Beschimpfung der Junggebliebenen
Transcrição
Beschimpfung der Junggebliebenen
Einen wunderschönen guten Abend, meine Damen und Herren Ach! Da hinten sitzt ja auch Sibylle! ZU SIBYLLE Guten Abend! Freut mich, dass du kommen konntest. Obwohl du am Donnerstagabend doch eigentlich keine Zeit hast. ZUM PUBLIKUM Donnerstagabend muss Sibylle vorglühen fürs Wochenende. Der Donnerstagabend ist ja gewissermaßen der Freitag vor dem Freitag, während der Freitagabend eigentlich schon der Samstagabend ist, weil der Samstagabend nämlich schon sehr nach Sonntag und damit nach Montag riecht. Partymachen ist eine Wissenschaft, die Sibylle auf Habilitationsniveau beherrscht. Sibylle weiß, wie man einen drauf macht. Sie kann es richtig krachen lassen. Spaß haben. Wie die jungen Leute eben so sind! Sibylle ist nämlich erst 41, werktags, und 36 an den 1 Wochenenden. Sie wundern sich vielleicht, dass ich Sibylle trotzdem duze? Keine Sorge, sie will das so. Sibylle duzt auch alle, die noch keine Altersflecken auf der Glatze haben. Wenn man "Sie" zu ihr sagt, kommt Sibylle sich alt vor. Die förmliche Anrede passt irgendwie nicht recht zu ihr. Sibylle gehört nämlich wie die meisten Vierzigjährigen - zur Generation der Zwanzig- bis Dreißigjährigen, also zur jungen Generation, von der Sie, meine Damen und Herren, in Presse und Medien nicht nur viel gehört haben, sondern der Sie auch selbst angehören. Und zwar ALLE. Falls Sie Ihr fünfundzwanzigstes Lebensjahr noch nicht erreicht haben sollten, sind Sie Jugendliche. Bis vierzig sind Sie jung, und darüber mindestens jung geblieben. Alle anderen sind praktisch gar nicht vorhanden, unsichtbar - jedenfalls haben sie in unserer Gesellschaft keinen Platz. Die Jungen und Junggebliebenen hingegen sind leider gar nicht 2 unsichtbar, im Gegenteil. Ihnen sieht man die Jugend so richtig an. ZU SIBYLLE Nicht wahr, Sibylle? Unter der Woche läufst du gern in Jeans herum, die aussehen, als hättest du sie von deinem größeren Bruder geerbt. Am Freitagabend, wenn du Party machen gehst, trägst du auch Jeans, allerdings sehen die dann aus, als würden sie deiner kleinen Schwester gehören. Ziemlich eng, mit hübschen Strass-Steinchen an den Nähten. An der Seite quellen so Speckröllchen über den Hosenbund, hinten guckt der String vom Tanga raus, und darüber sieht man das - Arschgeweih. Älteren Ansprechpartner suchen! Vorn! ZUR ERSTEN REIHE [Sie da mit den grauen, also, schlecht gefärbten Haaren,] Sie gucken so komisch? Haben Sie kein Arschgeweih, oder was? Sie wissen gar nicht, was das ist? Sind Sie lebensmüde? Nicht mehr jung oder was? (Ich hab da mal eine kleine Präsentation für Sie 3 vorbereitet...) Das Arschgeweih ist eine Tätowierung über dem Steißbein, zwei große Schnörkel links und rechts … Aha, Sie kennen das, dachte ich's mir doch. Besorgen Sie sich eins. Noch ist Zeit. ZUM PUBLIKUM Von Sibylle können Sie noch was lernen, meine Damen und Herren, falls Sie noch nicht ganz fit sind für die Unsterblichkeit. Zu Jeans und Arschgeweih trägt man natürlich Turnschuhe, weil die bequem sind und sportlich, und weil man damit auch mal schnell über eine Sommerwiese hüpfen kann, wenn einem danach ist. Man will sich schließlich frei fühlen und ungebunden, am besten so, als wäre man noch zwölf. Dazu passt auch die Frisur, denn Sibylle bindet sich gern das Haar zu Zöpfen, wie bei einem kleinen Mädchen, ganz süß … ZU SIBYLLE Moment, was sehe ich? Du warst beim Friseur! Jetzt trägst du die Haare fransig geschnitten, und sind das da schwarze Strähnchen? "Frech" nennt 4 man das, glaube ich, und morgens muss man nicht lange föhnen. Zur Ausgeh-Uniform gehört noch ein TShirt mit Aufdruck, da steht dann "Zicke" oder "Girlie" über der Brust, vielleicht ist auch ein Smilie drauf oder Che Guevara. Und schließlich noch ein Handtäschchen, das aussieht wie ein AchselhöhlenSchweißfänger, farblich passend zum Smart. Deinen Smart hast du doch noch? ZUR ERSTEN REIHE Sie gucken/lachen ja schon wieder so? Ein Smart ist ein Auto, das fast wie diese bunten Schoko-Linsen heißt - und auch so aussieht. Oder vielleicht sieht es weniger wie eine Schoko-Linse aus und mehr wie eine Mischung aus Matchboxauto und Kinderwagen. Jedenfalls nach irgendetwas, das man in der Spielwarenabteilung bekommt. Sie haben noch keinen? Kaufen Sie sich einen. Dann können wir Ihnen vielleicht ausnahmsweise das Arschgeweih erlassen. 5 ZUM PUBLIKUM Das gilt übrigens für alle hier, meine Damen und Herren! Mit einem Smart sind Sie flott und flexibel, ein Querparker, so ähnlich wie ein Querdenker, nur mit Auto, immer frech, immer frisch, immer so mit der ganzen Herde gegen den Strom! Was sagen Sie? Ein Smart ist zu klein? Sie brauchen einen größeren Wagen, weil Sie Kinder haben? Das stimmt doch gar nicht. Sie haben keine Kinder. Lesen Sie keine Zeitung? Niemand hat Kinder. Sie wollen sich doch nicht das Leben versauen!? Für Kinder sind Sie noch viel zu jung. Sibylle wird Ihnen das erklären: Ein Kind - hat - noch - Zeit. Immerhin bedeuten Kinder eine Menge Verantwortung. Das ist eine Entscheidung, die man nicht so nebenbei trifft. Sibylle hat darüber nachgedacht. Sie hat lange im Schneidersitz am Boden gesessen und mit ihren Freundinnen darüber gesprochen, und sie finden alle: Wer eine Familie gründen will, muss sich erst einmal 6 selbst gegründet haben. Man muss mit sich im Reinen sein. Wissen, was man will. Einen festen Platz im Leben haben. Sonst kann man sich ein Kind nicht zumuten, oder vielleicht kann man auch SICH dem Kind nicht zumuten - die vielen Partys, das Reisen, auch gern mal ein Kurztrip am Wochenende nach London oder Paris. Solche Dinge sind Ihnen doch wichtig, weil Sie Ihre Zeit nutzen und nichts verpassen wollen. Genau wie Sibylle. Sie hat das Gefühl, sich noch ein paar grundlegende Fragen stellen zu müssen, bevor sie ein Kind bekommt. ZU SIBYLLE Übrigens, Sibylle, wenn du über diese schwierige Situation sprichst, in der du dich befindest, also darüber, dass du eigentlich schon gern Familie hättest, wenn das nur nicht immer alles gleich so endgültig wäre, dann gebrauchst du Begriffe wie "Selbstverwirklichung", "Sich-Ausprobieren", 7 "Orientierung schaffen", "auf die innere Stimme hören", "den eigenen Weg entdecken", - und so fort. Weißt du, woran mich das erinnert? An Akne und lipgloss-zersetzte Lippen und hastig gerauchte Zigaretten. Schulhof eben. Wenn du über dich selbst nachdenkst, klingt das immer nach einer Pubertät, die inzwischen vom zehnten Lebensjahr bis zu den Wechseljahren reicht. Da ist es doch ein Glück für dich, dass man heutzutage auch nach den Wechseljahren noch Kinder kriegen kann! Madonna Maischberger und hat es vorgemacht, Barbara Wussow Sandra haben nachgezogen und ganz bewusst mit Mitte vierzig auf das Trendaccessoire Kind gesetzt. Was die können, kannst du im Zweifel auch, und jung genug bist du dazu noch allemal. ZUM PUBLIKUM Natürlich bräuchte Sibylle dann auch einen festen Partner. Im Moment will sie sich in 8 dieser Hinsicht noch nicht festlegen. Sie muss sich noch ein bisschen austoben, nachdem es mit den festen Beziehungen erst mal nicht so gut geklappt hat. ZU SIBYLLE Das war dir alles zu eng, nicht wahr, Sibylle? Dieses Gefühl, nicht mehr tun und lassen zu können, was man will … Immer ist da jemand, der Ansprüche stellt! Eine Partnerschaft soll die Freiheit schließlich nicht einschränken, sondern vergrößern. Deshalb hast du deinem letzten festen Freund eine SMS geschickt, in der stand, dass du erst einmal Zeit für dich selber brauchst. ZUM PUBLIKUM Das ist jetzt auch schon wieder fünf Jahre her, aber man muss deshalb nicht glauben, dass Sibylle einsam wäre. Schließlich hast sie Freunde, und zwar ziemlich viele. Freunde, liebe Freunde, sind eine wunderbare Erfindung, vor allem in Stückzahlen ab 25 und mehr. Falls ihr es hier irgendwie noch nicht ganz auf 9 dem Schirm habt, wie man ein krass abgefahrenes, aber null stressiges, sondern auf coole Weise chilliges Lebensgefühl herstellt, dann schaut euch mal die Werbung von Zigarettenmarken wie Cabinet oder F6 an. Sibylle hat das längst total raus. Ihre Freunde nennen sie "Bille" oder "Billy", und sie nennt sie zum Beispiel "Ulli", "Fritzi", "Claudi" und "Flo". Sie können die witzigsten Sachen zusammen machen. Über Gott und die Welt reden. Sich auch einfach mal in Ruhe lassen. Bei schönem Wetter fahren sie alle zusammen in Ullis klapprigem VW-Bus raus ins Grüne, und abends kochen sie dann gemeinsam einen Riesentopf Spaghetti. ZU SIBYLLE Das ist schön, was, Billy? Das fühlt sich dann fast wieder wie die WG an, in die du am liebsten wieder einziehen würdest. Manchmal denkst du ernsthaft darüber nach. Vielleicht, wenn das bei Fritzi und Claudi mit der Familie auch nichts wird. Es 10 gibt doch einfach nichts Besseres, als abends zusammen auf der Couch zu sitzen, zwischen den ganzen bunten Plüschtieren, die da üblicherweise herumliegen, gemeinsam ein Glas Nutella zu löffeln und sich alte Drei-Fragezeichen-Kassetten anzuhören. ZUM PUBLIKUM Das, meine Dämchen und Herrchen, ist für einen Junggebliebenen geradezu so etwas wie Glück. Aber genug davon. Ich wollte eigentlich gar nicht so viel über Sibylle sprechen. Sondern über … Thorsten. Der ist heute auch hier und sitzt da irgendwo in der Mitte, nicht zu weit vorn und nicht zu weit hinten, weil er bei Veranstaltungen immer Angst hat, auf die Bühne gerufen zu werden. ZU THORSTEN Keine Sorge, Thorsten! Ich weiß doch, dass du schon beim Weihnachtskrippenspiel in der Schule immer das Stroh spielen wolltest. 11 ZUM PUBLIKUM Heute, genauer: seit seine Mutter ihn unter Androhung einer polizeilichen Räumungsaktion gezwungen hat, aus der elterlichen Wohnung auszuziehen, ist Thorsten allerdings ein gestandener Mann. Seine Schultern sind mächtig breit und die Oberarme dick wie Brotlaibe. Denn Thorsten, liebe Spiel-und-Spaß-Gemeinde, ist eine Sportskanone. Jeden Nachmittag sieht er zu, dass er so früh wie möglich aus der blöden Anwaltskanzlei herauskommt, in der er sich ohnehin nicht besonders wohl fühlt. Nach dem Abitur hatte Thorsten keinen blassen Schimmer, was er mit sich und seinem Leben anfangen soll, aber eins wusste er genau: Der Mensch braucht Sicherheit. Man muss versorgt sein, auch in Notfällen und mit Hinblick aufs Alter, das genau an dem Tag beginnt, an dem wir nicht mehr jung sind und dann Gnade uns Gott. Deshalb hat Thorsten Jura studiert. Das Studium fand er dann nicht besonders 12 interessant, und auf das erste Staatsexamen hat er sich so ähnlich vorbereitet wie auf die theoretische Führerscheinprüfung: keine Fragen stellen, alles auswendig lernen. ZU THORSTEN Was sagst du? Ach so, klar, Entschuldigung, du hast natürlich gar keinen Führerschein. Wenn du beruflich nach Hamburg musst, sieht man dich dort im Business-Anzug auf deinem kleinen Aluminium-Tretroller durch die Stadt flitzen. Du fandest immer, dass man ein Auto eigentlich nicht notwendig braucht. Es hat ja auch was Unappetitliches, wie diese ganzen Macho-Typen in ihren Angeberkarren mit diesem phallischen Schaltknüppel hantieren, stimmt's? Macht ja nichts, Thorsten! So ein Auto ist bloß eine Belastung, das schafft Verpflichtungen, kostet Geld, fast schon so schlimm wie ein Kind. Und wenn man mal wirklich dringend wohin musst, findet man immer jemanden, den man 13 erst neulich noch als Erdöl-Faschisten beschimpft hat und der einen dann trotzdem fahren soll. Augen aufschlagen und ganz lieb bitte-bitte sagen. Läuft. ZUM PUBLIKUM Dafür hat es bei Thorsten zum Bestehen des ersten juristischen Staatsexamens dann knapp gereicht, und ein bequemer Job in einer Waldund-Wiesen-Kanzlei war auch noch übrig. Der Job lässt dir viel Zeit für deine privaten Aktivitäten, was dir ohnehin immer am wichtigsten war. ZUM PUBLIKUM Sie müssen wissen, Thorsten gehört zu dieser immer größeren, immer sympathischeren Gruppe von Leuten, die nicht unbedingt Karriere machen wollen. Im Grunde genügt es Thorsten auch im Beruf, das Stroh im Krippenspiel zu sein. Schon als er ein Kind war, hat seine Mutter ihm beigebracht, dass Spielen mit Freunden das Wichtigste ist, weil man dabei eine Persönlichkeit entwickeln kann. Wenn er mal gar nicht zur Schule 14 wollte, hat sie ihm eine Entschuldigung geschrieben. Heute macht das der Arzt für Thorsten, wenn er einen Tag für sich braucht. Thorsten ist kein Typ für Leistungsdruck, was ihn in eine ähnlich schwierige und paradoxe Lage bringt wie Sibylle mit ihrem nicht vorhandenen Kind. Es ist nämlich nicht so, dass Thorsten direkt faul wäre. Er will ein guter Junge sein, auch wenn er als kleiner Bub manchmal in den Hobbykeller gegangen ist, um heimlich Cola zu trinken. Thorsten sieht sich als Vollkornmitglied im großen Gesellschaftskuchen, und seine Mama wäre überglücklich, wenn er eines Tages mal Partner in seiner Kanzlei würde, nach allem, was sie an Zwieback und Niveacreme in ihn investiert hat. Aber Thorsten steht ganz allgemein nicht so auf Verantwortung. Man wird da doch nur immer enger in die Mühle gespannt, und außerdem bedeutet jede Entscheidung einen Ausschluss von unendlich vielen Möglichkeiten. 15 Entscheidungen sind geradezu ein Verrat am natürlichen Pluralismus des Lebens. Man muss sich doch alle Chancen offen halten, und deshalb geht bei Thorsten alles immer nur einfach so weiter. Um über dieses Problem nicht zu viel nachdenken zu müssen, rast Mountainbike Thorsten durch den Montagabend Wald. mit dem Dienstag und Donnerstag geht er erst joggen, dann zum Klettern, mittwochs und freitags trifft er sich mit Freunden zum Fußballspielen, und am Wochenende nimmt er gern an Marathonläufen teil. Da werden Sie ihn schon gesehen haben, meine Damen und Herren, wenn auch wahrscheinlich nur von hinten, denn beim Sport ist Thorsten anders als sonst - nämlich ganz weit vorn. Thorsten ist immer in Führungsposition, wenn sich irgendwo in der Republik Zigtausende Menschen eine bunte Wurstpelle anziehen und gemeinsam durch eine große Stadt rennen. 16 Natürlich nicht so altmodisch wie früher, als man auf die Wurstpelle verzichtete und demonstrieren ging. Nicht, weil mit der Massen-Rennerei irgendetwas gesagt werden soll, sondern einfach nur so. "Einfach nur so" ist Thorstens Lieblingsparole. Wer länger über das Leben nachdenkt, kommt zu dem Ergebnis, dass der Mensch "einfach nur so" auf die Welt kommt und irgendwann "einfach nur so" wieder geht und deshalb in der dazwischen liegenden Zeitspanne "einfach nur so" versuchen kann, möglichst viel "mitzunehmen". In stillen Momenten könnte man sich vielleicht mal fragen, wohin man eigentlich etwas mitnehmen will, wo doch jeder weiß, dass der Tod ein Fahrzeug ohne Kofferraum ist. Aber Gott sei Dank gibt es nicht so viele stille Momente, denn Spiel, Spaß, Spannung und erst recht Marathonläufe machen eine Menge Lärm. Als Einfach-Nur-So-Typ lebt es sich am leichtesten, da können Sie Thorsten später genauer 17 fragen, falls es noch Unklarheiten gibt - und er wird mit seinem jungenhaften Lächeln antworten, dass er dazu lieber nicht allzu viel sagen will, schon gar nicht öffentlich, weil er kein Experte ist und recht eigentlich auch kein politischer Mensch. Sie finden, die Antwort passt nicht richtig auf die Frage? Weit gefehlt, meine Damen und Herren! Diese Antwort passt auf jede Frage. Wenn Sie und Thorsten abends vor den Nachrichten sitzen, irgendwie gemeinsam und trotzdem jeder für sich, wie das in der modernen Kommunikationsgesellschaft so ist, dann stellen Sie fest, dass die Welt in letzter Zeit so groß und kompliziert und unübersichtlich geworden, dass sich wirklich kein Mensch mehr auskennt. Wenn es um Globalisierung geht, um die asiatische Bedrohung und den islamistischen Terror und die universale Klimakatastrophe, fühlen Sie sich so schwach und 18 klein, als wären Sie eben erst aus dem Ei geschlüpft. Viel zu jung für den ganzen Schlamassel, der in einem Affenzahn Richtung Horizont rast, während Sie noch an Neunziger-Jahre-Bonbons lutschen und sich die Demokratie-Kuscheldecke an die Wange drücken. Das Ganze, denken Sie sich, hat doch mit Ihnen gar nichts mehr zu tun! Da können Sie eh nichts machen, da sind die Wirtschafts- und Klima- und NahostExperten zuständig, und nicht mal die kriegen es auf die Reihe! Deshalb geht Thorsten auch nicht mehr gern zur Wahl, weil er nicht weiß, welche Partei ihm am besten gefallen soll und warum. Deshalb liest er auch keine Zeitung mehr, sondern nur noch SPIEGEL online und Harald Töpfer. Harald Töpfer? Kennen Sie nicht? Harry Potter, auf Englisch. Das ist so ein "Kinder"buch, das von Millionen "Kindern" zwischen 20 und 80 gelesen wird. 19 Gern auch im Original, da liest man das nur so zum Auffrischen der Fremdsprache, nicht wahr. Was sollten erwachsene Menschen auch an einer Hanni-und-NanniGeschichte mit Hut und Zauberstab so toll finden. Andererseits interessiert auch ein kleiner puscheliger Eisbär das Land auf Jahre hinaus mehr als zum Beispiel die Pläne der EU zur Errichtung einer ultimativen Bürgerverfolgungsdatenbank. Bis der Puschelbär dann im Zoo einen armen wehrlosen Fisch totgemacht hat. Das war extrem böse von Killer-Knut. Thorsten hat an dem Tag seinen kleinen Stoff-Eisbären und die Postkarten weggeworfen. Es ist ihm wichtig, sich problembewusst zu verhalten und auch mal Zeichen zu setzen. Stichwort Protestkultur. Dafür reicht Spiegel Online allemal als Fenster zur Welt. Im Abo hat Thorsten noch GEO wegen der schönen Photos und weil man GEO in der Straßenbahn so praktisch als Schutzumschlag für Harry Potter 20 verwenden kann. In politischen Dingen ist er grundsätzlich bescheiden. Er hält sich nicht für so wichtig, dass es der Welt auf seine politische Meinung ankommt. Es gibt nur einen Punkt, an dem Thorsten ungehalten wird und dann mit seinen Freunden nach dem Fußball auch schon mal über das Weltgeschehen redet. Das passiert, wenn sich (Knut, ich meine,) Thorsten vom Staat im Stich gelassen fühlt, weil man ihm zum Beispiel die Pendlerpauschale wegnehmen will. Thorsten pendelt gar nicht, aber Pendlerpauschale ist doch irgendwie ein Stück Heimat in diesen unsicheren Zeiten. Das Gerede von Eigenverantwortung, Risiko und Zukunft macht ihn ganz wuschig. Thorstens Gerechtigkeitsgefühl ist mindestens so ausgeprägt wie das eines Kindes, welches die kleinere Schokoladentafel bekommen hat. Wozu heißt es schließlich "Vater Staat"? Wozu braucht man 21 überhaupt so etwas Teures wie einen Staat, wenn er nicht stark, streng und gerecht wie ein Vater ist? Was Thorsten an Freiheit braucht, erlebt er beim Sport. Ansonsten will er Sicherheit. Er versteht nicht, warum es Menschen gibt, die sich über Maßnahmen der "inneren Sicherheit" aufregen. Wär doch schön, wenn man diese innere Sicherheit mal hätte, vor allem hier tief innen drin! Dafür ist Thorsten eigentlich jedes Mittel recht. Thorsten findet, dass beim Thema Sicherheit eine einfache Betrachtungsweise am treffendsten ist: Der Staat ist verpflichtet, Gefahren von seinen Bürgern fernzuhalten, weil andernfalls niemand in Ruhe leben könnte. Zu diesem Zweck gibt es bestimmte Regeln, die eingehalten werden müssen. Und mit dem Einhalten von Regeln ist es bekanntlich so eine Sache, da muss man nur einmal Kindern beim Spielen zugucken: Solange die Eltern dabei sind, benehmen sie 22 sich brav und ordentlich. Aber sobald der Vater wegschaut, machen sie Dummheiten. Mit erwachsenen Leuten ist das letztlich genauso. Thorsten ist da ganz ehrlich zu sich. Das mit dem Hobbykeller und der Cola hängt ihm immer noch gewaltig nach. Folglich hat er nichts gegen Kontrolle. Als guter Bürger hat er schließlich nichts zu verbergen und damit auch nichts zu befürchten. Es stört ihn nicht, wenn seine Telephone und E-Mails überwacht werden. Neue technische Möglichkeiten muss man nutzen, und mit diesen kann man heutzutage die ganze so genannte Datenspur eines Menschen nachverfolgen! Aufgrund der Chipkarten von Krankenkasse über Supermarkt und Drogerie bis zum bargeldlosen Zahlungsverkehr ist es inzwischen kein Problem mehr, das Leben eines Menschen praktisch vollständig informationell abzubilden - und, würde Thorsten an dieser Stelle mit einem Augenzwinkern fragen, ist es nicht normal, dass 23 ein Vater über seine Kinder so viel wie möglich wissen will? Immerhin ist bekannt, dass die Stasi eine Menge Verbrechen, sogar Morde verhindert hat, indem sie einfach nur die Gespräche der Bürger mithörte! Thorsten mag nicht schuld sein am nächsten Terroranschlag, nur weil er seine E-Mails für sich allein behalten wollte. Vor allem, weil er, wie gesagt, eigentlich kein politischer Mensch ist. Aber manchmal muss er sich doch wundern, wenn sich gewisse Leute über die neuen Methoden zur biometrischen Identifizierung so aufregen. Ihm würde es nichts ausmachen, wenn man seine DNA untersucht, seine Fingerabdrücke nimmt oder den Augenhintergrund photographiert. Es hat ihn ja auch nie sonderlich gestört, wenn seine Mutter auf ein Taschentuch spuckte, um ihm das Vanille-Eis aus dem Gesicht zu reiben. Thorsten hätte nicht einmal etwas gegen einen ins Halsfleisch implantierten Chip, auf dem seine 24 Daten gespeichert sind, solange der Chip nicht beim Free-Climbing stört. Wenigstens müsste er sich dann nicht mehr überlegen, wo er beim Sport seine Brieftasche unterbringt. ZU THORSTEN Du guckst so unglücklich, Thorsten. Soll ich noch mal betonen, dass du kein politischer Mensch bist? Das mache ich doch gern.. ZUM PUBLIKUM Streichen Sie das alles aus dem Protokoll, meine Damen und Herren, da ist wohl die Begeisterung für Thorstens rührende Obrigkeitsliebe ein wenig mit mir durchgegangen. Kehren wir zum eigentlich Wichtigen zurück, nämlich zu der Tatsache, dass Thorsten "einfach nur so" das Leben genießen will. Thorsten mag Spielzeuge. Er besitzt ein Laptop, ein Sub-Notebook, ein Handy, einen Organizer, ein PDA, einen Navi, einen DVD-Player und verschiedene Spielekonsolen. Allein für den Moment, in dem man die Folie aufreißt, den Karton öffnet, das neue Gerät 25 herausholt, zusammensetzt und in Betrieb nimmt allein schon für dieses überwältigende Weihnachtsbaumglück lohnt sich jeder Kaufpreis. ZU THORSTEN Ach, Thorsten, jetzt habe ich dich total verunsichert. Keine Angst, niemand will dir vorwerfen, dass du dir gern neues Spielzeug kaufst! Ist ja auch gut für die Wirtschaft! Und wenn man dir zusieht, wie du bei schlechtem Wetter ganze Nachmittage mit Autorennen und Moorhuhnschießen verbringst, findet man dich richtig süß. Erst recht, wenn man dich in der Straßenbahn trifft, und dir baumelt ein Schnuller um den Hals, während du an einem Nuckelfläschchen saugst. Klar, ich weiß, das ist deine Sportler-Trinkflasche, und der Schnuller ist in Wahrheit dein MP3-Player. Aber trotzdem, Thorsten! Kleinteile bitte nicht verschlucken, Thorsten! Du bist der Mann, den seine Kekse davor warnen, dass er die Verpackung nicht mitessen soll! Willst du nicht 26 vielleicht doch noch auf die Bühne kommen und uns deine neue Armbanduhr mit Kompass und Höhenmesser zeigen, die fast so groß ist und fast genauso aussieht wie eine He-Man-Figur? Nein? Keiner hat was gegen dich, Thorsten! Alle wollen dich pampern, hätscheln und beaufsichtigen. Und vielleicht hast du mit deinen 35 Jahren auch irgendwann mal eine Freundin, wenn du eine findest, die genauso gut Fußballspielen und Moorhuhnschießen kann wie du! Vielleicht könnte ich dich bei Gelegenheit einmal mit Franziska bekanntmachen. Franziska ist auch recht sportlich, wenn auch nicht ganz so kanonenmäßig wie du. Während du auf dem Fahrrad sitzt oder an der Kletterwand hängst, verbringt sie ihre Abende beim Yoga, Workout, Stretching, in der Bauch-Rücken-PoGymnastik. An den Wochenenden hat sie feste Verabredungen mit den angesagtesten Clubs, Lounges 27 und Chillout-Bars, wo sie öffentlich zeigen kann, was sie in Sachen Bauch, Rücken, Po schon alles erreicht hat. Ihr würdet euch also praktisch nie sehen, was ohnehin die beste Grundlage ist für eine Beziehung zwischen Radikal-Egozentrikern wie euch. Franziska würde dir bestimmt gefallen. Sie sieht seit ihrem dreizehnten Lebensjahr aus wie einundzwanzig und hat nicht vor, in nächster Zukunft damit aufzuhören. Heute kann sie leider nicht hier sein, weil sie noch rekonvaleszent ist nach ihrer letzten Brustoperation. Nach Franziskas Auffassung sind Schönheit, Gesundheit und Jugend eine reine Willensfrage. Hässlichkeit, Krankheit oder gar Alter hält sie für ein Zeichen von mangelnder Einsatzbereitschaft und Disziplin. ZUM PUBLIKUM Und ich hoffe, meine Damen und Herren, das ist hier Konsens? Die Zeiten, in denen man angesichts eines weißhaarigen Herrn an Weitsicht und 28 nicht an Weitsichtigkeit dachte, sind doch wohl endgültig vorbei? Vielleicht gibt es noch Kulturen, die das Alter für seinen Reichtum an Erfahrung, Würde und geistiger Reife schätzen, aber diese Kulturen finden zehntausend Kilometer weiter östlich statt - und die werden es auch noch kapieren. Hierzulande färben sich sogar Bundeskanzler die Haare, um wiedergewählt zu werden, und Bundeskanzlerinnen brauchen eine nette Mädchen-Frisur, um nicht täglich von der Presse für ihr altbackenes Äußeres verspottet zu werden. Sie werden schon sehen: Wenn es Ihnen zustoßen sollte, dass Sie eines Tages trotz aller vorbeugenden Maßnahmen alt werden, haben Sie nichts mehr zu lachen. Es gibt nämlich gar kein Alter mehr. Es gibt ein "demographisches Problem". Keine ehrwürdigen Greise, sondern "Kostenfaktoren" für Krankenkassen und Rentensystem. Dieses früher so genannten Alter ist nicht nur ein erbärmlicher Zustand von verbrauchter 29 Leistungsfähigkeit und peinlicher Hilfsbedürftigkeit, sondern auch TEUER. Deshalb ist die Vermeidung von Krankheit und Schwäche höchste Bürgerspflicht. Ich hoffe doch sehr, dass hier JEDER ALLES tut, um zu verhindern, dass er alt oder krank wird! Und falls es doch passiert, senkt er gefälligst schuldbewusst den Kopf! Kein falsches Opferdenken, nicht wahr, Opfer sind diejenigen, die für die ganzen disziplinlosen Vollversager mitzahlen! Erst das halbe Leben lang rauchen, saufen, essen und Hauptverkehrsstraßen überqueren und danach abkassieren wollen! Das läuft nicht mehr, liebe Freunde. Krankheit kostet Geld, Krankheit ist Schuld, das wollen wir hier doch ein für allemal festhalten! Franziska hat das längst begriffen. Sie will BILLIG sein. Gott sei Dank kann man da heutzutage eine Menge machen. Man kann sich pflegen, auf sich achten, sich 30 bewusst ernähren. Man kann den Körper zum Tempel erheben, auf dessen Altaren gewaltige Opfer erbracht werden. Man kann den eigenen Leib zum Götzen weihen, ihn anbeten, heilig sprechen und versklaven. Das finden Sie übertrieben formuliert? Im Gegenteil. Mal abgesehen von der Tatsache, dass Altern einem gesellschaftlichen Selbstmord gleichkommt, ist Franziskas Haltung auch von zwingender Logik, wenn man bedenkt, dass ein Mensch wie sie praktisch keine andere Möglichkeit kennt, um sein natürliches Bedürfnis nach Transzendenz zu stillen. Franziska glaubt nicht an Gott. Franziska hat gelernt, dass es gefährlich ist, ans Vaterland zu glauben, und genauso wenig glaubt sie an die Familie, die sich ja vor allem als Anti-Emanzipations-Apparat herausgestellt hat. Franziska ist in hohem Maße entideologisiert und zur Individualistin geboren, also zu einem Menschen, der eine große Menge Freiheit besitzt. Dummerweise 31 hat man vergessen, ihr zu sagen, was sie mit diesen Freiheiten anfangen soll. Von selbst kommt sie leider nicht auf die Idee, dass Freiheit zwar die Abwesenheit von körperlichen Zwängen zur Voraussetzung hat, sich aber letztlich nicht im Körperlichen, sondern nur im Geist realisieren kann. In Ermangelung dieser Erkenntnis hat Franziska simple Schlüsse aus der Lage gezogen: Wenn die Metaphysik geht, bleibt die Physis. Oder, anders gesagt: Wenn es keine Unsterblichkeit im Jenseits mehr gibt, muss die Unsterblichkeit eben im Diesseits stattfinden. Wenn Gott also nicht mehr der Schöpfer des Menschen ist, muss der Mensch wohl sein eigener Schöpfer sein. ZU FRANZISKA Liebe Franziska, wenn du heute hier wärest und nicht mit üblen Schmerzen in deiner frisch operierten Brust unter der häuslichen Höhensonne lägest, könntest du jetzt aufstehen und es uns selber 32 sagen: Wie alle permanent Pubertierenden brauchst du eine "Identität". Du willst dich festlegen, abgrenzen, kennen lernen, auf einen Nenner bringen. Aber, Franziska, in diesem schwammigen, geistigen Raum, der sich zwischen einer Unmenge von Köpfen spannt und ausgefüllt ist von schwer beweisbaren Dingen wie Kultur und Tradition, da gibt es ja gar kein richtiges "Ich"! Sondern bloß Facetten und Spiegelungen eines Ichs, ein Schichtenmodell, ein IchSchwadron, ein multiples Wesen mit verschwimmenden Grenzen! Üble Sache, das. Seit es der Naturwissenschaft beinahe gelungen ist, ihre Zwillingsschwester namens Geisteswissenschaft über den Rand des historischen Abgrunds zu drängen; seit die lange und schwierige Ehe zwischen dem Menschlichen und dem Übermenschlichen geschieden wurde; seit es also keinen vom Höheren gezeugten Menschen und keine unsterbliche Seele mehr gibt, bist 33 du, Franziska, ja regelrecht gezwungen, den Schöpfungs- und Gestaltungsakt an dir selbst zu vollziehen und um die Unsterblichkeit deines Körper zu ringen! ZUM PUBLIKUM Die Mittel und Wege der neuen Körperreligion sind übrigens im Wesentlichen die gleichen geblieben: Handlungen, strenge Kultgegenstände, rituelle Ernährungs- und Fastenvorschriften. Und natürlich das heilige Wort. Als echte Jünger der Jugend werden Sie das alles schon kennen. Franziskas Kultgegenstände befinden sich in einer Glasvitrine im Badezimmer. Mit zwanzig hat sie die Anti-Pickel-Creme gegen ihre erste Anti-FaltenCreme vertauscht, und seitdem gibt es kaum ein Jeunesse- oder Repair- oder Anti-PigmentfleckenProdukt, das sie noch nicht ausprobiert hat. Im Monat gehen rund zweihundert Euro dafür drauf, weshalb Franziska dem Staat sehr dankbar ist für die 34 permanente Erhöhung der Tabaksteuer, denn auf diese Weise kann sie sich wenigstens sagen, dass der Dienst am Satan genauso teuer ist wie ihr Bemühen um den Himmel auf Erden. Der Tag, an dem eine Packung Zigaretten oder eine Flasche Bier genauso teuer sein wird wie die neue Cellulitis-Salbe von L'Oreal, wird für Franziska ein glücklicher sein. Die rituellen Handlungen finden hauptsächlich auf der Gymnastikmatte statt, und zum Thema Ernährung und Fasten muss man in Bezug auf Franziska wenig sagen; schließlich befindet sie sich seit ihrem dreizehnten Lebensjahr auf Dauerdiät. Ihre Küchenschränke sind voll gestopft mit Produkten, die durch den Aufdruck "Fitness", "light", "Jogging", "Vitamin" oder "Protein" zu verstehen geben, dass sie zum koscheren Bereich gehören. Wohlschmeckendes ist grundsätzlich tabu, denn was gut schmeckt, ist nicht gesund. 35 Das Heilige Wort hingegen steht im Wohnzimmer im Bücherregal, und zwar unter hundert verschiedenen Titeln. "Was Sie wissen sollten, um jung zu bleiben." "Der Jungbrunnen des Dr. Shioya." "Älterwerden ist nichts für Feiglinge. Jung, schön und gesund bleiben." "Ja, ich beschloss, jung zu bleiben!" "Bleiben Sie länger jung!" "Alt genug, um jung zu bleiben." "Jung - für immer." "Ewig jung." "Natürlich jung." "Länger leben und jung bleiben." "Essen und dabei jung bleiben." "Die Kunst, jung zu bleiben, oder: Das Leben beginnt mit vierzig." "Jung bleiben, aber wie?" 36 "Knoblauchtherapie - jung bleiben kann man lernen." "Jung bleiben mit Yoga." "Mit Unterwassergymnastik bleiben Sie jung." "Mit Kräutern jung bleiben." "Schönheitsfarm im eigenen Heim. Rezepte um schön zu werden und jung zu bleiben." "Denken Sie sich jung." "Fünf mal zwanzig Jahre leben. Jung gesund bleiben." "Starke Frauen bleiben jung." Und: "Die Toten bleiben jung." - was ein Fehlkauf war, denn dieses Buch ist von Anna Seghers. Die meisten dieser Werke kann Franziska auswendig. Wenn es ihr mal schlecht geht, liest sie aber am liebsten "Zehn kleine Schritte zum Glück". Schon der Titel dieser Schrift verschafft ihr Befriedigung. In Franziskas Weltbild gibt es keine Probleme, die sich 37 nicht in maximal zehn Schritten lösen, beziehungsweise "wegmachen" lassen, wie sie gern sagt. Immerhin ist die Welt im Ganzen nichts weiter als eine große Kausalitätsmaschine. Wer die Funktionsprinzipien begriffen hat, weiß, wie man den Saftladen optimieren kann. Das Jungbleiben, die Gesundheit und die Schönheit hat Franziska schon ganz gut im Griff, und das mit dem Glück kriegt sie demnächst auch noch hin. Vorher gilt es noch ein paar Projekte zu stemmen. Nachdem sie mit Brust und Nase beinahe fertig ist, steht eine Kompletterneuerung des Gebisses auf dem Programm, worauf Franziska schon seit Jahren spart. Drücken wir ihr die Daumen, dass sie den notwendigen Kredit bewilligt bekommt! Drücken wir auch die Daumen, dass sie danach niemals auf die Idee kommt, sich zu fragen, wozu das Ganze auf lange Sicht eigentlich gut sein soll. Wünschen wir ihr, dass sie 38 keins dieser teuflischen Bücher in die Finger bekommt, die aus vergangenen Zeiten stammen und noch immer unter Titeln wie "Das Bildnis des Dorian Gray" oder "Frankensteins Monster" das Geschick des Menschen bei der Menschenerschaffung sowie den Sinn physischer Unsterblichkeit bezweifeln! Denn schließlich brauchen wir Franziska, genau wie wir Thorsten und Sibylle brauchen und Sie alle, meine sehr verehrten Junggebliebenen. Wir brauchen Menschen, die mit Partyhunger, Schönheitswahn und Spielzeugsucht unser konsumgestütztes Wirtschaftsaufkommen finanzieren. Wir brauchen euch, die ihr um keinen Preis mehr erwachsen werden wollt! Wir brauchen euch, weil ihr unpolitisch wie Kinder, harmlos wie Kinder und, genau wie Kinder, leicht zu kontrollieren seid. Wir produzieren bequeme 39 Strampelanzüge und weiche Schuhe für euch. Wir richten euch Erlebnisparks ein, in denen ihr eure Wochenenden verbringen könnt. Wir bauen euch neue Häuser aus bunten Bauklötzen und malen alte Fassaden mit farbenfrohen Männchen an, damit eine Stadt wie Leipzig gleich beim Verlassen des Hauptbahnhofs wie ein Kindergarten von innen aussieht. Wir schaffen euch Regeln und Anweisungen und Verbote und Warnungen, damit vom Öffnen einer Bohnendose über die Teilnahme am Straßenverkehr bis hin zum Kontakt mit dem Nachbarn alles möglichst ungefährlich und sicher für euch lieben Kleinen ist. Wir verbieten euch alles, was schlecht, und erklären genau, was gut für euch ist. Wir halten euch in Angst und Schrecken und sorgen dafür, dass jeder eurer Jahrgänge den vorangegangenen noch an Existenzangst, Zukunftsangst Schicksalsangst übertrifft, damit und ihr auf einem 40 Kontinent, der so sicher und friedlich ist wie nie zuvor, auf keinen Fall vergesst, dass ihr starke Mächte braucht, die auf euch aufpassen und sich um euch kümmern. Zu diesem Zweck schicken wir alle paar Wochen den Schwarzen Mann in Gestalt von Terrorismus, Vogelgrippe oder Klimakatastrophe an euren Fenstern vorbei, und schon kreischt in der 80Millionen-Krabbelecke alles aufgeregt durcheinander. Das blöde Problem, dass Kindsköpfe nicht zu rückgratstarken Führungskräften taugen und deshalb in den Regierungssesseln immer weniger eigenwillige Persönlichkeiten und immer mehr Flaschenkinder sitzen, die gierig Umfrageergebnisse die saugen, Muttermilch müssen wir der noch irgendwie bewältigen. Auch dass große Kinder keine kleinen Kinder in die Welt setzen wollen, ist eine dumme Sache. Bis uns da was eingefallen ist, müssen eben jene Menschen, die mangels Wohlstands keinen 41 Zugang zum Luxus der ewigen Jugend haben, die Aufgabe der Arterhaltung übernehmen. Meine Damen und Herren, gleich sind Sie mich los. Falls Sie es geschafft haben, sich bis hierhin nicht angesprochen zu fühlen, möchte ich Ihnen hiermit ganz herzlich gratulieren. Dann sind Sie entweder ein Großmeister des Selbstbetrugs, und zwar in einem Ausmaß, das alle Hochachtung verdient. Oder Sie haben erkannt, dass die Jugend ein Zustand der Einschränkung, des Noch-Nicht-Voll-Entwickelt-Seins und der Verwirrung ist, folglich praktisch keine Vorteile besitzt - außer solchen körperlicher Natur. Dann sind Sie ein Mensch, der den Grund seines Mensch-Seins (und damit die Grundlage seiner Würde) im Gebrauch seiner Vernunft und nicht im Frondienst am eigenen Körper sieht. Ein Mensch, der das frühkindliche Stadium unseres jungen Jahrtausends 42 nicht so persönlich nimmt, dass er es gleich am eigenen Leib nachvollzieht. Ein Mensch, der Freude an echten Erlebnissen hat und sich nicht nur von Ereignis zu Ereignis hangelt. Der auf die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht zurückfragt, ob "Sinn" nicht so eine alte chinesische Währung sei. Der begreift, dass man etwas ins Leben investieren muss, wenn man etwas zurückbekommen will - und damit sind durchaus nicht nur finanzielle Investitionen gemeint. Ein Mensch also, der das freiwillige Eingehen einer Bindung nicht als Gefahr für seine persönliche Freiheit begreift. Der es als Bereicherung empfindet, Verantwortung zu übernehmen. Der sich auch ohne Hilfe von Pfarrer oder Guru zu einem moralischen Urteil fähig fühlt. Der seinen kindlichen Egoismus nicht bis zum Gipfel einer sinnlosen Lebensangst steigert, sondern sich zutraut, auch ohne Gott und ohne politisch-ideologische Führer jene Last einer bewussten Existenz zu tragen, die uns 43 Menschen nun einmal auszeichnet. Wenn sich allerdings überhaupt niemand von Ihnen beschimpft fühlt, meine Damen und Herren, wenn Sie also alle hier sitzen und sich langweilen und immerzu denken: Wovon redet die Tante da vorn? - Dann bin ich froh. Denn dann gehen Sie jetzt hinaus in die Freitagnacht, genießen die herbstlich frische Luft und antworten in Gedanken jedem Werbeplakat und jedem panikmachenden Zeitungsartikel und jeder infantilen Fernsehshow: Entschuldigung, mein Leben ist jugendfrei. Absolut ab achtzehn. Sie hören es hier in Berlin täglich im Radio: Nur für Erwachsene. Vielen Dank. 44