Pflege mit Weitblick. Erfahrungen aus anderen Ländern
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Pflege mit Weitblick. Erfahrungen aus anderen Ländern
Das AOK-Forum für Politik, Praxis und Wissenschaft Spezial 3/2006 SPEZIAL Impulse für eine Reform Pflege mit Weitblick +++ Erfahrungen aus anderen Ländern Inhalt Lese- & Webtipps 4 USA Pflege ist Privatsache Interview mit Heidi Nadolski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 7 Japan Pflege nach Plan von Cornelia Wanke und Änne Töpfer . . . . . . . . . . . . 14 Grossbritannien Eine Frau für alle Fälle von Arndt Striegler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Deutschland Im Heim zu Hause sein von Cornelia Wanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Projekt Eurofamcare Was Familien leisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 AOK-Lösungen zur Pflegereform Die Zukunft der Pflege sichern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Deutschland »Mehr Anerkennung für die Angehörigen« Interview mit Heike von Lützau-Hohlbein . . . . . . . 24 Luxemburg Eine sichere Bank fürs Alter von Fernando Ribeiro und Vibeke Walter . . . . . . . . . . Finnland Mit dem Pflege-Voucher auf Einkaufstour Interview mit Hannele Häkkinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . ■ 5. Altenbericht der Bundesregierung ■ G. Igl, D. Schiemann, B. Gerte, J. Klose ■ www.dbfk.de Die Homepage des Deut- (2005): »Potenziale des Alters in Wirtschaft (2002): Qualität in der Pflege – Betreuung schen Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) und Gesellschaft«. und Versorgung von pflegebedürftigen alten Menschen in der stationären und ambulanten Altenhilfe, Schattauer, Stuttgart. ■ Bundesministerium für Gesundheit: Dritter Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung. Als PDF-Datei zum Herunterladen unter www.bmg.bund.de Der Bericht gibt einen umfassenden Überblick über die Situation der Pflegeversicherung (Zahl der Leistungsbezieher, Auswirkungen der Pflegeversicherung auf die Pflegeinfrastruktur und anderen Bereiche) in den Jahren 2001 bis 2003. ■ K. Jacobs, H. Drähter: Wer bezahlt die Pflege? Beitrag in G+G »Gesundheit und Gesellschaft« 9/2005, S. 22-29, als PDF-Datei unter www.aok-bv.de ■ T. Klie: Wie viel Zeit in Pflege fließt, Beitrag zum »Persönlichen Pflegebudget« in G+G »Gesundheit und Gesellschaft« 12/2005, Seite 22 ■ www.deutsche-alzheimer.de Homepage der Deutschen Alzheimer Gesellschaft Alzheimer-Telefon: 01803 171017 (9 Cent/ Minute vom Festnetz) ■ www.dnqp.de Homepage des »Deut- schen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege«. Das Deutsche Netzwerk ist ein bundesweiter Zusammenschluss von Pflegefachleuten, die sich mit dem Thema Qualitätsentwicklung auseinandersetzen. ■ R. Borosch, H. Kesselheim: Leben ohne ■ www.dv-pflegewissenschaft.de Verein Erinnerung, Konzept zur Versorgung von zur Förderung der Pflegewissenschaft Demenzkranken, Beitrag in G+G »Gesundheit und Gesellschaft« 2/2006, S. 24-30 ■ B. Gerste, A. Schwinger, I. Rehbein (2004): Qualitätssiegel und Zertifikate für Pflegeeinrichtungen – Ein Marktüberblick, Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO), Bonn. In der Studie werden 14 Qualitätssiegel und Zertifikate für Pflegeeinrichtungen vorgestellt. ■ www.aok-bv.de Homepage des AOKBundesverbandes, unter »Gesundheitsversorgung, Pflege« Informationen zur Pflegeversicherung und den Reformoptionen ■ www.aok-gesundheitspartner.de In- formationen u. a. zu Apotheken, Arzt und Praxis, Heilberufen, Hilfsmittelanbietern, Krankenhaus, Pflege, Reha/Versorgung ■ G+G-Wissenschaft 4/2004 Schwer- ■ www.bmfsfj.de Homepage des Bundes- punkt: Qualität in der Pflege, KomPart ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Verlag, die Aufsätze als PDF-Datei unter: http://wido.de/ggw_jahrgang_2004.html ■ www.bmg.bund.de Homepage des Bundesministeriums für Gesundheit ■ www.dza.de Das Deutsche Zentrum für Altersfragen (DZA) ist ein Forschungs- und Dokumentationsinstitut, das die Lebenslagen, Lebenssituationen und Lebensstile älterer Menschen im gesellschafts- und sozialpolitischen Kontext untersucht. ■ www.kda.de Seit 40 Jahren entwickelt das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) Konzepte und Modelle für die Altenhilfe, fördert sie und hilft, sie in die Praxis umzusetzen. ■ www.pflegebudget.de Mehr zu einem von den Spitzenverbänden der Pflegekassen geförderten Modellprojekt Vo r w o r t Rechtzeitig Weichen stellen Den Horizont erweitern: Der Blick über die Grenzen gibt Impulse für die Pflege in Deutschland. Deren Zukunft gilt es zu sichern – mit einer festen Finanzbasis und der Prävention von Alterskrankheiten. Fotos: AOK-Mediendienst, Titelbild: ©taxi D eutschland vergreist«, »Die Pflegeversicherung steht vor dem Konkurs«: Solche oder ähnliche Schlagzeilen erscheinen hierzulande immer öfter. Wir werden gefragt »Wohin mit Oma?«, lesen vom »Methusalem-Komplott« und beklagen den »demografischen Wandel«. Zweifels ohne wird uns die Tatsache, dass wir Menschen immer länger aber nicht unbedingt gesünder leben, vor große Herausforderungen stellen. Statt darüber aber nur zu jammern, sollten wir uns fragen, wie wir dieser Aufgabe begegnen können. Wie können wir erreichen, dass auch die heute Jungen im Alter gut versorgt werden? Was kann der Einzelne tun, um möglichst lange möglichst gesund zu leben? Und wie garantieren wir ein Altern in Würde? Es ist an der Zeit, die Weichen zu stellen: für eine zukunftssichere Finanzierung der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung und für eine strukturelle Verbesserung der pflegerischen Versorgung. Sowohl die Pflege- als auch die Krankenversicherung brauchen ein dauerhaft festes finanzielles Fundament und neue Impulse, was die Leistungen anbelangt. So sollten altersbedingte Krankheiten nicht nur früher diagnostiziert werden, wir sollten auch verstärkt unser Augenmerk darauf lenken, Krankheiten im Alter zu vermeiden. Wer in jungen Jahren gesundheitsbewusst lebt, wird nicht nur älter, sondern bleibt auch länger gesünder. Nur wenn Prävention, kurative Medizin Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang und Rehabilitation gut miteinander verzahnt sind, werden mehr Menschen auch in hohem Alter noch ein eigenständiges Leben führen können. »Ein Land ist daran zu messen, wie es seine alten Menschen behandelt«, lautet ein japanisches Sprichwort. Gerade im Hinblick auf die medizinische und pflegerische Versorgung der älteren, multimorbiden Menschen können wir noch viel von anderen Ländern lernen. Deshalb blicken wir in diesem G+GSpezial über die Grenzen: zum Beispiel nach Großbritannien, wo Gemeindeschwestern alte Menschen zu Hause betreuen und zu den Finnen, die ihren Senioren ein möglichst unabhängiges Leben auch im Alter ermöglichen wollen. Ein Einblick, wie andere Länder mit dem demografischen Wandel umgehen. Ein Überblick, wie professionelle Pflege im Ausland organisiert wird. Und viele neue Impulse für die großen Herausforderungen, die wir alle zu meisten haben. Dr. Hans Jürgen Ahrens Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes 3 LUXEMBURG Eine sichere Bank fürs Alter Im Land der Finanzexperten steht die Pflege auf stabilem Fundament. Eine gesetzliche Pflegeversicherung, ähnlich dem deutschen Modell, kommt seit 1999 für die Kosten der Pflegebedürftigkeit auf. Luxemburg investiert zudem in Prävention. Von Fernando Ribeiro und Vibeke Walter gestricktes, gut zusammenarbeitendes soziales Netz mit zahlreichen ambulanten und stationären Hilfs- und Pflegeeinrichtungen. Wie in vielen anderen europäischen Ländern auch, wohnen die Generationen zwar nicht mehr alle unter einem Dach, jedoch leben die Angehörigen meist in der Nähe. So stehen ältere Menschen in Luxemburg oft noch in regelmäßigem Kontakt mit Kindern und Enkelkindern. Durch die geringe Distanz können Familienmitglieder eine unterstützende Rolle in der Pflege spielen. Der große Ausländeranteil in der luxemburgischen Bevölkerung (zur Zeit liegt er bei rund 39 Prozent) und die hohen Gehälter, die viele Berufspendler aus der Grenzregion anlocken, bestimmen auch die Personalsituation im Pflegebereich. Pflegenotstand gibt es in Luxemburg kaum. Jedoch müssen Pflegekräfte im Großherzogtum die luxemburgische Sprache (Eigenbezeichnung: Lëtzebuergesch) beherrschen – das ist gesetzlich vorgegeben. Altenpolitik hat Konjunktur. Die demografische Entwicklung entspricht in Luxemburg der in Deutschland: Die Lebenserwartung steigt und damit wird die Gesellschaft immer älter. Der Anteil der über 65-jährigen liegt zur Zeit bei 18 Prozent, die Tendenz ist steigend. Die ersten Überlegungen für eine effiziente Seniorenpolitik gehen auf das Jahr 1992 zurück. Damals formulierten sowohl das Gesundheits-, als auch das Familienministerium in einem nationalen Programm für Senioren erstmals weiterführende Überlegungen für eine konstruktive Altenpolitik. Das Programm enthielt sowohl Ansätze für einen akti4 ven, sinnvoll gestalteten Ruhestand als auch konkrete Maßnahmen für die ambulante und stationären Pflege. Insbesondere sah das nationale Programm vor, die bestehenden Strukturen zu verbessern und auszubauen sowie neue zu errichten, um der veränderten Altersstruktur der Bevölkerung gerecht zu werden. Eines der erklärten Ziele war, ältere Menschen darin zu unterstützen, so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden zu leben. Dazu sollten Dienstleistungen wie Hausnotrufdienst, Essen auf Rädern, ambulante häusliche Hilfsund Pflegedienste, psychogeriatrische Tagesstätten sowie altengerechte Wohnungen etabliert werden. Diese Konzepte und Ziele sind auch im Programm der jetzigen Regierung verankert (seit 2004 regiert unter JeanClaude Juncker eine große Koalition aus Christlich Sozialer Volkspartei und der Luxemburgischen Sozialistischen Arbeiterpartei). Seit 1992 wurden die Konzepte gezielt weiter entwickelt und qualitativ verbessert. Einige Dienstleistungen wurden ergänzt und Versorgungslücken geschlossen, beispielsweise durch die Einführung einer häuslichen, nächtlichen Betreuung oder das Angebot einer ambulanten Sterbebegleitung. Pflegebedürftigkeit verhindern. In Luxemburg leben 90 Prozent der über 65-jährigen Bürger selbstständig zu Hause. Mit steigendem Alter wächst allerdings die Wahrscheinlichkeit, nicht mehr in der eigenen Wohnung ohne Hilfe zurechtzukommen. Die Politik für das »Dritte Lebensalter« steht deshalb auf zwei Säulen: Prävention und Pflege. Durch die Förderung präventiver Maßnahmen will die Regierung dem EinzelGesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang Foto: imagesource G enug Geld und kurze Wege: Luxemburg bietet gute Voraussetzungen für einen zufriedenen Lebensabend. Das Lohnniveau der Erwerbstätigen in Luxemburg gehört zu den höchsten weltweit. Entsprechend gehoben ist der Lebensstandard der Einwohner. Er wird nicht zuletzt dadurch gehalten, dass sowohl Löhne als auch Renten an den Lebenshaltungskostenindex gekoppelt sind und regelmäßig angepasst werden. Die meisten Luxemburger können sich daher ausreichend Pflegedienstleistungen kaufen. Außerdem zählt Luxemburg zu den kleinsten Ländern Europas. Die geringe Größe ermöglicht ein eng Foto: imagesource nen in seinen physischen und psychischen Fähigkeiten unterstützen, damit er länger ein unabhängiges Leben führen kann. So bestehen landesweit 14 so genannte Club Senior, die eine rüstig-aktive Klientel ansprechen sollen. Mit dem gleichen Ziel arbeitet auch die Seniorenakademie. Sie veranstaltet Kurse unter anderem in den Bereichen Sport, Gesundheit, Kreativität, Kultur, Sprachen und neue Medien. Die Seniorenclubs und die Seniorenakademie erhalten finanzielle Unterstützung von Staat und Kommunen. Auf kommunaler Ebene sind einige »Kommissionen für das Dritte Alter« mit verschiedenen Angeboten sehr aktiv. Seit über 40 Jahren arbeitet zudem die rund 20.000 Mitglieder zählende Vereinigung »Amicale des personnes retraîtées, âgées ou solitaires asbl« (Amiperas). Diese Organisation hat es sich vor allem zur Aufgabe gemacht, alten Menschen aus ihrer Isolation zu helfen. Stationäre Pflege ausbauen. Luxemburgs rüstige Rentner haben also vielfältige Gelegenheit, ihre Kraft und Fähigkeiten zu trainieren, um möglichst lange auf eigenen Beinen zu stehen. Doch das Land stellt sich auch auf eine wachsende Zahl pflegebedürftiger älterer Menschen ein. In den vergangenen Jahren stieg die Bettenzahl in den Alten- und Pflegeheimen. 34 Altenheime (»Centres intégrés pour personnes âgées«) und 15 Pflegeheime (»Maisons de soins«) mit insgesamt 4.562 Betten bieten Platz für 7,15 Prozent der Bürger über 65 Jahre. Zurzeit unterscheidet die Verwaltung noch zwischen Pflegeheimmen und traditionellem Altenheimen. In der Praxis wird de facto kaum noch ein Unterschied zu finden sein, da auch in Luxemburg das durchschnittliche Alter bei Eintritt in eine solche Einrichtung mittlerweile bei 83 Jahren liegt. Auch der Grad der Pflegebedürftigkeit von Heimbewohnern nimmt zu. Um dem Bedarf der nächsten Jahre gerecht zu werden, ist vorgesehen, zusätzliche Betten zu schaffen, teils in Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang Neubauten, teils in erweiterten, bereits bestehenden Häusern. Eine wesentliche Herausforderung bleibt es weiterhin, nicht nur neue Heimplätze bereitzustellen, sondern auch adäquate inhaltliche Konzepte zu entwickeln. Dies betrifft insbesondere die Betreuung von an Demenz erkrankten Heimbewohnern, sowie die Qualitätssicherung der Dienstleistungen in den Institutionen. Die Pflegeversicherung zahlt. In der Regel tragen Staat und Kommunen den größten Teil der Kosten der stationären Pflegeinfrastruktur. Die Pflege selbst wird über die am 1. Januar 1999 – nach deutschem Muster – eingeführte gesetzliche Pflegeversicherung finanziert. Alle Berufstätigen und alle Rentner zahlen einen Beitrag in Höhe von einem Prozent ihrer Einkünfte (unter anderem Lohn, Rente, Mieteinkünfte) und ihres Vermögens an die Pflegeversicherung. Die Versicherten und ihre Familienmitglieder haben Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung im Falle einer Pflegebedürftigkeit. Die Krankenkasse übernimmt weiterhin alle Kosten, die mit der Krankheit zusammenhängen. Die Pflegeversicherung trägt auch die Kosten für Zahlen und Fakten Landesfläche: 2.586 km2 Staatsform: parlamentarische Demokratie in Form einer konstitutionellen Erbmonarchie Einwohner: 451.600 (davon Ausländer: 174.200) In der Hauptstadt Luxembourg leben 83.832 Einwohner Neugeborene pro 1.000 Einwohner: 11,8 Inflationsrate: 2 % Monatlicher Mindest-Bruttolohn: 1.402,96 Euro Durchschnittlicher Stundenlohn in der verarbeitenden Industrie: 13,49 Euro Durchschnittlicher Monatslohn in der verarbeitenden Industrie: 4.089,95 Euro Arbeitslosigkeit (2003): 3,7 % 13 % aller Beschäftigten arbeiteten 2003 bei Banken und Finanzdienstleistern Einwohner je Arzt: 469 Quellen: www.gouvernement.lu und »Harenberg Aktuell 2005«, Meyers Lexikonverlag 5 LUXEMBURG Einkommensabhängige Hilfe. Wer die Kriterien des Pflegeversicherungsgesetzes (wie erwähnt, gehört dazu ein Hilfebedarf von mindestens 3,5 Stunden/Woche für mindestens sechs Monate) nicht erfüllt und trotzdem Hilfe oder Pflege benötigt, erhält auf Antrag Unterstützung vom Staat, wenn sein Einkommen unter 2.608 Euro monatlich liegt (Grenzwert im Jahr 2005). Er zahlt dann für die Pflegeleistungen einen von seinem Einkommen abhängigen Betrag (»Tarification sociale«), der unter dem vollen Preis einer Pflegestunde liegt. Die Differenz zu dem zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern ausgehandelten Preis für eine Pflegestunde übernimmt der Staat. Im Jahr 2005 lag der von Kassen und Pflegedienstleistern vereinbarte Preis im ambulanten Bereich bei 49,98 Euro pro Stunde, im stationären Bereich bei 37,80 Euro. 6 Die Kosten der Unterbringung (Prix de pension) in den Alten- und Pflegeheimen müssen vom Bewohner selbst aufgebracht werden. Der nationale Durchschnittpreis für die Unterbringung lag im Jahr 2002 bei etwa 1.730 Euro im Monat. Für einkommensschwache Bürger besteht die Möglichkeit einer finanziellen Unterstützung durch den nationalen Solidaritätsfonds. Pflegestufen wie in Deutschland gibt es in Luxemburg nicht. Heime stellten mehr Fachkräfte ein. Ebenfalls seit1998 regelt das ASFT-Gesetz (Loi réglant les relations entre l’Etat et les organisations oeuvrant dans les domaines social, familial et thérapeutique) die Mindestanforderungen für Einrichtungen und Dienstleister im sozialen, familiären oder therapeutischem Bereich. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen umfassen sowohl personelle als auch bauliche Merkmale und sind zum Teil vergleichbar mit dem deutschen Heimgesetz. Erfüllt ein Betreiber von Pflegeeinrichtungen oder Pflegediensten die Normen, erhält er eine ministerielle Zulassung für das betreffende Tätigkeitsfeld. In der Regel werden die Institutionen jährlich auf die Einhaltung der gesetzlichen Mindestvorgaben überprüft. Mit Einführung der Pflegeversicherung konnten viele Heime ihr Personal aufstocken. Die Träger der Einrichtungen stellten vermehrt Fachkräfte wie Ergo- und Physiotherapeuten oder Psychologen ein. Heute besteht das Pflegepersonal in Alten- und Pflegeheimen vorwiegend aus diplomierten Krankenpflegern, oft mit universitärer Zusatzausbildung für die unterschiedlichen Leitungsebenen, Krankenpflegehelfern sowie Sozialund Familienhelfern. Eine Ausbildung zum Altenpfleger gibt es in Luxemburg nicht. Spezifisches Fachwissen eignen sich Pflegekräfte entweder in Weiterbildungen an, oder sie absolvieren Fortbildungen zu pflegetheoretischen Ansätzen sowie zum Thema Sozialmanagement beim Fortbildungsinstitut des Service RBS (ein eingetragener Verein). Seit Oktober 2002 bietet die Universität Luxemburg außerdem einen dreijährigen Aufbaustudiengang zum Master en Gérontologie an. Die luxemburgische Pflegeversicherung hat sich in den sieben Jahren ihres Bestehens bewährt. Hinsichtlich der Leistungen, der Finanzierung und der Evaluierung der Pflegebedürftigkeit besteht derzeit kein Reformbedarf. Es sind lediglich kleinere Änderungen geplant, die vor allem zum Ausbau der Prävention schwerer Pflegebedürftigkeit beitragen sollen. In diesem Bereich will Luxemburg weiterhin besondere Anstrengungen unternehmen. ■ Fernando Ribeiro ist Mitarbeiter im »Ministère de la Famille et de l’Intégration« im Bereich Altenpolitik. Vibeke Walter ist Mitarbeiterin des Service RBS Asbl (Fortbildungsinstitut und Seniorenakademie) in Luxemburg. Mehr Infos: [email protected] Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang Foto: agenda, Karin Desmarowitz ambulante Pflegeleistungen und beteiligt sich an den Kosten, die bei der Wohnraumanpassung entstehen (zum Beispiel durch Einbau eines Treppenliftes). Im Gegensatz zu Deutschland gibt es im luxemburgischen System allerdings keine Pflegestufen. Das Gesetz sieht vor, dass für jeden Betroffenen Hilfen und Leistungen individuell festgelegt werden, um so der individuellen Pflegebedürftigkeit Rechnung zu tragen. Die Leistungen der Pflegeversicherung werden in Stunden berechnet: Das Minimum sind 3,5 Stunden, das Maximum 24,5 Stunden pro Woche für die Verrichtungen des täglichen Lebens (Körperpflege, Ernährung und Mobilität) und für einen Mindestzeitraum von sechs Monaten. Für Pflegeheimbewohner mit sehr großem Hilfebedarf können die Leistungen auf 31,5 Stunden erweitert werden. Ferner können stundenweise auch hauswirtschaftliche Hilfe sowie andere unterstützende Maßnahmen bewilligt werden. Bei der häuslichen Pflege besteht ein Recht auf Sach- oder aber auf Geldleistungen. Beides kann auch kombiniert werden. Hannele Häkkinen ist Gesundheitswissenschaftlerin und arbeitet in der Sozial- und Gesundheitsabteilung beim Verband der Städte, Gemeinden und Regionen Finnlands. FINNLAND Mit dem Pflege-Voucher auf Einkaufstour Die finnischen Kommunen geben Gutscheine aus, für die Pflegebedürftige Leistungen bei privaten Anbietern ihrer Wahl erhalten. Das System soll den Wettbewerb ankurbeln und den Arbeitsmarkt beleben. Ein Gespräch mit Hannele Häkkinen. Wie ist die Pflege in Finnland gesetzlich geregelt? mune führt die Dienste selbst aus oder kauft dann diesen Bedarf ein. »In Finnland gibt es keine Pflegeversi- Was bezahlt der Staat und wie hoch ist die Eigenbeteiligung des Pflegebedürftigen? cherung wie in Deutschland. Die Pflege älterer Menschen fällt unter die allgemeinen Sozialgesetze und wird unter Eigenbeteiligung der Pflegebedürftigen aus Steuermitteln finanziert. Unser Grundgesetz sieht vor, dass alle Menschen die gleichen Möglichkeiten haben müssen, egal, wie alt oder krank sie sind. Darauf basieren all unsere Regelungen zur Pflege. Wer organisiert die Pflege in Finnland? »Hier wird zwischen häuslicher und stationärer Pflege unterschieden. Dazwischen gibt es das so genannte Service-Wohnen: Man wohnt in einem Service-Haus und bekommt die Dienste, die man braucht entweder von der Kommune oder einem Wohlfahrtsverband. In Finnland ist die Kommune verantwortlich für die Pflege, auch für das Angebot im Bereich der ambulanten Pflege. Entweder ist die Kommune selbst Träger der Pflegedienste, oder sie kooperiert mit anderen Kommunen, privaten Anbietern oder Wohlfahrtsverbänden und kauft bei diesen Partnern die benötigten Dienstleistungen ein. Wer bestimmt den Umfang der Pflege? Foto: Marketta Kaunisto/privat »Der Pflegebedürftige oder seine Angehörigen kontaktieren den Sozialdienst der Kommune. Ein Vertreter des Sozialdienstes besucht den Pflegebedürftigen und analysiert den Bedarf, zum Beispiel Hilfe zum Waschen und Essen für eine bestimmte Zeit an einer festgelegten Zahl von Tagen pro Woche. Die KomGesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang »Der Staat gibt seinen Finanzierungsanteil an die Kommunen. Der Eigenanteil sind abhängig vom Einkommen des Pflegebedürftigen – also Rente, Mieteinkünfte und ähnliches – und von der Zahl der Personen, die im Haushalt leben. Derzeit müssen die Pflegebedürftigen für die ambulante Pflege im Schnitt eine Eigenbeteiligung von bis zu etwa fünfzehn Prozent ihres Netto- »Die Differenz zwischen Gutschein und tatsächlichen Kosten zahlen die Senioren.« einkommens leisten. An den Kosten der stationären Pflege muss sich der Pflegebedürftige mit bis zu 80 Prozent seines Nettoeinkommens beteiligen. Was hat es mit dem Voucher-System auf sich, das 2004 eingeführt wurde? »Man wollte damit ein größeres Angebot an Dienstleistungen schaffen. Das Ziel war, dass die Menschen so lange wie möglich zu Hause gepflegt werden. Zudem sollte der Kunde mehr Wahlmöglichkeiten bekommen. Das System soll auch für mehr Wettbewerb unter den Leistungserbringern sorgen. Wir gehen davon aus, dass sich das VoucherSystem positiv auf den Arbeitsmarkt auswirken und die Qualität und Wirt- schaftlichkeit der Pflegedienstleistungen erhöhen wird. Vorbild war hier Schweden, das schon positive Erfahrungen mit dem System gemacht hat. Wie funktioniert das finnische VoucherSystem? »Die Kommune kann selbst bestimmen, ob sie ein Voucher-System einführen will. Sie entscheidet auch über die Höhe des Gutschein-Wertes für Pflegedienstleistungen. Der Gutschein wird nur für die Nutzung der privaten Pflegedienste ausgegeben. Die Kommune bestimmt, welche Dienstleistungen damit eingekauft werden – zum Beispiel Hilfen für die Verrichtungen des täglichen Lebens: Waschen, An- und Auskleiden, Essen, sozialer Umgang oder Transport. Die Dienste reichen den Gutschein, den sie von ihrem pflegebedürftigen Kunden erhalten, bei der Kommune ein und bekommen ihre Leistungen bezahlt. Der Kunde muss die Differenz zwischen Gutschein und tatsächlichen Kosten tragen. Derzeit diskutiert man in Finnland, ob das Voucher-System auch in der ambulanten Krankenpflege brauchbar wäre. Wer sichert die Qualität der Dienstleistungen? »Die Kommune muss die Anbieter von Pflegedienstleistungen zulassen. Auch hier ist es so, dass die Kommune selbst bestimmt, welche Kriterien der Anbieter erfüllen muss. Die Kommune legt den Pflegebedarf des Einzelnen fest und regelt, wie der Voucher eingelöst werden kann. Sie prüft auch, ob der Betreffende überhaupt noch in der Lage ist, sich die Leistungen selbst einzukaufen. ■ 7 GROSSBRITANNIEN Eine Frau für alle Fälle W enn Teresa Davis bei ihren Patienten klingelt, wird sie meistens wie eine alte Freundin begrüßt. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet die 57-jährige gelernte Krankenschwester bereits für den staatlichen britischen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS). Seit vier Jahren ist sie District Nurse. District Nurses sorgen in Großbritannien dafür, dass chronisch kranke oder alte Menschen länger in den eigenen vier Wänden leben können. »Ich besuche meine Patienten zu Hause, versorge sie mit Medikamenten, kümmere mich um kleine Unpässlichkeiten«, beschreibt Teresa Davis ihre Arbeit. Auch der Klönschnack mit den Patienten gehört fest zum Arbeitsalltag britischer Gemeindeschwestern. »Sister Teresa« wie sie von den meisten ihrer mehr als 200 Patienten liebevoll genannt wird, arbeitet in Nord-England, in der alten Bergbaustadt Shiremoor (North Tyneside). Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen kümmern sich um Patienten, die Langzeitpflege benötigen, aber lieber in der eigenen Wohnung bleiben möchten als in einem Alten- oder Pflegeheim zu leben. »Ich bin immer wieder überrascht, wie fröhlich und positiv die Menschen trotz ihrer Krankheit sind«, berichtet Teresa Davis. »Das ist für mich eine der wichtigsten Berufserfahrungen überhaupt: zu sehen, wie Patienten mit schweren Erkrankungen wie Krebs oder Diabetes umgehen und nicht aufgeben.« Krankenschwestern verordnen Medikamente. An diesem regnerischen Dienstag steht für Teresa Davis zuerst ein Hausbesuch bei Florence Brodie auf dem Programm. Die 80jährige Patientin hat Krebs. Es ist kurz nach zehn Uhr morgens und Schwester Teresa klingelt an dem kleinen Reihenhaus. Zwei Mülltonnen stehen vor dem Gartentor. Dienstags ist in Shiremoor Müllabfuhr. Wie selbstverständlich trägt Teresa Davis die beiden Tonnen in den Vorgarten zurück und stellt sie ordentlich auf den dafür vorgesehenen Platz. Florence Brodie öffnet die Haustür und strahlt: »Vielen Dank, Schwester Teresa. Die Müllmänner sollten das eigentlich machen, aber sie wissen ja, wie das heutzutage ist. Keiner nimmt sich mehr Zeit.« Schwester Teresa indessen hat es nicht eilig. Sie folgt der alten Dame ins Wohnzimmer. Es folgt ein kurzes Gespräch. Wie geht’s gesundheitlich? Was machen die Enkel? Haben Sie Schmerzen? Waren Schlaf und Verdauung in Ordnung? Dann misst Teresa Davis den Blutdruck ihrer Patientin, schaut kurz in den Medizinschrank im Badezimmer um zu sehen, ob noch alles da ist. »Ich brauche neue Schmerzmittel«, sagt Florence Brodie. Als District Nurse hat Teresa Davis die Befugnis, Arzneien gegen Schmerzen und andere Medikamente zu verordnen. Das ist deshalb möglich, weil District Nurses eng mit dem Hausarzt der Patienten zusammenarbeiten. Der Hausarzt bestimmt die Therapie, die Krankenschwester sorgt dafür, dass die nötigen Medikamente und medizinischen Hilfsmittel zum Patienten kommen. Großbritannien hat seit mehr als 50 Jahren ein auf dem Primärarztsystem aufbauendes staatliches Gesundheitswesen. Erster Anlaufpunkt für den Patienten ist also stets der Hausarzt. Allerdings sind die rund 31.000 staatlichen Hausärzte seit Jahren permanent überlastet. Das soll sich ändern, indem mehr Kompetenzen auf die krankenpflegerischen Berufe wie die District Nurses verlagert werden. Das klappt laut britischer Krankenpflegergewerkschaft (Royal College of Nursing, RCN) sehr gut. Das Gewerkschaft vertritt die beruflichen Interessen von mehr als 300.000 NHS-Krankenschwestern und -pflegern. Lokale Gesundheitsverwaltung zahlt ambulante Dienste. Zweimal pro Woche schaut Teresa Davis bei ihren Patienten vorbei. Für Florence Brodie gehören die Besuche zu den 8 Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang Foto: photothek.net Mülltonnen wegräumen, Medikamente verschreiben, Gesellschaft leisten und Angehörige unterstützen: Eine britische Gemeindeschwester übernimmt viele Aufgaben. Mit ihrer Unterstützung leben Pflegebedürftige länger in der eigenen Wohnung statt im Heim. Eine Reportage von Arndt Striegler Foto: ©teamwork - text+foto Highlights der Woche. »Schwester Teresa genießt mein volles ist schwer«, räumt die Krankenschwester ein. Trotzdem liebe sie Vertrauen und ihre Besuche bedeuten mir eine Menge. Ohne ihren Beruf. ihre Hilfe könnte ich bestimmt nicht länger alleine wohnen«, Ärzte entlasten. Die Gesundheitspolitik der seit 1997 regiesagt die alte Dame. Die lokale Gesundheitsverwaltung der renden Labour Party zielt darauf ab, den staatlichen Ärzten Region North Tyneside bezahlt die ambulanten Dienste. mehr Aufgaben abzunehmen und diese auf KrankenpflegeDafür werden jährlich zweistellige Millionenbeträge ausgegepersonal, Apotheker und andere Gesundheitsberufe zu überben. Doch in der Gesundheitsverwaltung weiß man, dass das tragen. Das wird von den ärztlichen BerufsGeld, das für die District Nurses aufgeverbänden mit gemischten Gefühlen gesewendet wird, gut angelegt ist, spart es doch hen. Einerseits befürchtet man einen Komlangfristige Krankenhaus- und Pflegeheim- Die Palliativmedizin gilt petenzverlust. Andererseits wissen die Beaufenthalte. als vorbildlich – auch Teresa Davis besucht an einem normalen dank der District Nurses. rufsverbände, dass die große Arbeitslast ein wichtiger Grund für die Unbeliebtheit des Tag zwischen sechs und 18 Patienten. Wie Arztberufes bei jungen Akademikern ist. lange sie mit jedem Patienten verbringt, Wer District Nurse werden will, muss zuvor eine Ausbilrichtet sich unter anderem nach der Schwere der Erkrankung. dung zur Krankenschwester an einem staatlichen Kranken»Einige unheilbar kranke Patienten müssen täglich besucht haus mit theoretischer Ausbildung am Royal College of Nurwerden und benötigen sehr viel Hilfe«, erzählt die Gemeindesing absoviert haben. Die zusätzliche Fachausbildung zur schwester. Die britische Palliativmedizin gilt weltweit seit District Nurse dauert in der Regel ein Jahr, kann aber auch Jahrzehnten als vorbildlich. District Nurses spielen in der palauf zwei Jahre ausgedehnt werden, sollte die Bewerberin lieliativmedizinischen Patientenversorgung in Großbritannien ber halbtags lernen wollen. In einer weiteren, drei- bis viereine zentrale Rolle. Häufig dauert die letzte Lebensphase jährigen Ausbildung in einem Staatskrankenhaus und dem eines unheilbar kranken Patienten ein bis zwei Jahre. Royal College of Nursing können sich District Nurses zum Während dieser Zeit ist die District Nurse oftmals die wichNurse Consultant qualifizieren. Nurse Consultants haben tigste Bezugsperson für den Patienten. »Ich lerne meine Patienweitreichende Befugnisse und können teilweise einen Arzt erten sehr gut kennen. Vor allem die Betreuung von unheilbar setzen. kranken Patienten, für die es keine Hoffnung auf Heilung gibt, Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang 9 GROSSBRITANNIEN Arzt und Schwester erstellen den »Care Plan«. Für Teresa Davis beginnt der Arbeitstag in der Regel morgens um 8.30 Uhr und endet um 17 Uhr. Die Krankenschwester muss wegen ihres Alters jedoch keinen Nacht- oder Wochenenddienst mehr leisten. Allerdings sind District Nurses verpflichtet, Patienten grundsätzlich rund um die Uhr zu betreuen, sofern dies medizinisch notwendig ist. Dabei werden Patientenanfragen in zwei Kategorien eingeteilt: »eilig« (die Krankenschwester ist angehalten, innerhalb von zwei Stunden nach dem Anruf beim Patienten zu sein) sowie »nicht eilig« (ein Besuch sollte innerhalb von 24 Stunden stattfinden). Zahlreiche Gesundheitsverwaltungen des National Health Service bieten ihren Patienten heute die Langzeitpflege durch eine District Nurse an. Für Teresa David bedeutet das, dass sie sich regelmäßig mit den Hausärzten ihrer Patienten austauscht und gemeinsam einen so genannten »Care Plan« aufstellt. Darin wird von Arzt und Krankenschwester festgelegt, wie der Patient optimal versorgt werden kann. Diese Art der ambulanten Langzeitpflege ist deutlich preiswerter als ein langjähriger Heimaufenthalt. Außerdem haben Umfragen bei Patienten ergeben, dass die große Mehrzahl lieber zuhause von District Nurses versorgt werden wollen, als in einem Alten- oder Pflegeheim wohnen zu müssen. Zahlen und Fakten Landesfläche: 244.100 km2 Staatsform: Parlamentarische Monarchie Einwohner: 59,3 Millionen In der Hauptstadt London leben 7 Millionen Einwohner Neugeborene pro 1.000 Einwohner (2003): 11,7 Zunahme der Zahl der über 65-Jährigen von 1971 bis 2003 um 28 % Zunahme der Zahl der über 85-Jährigen von 1971 bis 2003 um 128 % Inflationsrate (2003): 1,5 % Arbeitslosigkeit (2003): 5,9 % Einwohner je Arzt: 611 Quellen: www.statistics.gov.uk und »Harenberg Aktuell 2005«, Meyers Lexikonverlag Im gewohnten Umfeld bleiben. »Ein wichtiger Teil meiner Arbeit besteht darin, den Angehörigen von Patienten Tipps zu geben, wie sie meine Arbeit wirkungsvoll unterstützen können«, berichtet Teresa Davis. »Viele meiner Diabetes-Patienten werden von mir ambulant versorgt. Ich gebe den Hausärzten der Patienten zum Beispiel die neuesten Blutwerte durch. Das hat für den Patienten den Vorteil, dass er nicht selbst in die Arztpraxis gehen muss.« Ein ähnliches ambulantes Versorgungsprinzip gibt es für Krebspatienten. Auch hier ist die District Nurse befugt, Chemotherapie selbst vorzunehmen beziehungsweise den Patienten regelmäßig mit starken Schmerzmitteln wie Morphium zu versorgen. Das erspart dem Patienten viele Krankenhausaufenthalte. Freilich: »Die meiste Zeit verbringe ich mit ganz gewöhnlichen und wenig spektakulären Dingen wie Fiebermessen, dem Wechseln von Verbänden und Ernährungsratschlägen«, so Teresa Davis. »Das ist genau wie in den meisten anderen Berufen auch. 90 Prozent ist Routine-Arbeit. Aber eben diese Routine hilft meinen Patienten, damit sie einen weiteren Tag relativ frei und unabhängig im gewohnten Umfeld bleiben können. Das ist schon ein sehr gutes Gefühl!« ■ Arndt Striegler ist freier Journalist, lebt in England und berichtet von dort für verschiedene deutsche Zeitungen. Kontakt: [email protected] 10 Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang Foto: photothek.net Eine Altenpflegeausbildung wie in Deutschland gibt es in Großbritannien dagegen nicht. Der Staat bietet lediglich einen sechsmonatigen Schnellkurs für die Altenpflege an. Wohltätige Organisationen, wie beispielsweise Age Concern, vermitteln in Kursen rudimentäre Kenntnisse für die Altenpflege. Eine britische District Nurse verdient durchschnittlich zwischen 36.000 bis 39.000 Euro brutto im Jahr. Verfügt die District Nurse über die genannten Zusatzqualifikationen und wird zu einem Nurse Consultant befördert, so kann das Jahresgehalt auf umgerechnet bis zu 76.000 Euro steigen. Grundsätzlich gilt: Je länger die Pflegekraft im Beruf ist, desto besser verdient sie. Allerdings fehlen in Großbritannien seit Jahren qualifizierte Pflegekräfte. Das hat das Londoner Gesundheitsministerium wiederholt dazu veranlasst, im Ausland Pflegekräfte anzuwerben. Dieses Vorgehen ist umstritten, da viele der neu in Großbritannien arbeitenden Pflegekräfte aus ärmeren Ländern kommen, die nicht einmal für ihren eigenen Bedarf genug qualifiziertes Gesundheitspersonal haben. EUROPA Was Familien leisten Prozent aller Betreuungsbedürftigen zeigen Verhaltenauffälligkeiten. Der Betreuungsaufwand liegt bei durchschnittlich 45,6 Stunden pro Woche. Nicht einmal ein Drittel der betreuenden Angehörigen hatten in den sechs Monaten vor der Befragung einen Unterstützungsdienst in Anspruch genommen. Jedoch hatten 94 Prozent der Pflegebedürftigen mindestens einen Gesundheits- oder Sozialdienst zur Hilfe. In allen Ländern erachten pflegende Angehörige Informationen über die Verfügbarkeit von Hilfen und Diensten als besonders wichtig. Sich um pflegebedürftige Angehörige kümmern: Das betrachten viele als familiäre Aufgabe. EUROFAMCARE, ein von der Europäischen Union gefördertes Forschungsprojekt, untersuchte Belastungen und Bedürfnisse pflegender Angehöriger in Deutschland, Griechenland, Italien, Polen, Schweden und dem Vereinigten Königreich. D azu befragten die Forscher in den Jahren 2004 und 2005 5.923 Frauen und Männer, die sich selbst als Hauptbetreuungsperson eines 65-jährigen oder älteren Familienmitglieds definieren. Erste Ergebnisse der Befragung liegen nun vor. Die pflegebedürftigen Familienmitglieder sind durchschnittlich 80 Jahre, die sie betreuenden Verwandten 55 Jahre alt. 80 Prozent der Befragten nennen körperliche Einschränkungen als Hauptbetreuungsgrund. Weniger als elf Prozent der Befragten geben kognitive Beeinträchtigungen als Hauptursache an, obgleich die Pflegenden in 46 Prozent aller Fälle von Gedächtnisproblemen ihrer Angehörigen berichten. 34 Mehr Infos: Dr. Hanneli Döhner, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Medizin-Soziologie, Sozialgerontologie [email protected] www.uke.uni-hamburg.de/eurofamcare Europa altert: Die Zukunft gehört den Senioren Auf je 100 Einwohner im Alter von 15 bis 64 Jahren kommen so viele Ältere* 2005 Italien Griechenland Deutschland Belgien Schweden Schweiz Spanien Frankreich Österreich Portugal Finnland Lettland Estland Großbritannien Dänemark Litauen Slowenien Ungarn Niederlande Tschechien Luxemburg Polen Irland Slowakei * 65 Jahre und älter Türkei Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang 29 28 28 27 27 26 25 25 24 24 24 24 24 24 23 23 22 22 21 20 20 18 17 16 9 Prognose für 2040 63 54 50 47 47 58 57 45 54 46 45 44 42 38 45 40 53 40 44 47 34 37 32 36 22 Quelle: Globus, nach statistischen Angaben des Verbands Deutscher Rentenversicherungsträger und der Vereinten Nationen 11 Heidi Nadolski ist Diplom-Volkswirtin und lebte von 2000 bis 2005 in den USA, von wo aus sie unter anderem für die Weltbank und die Kassenärztliche Bundesvereinigung arbeitete. USA Pflege ist Privatsache Alt werden im Land der unbegrenzten Möglichkeiten: Dafür müssen Amerikaner selbst gut vorsorgen. Denn für die Kosten von Pflegebedürftigkeit kommt der Staat nur mit Einschränkungen auf. Heidi Nadolski erläutert, welche Hilfen es gibt. »Die Amerikaner tragen ihre Pflegekosten größtenteils selbst. Über 80 Prozent aller Pflegebedürftigen leben zu Hause, wo sie meist – nämlich zu fast 80 Prozent – nicht von bezahltem Personal, sondern von Familienangehörigen versorgt werden. Die Kosten für ein Jahr im Pflegeheim variieren zwischen 40.000 und 80.000 Dollar. Das lässt alle Ersparnisse schnell schmelzen. Zur Versicherung des Pflegerisikos bietet der private Versicherungsmarkt spezielle Langzeitpflegeversicherungen, »long-term-care- insurances«, an. Der Staat kommt über die Krankenversicherung Medicaid für die Pflegeleistungen der Armen auf. Bei der Einschätzung der Pflegebedürftigkeit wird unterschieden zwischen instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens (instrumentel activities of daily living) wie Einkaufen gehen, Haus rei- »40 Prozent der älteren Pflegebedürftigen in den USA gelten als arm.« nigen, finanzielle Verantwortlichkeit und Aktivitäten des täglichen Lebens (acitvities of daily living) wie Aufstehen, Essen, Anziehen, körperliche Reinigung. Sowohl die meisten privaten als auch die staatliche Versicherung leisten erst Hilfe, wenn mindestens zwei Aktivitäten des täglichen Lebens nicht mehr ausgeübt werden können. Was und für wen zahlt Medicaid? »Die Armen-Krankenversicherung Medicaid kommt in eingeschränkter Form für Pflegekosten auf. Medicaid ist ein Programm dessen Finanzierung sich der Bund und die Bundesstaaten teilen. Organisation und Ausgestaltung obliegen den einzelnen Staaten. Daher sind die Regelungen, ab wann und in welcher Form Hilfen gewährt werden, sehr unterschiedlich. 40 Prozent der älteren Pflegebedürftigen gelten als arm. Sie hatten im Jahre 2005 weniger als 14.355 Dollar zur Verfügung. Doch um 12 in eine Medicaid-Einrichtung aufgenommen zu werden oder finanzielle Hilfe für häusliche Pflege zu erhalten, muss ein Leistungsberechtigter noch weniger Geld haben: Eine alleinstehende Person muss vorher alle Mittel bis auf 2.000 Dollar verbraucht haben. Dabei werden eine kleine Wohnung, ein Auto und zukünftige Beerdigungskosten nicht angerechnet. Zwei von drei Pflegebedürftigen in einem Pflegeheim bekommen Zuschüsse von Medicaid. Diese Kosten machen den größten Teil der Medicaid-Ausgaben insgesamt aus und sind eine enorme Belastung für die Bundesstaaten. Für welche Kosten kommt Medicare auf? »Medicare ist das staatliche Programm zur Gesundheitsversorgung der über 65-Jährigen und ausgewählter anderer Gruppen, wie beispielsweise Dialysepatienten. Im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt übernimmt Medicare die Kosten für die notwendige medizinische Versorgung zu Hause, allerdings nur bis zu 35 Stunden pro Woche und das nur für 100 Tage. Ansonsten zahlt Medicare bei der häuslichen Pflege in eingeschränkter Form medizinische Hilfen von geschultem Fachpersonal, aber keine Hilfen zum täglichen Leben. Viele Rentner können die hohen Arzneimittelrechnungen nicht bezahlen. Deshalb gibt es dafür jetzt eine Zusatzversicherung. Wie sieht sie aus? »Im November 2003 verabschiedete der Kongress eine Medicare-GesundGesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang Fotos: photothek.net; privat Wie wird die Langzeitpflege in den USA finanziert? 3,5% Im Jahr 2000 waren etwa 9,5 Millionen US-Amerikaner (rund 3,5 % der Bevölkerung) auf Pflege angewiesen. Gut die Hälfte der Pflegebedürftigen wurden als stark pflegebedürftig eingeschätzt. Der größte Teil aller Pflegebedürftigen, 83 % im Jahre 2004, lebt zu Hause. Im Jahr 1997 lebten 1,5 Millionen Amerikaner über 65 Jahren in Pflegeheimen. 53% 53 Prozent aller Pflegebedürftigen sind über 65 Jahre alt. Der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung beträgt rund zwölf Prozent (35,9 Millionen). 83% Und welche Kosten deckt die Arzneimittelversicherung ab? Die Arzneimittelversicherung, als dritte Säule neben den Leistungen im ambulanten und dem stationären Sektor eingeführt, ist freiwillig. Gegen einen monatlichen Beitrag von anfangs durchschnittlich 35 Dollar können MedicareVersicherte Hilfen beziehen. Entweder unterzeichnen sie eine zusätzliche Arzneimittelversicherung mit Medicare oder sie wählen eine private Versicherung, die Medicare-Leistungen anbietet. Das System ist aber lückenhaft: So erhält der Versicherte beispielsweise keine Hilfen bei den ersten 250 ausgegebeGesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang Die Vereinigten Staaten setzen stärker als andere westliche Staaten in der Pflege auf Eigenverantwortung – warum? »In den USA besteht generell ein großes 27 Millionen Die US-Regierung schätzt, dass sich die Zahl von Pflegebedürftigen, die auf bezahlte professionelle Hilfe angewiesen sind, zwischen 2000 und 2050 verdoppeln wird: von derzeit 15 auf 27 Millionen. Quelle: www.census.gov und www.hhs.gov heitsreform, die als Hauptbestandteil eine Arzneimittelversicherung für Rentner eingeführt hat. Die Reform brachte den Senioren aber nicht nur die ersehnten Hilfen bei Medikamentenkosten, sondern veränderte das System auch strukturell und öffnete es für die Privatwirtschaft. Die Einführung der Arzneimittelversicherung ab 2006 ist der größte und ausgabenträchtigste Posten der Medicare-Reform und soll nach neuesten Berechnungen bis zum Jahr 2014 etwa 1,1 Billionen Dollar kosten. heimen, allerdings nur in Einrichtungen, die mit den HMOs zusammenarbeiten. Langzeitpflege wird von Medicare-HMOs nicht bezahlt. nen Dollar, sowie bei Ausgaben zwischen 2.250 und 5.100 Dollar. Allerdings konnten Senioren bereits seit 2004 für circa 30 Dollar eine Arzneimittelkarte (discount card) erwerben, die pro Rezept Ersparnisse von 15 bis 25 Prozent bringt. Die Kartenbesitzer verpflichten sich jedoch, auf Wahlmöglichkeiten bei Medikamenten zu verzichten und bekommen unter anderem Generika statt Originalpräparate. Jeder Pharmakonzern, der daran interessiert ist, mit Medicare zusammen eine Medicare-Discountkarte herauszugeben, muss für 200 Medikamentenkategorien jeweils mindestens eine Preisreduktion anbieten. Die Medicare-Discountkarte war als Soforthilfe gedacht und sollte die Zeit bis zur Arzneimittelversicherung im Jahre 2006 überbrücken. Welche Rolle spielen die Health-Maintainance-Organizations (HMOs) bei der Pflege älterer Menschen? »Einige Medicare-Versicherte beziehen ihre Leistungen nicht direkt über Medicare, sondern über eine MedicareHMO, also private Managed-Care-Anbieter. Diese HMOs bezahlen zum Teil den kurzfristigen Aufenthalt in Pflege- Interesse daran, ein eigenverantwortliches und unabhängiges Leben zu führen. Die Industrie entwickelt Hilfen, die es Menschen mit Behinderungen erlauben, ein eigenständiges Leben zu führen oder die die Pflege zu Hause ermöglichen. Dazu gehören nicht nur Technologien wie spezielle Aufzüge, um auch mit Gehbehinderung in höhere Stockwerke zu gelangen, sondern beispielsweise auch häusliche Sicherheitssysteme, über die alleinlebende Behinderte regelmäßige Kontakte mit der Außenwelt pflegen können und im Notfall schnell Hilfe erhalten. Auch nutzen in den USA Senioren das Internet sehr stark, zum Beispiel um Lebensmittel zu bestellen und ihren Arzt zu kontaktieren. Allgemein ist in Amerika das Klima sehr behindertenfreundlich. Öffentliche Einrichtungen und Kaufhäuser sind meistens behindertengerecht gebaut. Das ermöglicht Menschen mit Behinderungen eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. ■ Zahlen und Fakten Staatsform: Präsidiale Bundesrepublik Einwohner: 294 Millionen In der Hauptstadt Washington leben 572.000 Einwohner Neugeborene pro 1.000 Einwohner (2002): 13,9 Zunahme der Zahl der über 65-Jährigen von 1993 bis 2003 um 9,5 % Inflationsrate (2003): 2,3 % Arbeitslosigkeit (2003): 6,0 % Einwohner je Arzt: 381 Quellen: www.aoa.gov, www.firstgov.gov und »Harenberg Aktuell 2005«, Meyers Lexikonverlag 13 JAPAN Pflege nach Plan Wie in Deutschland – und doch anders: Japan führte vor wenigen Jahren die Pflegeversicherung ein und will damit vor allem die Familien entlasten. Zu den japanischen Besonderheiten gehört das Care-Management, das die Pflege koordiniert. Von Cornelia Wanke und Änne Töpfer * Das zahlt die japanische Pflegeversicherung Anfang 2005 versicherte die japanische Pflegeversicherung rund 25 Millionen über 65-Jährige. Rund vier Millionen Japaner wurden als hilfeoder pflegebedürftig eingestuft, darunter mehr als doppelt so viele Frauen wie Männer. Nahezu o,7 Millionen galten als hilfebedürftig, etwa 1,3 Millionen Versicherte waren in Pflegestufe I eingestuft. Rund eine halbe Millionen Japaner waren schwer pflegebedürftig und der Pflegestufe V zugeordnet. Im Januar 2005 erhielten rund 3,2 Millionen Versicherte Leistungen aus der Pflegeversicherung, darunter 2,46 Millionen Versicherte ambulante Leistungen und 0,77 Millionen Versicherte stationäre Leistungen. Die Ausgaben der japanischen Pflegeversicherung beliefen sich von April 2005 bis März 2006 auf umgerechnet rund 42 Milliarden Euro (Hochrechnung). Damit haben sich die Ausgaben der Pflegeversicherung seit ihrer Gründung im Jahr 2000 fast verdoppelt. Quelle: Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt, Tokyo, Japan 14 Pflegeversicherung (PVG) trat am 1. April 2000 in Kraft. Die Zahl der Nutzer der ambulanten Pflege und der ambulanten Dienste stieg seitdem sprunghaft an. Doch immer noch gibt es Lücken und weiteren Reformbedarf. Deshalb wurde im Juni 2005 ein Änderungsgesetz zum Pflegeversicherungsgesetz erlassen, das am 1. April 2006 in Kraft tritt (siehe unten). Gemeinden stehen im Zentrum der Pflegeversicherung. Das derzeitige Pflegeversicherungsgesetz zielt darauf ab, dass Menschen, die körperlich oder/und psychisch pflegebedürftig sind, soweit wie möglich ein selbstständiges Leben führen können. Dazu sind ihnen die notwendigen Leistungen im Gesundheitswesen, die notwendige medizinische Behandlung sowie soziale Dienste zu gewähren (Paragraf 1 PVG). Für die Bereitstellung dieser Leistungen sind in Japan die Gemeinden zuständig. Sie unterscheiden sich hinsichtlich Einwohnerzahl, Versichertenstruktur und finanzieller Ausstattung jedoch erheblich. Weil viele Gemeinden gar nicht fähig wären, die Versorgung ihrer pflegebedürftigen Einwohner allein sicherzustellen, können sie sich zu Ortsverbänden zusammenschließen. Die Gemeinden werden von den Präfekturen – den staatlichen Mittelbehörden – unterstützt. Diese lassen die Leistungserbringer zu und richten Beschwerdestellen ein. Der Staat fördert die Pflegeeinrichtungen lediglich und soll für eine reibungslose Inanspruchnahme sorgen. Im Gesetz ist vorgeschrieben, dass Pflegeversicherung und gesetzliche Krankenversicherung zusammenarbeiten und dass die Versicherten eine gewisse Eigenverantwortung tragen. In Japan sind die Gemeinden aber nicht nur für die Bereitstellung der Pflegeleistungen verantwortlich, sondern sie sind auch Träger der Pflegeversicherung und der Volkskrankenversicherung für die über 75-Jährigen. Alle über 40 können sich versichern. Der in der Pflegeversicherung versicherte Personenkreis umfasst zum einen Menschen ab 65 Jahren mit Wohnsitz in Japan, unabhängig von Einkommen und Staatszugehörigkeit. Die zweite Gruppe umfasst alle gesetzlich Krankenversicherten sowie deren Mitversicherte zwischen 40 und 64 Jahren. Die erste Gruppe bekommt von ihrer Gemeinde ohne Aufforderung einen Versichertenausweis zugeschickt. Letztere müssen bei Bedarf einen Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang Foto: © Mark Henley / PANOS / VISUM D ie Pflege alter Menschen galt in Japan lange Zeit als Aufgabe der Familie. Deshalb regelte das Wohlfahrtsgesetz von 1963 lediglich die Pflege für Arme und Alleinstehende – für sie gab es Heime. Familien empfanden es als Schande, auf öffentliche Hilfe für pflegebedürftige Angehörige angewiesen zu sein, denn für Japaner ist das ein Ausdruck von Versagen und Kaltherzigkeit. Wenn Familien sich nicht in der Lage sahen, selbst die Pflege zu übernehmen, brachten sie ihre Verwandten eher in spezielle private Krankenhäuser als in die öffentlichen Pflegeheime. Um die Belastung der Familien und der gesetzlichen Krankenversicherung zu verringern, baute Japan dann Ende der neunziger Jahre innerhalb kurzer Zeit die Infrastruktur für die häusliche Pflege aus. Zu diesem Zweck wurde eine Pflegeversicherung nach deutschem Vorbild geschaffen. Das Gesetz zur Ausweis beantragen. Bei der Inanspruchnahme von Leistungen der Pflegeversicherung wird zwischen Hilfebedürftigen und Pflegebedürftigen nach dem Änderungsgesetz 2005 unterschieden. Pflegebedürftig sind Menschen, die wegen einer physischen oder psychischen Behinderung für die Verrichtungen des täglichen Lebens ständig Hilfe benötigen. Hilfebedürftig sind Menschen, bei denen die Gefahr besteht, dass sie pflegebedürftig werden. Wenn die betroffene Person zudem zwischen 40 und 64 Jahren alt ist, wird vorausgesetzt, dass ihre Hilfe- oder Pflegebedürftigkeit durch eine altersbedingte Krankheit verursacht wurde. Welche Krankheiten dazu gehören, ist in einem Ministerialerlass aufgeführt. Foto: © Avenue Images 79 Fragen beantworten. Leistungen der Pflegeversicherung muss der Versicherte bei der Gemeinde beantragen. In einer zweistufigen Begutachtung stellen die Verantwortlichen fest, ob der Versicherte pflegebedürftig ist und ordnen ihm eine Pflegestufe zu. Dazu besucht entweder ein Angestellter der Gemeinde oder ein von ihr beauftragter Care-Manager (siehe Kasten »Das Care-Management«), der nach dem Änderungsgesetz 2005 nur unter bestimmten Bedingungen dazu zugelassen wird, den Versicherten. Dieser begutachtet den körperlichen und seelischen Zustand des Antragstellers sowie dessen häusliche Umgebung. Zudem füllt er gemeinsam mit ihm einen Bogen mit 79 Fragen aus. Dort werden auch Besonderheiten (z. B. Demenzerkrankung) eingetragen. Der Fragebogen wird mittels standardisierter Software ausgewertet. Außerdem wird der Hausarzt des Antragsstellers befragt. Beide Gutachten werden einer Kommission bei der Gemeinde zugesandt. Deren Mitglieder (u. a. Ärzte, Heimleiter und Krankenschwestern) entscheiden dann über Pflege- und Hilfebedürftigkeit sowie darüber, welcher der fünf Pflegestufen der Versicherte zugeordnet wird. Wer nur wenig Unterstützung benötigt, wird in Japan als »hilfebedürftig« eingestuft und erhält ebenfalls Leistungen aus der Pflegeversicherung. Die Hilfebedürftigen werden nach dem Änderungsgesetz 2005 zwei Stufen zugeordnet und können nicht mehr nur hauswirtschaftliche Hilfen, sondern auch Leistungen zur Vorbeugung der Pflegebedürftigkeit erhalten. Zur Stufe II gehören viele Pflegebedürftige der bisherigen Pflegestufe I. Um weiter Leistungen zu erhalten, muss ein Pflege- oder Hilfebdürftiger alle zwölf Monate einen Erneuerungsantrag stellen. Was zu den ambulanten Leistungen gehört. Wie in Deutschland wird auch in Japan zwischen stationärer und häuslicher Pflege unterschieden. Zu den häuslichen Leistungen zählen ambulante Pflege und hauswirtschaftliche Versorgung, ambulante Krankenpflege und ambulante Rehabilitation (Physiotherapie, Beschäftigungstherapie und andere) sowie Tages- und Kurzzeitpflege. Auch die Versorgung in Wohngemeinschaften für Demenz-Patienten gehört dazu. Außerdem Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang Das Care-Management Eine Besonderheit der japanischen Pflegeversicherung ist das CareManagement. Voraussetzung für die Zulassung als Care-Manager ist eine Ausbildung in einem Pflege- oder Gesundheitsberuf wie Arzt, Apotheker, Krankenschwester, Sozialarbeiter und Altenpfleger sowie Heilmasseur und Hilfsmittelhändler, mindestens fünf Jahre Berufserfahrung, eine Prüfung und die Teilnahme an einem Vorbereitungskurs. Wichtigste Aufgabe eines Care-Managers ist die Aufstellung von Pflegeplänen. Jeder Empfänger von ambulanten Pflegeleistungen erhält einen Pflegeplan, den der CareManager unter Berücksichtigung des Budgets der jeweiligen Pflegestufe aufstellt. Die Pflegepläne können jederzeit in Absprache mit dem Pflegebedürftigen und dessen Angehörigen angepasst werden. Spätestens nach sechs Monaten werden die Pläne überprüft. Der Care-Manager koordiniert im ambulanten Bereich die Leistungserbringer, die sich an der Pflege seines Klienten beteiligen. Um die Pflegequalität zu sichern und zu verbessern, ist die Kompetenz des Care-Managers sehr wichtig. Die aktuelle Pflegereform enthält daher Vorschriften zur Prüfung des Care-Managers, sowie zu seinen Aufgaben und Pflichten. zahlt die Pflegeversicherung Zuschüsse beim Hilfsmittelkauf oder beim Wohnungsumbau. Bei den häuslichen Leistungen müssen die Versicherten einen Eigenanteil von zehn Prozent der Kosten tragen. Zudem müssen sie einen Vertrag mit einer Einrichtung zum Care-Management schließen. Diese stellt ihnen einen Care-Manager zur Seite, der sie hinsichtlich der Zusammenstellung der Leistungen berät, einen Pflegeplan aufstellt und dessen Einhaltung kontrolliert. Diese Einrichtung wickelt aber auch die Vergütung der Leistungserbringer ab. Versicherte, die keinen Vertrag mit solch einer Einrichtung schließen, müssen die Gesamtkosten für die Leistungen vorschießen, können sich aber anschließend 90 Prozent der Summe von der Gemeinde erstatten lassen. Die japanische Pflegeversicherung gewährt lediglich Sachund Dienstleistungen und zahlt keine Geldleistungen an die Versicherten aus. Mit einem Pflegegeld, wie in Deutschland üblich, fürchtete man in Japan, den sozialen Druck auf Töchter und Schwiegertöchter von Pflegebedürftigen zu erhöhen. Diese könnten sich dann noch stärker in der Pflicht fühlen, die Pflege ihrer Angehörigen selbst zu übernehmen. 15 JAPAN 2001 musste ein Pflegebedürftiger, der in Pflegestufe IV eingestuft und in einem Altenpflegeheim lebte, etwa 400 Euro monatlich selbst aufbringen. Ähnliche Eigenanteile trugen die Pflegebedürftigen jedoch auch in der ambulanten Pflege. Daher bestand kaum ein finanzieller Anreiz, möglichst lange zu Hause zu bleiben. 2003 wurden die Leistungen zur stationären Pflege reduziert und nach der Änderungsgesetz 2005 nochmals gesenkt. Ab Oktober 2005 muss ein Pflegebedürftiger umgerechnet mehr als 740 Euro zahlen, wenn er in einem Einzelzimmer wohnt. Stufen Zeitaufwand für Pflege (Minuten) Hilfebedürftige 25 – 30 Pflegebedürftige Stufe 1 30 – 50 Stufe 2 50 – 70 Stufe 3 70 – 90 Stufe 4 90 – 110 Stufe 5 110 und mehr Stationäre Pflege ist relativ preiswert. Zu den stationären Leistungen zählen das Aufstellen eines Pflegeplans durch Pflegereform fördert die Prävention. Da auch in Japan die einen bei einer stationären Einrichtung angestellten Care-Ma- Zahl der Alten und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung in nager, Unterkunft, Verpflegung, Betreuung und Krankenpfle- naher Zukunft stark zunehmen wird, steht die Pflegeversicherung hinsichtlich ihrer Finanzierung und ihge. Die Versicherten können diese Leistunrer Leistungen unter Reformdruck. Die im gen nur in bestimmten Einrichtungen erhalSeine Angehörigen April 2006 in Kraft tretende Reform enthält ten: in Altenpflegeheimen, Krankenpflegeals Schwerpunkte unter anderem die Veränheimen sowie in Spezialkliniken und Abteiins Heim zu geben, derung der Präventionsleistungen, Verändelungen von Krankenhäusern mit Pflegebetgilt als kaltherzig. rungen in der Kostenübernahme für stationäten zur langfristigen medizinischen Behandre Leistungen mit dem Ziel, die ambulante lung unheilbar kranker älterer Menschen. In Krankenpflegeheimen erhalten aus dem Krankenhaus entlas- Pflege zu stärken, die Einführung von Qualitätsprüfungen, sene Patienten Rehabilitation, damit sie wieder zu Hause le- eine Veränderung der Beitragsstufen und Änderungen bei den Staatszuschüssen für die Infrastruktur der Präfekturen. ben können. Die Reform sieht vor, verschiedene Leistungen für HilfebeVersicherte, die stationär gepflegt werden, müssen – wie in der ambulanten Pflege – einen Eigenanteil von zehn Prozent dürfige und Pflegebedürftige der Stufe I abzuschaffen oder tragen und einen vom Einkommen abhängigen Betrag für umzuformen. Hintergrund: Private Anbieter haben zum Unterkunft und Verpflegung zahlen. Unter Umständen müs- Zwecke der Gewinnmaximierung die Leistungsanträge der sen sie auch anteilig für die Investitionskosten der Einrichtun- Versicherten auf dieser Stufe stark gefördert, die Ausgaben schossen in die Höhe. Dafür werden nun verschiedene gen aufkommen. 16 Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang Foto: © Andreas Koerner/unlike by STOCK4B Die Pflegestufen (bis 31. März 2006) Finanzierung aus mehreren Quellen. Die Kosten für die Leistungen der Pflegeversicherung werden jeweils zur Hälfte über Beiträge und öffentliche Zuschüsse gedeckt. 12,5 Prozent der Kosten tragen die Gemeinden und die Präfekturen, weitere 25 Prozent der Staat. Fünf Prozent der Staatsbeteiligung bleiben in der Anpassungskasse, die die unterschiedliche Risikostruktur der Gemeinden (Zahl der über 65-Jährigen und Einkommen) ausgleicht. Diese fünf Prozent müssen durch die Systemänderung des Staatszuschusses ab April 2006 die Präfekturen tragen. Die verbleibenden 50 Prozent der Leistungen werden aus den Beiträgen der Versicherten finanziert. Von dieser Hälfte stammen etwa 19 Prozent aus den Beiträgen der über 64-Jährigen und 31 Prozent von den jüngeren Versicherten (40- bis 64-Jährige). Die Beiträge der Versicherten ab 65 Jahre werden von den Gemeinden nach dem Einkommen gestaffelt festgelegt und nicht prozentual erhoben. Die Versicherten zwischen 40 Jahren und 65 Jahren zahlen einen Zuschlag zum prozentual berechneten Krankenversicherungsbeitrag. Daraus finanziert jeder Krankenversicherungsträger seinen Teil der Umlage an die Pflegeversicherung. I N TE RV I E W »Wir müssen die Ausgaben für Pflege senken« Was hat sich in der japanischen Pflegeversicherung bewährt? Miyoko Motozawa: Das Care-Management ist sicherlich ein wichtiges und bewährtes Element der japanischen Pflegeversicherung. Wenn der Care-Manager fähig und zuverlässig ist, kann er die alten und pflegebedürftigen Menschen sinnvoll unterstützen, damit sie sich im vielfältigen Angebot der Pflegedienstleistungen zurechtzufinden. Die vom Care-Manager in Absprache mit den Pflegebedürftigen und deren Angehörigen aufgestellten Pflegepläne helfen, den individuellen Pflege- und Hilfebedarf besser zu berücksichtigen. Ferner können die Care-Manager, wenn sie richtig arbeiten, dazu beitragen, Ausgaben zu sparen. Die mit dem aktuellen Änderungsgesetz zur Pflegeversicherung eingeführten Vorbeugungsmaßnahmen könnten in Zukunft ebenfalls Gutes be- Mit welchen Problemen hat die japanische Pflegeversicherung zu kämpfen? »Ich meine, zu den Hauptproblemen gehören die Vorurteile in Bezug auf die Altenpflege. Mit der Einführung der Pflegeversicherung hat man es zumindest geschafft, dass die Japaner offen über die Altenpflege sprechen und Pflegeleistungen ohne Scheu in Anspruch nehmen. Die aktuelle Pflegereform hat vor allem zum Ziel, die Ausgaben für Pflege zu senken. Momentan lässt sich aber noch nicht abschätzen, ob die Ansätze der Reform wirklich greifen. Wie können die Probleme in Zukunft gelöst werden? Foto: privat Präventionsleistungen neu eingeführt. Zu den präventiven Leistungen gehören beispielsweise Gymnastik zum Muskelaufbau, Ernährungsberatung und Programme zur Förderung der Kommunikation und gesellschaftlichen Teilhabe. Die Voraussetzungen für den Anspruch werden strenger: Hilfeund Pflegebedürftige erhalten die Präventionsleistungen nur, wenn erwartet werden kann, dass ihre Selbständigkeit mit diesen Leistungen erhalten oder gefördert wird. Aufbau regionaler Hilfezentren. Für die über 65-jährigen Versicherten sieht die Pflegereform so genannte Regionalhilfeleistungen vor. Diese Leistungen ähneln den Leistungen der Gesundheitspflege für die Älteren, die bisher von den Krankenversicherungsträgern sowie dem Staat, den Präfekturen udn den Gemeinden getragen wurden: Gesundheitsschulung, Gesundheitsberatung und Gesundheitsuntersuchung. Sowohl die neuen Präventionsleistungen als auch die Regionalhilfeleistungen werden nur nach einem Pflegeplan gewährt, den ein Care-Manager eines der neu gegründeten regionalen Hilfezentren (so genannte »Regionaltotalhilfezentren«, jeweils für 20.000 bis 30.000 Einwohnern zuständig) erstellt. Die regionalen Hilfezentren sollen neben der Erstellung der Pflegepläne für die Präventionsleistungen weitere wichtige Aufgaben übernehmen: die Beratung von Care-Managern in schwierigen Fällen, die Beratung von Demenz-Patienten und ihren Angehörigen und die Erstellung von Pflegeplänen für Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang Professorin Dr. Miyoko Motozawa, Institut für Sozialwissenschaften der Universität Tsukuba, Japan wirken, wenn das Konzept wie geplant funktioniert. Im Idealfall hilft die Prävention, schwere Pflegebedürftigkeit zu verhindern oder aufzuschieben. »Niemand hat eine Patentlösung parat. Wir können die Erfahrungen aus dem Ausland nutzen, wie bei der aktuellen Reform. In Zukunft wird man sicher die niedrigen Pflegestufen abschaffen müssen. Ferner muss man möglicherweise die Altersgrenze der Versicherten in der ersten Gruppe – heute die über 65-Jährigen – erhöhen. In jedem Fall muss man weiterhin versuchen, die Ausgaben der Pflegeversicherung zu senken. die ambulante Pflege von Menschen mit Behinderungen. Die Arbeit der regionalen Hilfezentren soll dazu beitragen, die Leistungskosten der Pflegeversicherung zu senken und die Pflegequalität zu erhöhen. ■ * Dieser Beitrag beruht auf den Veröffentlichungen »Die Probleme der japanischen Pflegeversicherung« und »Kommunale Sozialpolitik in der japanischen alternden Gesellschaft« von Professorin Dr. Miyoko Motozawa vom Institut für Sozialwissenschaften der Universität Tsukuba, Japan (siehe Interview). Kontakt: [email protected] Zahlen und Fakten Landesfläche: 377.801 km2 Staatsform: Parlamentarische Monarchie Einwohner: 127,7 Millionen in der Hauptstadt Tokio leben 11,8 Millionen Einwohner Neugeborene pro 1.000 Einwohner (2002): 9,2 Inflationsrate (2003): -0,2 % Arbeitslosigkeit (2003): 5,3 % Einwohner je Arzt: 610 Quellen: http://portal.stat.go.jp/PubStat/topE.html und »Harenberg Aktuell 2005«, Meyers Lexikonverlag 17 DEUTSCHLAND Im Heim zu Hause sein Fast jeder will in den eigenen vier Wänden alt werden. Dennoch ziehen viele Senioren irgendwann ins Heim, weil sie beispielsweise wegen einer Demenz Hilfe benötigen. Was Pflegeeinrichtungen tun, damit sich ihre Bewohner wohlfühlen, berichtet Cornelia Wanke am Beispiel des Sophienhofs. schon unter diesen Umständen seinen Lebensabend im Pflegeheim verbringen? Mit diesem Vorurteil kämpfen auch die Mitarbeiter der Wohnanlage Sophienhof. Doch wer die Einrichtung in Niederzier bei Düren im Rheinland besucht, nimmt ganz andere Eindrücke mit nach Hause. Die Gewohnheiten berücksichtigen. Burga Kuchem lädt zum Rundgang durch den Sophienhof ein – und wird an jeder Ecke des Flures freundlich gegrüßt. Ein Schwätzchen hier, ein paar Streicheleinheiten da – nur Frau Schneider huscht an der Pflegedienstleiterin vorbei: »Junge Frau – heut hab’ ich keine Zeit für Sie, ich muss noch was arbeiten«, sagt die grauhaarige alte Dame. Offene Türen, helle Räume, lautes Lachen. »Wir sind hier sehr bewohnerorientiert«, sagt Pflegedienstleiterin Burga Kuchem, die seit einem Jahr im Sophienhof arbeitet. Und sie hat erfahren, dass es so leicht ist, »diese Menschen glücklich zu machen, wenn man ihnen nur zuhört«. Zum Beispiel Frau Schneider (Name von der Redaktion geändert): Die immer noch rüstige Frau wird jeden Tag um Punkt 17 Uhr ganz unruhig. »Wir haben uns also Gedanken gemacht, mit ihr gesprochen und herausgefunden, dass ihr Mann 40 Jahre lang um diese Uhrzeit von der Arbeit nach Hause kam«, erzählt die Pflegedienstleiterin. »Da musste das Essen auf dem Tisch stehen.« Im Sophienhof versucht man nicht, die demenzkranke Frau in diesem Drang zu bremsen, sondern bestärkt sie noch: Frau Schneider darf nun immer um diese Uhrzeit den Tisch für ihre Mitbewohnerinnen decken. Im Fachjargon nenne man das »integrative Validation« – den Menschen mit all seinen Gewohnheiten und Eigenheiten annehmen und schätzen. »Im Sophienhof wird kein Demenzkranker fixiert«, erzählt Burga Kuchem. Darauf sei man ganz besonders stolz. Die Kranken werden in den Tagesablauf eingebunden, nicht ausgegrenzt. Hier arbeiten die Schwestern nicht hinter Glas, hier sind die alten Menschen keine Zimmernummern, hier leben Persönlichkeiten. Mit Klingel und Briefkasten. »Eheleute Klaus und Agnes Barnacky« steht auf einem hübsch verzierten Klingelschild. Neben der Zimmernummer 204 lächelt uns ein Familienfoto an, an den 18 Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang Fotos: Jürgen Schulzki E s riecht nach Kaffee, auf der Anrichte locken leckere Kuchen, die Tische sind mit duftig-bunten Sommersträußen dekoriert. Hier halten zwei ältere Damen einen kleinen Plausch. Dort liest eine jüngere Frau die Infos am »schwarzen Brett«. Ein paar Meter weiter vertreiben sich ein paar Herren die Zeit beim Gesellschaftsspiel. Hätte man die Hinweisschilder nicht gelesen, so wähnte man sich in einem Hotel und keineswegs in einem Seniorenheim. »Im Sophienhof würde ich auch gerne alt werden«, hat ein Kollege gesagt. Und dafür skeptische Blicke geerntet. Pflegenotstand, schlecht ausgebildetes oder zu wenig Pflegepersonal, triste Räumlichkeiten, Langeweile. Wer will Fotos: Jürgen Schulzki Eingangstüren hängen Briefkästen. »Das hat nicht nur den Vorteil, dass sich die Bewohner hier ein Stück weit zuhause fühlen«, sagt Burga Kuchem, »sie finden sich auch besser im Haus zurecht.« Agnes Barnacky sitzt häkelnd auf ihrer Eckbank. An der Wand hängen Fotos von prachtvollen Blumengärten und lachenden Menschen. Dutzende von Eulen gucken von Bettdecken, Zinntellern und Stickbildern. »Ich liebe diese Tiere«, erzählt Frau Barnacky und verrät den Grund: Ihr Mann hatte ihr vor langer Zeit eine kleine PorzellanEule als Urlaubsandenken geschenkt. Seither hat sie über 500 Exemplare gesammelt. Die haben zwar nicht alle in ihrem Zimmer im Sophienhof Platz – aber immerhin: »Schwester Gisela hat gesagt, ich kann so viele mitbringen, wie ich will.« Agnes Barnacky fühlt sich sichtlich wohl im Sophienhof. Auch, wenn ihr die Entscheidung, in ein Pflegeheim zu ziehen, gar nicht leicht gefallen sei. Da waren doch das Haus, der Garten, die Tiere. »Aber irgendwann ging es nicht mehr«, erzählt sie mit trauriger Stimme. Als sie selbst krank wurde, hatte sie keine Kraft mehr, ihren Mann zu pflegen. Also suchte sie Hilfe, fand sie jedoch nicht sofort: »Entweder konnten die Einrichtungen meinen sterbenskranken Mann nicht aufnehmen, oder sie hatten kein gemeinsames Zimmer für Ehepaare«, erzählt Agnes Barnacky. Und sie hatte ihrem Mann ja versprochen: »Wo du hingehst, will auch ich hingehen...« Biographie, stellen uns die Frage, was ihn umtreibt und welche Dinge er vor seinem Tod noch in Ordnung bringen möchte«, sagt Gerda Graf. Der krebskranke Herr Gärtner zum Beispiel (Name von der Redaktion geändert) hat seine Familie verloren – weil er es nicht lassen konnte, immer wieder zur Flasche zu greifen. Im Sophienhof fand Herr Gärtner ein neues Zuhause. Dort entdeckte er sein Talent zum Bas- Demenzkranke nicht festbinden, sondern einbinden. teln und Heimwerken. Nun schraubt er, dübelt und sägt. Und am Ende eines Tages sieht er, was er geschafft hat – und hat dabei auch ein Stück seiner Vergangenheit aufgearbeitet. Heute steht Herr Gärtner stolz vor einem selbstgezimmerten Vogelhäuschen und erzählt von früher: Er habe auf dem Bau gearbeitet, sei oft auf Montage und kaum zu Hause gewesen. Er habe sich viel zu wenig Zeit für seine Familie genommen. »Ich bin froh, dass sich die Menschen hier so gut um mich kümmern.« Und er freut sich: »Ab und zu kommen mich sogar meine Geschwister besuchen.« Das Tabu Sterben ansprechen. Um solch eine umfassende Betreuung leisten zu können, werden die Mitarbeiter – von der Pflegekraft bis zum Küchenpersonal – ganz besonders geschult. Zum Beispiel in Psychologie und Rollenspielen. Ein Programmpunkt lautet: »Was würde ich tun, wenn ich nur noch 24 Stunden zu leben hätte?« Dass der Tod kein Tabu, sondern Thema im Sophienhof ist, dafür hat sich Gerda Graf stark gemacht. Seit neun Jahren arbeitet die Geschäftsführerin des Sophienhofs zusätzlich ehrenamtlich für die Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz. Was sie umtreibt? »Ich will dem Sterben Leben geben.« Gleich beim Einzug in den Sophienhof werden die zukünftigen Bewohner gefragt, wie sie sterben wollen. Das verblüffe die meisten, nehme aber oft auch großen Druck von ihnen, erzählt Gerda Die Lebensgeschichte betrachten. »Holde« heißt das Konzept, das Geschäftsführerin Gerda Graf im Sophienhof eingeführt hat. Holde steht für: Hospiz, Lebenswelten, Demenz. »Wir versuchen, die Menschen, die hierher kommen, in ihrer Ganzheit zu betrachten«. Dabei gehe es nicht nur darum, was der Körper braucht, sondern auch um die Spiritualität und Religiosität jedes Einzelnen. »Wir betrachten seine Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang 19 DEUTSCHLAND Das Mögliche erreichen. Schmerztherapie, Palliative-Care, Sterbebegleitung: »Wir versuchen, diese letzte Lebensphase so zu gestalten, dass sie für alle aushaltbar ist«, sagt Gerda Graf. Der größte Wunsch der Geschäftsführerin Weg dahin ist noch weit, weiß Gerda Graf. Doch sie geht ihn energisch weiter. »Das Unmögliche versuchen, damit wir das Mögliche erreichen«, heißt deshalb die Devise im Sophienhof. Und vieles lässt sich auch schon mit einfachen Mitteln machen. ist es denn auch, »betreutes Wohnen vom Einzug in den Sophienhof bis zum Sterben anbieten zu können.« Denn die Menschen sollen so lange wie möglich ein selbstständiges Leben führen können – davon träumt sie. Und davon, dass es irgendwann einmal eine funktionierende palliativmedizinische Versorgung in ganz Deutschland gibt. Der Leben im Sophienhof Die Wohnanlage Sophienhof wurde von der Sophienstiftung 1997 gebaut. Das Ehepaar Sophie und Viktor Schroeder hatte diese Stiftung gegründet, um die Lebenssituation alter Menschen zu verbessern. Im Sophienhof finden 88 alte und pflegebedürftige Menschen ein Zuhause, zudem gibt es 109 betreute Wohneinheiten. Diese befinden sich in 20 mehreren, um das Alten- und Pflegeheim gruppierten Gebäuden in Niederzier sowie in Düren-Birkesdorf. Konzept des Sophienhofs ist es, das Altern und die alten Menschen anzunehmen. Deshalb werden viele Veranstaltungen gemeinsam mit und für Menschen aus der Umgebung angeboten. Zudem können sich die Bewohner an zahlreichen Aktivitäten beteiligen: Yoga-Kurse, Kinoabende, Vorträge zur gesunden Ernährung, Konzertreihen, Andachten. Und jeden Sonntag tauschen sich Jung und Alt, Bewohner und Angehörige, Freunde und Mitarbeiter beim Brunch aus. www.wohnanlage-sophienhof.de Der Kochtag ist ein Highlight. Speziell für die demenzkranken Bewohner des Heimes haben die Mitarbeiter beispielsweise einen Klangraum eingerichet. Sie haben auf einer Couch bunte Kissen drapiert, die Fenster und Decken des Zimmers mit schönen Stoffen dekoriert und einen Rekorder aufgestellt, aus dem sanfte, beruhigende Musik erklingt. »Hierher können sich die Menschen zurückziehen, wenn sie Ruhe brauchen, wenn es ihnen im Zimmer zu einsam und auf den Gängen zu laut ist«, erzählt Burga Kuchem. So wurden die bei Kindern beliebten Kuschelecken zum Stressabbau für Demenzkranke neu entdeckt. Ähnlich heilsam wirkt das gemeinsame Kochen. Wer erinnert sich nicht an die Düfte aus Großmutters Küche? Ein Highlight für die Bewohner des Sophienhofs ist deshalb der Kochtag. Einmal pro Woche wird auf den Stationen in einer kleinen, mobilen Küche gerührt, gebacken und gebrutzelt. »Allein die Gerüche sind ein riesengroßes Erlebnis«, sagt Burga Kuchem. Vor allem die bettlägerigen Menschen schätzen dieses Ereignis: »Hm, Bratkartoffeln, Käsekuchen und Kaffee.« Düfte wecken Erinnerungen, beruhigen, geben das Gefühl von Nähe und Vertrautheit. »Wir lassen uns einfach auf die Bedürfnisse unserer Bewohner ein«, hat Gerda Graf gesagt. Gute Pflege, weiß man im Sophienhof, kann manchmal so einfach sein. ■ Cornelia Wanke ist Referentin für Verbandspolitik beim AOK-Bundesverband. Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang Fotos: Jürgen Schulzki Graf. »Denn wer redet schon gerne mit seinen Nächsten über das Abschiednehmen? Weil wir aber nicht diese ganz intime Nähe zu den Menschen haben, können wir mit ihnen leichter über den Tod und das Sterben reden.« Ganz klar, dass das Sophienhof-Team dann auch alles daran setzt, dass die Wünsche für die letzte Lebensphase erfüllt werden können – eine Aufgabe, die den Mitarbeitern manchmal viel abverlangt. »Rund um die Uhr und mitten in der Nacht, als mein Mann im Sterben lag, waren die Schwestern bei uns«, erzählt Agnes Barnacky. Die Pflegekräfte begleiteten das Ehepaar bei dem schweren Schritt des Abschiednehmens – und Agnes Barnacky später auch bei ganz praktischen Dingen im Zusammenhang mit der Beerdigung. Noch heute fährt eine der Schwestern die Witwe zum Friedhof in der Heimatgemeinde und kümmert sich um sie. AOK-LÖSUNGEN Die Zukunft der Pflege sichern Seit gut zehn Jahren gibt es die deutsche Pflegeversicherung – höchste Zeit für Weiterentwicklungen bei den Leistungen und in der Finanzierung. Die AOK hat ihre Lösungsvorschläge zur Pflegereform bereits vorgelegt. K schen. Wenn es gelingt, den Pflegebedarf in dieser Phase zu verringern, wird sich die Finanzierungsproblematik deutlich entschärfen. Um dies zu erreichen, müssen die Chancen von präventiven und rehabilitativen Ansätzen besser als bisher genutzt werden. Die Chancen der Prävention nutzen. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird in den nächsten Jahrzehnten deutlich ansteigen. Aufgrund sich verändernder Familienstrukturen nimmt der Bedarf an professioneller und ehrenamtlicher Pflege weiter zu. In welchem Umfang der Pflegebedarf wachsen wird, hängt entscheidend vom medizinischen Fortschritt und der Prävention ab. Derzeit entsteht Pflegebedarf im Wesentlichen in den letzten drei Lebensjahren eines Men- Den Pflegebegriff überarbeiten. Die Leistungsseite der Pflegeversicherung weist Mängel auf. Sie resultieren insbesondere aus den gesetzlichen Steuerungsinstrumenten. Der Gesetzgeber hat den Begriff der Pflegebedürftigkeit sehr eng an Defizite bei den Verrichtungen des täglichen Lebens geknüpft. Diese somatische Betrachtung trägt der tatsächlichen Situation der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen zum Teil unzulänglich Rechnung. Daran hat auch die Leistungserweiterung für die demenziell Erkrankten nur wenig geändert. Außerdem wurden die wesentlichen Leistungen der Pflegeversicherung – das Pflegegeld und die Sachleistungen im ambulanten Bereich sowie die Zuschüsse zur stationären Pflege – auf der Basis der Kostensituation von 1992 budgetiert. Diese Budgets sind seit Einführung der Pflegeversicherung omplexe Strukturen der Altenhilfe, der Pflegeversicherung, Sozialhilfe und Krankenversicherung gewährleisten in Deutschland eine qualitätsorientierte Pflege und Versorgung pflegebedürftiger Menschen. Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und eines der wichtigsten sozial- und gesellschaftspolitischen Handlungsfelder. Die Pflegeversicherung hat der Pflege zahlreiche Entwicklungsimpulse gegeben. Der Pflegesektor ist ein Wachstumsmarkt. Er ist offensichtlich – trotz der Klagen der Pflegeverbände über zu geringe Vergütungen – auch für private Investoren sehr attraktiv. Was die Pflegeversicherung finanziert Foto: Falko Siewert Zurzeit erhalten in Deutschland etwa zwei Millionen Menschen Leistungen aus der Pflegeversicherung. Fast 1,4 Millionen der Leistungsbezieher leben in der eigenen Wohnung. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes stieg die Zahl der Pflegebedürftigen im Zeitraum zwischen 2001 und 2003 um 37.000 (1,8 Prozent). Die Pflegeversicherung finanziert den Pflegemarkt mit mehr als 18 Milliarden Euro jährlich. Davon entfällt etwa die Hälfte der Leistungen auf die 600.000 pflegebedürftigen Bewohner von Pflegeheimen. Die Pflegebedürftigkeit hängt vom Alter ab: Während bei den 70- bis 75-Jährigen jeder Zwanzigste pflegebedürftig war, benötigten unter den 90- bis 95-Jährigen 61 Prozent Pflege. Menschen aus benachteiligten sozialen Schichten werden eher pflegebedürftig. Quelle: nach Pflegestatistik 2003 Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang 21 AOK-LÖSUNGEN das Leben und Arbeiten in einer älter werdenden Gesellschaft eingebunden werden. Ein solches Konzept muss unter anderem das Wohnen, die Stadtentwicklung, den Arbeitsmarkt und die Verkehrsplanung einschließen und ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dabei müssen Generationengerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Leistungsgerechtigkeit beachtet werden. Der Ansatz »ambulant vor stationär« muss konsequent geReformen für Leistungen und Finanzen. Die Einnahmen- stärkt werden. Dazu müssen alternative Versorgungsangebote und die Ausgabenentwicklung der Pflegeversicherung laufen in der ambulanten Pflegeinfrastruktur wie zum Beispiel Hausseit dem Jahr 2001 auseinander. Ursachen sind insbesondere gemeinschaften und zugehende Dienste ausgebaut werden. die schlechte konjunkturelle Entwicklung Diese sind durch kompatible Leistungsanund Änderungen bei den Beitragsbemessprüche und Anreizstrukturen zu flankieren. Immer mehr Pflegesungsgrundlagen durch den Gesetzgeber Die AOK schlägt vor, das Verhältnis von (Absenkung der Beitragszahlungen für ArGeld- und Sachleistungen kostenneutral neu bedürftige brauchen beitslose und aus der gesetzlichen Rentenverzu justieren. Bestandsschutzregelungen könSozialhilfe. sicherung). Ohne diese so genannten Vernen verhindern, dass es zu einer Niveauabschiebebahnhöfe wären die Einnahmensenkung kommt. Zur Stärkung der ambuprobleme der Pflegeversicherung wesentlich geringer. Nach lanten Pflege muss die ehrenamtliche Laienpflege ausgebaut Berechnungen des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) und stärker anerkannt werden, zum Beispiel durch Schulung werden die finanziellen Rücklagen der Pflegeversicherung der Ehrenamtlichen und deren hauptamtliche Unterstützung. noch bis in das Jahr 2008 ausreichen. Dabei sind bereits die Die Finanzierung dieser Weiterentwicklung der ehrenamtliEinnahmen einbezogen, die sich nach Berechnungen des Ge- chen Hilfe und Betreuung ist eine Gemeinschaftsaufgabe von sundheitsministeriums aus dem Kinder-Berücksichtigungsge- Kommunen und Pflegekassen. setz (ab 2005) ergeben. Angesichts der demografischen Entwicklung ist allerdings keine dauerhafte Beitragssatzstabilität Die Pflegequalität erhalten und verbessern. Die Pflegein der sozialen Pflegeversicherung zu erwarten. Reformbedarf reform muss die Qualität der Pflege erhalten und verbessern. besteht also gleichermaßen auf der Finanzierungs- und auf der Seit Bestehen der Pflegeversicherung sind deren Leistungen Leistungsseite. Zentral ist die Weiterentwicklung der Qualität nicht an die allgemeine Preis- und Einkommensentwicklung angepasst worden. Den dadurch eingetretenen Wertverlust der pflegerischen Versorgung. der Pflegeleistungen können viele alte Menschen nicht mit Die ambulante Pflege stärken. Eine Reform der Pflegever- eigenen Mitteln ausgleichen. Zudem gehen einige Pflegeeinsicherung sollte aus Sicht der AOK in ein Gesamtkonzept für richtungen dazu über, die Qualität ihrer Leistungen abzusenken, um den finanziellen Möglichkeiten ihrer Kunden Rechnung zu tragen. Folgekosten durch Pflegemängel sind dabei nicht auszuschließen. Aus all diesen Gründen müssen die Pflegeleistungen in regelmäßigen Abständen im Hinblick auf die eingeforderte Pflegequalität überprüft werden Darüber hinaus sollte die starre Statik der Leistungen, die sich aus der Aufteilung in die drei Pflegestufen ergibt, aufgebrochen werden. Die derzeit in Modellprojekten erprobten »Personenbezogenen Pflegebudgets« (mehr dazu: siehe Lesetipps auf Seite 2 und im Internet unter www.pflegebudget.de) würden aus heutiger Sicht mehr Wahlmöglichkeiten für die Pflegebedürftigen und eine verbesserte Passgenauigkeit der Leistungen bringen. Ihre Einführung muss jedoch mit einer Qualitätssicherung und mit Vergütungsvereinbarungen durch die Pflegekassen einhergehen. 22 Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang Foto: Hartmut Schwarzebach/argus 1995/96 nicht mehr angepasst worden. Die Kluft zwischen den Preisen der Pflegeeinrichtungen und den Leistungen der Pflegeversicherung wird damit größer. Die Zahl der Pflegebedürftigen, die auf Sozialhilfe angewiesen ist, nimmt zu. Es ist unbestreitbar, dass Reformen in diesen beiden zentralen Feldern allein mit den laufenden Finanzmitteln nicht zu finanzieren sind. Fotos: Caro Fotoagentur/Stefan Trappe; images.de, Berlin Prävention verzögert und mindert Pflegebedürftigkeit. für die Finanzierung der Behandlungspflege in Heimen auf Mit der Veränderung der Altersstruktur in der Bevölkerung die GKV würde zu einer neuen Schnittstelle führen, falsche und der gestiegenen Lebenserwartung sind Prävention und Anreize setzen und eine künstliche Aufteilung von zusamGesundheitsförderung im Alter von zentraler Bedeutung. Sie menhängenden Pflegemaßnahmen nach sich ziehen. Die Bekönnen einen wesentlichen Beitrag zur Vermeidung, Verzöge- troffenen müssten dies als lebensfremd empfinden. Zudem rung oder Minderung von Pflegebedürftigkeit leisten. würde eine solche gespaltene Leistungszuständigkeit die guten Immer noch hakt es in der Kommunikation zwischen Steuerungsansätze der Pflegeversicherung konterkarieren und stationärer und ambulanter Versorgung. Die der unwirtschaftlichen Leistungserbringung Überleitungspflege beziehungsweise ein EntVorschub leisten. Die aktivierende lassungsmanagement im Krankenhaus und Messlatte für Finanzreform. Die Reformbei den Pflegekassen angesiedelte Case-MaPflege kann den diskussionen und -vorschläge zur Ausgestalnager helfen, die bestehenden SchnittstellenErfolg der Rehabilitung der Finanzierung der sozialen Pflegeverprobleme zu lösen. Die AOK macht entspretation sichern. sicherung finden im Spannungsfeld der Dechende, beispielhafte Angebote. batte um die Lohnzusatzkosten, der SicherRehabilitation in der Pflegeversicherung. Die Leistungen stellung eines Grundsicherungsniveaus bei Pflegebedürftigder geriatrischen Rehabilitation gehören in die Pflegeversiche- keit und vor dem Hintergrund der Diskussionen um Fragen rung. Die derzeitige Zuständigkeit der gesetzlichen Kranken- der Generationengerechtigkeit statt. Die AOK wird die verversicherung (GKV) für die geriatrische Rehabilitation führt schiedenen Modelle zur Finanzierungsreform der Pflege unter zu Fehlanreizen, die verhindern, dass das Rehabilitationspo- Berücksichtigung folgender Kriterien beurteilen: tenzial voll ausgeschöpft werden kann. Die institutionelle Ausrichtung der Rehabilitation bietet zu wenig Möglichkei- • Ein regelmäßiger Mittelzufluss zur Finanzierung von ten, das breite Spektrum der aktivierenden Pflege durch PflePflegeleistungen muss gesichert sein. gefachkräfte zu nutzen. Für eine durchgreifende Verminde- • Sicherstellung einer nachhaltigen Finanzierung. rung und Vermeidung von Pflegebedürftigkeit muss die • Die zunehmenden Finanzierungslasten sollten »gleichRehabilitation der Älteren aber verstärkt werden. mäßiger« auf die Generationen verteilt werden. • Nachhaltigkeit in der Finanzierung muss eine armutsverPflege in die integrierte Versorgung einbeziehen. Die meidendes Absicherungsniveau sicherstellen. Ein »schleiGKV hat mit der integrierten Versorgung ein Instrument erchender« Substanzverlust einer Pflegeversicherung würde halten, um die Gesundheitsversorgung wirtschaftlich und bebei Bürgern und Beitragszahlern Akzeptanz verlieren. darfsgerecht zu gestalten. In der Praxis zeigt sich häufig, dass • Die Lohnzusatzkosten sollen nicht weiter steigen. derartige Versorgungsformen ohne Einbeziehung der Pflege- • Die Finanzierung der Absicherung des Pflegerisikos soll versicherung unvollständig sind. Daher ist es erforderlich, die auch in Zukunft sozialverträglich ausgestaltet sein. Voraussetzungen zu schaffen, dass sich die Pflegekassen verPersonen mit geringen Einkommen dürfen finanziell nicht traglich an der integrierten Versorgung beteiligen können. überfordert werden (ökonomische Leistungsfähigkeit). Die Behandlungspflege im Heim muss in der Leistungs- • Für die Umsetzung der Reformen müssen unbürokratische zuständigkeit der Pflegeversicherung bleiben. Die dazu im Lösungen gefunden werden. ■ Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung vorgesehene Lösung ist daher richtig. Eine Verlagerung der Zuständigkeit Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 3/06, 9. Jahrgang 23 Heike von Lützau-Hohlbein ist Vorsitzende der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. INTERVIEW »Mehr Anerkennung für die Angehörigen« Vom Bedarf ausgehen: Pflegebedürftige wünschen sich Zuwendung, Angehörige wollen Anerkennung und Unterstützung, Pflegekräfte brauchen mehr Flexibilität – Ansätze für die nächste Pflegereform, wie Heike von Lützau-Hohlbein erläutert. »Wir können viel lernen, wenn wir über die Grenzen schauen. Die Niederlande zeigen uns zum Beispiel, wie eine bedarfsorientierte Pflege aussehen kann. Ich denke da an das personenbezogene Pflegebudget, das unsere Nachbarn 1998 eingeführt haben – mit all den Problemen, die sich dabei auch ergeben. Wir können lernen, wie sich die strikte Trennung zwischen ambulant und stationär überwinden lässt. Ein weiteres gutes Beispiel liefert uns Dänemark, wo schon seit einigen Jahren keine Pflegeund Altenheime mehr gebaut werden und stattdessen Wohngemeinschaften entstehen. Dort wird das Prinzip ambulant vor stationär also längst gelebt. Was wünschen Sie sich für eine Reform der Pflegeversicherung? »Wir müssen weg von der zeitorientierten, hin zu einer personenorientierten Pflege kommen. Denkbar wäre zum Beispiel, die Pflegekräfte pauschal zu bezahlen, sodass jede Pflegekraft selbst entscheiden kann, für welchen Pflegebedürftigen sie wieviel Zeit aufwendet. Auch sollten wir den Dokumentationsaufwand reduzieren. Damit hätten Pflegekräfte wieder mehr Zeit für eine persönliche Beziehung zu den Pflegebedürftigen. Zudem brauchen wir flexiblere Versorgungsmöglichkeiten und eine Pflege, die alte Menschen nicht ausgrenzt, sondern sie so lange wie möglich am normalen gesellschaftlichen Leben teilhaben lässt. Spezial ist eine Verlagsbeilage von G+G Impressum: Gesundheit und Gesellschaft, Kortrijker Str. 1, 53177 Bonn Wie muss die Pflegereform aussehen, damit Demenzkranke besser versorgt werden? »Zuerst müssen wir die Voraussetzungen für eine möglichst frühe Diagnose der Krankheit schaffen. Man könnte zum Beispiel eine »Vorsorgeuntersuchung Demenz« für ältere Menschen einführen. Altersbedingte Krankheiten müssen in Aus- und Fortbildung der Mediziner stärker berücksichtigt sein. Wichtig ist aber auch, mehr Wert auf die Prävention zu legen. Den Menschen muss klar werden, dass sie schon in jungen Jahren die Weichen dafür stellen, wie gesund sie im Alter sind. Was die Behandlung von Demenzkranken anbelangt, müssen wir die Versorgung ausbauen. Von den etwa eine Million Demenzkranken leben hierzulande schätzungsweise zwei Drittel im häuslichen Umfeld. Wir brauchen mehr professionelle Pflegekräfte für die ambulante Versorgung von Demenz-Patienten. Nicht zuletzt müssen wir auch die Forschung im Bereich der altersbedingten Krankheiten vorantreiben und die Versorgungsforschung ausbauen. Was muss geschehen, um die Angehörigen von Demenzkranken zu entlasten? »Ich stelle ganz oft fest, dass es die Anerkennung ist, der Zuspruch, den die Angehörigen brauchen. Oft wird ihre Arbeit vom Bekanntenkreis nicht gewürdigt – auch weil viele Menschen zu wenig über die Krankheit Demenz und das Altern im Allgemeinen wissen wollen. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Redaktion: Cornelia Wanke (AOK-Bundesverband), Änne Töpfer (KomPart Verlag) Art Direction: Beatrice Hofmann (KomPart Verlag) Grafik: Britta Paulich Öffentlichkeit besser über das Thema Demenz informieren. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft hat dazu zum Beispiel gemeinsam mit dem Bundesfamilienministerium einen Kampagne gestartet. Neben besseren Informationen brauchen pflegende Angehörige aber auch professionelle Unterstützung, damit sie die Möglichkeit haben, selbst wieder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Deswegen sollten Tagesbetreuung und Kurzzeitpflege ausgebaut werden. Auch eine Stärkung der ehrenamtlichen Pflege und den Ausbau von Selbsthilfegruppen für pflegende Angehörige halte ich für sinnvoll. Und wer soll das bezahlen? »Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das heißt, wir werden mehr Geld für die solidarische Finanzierung der Pflege ausgeben müssen. Es wird aber auch nötig sein, dass jeder Einzelne für sich selbst vorsorgt. Da müssen wir alle umdenken. ■ Die Alzheimer Gesellschaft Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft ist der bundesweite Dachverband der Alzheimer-Organisationen. Die regionalen Gruppen leben durch überwiegend ehrenamtliche Mitarbeit. Zu den Zielen der Alzheimer Gesellschaft gehört unter anderem, die Öffentlichkeit über die Alzheimer Krankheit und andere Demenzerkrankungen aufzuklären sowie sozialpolitische Initiativen anzuregen. Mehr Infos: www.deutsche-alzheimer.de Verantwortlich: Abteilung Pflege und Stabsbereich Politik des AOK-Bundesverbandes Stand: Februar 2006 Foto: privat Was kann Deutschland in der Pflege vom Ausland lernen?