Journalistenpreis Bürgerschaftliches Engagement Marion
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Journalistenpreis Bürgerschaftliches Engagement Marion
Journalistenpreis Bürgerschaftliches Engagement Marion-Dönhoff-Förderpreis Journalistenpreis Ausgezeichnete Beiträge 2007 Die Robert Bosch Stiftung Die Robert Bosch Stiftung ist eine der großen unternehmensverbundenen Stiftungen in Deutschland. Sie wurde 1964 gegründet und setzt die gemeinnützigen Bestrebungen des Firmengründers und Stifters Robert Bosch (1861 bis 1942) fort. Die Stiftung beschäftigt sich vorrangig mit den Themenfeldern Völkerverständigung, Bildung und Gesundheit, darüber hinaus befasst sie sich mit gesellschaftlichen Fragestellungen. Vorwort Inhalt Inhaltsverzeichnis 05 Vorwort 06 Die Jury 2007 08 Zehn Jahre Journalistenpreis Bürgerschaftliches Engagement 08 Von Assen, Redaktionspolitik und gesellschaftlichen Leitbildern 12 Stimmen von Preisträgern 14 Die Preisträger 2007 22 22 28 31 37 40 Ausgezeichnete Beiträge 1. Preis 2. Preis 3. Preis Marion-Dönhoff-Förderpreis Serienpreis 59 59 60 61 64 Anhang Ausschreibung 2007 Preisverleihung 8. Dezember 2007 Preisträger 1998 bis 2006 Impressum 3 4 Vorwort 5 Vorwort In diesem Jahr haben wir so viele Einsendungen wie noch nie für den Journalistenpreis Bürgerschaftliches Engagement erhalten. 130 Bewerbungen haben den bisherigen Rekord aus dem Jahr 2001, dem Jahr der Freiwilligen, überboten. Bürgerschaftliches Engagement ist eben nicht nur Pfl ichtthema oder Füllstoff für das Sommerloch. Auff ällig war in diesem Jahr, dass neben beeindruckenden Reportagen über einzelne engagierte Menschen auch viele Beiträge eingereicht wurden, die das gemeinsame »Anpacken« vor Ort thematisieren. Damit wird gewürdigt, dass die Bürgergesellschaft individuelles Handeln ebenso braucht wie das kollektive Einmischen von Bürgern, die mit Gestaltungswillen einen Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe verfolgen. Wenn in einem Dorf das letzte Geschäft und die letzte Bank schließen und es auch keinen Arzt mehr gibt, kann man darüber lamentieren – oder sich selbst helfen. Und gemeinsam dafür sorgen, dass das Leben zurückkehrt ins Dorf. Das haben die Bürger im rheinischen Barmen erfolgreich getan. Dieses Beispiel inspiriert und macht Mut, vor allem, wenn es so brillant beschrieben ist, wie von Christian Sywottek in brand eins. Wie ein Engagement miteinander und füreinander Lebensqualität verbessern kann, zeigt auch der Artikel von Bernd Volland im stern über ein Mehr-Generationen-Haus in Bielefeld. Volland schildert in eindrucksvoller Weise, dass in der ostwestfälischen Wohngemeinschaft mit kleinen Kindern, Eltern und pflegebedürftigen Senioren Jung und Alt nicht nur zusammenleben, sondern davon auch persönlich profitieren. Der Artikel macht deutlich, dass im landauf, landab diskutierten demographischen Wandel nicht nur Gefahren, sondern auch Potentiale stecken. Wir brauchen engagierte Menschen, die letztere zur Entfaltung bringen. Man sagt, gute Journalisten hätten ein sicheres Gespür dafür, wo sich Neues tut. Wenn dem so ist, dann war die diesjährige Aufmerksamkeit unter den Einsendungen für zwei Themen besonders bemerkenswert, da diese gemeinhin als Domänen staatlichen Handelns wahrgenommen werden: Bildung und Jugendstrafvollzug. Diese Themen bilden in augenfälliger Weise sowohl Chancen als auch Risiken unserer Gesellschaft ab. Man darf gespannt sein, inwieweit sich hier zukünftige Betätigungsfelder bürgerschaftlichen Engagements auftun. Eine besondere Freude ist für mich, dass wir in diesem Jahr wieder den Marion-Dönhoff-Förderpreis für junge Journalisten verleihen können, nachdem im letzten Jahr die Fußball-Weltmeisterschaft vermutlich manche Kapazitäten in den Redaktionen gebunden hat. »Profit macht nur der Kiez« betitelt Markus Wanzeck in der taz seinen ausgezeichneten Artikel. Zehn Jahre Journalistenpreis Bürgerschaftliches Engagement – das sind über 1.000 Einsendungen und über 80 Preisträger. Die rege Beteiligung an unserem Preis zeigt, dass das Thema den Journalisten wichtig ist. Wir wollen jetzt noch einen Schritt weitergehen. Wenn wir anstreben, dass bürgerschaftliches Engagement öffentlich und anerkannt wird und dass Journalisten Menschen ermutigen, eine lebendige Demokratie zu gestalten, spricht alles dafür, den Preis auszubauen. Wir wollen deshalb im nächsten Jahr nicht wie bisher ausschließlich Journalisten der Printmedien für hervorragende Leistungen ehren, sondern auch Preise für die Sparten Hörfunk und Fernsehen vergeben und auch die Online-Berichterstattung berücksichtigen. Der ehrenamtlichen Jury danke ich für ihre hervorragende Arbeit – nicht nur für die Sichtung und Auswahl der Beiträge, sondern auch für ihre Ideen und Impulse in der Weiterentwicklung des Preises. Ich gratuliere den Ausgezeichneten und danke ihnen wie all den anderen Journalisten, die bürgerschaftliches Engagement ins Licht der breiten Öffentlichkeit rücken und damit vorbildlichen Einsatz würdigen sowie zur Nachahmung anregen. Dieter Berg Vorsitzender der Geschäftsführung der Robert Bosch Stiftung Stuttgart, Dezember 2007 6 Die Jury 2007 Die Jury 2007 Gerd Appenzeller Dr. Warnfried Dettling Elisabeth Niejahr (Vorsitzender) Gerd Appenzeller (Vorsitzender), Jahrgang 1943, ist seit 1993 Redaktionsdirektor des Berliner Tagesspiegel. Nach abgeschlossenem Volontariat war der gebürtige Berliner zunächst als Lokalredakteur tätig. 1970 wechselte er zum Südkurier nach Konstanz und war dort seit 1988 Chefredakteur. Er war freier Journalist für den Südwestfunk und die Deutsche Welle und u.a. in Großbritannien, den USA, Südafrika und Israel tätig. Dr. Warnfried Dettling, geboren 1943, lebt als freier Publizist in Berlin und im Waldviertel (Österreich). Nach dem Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Klassischen Philologie leitete er 1973 bis 1983 die Planungsgruppe, später auch die Hauptabteilung Politik der CDU-Bundesgeschäftsstelle. 1983 bis 1991 war er Ministerialdirektor im Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Elisabeth Niejahr, geboren 1965, studierte Volkswirtschaft in Köln und Washington D.C., parallel dazu verlief ihre Ausbildung an der Kölner Schule für Wirtschaftsjournalisten. 1993 wurde sie Korrespondentin für den Spiegel in Bonn, seit Ende 1999 ist sie stellvertretende Leiterin im Berliner Hauptstadtbüro von Die Zeit und dort Berichterstatterin über politische und wirtschaftliche Themen. Die Jury 2007 Sergej Lochthofen Carola SchaafDerichs Sergej Lochthofen, geboren 1953 in Warkuta (Russland), hat nach dem Besuch einer Kunstschule ein Volontariat absolviert und anschließend Journalistik an der Leipziger Universität studiert. Von 1977 bis 1990 war er Nachrichtenredakteur der Tageszeitung Das Volk. 1990 wurde er zum Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen gewählt. Carola Schaaf-Derichs, Jahrgang 1958, ist seit 15 Jahren Geschäftsführerin der Berliner Landesfreiwilligenagentur »Treff punkt Hilfsbereitschaft«. Freiberufl ich ist die Diplomsozialpsychologin darüber hinaus als Ausbilderin für Freiwilligen-Management, Beraterin und Organisationsentwicklerin tätig. Als Ehrenamtliche ist sie Sprecherin für den Arbeitsbereich Öffentlichkeitsarbeit sowie Mitglied im Koordinierungsausschuss des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement. 7 8 Zehn Jahre Journalistenpreis Bürgerschaftliches Engagement Zehn Jahre Journalistenpreis Bürgerschaftliches Engagement Gerd Appenzeller (G. A.), ist Redaktionsdirektor des Berliner Tagesspiegel. Er gehört der Jury des Journalistenpreises Bürgerschaftliches Engagement seit 2003 an und führt seit 2004 den Vorsitz. Von Assen, Redaktionspolitik und gesellschaftlichen Leitbildern Ein Gespräch mit Gerd Appenzeller und Carola Schaaf-Derichs über ihre Arbeit in der Jury und Tendenzen in der Berichterstattung über bürgerschaftliches Engagement In diesem Jahr wurden 130 Beiträge zum Journalistenpreis Bürgerschaftliches Engagement eingereicht, darunter eine ganze Reihe Serien. Warum engagieren Sie sich in dieser arbeitsintensiven Jury? C. S. D.: Ich glaube, es ist einfach die Neugier auf gut geschriebene Texte. Bei bürgerschaftlichem Engagement ist das nicht selbstverständlich. Anders als Fachtexte wollen diese hier Menschen für das Thema aufschließen. Die vorgelegten Beiträge sind immer hochkarätig, spannend und auch als Spiegel zu verstehen, als öffentliches Bild vom bürgerschaftlichen Engagement. G. A.: Ich denke, wenn man bürgerschaftliches Engagement selbst für wichtig hält, und das tue ich, dann muss man im Beruf des Journalisten auch etwas dafür tun, dass sich das Thema in Zeitungen niederschlägt, und man muss auch etwas dafür tun, dass die besten dieser Beiträge ausgewählt werden. Wenn ich mich einer solchen Jury nicht zur Verfügung gestellt hätte, dann hätte ich irgendwas an meinem Beruf nicht so richtig begriffen. Sind Sie auch noch neugierig? G. A.: Ich werde eigentlich von Jahr zu Jahr neugieriger. Ich stelle einfach fest, dass die Texte im Lauf der Jahre viel, viel besser geworden sind, weil das Interesse am Thema größer geworden ist, weil sich jetzt auch Leute damit beschäftigen, die wirklich zu den absoluten Assen in Carola Schaaf-Derichs (C. S. D.), ist Geschäftsführerin der Berliner Landesfreiwilligenagentur Treffpunkt Hilfsbereitschaft. Seit 2003 ist sie Mitglied der Jury. unserem Beruf gehören. Und das war vor fünf, sechs Jahren noch nicht so. »Noch vor zehn Jahren war das Thema bürgerschaftliches Engagement den Platzhirschen zu soft.« Heißt das, das Thema bürgerschaftliches Engagement ist in den Medien angekommen? Oder sind es eher zarte Ansätze? G. A.: Es ist mehr als zarte Ansätze. Noch vor zehn Jahren etwa war alles, was mit bürgerschaftlichem Engagement zu tun hatte, ein Themenbereich, den hat man gerne an Volontäre abgeschoben oder an die jüngeren Redakteurinnen, weil die Platzhirsche, gerade in den Regionalzeitungen, sich eigentlich zu fein für dieses Thema waren. Das war ihnen zu soft. Und das hat sich total geändert. C. S. D.: Das kann ich nur bestätigen. Wir vom Treffpunkt Hilfsbereitschaft haben vor vielen Jahren mal eine Kollegin vom SPIEGEL gefragt, womit wir denn überhaupt Journalisten interessieren könnten. Sie meinte: »Orientieren Sie sich immer an den großen gesellschaftlichen Themen. Nur dann, wenn Sie die Brücke bauen zwischen Erwerbslosigkeit und Bürgerengage- Zehn Jahre Journalistenpreis Bürgerschaftliches Engagement G. A.: ment, zwischen Aufkündigung der sozialen und der gesellschaftlichen Verträge und Bürgerengagement, nur dann kommen Sie in die Medien.« Und das, fi nde ich, hat sich gravierend geändert. Denn das bürgerschaftliche Engagement ist ein Leitbild für die Gesellschaft geworden. Das hängt natürlich auch ein bisschen damit zusammen, dass die Fähigkeit und die Bereitschaft des Staates, sich in karitativen, sozialen Dingen zu engagieren, im Lauf der letzten Jahre stark zurückgegangen ist – aus Geldmangel, aber auch aus einer Bewusstseinsänderung heraus. Die Themen, die früher Randthemen waren, sind jetzt plötzlich ganz zentral geworden. Und dazu gehört eben die Zivilgesellschaft, denn wenn sie nicht richtet, was der Staat nicht mehr richten kann, dann wird es gar nicht geregelt. »Bürgerschaftliches Engagement ist ein Thema für jeden Lebenslauf geworden.« C. S. D.: Ja, es gibt auch jenseits dieser Ressourcendebatte ein Interesse daran, denn es ist auch ein Thema für jeden Lebenslauf geworden. Was bedeutet denn Engagement für junge Leute? Es ist nicht nur die Frage, ob die nachher dadurch einen Job kriegen, sondern es geht vor allem um den Eigenwert. Und der Freiwilligen-Survey zeigt ja, dass junge Leute in besonderem Maße engagiert sind. Das haben wir bis dato nicht so wahrgenommen und auch in den Medien nicht gespiegelt bekommen. Jetzt schreiben junge Leute selber, das hat mich besonders begeistert. Wenn Sie feststellen, dass das Thema jetzt anders in der Presse abgebildet ist, liegt das vor allen Dingen an einzelnen interessierten Journalisten oder ist es Redaktionspolitik? G. A.: Wenn ich mir die Beiträge dieses Jahres in Erinnerung rufe, glaube ich, war beides der Fall. Wenn sich ein Wirtschaftsmagazin wie Brand eins in dieser Breite sozialer Themen annimmt, dann steckt da nicht nur ein einzelner Redakteur dahinter, sondern das muss ein redaktionelles Konzept sein. Und das ist bemerkenswert, weil da auch eine völlig andere Sicht von Wirtschaft deutlich wird. Natürlich 9 kommt es letztlich auf den Einzelnen an. Wenn Sie einen guten Reporter nicht für das Thema begeistern können und der so eine Fleppe zieht, dann wird es halt nichts. Eines ist jedenfalls für mich ganz sicher: Solche Texte werden heute nicht geschrieben, weil es diesen Preis gibt. Die Leute schreiben, weil sie das Thema erkennen, und dann reichen sie ihre Texte für den Preis ein. Aber das, was wir früher mal vermutet haben, ob wir eigentlich durch den Preis Leute dazu bringen, dass sie überhaupt soziale Themen aufgreifen – das glaube ich heute nicht mehr. Sie hatten, Herr Appenzeller, schon angedeutet, dass Sie Veränderungen bei den Einsendungen beobachten im Laufe der fünf Jahre, die Sie in der Jury jetzt tätig sind. »Das sind inzwischen Psychogramme der beteiligten Personen.« Ja, als ich vor fünf Jahren das erste Mal in der Jury war, fielen mir relativ viele Beiträge auf, die – im Fußball würde man sagen – aus Standardsituationen entstanden sind. Da ist irgendein soziales Projekt in einer Gemeinde, da wird jemand hingeschickt, der schreibt dann einen Text drüber, warum das so toll ist, und dann entdeckt er, dass es den Bosch-Preis gibt, und dann schickt er das ein. Es ist im Grunde ein Bericht über ein kleines lokales Ereignis ohne jeden Ehrgeiz der Vertiefung gewesen. Und das hat sich nach meiner Beobachtung total geändert. Die Texte sind länger und intensiver geworden. Man merkt, dass die Leute, die sie schreiben, versuchen, soziale und bürgerschaftliche Projekte innerlich zu durchdringen und zu begreifen, wie die Leute ticken. Das sind inzwischen Psychogramme der beteiligten Personen geworden, und zwar der Handelnden wie der »Behandelten«. Und das alles ist verbunden mit einem wirklich gewaltigen Qualitätssprung in den Beiträgen. Stellen Sie fest, dass inhaltliche Entwicklungen im Engagement tatsächlich aufmerksam von den Medien beobachtet werden? C. S. D.: Ich habe immer wieder die Bandbreite des Engagementfeldes in den Berichten bestaunt, denn auch wir, sozusagen die Fachleute, krieG. A.: 10 Zehn Jahre Journalistenpreis Bürgerschaftliches Engagement gen den Überblick nicht so ohne weiteres. Durch die Lektüre der Beiträge habe ich quasi eine Querschnittsanalyse bekommen über das, was es jetzt gerade an Entwicklungen, auch Ups and Downs gibt. Wo hat sich zum Beispiel eine Bürgerinitiative nicht durchsetzen können? Wir haben ja nicht nur die Erfolgsberichte drin. Es gibt auch Akteure, die versuchen, Netzwerke im bürgerschaftlichen Engagement zusammenzuhalten und Fachlichkeit zu vermitteln, und die spielen eben auch eine Rolle. Das sieht man dann wie in einer Längsschnittanalyse: Wir können Strukturentwicklungen erkennen und politische Resonanzen. Und das ist dringend und bitter notwendig, denn die einzelne Initiative würde auf Dauer nicht durchhalten, das ist so. »Diese Zivilcourage, sich selber zu retten, …, das fand ich so beeindruckend.« Gab es irgendwelche besonderen Überraschungen? G. A.: Für mich die größten Überraschungen sind eigentlich immer die Geschichten, die gar nicht so ganz spektakuläre Riesenaktionen schildern, sondern ganz kleine, irgendwo selbstverständliche Dinge. Wir haben in diesem Jahr einen Text ausgezeichnet, der behandelt den Versuch einer gar nicht so richtig konsolidierten Bürgerinitiative einer kleinen Stadt, in der die Sparkasse geschlossen worden ist und in der das letzte Geschäft geschlossen worden ist, zu erreichen, dass es in dieser kleinen Gemeinde wieder ein Geschäft gibt. Das ist im Grunde eine Kleinigkeit, aber für das Zusammenleben in einer kleinen Gemeinde natürlich unendlich wichtig. Und das hat der Verfasser begeisternd geschildert, das ist mir einfach jetzt in Erinnerung geblieben. C. S. D.: Aber das ist toll, das ging mir sofort unter die Haut. Diese Zivilcourage, sich selber zu retten, aber auch etwas für uns als Gesellschaft zu retten, das fand ich so beeindruckend. Und es war einfach wunderschön, sehr subjektiv, sehr nah beschrieben worden. Wenn alle Prognosen stimmen, werden wir das vermutlich noch öfter haben, das Dorf als »Auslaufmodell«. Eine Reihe von Einsendungen sind nicht nur Berichterstattung über bürgerschaftliches Engagement, sondern sind auch eine aktivierende Aktion von Zeitungen selbst. Herr Appenzeller, finden Sie, dass das mit zum journalistischen Auftrag gehört, und hat man dann bessere Karten für den Preis? G. A.: Wenn es zum journalistischen Auftrag gehört, nicht nur zu berichten, sondern Entwicklungen und Missständen nachzuspüren, dann gehört es sicherlich auch dazu, selber einen aktiven Beitrag zu leisten, um sie zu beseitigen. Das macht der Tagesspiegel auch, grade in der Vorweihnachtszeit. Ich fände es nicht gut, wenn Zeitungen die Rolle von Bürgerbewegungen einnehmen würden, aber mal einen Anstoß zu geben oder Geld und Kräfte für etwas zu sammeln, das fi nde ich dann schon gut. Ich nenne Ihnen ein praktisches Beispiel. Es gibt in vielen Städten so genannte Lesepaten, z.B. für Schulklassen mit hohem Migrantenanteil. Dass eine Zeitung darüber berichtet, um zu erreichen, dass sich mehr Leute daran beteiligen, das halte ich für eine Selbstverständlichkeit. Der Journalistenpreis Bürgerschaftliches Engagement darf allerdings nicht das soziale Engagement der Zeitung honorieren, sondern der muss die journalistische Qualität honorieren, das bleiben zwei verschiedene Sachen. Eine Zeitung kann berühren, deswegen muss das, was sie darüber schreibt, nicht unbedingt journalistisch hervorragend sein. »Der Beruf des Journalisten ist ohne Neugier nicht denkbar.« Frau Schaaf-Derichs hat der Zunft hervorragende Noten ausgestellt, was die Beobachtungsgabe der Journalisten betriff t. Wie finden Journalisten ihre Themen? G. A.: Das setzt voraus, dass ein Journalist bereit ist, mit wachen Augen und Ohren durch eine Gesellschaft zu gehen. Es setzt voraus, dass sich ein Journalist möglichst selber auch irgendwo engagiert, denn nur dann kriegt er Verwandlungen, Wandel in der Gesellschaft überhaupt mit. Es gehört einfach Neugier dazu. Der Beruf des Journalisten ist ohne Neugier nicht denkbar. Und Leute, die vor sich hin, in ihrem Büro vor sich hinbrüten, morgens mit dem Auto in die Firma fahren, abends mit dem Auto nach Zehn Jahre Journalistenpreis Bürgerschaftliches Engagement Hause fahren und die Zeit der gesellschaftlichen Kontakte pro Tag so minimal wie möglich halten, das sind schlechte Journalisten, die kommen auf diese Themen natürlich auch nicht. Also Bilanz einer etwas zu lang geratenen Antwort: Neugier, Neugier, Neugier. Frau Schaaf-Derichs, tun die Initiativen schon das Richtige, um von solchen neugierigen Journalisten gefunden zu werden? C. S. D.: Also eins hat sich sicherlich sehr verbessert, und das ist die Präsenz im Internet. Auch kleine Initiativen können doch das, was sie tun, jetzt sehr viel stärker einfach darüber publizieren. Ich habe selber schon gestaunt, welche internationalen Besuchsgruppen uns über bestimmte Suchworte gefunden haben. »Sie können in einer normalen deutschen Regionalzeitung genauso gute Texte schreiben wie in einem großen Magazin.« Seit dem letzten Jahr sind auch Beiträge aus Zeitschriften zugelassen. Die Stiftung hatte den Preis lange nur für Zeitungen ausgeschrieben, da man die Arbeitsbedingungen für Journalisten von Tageszeitungen nicht mit denen großer Journale und Magazinen vergleichen kann. Finden Sie, dass das jetzt gelingt? G. A.: Ich halte es fast schon für ein bedenkliches Vorgehen, wenn man eine bestimmte Kategorie ausschließt, von der man vermutet, dass sie qualitativ so gut ist, dass die anderen dagegen nicht bestehen können. Ich fi nde die Entscheidung völlig richtig. Die Preise, die wir in diesem Jahr vergeben haben, bestätigen das ja. Wir haben auch in ganz normalen Regionalzeitungen sehr viel Qualität gefunden. Zum Beispiel die Reportage über jemanden, der als Musiker in ein Krankenhaus gegangen ist, in eine Station mit sehr vielen todkranken Kindern, eine unglaublich anrührende Geschichte. Oder über eine Frau, die seit Jahren in ein Jugendgefängnis geht, um mit jungen Gefangenen zu arbeiten. Ich behaupte, Sie können in einer normalen deutschen Regionalzeitung genauso gute Texte schreiben wie in einem großen Magazin, wenn Sie einen Chefredakteur haben oder 11 einen Ressortleiter haben, der Ihnen den Freiraum dafür einräumt, bzw. wenn Sie als Journalist einfach bereit sind, sich selbst so zu quälen, dass sie abends mal eine Stunde weniger in die Kneipe gehen und morgens eine Stunde früher aufstehen, um die Geschichte rund zu schreiben, die sie schreiben wollen. Also es geht. Das ist eine gute Überleitung zur Zukunft. Der Preis wird ab 2008 auf Beiträge aus Radio und Fernsehen erweitert. Welche Erwartungen verbinden Sie damit, wird auch das gehen? C. S. D.: Ich würde erst mal die gleichen Effekte erwarten, die wir beim Journalistenpreis am Anfang erwartet hatten, nämlich einfach eine weitere Öff nung des Mediums für das Thema bürgerschaftliches Engagement. Beim Fernsehen geht es um »Hingucker«, darauf muss sich auch unsereins bei der Präsentation der eigenen Arbeit einstellen. Da muss vieles geschärft und auf den Punkt gebracht werden. Ich fi nde das gut. Die Medien bringen also auch die Qualität von bürgerschaftlichen Initiativen voran? C. S. D.: Es gibt ganz hohe Affi nitäten von Projekten, mal ins Fernsehen zu kommen. Aber da heißt es: Könnt Ihr gute Bilder produzieren? Ich habe auch schon mit einigen Ehrenamtlichen Sendungen vorbereitet, da hieß es, ganz viel gut zureden und sagen: »Du schaffst das, und das wird schon!«. G. A.: Die Ausweitung ist ein Experiment. Die klassischen Journalistenpreise wie Kisch-Preis, Wächter-Preis der Tagespresse, TheodorWolf-Preis sind alles reine Printpreise, aber wir haben ein Thema, soziales bürgerschaftliches Engagement, das über den Printbereich hinausgeht, und von diesem Thema ausgehend fi nde ich es richtig, einmal zu schauen, was tut sich da im Bereich Rundfunk und Fernsehen an Prämierungswürdigem. Gucken wir einfach mal, was kommt. Die Fragen stellte Viola Seeger, Robert Bosch Stiftung. 12 Stimmen von Preisträgern Daniel Boese Kai Feldhaus Bernd Hauser Kerstin Humberg Constanze Kindel Martin Lugauer Stimmen von Preisträgern Daniel Boese, Marion-Dönhoff-Förderpreis 2005 Der Preis hat meinen Blick geschärft für das Bedürfnis der Bürger beteiligt zu werden. Wie bei der Diskussion um die Bäume, die am Berliner Landwehrkanal gefällt werden sollten, über die ich mehrfach geschrieben habe. Die Berliner wollen die Kanalsanierung nicht den Experten überlassen, sondern sich selbst engagieren. Martin Lugauer, 2. Serienpreis 2001 Mit der Serie im Rücken ist es über den Chefredakteur tatsächlich so gekommen, dass hier im Hause das Freiwilligenzentrum Mittelhessen eingerichtet wurde. Regelmäßig erscheint eine ganze Seite bei der Lokalredaktion Wetzlar über dessen Aktionen. Die Zeitung ist also weiterhin dabei. Kai Feldhaus, 1. Preis 2004 Über den Bosch-Preis habe ich mich sehr gefreut, weil dieses Thema eine unheimlich große Relevanz hat. Ich fi nde erschreckend, wie arm Berlin hinter seiner schmucken Fassade ist. Das hatte ich erst durch die Reportage über die Berliner Tafel richtig gemerkt. Paul-Josef Raue, 1. Serienpreis 2002 Wir hatten das Preisgeld dazu benutzt, selbst einen »Gemeinsam-Preis« fürs Ehrenamt zu stiften, den die Redaktion seitdem jedes Jahr verleiht. Ich kann mich noch an die Abstimmung erinnern, als gefragt wurde: »Na, fahren wir mal ein Wochenende nach Mallorca?« Dann kam der Vorschlag: »Sollen wir nicht selbst einen Preis stiften?« Jedes Jahr im Frühjahr stellen wir jetzt 50 Engagierte mit Porträts vor, eine kleine Jury wählt daraus zehn Personen aus und dann wählen unsere Leser per TED den Preisträger. Die Verleihung läuft ab wie beim »Oscar«, und der Braunschweiger Dom ist gefüllt, wie sonst nur zu Heiligabend. Dies sehr emotionale Ereignis ist schon zur Institution im Braunschweiger Land geworden. Bernd Hauser, 2. Preis 2001 Die Quintessenz ist immer wieder das bürgerschaftliche Engagement von Menschen vor Ort. Man darf nicht alles den gängigen Politikgremien überlassen. Kerstin Humberg, Marion-Dönhoff-Förderpreis 1998 Mich hat der Preis motiviert, das Glück ein bisschen herauszufordern. Ein Jahr später habe ich zum Beispiel den Juniorenpreis der Hans-Seidel-Stiftung gewonnen. So ein Preis zieht eine ganze Reihe toller Chancen, Möglichkeiten und Kontakten nach sich. Constanze Kindel, Marion-Dönhoff-Förderpreis 2003 Das Thema bürgerschaftliches Engagement ist gerade bei Tageszeitungen sehr präsent. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass dafür immer gerne eine Plattform geboten wird, wenn man es entsprechend vermittelt. Birgit Schlieper, 2. Preis 2002 Es hängt an der Person, an jedem einzelnen Redakteur, ob er bereit ist, auch über den normalen Terminjournalismus hinaus dazu etwas mit Enthusiasmus zu machen. Denn es ist leider so, dass bei allen Tageszeitungen immer mehr nur auf Termine geschielt wird. Stimmen von Preisträgern Paul-Josef Raue Birgit Schlieper Andreas Speen Andreas Speen, 2. Preis 2004 Unsere Zeitung hat viel stärker Menschen in den Mittelpunkt gerückt, und es heißt jetzt für uns, näher an die Menschen ranzugehen. Das macht es einfacher, über bürgerschaftliches Engagement zu berichten. Dorothée Stöbener, 2. Preis 2000 Wenn man sich einmal für ein Thema wie Bürgerschaftliches Engagement interessiert hat, glaube ich, wird es einen auch in der Zukunft beschäftigen. Auf die Arbeit in einem Reiseressort übertragen heißt das, dass man immer wieder die ökologischen wie sozialen Aspekte des Tourismus aufgreift. Das tun wir. (Im vergangenen Jahr wurde unsere Redaktion dafür mit dem signaTour 2006 – Medienpreis für einen Tourismus mit Zukunft ausgezeichnet.) Sibylle Thelen, 1. Preis 2003 Ich verfolge, was bei uns und in anderen Zeitungen zu dem Thema bürgerschaftliches Engagement geschrieben wird, kommentiere die Berichterstattung oder mache Vorschläge, wie man Themen anpacken kann. Dabei beobachte ich, dass das Thema bei uns in der Redaktion im allgemeinen Bewusstsein sehr gut verankert ist. Dennoch liegt es immer auch an Personen, an privaten Erfahrungen, die man zum Thema macht. Bei mir war es die Arbeit im Elternbeirat, und davor die im Vorstand einer Eltern-Kind-Gruppe. Unsere Schwerpunktbeilage damals hat in der Redaktion Aufmerksamkeit erregt. Wir haben darauf geach- Dorothée Stöbener 13 Sibylle Thelen tet, das Thema in einen politischen, gesamtgesellschaftlichen Kontext einzubetten. Deutlich werden sollte: es geht nicht nur darum, Butterbrote bei Kirchengemeinderatssitzungen zu schmieren oder in der Schule irgendwelche Wände zu streichen. Sondern es geht darum, dass diese vielen kleinen Handlungen das große Ganze mit voranbringen. Ich denke, dass die Sparpolitik und die Reformen das Bewusstsein für den Wert des bürgerschaftlichen Engagements gestärkt haben. Ein wichtiges Anliegen dabei muss auch sein, Außenseiter und Randgruppen der Gesellschaft einzubeziehen. Wen grenzen wir denn alles aus? Die Herausforderungen, die hier liegen, kann der Staat alleine nicht bewältigen. Da sind die Bürger mitgefordert, jeder Einzelne in seinem Umfeld. Es geht aber nicht allein um das konkrete Engagement vor Ort, es geht auch darum, gesellschaftliche Bindungskräfte zu stärken und dies ins Bewusstsein zu bringen. Da sind auch die Medien gefordert. Auch sie können dazu beitragen, dass das Verantwortungsgefühl für gemeingesellschaftliche Belange gestärkt wird. Eine Zeitung kann da sehr gut mitwirken. Der dreitausendste Beitrag über einen engagierten Einzelnen hilft vielleicht gar nicht so viel. Es sind die neuen originellen Ansätze, die man als Redakteur suchen muss. Wichtig ist es auch, die grundsätzliche Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements immer wieder hervorzuheben. 14 Die Preisträger 2007 Die Preisträger 2007 1. Preis: Christian Sywottek Christian Sywottek »Aus dem Nichts« brand eins, 01.06.2007 Laudatio von Warnfried Dettling, Publizist, Berlin Ein Dorf stirbt. Ein Dorf lebt. Dazwischen liegt eine wunderbare Geschichte. Sie ist so einfach wie außergewöhnlich. Man möchte wünschen, dass sie durchs Land läuft und an vielen Orten nachgeahmt wird. Die Geschichte handelt von einem Dorf, einem Laden und von engagierten Bürgern. Das Dorf heißt Barmen, hat 1400 Einwohner und liegt auf halber Strecke zwischen Köln und Aachen. Im Jahre 2001 machte die Sparkassenfi liale zu – Ende einer Entwicklung, wie sie an vielen Orten auf dem Land zu beobachten ist. »Erst macht ein Laden zu, dann noch einer. Bis keiner mehr bleibt. Danach gibt es drei Möglichkeiten für die Zurückgelassenen: resignieren. Meckern. Oder selbst machen.« In Barmen haben sie nicht resigniert, nur wenig gemeckert und viel selbst gemacht. Und so kam am Ende neues Leben in ein verlassenes Dorf. Christian Sywottek hat diese wunderbare Geschichte in einer aufregenden Reportage festgehalten. Sie ist im Juni 2007 in dem etwas anderen Wirtschaftsmagazin brand eins erschienen, das sich über Jahre hinweg große Verdienste dabei erworben hat, soziale Phantasie in Wirtschaft und Gesellschaft zu befördern. Sywotteks Reportage trägt den unscheinbaren Titel »Aus dem Nichts«, was insofern nicht stimmt, als am Anfang die Idee, die Wut über das langsame Sterben eines Dorfes und dann die Entschlossenheit erst eines Einzelnen, dann von immer mehr und schließlich von Vielen gestandenen haben, diese Entwicklung nicht so einfach hinzunehmen. Und am Ende gab es nicht nur einen Dorfladen, in dem man alles Mögliche einkaufen kann. Entstanden war auch ein Mittelpunkt sozialen Lebens, an dem sich die Menschen begegneten. Es gab neue Arbeitsplätze, ein Arzt ließ sich wieder in Barmen nieder und auch die Alten konnten an ihrem vertrauten Ort bleiben. Die Jury war sich rasch einig: Diese Geschichte hat den ersten Preis verdient. Beides ist bemerkenswert: Was sie erzählt und wie sie es erzählt. Ganz beiläufig gelingt es dem Autor zu illustrieren, worauf es bei einem erfolgreichen Unternehmen dieser Art ankommt. Es braucht dazu ein Konzept, das aus Betroffenen Beteiligte macht. Es braucht eine Vernetzung, die ganz unterschiedliche Leute zusammenbringt und auf ein gemeinsames Ziel hin koordiniert. Es geht nicht ohne Phantasie in Finanzfragen, die hier geschickt Spenden und Kredite der Bürger mit der Organisation von (bezahlten) Dienstleistungen kombiniert hatte. Und schließlich: Ohne Qualität (der Angebote im Laden) gibt es keinen Erfolg. Gute Absichten machen noch kein gutes Projekt. Alles in allem: ein starkes Stück über und von Selbsthilfe und Engagement in unserer Gesellschaft. Die Preisträger 2007 Christian Sywottek, Jahrgang 1970, studierte nach einer Ausbildung zum Stahlschiff bauer auf der Volkswerft Stralsund an den Universitäten Bremen und Antwerpen Sozialarbeitswissenschaft, Soziologe und Politik. Im Anschluss volontierte er bei der Leipziger Volkszeitung und arbeitete als Redakteur für die Frankfurter Rundschau. Seit 2001 ist er freier Journalist und schreibt für Medien in Deutschland, Österreich und in der Schweiz, darunter GEO special, GEO Saison, Merian und Weltwoche. Im Januar 2006 wurde Christian Sywottek Vertragsautor bei brand eins. 15 16 Die Preisträger 2007 Die Preisträger 2007 2. Preis: Jan-Geert Wolff Jan-Geert Wolff Jan-Geert Wolf, 34, studierte in Mainz Germanistik, Politik und Volkskunde und begann parallel zum Studium für die Allgemeine Zeitung Mainz zu schreiben. Er absolvierte ein Volontariat in der Verlagsgruppe Rhein Main und arbeitete dort als Redakteur. Später spezialisierte er sich als freier Journalist auf regionalen Kulturjournalismus, insbesondere klassische Musik und Kleinkunst. »Der Musikmann kommt!« Rhein Main Presse, 14.07.2007 Laudatio von Gerd Appenzeller, Der Tagesspiegel, Berlin Ich habe in der Vita von Jan-Geert Wolff eine Anmerkung und ein Bekenntnis gefunden, und beide zusammen liefern vielleicht den Schlüssel zur Entstehungsgeschichte dieses Textes, von der offenkundigen journalistischen Begabung des Verfassers einmal ganz abgesehen. Während seines Zivildienstes beim Diakonischen Werk in Mainz ist er mit Menschen in Berührung gekommen, die Hilfe und Zuwendung brauchten. Das hat ihm, so scheint mir, die Augen geöff net für das Leid und dafür, wie man es lindern kann. Und dann dies: Während seiner Schulzeit ist er im Windsbacher Knabenchor zum Chorsänger ausgebildet worden. Er bezeichnet sich selbst als begeisterten Musiker und Sänger, sein Instrument ist die Querflöte. Der Text »Der Musikmann kommt« befasst sich mit beidem, mit dem Leid von Menschen, wie man ihnen helfen kann, und welche Rolle die Musik dabei spielt. JanGeert Wolff bringt uns einen Mann, einen Musiker, nahe, der regelmäßig ein Kinderkrankenhaus besucht und sich dort vor allem um krebskranke Kinder kümmert. Wir erfahren, wie dieser Gast den von Schmerzen geplagten, über viele Wochen ins Bett gezwungenen Kindern für einige Stunden ihr Leid und ihre Traurigkeit buchstäblich hinwegspielt, wie er sie mit seiner Musik verzaubert, und dass dieser Zauber manchmal auch bis an ein viel zu frühes Lebensende halten kann. Der Verfasser schildert das alles in einem ruhigen und undramatischen Ton, in einer klaren und schlichten Sprache. Er schmeißt sich weder an diese Kinder noch an seine Leser heran, er will uns nicht zu Tränen rühren – aber anrühren, berühren will er uns schon. Dass dies gelingt, vor allem auch, dass dies unter den gewiss nicht leichten Produktionsbedingungen einer Regionalzeitung gelungen ist, schien der Jury einen Preis wirklich wert zu sein. Die Preisträger 2007 3. Preis: Bernd Volland »Am Anfang stand der Traum« 17 Bernd Volland Bernd Volland, Jahrgang 1973, studierte in Augsburg Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft und Psychologie, nebenbei schrieb er als freier Mitarbeiter für das Füssener Blatt der Allgäuer Zeitung. Im Anschluss daran besuchte er die Henri-Nannen-Schule in Hamburg. Seit 2002 ist er Redakteur beim stern. Dort arbeitete Bernd Volland zunächst für stern Biografie, wechselte dann zum Sport im stern-Magazin und schreibt seit Dezember 2006 für das Gesellschafts-Ressort. Im Jahr 2002 erhielt er den HelmutStegmann-Preis. stern, 24.05.2007 Laudatio von Elisabeth Niejahr, Die Zeit, Berlin Kürzlich erzählte mir ein Onkel, der jetzt langsam auf die siebzig zugeht, von einem Klassentreffen. Er hatte seine früheren Schulkameraden lange nicht gesehen, und auf der Suche nach dem richtigen Raum in der vereinbarten Gaststätte steckte er den Kopf durch die Tür und wäre danach beinahe weitergegangen zum nächsten Zimmer: »Da saßen ja nur lauter Weißhaarige.« Mein Onkel, das muss ich dazu sagen, hat selbst nicht nur weiße Haare, sondern davon auch sehr wenige. Aber das war ihm in diesem Moment nicht bewusst, und so geht es den meisten Menschen, die älter werden. Alt sind immer nur die anderen. Bei einer Umfrage von Die Zeit, die unsere Zeitung gezielt bei über 55-Jährigen gemacht hatte, sagten mehr als siebzig Prozent kürzlich, sie fühlten sich nicht nur deutlich jünger, als sie sind, sondern glauben sogar, dass sie so aussehen – nämlich im Schnitt acht Jahre. Das könnte man im Einzelfall immer für eine erfreuliche Entwicklung halten – aber wenn drei Viertel einer Altersgruppe so antworten, ist es doch eher ein bedenkliches Zeichen von einem kollektiven Realitätsverlust, es heißt ja nur: So wie die anderen Alten bin ich nicht. Es sagt etwas über unser – oft falsches – Bild vom Alter. Bernd Volland hat eine hervorragende Geschichte über ein Mehrgenerationenhaus bei Bielefeld geschrieben. Auch ohne die eben beschriebene Neigung zum Weg- sehen hätte der Beitrag aus meiner Sicht einen Preis verdient, er ist hervorragend geschrieben und recherchiert, gut beobachtet und auch lehrreich. Aber gerade weil gute Artikel über das Alter besonders selten sind, freue ich mich ganz besonders über diesen Preis. Die meisten Medien berichten – wenn überhaupt entweder über dynamische junggebliebene Ältere oder gleich über Skandale in Pflegeheimen. Alter ist meistens ganz furchtbar oder ganz harmlos. Und wenn dann doch einmal eine Reportage über den Alltag alter Menschen geschrieben wird, ist das oft ein Text voller Klischees. Bernd Volland hat einen sehr unsentimentalen Text geschrieben, die Alten, von denen er erzählt, sind sperrig, kauzig, gelegentlich grantig, und das beschriebene Mehrgenerationenhaus ist keine kuschelige Angelegenheit, in der alle sich einfach nur gut verstehen. Im Prinzip besteht das Projekt aus zwei Teilen – einer Etage für die Jüngeren, einer für die Älteren, die nicht von den Jungen, sondern von professionellen Pflegern betreut werden. Die meisten Jungen leben mit ihren Familien in dem alten Bauernhaus, weil es dort sehr schön ist und die Mieten niedrig sind, nicht wegen der Alten. Lieber Herr Volland, sie merken schon: Ich fi nde, Sie haben diesen Preis wirklich verdient, ich möchte Ihnen zum Schluss im Namen der Jury noch einmal danken für Ihren tollen Beitrag und zurufen: machen Sie weiter so, dann war das bestimmt nicht die letzte Auszeichnung! 18 Die Preisträger 2007 Die Preisträger 2007 Marion-Dönhoff-Förderpreis: Markus Wanzeck Markus Wanzeck »Profit macht nur der Kiez« taz, 18.11.2006 Laudatio von Carola-Schaaf-Derichs, Geschäftsführerin Treffpunkt Hilfsbereitschaft e.V. Das Bürgerschaftliche Engagement gilt als idealistisch schön, jedoch auch als »brotlose Kunst« im weitesten Sinne. Die Enquetekommission zur Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements hat defi niert, dass es sich hierbei um freiwillig, gemeinwohlorientiert und unentgeltlich erbrachte Beiträge zu einer solidarisch verbundenen Gesellschaft handelt. Seit unserer Jurysitzung 2007 aber können wir dem etwas hinzufügen: Engagement kann sehr wohl einem ökonomischen Zweck dienen. Wie dies, so werden Sie sich fragen. Unser Preisträger für den Marion-Dönhoff-Förderpreis, den ich noch nicht gleich preisgeben will, hat unter dem Stichwort »Solidarische Ökonomie« kräftig recherchiert und ist im Berliner Bezirk Wedding, in dem jeder dritte Bewohner nicht-deutscher Herkunft ist, fündig geworden: Im Sprengelhaus im Sprengelkiez wurde vor sechs Jahren die Stadtteilgenossenschaft Wedding gegründet. Damals schienen alle Zeichen auf Verfall, Verwahrlosung und Agonie im Sprengelkiez hinzudeuten. Ein engagierter und gut vernetzter Landschaftsbauer namens Willy Achter wollte dies nicht hinnehmen. Sein Ziel: das »Ausbrechen aus der sozialen Abwärtsbewegung« setzte den Auftakt für eine lokale Beschäftigungsinitiative. Heute sind hier 90 Aktive in einer Genossenschaft mit 19 Mitgliedsbetrieben und gemeinnützigen Organisationen tätig, in Maler- und Lackierbetrieben, in Dienstleistungsagenturen und im Stadtteilmarketing. Und das Beste daran ist, dass für die Aufnahme einer Beschäftigung nur der eigene, freie Wille zählt: die Freiwilligkeit also! Das Engagement für den Kiez, die Motivation zur Veränderung, die Freude am Gewinn im Sinne des Not-for-Profit-Prinzips. Markus Wanzeck, studierter Philosoph mit den Nebenfächern Soziologie und Religionswissenschaften, sowie ehemaliger »Fachschaftler« und »Sommerfestler« der Maximilian-Ludwigs-Universität zu München hat sich nach meinen Recherchen u.a. auch umfassend mit dem Thema der »Freiheit auf Basis der Natur« beschäftigt, dies im Rahmen einer Publikationsbegleitung. Ein Mensch also mit einem unverstellten Blick für die Anfänge im Kleinen, im nachbarschaftlichen Milieu, die zu Großem, Gesellschaftlichem führen können. Markus Wanzeck hat uns den ganzen bürgergesellschaftlichen Charme der solidarischen Ökonomie nahe gebracht: mit klaren, gut erklärten Einblicken in das Wer , Wie, Was des Genossenschaftslebens; mit fröhlichen Momentaufnahmen aus einer langen und ehrgeizigen Auf- Die Preisträger 2007 Markus Wanzeck, 28 Jahre, studierte Philosophie, Soziologie und Vergleichende Religionswissenschaft in München und Sydney. Nach dem Studium 2006 absolvierte er Praktika beim Goethe-Institut in Karachi, Pakistan, und bei der taz. Seit April 2007 besucht er die Zeitenspie- gel-Reportageschule Günter Dahl in Reutlingen. Die praktischen Stationen seiner Ausbildung verbrachte er beim Stern im Ressort Gesellschaft und bei stern.de. Markus Wanzeck veröffentlichte zudem Beiträge in Die Zeit und in Sonntag aktuell. bauarbeit für das Sprengelkiezprojekt, mit einem sympathischen Blick auf den »Local Hero«, der dies alles aus dem bürgerschaftlichen Boden gestampft hat. Und ohne Pathos oder gar Euphorie lässt er seine Protagonisten ihren Erfolg kommentieren: die Menschen fühlen sich wieder mehr zu Hause und verantwortlich in ihrem Kiez. Sein deskriptives Schreiben hat Markus Wanzeck als Stilmittel sehr gut entfaltet und eingesetzt, er gehört zu den Journalisten, die ohne Übertreibungen auskommen. Das passt gut zusammen mit der Philosophie der taz, im Übrigen eine Genossenschaft, die als Kaderschmiede für fachlich exzellenten Nachwuchs bekannt und anerkannt ist. Die Jury befand, dass Markus Wanzeck genau zu diesem exzellenten Nachwuchs zu zählen ist und ihm mit dem Artikel »Profit macht nur der Kiez« der MarionDönhoff-Förderpreis 2007 gebührt. Wir alle gratulieren Ihnen, Herr Wanzeck, dazu ganz herzlich. 19 20 Die Preisträger 2007 Die Preisträger 2007 Serienpreis: Michael Ohnewald, Thomas Faltin Michael Ohnewald Thomas Faltin »Die Engagierten« Stuttgarter Zeitung, 15.09. bis 15.11.2006 Laudatio von Sergej Lochthofen, Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen Was haben ein ehemaliger Abteilungsleiter bei Alcatel, ein pensionierter Drucker mit seiner Frau und eine einst vielbeschäftigte Spezialistin für Kontaktlinsen gemeinsam? Die Antwort auf diese Frage ist nicht sonderlich schwer: Zum einen gehörten sie zu der großen Zahl stiller Stars, die täglich in Deutschland, ohne auf Geld und Zeit zu achten, Menschen helfen, zum anderen sind sie die Helden einer Serie von Beiträgen in der Stuttgarter Zeitung. Einer Reihe von Texten, die sich mit dem Alltag, den Herausforderungen und den Fairnessen bürgerschaftlichen Engagements in diesem Land befassen. Sie und weitere Porträtierte leisten in einer Gesellschaft, in der fast alles auf Effizienz und Wirtschaftlich- keit getrimmt wird, etwas ganz Unerhörtes: Sie kümmern sich um andere. Oft genug nicht einmal für ein Dankeschön. Für die Autoren Michael Ohnewald und Thomas Faltin ein dankbarer Stoff, für den man mit gutem Recht Platz und Zeit nimmt. Beides ist in einer Regionalzeitung aufgrund der äußeren Zwänge nicht immer zu haben. Mit ruhigem Ton und auf vordergründige Rührseligkeit verzichtend, entstehen Skizzen vom Rand der Gesellschaft, die auch in dieser schnelllebigen Zeit mit Sicherheit einen aufmerksamen Leser fi nden. Was die Autoren hier liefern, ist nicht das übliche Fastfood-Menü. Bei ihren Themen geht es um Menschen, die im Räderwerk nicht funktionieren, und jene, die ihnen helfen, ohne dabei einen Karriereschub im Auge zu haben, ohne, dass es irgendwie sexy ist. Dem Inhalt der Beiträge entspricht eine großzügige Die Preisträger 2007 Michael Ohnewald, 42, studierte Kommunikationswissenschaften an der Freien Universität Berlin und begann anschließend seine journalistische Laufbahn bei der Backnanger Kreiszeitung. 1995 wechselte er als Redakteur zur Stuttgarter Zeitung. Seit 2007 ist Michael Ohnewald dort als leitender Redakteur für die lokale Reportageseite verantwortlich. Er schreibt außerdem Serien und Artikel für die Seite 3. Für seine Beiträge in der Stuttgarter Zeitung ist der Journalist und Buchautor mehrfach ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Konrad-Adenauer-Preis und dem Wächterpreis der Tagespresse. Thomas Faltin, Jahrgang 1963, absolvierte ein Volontariat bei der Bietigheimer Zeitung und studierte im Anschluss Geschichte, Romanistik und Germanistik an der Universität Stuttgart. Nach seiner Promotion in Geschichte war er am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung tätig. Als Redakteur bei der Stuttgarter Zeitung berichtete er ab 1998 und bearbeitete mehrere Jahre die Themen Gesundheit und Soziales. Seit 2006 ist er stellvertretender Leiter der Lokalredaktion. Thomas Faltin ist Preisträger des Caritas-Journalistenpreises Baden-Württemberg sowie des Diakonie-Journalistenpreises in Baden und Württemberg. Gestaltung, in der sich die Helfer und auch jene, denen geholfen wird, wiederfi nden. Eine die Komposition der Seite abschließende Pinnwand liefert darüber hinaus direkten Nutzwert, der über den Tag der Erscheinung des Beitrages hinaus reicht. So wird nicht nur über ein gutes Beispiel engagierter Bürger berichtet, sondern neues Engagement initiiert. Was will man mehr. 21 22 Ausgezeichnete Beiträge 1. Preis: Christian Sywottek »Aus dem Nichts« Brand eins, 01.06.2007 Kein Laden, keine Bank, kein Arzt. Das war Barmen. Ein Dorf wie viele, vom Aussterben bedroht. Bis die Barmener sich zusammentaten. Es gibt Dinge, die kann man nur sehr schwer verstehen. Barmen zum Beispiel, Jülich-Barmen. Ein Dorf mit 1400 Einwohnern inklusive Kindern, auf halber Strecke zwischen Köln und Aachen. Ein properes Dorf mit soliden Häusern aus braunrotem Backstein, einer trutzigen Kirche, sauberen Straßen und gepflegten Vorgärten. 1939 lebten in Barmen 888 Menschen, 1961 waren es 1109, zehn Jahre später 1240, im Jahr 1987 schließlich 1300. Als Barmen klein war, gab es noch Geschäfte im Ort. Vier Lebensmittelläden, zwei Fleischer, zwei Bäcker. Es gab auch mal eine Sparkassenfi liale. Doch Anfang der neunziger Jahre schloss der letzte Laden. Die Leute in Barmen sagen, das liege an den Autos. Wie fi x sei man die paar Kilometer weiter in Düren oder Jülich, wo es die großen Supermärkte gibt. Es scheint so normal. Erst macht ein Laden zu, dann noch einer. Bis keiner mehr bleibt. Danach gibt es drei Möglichkeiten für die Zurückgelassenen: resignieren. Beschweren. Oder selbst machen. Resignieren, meckern, sich einrichten – das machten auch die Barmener jahrelang. Doch schließlich taten sie selbst etwas: Sie eröff neten einen Laden, 20 Schritte breit, 25 Schritte lang, in dem sie Brot und Wurst, Waschmittel und Schreibhefte, Mineralwasser und Bier kaufen können. In dem sie ihre Wäsche zur Reinigung geben und diverse Amtsformulare in die Stadt schicken können. Wo nun bald sogar ein Arzt praktizieren wird. Wo sich Menschen begegnen, die sich jahrelang höchstens in der Kirche trafen, zum Gottesdienst oder auf Beerdigungen. Und wo sie Arbeit fi nden. Sie haben das ohne Fördergelder geschaff t, aus eigener Kraft. Die Geschichte des Ladens in Barmen ist eine Geschichte darüber, was alles geht, wenn man nicht blöd ist und nicht knauserig. Wenn man zusammenhält und sich Hilfe holt. Und wenn man auf den allgemeinen Nutzen achtet. Am Anfang steht eine Idee und keine Ahnung, dann fängt man an, und es geht los Im Jahr 2001 verliert Barmen die letzte Verbindung zur Außenwelt: Die Sparkasse schließt ihre Filiale. Heinz Frey, heute 52, spürt die Wut in sich aufsteigen. Lehrer Frey sitzt im Jülicher Rat. Er ist ein sportlicher Mann mit grauem Haar, grauem Bart und Lachfalten um die braunen Augen, die größer werden, wenn er in Fahrt kommt. »Das wollte ich mir nicht gefallen lassen. Die alten Leute in Barmen haben die Sparkasse groß gemacht, haben ihre Häuser mit deren Krediten gebaut, und plötzlich ließ man sie hängen.« Die Wut wirkte wie eine Initialzündung. »Als wir ganz alleine standen, wurde uns bewusst, was uns alles wirklich fehlt. Zum Beispiel ein Laden. Wir haben gemerkt: Wir haben gepennt.« Er sagt: wir. Doch damals war es vor allem: ich. Frey dachte über sein Dorf nach und erkannte: Barmen steht auf der Kippe. Die Leute werden älter. Noch kommen die meisten mit dem Auto in die Stadt – in wenigen Jahren kann das aber anders sein. Die Jüngeren schaffen es noch, ihre Eltern zu versorgen – aber mit der Zeit wird diese Aufgabe schwerer werden. Viele werden es nicht mehr können. Frey erkennt: Wenn sich nichts tut, werden die Leute Barmen verlassen, und das wäre der Niedergang. »Die Menschen müssen lebenslang in Barmen bleiben können«, sagt Frey. »Das wurde ein klares Ziel.« Am Anfang steht eine diff use Idee. »Bäcker, Metzger, Erbsen in der Dose, Sparkasse«, erinnert sich Frey, »darum ging es.« Nichts ist mehr da, nur die leere Sparkassenfi liale im Dorfzentrum. Wie soll man was daraus machen, ohne Geld und Personal, in einem Dorf, das Ausgezeichnete Beiträge sich an die Pendelei gewöhnt hat? Heinz Frey triff t zu Beginn eine der wichtigsten Entscheidungen: Die Barmener müssen es selbst schaffen. Denn auf dem Dorf schaut man skeptisch auf alles, was von außen kommt. Und die Barmener wissen am besten, was sie brauchen. Noch weiß Heinz Frey nicht, wie schwierig alles werden wird. Aber er hat keine Angst vor der Arbeit. Frey kommt von einem kleinen Bauernhof. 25 Hektar Rüben, Kartoffeln, Weizen. »In der Landwirtschaft habe ich gelernt: Wenn am Abend die Kartoffeln noch im Acker sind, hat man bald nichts mehr zu essen.« Heinz Frey hat eine Idee, aber zunächst keine Ahnung. Doch er sucht sich Verbündete, im Dorf, dort, wo der Laden ein Erfolg werden soll. Mit einem Rechtsanwalt und einem Steuerberater schreibt er ein sechsseitiges Konzept. Er füttert die Lokalpresse, verteilt Flyer, spricht auf Veranstaltungen. Er bekommt Tipps auf Tagungen und im Amt für Agrarordnung, fährt nach 23 Süddeutschland und nach Norden, schaut sich ähnliche Projekte an, schreibt das Konzept um. »So haben wir es zusammengestrickt«, sagt er, »und zwar so, dass die vielen Maschen auch ein Muster ergaben.« Er hat gesehen, dass so ein Laden ein Bürgerbüro sein kann, mit Post und Bank, mit einer Niederlassung des örtlichen Energieversorgers, einem Formularservice fürs Amt. Dass solch ein Laden die Leute anziehen kann, dass Geld in die Kasse kommt. Zwei Jahre tingelt Frey herum, dann weiß er: Es muss ein Laden mit Dienstleistungen werden. Und er muss in die leer stehende Sparkassenfi liale. Es ist ein Kampf an allen Fronten. In den folgenden zwei Jahren schart Frey die Barmener Bürger um sich. Er macht Umfragen (»Dosenfleisch oder Frischfleisch?«) und tritt beim Karnevalsumzug auf. »Man muss immer in Bewegung bleiben«, sagt er, »auch wenn gerade nicht viel passiert. Und es ist egal, wie das geht. Hauptsache, 24 Ausgezeichnete Beiträge es passiert etwas.« Heinz Frey hält sich an die Regeln eines Dorfes und gründet im März 2003 einen Verein: Dorv – Dienstleistung und ortsnahe Rundum-Versorgung. »Man braucht für so etwas Schwergewichte«, weiß Frey und verpfl ichtet einen Landtagsabgeordneten, denn das wirkt solide. Zunächst machen 60 Barmener mit, schnell werden es 150. Nun muss der Laden kommen. Dafür brauchen sie die alte Sparkassenfi liale. Sie verhandeln und streiten mit Sparkassenvertretern und der Stadtverwaltung, machen dem Landrat Druck. »Man muss den Leuten lästig werden«, sagt Frey, »dann wissen die, dass sie einen nicht mehr loswerden. Wenn man dreimal hingeht, kriegt man alles.« Manchmal braucht es auch Glück. Zwischendrin kauft ein Zahnarzt das Gebäude. Damit hätte das Projekt tot sein können. Frey lächelt: »Aber ich kannte den Mann über drei Ecken, und ich habe ihn überzeugt, uns den Laden zu vermieten.« Nun haben die Barmener einen Raum, aber noch immer kein Geld. Sie wissen, dass sich der laufende Betrieb selbst tragen muss, aber sie brauchen rund 100 000 Euro, um anfangen zu können. Die Stadt Jülich winkt ab, ebenso das Amt für Agrarordnung. »Und die Sparkasse hat uns ausgelacht«, erinnert sich Frey, wie auch an die erneut aufkeimende Wut, an dieses »jetzt erst recht«. Der Vereinskassierer vom Dorv ist zugleich Angestellter bei der Sparkasse. Der Mann kennt sich aus in Geldangelegenheiten. So gründet der Verein eine GmbH für den laufenden Betrieb und eine GbR, um die Finanzen zu bündeln. Die Barmener denken um. Wenn ihnen niemand Geld geben will, geben sie es sich eben selber. Sie ziehen von Haustür zu Haustür und verkaufen Anteile am Dorv, das Stück zu 250 Euro. So werden aus möglichen Kunden Teilhaber am künftigen Laden. »Es war immer klar, dass die Dorv-Aktien keinen Gewinn abwerfen werden. Aber dafür bekämen die Leute einen Laden, wo sie täglich einkaufen könnten.« Das Argument zieht, der Verein sammelt 25 000 Euro ein. »Außerdem haben wir selbst Sparkasse gespielt«, erzählt Frey. In langen Gesprächen werden sieben Barmener überzeugt, Dorv Kredite zu geben, zu drei Prozent Zinsen – das sind die nächsten 25 000 Euro. Die Restsumme von 50 000 Euro beschaffen sich die Dorv- Ausgezeichnete Beiträge ler über Eigenleistung und einen günstigen Kredit von der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Damit ist das Schlimmste geschaff t: Es gibt einen Raum und Geld. Außerdem haben die Barmener gelernt, dass die besten Verbündeten dort zu fi nden sind, wo man selbst ist – und daran halten sie sich. Klar ist auch, dass der Laden eine solide Grundausstattung bieten soll mit allem, was man im Haus braucht. Die Produkte sollen gut und frisch sein, besser als die Waren des Supermarktes in der Stadt, denn sie wissen: Sie können nicht überleben, wenn nur diejenigen kommen, die in der Stadt etwas vergessen haben. Sie müssen der Stadt Kunden abjagen. »Ich komme schließlich von einem Bauernhof«, sagt Heinz Frey. »Etwa Gemüse von sonstwo hierher karren hat keinen Sinn. So einfach ist das.« Die Leute von Dorv wissen aber auch: Die besten Partner sind diejenigen, die aus einer Partnerschaft einen direkten Vorteil ziehen. Nur sie sind wirklich interessiert daran, dass der Laden läuft. Dieses Prinzip steht über allem, als sie beginnen, ihren Laden zu bestücken. Bäcker, Fleischer, Gemüsebauer – diese wichtigen Lieferanten fi nden sie schnell in den Nachbardörfern. Das heißt aber auch, dass sie als Liefe- 25 ranten für den großen Rest jemanden brauchen, der das akzeptiert und nicht versucht, ihnen Waren aufs Auge zu drücken, die sie lieber regional beziehen. Die großen Marktlieferanten wie Rewe und Edeka winken ab, der Dorfladen in Barmen ist ihnen viel zu klein. Schließlich fi nden sie eine Großhändler-Gemeinschaft, die sich auf kleine Geschäfte auf dem Land spezialisiert hat. Sie liefert nur an, was wirklich gebraucht wird, verlangt keine Mindestabnahmemengen und fordert auch nicht, dass ein Laden bestimmte Waren vorhalten muss, die an seinem Standort nur schlecht verkauft werden. Die Preise können die Dorvler frei gestalten. All das ist existenziell für einen neuen Laden mit geringem fi nanziellem Rückgrat. Knapp drei Jahre hat der Verein Mosaikstein für Mosaikstein zusammengefügt, bis am 10. September 2004 der Dorv-Laden in Barmen öff net. Heute erwirtschaftet er sogar einen kleinen Gewinn, die Dorvler zahlen nach und nach ihre Kredite zurück. Mit vier Verkäuferinnen haben sie angefangen, mittlerweile sind es sieben. Auf den ersten Blick ist es ein ganz gewöhnliches Geschäft, hell und sauber. Randvolle Regale mit Dosensuppen, Nudeln, Milch, Kaffee, Salz, Bier, Wasser, Wein, Putztü- 26 Ausgezeichnete Beiträge chern, Seife – all die Sachen, die man auch im Supermarkt kauft. Jeden Morgen gibt es frische Brötchen und frisches Gemüse, die Fleischtheke bietet Schinken, Frikadellen und Aufschnitt. Die Kunst dabei ist, alles zu führen, was die Kunden wollen, aber nicht so viel, dass es in den Regalen liegen bleibt. »Wir nennen es die Kunst der Beschränkung«, sagt Frey, während er die Regale entlanggeht. »Bei uns gibt es keine 35 Sorten Klopapier.« Das ist eine Grundregel: Von jedem Produkt gibt es einen Markenartikel und eine billige No-Name-Variante – so findet jeder, was er will. Und was die Leute wollen, merken die Verkäuferinnen schnell. Auch in Barmen werden die Verkäufe in ein modernes Kassensystem getippt, das anzeigt, welche Artikel gut laufen. Wenn es ihnen die Kunden nicht direkt sagen. Darum geht es: um die kleinen Dinge. Kurze Wege, Gespräche, Kontakt zwischen Verkäufern und Käufern. Es ist ein Teil des Konzepts: Der Laden soll nicht nur eine Verkaufsstelle sein, sondern auch ein Treff punkt. Doch wie kommt man an Leute, die nicht bloß Waren verkaufen, sondern auch Kontakte aufbauen und pflegen, selbst wenn sie nur einen 400-Euro-Job haben? Die Dorvler haben es geschaff t, weil sie ihrem Prinzip treu geblieben sind, wie bei der Finanzierung oder der Wahl der Lieferanten. »Alles auf‘m kleinen Weg«, sagt Heinz Frey. »Man fragt rum, und dann weiß man bald, wer was kann. Man muss das nutzen und die Leute dahin setzen, wo sie tun können, was sie können.« Alle Verkäuferinnen stammen aus Barmen. »Aber wir sind nicht nur nett, wir sind auch gut«, sagt Heinz Frey. Am Ende, das wussten alle, war es mit dörflicher Kuschelei nicht getan – die Qualität muss überzeugen. Und es war klar: Die Fleischtheke müsste der Magnet sein, der die Barmener in den Laden zieht. Zum Glück hat Ruth Holz die Theke übernommen. Ein bisschen Niveau muss schon sein, dann bekommt man auch gute Leute Ruth Holz ist 52, wache Augen hinter einer dunkel gerahmten Brille, ein brauner Zopf. »Das ist kein Kunsthandwerk hier«, sagt sie. Die ausgebildete Fleischereifachverkäuferin stammt aus einer Barmener Metzgerfamilie und arbeitete früher in Fleischereien der Region. Heinz Frey hat immer bei ihr in Aldenhoven gekauft. Er kennt sie aus Kindertagen. Er wusste: »Die Frau ist mit Fleisch groß geworden. Sie ist zuverlässig, kann arbeiten und ist Vorsitzende der katholischen Frauengemeinschaft – das verleiht Renommee.« Ruth Holz hat den Job genommen, unter einer Bedingung: »Wir machen das richtig, wie im Fachhandel. Denn ein bisschen Niveau haben wir schon, oder?« Ruth Holz ist nett. Ihre Kunden sind »Heinz«, »Ingrid« und »Marianne«. Sie weiß, dass der Senf hinten links steht. Sie fertigt die Leute nicht ab, sondern nimmt sich Zeit, um mit Ingrid über ein Geschenk zu beraten. Sie kennt auch die Kinder, die sich die Nasen an der Glastheke platt drücken. Und sie ist professionell. »Bei Aldi gibt‘s auch Fleisch. Wenn man sich da nicht bemüht, kommen die Leute nicht.« Ihr Lieferant bringt gute Ware. Sie schneidet nicht schief ab und auch nicht mehr, als der Kunde wünscht. Zwischendurch, abends nach Dienstschluss oder in der Mittagspause macht sie Fleischsalat und Zaziki, Ragouts, füllt Filets und Cordon bleu. Sie sagt: »Das ist doch normal für ‘ne Metzgerei, oder? Ich fi nde das einfach schön.« Außerdem arbeitet sie nicht nur in dem Laden, weil sie Geld braucht, das könnte sie auch woanders verdienen – Dorv bietet ihr etwas, das nicht leicht zu fi nden ist. »Wer eine gute Fachfrau ist, denkt immer auch fürs Geschäft. Früher habe ich auch immer versucht mitzudenken, aber das war oft nicht erwünscht. Hier kann ich in eigener Verantwortung arbeiten.« Das ist ein weiteres Geheimnis von Dorv: Der Laden ist keine Parkbucht für Leute, die sonst nichts können oder die man nehmen muss, weil es sonst niemanden gibt. Wer hier arbeitet, will das auch. Wie Angela Hachenberg, 43 Jahre alt, 30-Stunden-Stelle, die Betriebsleiterin. Auch sie lebt in Barmen, hat Buchhändlerin gelernt, kümmerte sich dann 13 Jahre lang um ihre drei Kinder und arbeitete schließlich im Büro eines großen Verbrauchermarktes in Jülich. Auch sie wurde umworben, damit sie zu Dorv wechselt. »Man wächst in alles rein«, sagt Hachenberg bei einer schnellen Zigarette hinten in der Küche. »Und es ist viel bequemer für mich, hier im Ort zu arbeiten. Außerdem trage ich Verantwortung, und die Arbeit ist nicht so anonym.« So etwas wollen viele Menschen, aber längst nicht jeder Arbeitgeber kann das bieten. Außerdem ist der Job abwechslungsreich. Wer im Laden arbeitet, verkauft nicht nur Waren, sondern hilft auch bei den Dienstleistungen, assistiert den alten Leuten beim Bankautomaten, bedient das Faxgerät oder den Kopierer, nimmt die Wäsche an, hilft beim Ausfüllen der Anzeigenvordrucke für die Lokalzeitung oder sammelt Amtsformulare ein, für das Auto, die Ummeldung oder den Antrag auf einen Auszug aus dem Liegenschaftskataster. Ausgezeichnete Beiträge 27 Was erst mal läuft, geht auch weiter: Nun zieht ein Arzt nach Barmen Heute sorgt der Laden für Bewegung und Austausch in Barmen. Auch wer nicht dort arbeitet, ist ein Teil von Dorv. Die Kunden, die den Alten im Ort auf einem kurzen Zwischenstopp ihre Lebensmittel vorbeibringen. Die Frau, die in der Stadt auf dem Amt arbeitet und auf dem kurzen Dienstweg die Formulare mitnimmt. Oder Herr Schmitz, der Mann von Frau Schmitz, die im Laden morgens um 6.30 Uhr die Brötchen schmiert: Er schleppt jeden Tag die schweren Getränkekisten. Frau Handels aus dem Neubaugebiet macht mindestens einmal in der Woche im Laden einen größeren Einkauf, »auch aus Solidarität, weil er meine Hoff nung ist, dass ich noch lange hier leben kann«. Da ist Herr Rieck, der auf dem Weg nach Hause beim Fleischlieferanten vorbeifährt und eine Kiste Wurst für den Dorv-Laden mitnimmt. Herr Rieck sagt: »Ein Hammer, der Laden. Sonntags Brötchen – das gab‘s in Barmen noch nie! Und wir müssen nicht mehr für jeden Piep in die Stadt fahren.« Und fügt hinzu: »Jeder trägt dazu bei, den Laden zu erhalten. Wenn jeder nur ein bisschen dort kauft, dann läuft das.« Nun könnten sich alle zurücklehnen, aber stattdessen treiben sich Dorv und Dorf gegenseitig weiter voran. »Wir wollen eine Rundumversorgung«, sagt Heinz Frey. Deshalb sollen nun die Dienstleistungen ausgebaut werden. Weil man sie im Dorf braucht – und weil sie Geld bringen. »Wir müssen Geld einnehmen, damit wir Geld zurücklegen können«, sagt Heinz Frey. Der Dorv-Laden ist mittlerweile der Ort, an dem sich die meisten Barmener erreichen lassen – das eröff net neue Möglichkeiten. Für den Bankautomaten zahlt die Sparkasse Miete. Die Zeitung zahlt für die Anzeigen. Außerdem vermittelt Dorv mittlerweile Pflegebedürftige an einen Pflegedienst und bekommt dafür Provision. Schließlich wird sich nach vielen Jahren wieder ein Arzt in Barmen niederlassen, gleich neben dem Laden. Das ist wieder so eine Sache, aus dem beide Seiten Vorteile ziehen. Denn natürlich gewinnt Waldemar Bergmann, Internist mit hausärztlicher Praxis im nahen Linnich, neue Patienten und ein neues Budget. Der Verein hat ihm eine Wohnung zur Praxis umgebaut und dafür gesorgt, dass der Arzt eine Telefonnummer bekommt, die sich auch schon etwas vergessliche Barmener merken können – darum gekümmert hat sich der Karl-Heinz, der bei der Telekom arbeitet. Und sie haben für den neuen Arzt getrommelt. »Das konnte ich nicht ablehnen«, sagt Bergmann. »Ich muss nur wenig Geld investieren und bin im Ort eingeführt. Das macht alles viel einfacher für mich.« Im Gegenzug zahlt Bergmann Miete, die dem Verein zugute kommt. Er sagt: »Das Dorv-Konzept hat mich überzeugt. Die Leute haben bewiesen, dass sie was können. Die werden nicht wieder verschwinden.« Es sieht ganz so aus, als hätte Dorv die kritische Größe erreicht, ab der ein Ding zwangsläufig ein weiteres Ding zur Folge hat. Zurzeit verhandelt man um einen Apothekendienst, selbstverständlich auf Provisionsbasis. Und natürlich wird der neue Arzt Überweisungen schreiben zu den Fachkollegen in der Stadt – also denkt man an ein Bürgermobil mit ehrenamtlichen Fahrern für die alten Barmener, die einen Facharzt aufsuchen müssen. Sie fühlen schon mal vor bei Herstellern und möglichen Geldgebern. »Eine Bürgerstiftung wäre auch möglich«, sagt Frey. Und wenn sie das Auto erst mal hätten, könnte man die Waren aus dem Laden über einen festen Bringdienst vertreiben und in Barmen CarSharing einführen ... »Angst vorm Wirtschaften«, sagt Heinz Frey, »kenne ich noch aus der Kindheit. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran, das macht irgendwann nichts mehr. Man muss machen, fertig.« 28 Ausgezeichnete Beiträge 2. Preis: Jan-Geert Wolff »Der Musikmann kommt!« Rhein Main Presse, 14.07.2007 Jeden Mittwoch besucht Hubert Zanoskar die Kinderkrebsstation der Mainzer Universitätsklinik und lenkt die kleinen Patienten mit seinen Instrumenten für ein paar Augenblicke von ihrem Leiden ab Einmal in der Woche, und zwar am Mittwoch, ist es wieder soweit: Der Musikmann kommt. Er heißt Hubert Zanoskar und hat neben seiner Querflöte noch andere Sachen im Gepäck, mit denen er Musik machen kann. Sein Ziel ist jedoch kein Marktplatz, keine Straßenecke und auch nicht das Mainzer Peter Cornelius-Konservatorium, wo er berufl ich als Flötenlehrer unterrichtet – sein Ziel ist die Kinderkrebsstation der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Dort gibt es seit 1984 auch den Förderverein für Tumor- und Leukämiekranke Kinder e.V., der vor Ort ein Elternhaus für die Angehörigen der jungen Patienten und eine Ferienanlage in Gemünden unterhält sowie psychologische und psychosoziale Beratung anbietet. Durch Spenden hilft er außerdem, die personelle Ausstattung der Krebsstation, medizinische Geräte und Forschungsarbeiten zu fi nanzieren (www.krebskrankekinder-mainz.de). Zu diesen Angeboten zählen auch die Besuche von Hubert Zanoskar, die der Vereinsvorsitzende Jens Dupré besonders schätzt: »Er hat ein Händchen dafür, das kann nicht jeder.« Bei ihm könnten die Kinder abschalten und schöne Stunden erleben: »Dann tritt die Krankheit etwas in den Hintergrund.« Ist es eine schöne Aufgabe, die er da erfüllt? Hubert Zanoskar sagt ohne zu zögern: »Ja!« Denn die kleinen Patienten, die im schlimmsten Wortsinn todkrank sind, freuen sich jede Woche auf ihren Musikmann: »Wann kommst Du wieder?«, lautet die Frage, die Zanoskar oft hört, nachdem er 90 Minuten für die Kinder da war: »Am Anfang gehe ich mit der Schwester durch die Zimmer und schaue, wer mich heute am meisten braucht«, beschreibt er das Procedere: Wer hat Probleme, wer ist heute besonders traurig, wer benötigt dringend ein paar Augenblicke Ablenkung von der oft Tod bringenden Krankheit mit dem Namen Leukämie? Dann heißt es planen: Auf der Krebsstation liegen in der Regel zwischen fünf und 20 Kinder, von denen manche lieber fernsehen oder Gameboy spielen. Die meisten wollen aber mit Hubert zusammen sein, wollen hören, wie er Musik macht, wollen selber den minutenlangen Schwingungen der Klangschale lauschen oder Xylophon spielen. Mindestens 20 Minuten hat er in der Regel für jedes der Kinder, die sich seine anderthalb Stunden teilen. Manchmal muss er dann einen Schlussstrich ziehen und seinem Partner sagen: »Andere wollen auch noch mit mir spielen.« Manchmal leihen sich die Kinder auch Instrumente aus und machen alleine weiter: »Das ist dann ein großer Erfolg.« Musik als »generelles Medium nonverbaler Kommunikation«, wie es wissenschaftlich heißt, sei hier eben oft die einzige Möglichkeit, mit den kleinen Patienten in Kontakt zu treten, erzählt Zanoskar, der vor vier Jahren durch die Mutter einer Schülerin auf den Förderverein für Tumor- und Leukämiekranke Kinder e.V. aufmerksam wurde. Der Mainzer Flötenlehrer ist ausgebildeter Pädagoge, hat sich schon immer stark für das Thema »Musiktherapie« interessiert und hier mit vielen Seminarbesuchen privat intensive Fortbildung betrieben. Am Konservatorium arbeitet er als Dozent und sammelte über Jahre hinweg Erfahrungen als Darsteller komischer Rollen im Kindertheater des Mainzer Forumtheaters unterhaus in der Arbeit mit Jugendlichen. Ehrenamtlich engagiert sich der Musiker auch im Mainzer Altersheim des Arbeiter-Samariter-Bundes und war schon mal lange Jahre für die Patienten der Uniklinik da – als »Grüne Dame«. In der Vorweihnachtszeit des Jahres 2003 besuchte Hubert Zanoskar zum ersten Mal die Kinderkrebsstation in Mainz und merkte, wie viel Spaß und echte Musikbegeisterung die Kinder mit ihm erlebten. Nach einem ausführlichen Gespräch mit dem verantwortlichen Stationsarzt, einem Psychologen und Sozialarbeiter bot Ausgezeichnete Beiträge 29 Journal DAS WOCHENEND-MAGAZIN DER RHEIN MAIN PRESSE ■ SAMSTAG, 14. JULI 2007 ■ SEITE 3 Der Musikmann kommt! Jeden Mittwoch besucht Hubert Zanoskar die Kinderkrebsstation der Mainzer Universitätsklinik und lenkt die kleinen Patienten mit seinen Instrumenten für ein paar Augenblicke von ihrem Leiden ab Von Jan-Geert Wolff inmal in der Woche, und zwar am Mittwoch, ist es wieder soweit: Der Musikmann kommt. Er heißt Hubert Zanoskar und hat neben seiner Querflöte noch andere Sachen im Gepäck, mit denen er Musik machen kann. Sein Ziel ist jedoch kein Marktplatz, keine Straßenecke und auch nicht das Mainzer PeterCornelius-Konservatorium, wo er beruflich als Flötenlehrer unterrichtet – sein Ziel ist die Kinderkrebsstation der JohannesGutenberg-Universität Mainz. Dort gibt es seit 1984 auch den Förderverein für Tumorund Leukämiekranke Kinder e. V., der vor Ort ein Elternhaus für die Angehörigen der jungen Patienten und eine Ferienanlage in Gemünden unterhält sowie psychologische und psychosoziale Beratung anbietet. Durch Spenden hilft er außerdem, die personelle Ausstattung der Krebsstation, medizinische Geräte und Forschungsarbeiten zu finanzieren (www.krebskrankekinder-mainz.de). Zu diesen Angeboten zählen auch die Besuche von Hubert Zanoskar, die der Vereinsvorsitzende Jens Dupré besonders schätzt: „Er hat ein Händchen dafür, das kann nicht jeder.“ Bei ihm könnten die Kinder abschalten und schöne Stunden erleben: „Dann tritt die Krankheit etwas in den Hintergrund.“ Ist es eine schöne Aufgabe, die er da erfüllt? Hubert Zanoskar sagt ohne zu zögern: „Ja!“ Denn die kleinen Patienten, die im schlimmsten Wortsinn todkrank sind, freuen sich jede Woche auf ihren Musikmann: „Wann kommst Du wieder?“, lautet die Frage, die Zanoskar oft hört, nachdem er 90 Minuten für die Kinder da war: „Am Anfang gehe ich mit der Schwester durch die Zimmer und schaue, wer mich heute am meisten braucht“, beschreibt er das Procedere: Wer hat Probleme, wer ist heute besonders traurig, wer benötigt dringend ein paar Augenblicke Ablenkung von der oft Tod bringenden Krankheit mit dem Namen „Leukämie“? Dann heißt es planen: Auf der Krebsstation liegen in der Regel zwischen fünf und 20 Kinder, von denen manche lieber fernsehen oder Gameboy spielen. Die meisten wollen aber mit Hubert zusammen sein, wollen hören, wie er Musik macht, wollen selber den E minutenlangen Schwingungen der Klangschale lauschen oder Xylofon spielen. Mindestens 20 Minuten hat er in der Regel für jedes der Kinder, die sich seine anderthalb Stunden teilen. Manchmal muss er dann einen Schlussstrich ziehen und seinem Partner sagen: „Andere wollen auch noch mit mir spielen.“ Manchmal leihen sich die Kinder auch Instrumente aus und machen alleine weiter: „Das ist dann ein großer Erfolg.“ Musik als „generelles Medium nonverbaler Kommunikation“, wie es wissenschaftlich heißt, sei hier eben oft die einzige Möglichkeit, mit den kleinen Patienten in Kontakt zu treten, erzählt Zanoskar, der vor vier Jahren durch die Mutter einer Schülerin auf den Förderverein für Tumor- und Leukämiekranke Kinder e. V. aufmerksam wurde. Der Mainzer Flötenlehrer ist ausgebildeter Pädagoge, hat sich schon immer stark für das Thema „Musiktherapie“ interessiert und hier mit vielen Seminarbesuchen privat intensive Fortbildung betrieben. Am Konservatorium arbeitet er als Do- „Dann tritt die Krankheit etwas in den Hintergrund.“ zent und sammelte über Jahre hinweg Erfahrungen als Darsteller komischer Rollen im Kindertheater des Mainzer Forumtheaters unterhaus in der Arbeit mit Jugendlichen. Ehrenamtlich engagiert sich der Musiker auch im Mainzer Altersheim des Arbeiter-Samariter-Bundes und war schon mal lange Jahre für die Patienten der Uniklinik da – als „Grüne Dame“. In der Vorweihnachtszeit des Jahres 2003 besuchte Hubert Zanoskar zum ersten Mal die Kinderkrebsstation in Mainz und merkte, wie viel Spaß und echte Musikbegeisterung die Kinder mit ihm erlebten. Nach einem ausführlichen Gespräch mit dem verantwortlichen Stationsarzt, einem Psychologen und Sozialarbeiter bot Zanoskar an, einmal wöchentlich in die Rolle des Musikmanns zu schlüpfen – bereut hat er diesen Schritt bis heute nicht. Wobei ihn seine Besuche auf der Kinderkrebsstation nicht selten noch lange beschäftigen. Denn hier erlebt er zwar, wie er durch die Musik sowohl in die Augen der kranken Kinder als auch der Eltern ein Strahlen zaubern kann, wie er kleine Patienten erreicht, die sonst nur noch lethargisch in ihrem Bett liegen und wie er den Kindern das Gefühl vermitteln darf: „Hey, ich kann ja was!“ – aber Zanoskar bekommt auch die Schattenseiten mit: „Das Schlimmste ist, wenn jemand geht“, sagt er knapp: „Manchmal ist es einfach fürchterlich, vor allem weil es Kinder sind. Zum Leben der Erwachsenen gehört der Tod ja irgendwie dazu; aber wenn es so junge Menschen trifft – da fragt man sich natürlich nach dem Sinn.“ Und Zanoskar erinnert sich, wie sehr es ihn getroffen hat, wenn ein Kind als gesund nach Hause entlassen wurde und Wochen später wieder in der Klinik lag: „Das ist dann oft das definitive Todesurteil.“ Trotzdem: „Wenn die Chemotherapie ein Kind so richtig schlaucht und ich mit ihm Musik oder einfach nur Quatsch mache und es so ein bisschen ablenken kann, dann ist das einfach wunderbar.“ Da wird zu zweit oder in der großen Gruppe musiziert, jeder kann mitmachen. Und plötzlich sind die Fernseher und DVD-Player, die der Förderverein gestiftet hat, uninteressant. „Die Musik ist die sozialste aller Künste“, weiß der Musikpädagoge: „Hier erlebt man schnell ein direktes Klang- und Erfolgserlebnis.“ Manche der Kinder können bereits ein Musikinstrument spielen, manche haben so etwas zum ersten Mal in der Hand. „Musik wirkt ausgleichend und schmerzlindernd, hat Einfluss auf die Atmung, ist Anregung zur Bewegung“, nennt Zanoskar die nachhaltigen Begleiterscheinungen seiner Besuche. „Einmal hat ein Kind auf dem Xylofon mit nur einem Ton, aber eben rhythmisch erkennbar „Alle meine Entchen“ gespielt und alle haben begeistert applaudiert“, erinnert er sich an einen der vielen glücklichen Momente, die er zusammen mit den kranken Kindern erleben darf: „Ich möchte mit meiner Musik Kraft geben – und wenn so etwas passiert, spüre ich, wie mir das ein bisschen gelingt.“ Zanoskar selbst empfindet es als Gnade, die Gabe seiner Musikalität an derart kranke Kinder weitergeben zu können: „Das beglückt – und hilft mir auch, das Elend auszuhalten. Ein Elend, vor dem eigene Probleme übrigens oft verblassen.“ Der Musikmann hätte die Möglichkeit, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, konnte die Belastung durch seine Aufgabe in der Vergangenheit aber stets selbst kompensieren. Manchmal ist sie aber auch übergroß: „Einmal hatte ich nach meinem Besuch in der Klinik Gesangsunterricht – und habe keinen Ton herausgebracht.“ Was ihm jedoch immer wieder hilft und selbst im Angesicht des Todes nicht aufgeben lässt, ist, wenn er durch die Musik eine intensive Verbindung zu einem der kleinen Patienten aufbauen kann. Zanoskar erinnert sich an ein Erlebnis, als er einen Jungen beim Sterben begleitete: „Da habe ich für ihn seine Lieblingslieder auf der Querflöte improvisiert und während er starb, hat er mir noch ein Lächeln geschenkt.“ Ein anderer Junge durfte zu Hause sterben – und sagte zum Musikmann vorher noch: „Tschüss, mein Freund …“ ■ Die Beschäftigung mit den Instrumenten von Hubert Zanoskar sind für die Kinder auf der Krebsstation der Mainzer Universitätsklinik eine willkommene Abwechslung und Freude. Fotos: Jan-Geert Wolff Menschen 29 30 Ausgezeichnete Beiträge Zanoskar an, einmal wöchentlich in die Rolle des Musikmanns zu schlüpfen – bereut hat er diesen Schritt bis heute nicht. Wobei ihn seine Besuche auf der Kinderkrebsstation nicht selten noch lange beschäftigen. Denn hier erlebt er zwar, wie er durch die Musik sowohl in die Augen der kranken Kinder als auch der Eltern ein Strahlen zaubern kann, wie er kleine Patienten erreicht, die sonst nur noch lethargisch in ihrem Bett liegen und wie er den Kindern das Gefühl vermitteln darf: »Hey, ich kann ja was!« – aber Zanoskar bekommt auch die Schattenseiten mit: »Das Schlimmste ist, wenn jemand geht«, sagt er knapp: »Manchmal ist es einfach fürchterlich, vor allem, weil es Kinder sind. Zum Leben der Erwachsenen gehört der Tod ja irgendwie dazu; aber wenn es so junge Menschen triff t – da fragt man sich natürlich nach dem Sinn.« Und Zanoskar erinnert sich, wie sehr es ihn getroffen hat, wenn ein Kind als gesund nach Hause entlassen wurde und Wochen später wieder in der Klinik lag: »Das ist dann oft das defi nitive Todesurteil.« Trotzdem: »Wenn die Chemotherapie ein Kind so richtig schlaucht und ich mit ihm Musik oder einfach nur Quatsch mache und es so ein bisschen ablenken kann, dann ist das einfach wunderbar.« Da wird zu zweit oder in der großen Gruppe musiziert, jeder kann mitmachen. Und plötzlich sind die Fernseher und DVD-Player, die der Förderverein gestiftet hat, uninteressant. »Die Musik ist die sozialste aller Künste«, weiß der Musikpädagoge: »Hier erlebt man schnell ein direktes Klangund Erfolgserlebnis.« Manche der Kinder können bereits ein Musikinstrument spielen, manche haben so etwas zum ersten Mal in der Hand. »Musik wirkt ausgleichend und schmerzlin- dernd, hat Einfluss auf die Atmung, ist Anregung zur Bewegung«, nennt Zanoskar die nachhaltigen Begleiterscheinungen seiner Besuche. »Einmal hat ein Kind auf dem Xylophon mit nur einem Ton, aber eben rhythmisch erkennbar ‚»Alle meine Entchen« gespielt und alle haben begeistert applaudiert«, erinnert er sich an einen der vielen glücklichen Momente, die er zusammen mit den kranken Kindern erleben darf: »Ich möchte mit meiner Musik Kraft geben – und wenn so etwas passiert, spüre ich, wie mir das ein bisschen gelingt.« Zanoskar selbst empfi ndet es als Gnade, die Gabe seiner Musikalität an derart kranke Kinder weitergeben zu können: »Das beglückt – und hilft mir auch, das Elend auszuhalten. Ein Elend, vor dem eigene Probleme übrigens oft verblassen.« Der Musikmann hat die Möglichkeit, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, konnte die Belastung durch seine Aufgabe in der Vergangenheit aber stets selbst kompensieren. Manchmal ist sie aber auch übergroß: »Einmal hatte ich nach meinem Besuch in der Klinik Gesangsunterricht – und habe keinen Ton herausgebracht.« Was ihm jedoch immer wieder hilft und selbst im Angesicht des Todes nicht aufgeben lässt, ist, wenn er durch die Musik eine intensive Verbindung zu einem der kleinen Patienten aufbauen kann. Zanoskar erinnert sich an ein Erlebnis, als er einen Jungen beim Sterben begleitete: »Da habe ich für ihn seine Lieblingslieder auf der Querflöte improvisiert und während er starb, hat er mir noch ein Lächeln geschenkt.« Ein anderer Junge durfte zu Hause sterben – und sagte zum Musikmann vorher noch: »Tschüss, mein Freund…« Ausgezeichnete Beiträge 31 3. Preis: Bernd Volland »Am Anfang stand der Traum« Stern, 24.05.2007 Leben wie in alten Zeiten? Greise und Junge, Kranke und Gesunde unter einem Dach? Ein renovierter Bauernhof bei Bielefeld wurde zu einem Mehr-Generationen-Haus. stern-Reporter Bernd Volland war für eine Woche mittendrin Es herrscht Stille im Raum. Sie schweigen gern hier. Herr Bartling in seinem Rollstuhl am Esstisch schweigt mit. Wobei es eigentlich wenig gibt, was er hier gern macht. Außer vielleicht schimpfen. Schön haben Sie`s, Herr Bartling – »Das sagen Sie, weil Sie bald wieder wegkönnen« – Was wäre denn der optimale Ort für Sie? – »Nix« – Aber, wo wären Sie lieber? – »Nirgends.« Die Tischplatte vibriert rhythmisch. Frau Ernst wippt mit dem linken Fuß, Frau Stockhecke mit dem rechten. Zwischen den Beinen streicht die Katze von Frau Kettler durch. Frau Stockhecke liest ihr Heftchen, »Julia. Sein schönstes Liebeslied«. Viele sagen, Herr Bartling in seinem Rollstuhl sei an einem Ort der Zukunft angelangt. »Zukunft? Die ganze Stadt lacht über mich, weil ich hier sein muss.« Orte wie diese werden zu Hunderten entstehen, prophezeien Experten. Weil die Zukunft heißt: mehr Alte. Und wer will schon ins Heim ziehen? »Ins Heim? Ich habe meine BMW-Niederlassung aufgebaut, da wollte ich bleiben bis zum Schluss.« Vor über 20 Jahren entstanden die ersten SeniorenWohn- und Hausgemeinschaften wie diese hier in Ostwestfalen. Plätze, an denen Alte zusammenleben können, nicht einsam sind, gepflegt werden können, aber so eigenständig wie möglich bleiben. Rund 300 gibt es heute. »Wohngemeinschaft? Kann man in die Tonne treten. Das hat doch alles die SPD verbrochen.« Herrn Bartlings Frau liegt im Zimmer nebenan nach einem Schlaganfall, das ist das Schlimmste. Herr Bartling ist alt, das für sich wäre doch schon schlimm genug. Er, der FDPBartling, der BMW-Bartling, sitzt jetzt hier. Nur alte Weiber. Und der Rosendahl und er. Und die jungen Leute oben im ersten Stock, aber die wählen bestimmt alle die Grünen, und am Abend essen sie Löwenzahn. Draußen hört man ein Pfeifen. Dort ist die kleine Brauerei von Michael Zerbst im Nebengebäude. Zerbst ist ein fröhlicher Mensch, vielleicht liegt das am Löwenzahn, aber eigentlich isst er lieber Steak. Was genau die SPD mit diesem Haus zu tun hat, ist nicht ganz zu klären, vermutlich hängt es damit zusammen, dass Herr Bartling 15 Jahre lang FDP-Stadtrat war. Sicher ist jedoch, dass Zerbst jede Menge damit zu tun hat. Zerbst hatte eine Idee aufgeschnappt, und ist es nicht das, was das Land braucht, im Großen wie im Kleinen: 32 Ausgezeichnete Beiträge Ideen? Warum sollten Alte und Junge nicht wieder gemeinsam unter einem Dach leben, so wie früher? Er, ein paar Junge, Familien und Alte, Pflegebedürftige in einem Haus. Zerbst arbeitete für den ambulanten Pflegedienst »Lebensbaum« hier in Werther, als der umgebaute Bauernhof zum Verkauf angeboten wurde, 10 000 Quadratmeter Gelände, 800 Quadratmeter Wohnfläche bei Bielefeld, wo 1981 die erste Mehr-Generationen-WG entstand. Nach diesem Vorbild gründete Zerbst mit Freunden einen Verein, um den Hof zu kaufen. Er schlug sich mit Ministerien, Behörden und den guten Menschen von Caritas und Diakonie herum, die keinen Bedarf sahen, weil es für Senioren doch Heime gebe. Zerbst bekam graue Haare. Zerbst bekam schließlich ein neues Zuhause. 1992 zogen sie ein, heute leben im Erdgeschoss rund zehn pflegebedürftige Senioren und oben zwölf Junge: vier Familien mit sechs Kindern. »Wir sind das, was der Großfamilie noch am nächsten kommt«, sagt Zerbst. Die Familie! Wir kennen die Zukunft schon lange in Zahlen, aber befi nden uns noch immer in der Experimentierphase darüber, wie sie zu gestalten ist. 2020 werden fünf Millionen Menschen in Deutschland über 80 sein, 2050 werden die Hochaltrigen zwölf Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die meisten werden höchstens ein Kind haben. Es könnte sehr einsam werden für Alte. Ratschratschratsch. Ratschratschratsch. Frau Stockhecke schält Kartoffeln für das Mittagessen. 40 Jahre war sie Magd, und wenn man ihr nachts eine Kartoffel ins Bett werfen würde, dann würde es zehn Sekunden raschratschratsch machen, und eine Portion Pommes frites würde zurückfl iegen. »Was man einmal lernt, vergisst man nicht«, sagt Herr Rosendahl, »interessant ist das schon.« Herr Rosendahl zwinkert. Das macht er oft, es heißt so viel wie: Wir Jungs wissen doch, wie der Hase läuft. Am Anfang des Wohnprojekts stand der Traum. Am Anfang übernahmen die Jungen noch die Nachtwache. Und es gab per Babyphone Liveschaltungen in die Zimmer der Alten: »Hallo, hört mich jemand, hier spricht die verrückte Oma, ich wollte nur sagen, dass alles in Ordnung ist.« Danke, Frau O., es ist drei Uhr nachts. »Ich würde gerne aufstehen.« Frau P., es ist zwei Uhr nachts. »Ich möchte frühstücken.« Frau P., es ist vier Uhr nachts. Heute ist für die Versorgung der Pflegedienst zuständig. Es ist nicht das Idyll der großen Kommune, wo die Jungen die Alten pflegen und mit ihnen leben. Die WG ist kein Ort für Träumer. Die Jungen müssen selbst arbeiten, haben Kinder, um die sie sich kümmern müssen. »Wären die Alten auf die Pflege der Jungen angewiesen, hätten wir die absolute Macht im Haus«, sagt Zerbst. Er lacht. Zerbst hat den typisch sarkastischen Pflegerhumor, wenn man nur ein Gutmensch ist, frisst er einen auf, dieser Job. Weil man nicht nur mit Menschen zu tun hat, die froh und dankbar sind. Weil das wirkliche Alter kein Zustand reiner Glückseligkeit ist. Zerbst sitzt auf einer Bierbank vor dem Nebengebäude, er hat seine Brauerei selbst aufgebaut. Sein »Rotingdorfer« verkauft sich gut, und wenn sie wollen, bringt er den Senioren ein paar Gläser Freibier, bei Bedarf auch mit Strohhalm. Der Flieder blüht, die Hunde bellen, und von der Bank neben der Haustür hört man eine Lunge rasseln. Dort sitzt Frau Ernst, sie ist dement. Die Lunge gehört ihr, und Frau Ernst teert sie täglich mit ein, zwei Schachteln starken Krauts. Herr Bartling sagt: »Ist egal, woran sie kaputtgeht.« Die Pfleger sagen: »Warum sollten wir ihr das nehmen?« Michael Zerbst sagt: »Sie ist hier Mieterin, niemand kann ihr etwas vorschreiben.« Eigenständigkeit ist das höchste Ideal der WG. Und es ist der Wunsch aller, die mal alt werden wollen. Bücher über die Zukunft des Alters haben Konjunktur, aber sie beschäftigen sich wenig mit der Situation derer, die Ausgezeichnete Beiträge heute alt sind. Sie handeln meist von der Gefahr einer Methusalem-Gesellschaft, und als Lösung schlagen sie oft vor, auch im Alter noch jung zu bleiben. Das liest sich gut. Herr Rosendahl kommt in den Hof, mit seinem Stützwägelchen steuert er zielstrebig auf das Blumenbeet zu. Er sagt: »Das geht schon.« Das sagt er immer und lächelt. Heute allerdings hat sein Lächeln etwas Leeres. Seine Zähne sind weg, gestern Abend hat sie ihm der junge Pfleger noch in das rote Schälchen gelegt, und heute, verfl ixt, nix. Jetzt suchen sie sein Gebiss, und vielleicht hat ja Frau ..., also, so rein versehentlich, die Zähne von Herrn Rosendahl für die ihren gehalten? Hat sie nicht. »Aber gestohlen hat die keiner, da kann ja niemand was mit anfangen«, sagt Herr Rosendahl, »obwohl sie ja noch gut sind. Alle 32 drin. Na ja, das geht schon.« Herr Rosendahl ist 79 und erzählt gern. »Kochs Adler, ja, Kochs Adler, 40 Jahre war ich da als Nähmaschinenschlosser, nach dem Krieg bin ich da hin, da war ich bei den Franzosen im Gefangenenlager. 40 Jahre Kochs Adler, die haben zu mir gesagt: Bleib doch noch, Wilfried. Und einer hat mir am Drehtisch ein SpielzeugRennrad aus Draht gebastelt, Wolfgang Plah war das, können Sie den im Artikel erwähnen? Das steht jetzt auf meinem Nachttisch. Ich bin ja immer von Halle nach 33 Bielefeld geradelt, einmal lag ein halber Meter Schnee, aber ich war als Einziger pünktlich. Ich geh bald in ein anderes Werk, interessant ist das schon, so ein Werk.« Herr Rosendahl lächelt. Und dann, auf einmal, fängt er zu weinen an. Weil bei Kochs Adler, da hat er immer seine Erika getroffen, morgens am Bahnübergang, sie musste zur Näherei und er zu Kochs Adler, und nach Feierabend haben sie sich wieder am Übergang getroffen. Und dann haben sie geheiratet, vor 54 Jahren. Jetzt lebt Erika allein in einer kleinen Wohnung und kommt einmal in der Woche zu Besuch. Erst vergaß Herr Rosendahl seine Telefonnummer, dann immer mehr, er kippte öfters um, und Vergangenheit und Gegenwart brachte er auch durcheinander. Jetzt ist er allein hier, aber irgendwann kommt sie nach, wenn auch sie nicht mehr zu Hause bleiben kann. Herr Rosendahl weint. »Das geht schon«, sagt er. Darum geht es: Das Beste daraus machen. Nicht das Perfekte. Es geht um das Mögliche. Denn zwischen der Idee und der Wirklichkeit stehen die Menschen. Manchmal hören die Jungen sich ein wenig an wie die Alten, wenn sie von damals erzählen, vom Anfang, als die Euphorie herrschte. Von Frau Mannstein aus Ostpreußen, und wie sie zu Zerbst sagte: »Jungche, bring mirr ne Hahn, ich mach`n dirr in de` Kieche.« Wie die ganze Wohngemeinschaft auf der Dachterrasse stand und runterblickte, grün im Gesicht, als Frau Mannstein zur Tat schritt, Zerbst fing das Tier, sie packte den Vogel am Hals und drehte, aber Ostpreußen, das war lange her, die Hände waren schwach, der Kopf wollte zum Verrecken nicht ab, und da musste Zerbst die fi nale Drehung vollziehen, »Mann, war mir schlecht«. Und wie Frau Mannstein sich eine Ente wünschte, dann jedoch krank wurde, aber nichts abgeben wollte und mit der gebratenen Ente in ihrem Bett schlief. Und wie ... Der Kontakt zwischen den Generationen hat nachgelassen. Die WG ist ein organisches Gebilde, ihre wechselnde Besetzung bestimmt das Miteinander. Einzelne können die Stimmung der Gruppe vermiesen. Und für die meisten der alten Generation ist die Gemeinschaft mit bisher unbekannten Menschen eine Notlösung, nichts, wonach sie sich sehnen. »Die meisten kommen hierher, wenn es zu Hause wirklich nicht mehr geht«, sagt Meik Walkenhorst vom Pflegedienst »Lebensbaum«. Wenn sie einziehen, sind sie wenig belastbar. Sie können sich weniger einbringen. Sie identifi zieren sich weniger mit der Gemeinschaft. Aber, so glauben die Jungen, das wird sich mit kommenden Generationen ändern, man werde früher zusammenziehen wollen. In Zukunft. Es sind die kleinen Momente, die heute das Zusammenleben prägen, aber man dürfe das nicht unterschätzen, 34 Ausgezeichnete Beiträge sagen die Pfleger, die Alten wollten oft nicht viel mehr. Wenn Zerbsts Schwester Tina ihr Baby Frau Schön in den Arm legt. Wenn die Kinder im Garten toben. Wenn sich die Jungen auf der Terrasse dazusetzen. Dass sie darauf achten, was im Haus passiert. Vor Jahren, als ein Team des Pflegedienstes festgelegte Waschzeiten für das Bettzeug einführen wollte, schritten sie ein: Wir sind kein Heim mit mechanischen Abläufen! »Es ist schon schön, dass hier auch junge Menschen sind«, sagt Herr Rosendahl. Aber es klingt auch etwas gleichgültig. Die Bewohner können bleiben, bis zum Schluss, das ist gut, sagen die Jungen. Die Alten reden selten offen über den »Schluss«. Durch eine kluge Konstruktion sind fast immer drei Betreuer für höchstens zwölf Bewohner da. So fühlen sie sich nicht als Patienten, die nach festen Plänen Fütterungs- und Waschvorgänge durchlaufen, sie fühlen sich zu Hause, sagen die Pfleger. Die Alten sagen nicht »zu Hause«. In Frau Stockheckes Zimmer hängt eine Lichterkette, weil es nachts so dunkel ist und weil Frau Stockhecke Angst hat. Das sagt sie ab und an: »Ich habe Angst.« Aber sie kann nicht erklären, wovor. »Ich habe Angst«, sagt sie, wenn ihr einer auf den Stuhl helfen will und sie innehält, und keiner weiß genau, was sie fürchtet: dass sie vom Stuhl fällt, oder einfach irgendwas. Aber sie hat jetzt Lichter im Zimmer, in dem ihre alten Möbel stehen und das Bild von ihr als Kind mit Zöpfen. Auf den Schirmen der Lichter sind Blumen, und nachts sieht es von außen aus, als würde ein kleines Mädchen schlummern. Es ist das, was sie geboten bekommen. Sie zahlen dafür je nach Pflegestufe zwischen 2000 und 2200 Euro, ein Platz im Heim ist nicht billiger, und das Sozialamt im Landkreis erkennt die Kosten an. Fast alle Angehörigen der Bewohner sagen: Wenn, dann möchte ich auch hierher. Doch ihre Eltern haben es sich nicht ausgesucht, die meisten stehen unter Betreuung, früher hieß das »Vormundschaft«. Sie haben sich die Frage nie gestellt, als sie sie noch selbst hätten beantworten können: Wo will ich mal hin? Ein neuer Morgen. Der Tag ist noch heißer als gestern. Die Hunde bellen wieder, und wäre man esoterisch veranlagt, würde man vielleicht behaupten, sie spüren, dass etwas Besonderes passiert ist. Frau Bartling ist heute Nacht gestorben. Und Frau Mittelberg hat Geburtstag. Herr Bartling sitzt am Tisch. Seine Söhne kommen, und bald diskutieren sie, weil Papa partout nicht hier bleiben will, aber zu ihnen kann er auch nicht. Und eine eigene Wohnung? Das ging ja nach dem Schlaganfall seiner Frau schon nicht mehr gut. Ausgezeichnete Beiträge Frau Mittelberg hat zum 90. einen Topf Blumen bekommen. Frau Borgelt sagt, »ich gieß sie Ihnen mal«, wankt mit steifer Hüfte zum Esstisch und reicht den Hyazinthen einen ordentlichen Schluck »Graf Rudolf Quelle mild«. Die Bartlings schieben ihren Vater auf die Terrasse. Die Söhne reden, der Vater schweigt. Er wirkt in seiner Niedergeschlagenheit auch wütend, als wäre er zornig auf die eigene Trauer und das Schicksal. Alle drei sind bei ihm in die Lehre gegangen, ein echter Familienbetrieb, irgendwann hätte er ihn übergeben, und gesorgt wäre für ihn und seine Frau auch gewesen. Aber dann kamen die Banken, und jetzt sitzt Herr Bartling hier, und sein Sohn Dieter besucht ihn täglich mit einem klapprigen 305er Peugeot. Wenn Zerbst und seine Frau alt sind, wollen sie entweder eine Etage tiefer ziehen, oder es kommt ein Aufzug ins Haus, das ist der Plan. Wenn er das Prinzip der WG erklärt, sagt Zerbst immer: »Es muss sein wie bei einer Schafherde: Die Schwächsten gehören in die Mitte. An ihnen müssen sich die anderen orientieren.« Und er meint damit nicht nur seine WG. Er meint auch das große Ganze. Man kann das als Sozialromantik abtun. Doch in Wirklichkeit ist es, ganz banal, auch eine Investition. »Nur so 35 kann jeder sicher sein, dass er aufgefangen wird, wenn er selbst schwach wird«, sagt Zerbst. Wer sich nicht um die jetzigen Alten kümmert, wird es selbst später schwer haben, eine Form zu finden, die ihn auff ängt, wenn es bei ihm mal so weit ist. Auf der Terrasse ist Leben. Die Kinder haben eine Maus gefangen, jetzt haben sie einen Futtereimer von den Schafen geholt. Frau Ernst sagt: »Donnerwetter!« Frau Stockhecke unterbricht die Lektüre von »Sein schönstes Liebeslied« auf Seite 36. Renate Kettler sagt: »Maus gefangen.« Sie sitzt in ihrem Rollstuhl, ihr Kopf hängt leicht zur Seite, die Muskeln sind zu schwach, ihn zu halten. Sie ist die einzige jüngere Pflegebedürftige unten im Haus: 42 Jahre, Multiple Sklerose. Jetzt ist sie hier und verfolgt diese Szene, die sie begreift, weil ihr Verstand klar ist, aber in der sie nicht mitspielen kann, weil ihr Körper oft zu schwach zum Reden ist. »Gras, Maus«, flüstert sie. Die Jungen sagen, sie seien auch dankbar für die Anwesenheit des Alters und der Gebrechlichkeit. Sie sind bis auf Zerbst nicht wegen der Alten hergezogen. Die Anlage ist wunderschön, Schafe, Hunde, Hühner, die Mieten sind für alle niedrig. Sie schätzen das Kommunenleben. Aber jetzt wollen sie die Menschen unten nicht mehr missen. Wenn man sie nach dem Grund fragt, erzählen sie oft von Renate Kettler. Weil es beeindruckend sei, wie sie ihr Schicksal annehme, immer fröhlich, lebensdurstig, trotz allem. Und weil es so viele der eigenen Sorgen kleiner scheinen lasse. So geht es ihnen auch mit den Alten. Sigrid, die Biologin, die mit ihrem Sohn hier lebt, sagt: »Sie sind ein Spiegel: Das bin ich in 40 Jahren. Und das kann etwas sehr Beruhigendes haben.« Sabine, die Frau von Michael Zerbst, sagt: »Allein die Frage nach dem Warum ist pervers. Das Alter gehört dazu. Aber unsere Gesellschaft klammert die jetzigen Alten aus.« Vielleicht gerade weil sie ein Spiegel sind, in den man nicht blicken will? Weil er das Gesicht einer Zukunft zeigt, die man schwer ertragen kann, die aber oft unvermeidlich ist, auch wenn sie dank medizinischer Fortschritte ein paar Lebensjahre später eintritt als bei der jetzigen Generation? Weil man Leid sieht oder Schwäche oder am Schluss sogar nur einfach Ruhe? Es zu sehen und akzeptieren zu können sei das Beruhigende, sagt Sigrid. Es ist Abend. Frau Borgelt sitzt auf der Couch. Frau Pahlkötter und Frau Stockhecke sitzen in ihren Sesseln. Sie schweigen zehn Minuten lang. Frau Borgelt sagt: »Was haben Sie gesagt?« – Frau Pahlkötter sagt: »Nichts« – Frau Borgelt sagt: »Ach so.« Die Ruhe. Die alten Geschichten. Dass auch sonst noch jemand da ist, der bleibt, nicht nur der kleine Kreis der 36 Ausgezeichnete Beiträge eigenen Familie. Gebraucht zu werden. Helfen zu können. Man mag jedes dieser Dinge als romantische Kleinigkeit abtun, aber in der Summe ergeben sie ein Lebensgefühl. Sigrid erzählt gern, wie sie einmal unten am Hauseingang vorbeiging. Da saß Frau Gewiese in ihrem Rollstuhl. Sie weinte. Sigrid schenkte ihr eine geschnitzte Figur. Frau Gewiese lächelte, Sigrid hatte das Gefühl der guten Tat. Gäbe es Zahlen für diese Gefühle, würden Wirtschaftsberater von einer Win-Win-Situation sprechen: Das Geschäft zahlt sich für beide aus. Frau Ernst will in die Raucherecke. Herr Rosendahl sagt: »Lass mal den Ernst vorbei.« – »Ich bin nicht der Ernst.« Frau Stockhecke kann grimmige Blicke werfen, wenn eine Neue ihr den Platz am Kartoffeleimer streitig machen will. Und was es früher hier für Schlachten zwischen Ostpreußen und Sudetendeutschen gab! Sie kommen aus der Generation, die das Trauma einer Kriegsund Wiederaufbau-Jugend mit sich schleppt. »Die Verbitterten« nennt man sie oft. »Aber wenn wir alt sind«, sagt Zerbst, »werden wir hier draußen auf dem Hof bei einem Bier sitzen, die Sonne genießen und den jungen Pflegerinnen hinterherpfeifen.« Sicher? »Nö.« Ausgezeichnete Beiträge 37 Marion-Dönhoff-Förderpreis: Markus Wanzeck »Profit macht nur der Kiez« taz, 18.11.2006 taz-Serie »Solidarische Ökonomie« (Teil 1): Die »Stadtteilgenossenschaft Wedding« verknüpft wirtschaftliches und soziales Engagement: Der Gewinn, den die Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe erwirtschaften, wird in soziale Projekte investiert Wer sich vom Leopoldplatz auf den Weg zum »Sprengelhaus« begibt, dem Sitz der Stadtteilgenossenschaft Wedding, passiert in der Luxemburger Straße ein Turkish-Airlines-Büro, den Asia-Supermarkt Wah Fung, ein Reisebüro, dessen Fenster mit chinesischen Schriftzeichen übersät sind, und eines, das türkische Reiseziele auf Türkisch anpreist. Keine Frage, der Sprengelkiez ist ein Kiez der Kulturen. Ein typisches Weddinger Quartier eben: Jeder dritte Einwohner ist nichtdeutscher Herkunft. Aber noch etwas anderes fällt auf im Sprengelkiez: Ketten bunter Wimpel, die zwischen Häusern und Bäumen über den Gehsteig gespannt sind. In der Sprengelstraße wird es richtig bunt. Wedding im November wirkt hier ein wenig wie Köln im Karneval. In der Tür des »Sprengelhauses« steht Willy Achter, ein kahlköpfiger, fröhlicher Mittvierziger, und bittet herein. Wie es zur Gründung der Stadtteilgenossenschaft vor sechs Jahren kam? »Im Kiez herrschten eine hohe Dauerarbeitslosigkeit und Resignation – einerseits. Andererseits lag so viel unerledigte Arbeit auf der Straße.« Achter meint verwahrloste Grünanlagen, heruntergekommene Häuser, leerstehende Gewerbeflächen. Der Grund dafür war klar: »Die öffentlichen Kassen sind leer, und für Investoren der Privatwirtschaft war unsere Gegend alles andere als attraktiv.« Dennoch wollte Achter den Verfall nicht wie ein Naturereignis hinnehmen. Etwas musste geschehen. Aber was? Ein Netzwerk an Kontakten, über Jahre des ehrenamtlichen Engagements in der Quartiersentwicklung gewachsen, war alles, was dem diplomierten Landschaftsbauer zur Verfügung stand. Es reichte für den Anfang. Willy Achter fand 36 Mitstreiter: Anwohner, Arbeitslose, Vertreter gemeinnütziger Organisationen. Gemeinsam gründeten sie im Oktober 2000 die »Stadtteilgenossenschaft Wedding für wohnortnahe Dienstleistungen«. Die Rechtsform der Genossenschaft wählten sie, weil das Projekt auf den Prinzipien der Solidarität, Selbsthilfe und Selbstverantwortung fußt. Jeder Miteigentümer hat gleiches Mitspracherecht – »ein Mensch, eine Stimme«. Zudem seien gemeinwohlorientierte Ziele in der Satzung verankert – konkret: »das Ausbrechen aus der sozialen Abwärtsspirale durch stadtteilbezogene Aktivierung der Bewohner, nachbarschaftliche Selbsthilfe und Förderung lokaler Beschäftigungsinitiativen«. Zumindest mit der Aktivierung hat es geklappt. Heute zählt die Genossenschaft rund 90 Mitglieder. Ihre Vernetzung ermöglicht ihnen etwa, Großaufträge zu akquirieren. Privatpersonen gehören ihr ebenso an wie 19 Mitgliedsbetriebe und gemeinnützige Organisationen. Die Genossenschaftsstruktur ist komplex geworden. Achter betreibt Komplexitätsreduktion: Auf ein Blatt Papier zeichnet er zwei Säulen. »Wirtschaft« heißt die erste, »Soziales« die zweite. »Beides sind genossenschaftliche Ziele«, insistiert er. Man möge ihn bloß nicht in die soziale Ecke stellen. Auf die Wirtschaftssäule schreibt Willy Achter die drei ökonomischen Elemente der Genossenschaft: Malerund Lackiererbetrieb, Dienstleistungsagentur, Stadtteilmarketing. Letzteres ist dafür zuständig, den Genossenschaftsmitgliedern auf Provisionsbasis Aufträge zu vermitteln, sie miteinander zu vernetzen und nach außen zu vermarkten. Etwa durch die Wimpelketten: »Die sind noch von den Sprengelwochen.« Die »Sprengelwochen«, die die Zusammenarbeit der Geschäfte im Kiez fördern soll, wurden 2004 von der Genossenschaft ins Leben gerufen. Über 70 Unternehmen haben sich in diesem Jahr an der Aktion beteiligt. Das Malergeschäft ist das Herzstück der Genossenschaft. Es steuert den Großteil des Umsatzes bei. Ursprüngliches Ziel war es, für den Betrieb Arbeitslose aus dem Stadtteil anzuheuern und so in die Erwerbsar- 38 Ausgezeichnete Beiträge Profit macht nur der Kiez Polizei nimmt Mutter fest taz-Serie „Solidarische Ökonomie“ (Teil 1): Die „Stadtteilgenossenschaft Wedding“ verknüpft wirtschaftliches und soziales Engagement: Der Gewinn, den die Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe erwirtschaften, wird in soziale Projekte investiert Die Mutter des lebensgefährlich verletzten Berliner Babys ist gefasst. Die Frau wird verdächtigt, ihren etwa sechs Monate alten Sohn am Donnerstag unter ein geparktes Auto in der Brückenstraße gelegt zu haben. Das Kind war mit schweren Kopfverletzungen gefunden und in ein Krankenhaus gebracht worden. Die 22-jährige Mutter wurde am Freitagmorgen in einer Bankfiliale in der Nähe ihrer Wohnung in Niederschöneweide festgenommen, teilte die Polizei mit. Der Kleine schwebt nach Angaben der Kinderklinik nach zwei Notoperationen noch immer in Lebensgefahr. Das Jugendamt hat das Kind in seine Obhut genommen. Die Polizei geht von einem Verbrechen aus, die Mordkommission ermittelt. Der Säugling war laut Polizei vermutlich vorsätzlich unter das Auto gelegt worden. Eine Frau hatte den Jungen zufällig entdeckt, weil sie ein leises Wimmern gehört hatte. Die Rettung kam buchstäblich im letzten Moment: Nur eine Minute nachdem die Frau den kleinen Jungen gefunden hatte, kam der Besitzer des Autos und wollte DPA wegfahren. VON MARKUS WANZECK Wer sich vom Leopoldplatz auf den Weg zum „Sprengelhaus“ begibt, dem Sitz der Stadtteilgenossenschaft Wedding, passiert in der Luxemburger Straße ein Turkish-Airlines-Büro, den Asia-Supermarkt Wah Fung, ein Reisebüro, dessen Fenster mit chinesischen Schriftzeichen übersät sind, und eines, das türkische Reiseziele auf Türkisch anpreist. Keine Frage, der Sprengelkiez ist ein Kiez der Kulturen. Ein typisches Weddinger Quartier eben: Jeder dritte Einwohner ist nichtdeutscher Herkunft. Aber noch etwas anderes fällt auf im Sprengelkiez: Ketten bunter Wimpel, die zwischen Häusern und Bäumen über den Gehsteig gespannt sind. In der Sprengelstraße wird es richtig bunt. Wedding im November wirkt hier ein wenig wie Köln im Karneval. In der Tür des „Sprengelhauses“ steht Willy Achter, ein kahlköpfiger, fröhlicher Mittvierziger, und bittet herein. Wie es zur Gründung der Stadtteilgenossenschaft vor sechs Jahren kam? „Im Kiez herrschten eine hohe Dauerarbeitslosigkeit und Resignation – einerseits. Andererseits lag so viel unerledigte Arbeit auf der Straße.“ Achter meint verwahrloste Grünanlagen, heruntergekommene Häuser, leerstehende Gewerbeflächen. Der Grund dafür war klar: „Die öffentlichen Kassen sind leer, und für Investoren der Privatwirtschaft war unsere Gegend alles andere als attraktiv.“ Dennoch wollte Achter den Verfall nicht wie ein Naturereignis hinnehmen. Etwas musste geschehen. Aber was? Ein Netzwerk an Kontakten, über Jahre des ehrenamtlichen Engagements in der Quartiersentwicklung gewachsen, war alles, was dem diplomierten Landschaftsbauer zur Verfügung stand. Es reichte für den Anfang. Willy Achter fand 36 Mitstreiter: Anwohner, Arbeitslose, Vertreter gemeinnütziger Organisationen. Gemeinsam gründeten sie im Oktober 2000 die „Stadtteilgenossenschaft Wedding für wohnortnahe Dienstleistungen“. Die Rechtsform der Genossenschaft wählten sie, weil das Projekt auf den Prinzipien der Solidarität, Selbsthilfe und Selbstverantwortung fußt. Jeder Miteigentümer hat gleiches Mitspracherecht – „ein Mensch, eine Stimme“. Zudem seien gemeinwohlorientierte Ziele in der Satzung verankert – konkret: „das Ausbrechen aus der sozialen Abwärtsspirale durch stadtteilbezogene Aktivierung der Bewohner, nachbarschaftliche Selbsthilfe und Förderung lokaler Beschäftigungsinitiativen“. Zumindest mit der Aktivierung hat es geklappt. Heute zählt die Genossenschaft rund 90 Mitglieder. Ihre Vernetzung ermög- Flüchtlingsrat übt scharfe Kritik Mit der Aktivierung hat es geklappt: Willy Achter (r.) mit einem Beschäftigten des genossenschaftlichen Malerbetriebs licht ihnen etwa, Großaufträge zu akquirieren. Privatpersonen gehören ihr ebenso an wie 19 Mitgliedsbetriebe und gemeinnützige Organisationen. Die Genossenschaftsstruktur ist komplex geworden. Achter betreibt Komplexitätsreduktion: Auf ein Blatt Papier zeichnet er zwei Säulen. „Wirtschaft“ heißt die erste, „Soziales“ die zweite. „Beides sind genossenschaftliche Ziele“, insistiert er. Man möge ihn bloß nicht in die soziale Ecke stellen. Auf die Wirtschaftssäule schreibt Willy Achter die drei ökonomischen Elemente der Genossenschaft: Maler- und Lackiererbetrieb, Dienstleistungsagentur, Stadtteilmarketing. Letzteres ist dafür zuständig, den Genossenschaftsmitgliedern auf Provisionsbasis Aufträge zu vermitteln, sie miteinander zu vernetzen und nach außen zu vermarkten. Etwa durch die Wimpelketten: „Die sind noch von den Sprengelwochen.“ Die „Sprengelwochen“, die die Zusammenarbeit der Geschäfte im Kiez fördern soll, wurden 2004 von der Genossenschaft ins Leben gerufen. Über 70 Unternehmen haben sich in diesem Jahr an der Aktion beteiligt. Das Malergeschäft ist das Herzstück der Genossenschaft. Es steuert den Großteil des Umsatzes bei. Ursprüngliches Ziel war es, für den Betrieb Arbeitslose aus dem Stadtteil anzuheuern und so in die Erwerbsarbeit zu überführen. Damit sei man jedoch irgendwann an Grenzen gestoßen, sagt Achter. Auch weil SOLIDARISCHE ÖKONOMIE Vom 24. bis zum 26. November findet in der Technischen Universität Berlin der Kongress „Solidarische Ökonomie“ statt, zu dem über 500 Teilnehmer aus aller Welt erwartet werden. Bei der Veranstaltung werden Antworten auf die Frage gesucht, wie in Zeiten des globalisierten Kapitalismus Ansätze eines solidarischen Wirtschaftens verwirklicht werden können. Die taz berlin nimmt das zum Anlass, sich in der Stadt auf die Suche nach Projekten und Betrieben zu begeben, die den schwierigen Weg zwischen solidarischem Anspruch und marktwirtschaftlicher Realität gehen. In unserer Serie werden wir eine Woche lang jeden Tag ein solches Projekt vorstellen. ROT manche die Genossenschaft mehr als soziales Sicherungsnetz denn als Wirtschaftsunternehmen verstünden. 2002 habe man sich zu einem Einschnitt entschlossen und das Malergeschäft in einen professionellen Betrieb überführt. Der hat derzeit vier Festangestellte, Arbeitslose können nur noch Praktika absolvieren. Willy Achter, der gelassene Erzähler, wird etwas lauter: „Wir sind kein Non-Profit-Unternehmen – wir sind ein Not-for-Profit-Unternehmen.“ Der Unterschied: Gewinn ist Ziel, aber nicht Selbstzweck. Er darf nur für genossenschaftliche Ziele verwendet werden. Die soziale Säule auf der Skizze enthält einige davon: „Partnerschaftsprojekte“ steht dort, „Berufsintegration“ und „Gemeinwesenzentrum“. Sie alle hängen auf ganz einfache Weise zusammen: Die Räume des Gemeinwesenzentrums Sprengelhaus werden kostenneutral an berufsintegrative Projekte vermietet, die Menschen mit und ohne Migrationshintergrund aus der Langzeitarbeitslosigkeit loseisen. Die Weiterbildungsprojekte des Sprengelhauses, die Namen tragen wie „Parcours zur Erwerbssicherung“ oder „Integration in der Mitte Berlins“, erhalten Fördermittel vom Quartiersmanagement, vom Bund und von der EU. Bezahlen müssen die Teilnehmer nichts, aber sie investieren etwas: Eigeninitiative. „Die Teilnehmer müssen von sich aus zu uns kommen“, erklärt Achter. „Die Kurse sind eben kei- Im Mittelpunkt steht der Mensch Am nächsten Wochenende findet in der Technischen Universität der Kongress „Solidarische Ökonomie“ statt Was soll im Mittelpunkt des Wirtschaftens stehen: der Mensch oder der Profit? Die mehr als 500 Teilnehmer des Kongresses „Solidarische Ökonomie“, der Ende nächster Woche (24. bis 26. November) an der TU Berlin stattfindet, dürften eine klare Antwort darauf haben: der Mensch. Was Solidarische Ökonomie aber darüber hinaus leisten muss da- Im globalisierten Kapitalismus werden immer mehr Lebensbereiche der Profitmaximierung unterworfen, die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer, sagen die Kongressveranstalter. „Es ist an der Zeit, offensiv eine andere Ökonomie auszubauen, die auf sozialen, ökologischen und demokratischen Werten basiert eine Öko- und geschlechtergerechten Arbeitsbedingungen und unter Schonung der natürlichen Lebensgrundlagen.“ Zunächst geht es aber erst einmal darum, den Begriff und den Gedanken einer solidarischen Wirtschaftsweise bekannter zu machen. „Der Begriff ist in Deutschland ja nicht so bekannt“ sagt Dagmar Embshoff Europa, Nord- und Südamerika und Indien geladen, einer der ranghöchsten ist der brasilianische Staatssekretär für Solidarische Ökonomie, Paul Singer. „Wir wollen auch über die politischen Rahmenbedinungen für Solidarische Ökonomie reden“, so Embshoff. So gebe es in anderen Ländern Steuervorteile für Genossenschaften Rechtsfor- FOTOS: MIKE SCHMIDT ne vom Arbeitsamt zugewiesenen Maßnahmen, bei denen die Arbeitslosen gegängelt werden, wenn sie nicht erscheinen. Dadurch stellen wir Motivation sicher.“ Im Anschluss an die Weiterbildung ist die Genossenschaft bei der Jobvermittlung behilflich – im Idealfall in eines der Mitgliedsunternehmen. Beim Blick zurück auf sechs Jahre Genossenschaftsarbeit wird Willy Achter nachdenklich. Ist der Ausbruch aus der Abwärtsspirale gelungen? „Wenn man heute auf den Sprengelkiez blickt, sieht man schon einige Erfolge“, sagt er. „Als wir unsere Arbeit aufgenommen haben, hat sich kaum jemand für den Stadtteil interessiert. Jetzt engagieren sich ganz viele.“ Das Image habe sich verbessert. Die Leute fühlten sich im Kiez wieder zu Hause – und für ihn verantwortlich. Es scheint, als habe der Solidaritätsgedanke ein wenig auf den Stadtteil abgefärbt. Auf dem Kongress „Solidarische Ökonomie“ (s. Text unten) wird Achter am Wochenende einen Vortrag über „seine“ Genossenschaft halten. Wieder einmal. Er klingt etwas unzufrieden, als er das erzählt. Warum? „Wir werden ständig als Vorbild herumgereicht.“ Meist stellten andere die Fragen und er müsse erzählen. Dabei habe er selbst genug Fragen, für die ihm ein Ansprechpartner auf Augenhöhe fehle. Es sei nicht leicht, ständig als Modellprojekt die Fahne der sozialen Ökonomie hochzuhalten. „Manchmal“, sagt Achter, „ist es ziemlich einsam hier oben.“ merhin 35 Euro für den vollen Preis kostet, ist Embshoff zufrieden. Bislang hätten sich bereits über 500 Teilnehmer angemeldet, zusammen mit den Referenten und Ausstellern werden rund 700 erwartet. Unterstützt wird der Kongress unter anderem von attac, dem DGB Berlin-Brandenburg und der Bundeskoordination Internationalismus (Buko). Allen gemein dürfte das Credo der Veranstalter sein: „Die Zeit ist reif für einen Kongress, der diesen Wirtschaftssektor öffentlich macht, Akteure zusammenbringt politische Fragen disku- Der Flüchtlingsrat hat den Beschluss der Innenministerkonferenz zum Bleiberecht als „faulen Kompromiss“ bezeichnet. Mit dem Zweistufenmodell werde der unsichere Status vieler Geduldeter aufrechterhalten, so die Initiative am Freitag. Angesichts der gegenwärtigen Arbeitsmarktlage könne in Berlin kaum ein Flüchtling die Anforderung eines „dauerhaften“ Arbeitsplatzes erfüllen. Die Innenminister einigten sich am Freitag darauf, dass Flüchtlinge, die ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, mindestens sechs Jahre in Deutschland leben und nicht straffällig geworden sind, ein Bleiberecht erhalten. Eine zweite Gruppe der 190.000 geduldeten Ausländer in Deutschland soll bis September nächsten Jahres vor Abschiebung geschützt sein, um sich Arbeit zu suchen. Wegen des unsicheren Aufenthaltsstatus und der Residenzpflicht werde es für die Betroffenen schwierig, Arbeitgeber zu finden, die bereit sind, einen Jobvertrag abzuschließen, so der EPD Flüchtlingsrat. der tag SEITE 2, meinung SEITE 10 Landowsky kriegt Leviten gelesen Im Prozess um die Berliner Bankenaffäre ist nach rund 15 Monaten ein Ende absehbar. Am Freitag nächster Woche (24. 11.) sollen nach Angaben des Landgerichts die Plädoyers in dem Verfahren mit 13 Angeklagten beginnen, zu denen auch der frühere CDUFraktionschef und Vorstand der Bankgesellschaftstochter Berlin Hyp, Klaus Landowsky, gehört. Landowsky hatte sich Anfang November erstmals vor Gericht geäußert und die Vorwürfe der schweren Untreue zurückgewiesen. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 64-Jährigen und weiteren zwölf Exmanagern und Aufsichtsratsmitgliedern der BerlinHyp vor, Mitte der 90er-Jahre Risiken bei der Vergabe von Krediten in Höhe von 235 Millionen Euro an das Immobilienunternehmen Aubis pflichtwidrig nicht beachtet zu haben. Ein weiterer Prozess gegen zwölf ExBankmanager, in dem es um Immobilienfonds der Bankgesell- Ausgezeichnete Beiträge beit zu überführen. Damit sei man jedoch irgendwann an Grenzen gestoßen, sagt Achter. Auch weil manche die Genossenschaft mehr als soziales Sicherungsnetz denn als Wirtschaftsunternehmen verstünden. 2002 habe man sich zu einem Einschnitt entschlossen und das Malergeschäft in einen professionellen Betrieb überführt. Der hat derzeit vier Festangestellte, Arbeitslose können nur noch Praktika absolvieren. Willy Achter, der gelassene Erzähler, wird etwas lauter: »Wir sind kein Non-Profit-Unternehmen – wir sind ein Not-for-Profit-Unternehmen.« Der Unterschied: Gewinn ist Ziel, aber nicht Selbstzweck. Er darf nur für genossenschaftliche Ziele verwendet werden. Die soziale Säule auf der Skizze enthält einige davon: »Partnerschaftsprojekte« steht dort, »Berufsintegration« und »Gemeinwesenzentrum«. Sie alle hängen auf ganz einfache Weise zusammen: Die Räume des Gemeinwesenzentrums Sprengelhaus werden kostenneutral an berufsintegrative Projekte vermietet, die Menschen mit und ohne Migrationshintergrund aus der Langzeitarbeitslosigkeit loseisen. Die Weiterbildungsprojekte des Sprengelhauses, die Namen tragen wie »Parcours zur Erwerbssicherung« oder »Integration in der Mitte Berlins«, erhalten Fördermittel vom Quartiersmanagement, vom Bund und von der EU. Bezahlen müssen die Teilnehmer nichts, aber sie investieren etwas: Eigeninitiative. »Die Teilnehmer müssen von sich aus zu uns kommen«, erklärt Achter. »Die Kurse sind eben keine vom Arbeitsamt zugewiesenen Maßnahmen, bei denen die Arbeitslosen gegängelt werden, wenn sie nicht erscheinen. Dadurch stellen wir Motivation sicher.« Im Anschluss an die Weiterbildung ist die Genossenschaft bei der Jobvermittlung behilfl ich – im Idealfall in eines der Mitgliedsunternehmen. Beim Blick zurück auf sechs Jahre Genossenschaftsarbeit wird Willy Achter nachdenklich. Ist der Ausbruch 39 aus der Abwärtsspirale gelungen? »Wenn man heute auf den Sprengelkiez blickt, sieht man schon einige Erfolge«, sagt er. »Als wir unsere Arbeit aufgenommen haben, hat sich kaum jemand für den Stadtteil interessiert. Jetzt engagieren sich ganz viele.« Das Image habe sich verbessert. Die Leute fühlten sich im Kiez wieder zu Hause – und für ihn verantwortlich. Es scheint, als habe der Solidaritätsgedanke ein wenig auf den Stadtteil abgefärbt. Auf dem Kongress »Solidarische Ökonomie« wird Achter am Wochenende einen Vortrag über »seine« Genossenschaft halten. Wieder einmal. Er klingt etwas unzufrieden, als er das erzählt. Warum? »Wir werden ständig als Vorbild herumgereicht.« Meist stellten andere die Fragen und er müsse erzählen. Dabei habe er selbst genug Fragen, für die ihm ein Ansprechpartner auf Augenhöhe fehle. Es sei nicht leicht, ständig als Modellprojekt die Fahne der sozialen Ökonomie hochzuhalten. »Manchmal«, sagt Achter, »ist es ziemlich einsam hier oben.« Solidarische Ökonomie Vom 24. bis zum 26. November fi ndet in der Technischen Universität Berlin der Kongress »Solidarische Ökonomie« statt, zu dem über 500 Teilnehmer aus aller Welt erwartet werden. Bei der Veranstaltung werden Antworten auf die Frage gesucht, wie in Zeiten des globalisierten Kapitalismus Ansätze eines solidarischen Wirtschaftens verwirklicht werden können. Die taz berlin nimmt das zum Anlass, sich in der Stadt auf die Suche nach Projekten und Betrieben zu begeben, die den schwierigen Weg zwischen solidarischem Anspruch und marktwirtschaftlicher Realität gehen. In unserer Serie werden wir eine Woche lang jeden Tag ein solches Projekt vorstellen. ROT 40 Ausgezeichnete Beiträge Serienpreis: Thomas Faltin, Michael Ohnewald »Die Engagierten« Stuttgarter Zeitung, 15.09. bis 15.11.2007 Geben und Nehmen Die Engagierten (1): Uwe Bodmer kümmert sich um Langzeitarbeitslose STUTTGART. Ein Drittel aller Deutschen leistet in der Freizeit ehrenamtliche Hilfe. Die Engagierten sind der Kitt der Zivilgesellschaft – und bleiben doch weit gehend unbeachtet. Einige von ihnen porträtiert die Stuttgarter Zeitung in einer Serie. Von Michael Ohnewald Alles, wofür er sich ein halbes Leben lang eingesetzt hatte, war plötzlich ein Fall für die Müllabfuhr. Viele Jahre hatte er bei Alcatel Deutschland eine Abteilung geleitet, die in ihren besten Zeiten 50 Mitarbeiter zählte. Dann kam die Globalisierung, und am Ende waren es noch drei. Für seine Leute gab es keine Jobs mehr. Ihre Jobs sind jetzt in Indien. Irgendwann ist auch er gegangen. Am ersten Tag im Ruhestand rannte er sich den Frust von seiner Seele, die nicht aus Teflon ist, wie man es von Pfannen kennt, an denen alles abperlt. Bei ihm ist es nicht abgeperlt. Uwe Bodmer lief zur Selbsttherapie einen Marathon, und es sollte seine Bestzeit werden. Drei Stunden und drei Minuten brauchte er für 42 Kilometer. Es war ein Samstag. An diesem Tag ging etwas zu Ende. Seit 1962 war er mit kurzen Unterbrechungen bei der Firma gewesen. Nun stand er im Ziel und hielt inne. Hinter sich wusste er in diesem Moment die Mühen der viel zitierten Ebene. Was er vor sich haben würde, das wusste er nicht. Eine Woche später machte sich Bodmer zum Büro der Stuttgarter Freiwilligenagentur auf, um seine Dienste für die Gesellschaft anzubieten. »Ich musste was Neues machen«, sagt er, »und damit das Alte bewältigen.« Bodmer fühlte einen unbändigen Tatendrang in sich, ge- speist durch die Gewissheit, dass er trotz allem Glück gehabt hatte im Leben. Drei Kinder, einen Job, das Glück einer zweiten Ehe, die Chance auf Altersteilzeit. Jetzt spürte der 58-jährige Ingenieur, dass die Zeit reif war, was für andere zu tun. Und was für sich. Ein Jahr später sitzt Uwe Bodmer in seiner Wohnung in Zuffenhausen vor einem Glas Wasser und erzählt von seinem neuen Leben als unentgeltlicher Dienstleister. Angefangen hat er als Jobpate. In diesem Ehrenamt kümmert er sich seit September vorigen Jahres um Langzeitarbeitslose, hilft ihnen bei den Bewerbungen, stützt sie moralisch und bietet sich als Begleiter an. Aber wie das so ist bei Menschen, die einen solchen Wendepunkt hinter sich haben, wendet sich manches mit Macht. Bodmer entdeckte die Bürgergesellschaft für sich – und sie entdeckte ihn. Neben seinem Amt als Jobpate wurde er auch Seniorpartner im Projekt »Startklar«. Als solcher hilft er vier Hauptschülern der Bismarckschule in Feuerbach bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Nebenbei betreut er nachmittags einen türkischen Jungen. Weil da noch ein bisschen Platz war in seinem Kalender, hat sich Bodmer auch noch dem Kinderschutzbund angeschlossen. Dort steht er Rede und Antwort am Kinder- und Jugendtelefon und begleitet Väter, denen nach einer Trennung nur der betreute Umgang mit ihren Kindern gestattet ist. Als wäre das alles nicht mehr als genug, amtiert der Marathonmann zudem als zweiter Vorsitzender im Ludwigsburger Verein »maks4kids«. Die vierzig Mitglieder laufen immer wieder zusammen und sammeln bei dieser Gelegenheit Spenden, die dazu verwendet werden, behinderten Kindern aus der Region Stuttgart eine Delfi ntherapie in Florida zu ermöglichen. Viermal ist das schon gelungen. Inzwischen widmet der Ruheständler, der eigentlich gar keiner ist, seinen Ehrenämtern mehr als sechs Stunden am Tag. Seine Frau Melitta, die er »den sunshine of my life« nennt, lässt ihn gewähren. Sie ist berufstätig und weiß, dass einer wie Uwe Bodmer nicht Ausgezeichnete Beiträge mit Heizkissen vor dem Fernseher vorstellbar ist. Wer ihn zähmen will, der muss ihn laufen lassen. Und weil das so ist, läuft sie in ihrer Freizeit mit. Einige Marathonläufe haben die beiden schon zusammen bestritten. In seinem ersten Jahr nach dem beruflichen Ausstieg hat Bodmer viel gegeben – und viel bekommen. »Ich habe in diesen Monaten so viel Neues über mich erfahren und bin bei der Sicht auf die Dinge tiefer vorgedrungen«, sagt er. »Auf dem Grund bin ich aber noch nicht angelangt.« Das sei nicht immer schön gewesen. Er habe die soziale Kälte dieser Gesellschaft gespürt, die Sorgen junger Menschen und in einigen Situationen auch die Hilflosigkeit des Helfers. Was soll man sagen, wenn ein Hauptschüler mit schlechten Noten als Berufswunsch Anwalt angibt? Was soll man sagen, wenn einem am Telefon von einem Jungen erzählt wird, er habe ein Verhältnis mit der 30-jährigen Nachbarin? Was soll man sagen, wenn man einen Sozialarbeiter betreut, der sein Studium mit der Note 1,2 abgeschlos- 41 sen hat und trotzdem in dieser Gesellschaft keine Chance bekommt? Der Fall des Sozialarbeiters treibt Bodmer noch immer um. Manchen konnte er helfen. Ihm nicht. »Dieses System kann einen krank machen«, sagt er. Auch ihn würde es krank machen, wenn er nicht die Gabe hätte, laufend zu verarbeiten. Wenn ihn die Nöte derer plagen, um die er sich kümmert, schnürt Bodmer seine Sportschuhe und macht sich auf in den Wald. »Nach dem Laufen bin ich ein neuer Mensch«, sagt er. »Was mich belastet hat, bleibt auf der Strecke.« Davon profitiert der Sozialarbeiter Stefan Wilhelm, welcher in Bodmer einen Jobpaten hat, der auf die Langstrecke spezialisiert ist und folglich nicht so schnell ans Aufgeben denkt. Viele Gespräche hat Bodmer mit dem 45-Jährigen geführt, und ihm dabei klar gemacht, dass er das Vertrauen in seine Fähigkeiten nicht verlieren dürfe. Er hat dem Arbeitslosen bei seinen Bewerbungen geholfen und ihn bestärkt, souverän mit einer leichten Sprachbehinderung umzugehen. »Das kann man auch als Stärke betrachten«, sagt Bodmer. »Jemand wie er kann sich besser auseinander setzen mit der Lebenswelt von Behinderten.« Für Stefan Wilhelm sind solche Ratschläge viel wert. »Die Gespräche mit ihm haben mir geholfen«, sagt er über seinen Jobpaten. Vor zwei Jahren hat der Stuttgarter, der früher als Bürokaufmann gearbeitet hat, sein Diplom als Sozialarbeiter mit Auszeichnung abgelegt. Seitdem sucht er. Und Bodmer sucht mit. Dem Jobpaten geht es nahe, dass es trotz der guten Noten noch nicht geklappt hat mit einem Arbeitsplatz für seinen Schützling im sozialen Bereich, in dem Jobs abgebaut werden. Bodmer war früher Betriebsrat, und diese Zeit hat bei ihm Widerhaken gesetzt, dort, wo das soziale Gewissen sitzt. Er tut, was er tun kann, und ist sich dabei im Klaren, dass es wenig ist. »Ein Tropfen auf den heißen Stein«, sagt er. Aber immerhin ein Tropfen. Uwe Bodmer weiß um seine Grenzen, und er weiß um die Grenzen der zivilen Bürgergesellschaft. »Es gibt eine starke Tendenz, Leute wie mich auszunutzen«, sagt er. Da ist Bodmer sensibel. Er stellt gerne das Gemeinwohl über sein Eigeninteresse, aber wenn das Gemeinwohl mehr gemein als wohl ist und die Jobs von Festangestellten durch angelernte Freiwillige besetzt werden, dann hört es für ihn auf. »Ich bin kein Profi«, sagt er, »sondern nur ein Mensch wie du und ich.« Die Serie, die einmal pro Woche erscheint, ist im Internet nachzulesen unter www.stuttgarter-zeitung.de/ ehrenamt. Unter dieser Adresse sind auch weitere Ehrenamtsagenturen in der Region Stuttgart aufgeführt. 42 Ausgezeichnete Beiträge »So viele nette Kerle« Die Engagierten (2): Barbara und Ulrich Endreß betreuen Obdachlose STUTTGART. Ein Drittel aller Deutschen leistet in der Freizeit ehrenamtliche Hilfe. Die Engagierten sind der Kitt der Zivilgesellschaft – und bleiben doch weit gehend unbeachtet. Einige von ihnen porträtiert die Stuttgarter Zeitung in einer Serie. Von Thomas Faltin Ulrich Endreß muss wieder mal schlichten. Das hat mit Andreas zu tun, der ein Raubauz ist und in der Wohngemeinschaft für ehemals obdachlose Menschen in der Stuttgarter Föhrichstraße wohnt. Andreas ist 67 Jahre alt und verdrückt gerade eine Packung Vanilleeis, aber so richtig genießen kann er das nicht, denn er stört sich am Kindergeschrei im Haus. Seit Kurzem leben auch sechs ausländische Familien hier. »Die kleinen Kerle zeigen mir sogar den Stinkefi nger«, empört sich Andreas. Das sei nicht in Ordnung, beruhigt ihn Ulrich Endreß, den alle 21 Männer im Haus nur den »Uli« nennen. Aber der Uli wird dann auch sehr direkt. »Du bist empfi ndlich geworden«, sagt er, was sein Eis essender Freund murrend einräumt: »Das darf ich auch, schließlich bin ich fast schon rollstuhlverdächtig.« Gespräche dieser Art fi nden in der Föhrichstraße häufiger statt. Denn in dieser Wohngemeinschaft des Sozialamts kann man etwas in Stuttgart wohl Einmaliges erleben: Seit 23 Jahren kümmern sich Ulrich Endreß und sine Frau Barbara um das Haus, und zwar völlig ehrenamtlich und meist ohne Einmischung der Stadt. Das Ehepaar schaut danach, dass jeder die Kehrwoche macht, freie Zimmer wieder belegt werden und keiner über die Stränge schlägt, wenn mal wieder einer über den Durst getrunken worden ist. Für diese Hausverwaltung gibt es nicht mal eine Aufwandsentschädigung. »Zum zehnjährigen Jubiläum habe ich mal eine Flasche Wein geschenkt bekommen«, erinnert sich der ehrenamtliche Dienstleister: »Aber die steht immer noch zu Hause und ist längst Essig.« Inzwischen hat das Ehepaar diese Aufgabe in einem Maße zu einem Teil seines Lebens gemacht, wie es sich selbst stark engagierte Menschen wohl kaum vorstellen können. Wenn nachts um zwei Uhr einem Bewohner die Tür ins Schloss fällt, klingelt er den Uli aus dem Bett. Wenn einer ins Krankenhaus muss, sind die beiden Ehrenamtler oft die Einzigen, die ihn besuchen. Und wenn jemand Schwierigkeiten hat, seine 325 Euro »Stütze« über den Monat zu verteilen, dann verwaltet Barbara für ihn das Geld. »Hast du Sorgen, hast du Fragen – Uli sagen«, nach diesem Motto funktioniere die ganze Wohngemeinschaft, sagt der 65-jährige Endreß selbstironisch. Der gelernte und mittlerweile pensionierte Drucker hat sich im Laufe der Jahre immer besser auf die Menschen eingestellt, um die er sich kümmert. Und sogar eine Ausbildung als Suchtkrankenhelfer beim Blauen Kreuz hat er absolviert, um mit dem Suchtproblem, das häufig die eigentlichen Lebensprobleme seiner Schützlinge überdeckt, besser umgehen zu können. Die Männer, die manchmal ein wenig sonderbar, aber doch allesamt liebenswürdig sind, danken es Barbara und Ulrich Endreß auf ihre Weise – große Worte machen ist ihre Sache nicht. Der 70-jährige Walter sagt halt schlicht: »Wir haben manchmal Meinungsverschiedenheiten – aber Gott sei Dank sind die beiden hier.« Er lebt in einer blitzblank aufgeräumten Wohnung, und er ist stolz darauf, selbst in seinen dunkelsten Zeiten, damals nach der Scheidung und dem Absturz aus der Bürgerlichkeit, nie einen »roten Pfennig« vom Sozialamt gebraucht zu haben. Seit 20 Jahren wohnt er nun hier und will auch nicht mehr weg. So geht es den meisten, weshalb die Fluktuation gering ist: »Mit vielen sind wir Ausgezeichnete Beiträge alt geworden«, sagt Ulrich Endreß. Und so manchen hat er auch schon zu Grabe getragen. Zweimal wöchentlich kommen die beiden Ehrenamtlichen für mehrere Stunden ins Haus. Dabei handeln sie weniger nach sozialpädagogischen Grundsätzen als vielmehr nach dem Leitspruch »mit Zuckerbrot und Peitsche«. Wenn sich dazu noch eine deftige Portion schwäbischer Hemdsärmeligkeit gesellt, kann nichts mehr schief gehen. Stapelt einer mal wieder den Müll in seiner Wohnung bis unter die Decke, sagt Endreß: »Freundle, Bude aufräumen!« So geht das schon lange. Als er 1982 die Aufgabe übernommen hatte, baute sich ein kräftiger Bewohner vor ihm auf und erklärte mit ungarischem Akzent: »Ich bin Gabor. Ich bin Bürgermeister von Föhrichstraße.« Endreß hat Gabor daraufhin lapidar gesagt: »Das ist sehr gut. Und ich bin jetzt der Oberbürgermeister.« Umgekehrt ist Ulrich Endreß aber nichts zu viel. Er kleidet einen inkontinenten Bewohner völlig neu ein, damit ein Arzt überhaupt bereit ist, den Mann zu untersuchen. Einem anderen gibt er die alten Boss-Anzüge seines Chefs und schweigt auch dann noch, wenn der Bewohner sie bei seinem neuen Job auf der Baustelle trägt. Und er denkt bei alledem bis heute pragmatisch. Als sein Schützling Dieter darüber klagt, dass er vor den aggressiven Wespen Angst habe, weil er allergisch sei, sagt Endreß gelassen: »Ha no, na bring i dir des nächste Mal a Muggabätscher mit.« Barbara und Ulrich Endreß treffen den richtigen Ton. Das war vor 23 Jahren auch der Grund, weshalb die damalige Hausleitung die beiden angesprochen hat; dabei waren sie nur zu einer Weihnachtsfeier in die Föhrichstraße gekommen, weil ihr Sohn bei einer Aufführung mitwirkte. Bürgerschaftliches Engagement? Kontakt zu Obdachlosen? Fehlanzeige. So rutschten die beiden irgendwie in diesen Job hinein und wurden 1986, als Vertreter der Evangelisch-Methodistischen Kirche Feuerbach, zu Beauftragten für die Föhrichstraße ernannt. »Damals haben wir das Ausmaß gar nicht erkannt«, sagt Barbara Endreß. Sonst hätten sie aus Angst vor Überforderung wohl gleich Reißaus genommen. Doch sie blieben. Über die innersten Motive dafür haben sich Barbara und Ulrich Endreß kaum Gedanken gemacht, die Frage nach der Motivation löst bei ihnen eher Stirnrunzeln aus. »Wir tun es aus christlichem Glauben heraus und aus Menschenliebe«, sagen sie, spüren aber selbst, dass diese Antwort ein so langes Engagement nicht erklärt. Und so fügt Ulrich Endreß den Satz an: »Wir haben viele erschütternde Geschichten gehört, und ich weiß: mit ein bisschen weniger Glück hätte mir das auch passieren können.« Längst sind einige Bewohner für Ulrich und Barbara 43 Endreß zu Freunden geworden, zur Familie, und manche sitzen gar an Weihnachten bei ihnen zu Hause beim Festmahl. Früher haben manche Nachbarn oder Mitglieder der Kirchengemeinde noch den Kopf geschüttelt: Muss denn die Fürsorge gleich derart weit gehen? »Ja«, lautet die Antwort der beiden Stuttgarter. Für sie ist der Umgang mit obdachlosen Menschen längst das Normalste von der Welt. »Es sind einfach so viele nette Kerle darunter«, sagt Ulrich Endreß. Spricht‘s – und verseckelt den Buben im Hausflur, der Andreas geärgert hat. Denn trotz aller Nächstenliebe lässt der Uli nicht alles durchgehen. »Als überzeugter Christ«, sagt er, »muss man ja kein Dackel sein.« Die Serie, die einmal pro Woche erscheint, ist im Internet nachzulesen unter www.stuttgarter-zeitung.de/ ehrenamt. Unter dieser Adresse sind auch weitere Ehrenamtsagenturen in der Region Stuttgart aufgeführt. Erfahren im Leben Die Engagierten (3): Elisabeth Kruse betreut eine Familie STUTTGART. Ein Drittel aller Deutschen leistet in der Freizeit ehrenamtliche Hilfe. Die Engagierten sind der Kitt der Zivilgesellschaft – und bleiben doch weit gehend unbeachtet. Einige von ihnen porträtiert die Stuttgarter Zeitung in einer Serie. Von Michael Ohnewald Ein Tag irgendwann im Mai. Elisabeth Kruse, 62 Jahre alt, steht vor einer Tür in Stuttgart. Gabi Hartmann, zwanzig Jahre jünger, wartet dahinter. Es ist für beide der Anfang eines Abenteuers, das zwei Vorgeschichten hat. Elisabeth Kruse ist Lehrerin, hat drei erwachsene Kinder und zwei Enkel. Sie unterrichtet an der Merzschule in Stuttgart. Aber die unerschütterliche Logik des Abreißkalenders sagt ihr, dass es einen Zeitenbruch geben wird. Mit ihm gehen oft andere Brüche einher, der Umbruch und der Einbruch. Die Zeit, die ihr bleibt, möchte sie sinnvoll nutzen. Gabi Hartmann hat andere Probleme. Sie ist allein erziehend und lebt mit ihren beiden Söhnen in Stuttgart. Aufgewachsen ist sie in Uelzen, und dort ist auch manche Freundschaft geblieben. Ihr Geld verdient die Hotelfachfrau am Empfang einer Unternehmensberatung. Es ist schon hart genug, den Alltag zu organisieren, wenn man allein zwei Kinder großziehen und dabei auch noch das Einkommen sichern muss. Bei ihr kommt erschwerend hinzu, dass die Kinder weit auseinander sind. Daniel ist 13 und voll in der Pubertät, Simon ist 44 Ausgezeichnete Beiträge erst zwei. Das fordert die Mutter bis zum Äußersten. Sie fürchtet, dass es irgendwann so nicht mehr geht. Und sie spürt, dass sie darüber reden möchte. Aber sie hat niemanden, mit dem sie das tun könnte. Die einen sind ihr zu nah, die andern zu fern. Elisabeth Kruse hat die Erziehung der Kinder hinter sich. Sie will was tun. Etwas tun, das ist besser als nichts tun, denkt sie sich, selbst wenn es auf irgendwas tun hinausläuft. Aber noch weiß sie nicht, was das sein könnte. Noch wird alles überlagert von ihrem alten Leben. Seit mehr als vierzig Jahren geht sie, von kurzen Unterbrechungen abgesehen, fast jeden Tag zur Schule. Das prägt. Mit 21 hat sie als Grundschullehrerin in Oberlenningen begonnen. Damals reichten vier Semester Studium, und es gab noch kein Referendariat. Lange her. Ihr Sohn Stephan ist jetzt 39, Anja ist 35 und Felix 22. Sie hat das alles immer unter einen Hut bekommen, die Kinder und den Haushalt und die Schule. Und doch fühlt sie, dass sie sich all die Jahre »sehr über den Beruf defi niert« hat. Ihr Mann tut das nicht mehr. Er ist in Rente. Dieser Einschnitt steht auch bei ihr an. Sie hat Unterrichtsstunden reduziert, und es wird ihr letztes Schuljahr sein. In Schüben aufs Altenteil. Da macht man sich Gedanken. Da hört man Lieder anders als früher. Wie diesen alten Song von Udo Lindenberg: »War das denn schon alles, was für mich vorgesehen war?« Auch Gabi Hartmann stellt sich Fragen. Sie fragt sich, ob es jemand geben könnte, der von außen kommt, und sich hineinversetzt in ihre Situation, der ihr Mut macht, der sie unterstützt, der ihr, wenn nötig, den Spiegel vorhält. Da entdeckt sie in der Zeitung eine Notiz über die Initiative Z, eine Begleitung auf Zeit, die für Familien gedacht ist. Sie setzt sich spontan an ihren Computer und schreibt sich von der Seele, was sie sich wünscht. Elisabeth Kruse schreibt nicht. Sie redet. Ihr Schwager, der Psychologe ist, empfiehlt ihr, über ein Ehrenamt nachdenken. Auch sie entdeckt in der Zeitung eine Notiz. Es geht ums Ehrenamt, um einen Orientierungskurs für Menschen, die sich in die Bürgergesellschaft einbringen wollen. Sie weiß nicht, was für sie passen könnte. Sie weiß nur, dass sie ein paar Stunden Zeit in der Woche hat, denen sie einen besonderen Sinn geben will, damit sie nicht in die Sinnkrise kommt. Bei dem Kurs in Stuttgart erzählt ihr ein älterer Herr von der deutschen Fernschule in Wetzlar. Dort werden Kinder betreut, die im Ausland leben und keine deutsche Schule besuchen können. Die Lehrerin bewirbt sich und wird angenommen. Sie kümmert sich unter anderem um einen Jungen aus Pakistan, hält Kontakt und korrigiert die Tests, die seine Mutter ihr schickt. Es ist eine hübsche Aufgabe. Aber das allein füllt sie nicht aus. Gabi Hartmanns Alltag ist voll ausgefüllt. Sie will etwas ändern. Die Initiative Z, die vom Elternseminar des städtischen Jugendamts entwickelt worden ist, könnte ein erster Schritt sein. Das Projekt gibt es seit Januar, und es ist Ausfluss einer Kampagne, die Oberbürgermeister Schuster vorantreibt. Stuttgart soll kinderfreundlicher und familienfreundlicher werden. Die Projektleiterin Christine Heppner verspricht Gabi Hartmann, nach einer Patin für die Familie zu suchen. Ein lebenserfahrener Mensch soll es sein, der sein Wissen weitergibt, ohne Geld zu verlangen. Elisabeth Kruse hört über Freunde von dem Angebot – und zögert. Sie will sich engagieren, aber sie will nicht als feste Größe in Dienstplänen auftauchen. »Ich möchte mich nicht verpfl ichten«, sagt sie, »bevor ich weiß, ob ich das überhaupt will.« Sie ruft trotzdem an. Nach einem langen Gespräch mit der Projektleiterin ist sie bereit, sich auf ein Abenteuer einzulassen, das wenig später vor der Türe von Gabi Hartmann beginnt. Vor den beiden Frauen liegt unbekanntes Terrain. Sie erzählen sich von ganz normalen Dingen, von sich und von ihrem Leben, und sie spüren dabei, dass es ein viel Ausgezeichnete Beiträge versprechender Austausch ist. Elisabeth Kruse blickt zurück auf sich und verarbeitet. Gabi Hartmann blickt in die Kristallkugel eines zukünftigen Selbst und zieht daraus ihre Schlüsse. Sie redet schnell und ist spontan. Ihre Patin gehört eher zu den Menschen, die jeden Satz prüfen, bevor sie ihm die Freiheit schenken. Aber genau das macht den Reiz aus. An Gesprächsstoff fehlt es ihnen nicht. Es geht meistens um die Kinder. Die lebenserfahrene Lehrerin kann mitreden, weil sie das selbst erlebt hat und weil sie es über ihre Enkel noch immer erlebt. Die Reflektion bringt Gabi Hartmann weiter. Das ist nichts Spektakuläres, aber es tut gut, wenn man hört, dass die eigenen Probleme weit verbreitet sind. Es folgen viele Treffen. Mindestens einmal in der Woche kommen sie zusammen. Wenn sie spazieren gehen, dann gehen sie in ihren Erzählungen oft zurück und dann wieder voraus in die Zukunft. Wenn es mit ihren Terminen schwierig wird, bringt Gabi Hartmann den kleinen Simon zu den Kruses, woran auch der Hausherr seine Freude hat. Die Familien nähern sich behutsam an. »Es ist toll«, sagt die Jüngere, die der Älteren gerne zuhört, »weil sie vieles schon durchlebt hat«. 45 Die Rehabilitierung von Erfahrung nennen das Wissenschaftler wie der Gehirnforscher Wolf Singer. Er hat gemessen, dass die Gehirnströme im Alter zwar langsamer werden, dass sich aber in ihnen Tricks der Älteren verbergen, die man sich wie Abkürzungen vorstellen kann, durch die es möglich wird, mit den Jüngeren Schritt zu halten. Gabi Hartmann und Elisabeth Kruse halten Schritt. Seit jenem Tag, als die Türe zwischen ihnen war, sind jetzt mehr als vier Monate vergangen. Das Abenteuer geht für beide weiter. »Sie ist für mich wie eine Freundin, die ich vor einem Jahr noch nicht kannte«, sagt Gabi Hartmann. Und Elisabeth Kruse sagt: »Das Ganze ist ein Glücksfall.« Die Serie, die einmal pro Woche erscheint, ist im Internet nachzulesen unter www.stuttgarter-zeitung.de/ ehrenamt. Unter dieser Adresse sind auch weitere Ehrenamtsagenturen in der Region Stuttgart aufgeführt. Freiheit im Geiste Die Engagierten (4): Susanne Philippi spielt Theater mit Häftlingen STUTTGART. Ein Drittel aller Deutschen leistet in der Freizeit ehrenamtliche Hilfe. Die Engagierten sind der Kitt der Zivilgesellschaft – und bleiben doch weit gehend unbeachtet. Einige von ihnen porträtiert die Stuttgarter Zeitung in einer Serie. Von Michael Ohnewald Genau genommen gibt es zwei Frauen, die Susanne Philippi heißen. Äußerlich betrachtet sind sie beide gleich. Aber die eine führt ein bürgerliches Leben mit allen Versicherungen in einem hübschen Haus, in dem es ein Klavier gibt, viele Bücher und antike Möbel. Die andere zieht es in eine Gegenwelt jenseits des Bürgerwohnglücks, ohne Vollkasko, aber mit Abenteuer. Jeden Donnerstag lässt sich diese andere Frau einschließen im Heimsheimer Gefängnis. Dort spielt sie Theater mit Lebenslänglichen und anderen, die früher raus dürfen. Fast zweihundert Jahre Knast stehen auf der Bühne – und sie ist mittendrin. Eigentlich hat es ganz harmlos angefangen mit diesem Doppelleben, damals vor neun Jahren. Susanne Philippi, die Abgesicherte, arbeitete als Lehrerin an der Realschule in Heimsheim. Sie gehörte dort zum Inventar. Die aus Uelzen stammende Tochter eines Rechtsanwalts hatte in München studiert, den Mann fürs Leben kennen gelernt, war mit ihm in den Landkreis Böblingen gezogen und hatte sich in Heimsheim eine Existenz mit Panoramablick geschaffen. Das war ganz im Sinne 46 Ausgezeichnete Beiträge ihres Vaters. Als sie noch aufs Mädchengymnasium gegangen war, hatte sie erst Schauspielerin und dann Psychologin werden wollen. »Brotlose Künste«, hatte er gesagt. Also ist sie Lehrerin geworden. An jenem Tag vor neun Jahren wurde in ihrer Schule über eine Anfrage der Vollzugsanstalt in Heimsheim berichtet. Dort sitze ein Orchestergeiger ein, hieß es, dem unter den schweren Jungs die leichte Muse abgehe. Da ist in Susanne Philippi die verschüttete Psychologin erwacht und die Theaterfrau. Unerschrocken machte sie sich auf, um hinter die Mauern zu sehen, ausgestattet mit bescheidenem Rüstzeug, mit Zuversicht und den Erfahrungen aus einer Literaturgruppe, der sie seit dreißig Jahren angehört. Anfangs hat sie Texte mit den Häftlingen interpretiert. Dabei nahm sie teil an ihren Geschichten und litt, weil sie sah, »wie viel Leben hier vergeudet wird«. Mit der Zeit ist es ihr leichter gefallen, das alles hinter sich zu lassen, wenn sie zurückkehrte in ihr geschütztes Biotop. Dann kam der erste Auftritt, der sie bestärkt hat. Am 25. Oktober 1998 trug die Literatur- und Theatergruppe bei einem Gottesdienst hinter Gittern einige Stücke vor. Eine gelungene Premiere. In der multinationalen Knastgesellschaft sprach sich die Kunde von der flotten Theatertante schnell herum. Immer mehr Gefangene schauten donnerstags vorbei, und viele blieben der Gruppe treu. Ein Jahr später gaben sie »Heiteres von Eugen Roth« und »Besinnliches aus Goethes Faust« zum Besten. Damals gehörte René Weller zur Truppe, und so hat sich ein Faustkämpfer mit Faust beschäftigt, was auch nicht alle Tage vorkommt. Mit den Jahren wurde es anspruchsvoller im Knast am Heimsheimer Mittelberg. Unterstützt von der Musiklehrerin Gisela Heim und dem Rentner Alarich Miller, gleichfalls ehrenamtlich am Werk, brachte Susanne Philippi immer neue Stücke auf die Bühne. Mal unternahmen sie »eine literarische und musikalische Reise durch Kästners Jahrhundert«, mal führten sie ein Stück über die Exildichterin Mascha Kaleko auf. Für die nötige Motivation sorgte der Leiter der Heimsheimer Justizvollzugsanstalt, Hubert Fluhr. Der genehmigte jedes Jahr eine Auff ührung vor Publikum von draußen und freute sich darüber, dass im Knast kein Platz frei blieb. Am Sonntag ist es wieder so weit. Durch die überwachten Schleusen des Gefängnisses werden mehr als 100 unerschrockene Theaterfreunde pilgern, vorbei an dicken Anstaltsmauern und langen Gängen, an deren Ende eine Welt wartet, von der die meisten nicht viel wissen. Denn im Namen des Volkes werden Urteile gesprochen, aber was danach passiert, bleibt weit gehend verborgen. Man sieht nicht hinein in abgeriegelte, dicht besiedelte Städte wie den Heimsheimer Knast, in dem eigene Gesetze gelten für mehr als 550 Strafgefangene aus 40 Nationen, die verwahrt sind im Babylon der Gegenwart. Susanne Philippi versucht, das kulturstiftende Element in der Subkultur zu verankern, indem sie Häftlinge künstlerisch fordert. Sie müssen sich an ihr Drehbuch halten und Texte lernen und ihre Scheu ablegen. »Die Gefangenen nehmen sich dabei plötzlich selbst anders wahr«, sagt sie. »Sie entdecken, dass sie ungeahnte Fähigkeiten haben, und sie genießen den Applaus. Das stärkt ihr Selbstbewusstsein und regt zum Nachdenken an.« Vollzugsbeamte wie Ernst Weigandt, der fürs Freizeitprogramm zuständig ist, wissen das zu schätzen. Weigandt ist schon lange dabei. Er plädiert für mehr Freiheit im Gefängnis, weil das reine Wegbunkern die Strafgefangenen nicht zu besseren Menschen macht. Seit es Angebote gibt, abends nach der Arbeit und dem Hofgang, sind die Nächte fürs Personal ruhiger. Das sei auch ein Verdienst von Ehrenamtlichen wie Susanne Philippi. An diesem Abend ist es wieder so weit. Drei Stunden arbeitet sie mit der Theatergruppe. Auf der Bühne hängt das Kreuz Jesu. Davor stehen Sträfl inge und proben den Chorgesang. »Herr, erbarme dich«, hallt es durch den Raum. Es ist nicht mehr lange hin bis zur Auff ührung, und das Stück sitzt noch nicht richtig. »Stopp, stopp, stopp«, unterbricht die 59-jährige Lehrerin das holpernde Schauspiel. »Das ist ja wie bei den Regensburger Domspatzen«, sagt sie. Die versammelten Straftäter wirken wie verschüchterte Chorknaben, aber sie sollen wilde Burschen aus dem schwäbischen Bauernkrieg spielen. »Lasst nicht die roten Hähne flattern«, heißt das Stück über einfache Leute, die sich gewaltsam erheben, weil sie versklavt und verraten worden sind. Mutig, es an diesem Ort zu geben. »Ihr müsst aus euch heraus«, sagt Susanne Philippi. Mit weichem Zungenschlag übt sie harte Kritik. Sie ist jetzt ganz Psychologin und Theaterfrau. Also nochmal. »Herr, erbarme dich.« Chris verfolgt die Probe vor der Bühne. Er spielt nicht mit, weil er bald entlassen wird. Chris ist 25 und gehört zu den zart Besaiteten. »Das hier ist für mich eine Insel«, sagt er. »Hier fühle ich mich nicht allein.« Heinz ist 63 und bleibt länger. Er trägt einen dunklen Trainingsanzug und gibt den Philosophen, der durch das Stück führt. Manchmal schreibt er selbst. Neulich hat er der Mutter der Theaterkompanie ein paar Zeilen gewidmet: »Genau wie dieser Geist uns führt/so steh‘n wir gleichsam auch im Banne/der Mensch, der diese Leistung ziert/der zauberhaftesten Susanne.« Die Adressatin freut sich über solche Komplimente – und betont, dass es auch für sie ein Gewinn sei, diesen Ausgezeichnete Beiträge 47 Job im Gefängnis zu machen. »Die geben mir was, und ich gebe ihnen was.« Sie könne Menschen jetzt besser einschätzen, sagt sie. Überraschungen gibt es trotzdem. Jedes Jahr schickt ihr ein Sizilianer, der nach der Entlassung wieder in seiner Heimat lebt, fünfzig Euro für die Theatergruppe. Andere schreiben ihr, weil sie nicht vergessen haben, dass sie sich um einen Job für sie bemüht hat. Und einer ihrer ersten Schüler tritt jetzt draußen mit einem Laientheater auf. Auch das gibt es. Am Sonntag stehen seine alten Kollegen auf der Gefängnisbühne und fl iehen für ein paar Stunden in die Freiheit der Kunst. Leider ist nur ein Auftritt genehmigt. Vielleicht wird Susanne Philippi, die Mutige, auch noch diese Mauer überwinden und die baden-württembergische Justiz davon überzeugen, dass sich ihr Ensemble bewährt hat. Die Chancen waren nie besser. Ihr Theaterprojekt ist für den Ehrenamtspreis des Landes nominiert. Die Serie, die einmal pro Woche erscheint, ist im Internet nachzulesen unter www.stuttgarter-zeitung.de/ ehrenamt. Unter dieser Adresse sind auch weitere Ehrenamtsagenturen in der Region Stuttgart aufgeführt. Der weite Horizont Die Engagierten (5): Wilhelm Krauspe kommt mit Zähigkeit zum Ziel STUTTGART. Ein Drittel aller Deutschen leistet in der Freizeit ehrenamtliche Hilfe. Die Engagierten sind der Kitt der Zivilgesellschaft – und bleiben doch weit gehend unbeachtet. Einige von ihnen porträtiert die Stuttgarter Zeitung in einer Serie. Von Thomas Faltin Es war an einem Wandertag, kurz vor Santiago de Compostela, als Wilhelm Krauspe die schlimme Nachricht erhielt. Seit Jahrhunderten pilgern Menschen zum Grab des heiligen Jakobus, um unterwegs über ihr Leben nachzudenken und um in der Stadt nahe des Atlantiks um Vergebung, Heilung oder Erkenntnis zu bitten. Der Bietigheimer Wilhelm Krauspe hatte bis zu diesem Tag andere Beweggründe gehabt, er liebte es einfach, auf Fernwanderwegen Europa zu durchstreifen. Doch jetzt wurde auch ihm religiös zu Mute: Denn er erfuhr am Telefon, dass eine nahe Angehörige behaupten würde, böse Stimmen beschimpften sie und dass sie jetzt Gedanken lesen könne. »Sie ist schwer psychisch krank«, hieß es. Als Krauspe am nächsten Tag in Santiago ankam, habe er angesichts des Aufruhrs der Gefühle nicht sprechen können. »Die Tränen liefen mir nur so runter«, erinnert er sich an jenen Tag vor knapp zehn Jahren. Hilflosigkeit, Verwirrung, Ohnmacht: als demütiger Pilger trat Wilhelm Krauspe in der Kathedrale vor den Altar des Apostels Jakobus. Damals waren Wörter wie Psychose oder Schizophrenie böhmische Dörfer für den heute 72-Jährigen gewesen, und die Angst vor diesem dunklen Unbekannten war groß. Doch auch das Bedrohliche kann vertraut werden – es ist möglich, so sagt es Wilhelm Krauspe, »in die Krankheit hineinzuwachsen«. Manche Partner, Eltern oder Freunde von psychisch Kranken werden im Laufe der Jahre tatsächlich müde, weil der Gang durch die Psychiatrie voller Kämpfe und Rückschläge sein kann und weil unbeteiligte Menschen noch immer voller Vorurteile sind. Wilhelm Krauspe aber hatte das Glück und die Gabe, an der Aufgabe zu wachsen: Er wollte psychisch kranken Menschen helfen und begann, die Umstände zu verändern. So leitete er einige Jahre den Landesverband der Angehörigen mit 1200 Mitgliedern. Er organisiert bis heute den Landespsych- 48 Ausgezeichnete Beiträge iatrietag mit, bei dem sich Betroffene und Ärzte auf Augenhöhe begegnen. Und er sucht seit Jahren nach Arbeitsmöglichkeiten für psychisch kranke Menschen, weil das ein großes Problem geblieben ist: Viele Menschen schaffen den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt nicht mehr und bleiben arbeitslos – dabei täte es ihnen gut und es gäbe ihnen Mut, wenn sie täglich für ein paar Stunden gebraucht würden. Die zündende Idee kam Wilhelm Krauspe, wie so oft, an der frischen Luft. Bei einem Spaziergang blieb der Blick des Rentners am Vordach eines Hauses hängen, und er erkannte mit einem Mal, dass gerade dieses Produkt viele Anforderungen erfüllt: Die Herstellung ist für psychisch kranke Menschen nicht zu schwierig, die Entwicklung ist nicht sehr aufwendig – und das Produkt muss sich verkaufen lassen. Wilhelm Krauspes technischer Spürsinn war geweckt. Denn als Ingenieur hat er jahrzehntelang bei der Metallwarenfabrik in Ludwigsburg und später bei SEL gearbeitet und öfters neue und teilweise bahnbrechende Verfahren ausgetüftelt. Doch ein solches Projekt lässt sich nicht übers Knie brechen. Unzählige Stunden hat Krauspe in den vergangenen vier Jahren in das Vordach investiert: Er gewann die Hochschule Pforzheim, die Pläne entwickelte, er knüpfte Kontakte zu möglichen Vertriebspartnern, er bereitete die technische Zulassung vor, und er macht bis heute die hochwertigen Vordächer aus Edelstahl und Glas auf Messen bekannt. Es waren tausend kleine Schritte, die manchmal mühevoll waren und häufig Umwege erforderten, die aber letztlich doch näher ans Ziel führten. Den wichtigsten Partner fand Wilhelm Krauspe dann in Holger Klein, dem Geschäftsführer der Lebenshilfe Zollernalb: In deren Werkstatt in Albstadt-Lautlingen fügen geistig behinderte und bald auch psychisch kranke Menschen die Komponenten zusammen und montieren die Vordächer mit nicht behinderten Schlossern. Es ist eine Erfolgsgeschichte. Die Verkaufszahlen sind kontinuierlich auf eine Jahresproduktion von jetzt 400 Dächern gestiegen, bald soll eine eigene Integrationsfi rma gegründet werden. »Wilhelm Krauspe ist deshalb für uns ein unbezahlbarer Mitarbeiter«, sagt Holger Klein. Denn in Zeiten, in denen gerade die einfachen Tätigkeiten für behinderte Menschen wegfallen oder ins Ausland verlagert werden, sind Ideen wie die von Krauspe Gold wert für die Werkstätten. Wilhelm Krauspe wehrt solches Lob bescheiden ab. Er könne es eben nicht leiden, immer nur zu jammern, sondern irgendwann fange er an, aktiv nach Lösungen zu suchen. Und er fühle sich, wie viele Menschen seiner Generation, noch in Verantwortung genommen. »Statt ständig nur Ansprüche zu stellen, kann man ja mal damit beginnen, selbst etwas zu bewegen«, sagt er. Drei Eigenschaften sind ihm dabei, ob im Beruf, im Privatleben oder im Ehrenamt, zeitlebens zugute gekommen: Kreativität, Arbeitslust und Durchhaltevermögen. »Man darf sich von Rückschlägen nicht entmutigen lassen«, sagt Krauspe, denn wenn er eines im Leben gelernt habe, dann sei es diese einfache Weisheit: »Nach jedem Tief kommt ein Hoch.« Die Zähigkeit und das Durchhaltevermögen hat Wilhelm Krauspe wahrscheinlich bei seiner zweiten Leidenschaft neben dem Ehrenamt erlernt: dem Fernwandern. Mehrere Wochen im Jahr verbringt er auf den Weitwanderwegen Europas, wo er die Einfachheit des Lebens, die Weite des Horizonts und den Wind in den Bäumen liebt. Krauspe ist schon, über mehrere Jahre verteilt, von Kopenhagen nach Kroatien marschiert, und auf dem Jakobsweg hat er viele kaum bekannte Seitenlinien bewandert, wie jene von Lissabon nach Santiago de Compostela – immer dem Zeichen der Muschel nach. Die ganz bewegten Zeiten sind zwar vorbei: Früher hat es Krauspe auf täglich 40 Kilometer gebracht, und abends trainierte er für einen Marathon. Doch noch immer ist der Schnitt von täglich 27 Kilometern angesichts des Alters enorm. »Man muss etwas für die körperliche und die geistige Fitness tun«, sagt Krauspe: »Das eine bedingt das andere.« Und tatsächlich kommen Wilhelm Krauspe ständig neue Ideen. Warum können psychisch kranke Menschen eigentlich nicht Meisenknödel fertigen? Wäre es nicht möglich, dass sie Werbe-DVDs fürs Blühende Barock in Ludwigsburg gestalten? Überhaupt müsste mal jemand die Vorarbeiten für ein Industriemuseum in Ludwigsburg leisten. Und warum versucht man nicht, die Hausvordächer bundesweit ins Gespräch zu bringen, indem man sich für »Wetten, dass . . .?« bewirbt? Menschen mit einer Behinderung könnten in der TV-Show in kurzer Zeit drei Vordächer montieren und anschließend auf dem Glas eine menschliche Pyramide bauen – denn das Dach hält gut und gerne zehn Personen aus. Angesichts solch verwegener Ideen muss der Lebenshilfe-Geschäftsführer Holger Klein auch mal bremsen. »Mitunter weigere ich mich einfach«, sagt er, »aber wenn wir nur einen von zehn Einfällen realisieren, ist es ein Gewinn.« Und zwar für die behinderten und kranken Menschen – und für Wilhelm Krauspe selbst. »Denn nur über Erfolgserlebnisse kann sich der Mensch entwickeln«, sagt er. Die Serie, die einmal pro Woche erscheint, ist im Internet nachzulesen unter www.stuttgarter-zeitung.de/ ehrenamt. Unter dieser Adresse sind auch weitere Ehrenamtsagenturen in der Region Stuttgart aufgeführt. Ausgezeichnete Beiträge 49 Wasser für das Paradies Die Engagierten (6): Mark Pollmann rettet dürstende Straßenbäume STUTTGART. Ein Drittel aller Deutschen leistet in der Freizeit ehrenamtliche Hilfe. Die Engagierten sind der Kitt der Zivilgesellschaft – und bleiben doch weit gehend unbeachtet. Einige von ihnen porträtiert die Stuttgarter Zeitung in einer Serie. Von Thomas Faltin Manche Nachbarn halten Mark Pollmann schlicht für bekloppt: An heißen Sommertagen schleppt der selbstständige Vermögensberater vor und nach der Arbeit unablässig Zehnlitereimer voll Wasser über die Straße. Einige Eimer wuchtet er mühevoll über Zäune, oder er muss das Wasser über einige Meter Entfernung werfen, weil das Gestrüpp undurchdringlich ist. Doch nichts bringt Pollmann von seinem Vorhaben ab: Regelmäßig gießt er zwei Dutzend Ahornbäume und Linden an zwei Schulen, in der Schwarenberg- und entlang der Landhausstraße im Stuttgarter Osten. »Ins Fitnessstudio brauche ich an solchen Tagen nicht mehr«, sagt er zu dem schweißtreibenden Geschäft. Währenddessen tuscheln die Nachbarn: Wie kann man Wasser nur derart vergeuden? Und überhaupt: hat der eigentlich nichts Besseres zu tun? Nein, fi ndet Mark Pollmann. Der 36-Jährige, der dank kosmopolitisch veranlagter Eltern in New York geboren und in São Paulo aufgewachsen ist, saß im Jahrhundertsommer 2003 täglich auf seinem kleinen Balkon im dritten Stock und schaute mit an, wie die Bäume unter ihm erst braune Spitzen an den Blättern bekamen und sich dann schon im Juli entlaubten, als wäre Herbst. Damals wurde Pollmann nach und nach bewusst, dass Bäume in der Stadt unter Dauerstress stehen – und Hilfe benötigen. Tatsächlich haben Stadtbäume häufig nur ganz wenig nicht asphaltierte Fläche um sich herum, sodass zu wenig lebensnotwendiges Wasser bis zu ihren Wurzeln durchsickern kann. Zudem bleibt die Hitze in der Stadt auch nachts stehen, sodass die Bäume sich kaum erholen können. Und wegen der vielen Leitungen in der Erde können Bäume oft erst gar nicht genügend Wurzeln wachsen lassen. Ganz spontan und ohne groß jemanden um Rat zu fragen, hat Mark Pollmann deshalb angefangen, zum Wasserträger der Landhausstraße zu werden: 60 Liter pro Woche für den jungen eingezwängten Ahorn an der Straßenecke, 40 Liter für die älteren Bäume im Kiesbett der Grundschule Ostheim. Nebenbei wirft er Flugblätter in die Briefkästen des Viertels und fordert die Mit- menschen auf, es ihm gleichzutun. »Vielen Bäumen ging es dieses Jahr wieder besser – anscheinend haben manche Anwohner reagiert«, sagt er. Dass es längst eine Initiative des Garten- und Friedhofsamts gibt, bei der Baumpaten ausgebildet werden, war Pollmann bis vor Kurzem unbekannt. Und er hätte sich dort auch nicht eingeschrieben, denn er interessiert sich nicht für die Weinschorle, die Butterbrezel und den warmen Händedruck, also all die Dinge, die Paten einmal im Jahr als Dankeschön erhalten. Pollmanns Motive sind anders: »Ich will einfach bewusst leben und verantwortlich sein für das, was ich tue – oder auch unterlasse.« Und die Bäume starben einfach vor seinen Augen. Für ihn wäre es ein Fall unterlassener Hilfeleistung gewesen, wenn er weggeschaut hätte. Mit dem Begriff »Ehrenamt« kann Mark Pollmann deshalb wenig anfangen. Er gehört zu jener neuen Generation von Menschen, die sich schwerlich als Mitglied in einem Verein sehen und die sich auch nicht jahrelang an eine Aufgabe binden wollen – und die trotzdem sehr viel Verantwortungsgefühl besitzen. Yvonne Schütz, die 50 Vorwort Ausgezeichnete Beiträge sich bei der Stadt Stuttgart um die Belange der Ehrenamtlichen kümmert, spricht deshalb längst lieber von »Freiwilligen« oder »bürgerschaftlich Engagierten«. Und Werner Koch, der Leiter des Garten- und Friedhofsamts, ist auch für »wilde« Gießer wie Mark Pollmann überaus dankbar. Denn die Stadt ist mit dieser Aufgabe schlicht überfordert: An warmen Tagen sind 50 Mitarbeiter in Stuttgart ausschließlich mit Gießen beschäftigt und schaffen es doch nicht annähernd, alle Straßenbäume zu retten. In heißen Jahren gibt die Stadt mehr als 100 000 Euro nur fürs Gießwasser aus. »Stadtbäume müssen immer kämpfen und sind froh um jede Unterstützung«, sagt Koch. Übrigens gönnen seine Leute jedem Baum bis zu 400 Liter – das schaff t nicht einmal Mark Pollmann: denn bei 40 Eimern für jeden einzelnen Baum käme er überhaupt nicht mehr ins Büro. Wie Mark Pollmann zu seinem sozialen Bewusstsein kam, ist ihm selbst einigermaßen schleierhaft. »Das muss irgendein Gen sein, das allmählich aktiv wird«, mutmaßt er. Denn während seiner Jugend in Brasilien – der Vater arbeitete dort als Maschinenbauingenieur – wurde der Sohnemann allenfalls bei Ausflügen an den Strand auff ällig. Er habe häufig mit den Fischern herumgestritten, weil er nicht verstanden habe, dass man Fische tötet, erzählt er: »Wenn ich kam, haben deshalb alle Angst um ihren Fang gehabt und ihn schnell in Sicherheit gebracht.« Mit elf Jahren kam Pollmann mit den Eltern nach Deutschland, lebte zunächst in Düsseldorf und siedelte dann zum Studium der Geografie ins Ländle um, nach Tübingen. Auch dort fi ndet sich noch keine Spur eines ökologischem Gewissens. »Ich ernährte mich hauptsächlich von Kidneybohnen aus der Dose.« Doch dann tat das Gen allmählich seine Wirkung. Mittlerweile haben Mark Pollmann und sein Lebenspartner auf Biolebensmittel umgestellt, um die ökologische Landwirtschaft zu fördern und damit die Umwelt zu schützen. Der gesundheitliche Nebeneffekt, so meint der leidenschaftliche Raucher und Kaffeetrinker Mark Pollmann, habe auch ihn überrascht: »Ich bin seither kaum noch krank und habe deshalb keine Verdienstausfälle mehr – für einen Selbstständigen rechnet sich Bio also auch wirtschaftlich.« Daneben fahren die beiden konsequent mit der Bahn, und für die Rettung »ihrer« Bäume nehmen sie auch handfeste Konfl ikte in Kauf. Die Hausmeisterin einer Schule hat es nämlich gar nicht gern, dass Mark Pollmann einen Außenhahn der Schule illegalerweise mit der Zange öff net, um Wasser für die Schulbäume zu zapfen. So ungehörig sind Freiwillige heutzutage. Es geht in dem Streit um vielleicht zehn Euro im Jahr – vor allem aber ums Prinzip. So mancher Reingeschmeckte würde sich bei einer solchen Auseinandersetzung um wenige Euro schnell in Klischees flüchten: ja, ja, der schwäbische Geiz. Der Geograf, Kosmopolit und Rheinländer Mark Pollmann, der zwischendurch auch mal zwei Jahre als Flugbegleiter für Hapag-Lloyd durch die Welt geflogen ist, ist davon weit entfernt. Im Gegenteil: er liebt Stuttgart. Dabei war die Stadt im Talkessel zunächst nur eine Notlösung gewesen, weil Tübingen Mark Pollmann zuletzt doch etwas eng und muffig vorkam – er stammte schließlich aus einer Zehnmillionenmetropole. Mittlerweile bezeichnet Pollmann Stuttgart als die schönste Stadt Deutschlands und hat sogar einen kleinen Band mit schwäbischen Betrachtungen geschrieben. Darin heißt es über die oftmals so geschmähte Landeshauptstadt: »Ich habe manchmal den Eindruck, ich lebe in einem Garten Eden von Landschaft und Kultur und frage mich ernsthaft: Was muss eine Stadt noch bieten, dass man als Bewohner in ihr glücklich wird? Dazu fällt mir wenig ein.« Das bisschen Bäumegießen sei also doch das Wenigste, was man zu diesem kleinen Paradies beitragen kann, meint Mark Pollmann. Er jedenfalls hat in Stuttgart mittlerweile Wurzeln geschlagen. Die Serie, die einmal pro Woche erscheint, ist im Internet nachzulesen unter www.stuttgarter-zeitung.de/ ehrenamt. Unter dieser Adresse sind auch weitere Ehrenamtsagenturen in der Region Stuttgart aufgeführt. Wo die Musik spielt Die Engagierten (7): Hans-Jürgen Finger macht Radio im Krankenhaus STUTTGART. Ein Drittel aller Deutschen leistet in der Freizeit ehrenamtliche Hilfe. Die Engagierten sind der Kitt der Zivilgesellschaft – und bleiben doch weit gehend unbeachtet. Einige von ihnen porträtiert die Stuttgarter Zeitung in einer Serie. Von Michael Ohnewald Frau Müller will Freddy Quinn. Sie liegt auf dem Hörkissen und wartet auf ihn. Am Abend wird er für sie singen, und damit er das auch wirklich tut, hat sie einen orangefarbenen Zettel ausgefüllt. Ihr Zettel ist auf einem Tisch im Keller des Waiblinger Krankenhauses gelandet, irgendwo auf halbem Weg zwischen Pathologie und Patientenbücherei. Der Tisch gehört zum Studio der Klinik, in dem es viele Knöpfe gibt und viele Schallplatten und einen Mann, der ohne Knöpfe, ohne Schallplatten und ohne Freddy Quinn nicht denkbar ist. Hans-Jürgen Finger macht Radio in den Krankenhäusern von Waiblingen und Backnang. 41 Jahre alt ist er, und die meisten davon waren geprägt vom unbändigen Ausgezeichnete Beiträge Drang, andere zu unterhalten. Man kann es Sturheit nennen, was ihn auszeichnet, man kann es auch Leidenschaft nennen. »Ich wollte immer zum Rundfunk«, sagt er. Dieses Ziel hat er vor langer Zeit erreicht, vor 25 Jahren. Seitdem arbeitet Hans-Jürgen Finger beim öffentlichen Rundfunk in Stuttgart – allerdings nicht wie erhoff t als Moderator im Studio, sondern als Sachbearbeiter in der Personalabteilung. Das mit dem Senden hat bei ihm eine lange Vorgeschichte. Schon als Kind hat er Wunschkonzerte für Freunde und Verwandte gemacht. Finger war elf Jahre alt, als er sich die ersten Platten kaufte. Er sammelte Interpreten und Titel. Das war bei ihm fast eine Sucht, und da fügte es sich gut, dass sie vom Vater geteilt wurde. Aber es blieb nicht dabei. Mit 13 kaufte er vom Taschengeld ein Spulentonband, ein Mikrofon und zwei Kassettenrecorder. Fertig war das Heimstudio. So hat er eigene Sendungen produziert und eigene Hitparaden. Der Junge genoss die Magie des Augenblicks, wenn die Tante zu Besuch war und seiner Produktion andächtig lauschte. Auch die Freunde waren angetan. 51 Sonntags kam häufig ein pubertärer Gastmoderator aus der Nachbarschaft ins Selbstfahrerstudio und dann gab‘s in Schwaikheim kein Halten mehr. Er mochte in jener Zeit nicht wie andere die harten Burschen mit den langen Haaren und den lauten Verstärkern, sondern vor allem Schlager. Er mochte Peter Alexander, aber auch Dean Martin, Elvis Presley und Peter Kraus. Die Inspiration für seine Sendungen holte sich der Nachwuchsmoderator bei den Kollegen vom öffentlichen Rundfunk. Es gab noch Kultsendungen im Radio, und er hat sie dem Fernsehprogramm vorgezogen. Wenn Rainer Nitschke »leicht und beschwingt« in den Sonntagnachmittag startete, dann startete HansJürgen Finger meistens mit. Nach der Realschule lernte er Bürokaufmann und schrieb seine erste und einzige Bewerbung an den Süddeutschen Rundfunk. Er wurde genommen, und anfangs hat er gehoff t, dass es vielleicht möglich wäre, über die Personalabteilung ins Studio zu kommen. Aber leider hat das nicht geklappt, weil im Sender Verwaltung und Programm strikt getrennt sind. Also hat er weiter für sich allein produziert, hat Sprachunterricht genommen und seine Stimme geschult, hat die wahre Leidenschaft im Heimstudio ausgelebt und immer mehr Musikscheiben gekauft, große schwarze und kleine silberne. Als er 24 war, entdeckte Hans-Jürgen Finger eines Morgens in der Zeitung eine kleine Notiz. Das Krankenhausradio in Backnang suchte für den Patientenrundfunk noch Plattenspenden. »Spenden möchte ich nicht«, dachte sich der Freizeit-DJ, »aber leihen.« Also ist er hingegangen und hat den Kollegen erzählt, dass er schon lange für sich Radio macht und dass er zu Hause fast 70 000 Platten und CDs hat. Da haben sie ihn gefragt, ob er nicht mitmachen möchte, und so kam er am 1. September 1988 für ein paar Probeaufnahmen ins neue Studio der Backnanger Klinik. Plötzlich ging das Rotlicht an – und er war auf Sendung. In diesem Augenblick war Hans-Jürgen Finger nicht mehr nur Personalsachbearbeiter. Man kann sich das vorstellen wie bei Fantomas, der die Maske des Alltags herunterreißt und sein wahres Gesicht zeigt. Finger ist ein liebenswürdiger Fantomas. Als Ehrenamtlicher opfert er jede Woche fast zwölf Stunden für Radio 88, wie der Klinikfunk heißt. Freitags macht er von 19 Uhr an mit seinem Team im Waiblinger Krankenhaus das Wunschkonzert, erfüllt am Abend bis zu fünfzig Patientenwünsche. Sie reichen von den Kastelruther Spatzen bis zu den Scorpions. Samstags sendet er morgens von Backnang aus ein Wunschkonzert und abends von Waiblingen den »Nachtexpress«. Beschallt werden immer beide Häuser. »Das sind 700 potenzielle Hörer«, sagt er. 52 Ausgezeichnete Beiträge Fast 20 Mitarbeiter hat der Autodidakt in seinem Team, und sie alle sind unentgeltliche Dienstleister, die für Menschen senden, denen es nicht so gut geht. Die meisten Patienten verlassen das Hospital nach wenigen Tagen und hören ihnen vielleicht nur einen Abend zu. Trotzdem verteilen die Freiwilligen weiter Wunschzettel und rufen während ihrer Sendungen am Krankenbett an, ganz egal, wer dort liegt. Es wird nicht nur eine Sprache im Krankenhaus gesprochen, und die Radiomacher suchen nach der, die jeder versteht. Manchmal gelingt es dem Moderator Finger, neue Gedanken zu zaubern, die zu Trost werden. Er selbst tröstet sich in stillen Momenten über die Flüchtigkeit seines Geschäfts mit der Gewissheit hinweg, dass im Leben nicht nur zählt, was sich auszahlt. Er macht das alles für sich – und für die anderen. Für jene, die eine Nacht bleiben, für chronisch Kranke, die Stammhörer sind, und für Silvia Sturm aus Weinstadt. Die Telefonistin arbeitet seit 1979 im Waiblinger Krankenhaus und gehört zu den Fans der ersten Stunde. »Ich freue mich auf jede Sendung«, sagt sie. Sie mag seine Geschichten zu den Musiktiteln. »Es ist unglaublich, was der alles weiß.« Hans-Jürgen Finger lächelt. »Es kommt auch einiges zurück«, sagt der Radiosüchtige, der es bedauert, dass die Menschen sich nicht mehr um Grammofone und Volksempfänger versammeln wie weiland die Urahnen um die Feuerstellen. Es würde sich lohnen, meint er. Für mache hat es sich gelohnt, und deshalb schicken sie ihm noch immer Briefe, obwohl sie längst wieder zu Hause sind. Einmal hat ihm ein Patient, der nach Thailand ausgewandert ist, Bananen zukommen lassen, einmal stand eine Patientin mit Kartoffelsalat vor dem Studio, und einmal hat er durchs Plaudern zwei frühere Nachbarinnen zusammengebracht. Die eine lag in Backnang und die andere in Waiblingen. Auch so was gibt es. »Manchmal spürt man im Keller die Einsamkeit«, sagt Hans-Jürgen Finger. Besonders an Weihnachten. Über die Feiertage macht er schon seit Jahren Dienst. Wenn es ganz schlimm wird, blättert er in seinem dicken Gästebuch und erinnert sich an gelungene Sendungen mit Moderatoren und Schlagerstars, die seiner Einladung vors Mikrofon im Krankenhaus gefolgt sind: Heinz Kilian, Jens Bogner, Peter Barkow, Günther Freund, Uwe Hübner, Frieder Berlin und Ruth Mönch. Letztere war ganz aus dem Häuschen. »Kerle«, hat sie gesagt, »du g‘hörsch zum Rundfunk.« Die Serie, die einmal pro Woche erscheint, ist im Internet nachzulesen unter www.stuttgarter-zeitung.de/ ehrenamt. Unter dieser Adresse sind auch weitere Ehrenamtsagenturen in der Region Stuttgart aufgeführt. Das andere Leben Die Engagierten (8): Barbara Metelmann und ihr Amateurtheater STUTTGART. Ein Drittel aller Deutschen leistet in der Freizeit ehrenamtliche Hilfe. Die Engagierten sind der Kitt der Zivilgesellschaft – und bleiben doch weit gehend unbeachtet. Einige von ihnen porträtiert die Stuttgarter Zeitung in einer Serie. Von Thomas Faltin Wer kann schon von sich behaupten, er habe seinen Lebensweg frei gewählt? An dieser oder jener Biegung des Lebens hat doch in jeder Biografie der Zufall, das Schicksal, die Weltgeschichte die Finger im Spiel gehabt. Bei Barbara Metelmann, der Leiterin des Filderstädter Amateurtheaters Die Eulen, ist das nicht anders, schon deshalb, weil sie ein Kriegskind ist. Schauspielerin wäre sie gerne geworden, Dramaturgin oder Regisseurin – doch nichts von alledem: Zuletzt leitete sie, vor ihrer Pensionierung, ein kleines Unternehmen für Kontaktlinsen in Stuttgart. Ausgezeichnete Beiträge Dabei war ihre Leidenschaft fürs Theater quasi angeboren. Schon mit fünf Jahren, das war 1942, hatte die kleine Bärbel ein Stück geschrieben und es mit anderen Kindern aufgeführt, zur Gaudi der Erwachsenen. Jedoch, die »graue, geduckte Kriegszeit« ließ wenig Raum für literarische Höhenflüge. Und da der Vater früh starb, wollte sie es der Mutter nicht zumuten, sich auf ein so unsicheres Fach wie die Theaterei zu kaprizieren. Aber vielleicht ist gerade dies ja das tiefere Geheimnis der vielen Engagierten im Land: Es gelingt ihnen, in diesem Leben auch noch ein anderes zu leben, die andere Dimension in ihr Dasein zu integrieren, gerade indem sie sich neben ihrem Beruf im Sozialen, im Sport oder in der Kultur für andere einsetzen. Jedenfalls macht das Theater Barbara Metelmann glücklich, und das schon 27 Jahre lang. Umgekehrt macht Barbara Metelmann die Filderstädter glücklich: Jedes Jahr schauen sich mehr als 1000 Menschen die neue Produktion an; die Gruppe mit ihren 30 Theaterverrückten ist aus der Kulturszene auf den Fildern nicht mehr wegzudenken. Die Anfänge der Truppe waren äußerst bescheiden. Nach der Gründung der Eulen im Jahr 1979 mussten die tapferen Amateure lange in zugigen Scheunen proben, jeden Scheinwerfer selbst basteln und »wie die Kinder Israels« auf der Suche nach einer Spielstätte durchs Land tingeln. Einmal wären sie dabei fast verhaftet worden. Anfang der 80er-Jahre, als die Furcht vor der Rote-Armee-Fraktion noch groß war, holte sie die Polizei mit dem Maschinengewehr im Anschlag aus einem Bunker raus: Den hatte die Gruppe regulär für 20 Mark im Monat gemietet und war gerade dabei, Fenster auf die Betonwände zu malen. Nachbarn aber hielten sie für Terroristen im Unterschlupf. Bis heute halten sich die Eulen im Untergrund auf. Filderstadt hat ihnen schon vor mehr als 20 Jahren einige Kellerräume in der Weilerhauschule in Plattenhardt zur Verfügung gestellt. Weitere Zuschüsse gibt es nicht. In einer Ecke steht noch der Tenderwagen der Mutter Courage, die Barbara Metelmann 1989 gespielt hat. Und der Probenraum ist ebenso klein wie die Bühne im benachbarten Musikpavillon, wo von November bis Januar das neue Stück aufgeführt wird. Bei mehr als sieben Personen müsste die Bühne wegen Überfüllung geschlossen werden. In diesem Jahr werden die Zuschauer das russische Märchen »Der Feuervogel« zu sehen bekommen. In wenigen Tagen, am 11. November, hat es Premiere – die Familie bekommt Barbara Metelmann derzeit nicht allzu häufig zu sehen. Denn mehrmals in der Woche »dürfen«, wie Metelmann betont, die Schauspieler, Techniker, Kostümschneider, Bühnenbildner und auch 53 sie selbst als Regisseurin zur Probe ran. Stress? Die robuste Frau, die ganz in sich zu ruhen scheint, winkt ab: »Es ist doch wundervoll, aus nichts eine ganze Welt entstehen zu lassen.« Und nach kurzem Nachdenken fügt die 69-Jährige hinzu: »Es hält ungemein jung, kreativ zu sein.« Tatsächlich gelingt es den Eulen fast jedes Jahr, sich aus dem Muff der Kellerräume in lichte literarische Höhen zu erheben. Denn Metelmanns Ansprüche sind hoch: Wenn sie im Spätwinter zu Hause im Couchsessel Theaterstücke in sich hineinliest, um sie auf ihre Spielbarkeit für die Eulen hin abzuklopfen, lässt sie die vielerorts so beliebten Bauernschwänke links liegen, und auch reine Boulevardkomödien kommen kaum in Frage. Denn Metelmann will ihre Zuschauer mehr als nur unterhalten – sie will ihnen einen Gedanken ins Herz setzen, ihnen eine Sehnsucht mit nach Hause geben. So war es auch beim letztjährigen Stück von João Bethencourt, das den Titel trug »Der Tag, als der Papst gekidnappt wurde«. Vordergründig scheint es sich dabei um eine skurrile Komödie zu handeln: Ein jüdischer Taxifahrer entführt Papst Clemens XVI. – der fühlt sich in der Familie bald so wohl, dass er mit der Hausfrau am Küchentisch Gurken schält. Hintergründig aber wird es ernst, ja pathetisch. Denn die Forderung des Taxifahrers lautet: Der Papst wird erst freigelassen, wenn auf der ganzen Welt einen Tag lang Frieden herrscht. Clemens XVI. ist begeistert von dieser Idee. Neben dem inhaltlichen Anspruch – auch Tschechow und Ibsen standen schon auf dem Spielplan – legt das Ensemble Wert auf ein hohes Niveau der Inszenierung: »Wir machen jedes Jahr nur eine Produktion, aber die ordentlich«, sagt Barbara Metelmann. Wie gut die Inszenierungen letztlich sind, mag Barbara Metelmann nicht beurteilen, sie will sich nicht selbst loben. Die Zuschauer aber bescheinigen dem Theater eine semiprofessionelle Qualität, weshalb viele immer wiederkommen. Zu den Dauergästen gehört die Ärztin Antje Lindel aus Leinfelden-Echterdingen: »Das Niveau ist ausgesprochen hoch, und die Atmosphäre ist bei jeder Auff ührung fantastisch.« Seit 24 Jahren schon ist Lindel fasziniert von dieser eingeschworenen Truppe. Woher dieser Wunsch Barbara Metelmanns kommt, über das Theater Werte wie Menschlichkeit und Toleranz zu vermitteln, weiß sie nicht genau – es müsse wohl in ihren Genen liegen. Und doch, zwei Ereignisse in ihrer Kindheit und Jugend haben ihre Wertvorstellungen entscheidend geprägt, und an beide erinnert sie sich noch so lebhaft, als seien sie gestern geschehen. Noch vor dem Krieg war die Familie Metelmann aus Tschechien weggegangen und hatte sich in Degerloch 54 Ausgezeichnete Beiträge niedergelassen. Einmal, bei einem Bombenangriff auf Stuttgart, hatten sich das Mädchen und ihr jüngerer, vierjähriger Bruder zu weit von zu Hause entfernt – in ihrer Panik klopften die beiden Kinder an der Tür eines Bauernhofs und baten darum, mit in den Keller zu dürfen. Doch der Bauer schickte sie in barschem Ton weg: Mit reingeschmeckten Flüchtlingen wolle er nichts zu tun haben. »Dieses Gefühl der Schutzlosigkeit hat sich damals tief in meine Seele eingegraben«, erinnert sich Barbara Metelmann – und auch die Wut auf Menschen, die andere nicht akzeptieren, nur weil sie anders sind. Ähnlich war es auch beim zweiten Erlebnis, in den 50er-Jahren: Bei einem Praktikum in England warf ein Bankangestellter sie lautstark und vor allen Leuten aus dem Gebäude. Ihr Vergehen: Sie wollte Mark in Pfund wechseln. Bemerkenswert an Barbara Metelmann und an vielen Engagierten ist aber: sie haben im Laufe ihres Lebens gelernt, den Schmerz solcher Ereignisse nicht nach innen zu richten, wo er an der Lebenskraft zehrt. Vielmehr nutzen sie ihn als Antrieb, um Dinge zu verändern. Und deshalb will Metelmann auf jeden Fall vor dem Ende ihrer langen Amateurkarriere noch ein Stück gegen Rassismus inszenieren. Max Frischs »Andorra« oder Arthur Millers »Hexenjagd« können die Eulen wegen der großen Besetzung nicht stemmen. Aber das macht nichts. Denn die innere Kraftquelle Metelmanns sprudelt auch mit 69 Jahren noch. Das geeignete Stück wird kommen. Die Serie, die einmal pro Woche erscheint, ist im Internet nachzulesen unter www.stuttgarter-zeitung.de/ ehrenamt. Unter dieser Adresse sind auch weitere Ehrenamtsagenturen in der Region Stuttgart aufgeführt. Zeit für Gefühle Die Engagierten (9): Heidi Malzacher hilft Menschen in Lebenskrisen STUTTGART. Ein Drittel aller Deutschen leistet in der Freizeit ehrenamtliche Hilfe. Die Engagierten sind der Kitt der Zivilgesellschaft – und bleiben doch weit gehend unbeachtet. Einige von ihnen porträtiert die Stuttgarter Zeitung in einer Serie. Von Michael Ohnewald Sie sitzt auf einem Stuhl: weiß. Vor ihr steht auf einem kleinen Tisch eine Rose: rot. Heidi Malzacher trägt ein Amulett: silber. Und sie erzählt von ihrem Seelenleben, das lange Zeit nur eine Farbe hatte: schwarz. Fast jeder hat Momente, in denen er an sich zweifelt. Sie hatte viele solcher Momente, und sie führten in die Depression. Sie war 39 Jahre alt, als es anfi ng. Jetzt ist sie 59, und das größte Problem von Heidi Malzacher ist nicht mehr Heidi Malzacher. Sie hat ihre Krise überwunden und etwas in sich erweckt, das so stark ist, dass sie jetzt anderen helfen kann, die sich an den Arbeitskreis Leben in Stuttgart wenden, dessen Vorsitzende sie ist. Wer Heidi Malzacher begegnet, der mag kaum glauben, dass es bei ihr eine Zeit gegeben hat, die sie heute die Hölle nennt. Um das zu erklären, muss sie in ihrer Biografie an den Anfang blättern. Sie war zwölf Jahre alt, als die Mutter starb. Zurück blieben die Tochter, ihre drei Brüder und ein Vater, den alle nur den Boss nannten. Der Boss hat ihr Leben bestimmt und keinen Zweifel daran gelassen, dass er von ihr erwartet, sich in den Dienst der Familie zu stellen. Noch immer hat sie den Satz des Pfarrers im Ohr, der dem Boss beipfl ichtete. »Das war Gottes Wille«, hat er nach dem Tod ihrer Mutter gesagt, »und jetzt musst du die Männer versorgen.« Ausgezeichnete Beiträge Das hat sie getan, viele Jahre, und dann kam noch ihr Sohn hinzu, den sie alleine großziehen musste. Als sie 39 Jahre alt war, schien ihr Leben eine Wende zu nehmen. Ihr Vater starb. Als er begraben war, da hat sie gedacht: »Jetzt fängt mein Leben an.« Aber das war ein Trugschluss. Nicht das Leben fi ng an, sondern die Krise. Sie fühlte sich ausgeladen von der Welt, und sie fühlte sich leer. Die Arbeit als Sekretärin wurde für die Bürokauff rau zur Bürde. Immer stärker wuchs in ihr die Angst, alleine zu sein. Sie war nicht allein, aber sie fühlte sich allein mit ihren Ängsten. Irgendwann war die Widerstandskraft gegen die Unzumutbarkeiten des Lebens gebrochen. Ihre Familie, die zu ihr stand, konnte nicht helfen. Heidi Malzacher begab sich in die Obhut von Ärzten. Das war ein erster Schritt. 1991 hat sie sich dem Arbeitskreis Leben anvertraut, der Menschen aus der Ausweglosigkeit begleitet. Der Verein ist aus der Telefonseelsorge hervorgegangen und leistet seit mehr als zwanzig Jahren Hilfe bei Selbsttötungsgefahr und Lebenskrisen. Dieses Angebot ist bitter nötig. In Deutschland sterben jährlich rund 11000 Menschen durch Suizid. Allein in Stuttgart haben sich im vergangenen Jahr 80 Menschen selbst getötet. Auch Heidi Malzacher war dem absichtsvollen Ende ihres Lebens nahe. Sie hatte Momente, in denen sie hilflos im Strom der eigenen Gefühle trieb, die sie hinunterzogen auf den Grund. Aber etwas in ihr ließ sie schwimmen, immer weiter, und irgendwann erkannte sie für sich und ihr verkorkstes Leben wieder eine Perspektive. Das hat lange gedauert. Jahre. Geholfen haben ihr unzählige Gespräche, vor allem jene mit einer ehrenamtlichen Begleiterin des Arbeitskreises Leben. Sie war eine Art Mutterfigur für sie, der sie alles sagen konnte. »Ich habe dabei erkannt, dass diese Arbeit etwas ganz Wertvolles ist«, sagt Heidi Malzacher im Rückblick. Die Zeit der Aufarbeitung hat sie geprägt. Wenn es ihr besser geht, so hatte sie sich damals vorgenommen, wolle sie im Arbeitskreis selbst etwas tun. 1995 war es so weit. Sie machte die Ausbildung zur ehrenamtlichen Begleiterin von Menschen, die in Lebenskrisen sind. Fast ein Jahr dauerte der Kurs. Die Teilnehmer trafen sich einmal in der Woche mit den Profis und näherten sich behutsam einem tabuisierten Thema. Bei der Ausbildung hat Heidi Malzacher häufig in die Kristallkugel des eigenen Ichs geschaut und eine Frau erblickt, die früher das Leben aufgegeben hatte und sich jetzt mehr vom Leben nimmt, die nicht mehr versucht, es allen recht zu machen, die Gefühle zulässt. Sie ist gereift dabei und hat bei dem Kurs einen Mann kennen gelernt, der mehr für sie wurde als ein Freund. Mit ihm lebt sie seit sieben Jahren zusammen. 55 Nicht jede Krise endet mit einem neuen Lebensglück, wie das bei ihr der Fall war. Aber es gibt auch diesen Weg. Damit ihn mehr Menschen in Krisen fi nden, legt sie sich für den Verein ins Zeug, an dessen Spitze sie seit drei Jahren steht. Heidi Malzacher, die als Sekretärin beim Diakonischen Werk in Stuttgart arbeitet, nimmt ihr Ehrenamt ernst. Sie bittet um Spenden für den Verein, sie organisiert und macht sich Gedanken über die Zeit und ihre Erscheinungen. Es melden sich viele beim Arbeitskreis, der drei Hauptamtliche beschäftigt und mehr als fünfzig Ehrenamtliche. Immer mehr sind es, die Angst haben vor Mobbing, die Stress haben im Beruf. »Die soziale Kälte nimmt in unserer Gesellschaft spürbar zu«, sagt Heidi Malzacher. Und noch etwas treibt sie um: »Uns fehlt die Zeit füreinander und uns fehlt das Gefühl.« Sie spürt das bei ihren Gesprächen, und sie spürt es im Alltag. »Mit Unterstützung der Gefühle unser Leben gestalten, diese Fähigkeiten haben wir in großem Überfluss auf den Weg in dieses Leben mitbekommen«, sagt Heidi Malzacher. »Wir nutzen diesen wunderbaren Reichtum nur so wenig. In unserer Gesellschaft des materiellen Überflusses herrscht absolute Gefühlsknappheit.« Dieser Befund wird von Fachleuten wie Professor Werner Felber von der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention geteilt. Er schätzt, dass es in Stuttgart jedes Jahr fast 50 000 Lebenskrisen gibt. Nur ein kleiner Teil der Betroffenen suche um Hilfe nach. So wie Christine Miola-Wöhr. Die 46-jährige Stuttgarterin litt lange unter chronischer Übelkeit. Kaum ein Tag verging, an dem ihr nicht schlecht war. Zehn Jahre ist es jetzt her, dass sie sich an den Arbeitskreis wandte. »Das Leben erschien mir nicht mehr lebenswert«, sagt sie. Manchmal kreiste alles um eine Frage: »Welchen Baum soll ich nehmen?« Christine Miola-Wöhr machte am Ende einen Bogen um die Bäume, was mit ihrem Willen zu tun hat und auch mit einer Betreuerin, die wusste, wie das ist, wenn es einem schlecht geht. Ein Jahr hat sich Heidi Malzacher um die Frau gekümmert, sich mit ihr einmal pro Woche ausgetauscht. Christine Miola-Wöhr profitierte von der »Freundschaft auf Zeit«, und am meisten profitierte sie von der reichen Erfahrung der Krisenberaterin. »Das war für mich damals ein wichtiger Baustein«, sagt Christine Miola-Wöhr, die heute offen über ihre existenzielle Lebenskrise reden kann, weil sie hinter ihr liegt. »Die Übelkeit ist weit gehend verschwunden«, sagt sie. »Und wenn sie doch mal wieder kommt, dann nehme ich sie an, und halte ihr entgegen, dass ich sie jetzt nicht brauchen kann.« 56 Ausgezeichnete Beiträge Heidi Malzacher lächelt, als sie diesen Satz hört. Die Frau, die ihn ausspricht, war ihre erste Klientin. Jetzt sitzen sie zusammen im Büro des Arbeitskreises an einem kleinen Tisch, der am Fenster steht. Draußen wird es langsam dunkel. Drinnen bleibt es hell. Die Porträtserie ist im Internet nachzulesen unter www.stuttgarter-zeitung.de/ehrenamt. Unter dieser Adresse sind auch weitere Ehrenamtsagenturen aus der Region aufgeführt. In der kommenden Woche endet die Reihe. Helfen ist auch gut für das Ego Die Engagierten (Folge 10 und Schluss): Über die neue Generation von Freiwilligen STUTTGART. Ein Drittel aller Deutschen leistet in der Freizeit ehrenamtliche Hilfe. Die Engagierten sind der Kitt der Zivilgesellschaft – und bleiben doch weit gehend unbeachtet. Einige von ihnen hat die StZ in einer Serie porträtiert. Zum Abschluss: ein Plädoyer für das Ehrenamt. Von Thomas Faltin Richtig geärgert hat sich Martin Theurer damals, vor fünf Jahren. Der Student hatte einen Sozialdienst angerufen, um sich ehrenamtlich zu engagieren, für vielleicht einen Nachmittag in der Woche. Doch erst wurde er mehrfach weiterverbunden, bis er überhaupt sein Anliegen vorbringen konnte. Dann wusste die verantwortliche Dame nichts Rechtes mit ihm anzufangen und fuhr ihn schließlich zu einem älteren Ehepaar. Dort war die bettlägrige Frau so ängstlich, dass ihr Mann nicht einmal zum Einkaufen das Haus verlassen konnte. Martin Theurer half aus. Doch niemand wies ihn in die Aufgabe ein, und dem Ehemann war die Hilfe so peinlich, dass er Theurer jedes Mal zehn Mark zusteckte. Nach drei Nachmittagen schlief die Sache ein. Und alle hatten ein ziemlich blödes Gefühl. Yvonne Schütz, die Chefi n der Stuttgarter Freiwilligenagentur, zuckt bei solchen Geschichten mit den Schultern: Noch immer könnten motivierte Menschen an eine Einrichtung geraten, die gar nicht auf Freiwillige eingestellt sei und deshalb rat- und kopflos reagiere. Doch vielerorts werden die Ehrenamtlichen mittlerweile professionell betreut – zum Beispiel in Stuttgart. Heute hätte Martin Theurer andere Möglichkeiten. In der Online-Datenbank der Freiwilligenagentur könnte er aus 600 Angeboten wählen. Wenn ihm die Wahl schwer fiele, könnte er ein Beratungsgespräch mit Yvonne Schütz vereinbaren. Im Pflegeheim der Caritas, für das er sich entscheiden könnte, fände er einen eigens abgestellten Mitarbeiter, der Freiwillige begleitet. Und in der städtischen Freiwilligenakademie »Free« könnte er sich fortbilden. Kurzum: alle sind vorangekommen – die Einrichtungen, die vermittelnden Kommunen und irgendwie auch die Freiwilligen selbst. Vor allem größere Sozial-, Sport- und Umweltverbände können es sich heute gar nicht mehr leisten, engagierte Freiwillige zu verlieren. Schließlich müssen viele Einrichtungen kräftig sparen. Die meisten Vereine und Verbände haben deshalb kräftig in die Anwerbung und Ausbildung von Ehrenamtlichen investiert. Umgekehrt stellen auch die Helfer mittlerweile Bedingungen und wollen auf ihre Aufgabe vorbereitet werden. Auch das ist ein Zeichen der Zeit. Beim Arbeitskreis Leben, der sich um Menschen in Krisen kümmert, werden die Anwärter fürs Ehrenamt fast ein Jahr lang geschult. Freiwillige wollen zudem heute Verantwortung übernehmen und mitreden können, wie Wilhelm Krauspe, der ein Arbeitsprojekt für Menschen mit Behinderungen auf die Beine gestellt hat. Seine Einwürfe und Querschüsse sind manchmal unbequem für die Werkstatt Ausgezeichnete Beiträge für behinderte Menschen in Albstadt-Lautlingen – aber gerade deswegen kommen häufig neue Ideen heraus. Krauspe gehört zu den Engagierten, die in den vergangenen Wochen in der Ehrenamtsserie der Stuttgarter Zeitung vorgestellt worden sind. Neun unentgeltliche Dienstleister haben wir an dieser Stelle porträtiert. Sie alle haben berichtet, dass sie bei ihrer Aufgabe geben und nehmen, dass sie durch ihr unbezahltes Amt ungemein bereichert werden, ohne sich dabei zu stark gebunden zu fühlen. Denn Freiwillige wollen heute die Gewissheit haben, dass sie nicht bis an ihr Lebensende verpfl ichtet sind. Wer früher einmal zum Kassenwart des Hundesportvereins gewählt war, entkam dem Ehrenamt oft zeit seines Lebens nicht mehr. Heute bevorzugen viele Menschen zeitlich befristete Projekte, die häufig nicht einmal mehr an einen Verein gebunden sind: Mark Pollmann, einer der hier vorstellten Ehrenamtlichen, gießt in heißen Sommern die Stadtbäume seines Viertels, ohne sich überhaupt mit offiziellen Stellen abzusprechen. Die Vorstellung, er müsste einmal pro Woche zum Gruppenabend eines Umweltvereins, ist ihm ein Graus. Diese neuen Formen haben aber nichts an einer alten Weisheit verändert: Die Freiwilligen sind der Kitt der Zivilgesellschaft – ohne sie wären viele wichtige Angebote nicht möglich, sei es das Mittagessen aus der Schulküche oder der Schutz der Feldlerche auf den letzten freien Fluren Stuttgarts. Man darf deshalb schon ein bisschen pathetisch werden: Letztlich kann ein demokratisches und solidarisches Gemeinwesen nur gedeihen, wenn möglichst viele Bürger in ihrem Lebenskreis Verantwortung für sich und andere übernehmen. Anpacken statt immer nur jammern, das ist das Lebensmotto dieser Menschen. Diese in finanzieller, vor allem aber in ideeller Hinsicht unschätzbare Bedeutung der Freiwilligen haben natürlich auch die Kommunen längst erkannt und sind endlich bereit, Zeit und Geld in die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements zu pumpen. Auch kleine Städte wie Ostfi ldern leisten sich mittlerweile eine Freiwilligenagentur, die »Jobs« vermittelt. Stuttgart hat zuletzt für seine Agentur einen Innovationspreis erhalten. Das bedeutet allerdings keineswegs, dass in der Landeshauptstadt allerorten eitel Sonnenschein herrscht. Die jüngste Bürgerumfrage zum Ehrenamt hat erst vor wenigen Wochen ergeben, dass die Zahl der Engagierten gegenüber 1999 sogar leicht zurückgegangen ist. Während sich vor sieben Jahren noch 24 Prozent aller Bürger über 18 Jahren in der Kirchengemeinde, Schule oder im Sportverein engagierten, sind es derzeit nur noch 21 Prozent, was aber immer noch mehr als 100000 Menschen in Stuttgart entspricht. 57 Erklären lässt sich das mit gesellschaftlichen Veränderungen, die sich allmählich gerade in Großstädten wie Stuttgart bemerkbar machen. So wissen die Ehrenamtsforscher längst, dass Engagement ein Luxusgut ist, sprich: wer in gesicherten fi nanziellen und familiären Verhältnissen lebt, ist eher bereit, etwas für andere zu tun. Die hohe Arbeitslosigkeit drückt deshalb die Zahl der Freiwilligen. Auch über kirchliche Jugendverbände wie die Pfadfi nder werden heute nicht mehr so viele junge Menschen zur täglichen guten Tat animiert – die Säkularisierung mit ihrer Masse an Kirchenaustritten fordert Tribut. Und auch die Trends der Vereinzelung, des berufl ichen Nomadentums und das Aufkommen der geburtenschwachen Jahrgänge sind Bedrohungen für die solidarische Gesellschaft. Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Die Stuttgarter Umfrage beweist nämlich ebenfalls, dass immer mehr Menschen bereit wären, sich zu engagieren – wenn nur die Rahmenbedingungen stimmen würden. Tatsächlich kreuzten im Jahr 1999 lediglich 24 Prozent an, dazu bereit zu sein, jetzt sind es 34 Prozent. Nicht nur die Vereine und Einrichtungen müssen sich also noch stärker anstrengen, um Freiwillige besser einzubinden, auch die Politik ist gefordert. Dabei geht es natürlich wieder einmal ums liebe Geld. Zwar spielt die fi nanzielle Entschädigung für die meisten Freiwilligen keine wichtige Rolle – sie machen es, mit voller Absicht, um Gottes Lohn. Dennoch könnten fi nanzielle Anreize den Freiwilligenprojekten einen Schub vermitteln. So könnten deutlich mehr Vereine interessierte Menschen an sich binden, wenn sie sich einen Ehrenamtsbeauftragten leisten könnten. Und sicherlich wären mehr arbeitssuchende Menschen an einer freiwilligen Arbeit interessiert, wenn es ihnen aus ihrer Hartz-IV-Düsternis heraushelfen würde. Manche Vordenker, wie der Esslinger Wirtschaftscoach Helmuth Beutel, gehen sogar noch einen Schritt weiter: Wenn man allen Menschen ein Bürgergeld zahlte, würden unglaubliche Kapazitäten an Hilfe frei, glaubt er. Denn bisher sind arbeitslose Menschen zur beständigen, aber oft sinnlosen Jobsuche verdammt und geraten deshalb in eine Abwärtsspirale. Mit dem Bürgergeld könnten sie sich lösen von der Fixierung auf einen bezahlten Job und sich emotional und zeitlich einer freiwilligen Tätigkeit zuwenden. Zukunftsmusik? Für die SPD-Bundestagsabgeordnete Ute Kumpf, die im Bundestag in der Enquetekommission zum ehrenamtlichen Engagement saß, ist das in der Tat so. Sie hält gar nichts von einem Bürgergeld, weil »sonst das bürgerschaftliche Engagement einer Ökonomisierung unterworfen« würde. Die Selbstlosigkeit als grundlegendes Merkmal der freiwilligen Hilfe ist für 58 Ausgezeichnete Beiträge sie in Gefahr. Ute Kumpf betont aber, dass die Politik dennoch viele Möglichkeiten habe, das Umfeld zu verbessern. So müsse das Gemeinnützigkeitsrecht verändert werden, damit der störrische Amtsschimmel in Notariaten und Kommunen den Tatendrang der Engagierten nicht bremst. Das Haftungsrecht müsse weiterentwickelt werden, weil noch immer viele Engagierte mit einem Bein im Gefängnis stehen – im schlimmsten Fall haften sie persönlich. Und auch der Zugang für Migranten in die gemeinnützige Gesellschaft müsse verbessert werden. So hängt es auch von den Niederungen des Vereinsrechts ab, ob Menschen zu Höhenflügen der Solidarität aufbrechen können. Daneben wird der Spaßfaktor und die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung immer wichtiger. Den Begriff »Ehrenamt« können die meisten Engagierten deshalb nicht mehr hören: »Ich empfi nde meine Arbeit weder als Ehre noch als Amt«, sagt beispielsweise Barbara Metelmann, die seit 27 Jahren eine Theatergruppe in Filderstadt leitet. Vielmehr zieht sie selbst großen Gewinn aus ihrer Aufgabe: Es macht ihr Spaß, ungelebte Seiten ihrer Persönlichkeit als Schauspielerin und Regisseurin auszuprobieren. Spielerisch andere Identitäten annehmen und andere Denkweisen erkunden – dies triff t nicht nur auf Engagierte beim Theater zu. Fast immer sind engagierte Menschen vielschichtig, mehrdimensional, tiefsinnig in ihrem Charakter und in ihrem Denken. Wer wie Hans-Jürgen Finger für die Patienten des Krankenhauses Radio macht oder wer wie Uwe Bodmer als Jobpate arbeitslosen Menschen wieder Mut zu machen versucht, der lernt andere Lebenswelten kennen und versteht fremde Perspektiven. Das Engagement bereichert so die eigene Persönlichkeit. Kein Wunder also, dass viele Freiwillige beeindruckende Menschen sind. Sie besitzen Leidenschaft, Verstand, Mut und Einfühlungsvermögen – und sind so letztlich Vorbilder. Davon können wir in unserer orientierungslosen Welt gar nicht genug haben. Die ganze Serie ist im Internet nachzulesen unter www. stuttgarter-zeitung.de/ehrenamt. Anhang 59 Ausschreibung 2007 Die Robert Bosch Stiftung ist eine der großen unternehmensverbundenen Stiftungen in Deutschland. Seit 1993 unterstützt sie bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt, um zur Entwicklung einer lebendigen Demokratie beizutragen. Journalistenpreis Bürgerschaftliches Engagement und MarionDönhoff-Förderpreis der Robert Bosch Stiftung Die Preise, mit denen Journalisten für hervorragende Pressebeiträge zum Thema »Bürgerschaftliches Engagement« ausgezeichnet werden, sollen die Autoren wie auch die Akteure ehren. Sie tragen dazu bei, die öffentliche Wahrnehmung von bürgerschaftlichen Initiativen für das Gemeinwohl zu erhöhen und Leser zu eigenem Engagement anzuregen. Ausgezeichnet werden Berichte, Reportagen oder Kommentare, die beispielhaft darstellen und fragen, wie und warum Menschen für sich und für andere freiwillig Verantwortung übernehmen. Teilnahmeberechtigt sind Redakteure aller Ressorts, besonders auch Lokalredakteure, und freie Journalisten. Chefredakteure und Ressortleiter sind eingeladen, Artikel vorzuschlagen. Der Journalistenpreis Bürgerschaftliches Engagement ist mit 5000, 3000 und 2000 Euro dotiert. Ein Sonderpreis von 5000 Euro wird für Serien vergeben. Junge Journalisten bis 30 Jahre nehmen gleichzeitig am Wettbewerb um den Marion-Dönhoff-Förderpreis teil. Dieser ist mit 3000 Euro dotiert. Die Arbeiten für beide Preise müssen zwischen dem 16. August 2006 und dem 15. August 2007 in deutschsprachigen Zeitungen oder Zeitschriften erschienen sein. Einsendeschluss ist der 16. August 2007. Detaillierte Informationen zu Teilnahmebedingungen und Inhalt der Beiträge fi nden Sie unter www.bosch-stiftung.de/ journalistenpreis. Robert Bosch Stiftung GmbH Journalistenpreis Heidehofstraße 31 70184 Stuttgart Telefon: 0711/460 84-59 Telefax: 0711/460 84-10159 [email protected] www.bosch-stiftung.de 60 Anhang Programm Preisverleihung 8. Dezember 2007 Die Robert Bosch Stiftung lädt ein zur Verleihung des Journalistenpreises 2007 Bürgerschaftliches Engagement Samstag, 8. Dezember 2007, 11.00 Uhr Robert-Bosch-Haus, Heidehofstraße 31, Stuttgart Begrüßung Dieter Berg, Vorsitzender der Geschäftsführung der Robert Bosch Stiftung Vortrag »Journalisten bewegen?!« Christina Rau, Berlin Würdigung der Preisträger durch die Mitglieder der Jury Übergabe der Preise und Urkunden Dr. Kurt Liedtke, Vorsitzender des Kuratoriums der Robert Bosch Stiftung Empfang Anhang 61 Preisträger 1998 bis 2006 Preisträger 1998 1. Preis: Eric Breitinger »Ein Spiel, bei dem viele gewinnen« Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 28. August 1998 2. Preis: Petra Pinzler »Warme Suppe, gute Laune« Die Zeit, 5. Dezember 1998 3. Preis: Kathrin Haasis »Ein Traumjob, leider unbezahlt« Südwest Presse, 20. September 1998 Juniorenpreis: Kerstin Humberg »Hilfe konkret« Kirche und Leben, Vechta, 26. Juli bis 30. August 1998 Serienpreis: Rainer Laubig »Türe auf für das Ehrenamt« Esslinger Zeitung, 1. bis 24. Dezember 1997 3. Preis: Magnus Reitiger und andere jugendliche Autoren Sonderseite »Wir tun was!« Weilheimer Tagblatt, 11. November 1998 3. Preis: Frank Olbert »Vom Untergang der rüden Schwimmmeister« Kölner Stadt-Anzeiger, 14. April 2000 Marion-Dönhoff-Förderpreis : Daniela Steffgen Beiträge zur Serie »Katholische Soziale Dienste in Wittlich« Trierischer Volksfreund, Juli/August 1999 Marion-Dönhoff-Förderpreis: Maz-Jugendredaktion Doppelseite »Aktiv für Andere« Michael Hassenberg, Christian Heinig, Philipp Hochbaum, Konstantin Görlich, Nicole Schmidt, Sylvia Schmidt, betreut von Frank Pechhold Märkische Allgemeine Zeitung, Lokalredaktion Königswusterhausen, 22. September 2000 Serienpreis: Lokalredaktion der Frankfurter Rundschau Martin Feldmann, Helga Franke, Uta Grossmann, Walter Keber, Mae von Lapp, Juliane Mroz, Jochen Notrott, Tobias Schwab, Barbara Simon, Dorothe Stuhl, Frank Tekkilic Sonderdruck/Beiträge zum Ehrenamt Frankfurter Rundschau, Juli 1999 bis September 1999 Serienpreis: Idee, Konzeption und Umsetzung Vera Fischer »Das Ehrenamt« Berliner Morgenpost, Februar 2000 bis Mai 2000 Preisträger 2001 Preisträger 1999 Preisträger 2000 1. Preis: Rainer Jung »Der herrlichste Job der Welt« Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 3. September 1999 2. Preis: Annette Jensen »Arbeitslos und doch voll beschäftigt« Süddeutsche Zeitung, 12./13. Dezember 1998 3. Preis: Stefan Becker »Lachen ist die beste Medizin« Morgenpost am Sonntag, 5. Mai 1999 1. Preis: Antje-Maria Lochthofen »Es ist Zeit« und »Eine Liebe fürs Leben« Thüringer Allgemeine, 12. August 2000 und 16. September 2000 2. Preis: Dorothée Stöbener, Ute Eberle »Gutes tun mit Gewinn« Die Zeit, 21. September 2000 1. Preis: Christian Otto »Einer für alle« Hannoversche Allgemeine Zeitung, 31. März 2001 2. Preis: Bernd Hauser »Schutzengel der Savanne« und »Kampf gegen den großen Frust« Frankfurter Rundschau, 8. Oktober 2000 und 13. Januar 2001 3. Preis: Sannah Koch »Jobs für Junkies« Die Woche, 24. August 2001 62 Anhang Marion-Dönhoff-Förderpreis: Nachrichtenagentur Sinnflut Jugendseite »Politisch kann man auch ohne Partei sein« Philipp Eichenhofer, Camille L’Hermitte, Cigdem Ipek, Anja Tangermann, betreut von Irmela Bittencourt Berliner Morgenpost, 26. März 2001 1. Serienpreis: Idee, Konzeption und Umsetzung Udo B. Greiner Mitarbeiter Alexander Beckmann, Detlef Czeninga, Wolfgang Hörmann, Renate Zunke »Unser Jahr des Ehrenamtes« Erlanger Nachrichten, Januar 2001 bis September 2001 2. Serienpreis: Idee, Konzeption und Umsetzung Martin Lugauer Mitarbeiter: Redakteure der Zeitungsgruppe Lahn-Dill »Ehrenamt? Ehrensache!« Zeitungsgruppe Lahn-Dill, Januar 2001 bis August 2001 3. Serienpreis: Idee, Konzeption und Umsetzung Wolfgang Hörmann Mitarbeiter Redakteure der Lokalredaktion Kyritzer Tageblatt »Ehrenamt« Kyritzer Tageblatt, Januar 2001 bis September 2001 Preisträger 2002 Preisträger 2003 1. Preis: Peter Rutkowski »Ohne uns wäre das Mädchen heute vom Kinn abwärts gelähmt« Frankfurter Rundschau, 15. November 2001 1. Preis: Sibylle Thelen »Bürger vor« Wochenendbeilage »Brücke zur Welt« Stuttgarter Zeitung, 30. November 2002 2. Preis: Birgit Schlieper Sonderseite »Die Ehrenamtsbörse« Lüdenscheider Nachrichten, 3. August 2002 2. Preis: Johannes Fischer »Die Ehre des Homo Hormersdorf« Freie Presse, 25. April 2003 3. Preis: Hansjosef Theyssen Mehrere Artikel zum Thema »Ehrenamtliche Tätigkeit« Neue Bildpost, November 2001 bis August 2002 3. Preis: Renate Iffland »Fit fürs Leben und nein zur Sucht« Saarbrücker Zeitung, Wochenzeitung für das Köllertal, 5. März 2003 Marion-Dönhoff-Förderpreis: Elisabeth Otte »Der Lohn besteht aus Lob und Dankbarkeit« Lingener Tagespost, 27. Oktober 2001 Marion-Dönhoff-Förderpreis: Constanze Kindel »Der Tod eines Kindes ist kein Tabu« Frankfurter Neue Presse/Höchster Kreisblatt, 6. November 2002 1. Serienpreis: Redaktionen der Braunschweiger Zeitung Chefredakteur Paul-Josef Raue »Gemeinsam – Wie sich Bürger engagieren« Braunschweiger Zeitung, Juni 2002 bis September 2002 Serienpreis: Redaktion der Ostthüringer Zeitung Ressort Thüringen/Wirtschaft vertreten durch Wolfgang Schütze (stellv. Chefredakteur) »Aktiv im Ehrenamt« Ostthüringer Zeitung, 10. März 2003 bis 8. September 2003 2. Serienpreis: Redaktion der Leonberger Kreiszeitung Chefredakteur Karl Geibel »Aktiv-Bürger« Leonberger Kreiszeitung, September 2001 bis August 2002 Anhang Preisträger 2004 Preisträger 2005 Preisträger 2006 1. Preis: Kai M. Feldhaus, Johannes Strempel »Essen ist fertig – ein Tag bei den Rittern der Tafelrunde« Berliner Illustrirte Zeitung, Sonntagsbeilage der Berliner Morgenpost, 1. Februar 2004 1. Preis: Hedwig Gafga »Schlaue Kerle, das sind sie beide« Chrismon, Juni 2005 1. Preis: Freia Peters »Nesta und Podolski« Welt am Sonntag, 14. Mai 2006 2. Preis: Michael Netzhammer »Ein herzliches Haus« Rheinischer Merkur, 28. April 2005 »Trautes Heim, Glück vereint« Badische Zeitung, 30. Juli 2005 »Oma Hubbuch mag am liebsten Remmidemmi« Stuttgarter Zeitung, 9. September 2005 2. Preis: Jens Schröder »Gemeinsinn – Der Aufstieg des Guten« GEO 12/2005 2. Preis: Andreas Speen »Schulprojekt Burkina Faso« Rheinische Post, 2. Juli 2004 3. Preis: Kristina Maroldt Themenseite »Helfer im Hintergrund« Sächsische Zeitung, 15. August 2004 Marion-Dönhoff-Förderpreis: Claudia Sebert »Stricken und Sammeln fürs Allgemeinwohl« Frankenpost, 7. November 2003 Serienpreis: Lutz Würbach, Heidi Pohle »Der Esel, der auf Rosen geht« Mitteldeutsche Zeitung, Lokalredaktion Halle, 17. Januar bis 22. März 2004 3. Preis: Antonie Rietzschel, Peter Stawowy »Engagiert gegen dumpfe Parolen« Spiesser – die Jugendzeitschrift, Dezemberauflage 2004 Marion-Dönhoff-Förderpreis: Daniel Boese »Das Radio, das die Mark erschüttert« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 8. Mai 2005 Serienpreis: Camilla Härtewig, Lena Rehmann »Jetzt erst recht!« Rhein Zeitung/Öffentlicher Anzeiger, 10. bis 24. Dezember 2004 Serienpreis: Hubert Grundner, Thomas Kronewitter, Andrea Schlaier, Wolfgang Schmidt »Eigentum verpfl ichtet – in München hat die Wohltätigkeit Tradition« Süddeutsche Zeitung, 2. August bis 8. September 2005 63 3. Preis: Gabriele Bärtels »Aufheben ohne viel Aufhebens« Der Tagesspiegel, 4. Oktober 2005 Serienpreis: Anne Klesse, Miriam Opresnik (verantwortlich), Diana Zinkler »Die Hamburg stark machen« Hamburger Abendblatt, 4. Januar bis 22. Mai 2006 64 Impressum Herausgegeben von der Robert Bosch Stiftung GmbH Verantwortlich Viola Seeger Gestaltung Dörr + Schiller GmbH, Stuttgart Druck Steinkopf Druck GmbH, Stuttgart Copyright 2007 Robert Bosch Stiftung GmbH, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Bildmaterial Robert Bosch Stiftung GmbH Photo Titelseite: Getty Images Robert Bosch Stiftung GmbH Heidehofstr. 31 70184 Stuttgart Postanschrift: Postfach 10 06 28 70005 Stuttgart Telefon 0711/460 84-0 Telefax 0711/460 84-1094 www.bosch-stiftung.de