jahren ein
großer internationaler Erfolg. Ein
Überblick.
FRÜHE GEMEINSAMKEITEN . . . . . . . . . B7
Welches kulturelle Erbe Deutschland
und Polen seit vielen Jahrhunderten
verbindet. Drei Beispiele.
POLEN IN BERLIN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B8
Kulturveranstaltungen: Konzerte, Lesungen, Ausstellungen– eine Auswahl.
B2
POLEN 2011
DER TAGESSPIEGEL
NR. 21 095 / DIENSTAG, 13. SEPTEMBER 2011
Neue Weichen für neurotische Partner
Polen entwickelt sich zum verlässlichen und stabilen Verbündeten Deutschlands in Fragen der europäischen Zusammenarbeit
Das zweite Anzeichen, dass sich zwischen Polen und Deutschland etwas
Neues anbahnt, was die althergebrachten
Muster der Nachbarschaft umzudeuten
scheint, ist das Herausbrechen des
deutsch-polnischen Dialogs aus einem
Themenbereich, in dem er seit Jahren verharrte. Es geht nicht nur darum, dass der
Streit um die Vergangenheit zunehmend
selbst der Vergangenheit angehört, sondern auch um die Tatsache, dass Polen
für Deutschland ein wichtiger Partner
auch in anderen, nicht nur den traditionellen Fragen der Ostpolitik zu werden
scheint. Die Wirtschaftspolitik ist heute
nicht das einzige Beispiel dafür. In der
Energie- und Klimapolitik liegen etwa die
deutschen und polnischen Positionen
weit auseinander. Während Berlin im großen Stil aus Atom aussteigt, will Warschau sein erstes Kernkraftwerk in zehn
Jahren ans Netz legen. Schraubt Deutschland seine Ziele im Bereich der Erneuerbaren Energien hoch, kommt Polen noch
lange um die Kohle nicht herum.
Jetzt, wo Polen die EU-Präsidentschaft
wahrnimmt, wird viel auf dem Spiel stehen. Die kollabierenden Wirtschaften
Südeuropas werden für schlaflose
Nächte der europäischen Politiker sorgen und in den sich beginnenden Verhandlungen über den EU-Haushalt wird
sich die Frage der europäischen Solidarität neu stellen. Auch in der letzten Frage
wird ein deutsch-polnischer Kompromiss nicht leicht zu finden sein.
Von Piotr Buras
Deutschland wird die Heranführung Polens an die EU fördern – so lautet die
wichtigste Verpflichtung im Nachbarschaftsvertrag vom 17. Juni 1991. Sie war
von historischer Tragweite, hat aber im
bilateralen Verhältnis auch unmissverständlich die Rollen verteilt: hier der
große Onkel, in den 90ern besonders
überzeugend durch Helmut Kohl symbolisiert, da der Juniorpartner, dem es unter
die Arme zu greifen gilt. Dieser Satz hat
auch den Inhalt der viel beschworenen
deutsch-polnischen Interessengemeinschaft geprägt – und eine politische Leere
zwischen Berlin und Warschau hinterlassen als Polen 2004 der EU beitrat. Auf
die Frage, wie es weiter geht, wusste nun
keiner mehr eine gute Antwort. Letztlich
ging es um das Emotionale: Freude und
Auf-die-Schulter-klopfen, als das europäische Ziel nach jahrelangem Ringen erreicht wurde. Und Enttäuschung, als der
von Warschau erhoffte deutsch-polnische Motor in der erweiterten EU nicht
anspringen konnte.
Die deutsch-polnische Nachbarschaft
war in den letzten 20 Jahren meistens
gut, sie war aber auch neurotisch. Sie
konnte nicht normal, durchschnittlich,
lauwarm sein – und wurde sie das, dann
stellten sich sofort Missmut und Bekümmertheit ein. Unerfüllbare wechselseitige Erwartungen prägten diese Nachbarschaft (Wann werdet ihr Deutsche uns als
Partner behandeln? Wann lasst ihr Polen
Bei Energie- und Klimapolitik
liegen die Positionen
weit auseinander
mit voller Wucht Portugal. Polen war das
einzige Land in der EU, das trotz der
Krise positive Wachstumswerte verzeichnete. Zugegeben: Polens Politik bleibt irritierend in ihrer Fixierung auf Nebensächlichkeiten wie die absurde Auseinandersetzung über die Smolensk-Katastrophe.
Sie ist heute für viele auch zu wenig an
Reformen orientiert und zu wenig vorausschauend. Aber würde jemand sagen,
dass dies etwas Anderes als nur Durchschnitt im europäischen Maßstab ist?
Man mag sich zu Recht über die
Kaczynski-Partei ärgern – bald kann sie
genauso ein fester Bestandteil der politischen Landschaft an der Weichsel werden wie die Rechtspopulisten in vielen
westeuropäischen Ländern.
Die Länder Mittel- und Osteuropas verfolgen eine Wirtschaftspolitik, die im
Großen und Ganzen – betrachtet man deren Haushaltsdefizite und deren Verschuldung – mehr der von Deutschland
oder jener der skandinavischen Länder
ähnelt als der, die von den Südeuropäern
verfolgt wird. Wer heute in Deutschland
von einer Transferunion spricht, hat
nicht, wie noch vor ein paar Jahren, das
„neue Europa“ vor Augen, sondern den
südlichen Teil des Kontinents. Die alte
Optik funktioniert nicht mehr – sie hat
sich so schlagartig verändert, dass viele
diese Entwicklung noch nicht bemerkt haben. Aber sie wird aller Wahrscheinlichkeit nach nachhaltig bleiben. Das
Ost-West-Europa hat sich in ein NordSüd-Europa verwandelt.
Was bedeutet das alles für die
deutsch-polnische Nachbarschaft? Dass
sich eine bemerkenswerte Verschiebung
im
Patenonkel-Sorgenkind-Verhältnis
seit geraumer Zeit anbahnt, ist kein
Wunschdenken mehr. Erstaunlich genug,
avancierte Polen, einst das verspottete
Land der „polnischen Wirtschaft“, zu einem der Brüder im Geiste Deutschlands
in den Fragen der europäischen Wirtschaftszusammenarbeit. Noch vor ein
paar Jahren wäre es undenkbar gewesen,
dass der deutsche Finanzminister die polnische Version der Schuldenbremse für
die ganze EU als Muster vorschlägt.
Nichts Neues? Nun ist der Unterschied
zu den früheren Zwistigkeiten zwischen
Berlin und Warschau kaum zu übersehen. Erstens, heutige Auseinandersetzungen sind schlecht auf rückwärtsgewandte
Gereiztheiten oder irrationale Reaktionen eines von Komplexen geplagten Juniorpartners zurückzuführen. Es sind
handfeste Interessendivergenzen, die
nicht zum Augenrollen, sondern zu einem Grand Bargain einladen.
Zweitens, so überraschend es klingen
mag: Polen ist in den vergangenen Jahren, als Europa andere Probleme hatte,
zu einem der stabilsten und berechenbarsten Länder der EU geworden. Wer
heute nur einen kurzen Blick auf die politische Karte Europas wirft, ob auf Griechenland, Spanien, Portugal, Berlusconis
Italien oder auch auf Ungarn, Finnland,
Belgien oder die Niederlande, der wird
sofort merken, dass dies keine leere Floskel ist. Das einstige Bild vom Sorgenkind
verblasst sehr schnell. Keine schlechten
Gründe, um von einem neuen Kapitel im
deutsch-polnischen Verhältnis zu reden.
Nur bitte kein Pathos. Es hat schlicht
den Anschein, als ob die mehrfach angeführte Devise, dass nicht nur eine Interessengemeinschaft im Sinne einer Deckungsgleichheit der Interessen, sondern
auch eine Interessendivergenz, die zu
Kompromissen zwingt, eine politische
Partnerschaft begründen kann, sich hier
bestätigen sollte. Das gilt seit langem für
Deutschland und Frankreich, und das gilt
zunehmend auch im deutsch-polnischen
Verhältnis.
— Piotr Buras, geb. 1974, Journalist der polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“,
lebt in Berlin.
PAWEŁ ALTHAMER
Photo: Piotr Trzebinski
Courtesy Neugerriemschneider, Berlin and Foskal Gallery Foundation, Warsaw
die Geschichte endlich los?) genauso wie
ein Hang zur Hysterie. Interessengegensätze, wie die Ostseepipeline, unterschiedliche Wege im Irak-Krieg oder Divergenzen in der EU-Verfassungsdebatte
konnten nicht pragmatisch behandelt,
sondern mussten sofort zu unüberbrückbaren Wertekonflikten stilisiert werden.
Nun war diese Gemütslage nur zum
Teil den deutsch-polnischen Besonderheiten verschuldet. Vielmehr war sie
auch von einem europäischen Strukturmerkmal überlagert, das auf eine lange
Geschichte zurückgreift. Jahrzehntelang
war Europa durch eine unsichtbare
Trennlinie geteilt, die zwischen Ost und
West verlief. Nicht nur im Kalten Krieg,
sondern auch nach seinem Ende und
trotz der fortschreitenden Integration
des Kontinents. Die Ost-West-Dimension
war ein Paradigma, das unser Denken
über Europa im geordneten Rahmen
hielt.
Dieser Unterscheidung lag ein gewisser Fatalismus der Randständigkeit des
Ostens zugrunde. Der Osten war ärmer,
wirtschaftlich rückständig, provinziell.
Er schaute auch – Polen ist hier das beste
Beispiel – misstrauisch auf Russland, und
in seiner Rolle als Juniorpartner erschöpften sich die Möglichkeiten seiner Mitwirkung am europäischen Geschehen. Der
Osten wurde durch den Westen definiert,
mit einem kaum erträglichen Überlegenheitsgefühl, aber auch mit vielen guten
Gründen.
Leben wir noch in einem Ost-West-Europa? In der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise standen vor allem die Länder
des europäischen Südens am Pranger:
Griechenland, Spanien und Italien, nun
Illustration: Miroslaw Gryn
Das Nord-Süd-Problem löst
in Europa den alten
Ost-West-Gegensatz ab
28.10.2011 —
16.1.2012
Unter den Linden 13/ 15, 10117 Berlin
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POLEN 2011
DIENSTAG, 13. SEPTEMBER 2011 / NR. 21 095
DER TAGESSPIEGEL
B3
20 JAHRE DEUTSCH–POLNISCHER NACHBARSCHAFTSVERTRAG
Zwei Botschafter – eine Botschaft
Endlich „sichtbare“ Nachbarn?
Von Marek Prawda
Voriges Jahr wurde in den Berliner
Kunst-Werken eine Installation unter dem
Titel „Unsichtbare Frauen der Solidarnodk<“ gezeigt. Eine junge Künstlerin
wollte uns auf die heutige Marginalisierung der Frauen, die in der Freiheitsbewegung von August 1980 mitwirkten, aufmerksam machen. Sie waren als „weiße
Bilder“ dargestellt, und es bedurfte einiger Anstrengung, um in ihnen die Konturen von Frauengesichtern zu entdecken.
Das bringt mich zu der Beobachtung, dass
es manchmal auch „unsichtbare Nachbarn“ geben kann. Wenn die Bilder voneinander weiß sind – wie in den Kunst-Werken – und nicht aus eigenem Interesse mit
neuen Inhalten gefüllt werden, bleiben
nur die unbewusst tradierten Denkmuster
und familiär überlieferten Ressentiments
übrig. Ich glaube, dass diese Beschreibung auf die deutsch-polnischen Beziehungen, vor allem in den Nachkriegsjahrzehnten, weitgehend zutrifft. Und was wir
nach dem Systemwechsel 1989 erleben,
ist der Prozess einer allmählichen Überwindung dieses Zustandes.
Im Mai besuchte ich eine polnische
Stadt unweit der Grenze zu Deutschland,
wo eine neue Philharmonie eröffnet
wurde. Der Bürgermeister machte daraus
einen deutsch-polnischen Abend, weil
das 20-jährige Jubiläum des Nachbarschaftsvertrages kurzbevorstand.Es spielten Musiker und sangen Solisten aus beiden Ländern. Der polnische Bürgermeister erzählte in bewegenden Worten, wie
lange es gedauert habe, bis die „neuen“
Einwohner dieser Stadt, fast alle aus einer
Region in der heutigen Ukraine stammend(vor1939polnisch),sie alseinen „sicheren Hafen“ betrachten und liebgewinnenkonnten. Darauf antwortete einin derselben Stadt (vor 1945 deutsch) geborener Gast aus Deutschland, dass auch für
Vertraut, herzlich, gastfrei
ihn diese Stadt in den vergangenen 20 Jahren zu einem „sicheren Hafen“ geworden
sei. Er fühle sich dort immer willkommen
und „sehr zu Hause“. Der deutsche Gast
bekam andiesem Abend den lautestenBeifall.
DieGeschichte wird immerwichtig bleiben, aber zwischen uns entsteht gerade
ein neuer Raum, den wir selbst gestalten
können, der heute im Mittelpunkt unserer
Aufmerksamkeit stehen sollte. Die Berliner Ausstellung „Tür an Tür“, die der
1000-jährigen deutsch-polnischen Nachbarschaft gewidmet ist, soll uns die Augen
öffnen für die vielfältigen Kontakte und
historischen Wechselwirkungen, die wir
durch den Fokus auf die tragischen Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts häufig außer Acht lassen. Vor allem aber ermutigt sie uns, die Türen weiter zu öffnen,
uns selbst durch die Brille des Nachbarn
zu betrachten und in unsere heutigen Beziehungen „neue Farben zu malen“.
Polen kann selbstbewusst auf die politische und wirtschaftliche Entwicklung der
zurückliegenden20 Jahre schauen. Aus einem Land, das man eine Zeit lang als „Problemfall“ etikettierte, wurde ein europäischer „Ideengeber“, der sich an einem Gespräch über den Tag hinaus, über die Zukunft des europäischen Einigungsprozesses beteiligt. Viele wundern sich auch
über die weitgehende Übereinstimmung
der deutschen und polnischen Politik zur
Stabilisierung der öffentlichen Finanzen.
Es mutet geradezu „revolutionär“ an,
wenn ich in den vergangenen zwei Jahren
viel häufiger als nach dem Zentrum gegen
Vertreibungen, nach der Schuldenbremse
gefragt werde, die wir in Polen vor 14 Jahren mit viel Erfolg in unserer Verfassung
installierten. Unsere Debatten werden
„angenehm langweilig“.
— Der Autor ist seit 2006 Botschafter Polens in Deutschland
Von Rüdiger von Fritsch
Partnerschaft. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Premierminister Donald Tusk leiteten
am 21. Juni die ersten deutsch-polnischen Regierungskonsultationen. Foto: picture-alliance/dpa
„Brak dwiatma” – „Lichtmangel” war auf
den rückwärtigen Brettern der Pferdefuhrwerke zu lesen, die allerorten unvermittelt vor einem auftauchten, fuhr man
Ende der 80er Jahre in Polen über Land.
„Lichtmangel“ – dieses Wort war gleichermaßen Synonym für den Zustand des ganzen Landes: die Städte grau und schwach
beleuchtet, die sozialistische Wirtschaftsordnung im Zerfall, die Geschäfte leer,
die Freiheits- und Bürgerrechte unterdrückt, die Menschen gehetzt und bedrängt von ihren Alltagsnöten, die Zukunftsaussichten trostlos. So habe ich Polen Ende der 80er Jahre als junger Diplomat kennengelernt. Und doch gab es ein
leuchtendes Zeichen der Hoffnung: In ihrer Entschlossenheit, die Verhältnisse zu
ändern, ließen die Menschen sich nicht
beirren. Und ihre Beharrlichkeit war, wie
wir wissen, von Erfolg gekrönt. Der revolutionäre Umbruch von 1989 schenkte
den Menschen die Freiheit und fügte das
zerrissene Europa wieder zusammen.
20 Jahre später bin ich als Botschafter
nach Polen zurückgekehrt – und alles hat
sich radikal verändert: Entschlossen, tatkräftig und mit eindrucksvollen Erfolgen
haben unsere polnischen Nachbarn den
Aufbau ihres Landes vorangebracht. Sich
in einem freien Land für selbst gesteckte
Ziele einsetzen zu können – das hat ungeheure Tatkraft freigesetzt. Gewiss, dazu
hat viel Hilfe von außen beigetragen, so
aus der EU – doch sie ist gut genutzt worden. Als einziges Land der EU ist Polen
ohne rote Zahlen durch die Wirtschaftsund Finanzkrise gekommen.
Ein Zweites beeindruckt mich neben
dem völligen Wandel des Landes: Die fundamentale Veränderung des deutsch-polnischen Verhältnisses. Bis 1989 prägten ungelöste Probleme, Spannungen und Misstrauen das Verhältnis. Doch selten haben
sich die Beziehungen zwischen Nachbarn
in so kurzer Zeit so grundlegend verändert.
Hierzu haben kluge Verträge und beharrliche Politik beigetragen – vor allem aber
auch menschliche Begegnungen. Millionen sind in beide Richtungen gereist und
haben selber gesehen und erlebt, dass die
Vorurteile nicht stimmen, dass es Grund
gibt, Vertrauen zu einander zu fassen und
vor allem: dass wir einander ähnlicher sind
als wir in der Vergangenheit geahnt haben.
In dem Maße, wie Staub und Lärm vergangener Kontroversen sich gelegt haben entdecken wir: Deutsche und Polen haben unendlich viel gemein – an kulturellen Traditionen und in ihrer Mentalität, in ihrer Art
Probleme anzugehen und in vielen grundsätzlichen Wertvorstellungen. Salopp formuliert: Wir essen gerne dunkles Brot, lieben Pünktlichkeit und feiern Weihnachten
nicht am 25., sondern am 24. Dezember.
Heute wächst mitten in Europa eine
starke Partnerschaft,die es uns erlaubt, gemeinsam Verantwortung für das europäische Einigungswerk zu übernehmen, von
dessen Notwendigkeit Deutsche wie Polen in besonderem Maße überzeugt sind.
Wir wissen, dass Europa nicht allein ein
Projekt ist, den Wohlstand seiner Bürger
zu mehren, sondern in erster Linie eine
Friedensordnung. Unsere gemeinsame
schwierige Geschichte hat uns gelehrt, ihr
besonders verpflichtet zu sein.
Hat sich alles radikal geändert im Abstand und Abgleich von 20 Jahren? Nicht
ganz, zum Glück: Die Menschen sind die
gleichengeblieben. Vertraut, weiluns ähnlich, herzlich und gastfrei, voller Stolz auf
das in ihrer Geschichte Geleistete und mit
einer wunderbaren Gabe zur Selbstironie.
Ansonsten: das Schild „Lichtmangel“ ist,
gemeinsam mit den Pferdefuhrwerken,
längst im Museum gelandet.
— Der Autor ist seit 2010 Botschafter
Deutschlands in Polen
Polen und Deutsche entdecken im
gegenseitigen Verhältnis die Normalität
Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach sieht wachsende
Sympathie und den Wunsch nach engerer Zusammenarbeit
Die gute Nachricht zuerst – 48 Prozent
der Deutschen beurteilen in diesem Jahr
die deutsch-polnischen Beziehungen als
gut, die Polen sind mit 50 Prozent etwas
positiver als ihre Nachbarn. Die Deutschen verhalten sich zu 33 Prozent unentschieden in dieser Frage, die Polen nur zu
26 Prozent. „Nicht so gut“ sehen 19 Prozent der Deutschen die Beziehungen,
während es in Polen noch 24 Prozent
es so sehen. Anders herum gesagt: Jeder zweite Bürger in beiden Ländern
findet, dass die Beziehungen gut sind.
Dasist einins Auge springendesErgebnis der Studie zum Stand der
deutsch-polnischen Beziehungen, die
dieStiftungfür Deutsch-Polnische Zusammenarbeit in diesem Jahr beim Institut für
Demoskopie in Allensbach in Auftrag gegeben hat. Anlass für diesen Auftrag ist
der 20. Jahrestag der Unterzeichnung des
Vertrages „Über gute Nachbarschaft und
freundschaftliche Zusammenarbeit“ vom
17. Juni 1991– ein Meilenstein in der Entwicklung der Beziehungen, die lange von
den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs
überschattet wurden.
Deutschland ist mit
58 Prozent Polens
Wunschpartner in der Welt
Wie sieht die Situation 66 Jahre nach
Kriegsende aus? Wie nach 20 Jahren des
Vertrages und wie nach sieben Jahren des
Beitritts Polens zur Europäischen Union,
deren Ratspräsidentschaft Polen seit
dem 1. Juli inne hat?
Fragt man nach der Verbesserung der
Beziehungen während der letzten zehn
Jahre, dann geben 25 Prozent der Deutschenan, dass sich dieBeziehungen „deutlich verbessert“ hätten gegenüber 20 Prozent bei den Polen. „Etwas verbessert“ haben sich für 40 Prozent der Deutschen
die Beziehungen gegenüber 49 Prozent
der Polen. Von einer Verschlechterung
reden in Deutschland nur drei Prozent, in Polen vier Prozent.
Interessant ist, dass 58 Prozent der
Polen sich eine engere Zusammenarbeit
mit Deutschland wünschen – Platz 1.
Erst mit 47 Prozent folgen die USA, dann
Russland mit 43 Prozent, Großbritannien mit 41 Prozent sowie Frankreich
und Tschechien mit je 32 Prozent. Das
Vertrauen in ein wirtschaftlich starkes
Deutschland in Europa ist groß.
Bei den Deutschen mit ihrer klassischen Westbindung liegt Polen als wün-
schenswerter Bündnispartner hinter den
USA, Frankreich, China, Russland, Österreich, Niederlande, aber mit 32 Prozent
doch vor Spanien, Italien und der Tschechischen Republik. Polen ist damit in den
Kreis der wichtigen und engeren Verbündeten Deutschlands getreten. Folgerichtig finden auch 58 Prozent der Deutschen, dass ein gutes Verhältnis zu Polen
genauso wichtig ist wie zu Frankreich
oder Großbritannien.
Dass Polen ein wichtiger Handelspartner für Deutschland ist, haben 46 Prozent der Polen begriffen, aber erst 26 Prozent der Deutschen. Hier besteht noch
Nachholbedarf in der Vermittlung.
Wenn sich die Verhältnisse so verbessert haben, liegt es nahe zu fragen, ob
beide Länder ein normales oder ein ganz
besonderes Verhältnis zueinander haben.
Das Ergebnis ist überraschend, denn 43
Prozent der Deutschen finden das Verhältnis normal, aber weitere 39 Prozent
betonen wegen der Vergangenheit den besonderen Status der Beziehungen. Ja,
die Deutschen, die an Polen besonders
interessiert sind, sehen nur zu 26 Prozent die Normalität, während 73 die
Besonderheit betonen.
Die Polen wiederum beantworten
diese Frage erfreulich erfrischend und
überraschend: 70 Prozent gehen von einem normalen Verhältnis aus, nur 13 Prozent betonen den besonderen Status und
auch die, die ein größeres Interesse an
Deutschland haben, sehen die Ausnahmesituation nur zu 16 Prozent und die Normalität gar zu 73 Prozent. Einen Schlussstrich unter die Vergangenheit wollen
49 Prozent der Deutschen ziehen, in Polen sind es 42 Prozent. Die Ereignisse des
Zweiten Weltkriegs sollen nicht vergessen werden, aber sie sollen auch nicht die
nachbarschaftlichen Beziehungen überschatten.
Betrachtet man nun die Bilder, die sich
die einzelnen Länder vom jeweiligen
Nachbarn machen, fällt auf, dass die Polen ein relativ realistisches Deutschlandbild haben. 67 Prozent sehen die gute
wirtschaftliche Entwicklung, 60 Prozent
erwähnen den hohen Lebensstandard, bescheinigen den Deutschen zu 52 Prozent
ein großes Selbstbewusstsein und finden
zu 50 Prozent, dass Deutschland ein modernes Land ist.
Das Polenbild der Deutschen ist dagegen noch von vielen Stereotypen geprägt, Religion und Glauben spielen
nach deutscher Meinung zu 73 Prozent
eine große Rolle, dann kommt mit 61
Prozent der ausgeprägte Nationalstolz,
mit 60 Prozent der hohe Rang der Familie und 57 Prozent glauben, dass viel
Wert auf Tradition gelegt werde,
ebenso viele Deutsche loben die Schönheit der polnischen Landschaft. Dass
beide Länder sich ähnlich seien, sehen nur 18 Prozent der Deutschen
und 17 Prozent der Polen.
Interessieren sich denn die Nachbarn für die Entwicklungen im anderen Land? „Sehr“ nur sechs Prozent
der Deutschen und vier Prozent der
Polen, „etwas“ immerhin jeweils 43 Prozent. Es bleibt bei einer gewissen Distanz und Fremdheit, aber ist das Interesse der Deutschen zum Beispiel an
der Entwicklung in Belgien größer? Die
Frage wurde nicht gestellt – vielleicht
ist das auch ein Ausdruck gewonnener
Normalität nach allem, was geschehen
ist.
Rolf Brockschmidt
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Die Bahn macht mobil.
B4
POLEN 2011
DER TAGESSPIEGEL
POLENS WIRTSCHAFT Handel
NR. 21 095 / DIENSTAG, 13. SEPTEMBER 2011
durch Annäherung
Das neue Kraftzentrum in der Mitte Europas
Ökonomen schauen mit Hochachtung auf Polens Wirtschaft – Das Land steht in der Liste der Investitionsstandorte an sechster Stelle weltweit
Von Mathias Brüggmann
Der Jungkommunist steht noch immer
ausSteingemeißelt in einemErker des Stalinschen Kulturpalastes im Zuckerbäckerstil im Herzen Warschaus. Ein dickes
Buchmit der Aufschrift „Marx, Engels, Lenin“ trägt er unter dem Arm. Doch was er
rundherum sieht, ist die neue Zeit: Wolkenkratzer aus Glas und Beton,
Fünf-Sterne-Hotels, moderne Einkaufszentren und direkt vor sich ein „Hard
Rock Cafe“. Die grell in RegenbogenfarbenblinkendeRiesengitarre überdemEingang symbolisiert dieseneue Zeit:Das moderne, aufstrebende, zukunftsgerichtete
Polen. Design statt Plattenbauten.
Seit dem Krisenjahr 2009 sprechen die
meisten Ökonomen sogar vom Wunder
an der Weichsel: Polen schaffte es als einziges EU-Mitgliedsland sogar mit 1,8 Prozent Wachstum durch die weltweite Rezession zu kommen. Das Land an Oder
und Weichsel wurde zu einer neuen Lokomotive für die Wirtschaft in Europa. Und
sie steht noch immer mächtig unter
Dampf: Im zweiten Quartal legte Polens
Bruttoinlandsprodukt um 4,3 Prozent zu
(zum Vergleich: Deutschland nur noch
um 0,1 Prozent).
„Polnische Wirtschaft“ war einmal ein
Schimpfwort, Synonym für Schlendrian
und Missmanagement. Heute schauen
Ökonomen mit Hochachtung auf Polens
Wirtschaft: „Das Land ist klarer Gewinner
sowohl der EU-Erweiterung als auch der
Globalisierung“, sagt Bert Rürup vom Beratungs- und Analysehaus Maschmeyer
Rürup. Längst werden die meisten Kühlschränke und Flachbildschirme für Europa in Polen hergestellt. Ob LG in
Wrocmaw, VW in Poznan, Opel in Gliwice,
Fiatin Tychy, MANbeiKrakvw,Bosch-Siemens Haushaltsgeräte in Mvdu, MTU in
Rzeszvw, Unicredit mit seiner Bank Pekao
inWarschau oderdie Commerzbank-Tochter BRE-Bank dort – das Land am Drehkreuz zwischen Ost und West, Skandinavien und Südeuropa ist längst ein Magnet
für Auslandsinvestoren.
Inzwischen kommt sogar Hollywood
an die Autobahn zwischen Krakau und
Kattowitz: In den dortigen Alvernia Studios wird demnächst der Streifen „Arbitrage“ zu Ende gedreht, der als neues
„Wall Street“-Drama weltweit Zuschauer
in die Kinos locken soll.
Die international führenden Investmentbanken sind in Warschau so stark
vertreten wie nirgends sonst zwischen
Frankfurt und Moskau. Denn die Weichsel-Metropole ist mit ihrer Börse GPW
inzwischen der wichtigste Finanzplatz,
hat die Wiener Börse längst hinter sich
gelassen. 149 Börsengänge (IPO) hat die
GPW seit Jahresbeginn gesehen, trotz europaweiter IPO-Flaute, darunter 17 Börsendebüts internationaler Firmen. Diese
Dynamik kommt auch Dank einer massiven Privatisierungswelle zustande.
Das hat auch dazu geführt, dass im Vergleich zum Vorjahr die Löhne in der polnischen Privatwirtschaft im Juli um fünf
Prozent zulegten – auf durchschnittlich
3612 Zmoty (fast 900 Euro). Der Einzelhandelsumsatz stieg laut Statistikamt
GUS sogar um 10,2 Prozent. Die Anzahl
privater Baugenehmigungen legte um
Selbst in der gegenwärtigen
Krise zeigen die Indikatoren
noch Wachstum an
weitere 24 Prozent zu. Und die Unternehmen außerhalb der Finanzindustrie konnten ihre Gewinne im ersten Halbjahr sogar um 34 Prozent erhöhen.
Natürlich sind bereits Abschwächungen spürbar. Die Indikatoren zeigen gebremstes Wachstum an, aber immer
noch nach oben. „Das zeigt, dass sich unsere Wirtschaft immer noch dynamisch
entwickelt. Sie ist eine der dynamischsten in ganz Europa“, meint der Analyst
Pawem Majtkowski: „Ich bin stolz auf Polens Wachstum und die EU, deren Strukturfonds eine der Hauptquellen des Wirtschaftswachstums sind“, lobte Premierminister Donald Tusk die im Zuge der laufenden EU-Haushaltsverhandlungen umstrittene Förderpolitik der Europäischen
Union. Der Regierungschef steht mit seiner konservativ-liberalen Bürgerplattform mitten im Wahlkampf und strebt am
9. Oktober eine große Mehrheit im Parlament Sejm an. Parallel hat Warschau in
diesem Halbjahr erstmals die EU-Ratspräsidentschaft inne.
Und so verteidigt Tusk die EU-Regional- und Strukturfonds, von denen sein
Land den höchsten Milliardenbetrag aus
Brüssel einstreicht. Und der EU-Haushaltskommissar, der Pole Janusz Lewandowski, will, dass dies auch so bleibt. Polen, so argumentieren die Politiker an der
Am laufenden Band. Der VW Caddy wird
seit Ende 2003 auf einer Produktionslinie in
Posen montiert. Parallel zum Start der Produktion des Lieferwagens feierte die
VW-Nutzfahrzeugsparte ihr zehnjähriges Ju-
biläum am Standort Polen. Jährlich produzieren die 6000 Mitarbeiter rund 155 000
Fahrzeuge der Modelle Caddy und Transporter T 5. Damit ist VW Poznan heute der
zweitgrößte Exporteur Polens.
Foto: dpa
Weichsel, sei zum Vorbild geworden, wie
die EU-Gelder den Wandel in Europa vorantrieben. Peinlich nur, dass trotz der
Förder-Milliarden zur Modernisierung
der Infrastruktur ausgerechnet 2012, wo
Polen zusammen mit dem Nachbarn
Ukraine die Fußball-Europameisterschaft beherbergt, die im Bau befindlichen Autobahnen bis zum Anpfiff nicht
fertig werden. Das ist ein echter Wermutstropfen für das aufstrebende Land,
das auch nach 3,8 Prozent Wirtschaftswachstum voriges Jahr mit einem
Pro-Kopf-BIP von 12 450 Dollar auf nur
62 Prozent des EU-Durchschnitts kommt.
Dabei ist die siebtgrößte Volkswirtschaft der EU im Vergleich zu den meisten Standorten Mittel- und Osteuropas
weit mehr als eine verlängerte Werkbank. Vielmehr sei Polen zum Wunderknaben im Osten geworden, wie Vizepremier und Wirtschaftsminister Waldemar
Pawlak erklärt, weil es mit 38 Millionen
Einwohnern einen großen Binnenmarkt
habe. Im Gegensatz etwa zum Nachbarn
Slowakei, der 85 Prozent seines BIP
durch Exporte generiere, liege diese Zahl
in seiner Heimat unter 40 Prozent.
Es gebe „keine wirtschaftliche Monokultur wie die Konzentration auf die Autoindustrie bei einigen EU-Nachbarn“, sagt
Pawlak, der vom kleinen Regierungs-Koalitionspartner Bauernpartei kommt, und
lobt die unternehmerische Dynamik und
die Flexibilität der Arbeitnehmer. „Wir
haben eine Menge Erfahrung mit Transformation. Das macht uns immun gegen
Turbulenzen.“ Damit spielt Pawlak auf
die harten Reformen an, die das Land
nach dem Absetzen der Kommunisten
durch die „Solidarnodk“-Gewerkschaftsbewegung und die ersten freien Wahlen
im Ostblock 1989 durchsetzte.
Die Früchte kann Warschau nun ernten: Im „World Investment Report 2011“
der
UNO-Entwicklungsorganisation
UNCTAD erreicht Polen den sechsten
Platz unter den besten Investitionsstandorten der Welt und damit den vordersten
Rang aller EU-Mitglieder. Besser als Polen sind in dieser-Rangliste für 2011 bis
2013 nur China, die USA, Indien, Brasilien und Russland platziert. In den ersten
fünf Monaten konnte das Land bereits
4,2 Milliarden Euro an ausländischen Direktinvestitionen anlocken. Und die Polnische Agentur für Information und Auslandsinvestitionen (PAIiIZ) hat weitere
172 potenzielle Projekte in der Pipeline,
die Investitionen für insgesamt weitere
1,6 Milliarden Euro sowie 47 574 neue
Arbeitsplätze versprechen. Viele davon
könnten in Krakvw entstehen. Denn die
Heimstatt der weltberühmten Wawel-Burg ist laut UNCTAD die weltweit
beste Stadt für Projekte beim sogenannten Business Outsourcing.
Doch das bald neu gewählte Kabinett
hat auch eine Menge Hausaufgaben zu erledigen: Wie in Deutschland steht dem bevölkerungsreichsten EU-Ostland eine radikale Energiewende bevor. Allerdings
soll diese anders erfolgen: Polen muss davon wegkommen, wie bisher 90 Prozent
seines Stroms aus Braun- und Steinkohle
zu produzieren. Neben erneuerbaren
Energien will Warschau aber sein erstes
Atomkraftwerk bauen und setzt auf umstrittene Bohrungen nach „ Schiefergas“.
Hauptaufgabe Nummer zwei ist die
Haushaltssanierung. Polen hat zwar sogar vor Deutschland eine Schulden-
Nach den Wahlen im Oktober
muss die neue Regierung
ein Sparprogramm vorlegen
bremse in seine Verfassung eingebaut,
die eine Staatsverschuldung über 60 Prozent des BIP verbietet. Aber da das Etatloch seit Jahren deutlich über dem anderen Maastricht-Kriterium von drei Prozent des BIP liegt, marschieren die Staatsfinanzen wacker auf die 60-Prozent-Marke zu. Nach den Wahlen muss
die neue Regierung also ein drastisches
Sparprogramm einleiten, das sich Tusks
klar favorisierte Bürgerplattform bisher
nicht zu präsentieren traut.
Ebenso bedeckt hält sich Tusk in der
Euro-Frage: War die Einführung der Gemeinschaftswährung unter dem Motto
„den Euro zur Euro 2012“ einst das Ziel,
so rückt es jetzt in weite Ferne: „Wir sollten über die Vor- und Nachteile der Einheitswährung gründlich nachdenken“,
drückt Wirtschaftsminister Pawlak heute
auf die Bremse. Denn: „Zur Zeit könnte
man die Euro-Zone eher mit einem löchrigen Regenschirm als mit einem Schutzschild vergleichen, der vor Turbulenzen
auf den Weltmärkten schützt.“ Ohne
Euro aber, das weiß Tusk, kann Polen seinen Traum nicht verwirklichen, eine der
führenden Mächte in der EU zu sein.
Investitionen gegen den Trend
22 Milliarden Euro haben deutsche Firmen im Nachbarland investiert – doch auch Polen engagiert sich: Die wechselseitigen Wirtschaftsströme werden stärker
Obwohl Russland viel größer ist und zudem Deutschlands wichtigster Energielieferant, ist Polen der größte Handelspartner der Bundesrepublik im ganzen Osten
Europas. Und so haben im ersten Halbjahr 2011 die deutschen Exporte in die
Russische Föderation um 38,7 Prozent
zugelegt und die Ausfuhren nach Polen
„nur“ um 21 Prozent. Dennoch liegt der
deutsch-polnische Handel mit insgesamt
37,5 Milliarden Euro vor den deutsch-russischen Außenhandelsbeziehungen mit
34,3 Milliarden Euro.
Denn das Land an Oder und Weichsel
hat sich gemausert, für die deutsche Industrie ist es mit Abstand der beliebteste
Standort unter allen osteuropäischen
EU-Staaten: Polen führt nach einer Umfrage aller deutschen Handelskammern
unter ihren Mitgliedsfirmen in der Region diese Liste an mit 4,8 von sechs möglichen Punkten, vor der Slowakei mit 4,1
Punkten.
Dazu trägt auch das Dutzend Sonderwirtschaftszonen bei, die Investoren mit
finanziellen Anreizen und guter Infrastruktur locken, aber auch gut ausgebildete Arbeitskräfte, eine wachsende Wirt-
schaft, die steigende Binnennachfrage.
Und so haben deutsche Unternehmen 22
Milliarden Euro bei den östlichen Nachbarn investiert. Dabei sind die Erfahrungen fast durchweg positiv: 86 Prozent der
deutschen Investoren würden laut der
Umfrage der Deutsch-Polnischen Industrie- und Handelskammer in Warschau
ihre Entscheidung wiederholen.
Polen und Deutschland
haben erfahren, dass sie sich
aufeinander verlassen können
Der deutsche Unternehmer Hans-Jörg
Otto, der bei Poznan den System- und Kabelsatz-Lieferanten El-Cab gegründet
hat, nennt seinen „Gang nach Polen die
beste Entscheidung meines Lebens“.
Gründe für den Standort PL sind laut Dagmar Linder von der Deutschen Bank die
stabile wirtschaftliche und politische
Lage, der große polnische Markt, die stetig steigenden Einkommen und „dass Polen neben Russland als einziges Land der
Region einen florierenden Kapitalmarkt
hat.“ Geldhäusern, wie der polnischen
Commerzbank-Tochter BRE-Bank, bieten sich dabei sogar noch ungewohnte
Wachstumsperspektiven: Jeder dritte
Pole hat bis heute kein Bankkonto, ergab
eine Untersuchung der Bank Pocztowy.
Als weiteren guten Grund für Investitionen nennt Christian Bleiel von Volkswagen, dass „die Infrastruktur hier weitgehend gut ist“. VW baut in Poznan den
Kleintransporter Caddy und steht mit seiner positiven Haltung gegenüber dem
Nachbarland keineswegs allein: Polen sei
„das Vorbild in dieser ganzen Region geworden“, sagte Hans-Peter Keitel, Präsident des Bundesverbands der Deutschen
Industrie, auf dem jüngsten Wirtschaftsgipfel Polen-Deutschland in Warschau.
Die Beziehungen zwischen „unseren beiden Industrie- und Kohleländern“ seien
inzwischen „etwas ganz Besonderes", unterstrich Keitel: „Wir haben erfahren,
dass wir uns aufeinander verlassen können.“
Auch Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) zollte in und für Warschau Lob: „Durch konsequente Transfor-
mation und Privatisierungen ist Polen zu
einer der wettbewerbsfähigsten Volkswirtschaften der EU geworden“, sagte er.
Beide Länder verbinde „eine starke Industrie und ein breiter Mittelstand“, fügte
Rösler hinzu.
Besonders wichtig seien für Polen deutsche Firmen, da sie Polen auch in der
Krise treu waren: „Deutsche Unternehmen haben entgegen dem Trend letztes
Jahr sogar mehr investiert als je zuvor“,
sagt Józef Olszynski, Aufsichtsratschef
von „Invest in Poland“. Mit 2,8 Milliarden Euro hätten sie einen neuen Rekord
erreicht, obwohl Auslandsinvestitionen
hier insgesamt 2010 von zehn auf 8,5 Milliarden Euro gesunken seien. „2011 wird
viel besser. Wir erwarten einen neuen Rekord mit über zehn Milliarden Euro",
meint Olszynski.
Doch auch in die andere Richtung sind
Investitionen inzwischen gang und
gäbe: Über eine Milliarde Euro haben polnische Unternehmen bereits beim Nachbarn im Westen investiert. Und es werden immer mehr: Polens größter Ölkonzern, PKN Orlen, will in Deutschland weiter stark wachsen. Orlen betreibe bereits
DEUTSCH-POLNISCHER HANDEL
Deutsche Binnenreederei
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w w w. b i n n e n r e e d e r e i . d e
PKN Orlen ist zwar der größte polnische Investor in Deutschland, aber keineswegs der einzige: Bereits 6000 polnische Firmen seien in der Bundesrepublik
registriert, darunter auch der Chemieriese Ciech, der die Sodawerke Staßfurt
wieder auf Kurs gebracht hat, IT-Firmen
wie Asseco und Comarch sowie die Odratrans-Gruppe, die nun als Besitzer der
Deutschen Binnenreederei zu den größten Logistikern Europas zählt. Seit der
D
WIRTSCHAFTSSTRUKTUR
Seit Beginn der Transformation
1990 hat Polens Wirtschaft
eine eindrucksvolle Entwicklung durchlaufen und 2010
unter allen Nationalökonomien
der EU einen beachtlichen
8. Rang belegt. Polen gehört
nicht zur Euro-Zone und lässt
es offen, wann es die Gemeinschaftswährung einführen will.
Bis 2015 will das Nachbarland
jedenfalls die Kriterien die
Maastricht-Vertrags erfüllen.
HANDELSAUSTAUSCH
Der deutsch-polnische Austausch belebte sich 2010 kräftig. Deutschland exportierte
nach Angaben des Statistischen Bundesamtes Waren im
Wert von 38 053 Mio. € nach
Polen, der Wert der Importe
aus Polen: 28 416 Mio. €.
WARENAUSTAUSCH
Die Struktur des bilateralen Warenaustausches ähnelt sich.
Die wichtigsten Warengruppen,
die Polen 2010 aus Deutschland einführte, sind gemäß der
Berechnungen der Botschaft
Maschinen und mechanische/
elektrotechnische Geräte; bei
den polnischen Lieferungen
nach Deutschland dominierten
2010 ebenfalls Maschinen und
Geräte mit 24 %.
Foto: dpa
DESIGN: LINIE DREI BERLIN, BILD:FOTOFEUERWEHR.DE
Deutsche Binnenreederei AG
„Made in Germany“
– das Produktionslabel lockt
polnische Firmen westwärts
vollständigen Öffnung des deutschen Arbeitsmarkts für Arbeitnehmer aus osteuropäischen EU-Staaten (mit Ausnahme
Bulgariens und Rumäniens) ab dem 1.
Mai sollen die Investitionen aus Polen in
Deutschland noch weiter steigen, „weil
polnische Firmen dann mit eigenem Management und Fachkräften hier produzieren können“, sagt Jacek Robak, Leiter der
Wirtschaftsabteilung der polnischen Botschaft in Berlin. Von Deutschland aus ließen sich Drittmärkte leichter erschließen. Zudem locke die Produktion mit
dem Qualitätssiegel „Made in Germany“
polnische Investoren westwärts.
Und noch eine Besonderheit gibt es:
Der polnische Busbauer Solaris aus Posen ist inzwischen der größte ausländische Busanbieter in Deutschland. Die
Busse mit dem grünen Dackel als Markenzeichen fahren in Berlin, München und
fast allen größeren Städten hier. Die aus
Polen stammende Besitzer-Familie Olszewski lebt inzwischen wieder bei Posen – doch haben die Solaris-Gründer seit
der Flucht aus Polen nach der Ausrufung
des Kriegszustandes dort deutsche
Pässe.
Mathias Brüggmann
Maschinen und elektrotechnische Geräte sind besonders gefragt
Container- und Massengutlogistik
zwischen Oder und Rhein
Eine Flotte mit hoher Qualität
570 Tankstellen unter seiner Marke
„Star“, angepeilt seien 750 oder mehr,
sagt Orlens Deutschland-Chef Józef Niedworok. PKN Orlen ist seit der Übernahme des BP-Netzes, vor allem in Norddeutschland, im Jahr 2003 der größte polnische Investor in Deutschland. Laut
Niedworok macht das Unternehmen hierzulande drei Milliarden Euro Umsatz.
Die Baustelle der polnischen Autobahn 2 unweit von Smubice am
deutsch-polnischen Grenzübergang Frankfurt (Oder). Die Firma
Strabag baut seit zwei Jahren an einem 105 Kilometer langen AuFoto: dpa
tobahnabschnitt von der Grenze bis kurz vor Poznan.
ATTRAKTIVE STANDORTE
Deutsche Unternehmen engagieren sich gerne in der Woiwodschaften Dljsk (Oberschle-
sien), Dolny Dljsk (Niederschlesien) sowie in Mazowieckie (Masovien) mit der Hauptstadtregion und andere.
WICHTIGE BRANCHEN
Wichtige polnische Wirtschaftszweige mit langer Tradition sind
die Lebensmittelindustrie, die
Energieversorgung, der Bergbau und die Hüttenindustrie,
gefolgt von Maschinenbau. In
der Elektrobranche ist Polen
der größte Montagestandort für
E-Hausgeräte in Europa.
Tsp
POLEN 2011
DIENSTAG, 13. SEPTEMBER 2011 / NR. 21 095
DER TAGESSPIEGEL
B5
Nicht beliebt, aber respektiert
Verabschieden Sie sich von alten Vorurteilen – zehn Tipps für deutsche Polen-Auswanderer
Von Steffen Möller
Seit dem 1.Mai 2011 sind alle EU-internen Arbeitsbeschränkungen aufgehoben,
und Polen wird seither von billigen deutschen Arbeitskräften überschwemmt.
Der Trend dazu zeichnete sich bereits
seit einigen Jahren ab. Polen hat sich im
Jahr 2009 still und leise zum drittbeliebtesten Auswanderer-Land der Deutschen
gemausert, nach der Schweiz und den
USA. Im Jahr 2010 waren es bereits mehr
als 12 000 Bundesbürger, die ihr Glück
jenseits der Oder suchten (bei dieser
Zahl sind viele Tausend Aussiedler-Rückkehrer nach Oberschlesien bereits abgezogen).
Allen Auswanderern kann man nur
herzlich gratulieren, und zwar ohne alle
Völker-Verständigungs-Sentimentalitäten. Es handelt sich um kühl rechnende
Zeitgenossen, die vorurteilslos die europäischen Wirtschaftsbilanzen verfolgen
und sich nicht um veraltete Klischees
scheren.
Seit dem EU-Beitritt im Jahr 2004 lag das
Wirtschaftswachstum Polens jedes Jahr
zwischen fünf und zehn Prozent, Löhne
und Gehälter stiegen um mehr als 50 Prozent. Die Arbeitslosigkeit in den Großstädten Poznan, Warschau und Wrocmaw tendiertheute gegennull Prozent,das Landgehört weltweit zu den größten Exporteuren
von Gartensteinen, Kaffeemilch, Holz- und
Plastikfenstern sowie Mohrrüben und
Öko-Särgen. Die Krönung erfolgte im Krisenjahr 2009, als Polen das einzige von 27
EU-Ländern mit einem positiven Wachstum war (1,7 Prozent).
Trotzdem gibt es immer noch massenhaft Bundesbürger, die Angst vor einem
Urlaub in Polen haben. Die Erfahrung
zeigt zum Glück, dass alle, die sich auf
eine Schnuppertour einlassen, begeistert
zurückkommen, viele gar am nächsten
Tag direkt zum örtlichen Einwohnermeldeamt marschieren, um die nötigen Auswanderungsformalitäten in die Wege zu
leiten.
Hier nun einige Informationen, die
Mut zum Polen-Urlaub machen sollen,
zusammen mit konkreten Tipps für alle,
die bereits auf gepackten Möbel-Containern sitzen.
Grenzgänger. Steffen Möller lebt als Schriftsteller und Kabarettist in Warschau und Berlin. 1993 kam er nach Polen, um die
Sprache zu lernen, 1994 kehrte er zurück, arbeitete in Warschau als Lektor, in Krakvw als Kabarettist, überzeugte als „Kartoffelbauer Stefan Müller“ in 500 Folgen einer Serie im polnischen Fernsehen. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes. Möller tritt
am 11. und 12. Oktober mit neuem Programm im Berliner BKA auf. Ein neues Buch erscheint 2012.
Foto: Dominik Butzmann/laif
1. Die Zeiten, als man in geschlossenen Bus-Konvois durch Masuren oder
Niederschlesien tuckerte, sind vorbei.
Fahren Sie ruhig mit Ihrem privaten Pkw
nach Polen. Die Zahl der Auto-Diebstähle hat zwischen 1999 und 2010 um
75 Prozent abgenommen. Wer trotzdem
nervös ist, kann seinen Liebling auf einem bewachten Parkplatz abstellen.
2. Lassen Sie Pistolen, Tränengas und
Buschmesser zu Hause. Die Kriminalität
ist viel geringer als in Deutschland. Ein
nächtlicher S-Bahn-Trip von Berlin-Grunewald zum Bahnhof Lichtenberg dürfte
um einiges gefährlicher sein als ein Spaziergang durch Warschaus dunkelstes
Viertel, Praga-Nord.
3. Keine Angst vor Konsum-Entzug.
In Krakvw, Gdansk oder Warschau stehen heute elegantere Einkaufszentren als
in London, Paris oder Rom. Das weltweit
eleganteste von allen befindet sich übrigens – laut einer internationalen Kommission – in Poznan, drei Zug-Stunden von
Berlin entfernt. Hier hat Polens reichste
Frau, Grvyna Kulczyk, mit viel Geschmack und ganz ohne russischen Neu-
reichen-Protz, eine alte Brauerei aus dem
19.Jahrhundert zu einem beeindruckenden Konsumtempel umbauen lassen, geschmückt von Skulpturen des Bildhauers
Mitoraj. Wer anschließend ins Berliner
„Alexa“ zurückkommt, erzählt nie wieder einen Polen-Witz.
4. Ausländer werden gerne damit gequält, dass man sie den berühmtesten
Zungenbrecher mit vielen Zischlauten
nachsprechen lässt: „W Szczebrzeszynie
chrzjszcz brzmi w trzcinie“. Zu Deutsch:
„In Szczebrzeszyn (einer Kleinstadt in
Südostpolen) zirpt ein Käfer im Schilf.“
Es handelt sich um den ersten Vers eines
Kindergedichts von Jan Brzechwa
(1900-1966). Wer diesen Vers auswendig lernt und an der Kasse einer Tankstelle aufsagt, rührt den Tankwart zu Tränen. Häufig vergisst dieser dann sogar,
die Tankfüllung abzukassieren.
5. Tabu Nummer eins: Keine Witze
über den seliggesprochenen Johannes
Paul II. Wer partout streiten will, kann
sich an Karol Wojtymas Nachfolger schadlos halten. Über Benedikt XVI. darf man
nämlich alles sagen, was einem in den
Sinn kommt. Am Ende legen die Polen
dann selber noch einen deftigen Witz
nach, mit Weltkriegs-Pointe.
6. Weitere Tabus: Deutsche Touristen
lästern in Polen gerne über zweierlei: die
fettige Wurst und die hochhackigen Damenschuhe. Wenn Sie es unbedingt tun
müssen – lassen Sie es zumindest keinen
Polen hören. Man ist überzeugt, die beste
Wurst und die elegantesten Frauen des
Universums zu besitzen.
7. Schon mancher deutsche Mann
glaubte in den Klubs von Krakvw oder
Wrocmaw, mit einer vollen Packung Marlboro den König von Polen spielen zu können. Diese herrlichen Verhältnisse existieren tatsächlich – allerdings nur noch in
Omsk/Sibirien. Die Polinnen lieben es
konservativer, sie wollen bezaubert werden. Als Reiselektüre ist deshalb ein möglichst altmodischer Savoir-Vivre-Ratgeber angeraten. Wer nicht gerade gebürtiger Wiener ist, sollte sich gründlich einlesen in die Kunst des Komplimente-Machens, des Blumen-Überreichens, TaxiBestellens, Tür-Aufhaltens, KneipenRechnung-Bezahlens. Nur den Handkuss
können Sie getrost weglassen – er gilt in
Polen inzwischen als provinziell.
8. Obwohl Polen zusammen mit der
Ukraine die kommende Fußball-Europameisterschaft ausrichtet, ist das Interesse
an diesem Sport äußerst gering. Seit
mehr als zehn Jahren hat sich kein polnischer Meister mehr für die Championsleague qualifizieren können, bei der letzten EM 2008 schnitt man am schlechtesten von allen Teams ab. Der wahre polnische Nationalsport ist das Pilzesammeln.
Wer in Polen zwischen Juni und Oktober
am Wochenende nicht mit einem Pilze-Eimerchen durch die
Wälder eilt, ist so
asozial wie ein DeutRussische
scher, der beim
Vokabeln
WM-Finale
auf
ARTE einen portuhelfen
giesischen SchwarzTouristen
Weiß-Film guckt.
9. Deutsche sind
in polnischen
nicht gerade beliebt,
Restaurants werden aber respeknicht weiter tiert. Anders sieht es
mit russischen Touristen aus. Sollten
Sie also zu Ost-Zeiten noch Russisch gelernt haben – lassen Sie Ihre Rest-Kenntnisse lieber in Berlin-Karlshorst zurück.
Ein gutgemeintes „Isvenitse“ („Entschuldigung“) wird von der polnischen Kellnerin mit eisigem Schweigen quittiert. Und
wehe, Sie sind der Meinung, dass die bekannte Rote-Rüben-Suppe „Borschtscht“
heißt und aus Russland kommt. Es heißt
„Barschtsch“ (mit „a“!!) und handelt sich
um eine urpolnische Erfindung!
10. Zum Abschluss die vermutlich
wichtigste Info überhaupt: Polen hat andere Toilettenzeichen. Statt unserensexistischen Piktogrammen (Frauen sind am
Mini-Rock erkennbar) verwendet man in
Polen schon seit 1928 abstrakte Symbole,
damit auch wirklich niemand weiß, was
für wen ist: Kreis und Dreieck. Und hier
die Auflösung: Das Dreieck (das auf dem
Kopf steht) symbolisiert Männer, der
Kreis Frauen. Mit welcher Eselsbrücke
Sie sich das merken, ist Ihre höchstpersönliche Sache. Und damit wünsche ich Ihnen alles Gute und schnelle Integration in
Ihrer neuen Heimat.
Vier im Fokus
Warschau, Wrocmaw, Gdansk, Poznan: 2012 zur Fußball-EM wird hier gekickt.
Doch diese Städte sind zu spannend, um nur die Stadien zu besuchen
in die Jahre gekommen war, wurde in
Wrocmaw fein restauriert. In jüngster Zeit
etwa die ehemalige Synagoge zum Weißen
Storch, das einzige jüdische Gotteshaus,
das die „Reichskristallnacht“ überstand.
DasViertelrundumdieSynagogeisteinbeliebtes Ausgehviertel, eins von vielen in
Wrocmaw.
Wroclaw – die Junge
Goethe war drin, Chopin, Gerhart Hauptmannundach,alldieanderen:Wernichtim
Schweidnitzer Keller war, war nicht in
Wrocmaw (Breslau), pflegte man früher zu
sagen. 700 Jahre alt ist die größte Schankstube der Stadt, direkt am Rynek, am
Markt. Und was für ein Markt! 215 mal 175
Meter misst er und ist damit der zweitgrößte Polens. 100 000 Studenten leben in
Wrocmaw – das prägt das Stadtleben. Hunderte Kneipen, Klubs und Restaurants –
nicht nuran den Wochenenden ist hier eine
Menge los. Wer Ruhe und Abgeschiedenheit will, flüchtet sich zur nahe gelegenen
Dominsel mit ihren Gotteshäusern. Abend
für Abend dreht ein Mann hier in der DämmerungseineRunde–undzündetdieLaternen an. Neben der Dominsel gibt sich
Wrocmawfastvenezianisch.BeiGondeltouren kann man die Nebenflüsse der Oder
und ein Dutzend Inselchen erkunden. Was
Gdansk – die Goldene
Bernstein, überall Bernstein. Gdansk
(Danzig) ist der bedeutendste Handelsplatz für das „Gold der Ostsee“. Früher,
im 16. und 17. Jahrhundert, wurden hier
mit allen möglichen Waren Geschäfte gemacht. Wie viel Geld verdient wurde,
sieht man an den prächtigen Fassaden
und Schmuckgiebeln der Patrizierhäuser.
Der Markt ist in Danzig länglich und gesäumt von den schönsten Gebäuden der
Stadt. Die Danziger nennen ihn ihren „Salon“, Frühlingsfeste, Sommerbälle, Weihnachtsmarkt, alles was wesentlich ist, findet auf dem Langen Markt statt. Die Danziger haben es gut, denn ein feines Seebad mit Strand liegt gleich nebenan. Mit
der S-Bahn ist man binnen 30 Minuten in
Zoppot (Sopot), das in den 1920er Jahren als „Rimini des Nordens“ galt. Noch
immer, oder besser wieder, kann man
den alten Glanz erahnen. Denn viele der
Villen im Stil der Bäderarchitektur präsentieren sich schmuck renoviert.
Prächtige Städte. Polens EM-Orte haben
mehr als Fußball zu bieten. Oben Warschau
mit dem Schlossplatz, darunter der Markt
von Wrocmaw. Gdansk – hier mit dem Artushof – und Poznan laden mit wunderschönen
Marktplätzen zum Flanieren ein.
Fotos: Polnisches Fremdenverkehrsamt
Poznan – die Pulsierende
Wie Polens Wirtschaft boomt, kann man
in Poznan gut beobachten. Die Stadt ist
seit 1925 ein internationaler Messeplatz,
der in jüngster Zeit erneut an Bedeutung
gewinnt. Die Altstadt ist tadellos saniert,
in den Einkaufszentren sind alle wesentlichen Labels dieser Welt zu finden, in zahlreichen Restaurants wird sterneverdächtig gekocht. Poznans Marktplatz verdient
die Note eins. Ein italienischer Baumeister hat um 1550 das Rathaus geschaffen,
ein Renaissance-Juwel mit einer dreigeschossigen Arkadenloggia. Jeden Mittag
um zwölf öffnen sich Metalltüren am Rathausturm und die Poznaner Böckchen,
Wahrzeichen der Stadt, springen heraus.
Wer nur nach Poznan reist, um Geschäfte
zu machen, verpasst viel. Tanz, Theater,
Musik – überreich ist das Kulturprogramm. Und im Nationalmuseum hängen
nicht nur Werke polnischer Künstler, sonder auch Bilder spanischer Meister wie
Velazquez und Zurbaran. Hella Kaiser
Weitere Fotos zu den vier polnischen
EM-Städten finden Sie unter
www.tagesspiegel.de/polen2011
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Warschau – die Quirlige
Flotte Straßenbahnen, eilige Fußgänger
und gläserne Büropaläste, die schneller
in den Himmel wachsen, als man gucken
kann: Diese Stadt hat Tempo. Ruckzuck
ist man oben, im 231 Meter hohen Kulturpalast, den Stalin den Warschauern in
den 1950er Jahren geschenkt hat. Mit der
ungeliebten Gabe haben sich die Bewohner arrangiert – und schauen gern – wie
die Touristen – von der Aussichtsplattform aufs moderne Zentrum hinunter. Dabei kann Warschau (Warszawa) auch urgemütlich sein. Man muss nur den Königsweg entlangflanieren, hinein in die
Altstadt. So viele schöne alte Gebäude,
so viel Patina. Selbst wenn man die Gemäuer mit der Lupe betrachten würde,
wäre nicht zu erkennen, dass doch alles
erst nach dem Zweiten Weltkrieg (wieder) entstanden ist. Warschau wurde zu
80 Prozent zerstört. Östlich des Königswegs erstreckt sich der Mazienki-Park, einer der schönsten Gartenanlagen Europas. Hier, am Denkmal von Frederik Chopin, erklingt an Sommersonntagen dessen Musik. Den Lärm aus dem Fußballstadion kann man im Park hingegen nicht
hören, die moderne Arena ist zu weit
weg. In Praga ist sie emporgewachsen, im
alten Viertel östlich der Weichsel. Hier
waren im Krieg kaum Bomben gefallen.
Hier ist alles noch echt, völlig ungeschminkt und ein wenig marode. Das
ideale Quartier für Künstler, Kreative
und junge Leute. Urige Kneipen und
Klubs sind hier entstanden. Und wenn
die ausländischen Fußballfans das erfahren, werden sie erst mal in Praga bleiben
– statt ratzfatz mit der Straßenbahn ins
Zentrum zurückzudüsen.
Veranstalter: Berliner Festspiele. Das Projekt wird
realisiert vom Königsschloss in Warschau und dem
Martin-Gropius-Bau in Berlin. Ermöglicht durch eine
Förderung des Beauftragten der Bundesregierung
für Kultur und Medien und des Ministeriums für Kultur
und Nationales Erbe der Republik Polen.
B6
POLEN 2011
DER TAGESSPIEGEL
POLNISCHE KULTUR IN BERLIN Kunst,
NR. 21 095 / DIENSTAG, 13. SEPTEMBER 2011
Film und Jazz sind zu entdecken
Juwelen der Straße
Junge Kunst aus Polen ist seit Jahren ein Erfolg. Eine Wiedererkennbarkeit gibt es für sie nicht. Gemeinsam ist ihr jedoch eine hohe Ernsthaftigekeit
Von Nicola Kuhn
Wohl kaum eine Kunst war in den vergangenen Jahren international so erfolgreich
wie junge Malerei und Skulptur „Made in
Poland“. Den in die weite Welt strebenden Künstlern mochte es wenig gefallen
haben, dass ihre Werke ausgerechnet einen Stempel aufgedrückt bekamen, der
sie an ihr Heimatland zurückbindet.
Doch gerade die Herkunft diente als Verkaufsargument in einem Markt, in dem
beständig nach neuesten Trends Ausschau gehalten wird und permanent
Frischware herangeschafft werden muss.
YPA – Young Polish Artists – galt in den
neunziger Jahren schon bald als das
nächste große Ding, und so mancher begann, um das zarte Pflänzchen zu fürch-
Die Künstler lieben das Etikett
„Young Polish Art“ zwar nicht,
aber es hilft auf dem Markt
ten. Schließlich hatte es auch die Young
British Artists (YBA), an die sich das Kürzel YPA anlehnte, nach wenigen Jahren
hinweggefegt. Schubladen sind gefährlich, vor allem für Künstler.
Und doch demonstriert die andauernde Erfolgsgeschichte der polnischen
Kunst das Gegenteil. Jeder Sammler, der
auf sich hält, wird mindestens zwei, drei
polnische Künstler in seinem Portfolio haben. Jede internationale Ausstellung, die
sich auf Augenhöhe mit aktuellen Diskursen wähnt, muss Vertreter dieses Landes
zeigen. Oder sie lädt sich gleich einen Polen als Ausstellungskurator ein, wie es
die kommende Berlin-Biennale 2012 mit
dem Künstler Artur Vmijewski macht.
Woher sich die Kraft dieser jungen Generation speist, liegt für die Grande
Dame der polnischen Kunst und Kuratorin der großen Jubiläumsausstellung im
Martin-Gropius-Bau, Anda Rottenberg,
auf der Hand: Nicht erst nach dem Fall
des Eisernen Vorhangs kamen die Maler
und Bildhauer in Fahrt. Die Avantgarde
blieb auch während der kommunisti-
Geschichte wird gemalt. Wilhelm Sasnals Gemälde „Shoah (Forest)“ aus dem Jahr 2002 sorgte prompt für Aufregung, denn es
zeigt vor allem Verwischungen, die für das Moment der Verdrängung stehen.
Foto: Private collection, courtesy the artist
schen Jahre konstant aktiv, und sei es im
Widerstand. Kunst zu machen, entsprang
einem kritischen Geist, der auch heute
noch das Werk vieler Künstler prägt, die
sich als dezidiert politisch verstehen.
Was verbindet die polnischen Künstler? Gibt es einen gemeinsamen Nenner,
der eine Wiedererkennbarkeit gewährleistet? Ist die Kunst tatsächlich so düster, wie viele meinen? Inhaltsschwer,
Fenster zur Freiheit
Die polnische Jazz-Szene setzt in Europa deutliche Akzente
Kaum eine Kunstform ist im globalen Bewusstsein so auf ein Land beschränkt wie
der Jazz. Auch der Jazz aus Polen hat es
auf ausländischen Märkten schwer gegen
die übermächtige US-Amerikanische
Jazz-Kultur. Und doch ist es ihm gelungen, zumindest in Europa zu einer eigenen Marke zu werden.
„Jazz aus Polen hat schon lange eine
große Bedeutung, für die Musiklandschaft in Deutschland, aber auch zum Beispiel in den skandinavischen Ländern“
sagt Nils Landgren, künstlerischer Leiter
des Jazzfests Berlin, bei dem Polen in diesem Jahr im Mittelpunkt stehen wird.
„Musiker wie Tomasz Stanko haben Generationen von europäischen Musikern inspiriert. Sie besitzen einen ganz eigenen
Ton, eine eigene musikalische Dialektik.“
Die Polen selbst sind stolz auf ihren
Jazz und sehen sich als Jazz-Nation. Das
könne man nur verstehen, wenn man
sich die Situation in Polen zu Zeiten des
Kommunismus vergegenwärtige, meint
Jacek Gmaszcz, Musikexperte des Polnischen Instituts Berlin. „Da bot der Jazz
ein Fenster zur Freiheit, über den Eisernen Vorhang hinweg.“ Man habe aber
nicht nur das aufgenommen, was an USJazz jeweils aktuell war.
„Unser Jazz war und ist etwas Eigenes.
Ein wenig lyrisch, ein wenig romantisch,
in stets neuen Interpretationen und Arrangements.“ Und es gäbe Tausende
junge talentierte Musiker, etwa von der
Jazz-Schule in Katowice, die eine relativ
ausgebaute Klub-Szene in Polen vorfänden. In Berlin veranstalte er oft Konzerte
in den Jazz-Clubs A-Trane und Quasimodo und kann bestätigen, dass man
auch mit schwer auszusprechenden Namen Jazzfans erreichen kann. „Alle Konzerte sind ausverkauft, das Publikum
zeigt sehr großes Interesse.“
Da er sich nicht wie die Pop-Musik musikalischer Schablonen bedient und ein
Krzysztof Komeda ist
jedem Polen ein Begriff
aktives Hören fordert, hat es der Jazz naturgemäß schwer, ein breites Publikum
zu erreichen. Das ist auch in Polen so, wo
es aber immer wieder Musikern gelingt,
nationale Berühmtheit zu erlangen.
Krzysztof Komeda hat für den Jazz in Polen eine vergleichbare identitätsstiftende
Bedeutung, wie Frédéric Chopin für die
klassische Musik, und ist jedem Polen ein
Begriff. Tomasz Stanko ist einer der wenigen europäischen Weltstars des Jazz.
Eine Generation jünger als Komeda,
zeichnet den Trompeter besonders sein
melancholischer, „schmutziger“ Ton aus.
Gegenwärtig ist auch der Pianist Leszek
POLSKA IN DEN AUGEN VON THOMAS
Komm nach Krakau, besichtige das Wawel-Schloss – die frühere Residenz der Könige, 1000 Jahre alt und die reichste Schatztruhe der polnischen Königshäuser. Fast so alt sind auch die Häuser und Kirchen
in der Altstadt, trotz der vielen Jahrhunderte wunderschön erhalten.
Der größte europäische mittelalterliche Marktplatz Europas. Ein paar
Schritte von diesem prunkvollen Ort entfernt kannst Du Dich an einem
Meisterstück von Da Vinci begeistern – Die Dame mit dem Hermelin.
Viele weitere Kunstwerke kannst Du im Czartoryski-Museum bewundern. Hunderte Attraktionen warten dann noch auf Dich – angefangen
vom Salzbergwerk in Wieliczka aus dem 13. Jahrhundert, das einem
barocken Palast unter der Erde ähnelt, über zahlreiche Festivals bis hin
zu Bars und Klubs, die die ganze Nacht offen haben – pack viel Zeit ein,
wenn Du alles sehen willst!
www.polen.travel/krakau
Movdver in aller Munde. Sein neues
Jazz-Album hat es auch in die deutschen
Charts geschafft und heißt schlicht „Komeda“ – die kreative Verbeugung vor
dem Altmeister gehört zu jeder runden
polnischen Jazzkarriere.
Die Jazz-Landschaft in Polen hat inzwischen ein solches Niveau erreicht, dass
man sie nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner bringen kann, wie etwa die
Verbundenheit zu Komeda. Interpreten
wie die Sängerinnen Anna Maria Jopek
und die junge Aga Zaryan oder der Saxophonist Adam Pieronczyk stehen ebenso
für das Weltformat der Szene wie etwa
die Brüder Marcin und Bartmomiej Oled –
mit kunstvollen Rhythmen, nur mit Kontrabass und Schlagzeug, führen sie den
Jazz an seine kammermusikalischen Grenzen heran.
Das Trio Pink Freud wiederum verbindet verschiedenste Musikrichtungen und
lässt sein Publikum zu den eigenen Improvisationen abtanzen.
Im Windschatten dieser vielfach
preisgekrönten Musiker gedeiht in den
Jazz-Clubs in Katowice und anderen polnischen Städten eine lebendige und undogmatische Jazz-Szene, die zwischen
Mainstream und Avantgarde alle Nuancen des Jazz bedient und auch in der
Zukunft Polens Ruf als „jazzigstes“
Land Europas bekräftigen dürfte.
Bojan Krstulovic
selbstironisch, ja bitter? Wer heute polnische Kunst betrachtet, sieht die ganze
Bandbreite internationaler Spielarten abgedeckt. Was sie auszeichnet, ist eine
hohe Ernsthaftigkeit, die jedoch für alle
gute Kunst gilt. So bleibt es am Ende bei
Einzelpositionen, die zu würdigen sind –
unter den Malern, allen voran Wilhelm
Sasnal, Zbigniew Rogalski und Tomasz
Kowalski, die einer großen Malkultur entstammen und mit ihren souveränen Werken zugleich das Vertrauen in eine Kunst
stärken, die sich alle paar Jahre neu rechtfertigen muss, wenn die Malerei wieder
einmal für tot erklärt wird.
Dieses Selbstbewusstsein und diese
Formsicherheit zeigt sich auch bei den
Bildhauern. Mag Polen früher vor allem
für seine Minimalisten bekannt gewesen
sein, so sind es unter den Jungen heute vor
allemdie Erzähler, diemit böserPointe Geschichte heraufbeschwören oder sich
über den Alltag mokieren. So baute Robert Kudmirowski bei der 4. Berlin Biennale (2006) aus Kartonage einen den Deportationszügen der Nazis zum Verwechseln ähnlichen Waggon. Alicia Kwade gelingt es immer wieder, ihr Material umzuinterpretieren, indem sie hundert Steine
von den Straßen Berlins in Form kostbarer
Edelsteine schleifen ließ oder zahllose
leere Champagnerflaschen pulverisierte
und zum Berg anhäufte.
Vielleicht ist es auch das Wissen um
die künstlerische Autonomie, die das
Schaffen polnischer Künstler auszeichnet. Dafür steht der kürzlich verstorbene
Roman Opamka (1931–2011) ein, der
Zeit seines Lebens weiße Zahlen in Progression mit immer höherem Weißanteil
auf grau getönte Leinwand schrieb, so
dass sich die Erscheinung zunehmend
lichtete. Die Behauptung reiner Gegenwart verband sich hier mit dem Blick auf
Vergangenheit und Zukunft, zumal sich
der Künstler am Ende eines Arbeitstages
fotografierte und damit den eigenen Alterungsprozess dokumentierte.
Auch Mirosmaw Bamka ist Zahlenfetischist, auch er kreist um seine Person –
jedoch lyrischer. Der Konzeptkünstler
nimmt seine eigenen Körpermaße als
Ausgangspunkt für seine Skulpturen. In
seinem Werk kreuzt sich nüchterne, minimalistische Darstellung mit biographischen Details. Immer wieder bezieht er
sich auf sein Elternhaus in Otwock bei
Warschau, in dem er noch heute lebt und
arbeitet und dessen Maße er für seine Installation aufgreift.
In dieser Anhänglichkeit an seinen Herkunftsort gleicht Bamka einem anderen
Künstler, der zeitgleich mit ihm in Berlin
ausstellt. Während sich Balka vom 29. Oktober an in der Akademie der Künste am
Pariser Platz präsentiert, baut Pawem Althammer nur wenige hundert Meter weiter die Invalidenstraße hinunter in der
Deutschen Guggenheim die Plastikfabrik
seines Vaters auf. Arbeiter der väterlichen Firma „Almech“, so auch der Ausstellungstitel, stellen dort mit dem Künstler an zwei Maschinen Skulpturen her
Jeder Sammler, der auf sich
hält, muss polnische Künstler
in seinem Portfolio haben
und porträtieren Besucher und Angestellte der Galerie, während umgekehrt
am Warschauer Firmensitz die Fabrik in
„Guggenheim“ umbenannt wird und
Teile nach Berlin exportiert.
Das vermeintlich lustige Wechselspiel
sagt viel über die Ressource Kunst aus,
die aus Polen geliefert wird und zumal in
Berlin als einem der wichtigsten auswärtigen Wohnorte junger polnische Maler
und Bildhauer in greifbare, ja geldwerte
Produkte umgesetzt wird. Die Blitzkarriere der beiden jungen Galeristinnen
Asia Vak und Monika Branicka, die vor
vier Jahren in Berlin ihre Räume eröffneten und binnen kürzester Zeit zum angesagten Ausstellungsort avancierten, ja wenig später auf die Art Basel eingeladen
wurden, zeugt von der großen Nachfrage. Höchste Zeit, dass diese Künstler
auch im eigenen Land, in den Museen,
die gerade entstehen, ihren Ort finden.
— Bücher zum Thema: Zak Branicka Foundation (Hrsg.): Polish! Zeitgenössische
Kunst aus Polen. HatjeCantz Verlag, Stuttgart 2011, 320 S., 39,80 €. Artur Vmijewski: Körper in Aufruhr. Gespräche mit
Künstlern. Hrsg. Berliner Künstlerprogramm des Daad, Berlin 2011, 325 S., 25 €
Auferstehung des Mvduer Menschen
Polens Beitrag zur internationalen Filmkunst
Mvdu ist ganz einfach zu finden. Es liegt
genau in Polens Mitte. Trotzdem ist es
keine ganz gewöhnliche polnische Stadt.
Ja, man könnte behaupten, es handelt
sich um die allerungewöhnlichste der polnischen Städte, schon deshalb, weil die
Nationalität hier nie eine Rolle spielte.
Alle Mvduer waren in gewisser Weise
Immigranten, was seinen Grund wiederum darin hatte, dass Mvdu keineswegs
immer in Polens Mitte lag. 1815 unter
die Herrschaft des russischen Zaren geraten, erkannte das kleine Städtchen mit
nicht einmal 1000 Einwohnern seine
Chance: Wenn man demütigenderweise
schon zu Russland zählte, warum sollte
man dann nicht das riesige Zarenreich
einkleiden? Denn der Vorteil des Nachteils, zu Russland gehören, bestand darin, keine Schutzzölle zahlen zu müssen.
Wer an dieser Stelle starke Zweifel empfindet, einen Beitrag über das polnische
Filmwesen zu lesen, sei an die Weisheit
des Kinos, und gerade an jene des polnischen Kinos erinnert, dass oft der Umweg der direkteste Weg zum Ziel ist. Ist
in Andrzej Wajdas „Danton“ nicht fast
der halbe Film vorbei, ehe Danton (Gérard Depardieu) wirklich auftritt? Und
wieso, dürfte man fragen, spielt in der
Selbstfindung des polnischen Kinos gewöhnlich die halbe Welt mit – die besten
Schauspieler Hollywoods bei Roman Polanski, die Frankreichs bei Krzysztof Kiedlowski? Und wie kam letzterer dazu, die
französische Nationalflagge zu verfilmen, in seiner Drei-Farben-Triologie?
Wagen wir die Vermutung, es könne
sich mit dem polnischen Kino genauso
verhalten wie mit den Mvduer Immigranten. Polen, Juden und Deutsche kamen in
die Stadt, die zur Kleiderfabrikantin Russlands wurde, und sie blieben dabei nicht
Polen, Deutsche und Juden, sondern wurden Bürger Mvdus und machten es zu der
vielleicht einzigen Stadt in Vorkriegs-Polen, deren tragende Schicht das Bürgertum war.
Die zivilisatorische Leistung der Stadt
Mvdu besteht – wie längst vermutet
wurde – darin, den Mvduer Menschen hervorgebracht zu haben. Als die deutsche
Besatzung begann und aus Mvdu Litzmannstadt wurde, war, so weiß man, alles zu Ende. 1939. Wirklich?
Wirbrauchen eineFilmhochschule,sagten sich 1948 die regierenden polnischen
Kommunisten und zeigten auf Mvdu. Vielleicht, weil hier 1899 das erste polnische
Kino eröffnete, das „Iluzjon“. Vielleicht
auch, weil es in der kaum zerstörten Stadt
noch ein paar intakte Filmstudios gab.
Aber wahrscheinlich war es nur Zufall.
Zu den ersten Studenten der Mvduer
Filmhochschule gehörte der Sohn des pol-
Andrzej Wajda mit Patrick Chereau bei Dreharbeiten zu „Danton“, 1982.
nischen Kavallerieoffiziers Wajda, der in
Katyn ermordet wurde. Andrzej Wajda
und seine Mitstudenten überredeten einen kleinen Schauspieler, der in Krakvw
schon als Kinderdarsteller aufgefallen
war, in ihren Studentenfilmen aufzutreten. Es war Roman Polanski. Und so
spielte der Flüchtling aus dem Warschauer Ghetto im ersten Spielfilm des
Sohnes des ermordeten Offiziers: „Generation“ handelt vom polnischen Widerstand.
Es folgten „Der Kanal“ und „Asche und
Diamant“, die beiden frühen Meisterwerke des polnischen Kinos. Die Frage
war: Bleibt das Nachkriegs-Polen Asche,
Wajdas junger Schauspieler
dreht jetzt selber Filme
aufgerieben zwischen der neuen kommunistischen Macht und der pro-westlichen
Heimatarmee, oder ist da für den, der genau hinsieht, ein heller Streifen am Horizont sichtbar? „Asche und Diamant“ entstand 1958. Wajdas junger Schauspieler
hatte nun keine Zeit mehr, in seinem Film
aufzutreten, denn Roman Polanski
drehte selber einen: „Zwei Männer und
ein Schrank“. Zwei Männer steigen mit
einem Schrank aus der Ostsee, tragen ihn
ziellos und verlacht durch Sopot, um
schließlich mitsamt Schrank wieder im
Meer zu verschwinden. Sollte das sozialistischer Realismus sein?
Musste es auch gar nicht, denn die poststalinistische Freiheit wehte kurz auch
durch die Filmhochschule. Die verschickte inzwischen Absage um Absage
Foto: RAPHO/laif
an einen jungen Abbrecher der Schule für
Feuerwehrleute; der begann bald zu hungern, um als Halbverhungerter wegen
mangelnder Wehrtauglichkeit nicht zur
Armee zu müssen und wäre vielleicht
noch ganz verhungert, hätte Mvdu nicht
schließlich doch jagesagt.Das warKrzysztof Kiedlowksi, der später mit deutschem
Geld die „Zehn Gebote“ fürs Polnische
Fernsehen verfilmte. Als Dokumentarist
fing er an, und dokumentarisch würde der
Gestus seines Kinos bleiben, doch nie hat
wohl ein Regisseur wie er die reine Alltäglichkeit dazu überreden können, alle Nuancen der Liebe etwa preiszugeben wie in
„Ein kurzer Film über die Liebe“. Kiedlowski, der Jüngste, starb schon 1996.
1999, als die ganze Welt „Titanic“ sah,
standen auch vor den polnischen Kinos
Schlangen, doch für einen anderen Film.
15 Millionen wollten „Pan Tadeusz“ sehen, Wajdas Verfilmung des polnischen
Nationalepos. Wieder einte er die Polen
wie schon Jahrzehnte zuvor, als er mit
„Mann aus Eisen“, der Geschichte des
Bestarbeiters Birkut, zum Mitauslöser
der „Solidarnodk“-Bewegung wurde.
Und Polanski, das Kind, das dem Warschauer Ghetto entkam? Er hat sein Leben
lang Klaustrophobien verfilmt, in „Tanz
der Vampire“ ebenso wie in „Der Mieter“,
wie jetzt in dem Familiendrama „Der Gott
des Gemetzels“. Für „Schindlers Liste“
fühlte er sich nicht stark genug, aber für
den „Pianisten“ kehrte er nach Warschau
zurück und erzählte die Geschichte einer
Flucht aus dem Warschauer Ghetto, die
ebenso wahr ist wie die seine.
Der Mvduer Mensch hat 1939 nicht aufgehört zu existieren. Er ist nach 1945 wiedererstanden in den großen Regisseuren
des polnischen Kinos. Kerstin Decker
POLEN 2011
DIENSTAG, 13. SEPTEMBER 2011 / NR. 21 095
TÜR AN TÜR. POLEN – DEUTSCHLAND 1000
DER TAGESSPIEGEL
B7
Jahre Kunst und Geschichte im Martin-Gropius-Bau
Frühe Gemeinsamkeiten
Polen und Deutsche verbindet mehr, als das vermeintliche Allgemeinwissen glauben lässt – drei Beispiele
Deutsche und Polen haben mehr gemeinsam, als es die Debatten der Vergangenheit vermuten lassen. Es gab im Verlauf
der vergangenen 1000 Jahre viele positive
Beispiele gelebter Nachbarschaft und
Partnerschaft, daran erinnert die große
Kulturausstellung im Martin-GropiusBau, Berlin. Wir greifen drei Objekte heraus, um den Blick auf Gemeinsamkeiten
zu schärfen.
RICHEZA
Wer kein Kölner ist, weiß es nicht. Zumindest ist es im Allgemeinen nicht bekannt,
dass die erste polnische Königin im Kölner Dom begraben ist. Vor fast genau
1000 Jahren, 1013, hat Richeza, Pfalzgräfin von Lothringen, die Nichte des deutschen Kaisers Otto III. , den polnischen
Herzog Mieszko, den Sohn von Boles-
Richeza, Königin von Polen (um 995
-1063), Tafelbild auf Kalksinterplatte (um
1410/20). Das Grab befindet sich im Kölner
Dom. Foto: Matz und Schenk, © Dombauarchiv Köln
maw I., geheiratet. Bomeslaw I. warein wichtiger Verbündeter des deutschen Kaisers
Otto III., aber nach dessen Tod kam es unter Kaiser Heinrich II. immer wieder zu
Auseinandersetzungen mit Polen. Erst
nach dem Tod Heinrichs II. 1018 änderte
sichdas, Bomeslaw I. wurde polnischer König und sein Sohn 1025 als Mieszko II.
zum polnischen König gekrönt, damit war
Richeza Königin von Polen. Sie hatte es
nicht leicht am polnischen Hof, denn es
kam häufig zu Spannungen, da der deutsche Kaiser Konrad II. den polnischen Königstitel nicht anerkennen wollte.
Nach Überwindung der Krise setzte die
gläubige Christin Richeza alles daran, ihren Sohn Kazimir so zu erziehen, dass er
sich seines deutschen Erbes bewusst
werde. Nach dem Tode Mieszkos wuchs
in Polen der Widerstand gegen den deutschen Einfluss auf die Erziehung Kazimirs
derart, dass Richeza beschloss, mit ihrem
Sohn in die Heimat zu fliehen.
Erst als Kazimir 1038 in Polen die
Thronfolge antrat, gelang es ihm, mit
deutscher und Kiewer Hilfe, den Thron
der Piasten wieder aufzubauen. Richeza
war allerdings nicht mehr nach Polen
zurückgekehrt. Sie wird als außergewöhnliche Persönlichkeit geschildert,
die in Friedenszeiten viel für Polen und
Deutschland getan hat, sie unterstützte
wesentlich die Ausstattung des Bamberger Doms, von Kirchen in Köln und
Brauweiler, aber auch den Wiederaufbau polnischer Kathedralen, die während der Kriege zwischen Christen und
Heiden um 1030 zerstört wurden. Richeza wurde in der Stiftskirche Mariengraden begraben. Als diese 1817 abgetragen wurde, verlegte man das Grab
der ersten polnischen Königin in den
Kölner Dom.
HERZOGIN HEDWIG
VON BAYERN-LANDSHUT
Es muss ein rauschendes Fest gewesen
sein, das zu Ehren der Hochzeit des Wittelsbacher Herzogs Georg dem Reichen
mit der jagiellonischen Prinzessin Hedwig 1475 gegeben wurde, ein Event sozusagen, bei dem vor allem die deutsche
Seite, mit Namen die Wittelsbacher und
Hohenzollern, einander zu übertrumpfen
versuchten. 323 Ochsen, 490 Kälber,
969 Schweine 3295 Schafe und Lämmer
sowie 51 500 Hühner und Gänse sind bei
Mit dieser geschickten Politik sollte ein
Bollwerk gegen die Türken errichtet
werden, die 1453 Konstantinopel erobert hatten.
Herzogin Hedwig, um 1530.
Abbildung: © Bayerische Schlösserverwaltung, Landshut, Burg Trausnitz www.schloesser.bayern.de
denüppigen Feierlichkeiten verspeistworden, nie wieder hat ein deutsch-polnisches Fest solche Ausmaße angenommen.
Ja, die Landshuter Hochzeit gilt heute als
die üppigste Party des Spätmittelalters,
bei der der Kaiser und viele Kurfürsten anwesend waren. Sie wird übrigens seit
1903 alle vier Jahre in Landshut als großes
Spektakel nachgefeiert, das nächste Mal
im Jahr 2013.
Die polnische Seite hatte die unvorstellbare Summe von 100 000 Gulden in Aussteuer und Selbstdarstellung der Prinzessin investiert. Zweifellos zeigte hier eine
neue Großmacht in Europa Präsenz, die
Jagiellonen hatten den Deutschen Orden
1466 besiegt und nun schickte sich der
siegreiche und machtbewusste König an,
seine zahlreichen Kinder gezielt und sinnvoll in Europa zu verheiraten.
Vor allem deutsche Fürstenhäuser
schickten sich an, sich um eine jagiellonische Prinzessin zu bemühen. So kam es
in der Folge der Landshuter Hochzeit zu
weiteren Verbindungen mit Franken,
Sachsen, Pommern, Brandenburg und
Braunschweig-Wolfenbüttel.
Im Gegenzug wurden habsburgische
Prinzessinnen nach Polen verheiratet.
VEIT STOSS, BILDHAUER
Er steht wie kein Zweiter für das gemeinsame kulturelle Erbe Deutschlands und
Polens – Veit Stoß (1438–1533), der berühmte Bildhauer aus Nürnberg, hat
zwanzig produktive Jahre am Hof der damaligen polnischen Hauptstadt Krakvw
gewirkt und ein Werk hinterlassen, auf
das sich beide Nationen beziehen können, eine Tatsache, derer sich heute die
Wenigsten bewusst sein dürften.
Das technische und künstlerische
Know-how für Bildhauerei fand man im
späten Mittelalter in Paris, Brüssel,
Brügge, Gent und Köln – und es lag nahe,
dass die polnischen Herrscher, wollten
sie Spitzenwerke, sich hier bedienten und
Künstler aus dem Westen engagierten.
So zog der wahrscheinlich 1438 geborene Veit Stoß 1477 von Nürnberg nach
Krakvw, wo er den Altaraufsatz für die
Marienkirche in zwölf Jahren schuf. Seine
vier in Polen geborenen Kinder bekamen
alle polnische Vornamen. Stoß schuf noch
weitere bedeutende Werke, unter anderem die Platte für das Königsgrab Kasimirs IV. Nach 20 Jahren zog es ihn wieder
nach Nürnberg, warum ist nicht bekannt.
In Nürnberg gab es damals keinen Zunftzwang für Bildhauer. Vielleicht, so die Forschung, reizte ihn die dortige BildhauerSzene, die es so in Krakvw nicht gab. Folglich hatte Veit Stoß auch keine Nachfolger
seiner Bedeutung in Krakvw gefunden.
Allerdings, so wird vermutet, sei es fraglich, ob er unter einem selbstbewussten
Stadtrat in Nürnberg glücklicher gewordenseialsinKrakvwamHofedesKönigs.
Rolf Brockschmidt
Madonna mit dem Kind,
Nürnberg, um 1500-1505.
Eine frühe Plastik des Veit Stoß (1447-1533)
zeigt schon seine ganze Meisterschaft.
Stoß lebte in Nürnberg und Krakow und
schuf in beiden Städten bedeutende Kunstwerke, darunter viele Marienbildnisse.
Der Hochaltar der Marienkirche in Krakow
zählt zu seinen wichtigsten Werken.
Foto: © V&A Images / Victoria & Albert Museum London
„Ein kleiner Satz macht viel Rabatz“
Eine Begegnung mit der neueren polnischen Literatur von Adam Mickiewicz über Czesmaw Mimosz zu Tadeusz Djbrowski
„Szukam smowa“: Ich suche Worte. So
heißt das erste Gedicht, das die große
Skeptikerin und Literatur-Nobelpreisträgerin Wismawa Szymborska 1945 veröffentlichte. Seit der ersten polnischen Teilung im Jahre 1772bis zur Gründung der
ZweitenRepublik1918 und erst recht wieder nach dem deutschen Überfall 1939
ging es für die Schriftstellerunseres Nachbarlandes vor allem darum, Worte zur
schwierigen bis prekären Lage ihrer Nation zu finden. „Die polnischen Dichter
konnten es sich nie leisten, abseits ihrer
Zeit zu stehen. Zu gewaltsam drängte sich
die Geschichte in ihr Leben“, schreibt Karl
Dedecius, aus Mvdu stammender Gründer
des Deutschen Polen-Instituts, im Nachwort zu den von ihm übersetzten „Polnischen Gedichten des 20. Jahrhunderts“.
Andrzej Szczypiorski („Die schöne Frau
Seidenmann“)sah als Teilnehmeram Warschauer Aufstand 1944 die vornehmste
Pflicht der Literatur darin, angesichts von
Fremdherrschaft und Kriegen die nationale Identität zu stärken.
Das vereinigte Europa als Ausweg, als
„wichtigsten und lebendigsten Wunsch
der Völker“ propagierte bereits der glü-
hende Romantiker Adam Mickiewicz.
Sein1834 erschienenes Langgedicht „Pan
Tadeusz“ (triumphal von Andrzej Wajda
verfilmt) gilt bis heute als polnisches Nationalepos. Der Adel mit seinem leicht
kränkbaren Ehrgefühl bildete ein unerschöpfliches Thema für die Literatur der
1830er Jahre – ob in Aleksander Fredros
Komödie „Die Rache des Verschmähten“
oder in „Pan Tadeusz“, das mit einer Kränkung einsetzt.Diese Haltung karikierte
1937 der provokante Elitedenker Witold
Gombrowicz, selbst aus altem Landadel
stammend, in seinem Skandalroman „Ferdydurke“ miteinem Grimassenduell. „Unser Lebenselement ist die ewige Unreife“,
konstatierte Gombrowicz.
Dem folgt auch ein anderer der bedeutendsten polnischen Vorkriegsromane,
„Die Zimtläden“ von Bruno Schulz. Der
1942 im Ghetto erschossene Zeichenlehrer verwandelte seine galizische Heimatstadt Drohobycz in der Nachfolge Kafkas
in ein phantasmagorisches Welt-Gleichnis. Drohobycz liegt heute wie Lemberg
in der Ukraine; Autoren wie Mickiewicz
und der Literatur-Nobelpreisträger Czesmaw Mimosz wiederum wurden im jetzi-
DER STAND DER BILDER
DIE MEDIENPIONIERE ZBIGNIEW RYBCZYŃSKI
UND GÁBOR BÓDY
gen Litauen geboren, das ja einst mit Polen ein Großreich bildete.
Die verhaltene Trauer um die polnischen Ostgebiete – schließlich wurde das
Land 1945 wie ein Schrank nach Westen
gerückt -beschäftigt selbst junge Literaten
wie den Danziger Dandy Jacek Dehnel,
Jahrgang 1980. Sein Roman „Lala“ umspanntwiemitAdlerschwingen ein Jahrhundert wechselvolMit Krimis
ler polnisch-ukraiin die
nisch-russischer Geschichte. In die deutGeschichte
sche Vergangenheit
Wroclaws
Wrocmaw taucht sehr
erfolgreich Marek
eintauchen
Krajewski mit seinen Kriminalromanen rund um Kommissar Eberhard Mock
ab. Nach Art eines Teufelspakts zieht
Andrzej Barts Roman-Artefakt „Die Fliegenfängerfabrik“ in ihren Bann. Darin
wird ein imaginärer Prozess inszeniert,
bei dem die Lebenden und die Toten über
ChaimRumkowski Gerichthalten, den berüchtigten Vorsitzenden des sogenannten
Judenrats im Ghetto von Litzmannstadt.
In einem Land, in dem man statt „Wie
geht es Ihnen?“ „Wie fliegen Sie?“ fragt,
wie der geniale Futurist und Utopist Stanismaw Lem in einem seiner letzten Interviews betonte, ist der Freiheitsdrang seiner Bewohner per se ausgeprägt. Das galt
insbesondere für die weit gereiste Erfolgsautorin
Maria
Korwin-Piotrowska
(1857-1921). Unter ihrem Künstlernamen Gabriela Zapolska galt sie als „polnischer Zola“ mit besonderem Interesse für
die weibliche Psyche, inklusive Recherchen in den psychiatrischen Kliniken von
Paris. Ihr bekanntestes Buch „Sommerliebe“, ein Ehebruch-Roman ohne Ehebruch, wirkt nach wie vor elektrisierend.
„Kosmische Weite der Vision und Großzügigkeit“ reklamierte Czesmaw Mimosz
für seine Poesie. „Ich füge meine Worte /
schleppe meine Zeit“ schrieb dagegen
1954 Tadeusz Rósewicv. Als erster Lyriker Nachkriegspolens stieß er in Deutschland auf breite Resonanz. Der Widerspruch zwischen Zwang und Freiheitswillen offenbarte sich drastisch in der bleiernen Zeit der Volksrepublik. Jerzy Andrzejewskis Roman „Asche und Diamant“ widmete sich mit packendem Realismus dem
Neuanfang nach den Verheerungen des
Krieges. Einen angry young man wie Marek Hmasko („Der achte Tag der Woche“)
trieb die Atmosphäre von Verrat und Resignation dagegen ins Exil, wo er 1969
starb. Der in die USA emigrierte Janusz
Gmowacki ist mit seinen herrlichen Satiren
wie „Die Unterhose, die Lotterie und das
Schwein“ ein anderes Beispiel für die polnische Neigung zur schwarzgrundigenParabel bis Groteske. Sie verkörpern auch
Jerzy Pilch oder ein Aphoristiker wie Stanismaw Jerzy Lec: „Ein kleiner Satz macht
viel Rabatz.“
Auf das Image des Rebellen abonniert
war lange Zeit Andrzej Stasiuk, bekannt
geworden mitseinen atmosphärischen
Landschaftsporträts „Die Welt hinter Dukla“ oder „Neun“, einem kriminalistischen Warschau-Panorama in Cinemascope. Ähnlich wild gebärden sich im Bereich der Prosa heute jüngere Autoren wie
Dorota Masmowska(„Schneeweiß und russenrot“), Micham Witkowski, der 2005 mit
„Lubiewo“ den ersten Schwulen-Roman
im katholischen Polen vorlegte, oder der
1972 in Schlesien geborene Wojciech
Kuczok mit „Dreckskerl“. Seine Genera-
tion sei in einem „Ozean kommunistischer Trostlosigkeit“ aufgewachsen, so
Kuczok. Der 31-jährige Danziger Tadeusz
Djbrowski, der zu den hoffnungsvollsten
jüngeren Lyrikern zählt, schreibt in „Das
zeitgenössische Gedicht“: „Früher nahm
man an, es ernähre sich von menschlichem Blut, aber es / begnügt sich mit Fliegen, einem Maikäfer, einer Motte“. Damit
bringt er den Bedeutungswandel, den die
polnische Literatur seit 1989 erfahren
hat, auf den Punkt.
EineSolitärin wieOlga Tokarczukscheinen solche Debatten wenig zu kümmern.
Ihr neuer Roman „Der Gesang der Fledermäuse“ führt mitten in den winterlichen
Wald und zu dessen kauzigen Bewohnern.
Und auch die Schriften Karol Wojtymas
alias Papst Johannes Paul II., darunter der
Gedichtband „Der Gedanke ist eine seltsame Weite“, erfreuen sich ihrer konstanten Leserschaft.
Katrin Hillgruber
POLEN 2011: Beilage des Tagesspiegels.
Redaktion: Rolf Brockschmidt, Reinhart Bünger,
Silke Zorn; Anzeigen: Jens Robotta;
Postanschrift: 10876 Berlin, Tel. (030) 29021–0.
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MIROSŁAW BAŁKA. FRAGMENT
B8
POLEN 2011
DER TAGESSPIEGEL
Kräfte bündeln
KULTURVERANSTALTUNGEN zu Polen
Die Kulturinstitute beider Länder kooperieren
Wenn kulturelle Institutionen kooperieren, bedeutet das oft nicht mehr, als dass
ein zweiter Redner die Gäste begrüßen
darf, deren gedruckte Einladung statt einem gleich zwei Logos zieren durften.
Auf ganz andere Weise zusammengefunden haben zuletzt das Goethe-Institut
und sein Pendant aus Polen, das Polnische Institut, die beide mit dem Auftrag
versehen sind, im Ausland für Sprache
und Kultur ihres Landes zu werben.
Beim Kunstprojekt „The Promised
City“, das im letzten Jahr in beiden Hauptstädten, aber auch im indischen Mumbai
stattfand, haben sich vor allem die Mitarbeiter der jeweiligen Häuser in Berlin
und Warschau zwei Jahre lang gemeinsam die Köpfe zerbrochen über die Details der 14 Einzelprojekte, die Sehnsüchte und Illusionen des modernen
Stadtlebens thematisierten. Zusammen
hatten sie recherchiert sowie Workshops
mit den vielen Künstlern veranstaltet
und Sponsoren gesucht.
Renata Prokurat, Kulturbeauftragte
des Warschauer Goethe-Instituts, erinnert sich an diese bewegte Zeit, in der die
Ansichten der beiden Teams nicht immer
übereinstimmten, etwa bei der finanziellen Abwicklung der Projekte. „Andere
Länder, andere Sitten“, sagt sie. Aber
diese kleinen Unebenheiten gehörten
nun mal zu so einem ambitionierten Unternehmen dazu. „Im Nachhinein können
wir sagen, dass die Kompetenz und die
Kontakte des Polnischen Instituts das
hohe ästhetische Niveau der Inhalte gesichert haben.“ Beide Institutionen hätten
einen immensen Imagegewinn im jeweiligen Gastland erzielt, etwa durch die Einbindung der Berliner Kunst-Werke oder
des Nowy Teatr aus Warschau.
Goethe-Institut Warschau.
Foto: Krzysztof Krogulski ©Goethe-Institut
AUSSTELLUNGEN
8.9. – 10.11.2011
Kilométrage – Jan Brzekowski
und seine Künstlerwelten. Ausstellung des Polnischen Instituts
Berlin und der Sammlung Marzona
Ort: Polnisches Institut Berlin,
Burgstraße 27, 10178 Berlin,
www.polnischekultur.de
Das Polnische Institut in der Burgstraße 17
in Berlin-Mitte.
Foto: promo
Für Tomasz Djbrowski, den Direktor
des Polnischen Instituts in Berlin, ist die
Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut in Deutschland eigentlich schon zur
Normalität geworden. Im letzten Jahr hat
man auch bei einem Forum über europäischeNachbarschaftamFlughafen Tempelhof kooperiert. „The Promised City“ war
aber auch für ihn etwas Neues: „Das war
schon eine Arbeit, die uns sehr eng zusammenführte, und das war früher nie so richtig der Fall.“ Es sei inhaltlich ein völlig
neues Format gewesen und habe auch
zum Entstehen neuer Netzwerke geführt.
„Da unsere Aufträge so ähnlich sind, ist es
sinnvoll, die Kräfte zu bündeln, um neue
Kontakte zu knüpfen und neue Formate
auszuprobieren.“ Dass der polnische
Künstler Artur Vmijewski im nächsten
Jahr Kurator der Berliner Biennale sein
wird, könne als ein Nachwirken dieser
neuen Kontakte gesehen werden.
In diesem Jahr gehen beide Institute
wieder eigene Wege. In Warschau ist das
Goethe-Institut zurzeit mit der Eröffnung der Kultursaison NRW-Polen vollauf beschäftigt und widmet der Tänzerin
Pina Bausch eine mehrtägige Konferenz.
In Berlin will sich Tomasz Djbrowski mit
seinem Institut vor allem auf die polnische EU-Ratspräsidentschaft konzentrieren. Unter dem Namen „Blickwechsel“
wird zusammen mit der Akademie der
Künste in zahlreichen Kunstformen der
künstlerische Dialog mit Polen geführt.
„Aber im nächsten Jahr kann ich mir etwa
bei der Fußball-Europameisterschaft in
Polen gut vorstellen, dass das mit dem
Goethe-Institut ein Thema sein könnte.“
Bojan Krstulovic
NR. 21 095 / DIENSTAG, 13. SEPTEMBER 2011
13.9. – 6.12.2011
Stanismaw Drózdz: Anfangenden.
Begriffsgestalten. Konkrete Poesie. Arbeiten 1967–2007, Ort: Guardini Galerie, Askanischer Platz 4,
10963 Berlin, www.guardini.de
23.09.2011 – 9.1.2012
Tür an Tür. Polen und Deutschland – 1000 Jahre Kunst und
Geschichte. Veranstalter: Berliner
Festspiele; Realisierung: Königsschloss in Warschau und MartinGropius-Bau in Berlin. Ort: Niederkirchnerstr. 7, 10963 Berlin,
www.gropiusbau.de
21.10. – 13.11.2011
Polish! Contemporary Art from
Poland. Ort: Künstlerhaus
Bethanien, www.bethanien.de
28.10.2011 – 16.01.2012
Pawem Althamer: Almech. Ein Projekt der Deutschen Guggenheim.
Ort: Deutsche Guggenheim, Unter
den Linden 13/15, 10117 Berlin,
www.deutsche-guggenheim.de
28.10.2011 – 1.1.2012
Blickwechsel – Künstlerische
Dialoge mit Polen – Der Stand der
Bilder. Ausstellung zu den Medienpionieren Zbigniew Rybczynski und
Gábor Bódy. Projekt der Akademie
der Künste und des Polnischen
Instituts Berlin. Ort: Akademie der
Künste, Hanseatenweg, Halle 2,
www.adk.de/blickwechsel
www.polnischekultur.de
29.10.2011 – 8.1.2011
Blickwechsel – Künstlerische
www.adk.de/blickwechsel
www.polnischekultur.de
Dialoge mit Polen – Ausstellung
Mirosmaw Bamka – Fragment
Projekt der Akademie der Künste
und des Polnischen Instituts Berlin
in Kooperation mit dem Zentrum
für zeitgenössische Kunst / Zamek
Ujazdowski, Warschau und der
Stadt Warschau. Ort: Akademie
der Künste, Pariser Platz,
Liebermann-Saal, Hallen 1-4
www.adk.de/blickwechsel
www.polnischekultur.de
LITERATUR
16.9.2011, 22.30 Uhr
Internationales Literaturfestival
Berlin – Erinnerung: sprich
Czesmaw Mimosz: Durch die Welt
des polnischen Lyrikers. Hörbuchpräsentation mit Peter Franke und
Barbara Nüsse, Musik: Julia Marcell, Ort: Haus der Berliner Festspiele, www.literaturfestival.com
17.9.2011, 20.00 Uhr
Internationales Literaturfestival
Berlin – Abschlusskonzert
Aga Zaryan – The Voice in Concert
„Mimosz und seine Nächsten“
Ort: Haus der Berliner Festspiele,
www.literaturfestival.com
17.9.2011
Internationales Literaturfestival
Berlin. Polnischer Tag
mit Wmodzimierz Nowak, Piotr Pazinski, Andrzej Bart und Aga Zaryan
Ort: Haus der Berliner Festspiele,
www.literaturfestival.com
6. – 8.12.2011
Blickwechsel – Künstlerische
Dialoge mit Polen – Literatur
Projekt der Akademie der Künste
und des Polnischen Instituts Berlin
in Kooperation mit dem Deutschen
Kulturforum östliches Europa. Akademie der Künste, PariserPlatz,
Plenarsaal, www.adk.de/blickwechsel, www.polnischekultur.de
MUSIK
27.10.2011, 19.30 Uhr
Blickwechsel – Künstlerische
Dialoge mit Polen – Konzert
Zur Eröffnung des Schwerpunktprogramms European Workshop
for Contemporary Music. Projekt
der Akademie der Künste und des
„Andrzej Wajda – Bekannt und unbekannt“ heißt die Retrospektive, die
filmPOLSKA vom 2. bis 31. Dezember im Kino Arsenal, dem Hackesche
Höfe Kino und dem Zeughauskino zeigt. Ein Projekt des Polnischen Instituts Berlin unter der Schirmherrschaft der Europäischen Filmakademie
(www.filmpolska.de).
Foto: culture-images/Lebrecht
Polnischen Instituts Berlin anlässlich „Partnerzy. 20 Jahre Städtepartnerschaft Berlin-Warszawa“.
Ort: Akademie der Künste, Hanseatenweg, Studio, www.adk.de/blickwechsel, www.polnischekultur.de
2.11.2011
I Culture Orchestra. Werke von
Karol Szymanowski, Orchester
der Polnischen EU-Ratspräsidentschaft 2011. Projekt des Adam
Mickiewicz Instituts. Berliner Philharmonie, Herbert-von-Karajan-Str.
1, 10785 Berlin, www.culture.pl
3.11.2011, 19.00 Uhr
JazzFest Berlin – Eröffnungsprogramm. Tomasz Stanko, Leszek
Movdver, Adam Pieronczyk.
Ort: Haus der Berliner Festspiele,
www.berlinerfestspiele.de
3.11.2011, 22.30 Uhr
JazzFest Berlin.
Adam Baldych Quintet feat.
Dana Hawkins. Ort: Quasimodo
4.11.2011, 23.30 Uhr
JazzFest Berlin. Oled Brothers &
Christopher Dell. Ort: Haus der
Berliner Festspiele, Seitenbühne
17.11.2011
Jan A. P. Kaczmarek.
Multimediakonzert der Stiftung
Instytut Rozbitek. Ort: Konzerthaus, www.konzerthaus.de
3.12.2011
Chorwerke von Krzysztof Penderecki. Polnischer Kammerchor
Schola Cantorum Gedanensis
Ort: Radialsystem V, Holzmarktstraße 33, 10243 Berlin,
www.radialsystem.de
FILM
8.11.2011 19.30 Uhr
Mania. Die Geschichte einer
Zigarettenfabrikarbeiterin.
Mit Pola Negri-Vorführung der
restaurierten Fassung mit Originalkomposition von Jerzy Maskymiuk.
Ein Projekt der Nationalen Filmothek in Warschau. Ort: Volksbühne
am Rosa-Luxemburg-Platz, Linienstraße 227, 10178 Berlin,
www.polnischekultur.de
THEATER
10.11.2011
Blickwechsel – Künstlerische
Dialoge mit Polen – Theater.
Theater als kulturelles Gedächtnis:
Gespräch mit den Theaterwissenschaftlern Dariusz Kosinski und
Friedemannn Kreuder, Vorstellung
des Buches „Polnisches Theater.
Geschichten“ von Dariusz Kosinski. Ort: Akademie der Künste, Pariser Platz / Plenarsaal,
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11. – 12.11.2011
Blickwechsel – Künstlerische
Dialoge mit Polen – polnischdeutscher Theaterdialog.
Theater Slam – neueste Dramatik
aus Polen. Projekt der Akademie
der Künste und des Polnischen
Instituts Berlin in Kooperation mit
der Agencja Dramatu, Warschau
und dem Adam Mickiewicz Institut
Warschau. Ort: Akademie der
Künste, Hanseatenweg / Studio,
www.adk.de/blickwechsel
www.polnischekultur.de
23, 24, 25.11.2011
Frauenchor – Hier spricht der
Chor. Projekt des Z. RaszewskiTheaterinstituts. Hebbel am Ufer 3,
Tempelhofer Ufer 10, 10963
Berlin, www.hebbel-am-ufer.de
10. – 11.12.2011
Spielzeit’europa – Deutschlandpremiere: Szosa Wolokolamska
(Womokomamsker Chaussee) von
Heiner Müller. Teatr Polski
Wrocmaw. Projekt der Berliner Festspiele, Ort: Haus der Berliner Festspiele, www.berlinerfestspiele.de
ANDERE
17. – 19.11.2011
Blickwechsel – Künstlerische
Dialoge mit Polen – Baukunst.
Symposium zu Geschichte und Zukunft der Gebäuderekonstruktionen in Warschau und Berlin. Projekt der Akademie der Künste und
des Polnischen Instituts Berlin mit
Unterstützung der Stiftung für
Deutsch-Polnische Zusammenarbeit. Ort: Akademie der Künste
(Hanseatenweg, Pariser Platz,
Exkursionen), www.adk.de/blickwechsel, www.polnischekultur.de
Das gesamte Kulturprogramm
zur polnischen EU-Ratspräsidentschaft in Berlin finden Sie unter:
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