Erinnerung als heterotopischer Handlungsraum. Autobiographische
Transcrição
Erinnerung als heterotopischer Handlungsraum. Autobiographische
Felix J. Fuchs (2014): Erinnerung als heterotopischer Handlungsraum. Autobiographische Selbsterneuerung in Robert Pirsigs Zen and the Art of Motorcycle Maintenance. In: Helikon. A Multidisciplinary Online Journal, 3. 55–82. www.helikon-online.de mitmachen[youknowit]helikon-online.de title Erinnerung als heterotopischer Handlungsraum Autobiographische Selbsterneuerung in Robert Pirsigs Zen and the Art of Motorcycle Maintenance Felix J. Fuchs Abstract This essay discusses Michel Foucault’s “Des espace autres” and the concept of the heterotopia as a spatial category. After introducing the concept in a close reading of Foucault, the external heterotopic space is extended to the internal space of memory. The idea that memory and its textual reproduction in autobiographic writing can serve as an internal heterotopic space is then analyzed in more detail. Robert M. Pirsig’s Zen and the Art of Motorcycle Maintenance is read here as a text which uses memory as both an internal heterotopic space for the autobiographical renewal of the self and as an internal category which can open the space of personal experience towards the reader. Zusammenfassung Dieser Aufsatz beschreibt Michel Foucaults „Des espace autres“ und das Konzept der Heterotopie als räumliche Kategorie. Nach Einführung des Konzepts durch ein close reading von Foucault, wird der externe heterotopische Raum um den inneren Raum des Gedächtnisses erweitert. Die Idee, dass Erinnerung und ihre textuelle Wiedergabe in autobiographischen Schriften als interner heterotopischer Raum dienen können, wird dann näher untersucht. Robert M. Pirsigs Zen and the Art of Motorcycle Maintenance wird dabei als Text gelesen, der Erinnerung sowohl als internen heterotopischen Raum zur autobiographische Erneuerung des Selbst verwendet, als auch als interne Kategorie, die den Raum der persönlichen Erfahrung zum Leser hin öffnen kann. Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 5 5 Die Welt der Gedanken Seit der Errichtung der ersten festen Englischen Siedlungen auf dem Gebiet der heutigen Vereinigten Staaten im 17. Jahrhundert ist die amerikanische Kultur geprägt von einer Kombination aus Exzeptionalitätsdenken und Expansion. Etwa seit dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg wurde beides in der sogenannten Westward Expansion und der damit einhergehenden rücksichtslosen Vertreibung der Ureinwohner seitens des Staates umgesetzt. Gleichzeitig idealisierte man diese Konzepte zunehmend mit dem romantischen Ideal der Frontier, im Sinne individualistischer Freiheit. Doch auch nach der Schließung der Frontier und dem Ende des „Wilden Westens“ gegen Ende des 19. Jahrhunderts, blieb das Konzept in einer Art Bewegungsdrang, einem technologischen Vorwärtsstreben, erhalten und kam im 20. Jahrhundert wiederholt zum Tragen. In der amerikanischen Literatur wird diese Gleichsetzung der Erschließung von Räumen mit persönlicher Freiheit mit am prägnantesten durch das Symbol der Straße erfasst. Die einzelne Person kann dort für sich selbst den Raum in all seiner Größe erleben, ihn durchschreiten und in sich aufnehmen. Es scheint logisch, dass Topographie als ein zentrales Motiv der Literatur immer wieder in der Literaturtheorie besprochen und untersucht wurde. In seinem Essay „Des espaces autres“ spricht etwa Michel Foucault von Orten, die sich unter anderem dadurch auszeichnen, dass sie zugleich mit anderen Räumen verknüpft sind, sogenannte Heterotopien. Dabei beschränkt er sich jedoch auf solche, die extern zu verorten sind, also Teil der physikalischen Welt sind und damit außerhalb des Individuums liegen. Dieser Essay versucht nun wiederum Foucaults Konzept des offenen Raums und der alles verbindenden, erfindenden und in Zweifel ziehenden Heterotopien mit dem komplexen System des gedachten Raums, in Form subjektiver Erinnerungen, zu kombinieren. Um der subjektiven Komponente von Erinnerungsräumen Rechnung zu tragen, wird die These beispielhaft anhand von Robert M. Pirsigs autobiographischem Roman Zen and the Art of Motorcycle Maintenance erläutert. Pirsig bewegt sich darin auf zwei Ebenen, einer externen räumlichen Ebene und einer internen. Letztere ist dabei in seiner Erinnerung anzusiedeln und stellt somit eine Art der inneren Heterotopie dar, einen Spiegel, der den realen Raum mit dem Raum der Erinnerung verbindet. Denn so sinnvoll eine Unterscheidung in äußeren und inneren Raum zunächst erscheint, stellt jedes Wahrnehmen und Denken über Raum zugleich auch eine Verinnerlichung des Raumes dar. In Form von Erinnerungen vermag der menschliche Verstand die Weite des Raumes aufzunehmen und zu verarbeiten. Dieser Essay soll zunächst allgemein über Foucaults Konzept des heterotopischen Raumes sprechen. Im Anschluss wird erläutert inwiefern sich der Begriff auf Pirsigs Roman anwenden lässt, indem seine Darstellung und Verbindung von externen und internen Räumen diskutiert wird. Außerdem wird Erinnerung als räumliche Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart untersucht, um abschließend den heterotopischen Raum der Erinnerung als Ort der Selbsterneuerung des Subjekts zu etablieren. Denn trotz seiner Bedeutung für die amerikanische Literatur, wird über Raum meist nur im physikalischen Sinne gesprochen, wobei oft außer Acht gelassen wird, dass Raum aufgrund der Natur der menschlichen Sinneswahrnehmung immer auf subjektive Erfahrung beschränkt bleiben muss. In diesem Sinne soll das verbindende Konzept des heterotopischen Raums, das Michel Foucault für externe Räume konzipiert hat, mit dem virtuellen Raum des menschlichen Geistes verbunden werden. Pirsigs autobiographischer Roman dient dabei als Veranschaulichung der Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 56 Überlegung, inwiefern die menschliche Erinnerung als Handlungsraum – und somit als heterotopisches Setting autobiographischer Werke über die Neuentstehung des Ich – dienen kann. Foucaults heterotopisches Raumkonzept in „Des espace autres“ Will man über heterotopischen Raum sprechen, so muss man zunächst Michel Foucaults Essay „Des espace autres“ im Detail untersuchen, der den Begriff geprägt hat. Dazu soll seine Idee der Heterotopie zunächst definiert und dann anhand seiner eigenen Beispiele näher erläutert werden. Des Weiteren sollen im Anschluss an die allgemeine Diskussion bereits Erinnerungen als interner heterotopischer Raum mit Foucaults Konzept der externen Heterotopie verbunden werden. In diesem Zusammenhang wird auch Robert M. Pirsigs Zen and the Art of Motorcycle Maintenance als konkretes Beispiel eingeführt. Michel Foucaults selbst beginnt „Des espace autres“ mit einer Definition des Begriffs, um das zu untersuchende Feld direkt abzustecken. Die systematische Beschreibung seines Konzepts des heterotopischen Raumes und die damit verbunden neu eingeführten Begrifflichkeiten bezeichnet Foucault dabei als „l‘hétérotopologie“.1 Die Frage was ein heterotopischer Raum beziehungsweise eine Heterotopie genau ist, macht deswegen ein eigenes Feld zur Betrachtung notwendig, da sie sich trotz zahlreicher Beispiele nur äußerst schwierig beantworten lässt. Das Hauptmerkmal dieser Räume, für die sich Foucault interessiert, besteht zunächst darin, dass sie mit allen anderen realen Plätzen verbunden sind, allerdings „sur un mode tel qu’ils suspendent, neutralisent ou inversent l’ensemble des rapports qui se trouvent, par eux désignés, reflétés ou réfléchis“.2 Dies bedeutet, dass diese speziellen Räume die Beziehungen, die sie zu anderen Räumen durch Benennung, Sinne, Spiegelung oder Reflektion unterhalten, permanent in Frage stellen, auflösen oder völlig neu erfinden. Es sind also nicht Räume, die im relativ passiven, physikalischen Sinne als bloße Bühne dienen, sondern Räume, die sich vor allem über ihre Verbindungen und insbesondere die damit einhergehende Interaktion mit anderen realen Räumen definieren. Es sind Räume, die aufgrund eines permanenten Austauschs von Informationen mit anderen verbunden sind, diesen jedoch gleichzeitig als Widerspruch gegenüber gestellt bleiben. Foucault unterscheidet diese, den realen Räumen gegenüber gestellten Orte außerdem in Utopien und Heterotopien. Ersteres ist laut seiner Definition ein Ort „sans lieu réel“,3 der eine ideale Gesellschaft beschreibt und damit per definitonem nicht real sein kann. Im Gegensatz dazu stehen wiederum Heterotopien, die sehr wohl reale Räume darstellen, jedoch als eine Art „contre-emplacements“ fungieren, indem sie gleichzeitig Umsetzung und Inversion utopischer Räume sind.4 Heterotopischer Raum zeichnet sich somit durch „the critical virtue of locating itself between two spaces simultaneously: the Real and the unreal”5 aus, wie es Javier Durán in seinem Aufsatz „Heterotopia and Memory in Carmen Boullosa’s Cielos de la Tierra“ beschreibt. Heterotopischer Raum meint einen realen Raum, der als „sortes d’utopies effectivement réalisées dans lesquelles les emplacements réels, tous les autres Michel Foucault: Des espaces autres. In: ders.: Dits et écrits: 1954–1988, Bd. 4: 1980–1988, hg. Von Daniel Defert/François Ewald, Paris 1994, S. 752–762, hier S. 756. 2 Michel Foucault: Espaces, S. 755. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Javier Durán: Utopia, Heterotopia and Memory in Carmen Boullosa’s Cielos de la Tierra, in: Studies in the Literary Imagination 33.1 (2000), S. 51–64, hier 52. 1 Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 57 emplacements réels que l’on peut trouver à l’intérieur de la culture sont à la fois représentés, contestés et inversés…”.6 Als realisiertes Ideal verbindet der heterotopische Raum damit reale Kulturräume und reflektiert zugleich deren Beziehungen untereinander und zu sich selbst. Die Heterotopie ist eine Möglichkeit, die als reale Repräsentation einer Unmöglichkeit zu verstehen ist. Wie eine Utopie trägt sie in ihrem Kern eine Unmöglichkeit, gleich einem chemischen Element, das sich in einem instabilen Zustand befindet und beständig in stabilere Elemente zu zerfallen droht. Soweit zur allgemeinen Definition des Foucaultschen Konzepts des heterotopischen Raumes. Um dieses noch näher zu erläutern werden im Folgenden noch die sechs Eigenschaften, die Foucault ihnen zuschreibt, zusammen mit den entsprechenden Beispielen erläutert. Das erste Prinzip besagt, dass es nahezu keine Gesellschaft gibt, die keine Heterotopien bereitstellt, wobei als Beispiel hier das „hétérotopies de crise“ beschrieben wird, das in primitiven Gesellschaften bestimmten Individuen, wie etwa Jünglingen oder schwangeren Frauen, bestimmte „lieux privilégiés, ou sacres, ou interdits“7 zuweist. Bezeichnenderweise deutet Foucault hier bereits an, dass jene Kategorien, durch die solche Heterotopien der Krise unterscheidbar sind, genaugenommen arbiträr gewählte Bezeichnungen sind, die gegeneinander austauschbar bleiben. Heilig, privilegiert und verboten sind hier Adjektive, die eine Ab- und Ausgrenzung bestimmter Individuen durch ein abgestuftes Systems gesellschaftlicher Konformität ermöglichen. Auch in der heutigen Zeit finden sich noch zahllose Heterotopien der Krise in den verschiedenen menschlichen Kulturen, die ähnlichen Zwecken dienen. In den Vereinigten Staaten tragen etwa „Jünglinge“ ihre Krise der Initiation als Mann (im Sinne eines simpel gedachten Männlichkeitsideals, das körperliche Leistung und Männlichkeit als Äquivalent versteht) auf dem Baseball Court aus, der sowohl bei Training als auch Spiel die Eltern tatsächlich räumlich trennt und als Zuschauer an den Rand des für das Ritual vorgesehenen Raums drängt. Der Entbindungssaal wäre die offensichtliche räumliche Trennung von Schwangeren und ihren Familien, die dem Geschehen mehr durch indirekte Präsenz beiwohnen sollen, da der Geburtsakt selbst als privat und somit kritisch verstanden wird. Dies stellen auch Catherine L. Albanese und Stephen J. Stein fest, wenn sie im Vorwort zu der Essaysammlung American Sacred Space darauf verweisen, dass solche Orte „in which conflict and sacred space [go hand in hand] in America“8 durchaus präsent bleiben. Diese heiligen oder verbotenen Orte sind allerdings in der heutigen Zeit ihrer Ansicht nach häufig „entangled in such ‚profane‘ enterprises as tourism, economic exchange and development“.9 Ähnlich verhält es sich laut Foucault mit den Heterotopien der Abweichung, die eine räumliche Trennung von Personen vorsehen, welche von der gesellschaftlichen Norm abweichen – wie zum Beispiel Kliniken für psychisch Kranke –, und so diese Heterotopien der Krise allmählich ablösen.10 Heterotopische Räume sind Teil jeder Gesellschaft und können unter anderem der räumlichen wie auch der spirituellen Abgrenzung dienen. In den modernen Staaten des Westens verschwimmen dabei zunehmend die Grenzen zwischen spirituellen und weltlichen Orten. Michel Foucault: Espace, S. 755. Ebd. 8 Catherine L. Albanese/Stephen J. Stein: Vorwort. In: Chidester, David/Linenthal, Edward T. (Hg.): American Sacred Space, Bloomington, IN 1995, S. ix-xi, hier x. 9 David Chidester/Edward T. Linenthal: Einleitung. In: Chidester, David/Linenthal, Edward T. (Hg.): American Sacred Space, Bloomington, IN 1995, S. 1–42, hier S. 1. 10 Vgl. Michel Foucault: Espace, S. 757. 6 7 Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 58 Das zweite Prinzip besagt, dass Heterotopien von den Kulturen, in denen sie vorkommen, verändert und in ihrer Bedeutung umfunktionalisiert werden können. Als Beispiel führt Foucault hierbei den Friedhof an, der sich über die Jahrhunderte quasi aus dem Herzen der Städte herausentwickelt und stattdessen in die Vororte verlagert hat.11 Ein konkretes auf die USA bezogenes Beispiel wäre etwa Pearl Harbor. Jener Ort, der bis 1945 lediglich eine Militärbasis im Pazifik darstellte, ist, wie die Herausgeber von American Sacred Space, David Chidester und Edward T. Linenthal, in ihrer Einleitung bemerken, heute nicht mehr nur ein altes Schlachtfeld, sondern „the ‚national shrine‘ at Pearl Harbor“ geworden, ein Ort, der von vielen Amerikanern als „sacred space“ wahrgenommen wird.12 Zwar ist dabei nicht automatisch jeder Gedächtnisort ein heterotopischer Raum: Im Fall von Pearl Harbor besteht die Heterotopie dabei – im Gegensatz etwa zu den Denkmälern auf der National Mall in Washington, D.C. – darin, dass hier der tatsächliche Ort eines Konflikts im Wandel der Zeit mehr und mehr dazu genutzt wurde, um sich einem idealisierten Gedenken hin zu öffnen, das aber mit Pearl Harbor auf einen Ort verlegt worden ist, der sich ähnlich wie der Friedhof, nicht im Herzen der Kultur, sondern fernab vom Festland befindet. Dies bedeutet also, dass Heterotopien von großer Bedeutung für ihre jeweilige Kultur sind und sich gemeinsam mit dieser im Laufe der Zeit verändern können, insbesondere was ihre räumliche Verortung betrifft. Das dritte Prinzip schreibt Heterotopien die Eigenschaft zu, an einem konkreten, realen Platz unterschiedliche Räume miteinander verbinden zu können, wie es etwa ein Theater oder ein Kinosaal vermag.13 Durch den Blick auf die Bühne beziehungsweise die Leinwand wird quasi der konkrete Raum des Kinosaals mit den dargestellten Bildern verbunden, die wiederum selbst aus sonst unvereinbaren Kombinationen bestehen können. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit anderen Beispielen, die Foucault im weiteren Verlauf des Textes im Rahmen weiterer Definitionsversuche anführt. Der Garten etwa, in seinem antiken Sinne, sollte symbolisch die vier Teile der Welt in seiner viereckigen Form vereinen und wurde so zu einem „espace sacré“.14 Auch sein Beispiel der Bibliothek ist ein Ort, an dem die unterschiedlichsten Ideen und Orte in Form von Büchern unter einem Dach vereint werden. Heterotopien haben somit eine vereinigende Wirkung, die widersprechende Konzepte auf kompaktem Raum zueinander führen kann. Im Kontext dieses Essays ist dabei von besonderem Interesse, dass hier bereits bei Foucault selbst interne Räume, beziehungsweise gedankliche und künstlerische Konstrukte, als virtuelle Räume an einem realen Ort erfahrbar gemacht werden. Prinzip Nummer vier bezeichnet Foucault als „hétérochronie“, das heißt als Heterotopie, die mit Aspekten der Zeit, insbesondere ihrer Anhäufung und der Idee des flüchtigen Augenblicks, verbunden ist, wie etwa im Falle der Bücherei.15 Heterotopische Räume sind dementsprechend stets mit einer zeitlichen Komponente ausgestattet. Dieses Prinzip ist dabei von besonders großer Bedeutung, da insbesondere in der philosophischen Diskussion über Geschichte, Raum und Zeit meist dichotomisch gegenübergestellt wurden. Heterotopien verbinden jedoch im Sinne dessen, was Edward W. Soja in Postmodern Geographies Michel Foucault: Espace, 757–758. David Chidester/Edward T. Linenthal: Einleitung, 5. 13 Michel Foucault: Espace, S. 758–759. 14 Ebd. 15 Michel Foucault: Espace, S. 759. 11 12 Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 59 and the Critique of Historicism eben als “postmodern geographies”16 bezeichnet, Zeit und Raum, wie es ebenfalls Foucault in seinem Essay „Des espace autres“ versucht. Das Beispiel, das Soja dabei aus der englischen Übersetzung eines Interviews mit Foucault zitiert, fasst die ursprüngliche Problematik der strikten Trennung von Raum und Zeit zusammen: „L’espace, c’est ce qui était mort, figé, non dialectique, immobile. En revanche, le temps, c’était riche, fécond, vivant, dialectique.”17 Heterotopien definieren sich aber eben durch die Brechung dieser Dichotomie und einer stattdessen stattfindenden Verflechtung der beiden Kategorien. Allerdings ist, wie David Harvey zurecht in seinem Essay „The Kantian Roots of Foucault’s Dilemmas“ bemerkt, dieser Aspekt heterotopischer Räume philosophisch streitbar, da er auf einer rein „Kantian (Newtonian) interpretation of spatiality“18 beruht und an einer Raum-Zeit-Konzeption festhält, die längst nicht mehr allein und absolut stehen kann. Die letzten beiden Prinzipien beschäftigen sich wiederum stärker mit den räumlichen Aspekten des Konzepts. Zum einen stellen Heterotopien demnach Plätze dar, die in der Regel nicht öffentlich sind und somit eine Zugangsberechtigung erfordern, oder selbst bloße Portale sind: Foucault führt als Beispiel unter anderem das Gefängnis an, aber auch Motels, die bei ihm für anonymen Geschlechtsverkehr und Transit stehen, fallen in diese Kategorie.19 Heterotopien sind somit entweder beschränkt, was ihren Zugang betrifft, oder isoliert vom Rest der Gesellschaft, wie auch im Falle der Krisen Heterotopien und jenen der Abweichung, die sich ebenfalls über eine Ausgrenzung aufgrund räumlicher Abtrennung definieren. Diese Räume bleiben dabei zwar stets Teil der realen Welt, entwickeln sich allerdings aufgrund ihrer durch die Ausgrenzung seitens der Gesellschaft erzeugten Eigenarten zu einer gleichzeitig vom öffentlichen Raum abgekapselten Welt der Isolation und Simulation. Zum anderen haben Heterotopien eine Funktion „par rapport à l‘espace restant“.20 Sie zeigen nämlich entweder in Form einer Illusion, dass andere reale Orte noch illusorischer sind, oder dienen gar als Heterotopie der „compensation“.21 Foucault erwähnt an dieser Stelle als Beispiel das Konzept der Kolonie, die oft eine reale ‚Heimat‘ auf idealisierte Art und Weise darzustellen versucht. Des Weiteren fügt er hinzu: Ou bien elles ont pour rôle de créer un espace d’illusion qui dénonce comme plus illusoire encore tout l’espace réel, tous les emplacements à l’intérieur desquels la vie humaine est cloisonnée. […] Ou bien, au contraire, créant un autre espace, un autre espace réel, aussi parfait, aussi méticuleux, aussi bien arrangé que le nôtre est désordonné, mal agencé et brouillon.22 16 Edward W. Soja: Postmodern Geographies and the Critique of Historicism. In: Jones, John Paul III, u.a. (Hg.): Postmodern Contentions: Epochs, Politics, Space, New York 1993,S. 124. 17 Michel Foucault: Question a Michel Foucault sur la geographie. In: ders.: Dits et écrits: 1954–1988, Bd. 2: 1976–1980, hg. von Daniel Defert/François Ewald, Paris 1994, S. 28–40, hier S. 34; Edward Soja zitiert aus der englischen Übersetzung von Colin Gordon: Michel Foucault: Questions on Geography. In: ders.: Power/ Knowledge. Selected Interviews and Other Writings, 1972–1977., hg. von Colin Gordon, New York 1980, S. 63–77, hier S. 70; in Postmodern Geographies findet sich das Zitat auf S. 125. 18 David Harvey: The Kantian Roots of Foucault’s Dilemmas. In: Crampton, Jeremy W./Elden, Stuart (Hg.): Space, Knowledge and Power. Foucault and Geography, Aldershot, u.a. 2007, S. 41–48, hier S. 45. 19 Michel Foucault: Espace, S. 760–61. 20 Michel Foucault: Espace, S. 761. 21 Ebd. 22 Ebd. Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 60 Hierin zeigt sich sowohl die zuvor genannte Beziehung zu anderen, realen Räumen, als auch die permanente Beschäftigung mit der Art dieser Verbindung. Heterotopien sind reale Räume, die andere reale Orte verbinden und ihnen so den Spiegel vorhalten. Dabei sind sie selbst, wie Foucault am Beispiel des Spiegels verdeutlicht, zugleich die reale Oberfläche und die virtuelle Reflektion. Von der Bibliothek zur Erinnerung als internen heterotopischem Raum Nach der vorangegangene ausführlichen Zusammenfassung und Definition von Foucaults „Des espace autres“ und seines Konzepts des heterotopischen Raums, soll dieses nun um die Komponente des inneren Raumes erweitert werden. Die Schwierigkeit dieser Erweiterung liegt dabei vor allem in der Tatsache begründet, dass Foucault selbst sich in seiner Arbeit bewusst das Ziel setzt, sich explizit und ausschließlich mit externen Räumen zu befassen: [L]’espace de notre perception première, celui de nos rêveries, celui de nos passions détiennent en eux-mêmes des qualités qui sont comme intrinsèques; c’est un espace léger, éthéré, transparent, ou bien c’est un espace obscur, rocailleux, encombré: c’est un espace d’en haut, c’est un espace des cimes, ou c’est au contraire un espace d’en bas, un espace de la boue, c’est un espace qui peut être courant comme l’eau vive, c’est un espace qui peut être fixé, figé comme la pierre ou comme le cristal. Cependant, ces analyses, bien que fondamentales pour la réflexion contemporaine, concernent surtout l’espace du dedans. C’est de l’espace du dehors que je voudrais parler maintenant.23 Durch diese Zielsetzung will er sich hauptsächlich von der Arbeit Bachelards abgrenzen. Insgesamt dient der Essay aber laut Soja einer Neuversicherung der Räumlichkeit, wobei Foucault damit einem konventionelleren Raumverständnis widerspricht, das der „[externalization of ] spatiality into an envirnonment of material forms“24 dient. Diese Externalisierung von Räumlichkeit bezeichnet Soja als „exceedingly materialist interpretation of spatiality“, die jedoch meist nicht als sozial problematisch gesehen wird.25 In diesem Kontext betont Soja, seien Foucaults „espace autres“ quasi „a different way of seeing space“.26 Diese Sicht will die vorliegende Arbeit durchaus stützen. Allerdings soll auch gezeigt werden, dass Foucault zwar die Betrachtung von Raum zu revolutionieren versucht, jedoch interne Räume weitestgehend außer Acht lässt. Er weist dabei auf den wichtigen Aspekt des internen Raumes sogar hin, nimmt ihn jedoch nur zur Kenntnis, ohne näher darauf einzugehen. Es mag zunächst, von einem rein physikalischen Raumverständnis her, logisch erscheinen, im Falle der Heterotopien nur von externen Räumen zu sprechen. Foucault gibt im selben Absatz jedoch bereits den Grund dafür an, warum in Zusammenhang mit diesem Konzept auch interne Räume relevant sind und in Erwägung gezogen werden sollten: „l’espace de notre perception première, celui de nos rêveries, celui de nos passions détiennent en euxmêmes des qualités qui sont comme intrinsèques […].“27 Während nun eben Bachelard sich durchaus im Rahmen der Phänomenologie mit internen Räumen beschäftigt, die unseren Träumen und Leidenschaften Platz bieten und Foucault diese bewusst ausgrenzt, scheint es Michel Foucault: Espace, S. 754. Edward W. Soja: Postmodern Geographies, S. 127. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 128. 27 Michel Foucault: Espace, S. 754. 23 24 Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 61 im Umkehrschluss interessant ein Gesamtkonzept zu schaffen, da seine Betrachtung beider Kategorien ermöglicht. Wahrnehmung und Traum sind ebenfalls mit Hilfe von räumlichen Begriffen beschreibbar, weshalb sich daraus ableiten lässt, inwiefern ein interner Vorgang wie die Traumwelt mit externem Raum zusammenhängen kann. Der Mensch ist Teil der realen, physikalischen Welt und bewegt sich als solcher frei im Raum. Logischerweise hat er deshalb eine Sinneswahrnehmung entwickelt, die sich mit ihren fünf Sinnen auf die Räumlichkeit der Umgebung eingestellt hat. Die Informationen, die so aufgenommen werden, verarbeitet das Gehirn und speichert sie. Konkreter, externer Raum erfährt so seine Umsetzung in einen internen Raum via die Aufnahme von Eindrücken. Dabei ist für diesen Aufsatz von höchster Bedeutung, dass hierbei zwar räumliche Informationen in Form von Gewebe konkret gespeichert werden, aber so vor allem eine Art virtueller Raum entsteht: Die Erinnerung. Das ist der Raum, den Foucault meint, wenn er vom Raum der „perception première“ und dem „l’espace […] de nos rêveries“ spricht und dieser Raum der Erinnerung ist auch das Objekt, das in diesem Essay hauptsächlich betrachtet und mit Foucaults heterotopischem Raumkonzept externer Räume verbunden werden soll. Dass daraus kein Widerspruch zu Foucaults Raumtheorie der Heterotopie entsteht, ergibt sich dabei aus seiner eigenen Thematisierung des internen Raumes in diesem Kontext. Der Grund dafür, dass externe Raumkonzepte durchaus einer Erweiterung um interne beziehungsweise abstrakte Räume bedürfen, lässt sich aus Edward W. Sojas Abschnitt zu Begriffsdefinitionen von Raum, Zeit und Materie in Postmodern Geographies ableiten: Just as space, time, and matter delineate and encompass the essential qualities of the physical world, spatiality, temporality, and social being can be seen as the abstract dimensions which together comprise all facets of human existence. More concretely specified, each of these abstract existential dimensions comes to life as a social construct which shapes empirical reality and is simultaneously shaped by it. Thus, the spatial order of human existence arises from the (social) production of space, the construction of human geographies that both reflect and configure being in the world.28 Räumlichkeit und Zeitlichkeit sind, ebenso wie „social being“ Begriffe, die Kategorien der realen Welt erweitern und abstrahieren. Damit definieren sie sich selbst als Begriffe, welche Aspekte der menschlichen Erfahrungswelt fassen sollen. Sojas Schluss, dass diese „abstract existential dimensions“ in einem sozialen, menschlichen Kontext zugleich die Wahrnehmung einer ‚objektiven‘ Realität formen, ist nur logisch. Was er in Bezug auf soziale Verhältnisse definiert, soll dieser Aufsatz nun dahingehend für den internen Raum im Rahmen von Foucaults Konzepten leisten, dass eben diese Räumlichkeit und Zeitlichkeit als menschliche Wahrnehmungskategorie innerhalb eines Erinnerungsraums figuriert. An dieser Stelle kommen erneut die Definition sowie die Prinzipien des heterotopischen Raums zum Tragen. Im Folgenden soll daher näher erläutert werden, wieso und inwiefern Erinnerung ein interner, heterotopischer Raum ist. Zunächst einmal ist Erinnerung ein zentraler Bestandteil eines jeden menschlichen Wesens, denn unser gesamter Mechanismus basiert auf „feedback loops that govern present and future actions according to a Edward W. Soja: Postmodern Geographies, S. 25. 28 Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 62 past set of meanings (i.e. a given field of learning)“,29 wie es David Tomas in seinem Aufsatz „Feedback and Cybernetics. Reimagining the Body in the Age of Cybernetics“ in Anlehnung an Norbert Wieners Cybernetics. Or Control and Communication in the Animal and the Machine bemerkt, in dem sich Wiener unter anderem mit Gedächtnis und darauf basierenden Lernprozessen beschäftigt. Identität und Persönlichkeit definieren sich in diesem Sinne über Erinnerungen. Nicht umsonst beginnt der Neurowissenschaftler Neil Burgess seine Gemeinschaftspublikation zu dem Thema „Memories for Events and Their Spatial Context“ mit den Worten: „One of the brain’s most important and self-defining functions is to provide memory for the personally experienced events in our daily lives“.30 Ähnlich bringt es bereits 1957 Bertrand Russel in der Philosophie auf den Punkt, wenn er in seinem Essay „Do We Survive Death?“ lakonisch schreibt: „All that constitutes a person is a series of experiences connected by memory and by certain similarities of the sort we call habit“.31 Alles Erlebte wird gespeichert und kann in der Erinnerung wieder durchlebt werden. Diese Art der Erinnerung wird laut Burgess auch als „‚episodic‘ memory system“ bezeichnet.32 Jener Teil des Gehirns, der an diesem System beteiligt ist, der Hippocampus, ist zudem verantwortlich für jenen Aspekt des Gedächtnisses, der die episodische Erinnerung für diesen Essay so interessant macht: „the ability to retrieve the rich spatial context of an event“.33 Vor dem inneren Auge kann man quasi, metaphorisch gesprochen, Vergangenes neu durchleben und somit auch den Raum, in dem ein bestimmtes Ereignis stattgefunden hat, erneut durchschreiten. Dass außerdem ein spezieller Raum der Erinnerung vorliegt, ergibt sich aus der Tatsache, dass Erinnerungen auf subjektiver Wahrnehmung beruhen und somit im besten Falle ein Spiegelbild des realen Raumes sein können. Wie die realen Heterotopien haben also auch Erinnerungen einen realen Platz, nämlich den jeweiligen menschlichen Schädel, in dem sie gelagert werden. Diese Ähnlichkeit verdeutlicht erneut „Des espace autres“: Dans le miroir, je me vois là où je ne suis pas, dans un espace irréel qui s’ouvre virtuellement derrière la surface, je suis là-bas, là où je ne suis pas, une sorte d’ombre qui me donne à moimême ma propre visibilité, qui me permet de me regarder là où je suis absent — utopie du miroir. […] le miroir fonctionne comme une hétérotopie en ce sens qu’il rend cette place que j’occupe au moment où je me regarde dans la glace, à la fois absolument réelle, en liaison avec tout l’espace qui l’entoure, et absolument irréelle, puisqu’elle est obligée, pour être perçue, de passer par ce point virtuel qui est là-bas.34 Eben genauso verhält es sich mit der Erinnerung. Sie ist ein Raum der Wahrnehmung und kann sowohl als Utopie oder Heterotopie definiert werden. In der Erinnerung ist die Unterscheidung jedoch deutlicher als bei Foucaults Spiegel-Beispiel. Träume, die eine Verarbeitung des tagsüber Erlebten darstellen, sind im besten Falle ideale Utopien oder im David Tomas: Feedback and Cybernetics. Reimagining the Body in the Age of Cybernetics, in: Burrows, Roger/Featherstone, Mike (Hg.): Cyberspace/Cyberbodies/Cyberpunk. Cultures of Technological Embodiment, London 2000, S. 21–43, hier: 28. 30 Neil Burgess u.a.: Memory for Events and Their Spatial Context: Models and Experiments, in: Episodic Memory, Spec. issue of Philosophical Transactions: Biological Sciences 356.1413 (2001), S. 1493–1503, hier 1493. 31 Bertrand Russel: Do We Survive Death? In: ders.: Why I am not a Christian. And Other Essays on Religion and Related Subjects, hg. von Paul Edwards, London 2004, S. 42–47, hier S. 43. 32 Neil Burgess u.a.: Memory for Events and Their Spatial Context, S. 1493. 33 Ebd. 34 Michel Foucault: Espace, S. 756. 29 Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 63 Falle eines Albtraums, Dystopien. Reguläre Erinnerungen, die bewusst durchlebt werden, sind jedoch heterotopische Räume. Dabei sind sie alle mit realen Räumen verbunden, denn „spatial representations imply continuous distributions because of the physical continuity of space“.35 Jede Erinnerung ist mit einem konkreten Erlebnis an einem konkreten Ort verknüpft. Man könnte in Foucaults Definition auch genauso gut das Wort Raum durch Erinnerung ersetzen, wodurch sich die Erinnerung als heterotopischer Raum darüber definiert, dass alle anderen realen Plätze mit ihr verbunden sind und zwar „sur un mode tel qu’ils suspendent, neutralisent ou inversent l’ensemble des rapports qui se trouvent, par eux désignés, reflétés ou réfléchis“.36 Erinnerung und Gedanken sind somit zugleich reale und virtuelle Repräsentanten, „sortes d’utopies effectivement réalisées dans lesquelles les emplacements réels, tous les autres emplacements réels que l’on peut trouver à l’intérieur de la culture sont à la fois représentés, contestés et inversés”.37 Erinnerungen, die in Gedanken erneut betrachtet werden, sind Verbindungen zu real existierenden Räumen, wobei ihre Verbindung im Gedächtnis permanent neu betrachtet und definiert wird. Untersucht man nun Erinnerung weiter als eine Art Gedankenraum und als Heterotopie, so zeigt sich, dass die Prinzipien, die laut Foucault diese Art von Raum konstituieren, auch darauf anwenden lassen. Erinnerungen sind identitätsstiftend und somit genauso Teil jedes Menschen, wie realer heterotopischer Raum im Sinne Foucaults Teil jeder Kultur ist. Der virtuelle Raum der Erinnerung entsteht dabei, da „a network which stores continuous and discrete representations will inevitably be required in the brain, so that events and places can be associated, and indeed so that episodic memories, which usually consist of a spatial and a non-spatial component, can be formed“38. Das Gehirn benötigt ein System, das Erinnerungen lagert, damit Ereignisse und Orte assoziiert werden können. Stellt man sich in diesem Kontext in Gedanken ein Lagerhaus vor, ist leicht zu erkennen, dass das menschliche Gehirn quasi mit Schubladen arbeiten muss, um die Erinnerungen voneinander zu trennen beziehungsweise zu sortieren. So lässt sich die Idee der Krisen- beziehungsweise Abweichungs-Heterotopie im virtuellen Raum der Gedanken finden. Der Krisen-Heterotopie entspricht die jeweilige Erinnerung, etwa an die erste Menstruation oder die Pubertät, während die Abweichungs-Heterotopie dem Gefühl der Andersartigkeit entspricht, das wiederum auf von der Gesellschaft definierten und in Form von Erinnerungen unbewusst verinnerlichten Normen beruht. Beide Arten dieser Heterotopien sind der Erinnerung inhärent und dienen dem Netzwerk der Erinnerungslagerung als Mittel der Unterteilung beziehungsweise Verknüpfung. Auch das zweite Prinzip der allmählichen Umfunktionalisierung beziehungsweise Neudefinierung von Heterotopien durch die Gesellschaft lässt sich auf die individuelle Erinnerung übertragen. Zieht man eines der Beispiele heran, das Michel Foucault ausführlicher erläutert, den Friedhof, so lässt sich dieser Punkt dadurch nicht nur für externe Heterotopien verdeutlichen. Im Laufe eines Lebens wandelt sich nämlich auch die gedankliche Wahrnehmung der eigenen Sterblichkeit, die der Friedhof symbolisiert. In jungen Jahren ist der Tod dabei leicht zu akzeptieren, da er noch in weiter Ferne liegt. Mit zuneh35 Edmund T. Rolls u.a.: A Unified Model of Spatial and Episodic Memory, in: Proceedings: Biological Sciences 269.1496 (2002), S. 1087–1093, hier 1092. 36 Michel Foucault: Espace, S. 755. 37 Ebd. 38 Edmund T. Rolls u.a.: Spatial and Episodic Memory, S. 1092. Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 64 mendem Alter können sich solche Ansichten verändern, bis hin zur Verzweiflung ob der eigenen Sterblichkeit – nach Kierkegaard – zur „Krankheit zum Tode“.39 Menschen verändern sich und passen mit jeder Veränderung ihrer Persönlichkeit die Erinnerung an ihren neuen Gemütszustand an und interpretieren sie in dessen Kontext neu. Das Sammelsurium unserer Symbole und Erinnerungen wird am Wandel unserer Erfahrungen gemessen. Im Falle des dritten Prinzips lässt sich ebenfalls eine Entsprechung identifizieren. Wie ein externer heterotopischer Raum, dient die Erinnerung als Verbindung verschiedener Räume beziehungsweise Ereignisse an einem Ort. Aus diesem Grunde ist es „essential for the spatial and the event representations to be stored in the same single network, for otherwise arbitrary associations between events and places could not be stored and retrieved“.40 Ort und Ereignis werden im menschlichen Gehirn miteinander verbunden und gespeichert. Die Ähnlichkeit wird überdeutlich, wenn man auf Foucaults eigenes Beispiel des Kinosaals zurückgreift und dieses mit der üblichen Metapher des „vor dem inneren Auge sehen“ verbindet. In der Erinnerung werden die unterschiedlichsten, räumlichen Bilder gespeichert und miteinander verknüpft, wobei sie nicht nur mit dem realen Raum und den realen Ereignissen in Zusammenhang stehen, die sie geprägt haben, sondern gleichzeitig ein Eigenleben als virtueller Raum entwickeln, der einen Ort aus der Vergangenheit lebendig hält. Der zeitliche Aspekt, der sich hier andeutet wird noch deutlicher, wenn man das vierte Prinzip mit der Erinnerung in Einklang bringt. Die Heterochronie des Raums lässt sich leicht in den internen Raum der Gedanken übertragen. Deutlich macht dies vor allen Dingen das Foucaultsche Beispiel der Bibliothek. Denn Erinnerungen und Gedanken dienen zunächst vor allem zum Anhäufen von Zeit: Erinnerungen bilden die Basis für eine stets linear fortschreitende Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung.41 Hinzu kommt, dass sich das gespeicherte Wissen ähnlich wie in einer Bibliothek abrufen lässt. Daneben hat zudem der Aspekt der Zeit als „fête“42 in der Erinnerung seine Entsprechung. Die Tatsache, dass Heterotopien auch „absolument chroniques“ 43 sein können und quasi das genaue Gegenteil der Anhäufung von Zeit darstellen, lässt sich leicht durch die Selektivität der Wahrnehmung belegen. Menschlichen Freizeitbeschäftigungen sind oft darauf ausgelegt keine expliziten Erinnerungen anzulegen, sondern sind vielmehr dazu da „Zeit totzuschlagen“. Das Fernsehen und Computerspiele sind die offensichtlichsten Beispiele aus dieser Kategorie, sind sie doch zumeist visuelle Wahrnehmungen, die im Moment ge- und erlebt, nicht jedoch notwendigerweise im Langzeitgedächtnis aufbewahrt werden. Sie beschäftigen eher das „capacity-limited immediate (sometimes called short-term) memory”.44 Erinnerung im Sinne eines Langzeitgedächtnisses ist eben „not fixed at the moment of learning but continues to stabilize (or consolidate) with the passage of time”.45 Die Unterteilung in Lang- 39 Kierkegaard, Søren: Die Krankheit zum Tode, übers. von Emanuel Hirsch, Düsseldorf 1957, S. 17. Das hier geborgte Zitat von Kierkegaard ist ursprünglich Teil einer Diskussion, die weiter führt und sich selbst in einen christlichen Sterbediskurs einzuordnen versucht. 40 Edmund T. Rolls u.a.: Spatial and Episodic Memory, S. 1092. 41 Neil Burgess u.a.: Memory for Events and Their Spatial Context, S. 1493. 42 Michel Foucault: Espace, S. 760. 43 Ebd. 44 Larry R. Squire: Mechanisms of Memory, in: Science 232.4758 (1986), S. 1612–1619, hier S. 1613. 45 Ebd., S. 1615. Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 65 und Kurzzeitgedächtnis entspricht somit der Unterscheidung zwischen Zeit anhäufender und vergänglicher Heterotopie. Ähnliche Zusammenhänge lassen sich bei den letzten beiden Prinzipien konstruieren. Wie externe Heterotopien sind Gedanken exklusiv und in der Regel nicht öffentlich zugänglich. Um Zugang zu den innersten Gedanken eines Individuums zu bekommen, muss man ein Vertrauter sein, dem Gedanken und Erinnerungen in Form eines Dialoges anvertraut werden können. Weniger eingeschränkten Zugang zum virtuellen Gedankenraum eines Menschen bietet allerdings ein autobiographisches Werk. Eine Zugangsbeschränkung ist dabei allenfalls der Grad schriftsprachlicher Kompetenz. Schon Ralph Waldo Emerson schrieb dazu, „[o]f the works of this mind history is the record“, und auch wenn er damit eher eine Art „mind common to all individual men“46 meint, trifft es dennoch zu, dass sich vergangene Gedanken in Form von Büchern aufbewahren lassen, besonders wenn sie von „personal renewal“47 sprechen. Deshalb soll im späteren Verlauf der Arbeit Robert Pirsigs Buch als Beispiel für den heterotopischen Raum herangezogen werden, den Texte im Dialog mit Gedankenräumen erschaffen können. Das letzte Prinzip, welches sich mit der Beziehung von Heterotopien zu allem übrigen Raum beschäftigt, wird im Bereich der internen Heterotopien der Erinnerung durch Traum und Tagtraum repräsentiert. Ersteres ist eine Illusion, die sich mit den Geschehnissen des bewusst erlebten Tages auseinandersetzt und die realen Orte in der Erinnerung somit erneut durchlebt, quasi „as part of a multilevel system of sleep-dependent learning and memory reprocessing, wherein dreams would be the conscious manifestation of these processes“.48 Der Tagtraum wiederum entspricht eher der Heterotopie der Kompensation insofern als es einen idealeren, realen Ort herbeisehnt, der vom Individuum als Wunschprojektion auf der Basis früherer positiver Erinnerungen entworfen wird. Wie externe Heterotopien beschäftigen sich also auch interne Räume permanent mit ihrer Beziehung zu anderen Räumen und der Art und Weise dieser Verbindung. Abschließend sei zur Erweiterung von Foucaults Konzept des externen, heterotopischen Raumes um eine interne, gedankliche Komponente festgestellt, dass dieser Zusammenhang natürlich konstruiert ist. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass deutliche Parallelen vorhanden sind. Foucault selbst interessierte sich im Kontext der Diskursanalyse eher für den externen Raum und dessen Wandel im Rahmen kultureller Diskurse. Die Begrifflichkeit der Heterotopie bietet allerdings in ihren Abwandlungen und Varianten ein breites Spektrum zur Diskussion literarischer Texte, sei es – wie in der vorliegenden Arbeit – zur Analyse autobiographischen Schreibens oder in Bezug auf fiktionale Texte und die dadurch erzeugten virtuellen Räume intradiegetischer Welten. Unabhängig von der Genre-Differenzierung innerhalb eines solchen internen Heterotopie-Diskurses, bleibt als gemeinsame Komponente die Idee, dass Raum kaum getrennt von Subjekt und Geist gedacht werden kann. Dieser Gedankengang ist zudem nicht neu und lässt sich durch verschiedene Ansätze unterstützen, so etwa durch folgenden Abschnitt aus Klaus Beneschs Einleitung zu Space in America: Theory, History, Culture: Ralph Waldo Emerson: History. In: ders.: Self-Reliance and other Essays, New York 1992, S. 1. David A. Granger: John Dewey, Robert Pirsig, and the Art of Living: Revisioning Aesthetic Education, New York 2006, S. 206. 48 R. Stickgold u.a.: Sleep, Learning, and Dreams: Off-Line Memory Reprocessing, in: Science 294.5544 (2001), S. 1052–1057, hier S. 1052. 46 47 Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 66 Because we live not only in but also through and with space, it affects every area of human existence. […] how we perceive it, appropriate it, or exploit it as a resource is constantly being transformed by technological and scientific progress and its concomitant erosion of traditional worldviews. From this perspective, one can argue that time and space are in no way ‚objective‘ conceptions but are created by material conditions and social practices.49 Während hier die Objektivität des Begriffs „Raum“ letztlich auf der Basis eines kulturellen Diskurses in Frage gestellt wird, zeigt vor allem die damit einhergehende Erklärung, inwiefern solche Diskurse vom menschlichen Geist und dessen Subjektivität bewusst und unbewusst gelenkt werden. Als Konsequenz dieser Überlegung scheint eine Untersuchung des Begriffs der Heterotopie als neue Kategorie textueller Diskurse über innere Räume durchaus von Bedeutung. Denn der Mensch ist eben genauso Teil des Raumes wie der Raum Teil des Individuums ist. Beide nehmen aufeinander Einfluss, beide agieren in dem jeweils anderen. Auch Argumente wie etwa Jaques Derridas Spekulation über die Möglichkeit einer rein textuellen Welt in De la grammatologie50 lässt sich auf dieser Ebene deutlich leichter nachvollziehen. Der Philosoph und das Motorrad: Autobiographie und Erinnerungsraum Nachdem der generelle Zusammenhang zwischen externen und internen Heterotopien hergestellt und Erinnerung als ein solcher heterotopischer Raum etabliert worden ist, kann nun damit begonnen werden, anhand des Beispiels von Robert M. Pirsigs Roman zu veranschaulichen, inwiefern die menschliche Erinnerung als Handlungsraum und somit als heterotopisches Setting dienen kann. Das hier verwendete Beispiel stellt dabei ein autobiographisches Werk über die Neuentstehung beziehungsweise die Selbsterneuerung des Ich dar, für das ein solcher Handlungsraum von entscheidender Bedeutung sein kann. Zunächst soll eine kurze Zusammenfassung von Zen and the Art of Motorcycle Maintenance sowie eine Kurzbiographie von Pirsig die Relevanz des Beispiels verdeutlichen.51 Robert Maynard Pirsig, geboren 1928 in Minneapolis, Minnesota, war eine Art Wunderkind und erzielte bereits in seiner Kindheit einen Intelligenzquotienten von 170. Er übersprang mehrere Klassen und trat 1943 in die Universität von Minnesota ein. Dort jedoch wurde er bald aufgrund von Fehlverhalten und schlechten Noten entlassen. Nachdem er im Koreakrieg gedient hatte, konzentrierte er sich wieder auf sein Studium, insbesondere auf fernöstliche Philosophie. In den frühen sechziger Jahren markierten jedoch Depression und Geisteskrankheit eine Zäsur in seinem Leben. Nach diversen Aufenthalten in Krankenhäusern und Heilanstalten, begann er die Arbeit an seinem autobiographischen Roman, um das Erlebte zu verarbeiten. Das Buch selbst arbeitet auf mehreren narrativen Ebenen. Auf einer diskursiven Ebene berichtet Pirsig dem Leser direkt von seinen Erfahrungen und versucht seine philosophischen Ansichten zu vermitteln. Er selbst nennt diese Art der Erzählung „Chautauqua“, Klaus Benesch: Concepts of Space in American Culture: An Introduction. In: Benesch, Klaus/Schmidt, Kerstin (Hg.): Space in America: Theory, History, Culture. Amsterdam, u.a. 2005, S. 11–21, hier 15. 50 Vgl. Jacques Derrida: De la grammatologie, Paris 1967; S. 227: „Il n’y a pas de hors-texte.“ Siehe auch den Abschnitt des ersten Kapitels mit der Überschrift „L‘être écrite“, S. 31–41. 51 Vgl. Ian Glendinning: Robert M. Pirsig, in: American Society of Authors and Writers. URL: http://amsaw. org/amsaw-ithappenedinhistory-090604-pirsig.html (20.08. 2010). 49 Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 67 eine „traveling tent-show […] that used to move across America, […] an old-time series of popular talks intended to edify and entertain”.52 Die zweite Ebene ist die des Roadtrips, also der eigentlichen Haupthandlung des Buches, die sich mit Pirsigs Motoradtour quer durch die USA, von St. Paul, Minnesota, bis nach San Francisco, beschäftigt. Gemeinsam mit seinem Sohn Chris, seinem Freund John und dessen Frau reist Pirsig dabei über die Straßen des Mittleren Westen und der Rocky Mountains. Diese zwei Ebenen erkennt auch Geoffrey Galt Harpham, der sie in seinem Essay „Rhetoric and the Madness of Philosophy in Plato and Pirsig” als „two spatiotemporal modes, or ‚chronotopes,‘ as Mikhail Bakhtin would call them: the motorcycle trip west and the Chautauqua“53 bezeichnet. Die für diesen Essay jedoch wichtigste Ebene stellt eine weitere dar, nämlich die des heterotopischen Erinnerungsraumes. Im Sinne Harphams handelt es sich auch hierbei um eine Art „chronotope“, allerdings in dem Sinne, dass die autodiegetische Erzählerfigur innerhalb des Textes zum heterodiegetischen Erzähler einer besonderen Form der Erinnerung wird: Die Räume, die das frühere Ich – für den „neuen“ Pirsig handelt es sich dabei um eine andere Person – dabei durchschreitet sind heterotopischer Natur. Pirsig unterteilt in dem Roman seine Persönlichkeit in sein aktuelles, gesundes Ich, sowie die von Behandlung und Elektroschock-Therapie zerstörte frühere Person, die er als Phaedrus bezeichnet.54 Im Laufe der Reise sieht er sich dabei immer häufiger Situationen ausgesetzt, in denen Erinnerungsfetzen quasi in Form von Analepsen wieder zu Tage treten. Unter anderem durchlebt er Episoden aus seiner Zeit als Dozent.55 Für die Diskussion über interne Heterotopien ist dabei vor allem interessant, dass Pirsig durch sein Schreiben einen virtuellen Raum der Erinnerung erschafft, in dem er durch das geschriebene Wort den zeitlich vergangenen Moment in einem konkreten Raum wieder zum Leben erweckt und so für sich selbst und gleichzeitig auch den Rezipienten real werden lässt. Als er beispielsweise in einen Hörsaal seiner alten Universität kommt, lässt er in dem Raum für den Leser und sich selbst, durch sich überlagernde Erinnerungsfetzen, die Vergangenheit wieder real werden.56 Dies ist jener Punkt, an dem seine Erinnerung zu einem heterotopischen Raum wird, der zugleich real ist (die Erzählerfigur befindet sich im Moment der Analepse gleichzeitig in diesem Raum) und aber aufgrund des vergangenen Ereignisses nicht in der Realität der Gegenwart anzusiedeln ist, sondern vielmehr eine Art virtuellen Ort darstellt. Der Hörsaal wird durch seine Erinnerung zu einer Heterotopie, denn er selbst schreibt, dass „[this] wasn’t one room, this was a thousand rooms“.57 Denkt man an das Beispiel des Spiegels aus „Des espace autres“, so wird der reale Raum des Hörsaals zu einer bloßen Oberfläche durch die hindurch sich der Erzähler in dem identischen, aber irrealen, Raum in seiner Erinnerung betrachten kann. In Anlehnung an Foucault hieße das: „Dans [la mémoire], je me vois là où je ne suis pas, dans un espace irréel qui s’ouvre virtuellement derrière la surface“.58 Hinzu kommt, dass durch die sprachliche Komponente seines Romans die eigenen Gedanken und die eigene Biographie fiktionalisiert werden, wodurch das Buch 52 Robert M. Pirsig: Zen and the Art of Motorcycle Maintenance: An Inquiry into Values, New York 2006, S. 8–9. 53 Geoffrey Galt Harpham: Rhetoric and the Madness of Philosophy in Plato and Pirsig, in: Contemporary Literature 29.1 (1988), S. 64–81, hier S. 67. 54 Robert M. Pirsig: Zen, S. 78–79. 55 Vgl. Ebd., S. 222–26 56 Ebd., S. 222–23. 57 Ebd., S. 223. 58 Michel Foucault: Espace, S. 756. Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 68 selbst zu einer Art heterotopischem Übergang wird, der reale und virtuelle Räume verbindet. Zen and the Art of Motorcycle Maintenance zeigt somit wie die menschliche Erinnerung als Handlungsraum und somit als heterotopisches Setting autobiographischer Werke über die Neuentstehung des Ich dienen kann. In dem Augenblick, in dem der Leser das Buch aufschlägt und rezipiert, stellt er im heterotopischen Raum seiner eigenen Imagination eben den Raum nach, den Pirsigs autobiographische Erzählung etabliert. Anhand des Buches soll nun im Detail auf drei speziell heterotopische Räume eingegangen werden, die darin miteinander verbunden sind. Die ersten beiden stellen konkrete Beispiele dar, die reale Räume im physikalischen Sinne meinen, und nach dem Vorbild Foucaults in dieser Arbeit untersucht werden. Zugleich führen diese beiden zu dem Beispiel der internen, dritten Heterotopie hin, die dann mit Hilfe von „Des espace autres“ zusammengeführt werden sollen. Diese drei Beispiele, die im Folgenden genauer untersucht werden, sind das Motorrad, die Straße, sowie – erneut – der virtuelle Raum der Erinnerung. On the Road: Mensch und Maschine auf der Reise durch Raum und Zeit Das erste Beispiel in Zen and the Art of Motorcycle Maintenance, welches eine Heterotopie darstellt, ist das Motorrad selbst als konkreter Ort. Der Zusammenhang lässt sich am deutlichsten herausstellen durch Foucaults eigenes Beispiel des Schiffs. Seiner Ansicht nach stellt dieses nämlich an sich bereits eine Heterotopie in ihrer reinsten Form dar: […] le bateau, c’est un morceau flottant d’espace, un lieu sans lieu, qui vit par lui-même, qui est fermé sur soi et qui est livré en même temps à l’infini de la mer et qui, de port en port, de bordée en bordée, de maison close en maison close, va jusqu’aux colonies chercher ce qu’elles recèlent de plus précieux en leurs jardins, vous comprenez pourquoi le bateau a été pour notre civilisation, depuis le XVIe siècle jusqu’à nos jours, à la fois non seulement, bien sûr, le plus grand instrument de développement économique (ce n’est pas de cela que je parle aujourd’hui), mais la plus grande réserve d’imagination. Le navire, c’est l’hétérotopie par excellence. Dans les civilisations sans bateaux les rêves se tarissent, l’espionnage y remplace l’aventure, et la police, les corsaires.59 Erneut ist dieses Zitat ein so schablonenhaftes Beispiel, dass ohne Sinnverlust bei Foucaults Originaltext das Wort Motorrad eingesetzt werden könnte. Man denke nur an die berühmt berüchtigten Chopper und Harleys, die sich als Legenden in die Populärkultur der USA eingeschrieben haben und durch Filme wie Easy Rider oder Bücher wie Sony Bargers Hell’s Angel zum Symbol der Freiheit der Straße geworden sind. Das Motorrad ist zu einem reisenden „un morceau […] d‘espace“ geworden, das von Stadt zu Stadt zieht. Dabei sind seine Passagiere zugleich Teil des unendlichen Straßensystems, welches in diesem Konzept als Substitut für das Meer dient, und dennoch vom Rest der Welt abgeschottet ist. Bereits zu Beginn seines Buches spricht Pirsig selbst diese Eigenart des Motorradfahrens an, wenn er sagt, „[on] a cycle the frame is gone. You’re completely in contact with all. You’re in the scene, not just watching it anymore, and the sense of presence is overwhelming”.60 Im Gegensatz zu einem Auto, ist man auf einem Motorrad nicht nur ein „passive observer“,61 im Horizont begrenzt von räumlichen Schranken, wie etwa eine Person, die ein Schiff vom Michel Foucault: Espace, S. 762. Robert M. Pirsig: Zen, S. 5. 61 Ebd. 59 60 Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 69 Ufer aus betrachtet, den Raum darauf jedoch nicht erschließen kann. Um kurz auf die sechs Prinzipien Foucaults einzugehen, könnte man außerdem feststellen, dass wenn auch nicht in jeder menschlichen Kultur ein Motorrad vorhanden ist, so doch zumindest das individuelle Reisen an sich, das Erschließen von Räumen, genauso universeller Natur ist, wie „[technology], one of the defining characteristics of mankind“ darstellt und schon immer „a part of every human community that ever existed, no matter how primitive“62 war. Des Weiteren wurde der Raum des Motorrads über die Jahre hinweg umfunktioniert vom simplen Transportmittel, hin zu einem Symbol der Unabhängigkeit und Freiheit. Auch verbindet das Motorrad unterschiedliche, sich widersprechende Räume, allein schon durch seine Fähigkeit Räume schnell zu durchqueren. Schwieriger wird es schon mit dem Aspekt der Heterochronie. Bei genauerer Betrachtung kann man das Motorrad aber ebenfalls als eine Art Hybrid den beiden Arten von zeitlichen Heterotopien zuordnen. Für den Fahrer stellt die Maschine nämlich zugleich die Möglichkeit dar, Zeit durch Erfahrungen und Eindrücke anzuhäufen und dennoch eine gewisse Flüchtigkeit des Augenblicks durch jenes „whizzing by five inches below your foot“63 der Straße zu bewahren. Um zu den letzten beiden Punkten zu kommen, stellt ein Motorrad auch einen Ort dar, der eine Zugangsberechtigung erfordert, sei es ein Führerschein oder schlichtweg ein gewisses Talent beziehungsweise Fahrergeschick.64 Im Sinne des letzten Prinzips stellt ein Motorrad außerdem eine Art Heterotopie der Kompensation dar, die durch ihre räumliche Abgrenzung, die trotzdem einen näheren Kontakt mit der Natur bietet, ermöglicht, „[to] see things […] in a way that is completely different from any other“.65 Wie das Schiff, ist auch das Motorrad eine Heterotopie „par excellence“, ein Ort, ohne den „les rêves se tarissent”.66 Der zweite heterotopische Raum in Pirsigs Buch ist jener der Straße. Diese zeichnet sich dabei – ähnlich wie etwa Foucaults Beispiel der Bibliothek – dadurch aus, dass sie einen realen Raum darstellt, der andere reale Räume verbindet. Denn die Straße als fixer Ort ist jener Raum, der alle anderen zusammenhält, so wie es die Aufgabe einer Bibliothek ist, alle Zeiten und Moden zu umspannen im Sinne der „idée de constituer un lieu de tous les temps qui soit lui-même hors du temps, et inaccessible à sa morsure“.67 Das Straßennetz stellt eine solche Verbindung dar. Es gleicht einem Kreislaufsystem, das alle Städte miteinander verknüpft und ohne das keine Gesellschaft funktionieren kann. Orientiert man sich wiederum an den sechs Prinzipien, so ist die Straße zunächst einmal eine Form der Ortsverbindungen und damit seit jeher fester Bestandteil fast aller menschlichen Kulturräume. Hinzu kommt, dass sie oft im Sinne einer Heterotopie der Krise oder der Abweichung, sowohl einen Ort für bestimmte Personengruppen darstellen, wie beispielsweise Banden im Sinne der Hell’s Angels, als auch eine trennende Komponente besitzen: Highways oder Autobahnen stellen insbesondere für wilde Tiere eine schier unüberwindbare Barriere dar – gleiches gilt für Menschen, die nicht auf einer Maschine in diesen Raum eintreten. Die Straße ist ein Ort, 62 George Basalla: Man and Machine, Rez.: Robert Pirsig: Zen and the Art of Motorcycle Maintenance, in: Science 187.4173 (1975), S. 248–250, hier 248. 63 Robert M. Pirsig: Zen, S. 5. 64 Betrachtet man die exklusiven Motorrad-Kultur von Klubs und Organisationen, so wird schnell klar, dass neben gesetzlichen und fahrtechnischen Einschränkungen hier ebenfalls eine Abgrenzung gegen die Mainstream-Kultur des jeweiligen Landes statt findet. 65 Robert M. Pirsig: Zen, S. 5. 66 Michel Foucault: Espace, S. 762. 67 Ebd., S. 759. Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 70 der Stillstand explizit ausschließt, alles, was hier als Raum im Raum der Straße auftritt, ist in Bewegung. Des Weiteren hat die Straße, ähnlich dem Friedhof, über die Jahre hinweg einen enormen Bedeutungswandel durchgemacht. Erst seit der „consumer economy“ der 1920er erreichten Automobile die Massen, „who demanded roads that punched into wilderness“.68 Die Straße war außerdem nicht länger lediglich ein Mittel zum Zweck. Man benötigte sie nicht mehr nur zum Warentransport und um den Westen zu erschließen, sondern als Transportweg hin zu Orten der „[mass] recreation“.69 Nicht zuletzt aus diesem Grund sind die Highways heute allgegenwärtig und stark mit Symbolgehalt aufgeladen. Die Straße steht einerseits für Konsumgesellschaft und Umweltverschmutzung, andererseits aber auch für Fortschritt, die Weite des Raums und vor allen Dingen für Freiheit. Der Zusammenhang zum dritten Prinzip ist hier bereits durch die Ähnlichkeit zum Kino verdeutlicht worden. Die Straße verbindet die unterschiedlichsten und widersprüchlichsten Orte miteinander, ohne direkt damit zu kommunizieren. Der Ort, auf den man sich zu bewegt, ist im nächsten Moment bereits passé. Ähnlich lässt sich auch das Prinzip der Heterochronie auf die Straße anwenden, denn ähnlich wie eine Bibliothek Zeit häuft sie Zeit an. Nähme man sämtliche Fahrtzeiten aller je auf Straßen unterwegs gewesenen Fahrzeuge zusammen, so ergäbe sich eine exorbitant hohe Zahl an Fahrtstunden. Was das Reisen betrifft, so hat die Menschheit wohl kaum mehr Zeit in einen Ort investiert als in ihre Straßennetze. Zugleich ist die dort verbrachte Zeit aber keinesfalls quality time, sondern lediglich ein Vorüberrauschen der Landschaft, im besten Fall ein kurzes „fête“ der Freiheit. Das Prinzip des beschränkten Zugangs beziehungsweise die Portalhaftigkeit des heterotopischen Raums sind ebenfalls wichtiger Bestandteil des Systems „Straße“. Man benötigt eine Fahrerlaubnis, ein Fahrzeug, Treibstoff und Geld, um am Straßenverkehr teilhaben zu können. Der Zustand des permanenten Transits wiederum ergibt sich aus der gesamten Idee der Straße: Sie ist quasi die Manifestation der Reise, die Verräumlichung ihres zeitlichen Prinzips. Am schwierigsten gestaltet sich die Verbindung der Straße mit dem letzten Prinzip Foucaults, dem der Illusion und Kompensation. Hierzu muss man die Fortbewegung auf der Straße genauer betrachten. Hält man sich dort auf, so ist man generell zwischen zwei Punkten, Anfang und Ende einer Reise, unterwegs. Sowohl Illusion als auch Kompensation spiegeln sich nun in den Erwartungen der Reisenden wieder. Die auf der Straße verbrachte Zeit stellt eine Art Übergang zwischen einer örtlichen Vergangenheit und einer ebenso örtlich verankerten Zukunft dar, „being on the move spells out a form of in-betweenness that cannot be grasped by means of conventional expression“.70 Man kann sich über zukünftige Vorhaben ebenso Gedanken machen, wie über vergangene Geschehnisse und befindet sich dabei an einer Art Nicht-Ort, einem „contre-emplacements“. In diesem Schweifen-Lassen der Gedanken besteht somit das Illusions- beziehungsweise Kompensations-Prinzip der Heterotopien. Die Straße ist ein Ort des Übergangs, der andere reale Orte gedanklich antizipiert, während man ihnen dennoch entzogen ist. In diesem Punkt ähneln sich die Straße und Foucaults Beispiel des Kinos, was auch Ruth Mayer in ihrem Essay „‚Just Driving‘: Contemporary Road Novels and the Triviality of the Outlaw Existence“ feststellt, wenn sie in Bezug auf das Verhältnis Adam M. Sowards: The Environmental Justice: William O. Douglas and Conservation, Corvallis 2009, S. 33. Ebd. 70 Ruth Mayer: ‚Just Driving‘: Contemporary Road Novels and the Triviality of the Outlaw Existence. In: Benesch, Klaus/Schmidt, Kerstin (Hg.): Space in America: Theory, History, Culture. Amsterdam, u.a. 2005, S. 369–399, hier S. 369. 68 69 Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 71 von virtuellem Raum und dem geschriebenen Wort Bennet Schaber mit den Worten „the entrance to the road and the entrance to the cinema have finally joined“71 zitiert. Der letzte Punkt verdeutlicht den Übergang vom externen zum internen heterotopischen Raum: Das Kino ist in seiner linearen zeitlichen Dimension ebenso auf das Voranschreiten, das Vorübergehen, ausgerichtet wie die Straße. Der virtuelle Raum der Erinnerung Nachdem zwei heterotopische Räume, die ebenfalls in Zen the Art of Motorcycle Maintenance thematisiert werden, vorgestellt wurden, soll im Folgenden der zuvor etablierte Raum der Erinnerung als interner, heterotopischer Raum diskutiert werden. Im letzten Punkt des vorangehenden Absatzes kam bereits ein wichtiger Aspekt dieser Überlegungen zur Sprache. Betrachtet man den Kopf als realen Ort, so eröffnet er – ähnlich wie eine Bibliothek durch ihre imaginären Welten und abstrakten Argumente in den Büchern – mit jedem Gedanken und jeder Erinnerung einen neuen Raum. Bezieht man dies wiederum auf episodisches Gedächtnis, so lässt sich bereits die räumliche Komponente erkennen. Pirsigs Buch beruht auf einer realen Reise, auf seiner realen Vergangenheit und Gegenwart, kurz gesagt auf dem Versuch einer Repräsentation seiner Gedanken und Erinnerungen. Hier liegen nun zweierlei heterotopische Räume vor: Einerseits gibt es einen heterotopischen Raum des Erlebten und zugleich den des Nacherlebten. Ersterer findet sich auf der intradiegetischen Ebene der Erzählung und zieht sich darin durch sämtliche Binnenerzählungen und Analepsen: Pirsig erinnert sich zunächst im Prozess des Schreibens an seine Reise. Diese spezielle Retrospektive betont er auch selbst in seinem Nachwort.72 Dabei nutzt er seine Erinnerung, um die Räume, die er auf Motorrad und Straße durchschritten hat, in seinem Kopf wieder aufleben zu lassen. Er lässt in der Welt seiner Gedanken die gesamte physikalische Welt zum Zeitpunkt seiner Gegenwart dort im Rezeptionsprozess des Lesers als Rekonstruktion wieder auferstehen. Der heterotopische Raum des Erlebten ist jener Raum, der sich in Form eines Textes physisch manifestiert und sich in der virtuellen Repräsentation zugleich an real erlebte Räume knüpft. Erinnert er sich bei dieser Gelegenheit allerdings in Form von Rückblenden an Episoden aus dem Leben seines früheren Ichs, Phaedrus, so findet derselbe Vorgang auf einer weiteren Ebene statt, dem heterotopischen Raum des Nach-erlebten. Einem solchen Raum begegnet der Rezipient eines Textes, wenn auf der intradiegetischen Ebene ein weiterer heterotopischer Raum betreten wird. Innerhalb des Raums des Erlebten, der in einem Text repräsentiert wird, öffnet sich über eine bestimmte Art von Portal oder Zugriffspunkt ein weiterer Raum, der innerhalb der Erzählung zwar nicht notwendigerweise örtlich, aber zumindest zeitlich entfernt ist. Das beste Beispiel aus Zen and the Art of Motorcycle Maintenance ist der kurze Halt in der Stadt von Pirsigs ehemaliger Universität. Auf der Ebene der Reise legt er dort einen kurzen Stopp ein und begibt sich mit seinem Sohn auf das Gelände der Lernanstalt (zu diesem Zeitpunkt befinden wir uns noch im heterotopischen Raum des Erlebten). Dort öffnet er jedoch im tatsächlichen physischen Sinne eine Türe und tritt damit in einen Raum und zugleich in eine Erinnerung ein. Der Raum bleibt in der Analepse derselbe, allerdings Bennet Schaber: „Hitler Can’t Keep ‘Em That Long.“ In: The Road Movie Book, hg. von Steven Cohan und Ina Rae Hark, London u.a. 1997, S. 17–44, hier S. 34; in Ruth Mayers Ausatz „‚Just Driving‘“ findet sich das Zitat auf S. 370. 72 Robert M. Pirsig: Zen, S. 532. 71 Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 72 siedelt er sich im Rahmen seiner Erinnerung in der Vergangenheit an, zu jenem Zeitpunkt als sein früheres Ich noch am Beginn seiner Besessenheit von der Frage nach der exakten Definition des Begriffs ‚Qualität‘ steht.73 Ganz ähnlich verhält es sich mit den Episoden, in denen er unterwegs auf seinem Motorrad oder beim Wandern mit seinem Sohn Chris, in Gedanken Phaedrus‘ Diskurs über Qualität erneut durchlebt.74 Betrachten wir diese zwei Räume im Vergleich, so stellt jener des Nach-erlebten im weitesten Sinne eine Öffnung hin zu einem heterotopischen Raum der Erinnerung da, der sich bereits innerhalb eine heterotopischen Raums des Erlebten abspielt. Auf seiner Reise, die er textuell erneut durchschreitet, hat er bereits einen Raum der Erinnerung erschaffen, der in einen zweiten eingebettet ist. Interessant sind hier die Parallelen zu Freuds Idee der Traumdeutung. Diese beschäftigt sich mit der Traumarbeit, die sich in vier Schritte unterteilen lässt. Der letzte dieser vier Vorgänge ist dabei die sekundäre Bearbeitung oder „Verdichtung“ des Traummaterials, also quasi eine nachträgliche Bearbeitung im Vorgang des Erzählens.75 Ähnlich verhält es sich mit Pirsigs Buch. Seine Welt der Erinnerung wird durch die Niederschrift erst vervollständigt. Das führt wiederum zum zweiten Raum: Dem des Nacherlebten. Hierbei steht Pirsigs Buch an sich beispielhaft für autobiographische Romane, die Gemütszustände, Erlebnisse und Gedanken eines bestimmten Individuums durch das geschriebene Wort erfahrbar zu machen versuchen. Dieses Verständnis von Literatur mag veraltet scheinen, aber das Ziel dieses Genres ist immerhin explizit die Darstellung von Erinnerungen, die mitgeteilt werden sollen. Was Pirsig also konkret auf seiner Reise und schließlich beim Schreiben des Buches erlebt hat, wird durch den Roman für den Leser zu einem internen heterotopischen Raum. Seine Realität verbindet sich mit dem Raum von Pirsigs Erinnerung, der sich vor dem inneren Auge des Lesers in dessen eigener Vorstellungswelt etabliert. Während der Leser im Rezeptionsprozess allein in den heterotopischen Raum des Textes eintritt, wirft er hingegen gemeinsam mit dem Subjekt des Textes einen Blick in den Raum des Nacherlebten. Diese beiden internen Heterotopien der Erinnerung entsprechen dabei sämtlichen Prinzipien aus „Des espace autres“, wie bereits im zweiten Teil des Essays dargelegt wurde. Da die Entsprechungen der einzelnen Prinzipien für den Raum der Erinnerung dort auch schon detailliert abgearbeitet worden sind, sollen an dieser Stelle nur noch konkrete Beispiele aus dem Buch mit den Konzepten Foucaults verbunden werden. Die Erinnerung ist dabei in seinem Sinne und laut des Konzepts des episodischen Gedächtnisses als unser „espace de notre perception première“76 zu denken. Alles, was unsere Sinne wahrnehmen, wird darin abgelegt, bewertet, gespeichert und wieder aufgearbeitet, wie Bücher in einer Bibliothek. So ergibt sich ein realer Raum, der die unterschiedlichsten Bilder und Ereignisse in Gedanken erneut erfahrbar machen kann und folglich einen Raum konstruiert. Es findet eine Internalisierung des Raumes statt. Diese ist notwendig, da insbesondere im digitalen Zeitalter unser „traditional sense of space“ zunehmend untergraben wird, denn als „cybernaut“ ist man zunehmend „everywhere and nowhere at the same time“.77 Passend Robert M. Pirsig: Zen, S. 222–231. Vgl. Robert M. Pirsig: Zen, S. 235–306. 75 Vgl. Siegmund Freud: Die Traumdeutung, Frankfurt a.M. 132007, S. 285 ff. 76 Michel Foucault: Espace, S. 754. 77 Klaus Benesch: Concepts of Space, S. 15. 73 74 Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 73 dazu entspricht die Welt der Gedanken und der Erinnerung einer weiteren Heterotopie, nämlich der des Spiegels: Dans le miroir, je me vois là où je ne suis pas, dans un espace irréel qui s’ouvre virtuellement derrière la surface, je suis là-bas, là où je ne suis pas, une sorte d’ombre qui me donne à moimême ma propre visibilité, qui me permet de me regarder là où je suis absent : utopie du miroir. […] le miroir fonctionne comme une hétérotopie en ce sens qu’il rend cette place que j’occupe au moment où je me regarde dans la glace, à la fois absolument réelle, en liaison avec tout l’espace qui l’entoure, et absolument irréelle, puisqu’elle est obligée, pour être perçue, de passer par ce point virtuel qui est là-bas.78 Ebenso verhält es sich mit der Erinnerung. Sie öffnet einen utopischen Raum hinter der Oberfläche der Realität, einen virtuellen Raum, der nur in Gedanken existiert, und dabei zugleich überall und nirgends sein kann. Das Ich wird in diesem Raum an einen Nicht-Ort versetzt, der ihm die eigene Identität so vor Augen führt, wie ein Spiegel die eigene visuell wahrnehmbare physische Präsenz innerhalb des realen Raums. Was die Erinnerung aber letztlich von einer Utopie unterscheidet und endgültig als Heterotopie definiert, ist die Tatsache, dass sie im Durchwandern der eigenen Erinnerung diese mit der realen Welt um einen herum und mit jener, die dort virtuell repräsentiert wird, verbindet und so selbst real werden lässt, zugleich jedoch aufgrund ihrer Wahrnehmung als neudurchlebtes Vergangenes absolut unreal und subjektiv wirken muss. Die hier vorgestellte Idee des heterotopischen Gedanken„Raumes“ ist nicht ganz neu. Aus dem Diskurs kybernetischer Theorien zur Beschreibung des Geistes als lernfähige Maschine, hat sich ein ganzer Theorie-Zweig entwickelt, der sich mit den daraus resultierenden Problemen des menschlichen Geistes beschäftigt, welcher sich zunehmend innerhalb eines durch digitale Technologien konstruierten virtuellen Raumes bewegen muss.79 Das Konzept des virtuellen Raums ist der Forschungsgegenstand des digitalen Zeitalters, wobei in der nicht fachgebundenen Diskussion oft außer Acht gelassen wird, dass es letztlich auf der Schöpfungskraft des menschlichen Geistes basiert: Erinnerung und Gedanken konstituieren bereits einen virtuellen Raum, eine internalisierte Heterotopie. Autobiographical Renewal im heterotopischen Raum der Erinnerung Die Frage, die nun noch zu beantworten bleibt, lautet: Was bedeutet es für autobiographisches Schreiben, wenn Erinnerung als internalisierte Variante des heterotopischen Raumes definiert wird? Dadurch wäre zunächst eine Klärung des Begriffs der Autobiographie vonnöten. Eine exakte Definition des Genres erweist sich jedoch als schwierig. Nähert man sich der Bedeutung des Wortes Autobiographie über die etymologische Herkunft des Wortes, so ist der Fall relativ simpel: Es setzt sich zusammen aus den griechischen Wörten αὐτός Michel Foucault: Espace, S. 756. Vgl. dazu das bereits zuvor erwähnte Standardwerk der Kybernetik, Norbert Wieners Cybernetics. Or Control and Communication in the Animal and the Machine. Die Einbeziehung des Diskurses zur CyberspaceProblematik würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Allerdings sei an dieser Stelle auf einige Werke verwiesen, die das Konzept des virtuellen Raums und seiner menschlichen Komponente untersuchen. David Hakken betrachtet in Cyborgs@Cyberspace: An Ethnographer Looks at the Future den Cyberspace als kulturellen Raum, während der Essay-Band Cyberspace Textuality: Computer Technology and Literary Theory, herausgegeben von Marie-Laure Ryan, mit verschiedenen Texten einen Überblick zu virtuellen Realitäten und Topographien bietet. N. Katherine Hayles‘ How We Became Posthuman: Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics untersucht den Begriff des menschlichen in Hinblick auf Körperlichkeit in der Kybernetik. 78 79 Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 74 („self“), βίος („life“) und γράφειν („to write“).80 Demnäch wäre die Autobiographie schlicht als das Schreiben des Selbst über das eigene Leben zu verstehen. H. Porter Abbott weist jedoch in seinem Text „Autobiography, Autography, Fiction: Groundwork for a Taxonomy of Textual Categories“ auf die Problematik der Definition hin, die diese simple Sicht zu ignorieren versucht: „[There] is no longer any easy acceptance of the dictionary definition of autobiography (‚The history of a person’s life as written by himself‘).“81 Dementsprechend zitiert Abbott eine Passage aus Jerome Buckleys The Turning Key, die seinen Punkt dahingehend unterstreicht, dass insbesondere der Anspruch auf objektive oder absolute Wahrheit besonders in diesem Genre zum Problem wird: The ideal autobiography presents a retrospect of some length on the writer’s life and character, in which the actual events matter far less than the truth and depth of his experience. It describes a voyage of self-discovery, a life-journey confused by frequent misdirections and even crises of identity but reaching at last a sense of perspective and integration. It traces through the alert awakened memory a continuity from early childhood to maturity or even to old age. It registers a commitment to the unity and mystery of the self or soul, both alone and among other human beings. And as a work of literature it achieves a satisfying wholeness.82 Autobiographie heißt also zunächst einmal, dass der Autor sein eigenes Leben als eine Art Narrativ zu konstruieren versucht, und man sich als Rezipient der Tatsache bewusst sein sollte, dass der Wahrheitsanspruch hinter die Intensität des Empfundenen und Erlebten tritt. Selbst wenn eine Perspektivierung des Geschehens im Text klar herausgestellt wird, sehen sich autobiographische Texte oft dem Problem ausgesetzt, dass sie dennoch nach einer textuellen Abgeschlossenheit und narrativer Einheit beziehungsweise Kontinuität suchen. Pirsigs Roman lässt sich beispielsweise als eine Art regenerative Autobiographie, als eine Reise der „self-discovery“ lesen, zumal sein Text eben die Widersprüche und Probleme seiner Person im Werk selbst zu perspektivieren versucht und gleichzeitig in der Geschlossenheit seiner Form um diese „satisfying wholeness“ bemüht ist. Seine Reise durch die USA ist zugleich ein Prozess der Selbsterforschung, in dem er sich an sämtliche „misdirections“ seines Lebenswegs erinnert. Dabei erlebt er in logischer Konsequenz sein früheres Ich, Phaedrus, als fremden Charakter. Inwieweit diese Abspaltung aber psychologisch manifest ist oder aber im Text selbst stattfindet, ist schwer zu sagen.83 Scheinbar teilt er mit ihm nur noch so wenige, konkrete Erinnerungen, dass er sich im Sinne Vgl. Ernest Klein: Comprehensive Etymological Dictionary of the English Language, Bd. I: A-K, Amsterdam u.a. 1966, S. 130; S. 174. Diese Definitionen aus der Mitte der 1960er Jahre verdeutlichen wie stark das Konzept der Autobiographie als Schreiben des Selbst über das eigene Leben durch seine Etymologie bereits fixiert wurde. 81 H. Porter Abbott: Autobiography, Autography, Fiction: Groundwork for a Taxonomy of Textual Categories, in: History, Critics, and Criticism, Spec. issue of New Literary History 19.3 (1988), S. 597–615, hier S. 598. 82 Jerome Buckley: The Turning Key, Autobiography and the Subjective Impulse since 1800, Cambridge, MA 1984, S. 39–40; Auszüge des hier vollständig zitierten Abschnitts von Buckley wurden verwendet in: Abbott: Autobiography, S. 599. Buckley fügt noch einen weiteren Satz hinzu: „Yet it is never complete since the writer’s life is necessarily still in progress.“ Eine ausführliche Diskussion zu diesem Aspekt autobiographischen Schreibens findet sich ebenfalls in: Walter Benjamin: Der Erzähler. In: ders.: Illuminationen: Ausgewählte Schriften, Frankfurt a. M. 1977, S. 385–410. 83 Etymologisch betrachtet geht die in seinem Text beschriebene Schizophrenie tatsächlich auf eine „Spaltung“ zurück: σχίζειν („to split“) und φρενός („diaphragm, heart, mind“). Daher rührt im Übrigen auch die Verwechslung des Krankheitsbildes der Schizophrenie mit jenem der multiplen Persönlichkeit. Vgl. Ernst Klein: Comprehensive Etymological Dictionary, Bd. II: L-Z, S. 1178; S. 1396. 80 Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 75 Russels oder der Kybernetik mit diesem vergangenen Ich tatsächlich nicht länger identifizieren kann. Die Entfernung, die Pirsig hierbei als Autor zu Phaedrus einnimmt, ist allerdings rein virtueller Natur. Versteht man das Ich zumindest als konsequente Reihung von Erinnerungen in einem regulären raumzeitlichen Prozess, entsteht zwar eine reale Entfernung, die Verknüpfung als Ich, das sich als einheitlich wahrnimmt, bleibt jedoch erhalten. Durch den Verlust zentraler Erinnerungsfragmente entsteht hier allerdings ein Bruch im virtuellen Raum der Erinnerung. Um sich mit Hilfe seines autobiographischen Schaffensprozesses erneuern zu können, versucht Pirsig diese Kluft zu überwinden, indem er im Rahmen seiner Neuinszenierung des Ich gleichzeitig einen realen und virtuellen Raum durchschreitet. Sein spezielles Problem der Rekonstruktion verlorener Erinnerungen lässt dabei das Problem der Selbstkonstruktion in Genre der Autobiographie zu einem der zentralen Momente seines Textes werden. Die Offensichtlichkeit der Fiktionalisierung eines realen Raumes durch seine Konstruktion anhand von Erinnerungen, verdeutlicht die virtuelle Natur dieses Raumes: In der textuellen Vermischung von Erinnerung und realem Raum liegt somit die Heterotopie der Erinnerung. Erinnerung als Handlungsort der Autobiographie Für den Vorgang der autobiographischen Erneuerung benötigt man demnach einen Handlungsort. Dieser Ort zeichnet sich überwiegend dadurch aus, dass er eine Verbindung zwischen Räumen der Vergangenheit und solchen der Gegenwart zu schaffen vermag. In Pirsigs Roman findet die Etablierung dieses Zusammenhangs bereits zu Beginn des Romans statt, nämlich während der ersten Analepse. Als die Gruppe in ein aufziehendes Gewitter hinein fährt, sieht Pirsig im Licht eines Blitzes die Landschaft um ihn herum hell erleuchtet und ihm wird bewusst, dass sein früheres Ich mit diesem Ort eine Erinnerung verknüpft: „[And] then in the brilliance of the next flash that farmhouse … oh, my God, he’s been here! … throttle off … this is his road … a fence and trees … and the speed drops to seventy, then sixty, then fifty-five and I hold it there.“ 84 Hier wird der reale Raum, die Ebene mit dem Farmhaus und den Bäumen, bereits mit dem Raum aus Phaedrus Erinnerung verbunden. In just diesem Moment entsteht ein Zusammenhang zwischen dem realen Ort, den Pirsig auf seinem Motorrad wahrnimmt und jenem Ort, den er aus seiner beziehungsweise Phaedrus‘ Erinnerung kennt. Es ist – um auf eines von Foucaults offensichtlichsten Beispielen zurückzugreifen – ein Moment, in dem sich die Welt im Spiegel der Erinnerung bricht. Im Falle dieses Beispiels entsteht der heterotopische Raum der Erinnerung nur für den Bruchteil einer Sekunde, so als würde man einen flüchtigen Blick aus dem Fenster werfen oder eine Fotografie betrachten. Ein Blick auf eine Landschaft, ein Bild oder eine Fotografie genügen, um aufgrund des Verständnisses, das Menschen von Räumen haben, einen Zusammenhang des bisher aus Pirsigs Text zitierten Fragmenten und einer Abbildung herzustellen. Wir akzeptieren bereitwillig Bilder, die uns anhand einer Bildunterschrift erläutert werden, als zu einer textuellen Schilderung zugehörig. Wie in Foucaults Kinobeispiel öffnet ein Foto, wie hier die Abbildung 1, für den Betrachter den realen Raum des physisch manifesten Textes und erweitert ihn um eine virtuelle Ebene.85 Robert M. Pirsig: Zen, S. 36. Eine ähnliche Diskussion von Bildern und deren Subtexten, aus der sich die hier vertretene Sicht des Textes als bildliches Symbol leicht ableiten lässt, findet sich in Roland Barthes: La Chambre Claire, Paris 1980. 84 85 Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 76 Abb. 1 Pirsig und sein Sohn auf ihrem Motorrad.86 Nichts anderes vermag auch ein Text zu leisten: Parallel zu der Öffnung, die ein solches Bild rein visuell ermöglicht, bietet etwa Zen and the Art of Motorcycle Maintenance dem Rezipienten die Möglichkeit, den Raum von Pirsigs Erinnerungen in der eigenen Vorstellung neu zu konstruieren. Noch deutlicher und für einen längeren Zeitraum wird der Raum in diesem Sinne an anderen Stellen im Buch etabliert. Pirsig setzt dabei die Diskurse über sein früheres Leben bemerkenswerterweise häufig parallel zu räumlicher Bewegung. An einer anderen Stelle etwa kommt die Gruppe gerade aus der Ebene des mittleren Westens in das sogenannte „high country“ oberhalb der Baumgrenze.87 Pirsig beginnt dann den nächsten Ausflug in die Welt von Phaedrus‘ Erinnerung mit einer Einleitung, in der er diese explizit als eine Art Raum bezeichnet: I want to talk about another kind of high country now in the world of thought, which in some ways for me at least seems to parallel or produce feelings similar to this, and call it the high country of the mind. If all of human knowledge […] is believed to be an enormous hierarchic structure, then the high country of the mind is found at the uppermost reaches of this structure in the most general, the most abstract considerations of all.88 Henry Gurr: Robert Pirsig’s Original Trip, in: Teaching, Learning, and Exploration of the Book Zen and the Art of Motorcycle Maintenance (20.08.2010). URL: http://ww2.usca.edu/Researc hProjects/ProfessorGurr/ gallery/Pictures-Robert-Pirsigs-original-1968-trip/aam; I want to thank Robert Pirsig for the kind permission to use one of his photos in my essay. Furthermore, I want to thank Professor Henry Gurr of the University of South Carolina Aiken for his help with and handling of the photos from the trip. He maintains the website with the pictures of Robert Pirsig’s journey: http://venturearete.org/ResearchProjects/ProfessorGurr/gallery/albums.php 87 Robert M. Pirsig: Zen, S. 154. 88 Ebd., S. 155–156. 86 Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 77 Dieser Abschnitt verdeutlicht das gesamte Konzept, welches dieser Essay vorgestellt hat. Der heterotopische Raum der Erinnerung ist, aufgrund seiner identitätsstiftenden Eigenschaft, die Voraussetzung für alle anderen internen Räume. Wie der von Pirsig eingeführte Begriff des „high country of the mind“ ist der Raum der Erinnerung dabei parallel zu realer Erfahrung und produziert im Vorgang des erneuten Durchlebens ähnliche Gefühle. Der Raum, den Robert Pirsig hier als Struktur des gesamten Wissens der Menschheit beschreibt, und an dessen Spitze das „high country of the mind“ steht, ist genau dieser Raum der Erinnerung. Spricht man von einem Individuum, so kann man auch im persönlichen internen Raum der Erinnerung ein individuelles „high country of the mind“ finden. Die untergeordneten Ebenen bestehen aus Erinnerungen des Kurz- und Langzeitgedächtnisses, welche die Basis einer Persönlichkeit bilden und abstraktere Gedanken ermöglichen. Raum der Erinnerung als Ort der Erneuerung Warum dieser Raum der Erinnerung als Handlungsort für die Erneuerung des Selbst durch das autobiographische Schreiben von so entscheidender Bedeutung ist, zeigt sich bei der näheren Betrachtung der Entwicklungsstufen des menschlichen Geistes. Dieser befindet sich in einem ständigen Prozess des Lernens und der Veränderung. Er muss sich an neue Gegebenheiten oder spontane Ereignisse anpassen und dabei immer in der Lage sein, eigenständige Entscheidungen zu treffen. Die Erinnerung ist ein zentrales Element dieses Prozesses, da sie im menschlichen Geist die einzige Instanz ist, die Erfahrung speichern und so zur Persönlichkeitsbildung, durch die Aufzeichnung der „events in our daily lives“,89 beitragen kann. Die logische Konsequenz dieser Tatsache ist, dass in einem extremen Fall wie dem Pirsigs, dieser heterotopische Raum der Erinnerung einer jener Orte ist, an dem das Erlebte verarbeitet und neu bewertet werden kann. Somit dient diese Heterotopie der Selbsterneuerung und stellt quasi einen Raum des Transits dar, des Übergangs von einem vergangenen Ich zu einer neuen Identität. Wie Foucaults Kino ist die Heterotopie der Erinnerung damit auch ein Raum der Projektion, denn „[all] you can do is project from the past“90, wie Pirsig selbst bemerkt. Am deutlichsten wird dies in jenem Teil des Buches, in dem er über die Besessenheit seines früheren Ichs mit der Frage „What […] is Quality?“ spricht und dazu seine Erinnerungen erforscht und erzählt.91 Dabei schreibt er über Phaedrus stets in der dritten Person, als wäre er selbst ein allwissender Erzähler aus dieser Zeit und teile nicht einfach nur seine Erinnerung. Dies zeigt jedoch umso mehr, dass er Phaedrus Pfaden im Raum der Erinnerung folgt, wie eine Kamera dem Hauptdarsteller eines Films. Sie ist unbeteiligt am Geschehen, nimmt aber dennoch alles auf und zeigt es dem Zuschauer. Pirsig baut für seine Leser so die immer bedrohlicher werdende Welt des Wahns auf, die er selbst nur aus Erinnerungen seines früheren Ichs kennt, und eröffnet ihnen so den Raum seiner Gedanken. Phaedrus Erlebnisse und die Wirkung des realen Raums auf seine interne Wahrnehmung werden dabei nicht nur für ihn und Pirsig, sondern auch für den Rezipienten immer klaustrophobischer. Gegen Ende des Buches findet sich der Höhepunkt seiner geistigen Probleme, als die Stadt ihm immer enger zu werden scheint: „[it] closes in Neil Burgess u.a.: Memory for Events and Their Spatial Context, S. 1493. Vgl. dazu auch: David Tomas: Feedback and Cybernetics, 28. 90 Robert M. Pirsig: Zen, S. 532. 91 Vgl. Ebd. 227–231. 89 Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 78 on him“.92 Mehr und mehr zieht er sich in der Erinnerung in den Raum der Gedanken zurück: „His time consciousness begins to go. Sometimes his thoughts race on and on at a speed seeming to approach that of light. But when he tries to make decisions relating to his surroundings, it seems to take whole minutes for a single thought to emerge.”93 Die Verbindung zwischen internem und externem Raum wird zunehmend aufgelöst. Phaedrus Gedanken machen sich selbstständig und sein gesamtes Bewusstsein beginnt auseinanderzubrechen.94 Um richtig zu funktionieren, muss der Raum der Gedanken und somit jener der Erinnerung allerdings mit allen anderen realen Räumen verbunden bleiben. Die Art und Weise der Erneuerung und des Heilprozesses, den Pirsig dort durchlebt, aber auch in Form der Autobiographie durch „linguistic activity“95 gleichzeitig erfahrbar macht und für sich selbst abschließt, lässt sich am besten durch einen Absatz verdeutlichen, in dem er sich auf ein christliches Lied bezieht: “No one else can cross it for you,“ it says. It seems to suggest something beyond. “You’ve got to cross it by yourself.” He crosses a lonesome Valley, out of the mythos, and emerges as if from a dream, seeing that his whole consciousness, the mythos, has been a dream and no one’s dream but his own. A dream he must now sustain of his own efforts. Then even “he” disappears and only the dream of himself remains with himself in it.96 Der heterotopische Raum der Erinnerung ist, wie schon zuvor erwähnt, ein Ort des Transits, eine Verbindung zwischen der realen Welt und jenem abstrakten Ort der Gedanken. Will man sich selbst neu definieren oder eine Zäsur wie die im Leben Pirsigs verarbeiten, so muss man diesen Raum durchqueren, um die Erneuerung der Lebensgeschichte abschließen zu können. Um kurz auf den Titel des Buches zurückzugreifen, der ja eine Geisteshaltung und Weltanschauung mit einer Maschine verbindet, sei angemerkt, dass das, was Zen and the Art of Motorcycle Maintenance sowie das Chautauqua darin lehren wollen, ein zutiefst kybernetisch geprägtes Konzept ist: „view subject and object, mechanic and mechanism, as a unity“.97 Objekt und Subjekt, reale Welt und Wahrnehmung, externer Raum und interne Welt der Erinnerung, sind untrennbar verbunden. Das ist auch der Grund, warum die menschliche Erinnerung als Handlungsraum und somit als interner Raum und heterotopisches Setting autobiographischer Werke für die Selbsterneuerung des Ich dienen kann. Nur im Rückbesinnen auf bereits Vergangenes und durch die Neubewertung der individuellen Erfahrung lässt sich eine solch umfangreiche Entwicklung der Persönlichkeit vollständig durchlaufen. Geisteswissenschaft versus Wissenschaft des Geistes Der vorangehende Punkt schließt das Vorhaben dieses Essays ab. Der schwierige Spagat zwischen Geisteswissenschaften und Wissenschaft des Geistes hat seinen Zweck erfüllt und anhand von Pirsigs Roman gezeigt, dass die menschliche Erinnerung als Handlungsraum Robert M. Pirsig: Zen, S. 507. Ebd., S. 508. 94 Vgl. Ebd. 95 David A. Granger: John Dewey, Robert Pirsig, and the Art of Living, S. 246. 96 Robert M. Pirsig: Zen, S. 510. 97 George Basalla: Man and Machine, S. 250. 92 93 Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 79 und somit als heterotopisches Setting autobiographischer Werke über die Neuentstehung des Ich verwendet werden kann. Neben der Zusammenfassung und Definition von Michel Foucaults Konzept der Heterotopie, wurde dabei vor allen Dingen der Begriff des Raumes internalisiert, damit er in der Diskussion von Texten als gleichwertige Komponente des realen, externen Raumes verwendet werden kann. Zen and the Art of Motorcycle Maintenance diente im Rahmen dieses Aufsatzes als veranschaulichendes Beispiel, da alle beide der eingeführten Begriffe des heterotopischen Raums des Erlebten beziehungsweise des Nacherlebten darin vertreten sind. Diese Begriffe lassen sich aber leicht verallgemeinern und in anderen literarischen Werken finden, insbesondere im Genre der Autobiographie. Amerikanische Klassiker wie Henry David Thoreaus Walden oder Edward Abbeys Desert Solitaire etablieren beispielsweise einen ähnlichen internen, heterotopischen Raum der Erinnerung, wenn sie ihre Erlebnisse in der Wildnis im Prozess des Schreibens neu durchleben und so gleichzeitig dem Leser zugänglich machen. Dabei dient dieser Raum der Erinnerung stets der Selbsterneuerung des Ich durch Kontemplation und Neubewertung vergangener Ereignisse im Prozess des Schreibens. Realer, physikalischer Raum wurde hier mit dem virtuellen und zugleich subjektiv als real wahrgenommen Raum der Erinnerung und Gedanken verbunden. Dadurch ist ein gänzlich unerforschtes Feld eröffnet worden. In einer Zeit, in welcher es keine weißen Flecken mehr auf den Karten gibt und keine Herzen der Finsternis, gibt es zwei Möglichkeiten in unendliche Weiten vorzudringen: Nach außen in die Weiten des Alls zur final frontier oder nach innen, tiefer in den Verstand und das Unbewusste, quasi zur frontier of inception. Letztere ist dabei mindestens genauso schwer zugänglich und komplex. Dass in dieser intensivierten Beschäftigung mit unserem eigenen Geist, weiterhin die Zukunft liegt, zeigt sich allein schon in dem stetig wachsenden Feld jener Wissenschaften, die an künstlichen Intelligenzen forschen. Ihr Blick auf den Menschen ist nach innen gerichtet und versucht einen künstlichen Geist oft durch eine Art reverse engineering nachzubauen. Auch Literatur und Film wagen sich nach wie vor gern in diese Richtung, zuletzt etwa mit Christopher Nolans Film Inception, der ähnliche virtuelle Räume und Ebenen der Erinnerung etabliert wie Pirsig. Das alle zeigt, inwiefern Erinnerungen für das Subjekt mindestens so real sein können wie der gegenwärtige Moment, und wie der Essay zu Beginn gezeigt hat, müssen sie daher im Bereich des episodischen Gedächtnisses ebenso räumlich sein wie unsere Wahrnehmung. Der logische Schluss für zukünftige Betrachtungen des Innenlebens eines fiktiven Werks, einer Autobiographie oder der Erforschung des menschlichen Geistes sollte also sein, dass Voraussetzung jedes Sprechens und Schreibens über das Ich der interne, heterotopische Raum der Erinnerung sein muss. Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 80 Literatur Abbey, Edward: Desert Solitaire, Tuscon 1988. Abbott, H. Porter: Autobiography, Autography, Fiction: Groundwork for a Taxonomy of Textual Categories, in: History, Critics, and Criticism, Spec. issue of New Literary History 19.3 (1988), S. 597–615. Albanese, Catherine L./Stein, Stephen J.: Vorwort. In: Chidester, David/Linenthal, Edward T. (Hg.): American Sacred Space, Bloomington, IN 1995, S. ix-xi. Barger, Ralph u.a.: Hell’s Angels. London, 2001. Barthes, Roland: La Chambre Claire, Paris 1980. Basalla, George: Man and Machine, Rez.: Robert Pirsig: Zen and the Art of Motorcycle Maintenance, in: Science 187.4173 (1975), S. 248–250. Benesch, Klaus: Concepts of Space in American Culture: An Introduction. In: Benesch, Klaus/Schmidt, Kerstin (Hg.): Space in America: Theory, History, Culture. Amsterdam, u.a. 2005, S. 11–21. Benjamin, Walter: Der Erzähler. In: ders.: Illuminationen: Ausgewählte Schriften, Frankfurt a. M. 1977, S. 385–410. Buckley, Jerome: The Turning Key, Autobiography and the Subjective Impulse since 1800, Cambridge, MA 1984. Burgess, Neil, u.a.: Memory for Events and Their Spatial Context: Models and Experiments, in: Episodic Memory, Spec. issue of Philosophical Transactions: Biological Sciences 356.1413 (2001), S. 1493–1503. Chidester, David/Linenthal, Edward T.: Einleitung. In: Chidester, David/Linenthal, Edward T. (Hg.): American Sacred Space, Bloomington, IN 1995, S. 1–42. Derrida, Jacques: De la grammatologie, Paris 1967. Durán, Javier: Utopia, Heterotopia and Memory in Carmen Boullosa’s Cielos de la Tierra, in: Studies in the Literary Imagination 33.1 (2000), S. 51–64. Emerson, Ralph Waldo: History. In: ders.: Self-Reliance and other Essays, New York 1992. Foucault, Michel: Des espaces autres. In: ders.: Dits et écrits: 1954–1988, Bd. 4: 1980– 1988, hg. von Daniel Defert/François Ewald, Paris 1994. Ders.: Question a Michel Foucault sur la geographie. In: ders.: Dits et écrits: 1954–1988, Bd. 2: 1976–1980, hg. von Daniel Defert/François Ewald, Paris 1994, S. 29–40. Freud, Siegmund: Die Traumdeutung, Frankfurt a.M. 132007. Glendinning, Ian: Robert M. Pirsig, in: American Society of Authors and Writers. URL: http://amsaw.org/amsaw-ithappenedinhistory-090604-pirsig.html (20.08. 2010). Granger, David A.: John Dewey, Robert Pirsig, and the Art of Living: Revisioning Aesthetic Education, New York 2006. Hakken, David: Cyborgs@Cyberspace: An Ethnographer Looks at the Future, New York 1999. Harpham, Geoffrey Galt: Rhetoric and the Madness of Philosophy in Plato and Pirsig, in: Contemporary Literature 29.1 (1988), S. 64–81. Harvey, David: The Kantian Roots of Foucault’s Dilemmas. In: Crampton, Jeremy W./ Elden, Stuart (Hg.): Space, Knowledge and Power. Foucault and Geography, Aldershot, u.a. 2007, S. 41–48. Hayles, N. Katherine: How We Became Posthuman: Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, Chicago 1999. Literatur & P hi l osophie /// Literat u re & P H I L O S O P H Y 81 Hopper, Dennis, Reg.: Easy Rider, Columbia Pictures Corporation 1969. Kierkegaard, Søren: Die Krankheit zum Tode, übers. von Emanuel Hirsch, Düsseldorf 1957. Klein, Ernst: Comprehensive Etymological Dictionary of the English Language, 2 Bde., Amsterdam u.a. 1966. Mayer, Ruth: ‚Just Driving‘: Contemporary Road Novels and the Triviality of the Outlaw Existence. In: Benesch, Klaus/Schmidt, Kerstin (Hg.): Space in America: Theory, History, Culture. Amsterdam, u.a. 2005, S. 369–399. Nolan, Christopher, Reg.: Inception, Warner Bros. Pictures 2010. Pirsig, Robert M.: Zen and the Art of Motorcycle Maintenance: An Inquiry into Values, New York 2006. Rolls, Edmund T. u.a.: A Unified Model of Spatial and Episodic Memory, in: Proceedings: Biological Sciences 269.1496 (2002), S. 1087–1093. Russel, Bertrand: Do We Survive Death? In: ders.: Why I am not a Christian. And Other Essays on Religion and Related Subjects, hg. von Paul Edwards, London 2004, S. 42–47. Ryan, Marie-Laure, Hg.: Cyberspace Textuality: Computer Technology and Literary Theory, Bloomington, IN 1999. Schaber, Bennet: „Hitler Can’t Keep ‘Em That Long.“ In: The Road Movie Book, hg. von Steven Cohan und Ina Rae Hark, London u.a. 1997, S. 17–44. Soja, Edward W.: Postmodern Geographies and the Critique of Historicism. In: Jones, John Paul III, u.a. (Hg.): Postmodern Contentions: Epochs, Politics, Space, New York 1993. Sowards, Adam M.: The Environmental Justice: William O. Douglas and Conservation, Corvallis 2009. Squire, Larry R.: Mechanisms of Memory, in: Science 232.4758 (1986), S. 1612–1619. Stickgold, R. u.a.: Sleep, Learning, and Dreams: Off-Line Memory Reprocessing, in: Science 294.5544 (2001), S. 1052–1057. Thoreau, Henry David: Walden, New York 1910. Tomas, David: Feedback and Cybernetics. Reimagining the Body in the Age of Cybernetics, in: Burrows, Roger/Featherstone, Mike (Hg.): Cyberspace/Cyberbodies/Cyberpunk. Cultures of Technological Embodiment, London 2000, S. 21–43. Wiener, Norbert: Cybernetics: or Control and Communication in the Animal and the Machine, Cambridge, MA 1965. Bildnachweis Gurr, Henry: Robert Pirsig’s Original Trip, in: Teaching, Learning, and Exploration of the Book Zen and the Art of Motorcycle Maintenance (20.08.2010). URL:http://ww2.usca.edu/ResearchProjects/ProfessorGurr/gallery/Pictures-RobertPirsigs-original-1968-trip/aam. ▲ Please cite this article as: Felix J. Fuchs (2014): Erinnerung als heterotopischer Handlungsraum. Autobiographische Selbsterneuerung in Robert Pirsigs Zen and the Art of Motorcycle Maintenance. In: Helikon. A Multidisciplinary Online Journal, 3. 55–82.