Taube 2006a Raben
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Taube 2006a Raben
1 Taube, Erika 2006a. Das Gespräch der beiden hungrigen Raben. In: Fenz, Hendrik, und Petra Kappert (†) [Hrsg.]: Turkologie für das 21. Jahrhundert. Herausforderungen zwischen Tradition und Moderne. Wiesbaden: Harrassowitz (Veröffentlichungen der Societas Uralo-Altaica Bd. 70), 265-276. Erika Taube, Leipzig Das Gespräch der beiden hungrigen Raben Angeregt zu den folgenden Betrachtungen hat mich Michael Friederichs Artikel „Rabe fliegt nach Osten, oder Ein tatarischer Weltheimatdichter im Zeitalter der Umbrüche“.1 Dieser Beitrag beginnt mit einem Gedicht von Zakir Ramijev, bekannter unter seinem Pseudonym Därdmänd oder einfach D. Es ist eine Zweitübersetzung, denn es handelt sich um die tatarische Wiedergabe der Puschkinschen Übertragung eines schottischen Volkslieds, das auch als englische Ballade bekannt ist und dessen Stoff im vorigen Jahrhundert in Europa durch Übersetzungen relativ verbreitet gewesen zu sein scheint; eine deutsche Fassung stammt von Adalbert von Chamisso, das Rabenthema findet sich mehrfach in Heinrich Heines „Buch der Lieder“. Das tatarische Gedicht Qozgin, „Die Krähen“ (genauer „Die Raben“2), hier zitiert in M. Friederichs Übersetzung, erzählt Krähe fliegt zu Krähe, Krähe sagt zu Krähe: „Krähe, mir knurrt der Magen, Wo gibt es zu fressen?“ – sagt sie. Krähe antwortet Krähe, Sagt: „Ich find’ was zum Fressen: Unter der grünen Weide liegt es – Ein hinterrücks ermord’ter Recke. Wer den Jüngling umgebracht hat Und seinen edlen Hengst gestohlen – Seine junge Frau, die zu Hause sitzt Und sich herausputzt, die weiß es.“ 2 Als ich dieses Gedicht las, kam mir eine Szene aus dem altaituwinischen Märchen „Der Junge mit dem Hund, der Katze und dem Fisch“3 in den Sinn: Dort erführt ein Chaan von der Schönheit der Frau des Märchenhelden, einer Tochter des Herrn der Wasserwesen, und will sie entführen lassen. Das Problem ist: Die beiden leben auf einer Insel inmitten eines Salzmeeres, das alles verbrennt – selbst die Vögel, die darüber hinwegfliegen. Nur ein 93jähriger Greis weiß, daß es ein nicht-brennbares Holz gibt – das Holz des Bum-Baumes, auf dem der Rabe sein Nest baut.4 Siebzig Wahrsager läßt der Chaan einsperren, um herauszufinden, wo dieser Bum-Baum steht, der Züge des Weltenbaumes trägt. Alle Wahrsager, „die Augen und Ohren haben“, entkommen irgendwie, nur sieben Blinde bleiben übrig, die nun um den Preis ihres Kopfes das Rätsel bis zum nächsten Tag lösen sollen. Einer verwandelt sich selbst und die übrigen sechs in Sperlinge, und sie fliegen fort. Auf der Flucht vor ihrem Chaan stand auf einmal ein Baum mit großen Blättern vor ihnen. Das versteckte sich jeder der sieben Sperlinge unter einem der Blätter. Da ließen sich auch schon zwei Raben im Wipfel des Baumes nieder und unterhielten sich. „Morgen, wenn es tagt, wird unsere Nahrung für den Tag schon bereitliegen. Wir werden zweimal sieben, also vierzehn Augen fressen“ … „… in welchem Falle werden wir die vierzehn Augen nicht fressen?“ „Wenn die sieben Astrologen den Bum-Baum nicht finden, auf dem wir Raben unsere Eier legen, werden wir ihre Augen fressen. Wenn sie den Bum-Baum finden, werden wir ihre Augen nicht fressen.“ Und noch einmal fragte der andere Rabe: „Wo ist der Bum-Baum, auf den die Raben ihre Eier legen?“ „Der Baum hier, auf dem wir sitzen, das ist der Bum-Baum, auf den wir unsere Eier legen.“ Nach diesen Worten flogen die beiden Raben davon. Da erhoben sich jene sieben Sperlinge, brachten an dem Baum ein Zeichen an und flogen… zurück. Bei dem „merkwürdigen und makabren Gespräch“ (so Friedrich) der beiden Raben haben wir es mit einem internationalen Märchenmotiv zu tun, das in den 3 größeren Kontext des Verstehens der Tiersprache gehört (Motiv B 126). Im Motif Index of Folk Literature von Stith Thompson ist es unter der Chiffre N 451 definiert als „Secrets overheard from animal (demon) conversation“. Die belauschte Unterhaltung von Tieren oder Dämonen kann die verschiedensten Konsequenzen haben. So erlangt jemand Kenntnis von einem Heilmittel, durch das eine bis dahin unheilbar kranke Prinzessin genesen kann; er erfährt das Geheimnis, wie ein Armer zu Wohlstand kam, und hat Pech bei dem Versuch, durch Nachahmung seinen eigenen Reichtum noch zu vermehren, in einem altaituwinischen Märchen und seiner kasachischen Variante hört der zufällige Lauscher, welche Gefahren demjenigen als Strafe der Herren des Wissens/der Märchen drohen, der Märchen kennt und sie dennoch nicht erzählen will.5 Das altaituwinische Beispiel des Rabengesprächs, das ein Geheimnis verrät, entstammt einem reinen Zaubermärchen. Das Geschehen, das die beiden Vögel im Gedicht oder Lied besprechen, scheint im realen Leben angesiedelt zu sein. Den Bezug zur Folklore stellt nicht nur die Tatsache her, daß das schottische Vorbild ein Volkslied ist, sondern vor allem der Umstand, daß Tiere miteinander reden und von Menschen verstanden werden. Vor allem für Zauber- und die für Zentralasien charakteristischen Reckenmärchen ist das eine ganz selbstverständliche Voraussetzung – ohne daß es einer Begründung bedarf, warum jemand die Sprache der Tiere versteht. Worin Märchen und Gedicht/Lied übereinstimmen, ist die Offenbarung eines Geheimnisses, die im Falle des Märchens die Handlung weitertreibt, im Falle des Liedes oder Gedichts zumindest den Zuhörer oder Leser zum Mitwisser macht und ihn belastet oder aber auch der Hoffnung überläßt, daß die Untat doch noch an den Tag kommt. Oft sind es ja gerade Vögel, die – zum Beispiel im usbekischen Märchen „Der Maina“6 – einen Mord kundtun oder – wie wohl auch in der 15. Erzählung der kalmückischen Version des Siddhi kǖr7 – das Geheimnis um einen Mord lüften. Im Märchen genügen in vergleichbaren Situationen Tiere als Mitwisser: ein Beispiel dafür geben die Leittiere der Herden im altaituwinischen Märchen „Deptegen die schwarze Alte mit dem Sack aus Kamelhaut“8 – sie rufen den Namen ihrer getöteten Herrin und fressen nicht mehr, dadurch wecken sie Aufmerksamkeit und bewirken die Wiederbelebung der Getöteten. Beim Tod des Helden sind es Hund/Adler und Pferd, die ihn vor dem endgültigen Tod bewahren. Ein schönes Beispiel dafür – mit zwei Pferden – enthält „Xan 4 Tögüsvek“9. Im schottischen Lied und dementsprechend in der Puschkinschen Wiedergabe sind die Gefährten des Getöteten – Hund/Falke und Pferd – anderweitig beschäftigt, mit Jagd und Beute. Hilfe ist von ihnen, zumindest im Rahmen der hier gegebenen dichterischen Form und beim Realitätsbezug der Texte, nicht zu erwarten. Dergleichen wäre von der türkisch-mongolischen Tradition her schwer verständlich, in der das Pferd aufs engste mit seinem Herrn verbunden ist. Deshalb vielleicht wird bei Därdmänd das Pferd wie sein Herr ebenfalls zum Opfer, wenn auch nur das eines Räubers, und es bleibt frei von Schuld. Daß dagegen – wie vielleicht hier – eine Frau dem Helden eventuell in den Rücken fällt, ist der zentralasiatischen Überlieferung nicht fremd. Jedenfalls weicht der tatarische Dichter hier von den europäischen Vorbildern ab. Neben dem Motiv N 451 – das dem Gespräch von Tieren (oder Dämonen) abgelauschte Geheimnis – war es dieser m. E. offensichtliche Rückgriff auf die eigene Tradition, der mir die Frage aufwarf, ob hier ein Zusammenhang dazu besteht, daß Därdmänd eben diesen Stoff zur Übersetzung ausgewählt hat. War ihm das Kernmotiv aus der mündlichen Überlieferung vertraut? Erschien es ihm deshalb als leicht rezipierbar und daher gut geeignet für eine Zeitschrift, die im muslimischen Rußland und in Zentralasien verbreitet und wohlangesehen war? M. Friederich betont an Därdmänds Gedichten die einfache Sprache, „die gerade durch ihre Schlichtheit besonders ausdrucksstark ist“ (S. 554), was wohl für dessen Vertrautheit mit der mündlich tradierten Dichtung des eigenen Volkes spricht. Tatsächlich ist für mein Empfinden das tatarische Gedicht in Ton und Stimmung dem schottischen Lied am nächsten (M. Friederich schließt nicht aus, daß Därdmänd auch die schottische Vorlage kannte), sehr viel näher jedenfalls als etwa die Übertragung des Puschkin-Gedichts ins Deutsche durch A. von Chamisso, bei dem zum Beispiel aus dem schlichten „Weidenbaum“ (russ. rakita) ein „Unglücksbaum“ wird. Die Durchsicht einiger Sammlungen tatarischer Märchen aus unterschiedlichen Gebieten (Bálints wolgatatarische,10 Paasonens mischärtatarische,11 Kúnos’s kasantatarische,12 sowie Märchen aus Radloffs „Proben“ Theil IV13, dazu mehrere Ausgaben von Märchen der Völker der einstigen Sowjetunion oder der Russischen Föderation) ergaben, was die hier relevante Gestaltung des Märchenmotivs N 451 betrifft, einen negativen Befund: Einmal verhilft zwei 5 Tauben abgelauschtes Wissen dazu, daß zwei Liebende einander wiederfinden (Radloff 1872, 473); ein andermal verrät die Unterhaltung zweier Vögel einem Alten, wo Gold und Silber zu finden sind und später das richtige Verhalten in einer bestimmten Situation (Radloff 1872, 493f.); und die Lust auf Nahrung menschlicher Herkunft ist durch Radloff (1872, 16) von den Baraba-Tataren belegt, wenn ein Rabe auf Kosy Körpöz’ Bitte, ihm Eltern zu sein, antwortet: „Mögest du mich Vater nennen, mein Kind, mögest du mich Mutter nennen, mein Kind, möchte dich doch Kara Kann töten, mein Kind, dann möchte ich dein Blut löffelweise trinken, mein Kind.“ Wenn auch das Motiv in der spezifischen Form, in der es in Därdmänds Gedicht und im altaituwinischen Märchen auftritt, in der tatarischen Folklore – von mir – nicht zu finden war, so kam doch allgemein eine Fülle von Parallelen zu Stoffen und Motiven aus dem Märchengut zentralasiatischer türkischer, teils auch mongolischer Völker zutage. Diese Fülle an Parallelen ist erstaunlich angesichts der tatarischen Lebensräume, die zum Teil in Europa und innerhalb russischer Siedlungsgebiete liegen, angesichts der längeren und engeren Kontakte zu russischer und anderer Bevölkerung. Es gibt einerseits eine ganze Anzahl russischer Märchen in tatarischem Gewand, und andererseits sind tatarische Märchen aus einem türkisch-mongolischen Zusammenhang deutlich durch die seit langem gegebenen neuen Lebensumstände geprägt – durch die seßhafte, auf Ackerbau begründete Lebensweise, teils auch durch christliche Elemente und generell durch eine größere Rationalität, als sie in Märchen aus Zentralasien zu beobachten ist. Das äußert sich unter anderem in den gelegentlichen Erklärungen, die der Erzähler offensichtlich für notwendig hält: Wenn zum Beispiel der Held in die Unterwelt kommt und grimmige Wächtertiere mit speziell zu diesem Zweck mitgebrachtem Futter zufriedenstelle, wird erklärt, daß der Div sie hungern ließ, damit sie angriffbereiter sind. Oder wenn die Gefährten den Helden durch einen Brunnen in die Unterwelt hinablassen, wird hinzugefügt, daß in dem Brunnen kein Wasser war, sondern daß von seinem Grund viele Wege ausgingen. Nicht nur für die altaituwinische Tradition ist dergleichen untypisch, daß Wächtertiere in einer Anderwelt gefährlicher und anders zu behandeln sind als irdische oder daß ein Brunnen der Zugang zu einer 6 unteren Welt sein kann, bedarf noch keiner Erklärung.14 Die Fülle von Parallelen ist besonders erstaunlich, wenn man die räumliche Entfernung und die extremen Unterschiede in der Lebensweise, zum Beispiel von Wolgatataren und Altaituwinern, bedenkt. Nicht nur, weil ich das altaituwinische Material besser als anderes kenne, sondern auch, weil darin mit Einflüssen von außerhalb Asiens kaum zu rechnen ist, sind parallele Erscheinungen in altaituwinischen und tatarischen Märchen besonders interessant. Da sind zunächst ganze Typen, wenn auch wenige, die in relativ nahen Varianten in altaituwinischen und tatarischen Märchen vorkommen. Es handelt sich hier teils um ziemlich kurze Texte wie das altaituwinische Kettenmärchen Geze, „Wer ist schwer (zu überwinden)“;15 das in Nr. 15 der Ausgabe von Berta eine wolgatatarische und als Nr. 11 der Paasonenschen Sammlung eine mischärtatarische Variante hat, mit immer weiterführenden Fragen von der Art: „Eis, bist du tapfer?“ – „Ja, tapfer!“ – „Wenn du tapfer bist, warum ißt dich die Sonne?“ – „Sonne, bist du tapfer?“ – „Ja, tapfer!“ – „Wieso verhüllt dich dann die Wolke?“ usw. – Oder das tatarische Märchen „Die drei Ratschläge des Vaters“,16 das dem altaituwinischen „Des Vaters Rat“17 entspricht: Bei den Tataren sind es die Ratschläge des Sterbenden an die Söhne, die nicht verstanden, daher auch nicht befolgt werden und in Armut führen; erst später, vom Ältesten in ihrer Bedeutung erkannt und erklärt, verhelfen sie zu Wohlstand. Bei den Altaituwinern rät der Vater dem zum Krieg ausziehenden Sohn dreierlei, was dieser zwar nicht versteht, aber dennoch bedingungslos befolgt, so daß er als einziger zurückkehrt – und erst dann fragt er den Vater nach dem Sinn der Ratschläge. Auch Schwankmärchen wie jene vom Typ „Die schrecklichen schwarzen Mangysse“18 kommen bei den Altaituwinern und Tataren vor: Dank seiner Schlauheit trickst ein Schwacher ein oder drei Ungeheuer aus, indem er Vorkehrungen trifft für die zu erwartenden Kraftproben – er versteckt ein tyrys (Gefäß aus Baumrinde) voll Sauermilch im Erdboden (so bei Tataren) oder einen Dickdarm voll Blut in einem Baumstumpf (altaituwinisch), um dann mit einem Fußtritt Sauermilch oder Blut aus der Erde fließen zu lassen, was das dumme Ungeheuer natürlich nicht vermag.19 Bei den Zaubermärchen lassen sich zwar bestimmte Typen gut erkennen, etwa das altaituwinische „Der Chaan mit den zwölf Frauen“ 20 in einem 7 wolgatatarischen, christlich geprägten Märchen21 oder – stärker abweichend – im zweiten Teil von „Die Almosenspenderin“22, oder „Die zwei Brüder oder der Greis Erencen“23 in einem mischärtatarischen Märchen (Paasonen Nr. 21), oder auch die Er-Töštük-Variante „Baj Nazar“24 in „Jirtüschlik“25 (Radloff 1872, 443ff.), um nur einige zu nennen. Aber viel häufiger begegnen uns Motive und vor allem Motivkomplexe, die sich in den tatarischen Märchen auf andere Weise verbunden haben als bei Altaituwinern und auch anderen Völkern Zentralasiens und die manchmal nur noch relikthaft auf den zugrunde liegenden Typ verweisen. Genannt sei nur das nicht allzu häufige Erpressen der Wahrheit über abhanden gekommenen Familienmitglieder – Brüder – wie in „Burγan Buruš“26 (altaituwinisch) oder über die vor der Geburt verlobte Braut (tatarisch), indem der noch kindliche Held die Hände seiner Mutter in den heißen Kessel drückt; das Motiv vom Proviant (altaituwinisch Branntwein und Schaffleisch, tatarisch Fladen), den die entführte Frau für ihren Mann unter den Herdsteinen oder in der Asche der Feuerstelle zurückläßt;27 oder die Verstümmelung dreier Männer (durch ihre älteren Brüder) und ihre gemeinsamen Erlebnisse, die den Kern eines der zentralen altaituwinischen Märchen, des „Bögen Saγān Tōlaj“28, bilden und – schon etwas reduziert – den größeren Teil des tatarischen Märchens „Timirgändik“.29 Oft sind es jedoch auch viel kleinere inhaltliche Einheiten als die Motive, die Beziehungen deutlich werden lassen oder die anzeigen, welche Motive oder Motivkomplexe der jeweiligen tatarischen Version zugrunde liegen. Diese minimalen Einheiten, „Ähnlichkeiten“ (in der Folkloristik nach Heda Jason als similarities bezeichnet) können – so winzig sie sind – für Zusammenhänge oft aufschlußreicher sein als Motive und andere größere strukturelle oder sinnträchtige Einheiten und treten daher seit kurzem zunehmend ins Blickfeld der folkloristisch Forschenden – ich verweise nur auf W. Heissigs Arbeiten der letzten Jahre. An Beispielen aus dem schon erwähnten Märchen „Der Chaan mit den zwölf Frauen“ will ich veranschaulichen, was gemeint ist. Im entsprechenden tatarischen Märchen (in den Textsammlungen sind meist keine Titel genannt) wird unter anderem folgendes erzählt: Bruder und Schwester gehen regelmäßig zur Kirche. Die Schwester veranlaßt ihren Bruder, zu heiraten. Dessen junge 8 Frau beginnt (wohl aus Eifersucht), die Schwester zu verleumden und tötet schließlich ihr eigenes Kind, um die Tat ihrer Schwägerin anzulasten. Der Mann schneidet seiner Schwester die Unterarme ab und verstößt sie. Sie ernährt sich von Äpfeln im Garten eines Patša. Der läßt seine Söhne über die Äpfel wachen, der jüngste entdeckt das Mädchen und heiratet es. In seiner Abwesenheit gebiert sie einen wunderschönen Knaben. Die neidischen zwei Schwägerinnen vertauschen die gute Nachricht an den jüngsten Königssohn (Urias-BriefMotiv); sie schreiben, ein Hundekopf-Kuhfuß sei geboren worden, und sie vertauschen auch seine bedachtsame Antwort. So wird die junge Frau, ihr Kind auf den Rücken gebunden, fortgejagt. Unterwegs durstig geworden, geht sie in einen See hinein, um zu trinken (sie kann ja nicht mit der Hand Wasser schöpfen), und beim Bücken fällt ihr Kind in den See. Auf ihr verzweifeltes Weinen ertönt vom Himmel eine Stimme: „Warum nimmst du dein Kind nicht?“ Und auf ihre Frage „Wie denn ohne Arme?“ heißt es: „Strecke deine Hände aus und nimm es auf!“ – und auf wunderbare Weise sind ihre Arme plötzlich wieder heil.30 – Sie geht mit dem Kind in eine Kirche, trifft nach dem Gottesdienst einen Mann, der sie während ihres Gesprächs als seine Schwester erkennt, und ein zweiter junger Mann, der ihnen gefolgt war, versteht aus ihren Worten, daß es seine Frau ist, die er bisher nur ohne Hände gekannt hatte. Das christliche Beiwerk spricht für eine relativ junge Version. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf das Geschehen am See lenken, das in der tatarischen Version ein knappes, fast äußerliches Motiv ist, und auf die Umstände der Wiedererkennung im altaituwinischen Märchen,31 in dem der Neid der Widersacherinnen besser motiviert ist (es ist hier die Rede von drei Frauen eines Chaans); hier werden die zwei in Abwesenheit des Chaans geborenen Kinder der jüngsten Gemahlin in einem Kasten ins Meer geworfen und durch blinde Welpen ersetzt. Der Chaan verstößt die angeblich schuldige Frau in eine Gegend jenseits des Meeres (das Verstümmeln an Arm, Bein und Auge, das andere Varianten, darunter auch eine aus Tuwa, kennen, fehlt in der altaituwinischen). Die Kinder werden von einem greisen Paar jenseits eines Meeres (gemeint ist wohl in einer Anderwelt) gerettet, bei dem sich auch ihre verstoßene Mutter einfindet. Dieses Meer überquert später der Chaan, an seinem Ufer begegnet er seinen Kindern. Die Greisin – mit weißem Haar und Runzeln so tief, daß ein Finger darin steckenbleiben konnte – raffte unaufhörlich Bäume und Steine, 9 Felsen und Wasser der Altai-Welt zusammen. Diese Beschreibung deutet auf eine Elementargottheit, vielleicht eine Art Erdmutter oder Herrin des Schicksals, angesiedelt jenseits eines Meeres, die in der tatarischen Variante transformiert – nun wohl als Stimme Gottes/der Gottesmutter zu verstehen – erhalten ist. Die Aufklärung über das Schicksal der jüngsten Frau und die Übeltaten der älteren Frauen sowie über die Identität der beiden Kinder erfährt der Chaan im altaituwinischen Märchen aus den Worten jener Greisin, die ihn sein Verhalten erst durch Leiden sühnen läßt, ehe sie ihn wieder mit den Seinen vereint. Sie wird an dieser Stelle (S. 158) als Herrin des Schicksals (ǰajān ēzi xōčun) bezeichnet, aber nicht nur das weckt Assoziationen zum Herrn des Schicksals im usbekischen Märchen. Im tatarischen Märchen ist dieses Motiv auf die viel rationalistischere Bitte des Bruders um Verzeihung reduziert. Überhaupt unterscheiden sich die tatarischen Märchen durch ausgeprägtere Rationalität, was in der größeren geistigen Entfernung ihrer Träger von einem mythischmagischen Weltbild begründet sein dürfte. Ein solches Weltbild liegt dem Motivkomplex in der altaituwinischen Version zugrunde, wodurch dieser hier inhaltlich und umfangmäßig ein sehr großes Gewicht hat. Während in der tatarischen Version Heilung und Wiedervereinigung deutlich von der Wahrnehmung religiöser Pflichten abhängen, reflektiert die altaituwinische eine viel strengere universelle Gerechtigkeit. Dem entspricht, daß das Wasser, das hier zwei Welten trennt, im tatarischen Märchen nur noch ein topographisches Element ist – wobei jedoch die Verbindung von See und Stimme aus dem Himmel den ursprünglichen tieferen Zusammenhang bewahrt. Similarities – kleinste semantische Einheiten – der eben genannten und anderer Art in großer Zahl (ich erinnere an den Baumstumpf, in dem der mit Blut gefüllte Dickdarm verborgen wird, und an das Gefäß aus Baumrinde mit Sauermilch) deuten auf die Beziehungen der tatarischen Märchen zu einer gemeinsamen türkisch-mongolischen Tradition hin. Das gleiche gilt auch für bestimmte, leicht variierende Formeln, die dank ihrer poetischen Struktur oft sehr stabil sind, und für bestimmte Bilder. Als Beispiel mögen dienen: „Dem Vaterlosen will ich ein Vater sein, dem Sohnlosen will ich ein Sohn sein“ (altaituwinisch) und „Dem Sohnlosen Sohn, dem Dienerlosen Diener will ich sein“ (kasantatarisch; Kúnos 180f.); „seit ich von meiner Mutter geboren wurde, habe ich … nicht (getan/gesehen)“ (z. B. Radloff 1872, 402); „ich erfuhr, daß … 10 unterwegs ist (… du unterwegs bist), und wollte ihn (dich) treffen“ (Radloff 1872, 460ff.). Oder als Beispiel für einen bildhaften Ausdruck: „die Knochen stieß er aus der Nase“ (vom Helden beim Fleisch-Essen gesagt; tatarisch; Radloff 1872, 109); altaituwinisch: „er nieste die kleinen Knochen aus der Nase, er spuckte die großen Knochen aus dem Mund“ (Taube 1978a, S. 56). Kehren wir zu dem Gespräch der zwei hungrigen Raben zurück. Die generellen deutlichen und reichlichen Bezüge der tatarischen Märchen zu einer zentralasiatischen Tradition lassen die Vermutung zu, daß Därdmänd, der in Orenburg lebte, dieses Motiv auch aus der einheimischen Folkloretradition gekannt haben könnte, auch wenn es von mir vorläufig – in der von ihm verwendeten spezifischen Gestalt – nicht zu belegen war. Sehr nahe kommt ihr immerhin die Vorfreude eines Raben auf das Blut eines möglichen Toten in dem oben zitierten Radloffschen Text der Baraba-Tataren: „möchte dich doch Kara Kan töten…, dann möchte ich dein Blut löffelweise trinken…“. Radloff weist im Vorwort zu Theil IV seiner „Proben“ darauf hin, daß es nicht einfach war, unter den tatarischen Gruppen zu sammeln, wegen des – für diesen Zweck ungünstigen – Einflusses der Mullahs auf die Informanten. Und es gilt nach meiner Erfahrung grundsätzlich, daß es letztlich immer auch von Zufällen abhängt, was aus der mündlichen Überlieferung erfaßt werden kann und was uns – zunächst oder für immer – verborgen bleibt. Wenn also ein Motiv in einer bestimmten Gestaltung in einer konkreten Tradition nicht anzutreffen ist, bedeutet das nicht, daß es darin nicht vorkommt. Andererseits ist in der mündlichen Folklore die Variabilität – selbst innerhalb eines engeren Überlieferungsbereichs – so lebhaft, daß es einzelner genauer Übereinstimmungen nicht bedarf zur Erhellung von Beziehungsfeldern. Die Gestaltung des Motivs vom Raben-Gespräch in Därdmänds Gedicht entspricht der allgemein erkennbaren Tendenz zur Entmythisierung oder Verweltlichung, die vor allem in den tatarischen Märchen aus dem Wolgagebiet zu beobachten ist. Und doch erscheint es mir fast, als sollte der Raub des Pferdes in Därdmänds Version begründen, warum es den eigentlich zu erwartenden Versuch einer Wiederbelebung seines Herrn nicht unternehmen konnte. Die Betrachtung – ausgelöst durch das Gespräch zweier Raben – regt dazu an, den similarities – jenen kleinsten semantischen Einheiten innerhalb und im 11 Umfeld mündlicher Überlieferung – grundsätzlich mehr Beachtung zu schenken, aber auch, sie an einem bestimmten begrenzten Material näher zu untersuchen. Es sei mir erlaubt, mit einer, wenn auch naheliegenden, Vermutung zu schließen, daß nämlich das hier relevante Motiv von den zwei Raben, die durch das Unglück Dritter ein gutes Mahl erwarten dürfen, nicht nur von Schottland über St. Petersburg zu Därdmänd nach Orenburg gekommen sei – daß der Rabe nicht nur nach Osten geflogen sein muß. Literatur Berta, Á. (ed.) 1988: Wolgatatarische Dialektstudien. Textkritische Neuausgabe der Originalsammlung von G. Bálint. (Keleti Tanulmányok – Oriental Studies 7). Budapest. Golovkina, O. V. (red.) 1966: Tatarsko-russkij slovar’. Moskva. Jülg, Bernhard 1868: Mongolische Märchen-Sammlung. Die neun Märchen des Siddhi-kǖr. Nach der ausführlicheren Redaction… Innsbruck. Karahka, Eino (ed.) 1953: Mischärtatarische Volksdichtung. Gesammelt von Heikki Paasonen. (Suomalais-Ugrilaisen seuran toimituksia – Mémoires de la Société Finno-Ougrienne 105). Helsinki. Kügelgen, Anke von, Kemper, M. & Frank, A. J. (ed.) 1998: Muslim Culture in Russia and Central Asia from the 18th to the Early 20th Centuries. Vol. 2: Inter-Regional and Inter-Ethnic Relations. (Islamkundliche Untersuchungen, Bd. 216). Berlin. Kúnos, Ignác 1989: Kasantatarische Volksmärchen, von Zsuzsa Kakuk [und Imre Baski?] herausgegeben. (Keleti Tanulmányok – Oriental Studies 8). Budapest. Radloff, W[ilhelm] (ed.) 1872: Die Sprachen der türkischen Stämme. I. Abtheilung. Proben der Volkslitteratur der türkischen Stämme Süd-Sibiriens. IV. Theil: Die Mundarten der Barabiner, Taraer, Toboler und Tümenischen Tataren. St. Petersburg [Reprint Leipzig 1965]. Skazki narodov RSFSR. Moskva 1961. 12 Taube, Erika 1977: Das leopardenscheckige Pferd. Märchen der Tuwiner. In der MVR gesammelt und nacherzählt. Berlin. Taube, E. (ed. u. übers.) 1978a: Tuwinische Volksmärchen. Berlin. Taube, E. 1978b: Das Märchen von Bögen Sagān Tōlaj und seine Beziehungen zu einer Überlieferung von der Herkunft der Cengel-Tuwiner. In. Richter, Eberhardt & Taube, Manfred (ed.) 1978: Asienwissenschaftliche Beiträge. Johannes Schubert in memoriam. (Veröffentlichungen des Museums für Völkerkunde zu Leipzig, Heft 32). Berlin. 139-168. Taube, E. (Übers.) 1988: Ergil-ool. Chan Tögüsvek. In: Hänsel, Regina (ed.) 1988: Heldensagen aus aller Welt. Berlin (Lizenzausgabe Stuttgart). 120128, 224-257. Taube, E. (ed.) 1994: Skazki i predanija altajskich tuvincev. Moskva. Taube, Jakob 1990: Der halbe Kicherling. Usbekische Märchen. Leipzig. Vatagin, Mark 1988: Skazki narodov Rossii. Minsk. 13 Fußnoten 1. In Kügelgen, Kemper & Frank 1998: 527-559. 2. Nach Berta 1988: 294: kozγon – „Rabe (corvus corax)“; Golovkina 1966: kozgyn – vóron, Rabe; alttürk. γusγun – „Rabe“. 3. Siehe Taube, E. 1978a: 171f. (Nr. 34). 4. In der Version, die der Vater der Erzählerin vortrug (Taube, E. 1994: 216224, Nr. 25), ist die Greisin Dojnu Xara 91 Jahre alt, und der Baum heißt Dondūd Bom. In beiden Fällen ist von Raben (γusγun, standardtuwin. kuskun) die Rede. Meine Übersetzung mit „Krähe“ in Taube, E. 1978a ist falsch (korrigiert in Taube, E. 1994). 5. Taube, E. 1978a: 216-218 (Nr. 40). 6. Siehe Taube, J. 1990: 66-71. 7. Jülg 1868: 10-14 und 147-152. 8. Taube, E. 1978a: 298-300 (Nr. 64). 9. Taube, E. 1978a: 155-189 (Nr. 17), spez. S. 168; ^994;: 168. 10. Berta 1988: 294. 11. Karahka 1953. 12. Kúnos 1989. 13. Radloff 1872. 14. Erklärungen wurden dagegen von einigen meiner Erzähler gegeben zu einem bestimmten Pfeiltyp, zum Bewegungsablauf bei einer konkreten Arbeitstechnik oder zu einer bestimmten Verhaltensweise, zu einem nicht mehr gebräuchlichen Kleidungsstück u. ä. 15. Taube, E. 1994: 276 (Nr. 56). 16. Vatagin 1988: 81f. 17. Taube, E. 1977: 123; 1994: Nr. 40. 18. Taube, E. 1978a: 282-285 (Nr. 58). 19. Berta 1988: Nr. 29 und 25; Karahka (Paasonen) 1953: Nr. 5. 14 20. Taube, E. 1978a: 154-^58 (Nr. 32). 21. Berta 1988: 189-190 (Nr. 33). 22. Radloff 1872: 409-411. 23. Taube, E. 1978a: 245-254 (Nr. 49). 24. Taube, E. 1978a: 192-206 (Nr. 37). 25. Radloff 1872: 443ff. 26. Taube, E. 1977: 70-73; 1994: 242-244 (Nr. 32). 27. Tatarisch in „Samyj silnyj“. Skazki narodov RSFSR. Moskva 1961, 71-84. 28. Taube, E. 1978b (vgl. Taube, E. 1978a: 97-120, Nr. 27). 29. Vergleiche Radloff 1872: 397-405. 30. Vergleiche dieses Motiv bei islamischen Tataren in Radloff 1872: 410. 31. Taube, E. 1978a: 154-158 (Nr. 32); seine Variante aus Tuwa: op. cit. Nr. 31.