Morgen ist heute schon gestern – wie die Zeit vergeht
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Morgen ist heute schon gestern – wie die Zeit vergeht
01/2013 soziale psychiatrie d g s p - ja h r e sta g u n g Morgen ist heute schon gestern – wie die Zeit vergeht Welche Psychiatrie wollen wir morgen haben? Auf ihrer Jahrestagung 2012 suchte die DGSP nach Antworten. Eine teilnehmende Beobachtung von M a r t i n O s i n s k i . D bleiben und sich dann wieder in die Sozialräume verstreuen, bis zum nächsten Jahr. DGSP heute, zwischen Vergangenheit und Zukunft ... Heimatkunde Widmen wir uns der Gegenwart. Es ist Ende Oktober 2012, ein spektakulär sonniger und warmer Herbst geht zu Ende. Wir sind in Mönchengladbach, kreisfreie Stadt am Niederrhein mit 250 000 Einwohnern. Die DGSP Foto: Dörte Staudt ie Jahrestagung der DGSP findet jeden Herbst an einem anderen Ort statt. Jede Tagung wird von einer anderen Gruppe geplant, vorbereitet und durchgeführt. Das ist eine spannende, immer wieder neu herausfordernde Daueraufgabe für DGSP-Geschäftsstelle und Bundesvorstand. Noch bevor die eine Jahrestagung stattgefunden hat, beginnen die Vorbereitungen für die nächste. Vorletztes Jahr Ravensburg, dieses Jahr Erfurt, letztes Jahr vom 25. bis 27. Oktober in Mönchengladbach. Ebenfalls etwa vierzig Jahre alt ist der Reha-Verein – mit vollem Namen: Verein für die Rehabilitation psychisch Kranker e.V. Mönchengladbach. Er wurde 1973 von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Landesklinik Mönchengladbach-Rheydt gegründet; Gründungsvorsitzender war Professor Dr. Alexander Veltin, seinerzeit auch erster ärztlicher Direktor der Landesklinik. Die Landesklinik ist ihrerseits auch eine Neugründung von 1972, initiiert vom damaligen Dezernenten des Landschaftsverbands Rheinland (LVR) und Vorsitzenden der Enquete-Kommission Professor Dr. Caspar Kulenkampff. Nach Alexander Veltin war Dr. Ralf Seidel 22 Jahre lang ärztlicher Leiter. Heute heißt sie LVR-Klinik Mönchengladbach. Seit 2006 ist Dr. Stephan Rinckens ärztlicher Direktor. Reha-Verein und LVR-Klinik sind seit Generationen miteinander verbunden. Kürzlich wurde die Zusammenarbeit in Form eines Gemeindepsychiatrischen Verbunds (GPV) vertraglich besiegelt, in den auch der Sozialpsychiatrische Dienst der Stadt eingebunden ist. Wir befinden uns also in einem ordentlich aufgestellten Sozialraum, dicht an einem der rheinischen Ausgangspunkte der Psychiatriereform und auf gut bereitetem DGSP-Terrain. Begrüßung Die Tagungsbeobachtenden in Aktion Diese Vorgehensweise bietet Gewähr für Abwechslung, sowohl inhaltlich als auch organisatorisch, geografisch und nicht zuletzt kulinarisch. Das Tagungspublikum bereist alle die Ecken der Republik, in die man sonst noch seltener käme. Es müsste mal jemand die DGSP-Tagungschronik schreiben und online stellen. Eine Tabelle mit Jahr, Ort und Thema als Erinnerungshilfe – da würden sich die Assoziationen fast von selbst wieder einstellen: antidementive Biografiearbeit für sozialpsychiatrisch Tätige sozusagen. Denn die Tagungen haben Stammpublikum – ein harter Kern mittlerweile vertrauter Gesichter, an denen man das eigene Altern wahrnimmt. Kolleginnen und Kollegen, die zum jährlichen Klassentreffen der DGSP von irgendwoher anreisen, zwei Tage zusammen- 46 hat zur Tagung ins ›Haus Erholung‹ geladen, die zentral gelegene gute Stube der Stadt. Mönchengladbach hat eine traditionsreiche und oft erfolgreiche Fußballmannschaft, deren Spieler als Fohlen bezeichnet werden. Das ist seit vierzig Jahren so, weil damals das Durchschnittsalter der Spieler sehr niedrig war. Heute sind es andere Spieler als damals, und sie sind auch nicht mehr so jung, aber der Name ist geblieben. Das unterscheidet sie verlässlich von Eisbären, Füchsen und Geißböcken, hat aber nach wie vor nichts mit Pferden zu tun. Beim Fußball hört der Spaß auf, auch in Mönchengladbach. Die Tagungsteilnehmer wissen, was sich gehört, und versprechen, den Fohlen für ihr Europa-LeagueSpiel am Donnerstagabend brav die Daumen zu drücken. Aber noch ist nicht Abend ... Die Stadtspitze demonstriert ihre Verbundenheit mit den psychiatrischen Dienstleistern und der Sozialpsychiatrie; die Begrüßung der DGSP-Jahrestagung ist Chefsache. Oberbürgermeister Norbert Bude (SPD) stellt sich zunächst mit DGSP-Vorstand Friedrich Walburg, dem Vorsitzenden des Reha-Vereins Dieter Schax und dem ärztlichen Direktor Dr. Stephan Rinckens den Pressefotografen. Dann eröffnet er die Tagung persönlich mit einem Grußwort. Kurzerhand erklärt er Mönchengladbach für die Dauer der Tagung zum »zukunftsweisenden psychiatrischen Mittelpunkt Deutschlands« und wünscht gutes Gelingen. Weitere Grußworte kommen vom Vorsitzenden der Rheinischen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie Stefan Corda-Zitzen und dem DGSP-Vorsitzenden Friedrich Walburg. Aus Brüssel ist Maria Nyman angereist, um die Grüße der europäischen Dachorganisation ›Mental Health Europe‹ zu überbringen. Ihr Grußwort gerät zu einem ersten Vortrag, und schon ist die erste Stunde um. soziale psychiatrie 01/2013 Foto: Dörte Staudt d g s p - ja h r e sta g u n g Rahmenbedingungen Die Vorbereitungsgruppe hat mit Joachim Speicher einen erfahrenen Veranstaltungsmoderator gewonnen. Er wird den Kongress über die volle Distanz begleiten – erstklassige Bezugspersonenkontinuität sozusagen. Speicher hat ein gutes Gespür für die Atmosphäre im Plenum, findet meist die richtige Überleitung und schafft es gegen jede Wahrscheinlichkeit, die Verspätung im Programmablauf im beherrschbaren Bereich zu halten: »Meine Damen und Herren, wegen Verzögerungen im Betriebsablauf hat unsere Tagung zurzeit eine Verspätung von zirka 30 Minuten ...« Der lang gestreckte Kaisersaal bietet gute Bedingungen für die Plenarsitzungen. Der Name des Tagungshauses, »Haus Erholung«, stellt allerdings eine arglistige Irreführung dar angesichts des ambitionierten Tagungsprogramms. Fünf Stunden, vier kleine Reden und vier Full-Size-Vorträge, unterbrochen von nur einer halbstündigen Pause, das ist auch für gremienerprobte Sitzungsroutiniers eine arge Zumutung. Bestandsaufnahme Constantin v. Gatterburg und Annelies Arms am DGSP-Infotisch schen geraten, stellt er fest. Und zählt dann die Baustellen auf, die zurzeit Spielräume bieten, um dennoch gute Psychiatrie zu gestalten. Ein weites Feld öffnet sich da: von der Reform der Eingliederungshilfe bis zur Sicherungsverwahrung ehemaliger Straftäter. Er zitiert einen neuzeitlichen Papst (»Es ist nicht die Aufgabe der Verbraucher, zu wissen, was sie wollen« [Steve Jobs, 1955–2011]). Wenn wir wissen, was gebraucht wird, dann werden wir gestaltend zupacken müssen, so Rosemann, »sonst wird der Markt uns richten«. Den Tagungsauftakt bildet traditionell eine Sichtung der Lage. Was ist, zwischen Vergangenheit und Zukunft, der aktuelle Zustand der Psychiatrie? Den Aufschlag macht Horst Börner mit einem ausführlichen Überblick aus der Perspektive der ›Soltauer Initiative‹. »Zuerst verwirren sich die Worte, dann verwirren sich die Begriffe, und schließlich verwirren sich die Sachen«, zitiert er ein chinesisches Sprichwort. Die Analysen der Soltauer TraumTanz haben ihre Aktualität nicht verloren, was da- Kurze Kaffeepause, dann weiter im Text. Holfür spricht, dass ein Umdenken, falls es denn ger Hoffmann aus Bern präsentiert ein gelestattfindet, bisher noch keine sichtbaren gentlich verwirrendes Potpourri aus TräuSpuren hinterlassen hat. Börner fordert »So- men und Albträumen der zukünftigen Psychiatrie. Die Hintergrundfarcial Profit statt Non-Profit« »Wir sind an einem be seiner 70 PowerPoint-Found legt uns Papst Gregor Punkt, an dem wir lien hilft beim Zuhören: hellden Großen (7. Jahrhundert erwartungsgemäß blau heißt traumhaft, grau unserer Zeitrechnung) ans Herz: »Die Vernunft kann sich gelandet sind. Jetzt geht sind die Albträume. Am Ende erfolgt der Ratschlag: »Eine mit größerer Wucht dem Böes erst richtig los.« Methode, um regelmäßig aufsen entgegenstellen, wenn Norbert Meier, Cheftrainer tretende Albträume positiv der Zorn ihr dienstbar zur bei Fortuna Düsseldorf zu beeinflussen, kann darin Hand geht.« Der dienstbare Zorn ist allerdings kaum spürbar, nicht im bestehen, dass man sich des albtraumhaften Zustandes bewusst wird, über den Traum Saal, nicht in Börners Vortrag. Auf Fundi Börner folgt der Realo Matthias nachdenkt und dann Lösungen sucht, ihn im Rosemann. Er weiß natürlich, dass die Ta- Wachen positiv enden zu lassen.« Der vierte Vortrag des Donnerstagnachgungsregie ihn absichtlich hinter Börner eingetaktet hat und vermeidet elegant jegliche mittags rundet die Bestandsaufnahme ab. Abgrenzung gegen die Soltauer Positionen. Stephan Rinckens berichtet über die psychiTatsächlich sei das Wertesystem ins Rut- atrische Versorgung im Einzugsbereich der LVR-Klinik Mönchengladbach. Die ist zweifellos solide aufgestellt. Rinckens ist, nach Zwischenstationen in Bonn, Berlin, Frankfurt (Oder) und London, in seine Geburtsstadt Mönchengladbach zurückgekehrt. Er wurde auch deshalb in die Leitung der LVR-Klinik berufen, »weil er als Schüler von Ursula Plog die in Mönchengladbach begonnenen Reformen in Richtung auf ein integriertes Versorgungssystem weiterentwickeln will« (Kukla 2006). Das geschieht nun mit dem Aufbau des GPV. Rinckens bewegt sich vorsichtig um die Themen Kooperation und Konkurrenz. Weiterentwicklung sei im Wachstum leichter als im Schrumpfen. Kooperation setze die Bereitschaft voraus, von egoistischen Interessen zurückzutreten. Einmal greift er doch zu der stärkeren Metapher vom Haifischbecken und lässt durchblicken, dass auch am Niederrhein nicht immer alles so kuschelig ist, wie es scheint. Mit einem Zitat aus dem Gedicht »Ich lobe den Tanz«, das meist Aurelius Augustinus zugeschrieben wird, gewinnt er die anfängliche Leichtigkeit zurück: »Tanz ist Verwandlung / des Traumes, der Zeit, des Menschen, / der dauernd in Gefahr ist, / zu zerfallen, ganz Hirn, / Wille oder Gefühl zu werden.« ReflexDiskussion Viereinhalb Stunden sind vorbei; erstmals ist Zeit für Nachfragen und Diskussion. Ausgerechnet der pragmatische Matthias Rosemann sorgt für einen ersten stürmischen Szenenapplaus. Das Publikum zeigt sich, will 47 d g s p - ja h r e sta g u n g Foto: Martin Osinski 01/2013 soziale psychiatrie diskutieren, koreferieren, aber ein letzter Programmpunkt steht noch bevor. Eine halbe Stunde Tagungsreflexion, der trialogische Teil des Tagungstages. Eine gute Idee, mit der Bettina Jahnke, Angelika Filius, Andreas Kernchen und Thomas Seelert behutsam umgehen. Alle vier kommen aus der EX-INBewegung und zeigen, dass sie aus Erfahrung mit Profis umzugehen wissen. Selbst die Kritik an der Männer- und Profi-Lastigkeit des Nachmittags bringen sie konstruktiv rüber und würdigen jeden Vortrag in seinen Stärken. Ich fange an, mich auf das EX-INBuch von Bettina Jahnke u.a. zu freuen, das gerade im Paranus-Verlag erschienen ist. DGSP-Mitgliederversammlung Drei Viertel der Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer gehen nun in den wohlverdienten Feierabend. Rund siebzig andere stellen sich, aus Treue, Pflichtbewusstsein, Gewohnheit oder warum auch immer, der nächsten Herausforderung. Gestärkt mit Fingerfood und Mineralwasser nehmen sie die satzungsgemäß durchzuführende DGSPMitgliederversammlung (MV) in Angriff. Die verläuft zügig, da keine kontroversen Themen oder gar Vorstandswahlen auf der Tagesordnung stehen. Damit ist der Weg frei für das Fachthema der MV und für Wolfgang Bayer – an diesem scheinbar nicht enden wollenden Tag. Er spricht über »geschlossene Heimunterbringung als besondere Herausforderung für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen« und setzt einen späten, unerwarteten Höhepunkt. Sein Vortrag trifft den Nerv des Publikums und löst enthusiastische Diskussionen aus. Zwischen Vergangenheit und Zukunft sind Zwangsbehandlung, Freiheitsbeschränkung und die resultierende Belastung der Arbeitenden gegenwärtige Reizthemen ... Multitasking Freitagmorgen. Die Fohlen-Elf hat dank berufsgruppenübergreifenden Daumendrückens gegen Olympique Marseille mit 2:0 gewonnen – Glückwunsch, gern geschehen, da nich für. Im Kaisersaal beginnt der neue Vortragstag mit einer DGSP-Uraufführung: Der Haustechniker hat auf vielfachen Wunsch einen WLAN-Router auf die Fensterbank gestellt und veröffentlicht den WPA2-Schlüssel. Nun hat also in Mönchengladbach die Zukunft begonnen – die erste partiell virtuelle DGSP-Tagung. Die Tagungsteilnehmenden bleiben körperlich anwesend, können sich aber klammheimlich ins WWW verabschieden oder wenigstens die unterforderten Sinneskanäle Multitasking-mäßig zwischen Saal und Cloud teilen. 48 Die Preisträgerinnen des DGSP-Forschungspreises Kristin Klapheck und Dr. Friederike Schmidt (Mitte) mit Friedrich Walburg, DGSP-Vorstand, und Dr. Karin-Maria Hoffmann, Fachausschuss Forschung der DGSP Die so differenzierte Aufmerksamkeit gilt Preisverleihung nun dem Beitrag von Claudia Zinke. Sie ist mittlerweile nicht mehr Referentin für Psy- Nach einer Kaffeepause verleihen Friedrich chiatrie und Behindertenhilfe, sondern Ab- Walburg und Karin-Maria Hoffmann vom teilungsleiterin Rehabilitation und Gesund- DGSP-Fachausschuss Forschung den DGSPheit im Bundesverband des Paritätischen. Forschungspreis und den -Nachwuchspreis. Den bisherigen langen Weg der Eingliede- Der Forschungspreis geht zu gleichen Teilen rungshilfereform der letzten Jahre ist sie an zwei Wissenschaftlerinnen, deren Arbeimitgegangen und kennt den Werdegang in- ten im strengen Auswahlverfahren die gleiund auswendig. Ist die Reform Öl oder Sand che Punktsumme erreicht haben. Geehrt im Getriebe einer bewegten Psychiatrie? Ein werden Kristin Klapheck aus Hamburg (»Das interessanter Vortrag, auch unter dem Ge- Hamburger SuSi-Projekt – ein trialogisches sichtspunkt, wie mühsam zuweilen die Pro- Forschungsprojekt zur Erfassung von subjektiven Erleben und Sinnkonzesse in unserem föderal »Wir müssen unser struktion bei Psychosen«) und verfassten Staat sind. InzwiSelbstvertrauen und die Dr. Friederike Schmidt aus Berschen steht fest, dass die ReSelbstverständlichkeit lin (»Nutzen und Risiken psyform der Eingliederungshilchoedukativer Interventionen fe auf die nächste Legislaturwiederfinden, dann für die Krankheitsbewältigung periode des Bundestags vergreifen auch die bei schizophrenen Erkrankunschoben ist. Automatismen.« gen«). Den Nachwuchspreis Anschließend geht der Max Eberl, Sportdirektor erhält Anja Kohnen für ihre Blick wieder über den natiobei Borussia M’glabach Arbeit mit dem wunderbar genalen Tellerrand: »Was wir radlinigen Titel: »Was bringen von den skandinavischen Ländern ... lernen können.« Klaus Müller- arbeitstherapeutische und tagesstrukturieNielsen ist Kinder- und Jugendpsychiater rende Maßnahmen für psychisch kranke und Master of Mental Health, ein Süddäne Menschen?« Die Ehrungen machen Mut: So»mit (deutschem) Migrationshintergrund«, zialpsychiatrie forscht, Frauen forschen, junwie er verschmitzt formuliert. Er stellt sei- ge Frauen vereinbaren Familie und wissennem Vortrag die Warnung voran, in vielen schaftliche Arbeit ... Die Preisverleihung wird kulturell wunSprachen gebe es das Sprichwort vom Gras, das auf der anderen Seite immer grüner ist. derbar eingerahmt vom Chor »Komm und Wenn es etwas von den Dänen zu lernen sing« aus Mönchengladbach unter der Leigebe, dann wohl die kürzeren Wege, die tung von Andrea Jäger. Mit dem Kanon »Tief schon mit dem zwangärmeren »Du« die Hie- in die Erde« bringen sie die gesamte Tagung rarchien flacher erscheinen lassen. Mehrfach zum Singen. »Komm und sing« ist ein theralobt er, wie einfach in Dänemark Projektmit- peutisches Projekt der LVR-Klinik Mönchentel zu beantragen seien. Und schließlich die gladbach; Andrea Jäger ist Psychiaterin. Da dänischen Soft-Skills, zusammengefasst un- heutzutage auf Anstalts- wie auch Dienstbeter dem schönen Verb »hygge« – probier’s kleidung verzichtet wird, sind die verschiedenen Expertengruppen (aus Erfahrung, aus mal mit Gemütlichkeit ... Profession, aus Verwandtschaft) optisch nicht soziale psychiatrie 01/2013 d g s p - ja h r e sta g u n g Gegenwartsjustiz Spätnachmittags im Kaisersaal-Plenum referiert Heinz Kammeier über »Zukunftspsychiatrie – eine Psychiatrie fast ohne Zwang!?«. Die Urteile von Bundesverfassungsgericht (BVerfG FamRZ 2011, 1128 Rn. 72 und FamRZ 2011, 1927 Rn. 38) und Bundesgerichtshof (BGH vom 20. Juni 2012, Az. XII ZB 99/12) zu Behandlungsmaßnahmen gegen den Willen verunsichern die Psychiatriewelt. Gegenwartsjustiz trifft auf Zukunftspsychiatrie; auch Kammeier kann die Zukunft nicht vorhersagen, aber er kontrastiert die juristischen Feinheiten sehr schön mit dem, was wir Profis bisher für gesunden Menschenverstand bzw. unseren (doppelten) Auftrag gehalten haben. Danach schließt der kabarettistische Vortrag von Stefan Verhasselt nahtlos an, der sich mit den Niederungen des niederrheinischen Sozialraums beschäftigt. Last, but not least bietet die Fete in den Katakomben unter ›Haus Erholung‹ noch viel Anlass zur Heiterkeit. rung und DGSP-Urgestein, setzt sich gründ- Wohnraum für Menschen mit Hilfebedarf. lich mit ihrem Vortragsthema auseinander: Wer doch in die Klinik muss, bekommt unter »Psychiatrie ohne Krankenhaus ...« Sie anderem »Kochtherapie« – Patienten und mahnt zu Redlichkeit bei allen visionären Personal der Akutstationen kaufen gemeinPlänen. »Und da, wo die Diskussion ehrlich sam ein und kochen selbst. Großküchenvergeführt wird, riecht sie auch nach den Gren- sorgung war gestern. zen der Ambulantisierungskonzepte, nach den Grenzen der Reformpsychiatrie. Die Frage: Wie viel Institution, wie viel Klinik AusblickSprüche braucht die Sozialpsychiatrie, ist offenbar Boermas Vortrag wird anschließend von der schon bekannten Reflexionsgruppe als noch nicht entschieden.« Im zeitlichen Ablauf nach Gudrun Tönnes, »spektakulär unspektakulär« gewürdigt. Die EX-IN-Kommentatoren fravor Marlene Stierl, steht Robin »Es liegt nicht an gen sich allerdings auch: Boerma mit einem Bericht, der, der Qualität, dass es »Wenn der Post-Psychiater wie der dänische und der noch nicht so gut läuft, dreimal klingelt, würdest du schweizerische Beitrag an den sondern am Kopf.« ihn reinlassen!?« vorangegangenen Tagen, aus Max Eberl »Die Zukunft kann man am einem anderen Land zu kombesten voraussagen, wenn men scheint. Das liegt nicht allein an der Sprache des in den Niederlanden man sie selbst gestaltet – welche Psychiatrie geborenen Sozialpädagogen Boerma. Das wollen wir morgen haben?« Das war die vermeintlich andere Land ist der Landkreis Ausgangsfrage. Joachim Speicher beschließt Herzogtum Lauenburg, östlich von Hamburg die Tagung passend mit einem Brecht-Zitat: in Schleswig-Holstein gelegen. Boerma ist »Wir stehen selbst enttäuscht und sehn beseit vielen Jahren Mitarbeiter von Dr. Mat- troffen / Den Vorhang zu und alle Fragen ofthias Heißler, dem Protagonisten der Post- fen.« Brecht hätte außerdem den »Radwechpsychiatrie (»Es wird kein Stein auf dem an- sel« im Angebot gehabt: »Ich sitze am Straßenhang. / Der Fahrer wechselt das Rad. / Ich deren bleiben« [2011]). Auf der Grundlage eines Regionalbudgets bin nicht gern, wo ich herkomme. / Ich bin werden die 186 000 Einwohner des Landkrei- nicht gern, wo ich hinfahre. / Warum sehe ses mit 50 stationären und 31 tagesklini- ich den Radwechsel / Mit Ungeduld?« Packen wir selbst mit an beim Radwechschen Behandlungsplätzen versorgt – eine sehr niedrige Bettenmessziffer von 0,27, sel. Nach der Tagung ist vor der Tagung. Wir scheinbar ohne negative Auswirkungen auf sehen uns, hoffentlich, im kommenden Jahr die Versorgungsqualität. Heißler, Boerma zur DGSP-Jahrestagung in Erfurt. ■ und Kollegen arbeiten mit sichtbaren Erfolgen an der Überwindung der Bettenpsychia- Literatur: Eberl, Max (2012), Sportdirektor bei Borussia Mönchentrie. Dazu gehört ein dichtes Netz an Zuvergladbach. In: Die Welt kompakt; www.welt.de/print/ dienstfirmen (Arbeit nach Maß e.V.) und die welt_kompakt/print_sport/article110446225/Kampf»Immobilientherapie«, die Versorgung mit um-die-Herrschaft-am-Rhein.html, zuletzt eingesehen Foto: Martin Osinski mehr zu unterscheiden. Inklusion wird zukünftig sein, wenn wir auch das nicht mehr betonen müssen. Der Freitagnachmittag gehört wie immer der Arbeit in zahlreichen Workshops. Die finden teilweise im benachbarten ›Stiftischen Humanistischen Gymnasium‹ statt, in dem vor Jahren auch Stephan Rinckens die Schulbank gedrückt hat. Die Klasse 6a hat ihren Klassenraum zur handyfreien Zone erklärt, was zum Grübeln anregt – sind jetzt die rückständig oder wir mit unserem WLAN im Kaisersaal? Inhaltlich geht’s im Raum der 6a um das Dilemma der EX-IN-Bewegung: Alle finden sie schick, aber wenn es um bezahlte Jobs für EX-IN-Absolventen geht, bekommen die »Experten durch Beruf« schmale Lippen und kalte Füße. NullbettPsychiatrie Samstagvormittag, nach der Fete, vor der Heimreise, stehen noch vier Vorträge im Programm. Einer davon entfällt, sodass der Zeitplan hält, was er verspricht. Samstag um eins macht jeder wieder seins. »Tag der Visionen« heißt traditionell der letzte Tagungsblock. Gudrun Tönnes appelliert an den Mut zum aufrechten Gang in der trialogischen Psychiatrie. Quo vadis, EX-IN? Wird demnächst eine Gewerkschaft der Erfahrungsexperten an die Stelle des Bundesverbandes der Psychiatrie-Erfahrenen treten? Marlene Stierl, Fachkrankenschwester für Psychiatrie mit vierzig Jahren Berufserfah- Stets bereit … 04.11.2012. Heißler, Matthias (2011): Postpsychiatrie. In: Soziale Psychiatrie 4/2011, S. 4. Jahnke, Bettina (2012): Vom Ich-Wissen zum Wir-Wissen. Mit EX-IN zum Genesungsbegleiter. Neumünster: Paranus-Verlag. Kukla, Rainer (2006): Stephan Rinckens ist neuer Ärztlicher Direktor der Rheinischen Kliniken Mönchengladbach. Pressemitteilung des LVR vom 15. November 2006 (www.lvr.de/app/presse/index.asp?NNr=2175). Meier, Norbert (2012), Cheftrainer bei Fortuna Düsseldorf. In: Die Welt kompakt (Quelle s. Eberl). Links: www.arbeitnachmass.de www.borussia.de www.johanniter.de/einrichtungen/krankenhaus/ geesthacht/medizin-pflege/fachabteilungen/ psychiatrie/die-abteilung/ www.klinik-moenchengladbach.lvr.de/unsere_klinik/ ausblick/ www.komm-und-sing.net/ www.rehaverein-mg.de/ www.welt.de/print/welt_kompakt/print_sport/ article110446225/Kampf-um-die-Herrschaft-amRhein.html www.youtube.com/watch?v=6Zr_USfaysw 49