Kurt Weill / Bertolt Brecht Von der Unzulänglichkeit menschlichen

Transcrição

Kurt Weill / Bertolt Brecht Von der Unzulänglichkeit menschlichen
Kurt Weill / Bertolt Brecht
Von der Unzulänglichkeit
menschlichen Strebens
Suite aus der „Dreigroschenoper“ und der Oper
„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Kurt Weill
Texte von Bertolt Brecht
Do 21.05.2015, 11 Uhr
Stuttgart, Theaterhaus, T1
Geschwister-Scholl-Gymnasium Stuttgart
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
Dirigent: Leo Siberski
Empfohlen ab Klasse 10/ auch für Erwachsene
Mo 01.06. – Mi 03.06.2015, jeweils 9.05-10.00 Uhr
SWR2 Musikstunde
Bertolt Brecht und die Musik
Erstellt von Jasmin Bachmann
und Sabrina Wiedemann
Zu dieser Handreichung:
Diese Handreichung versteht sich als umfangreiche Informationssammlung zu Bertolt
Brecht, seinem musikalischen Wirken, seinen Einflüssen und Werken bis 1930. Neben einer
chronologischen Abhandlung, mit Schwerpunkt auf das musikalische Schaffen Brechts,
enthält sie Kapitel zu einzelnen Werken oder Stilelementen, die im Konzert eine zentrale
Rolle spielen werden. Die Inhalte sind einer musikwissenschaftlichen Examensarbeit
entnommen und daher an manchen Stellen lose aneinandergereiht.
2
Inhalt
Einführung in das Konzert-Projekt………………………………………………………...........……..................4
Bertolt Brecht und die Musik
Augsburg 1898-1917
Die Musik(-kultur) der Arbeiter.........................................................................8
Die Augsburger Liedertafel..............................................................................10
Hausmusik........................................................................................................11
Der Plärrer.......................................................................................................12
Die Kirchenmusik.............................................................................................13
Musikgebrauch an der Schule..........................................................................16
Der Bruch.........................................................................................................18
Augsburg-München 1917-1920
Konzertbesuche und Dirigierambitionen.........................................................20
Die Brecht-Clique.............................................................................................21
Erste musikalische Professionalisierung..........................................................25
München-Berlin 1920-1924
Die Situation....................................................................................................28
Marianne Zoff..................................................................................................28
Berlin 1924-1930
Neues und Altes...............................................................................................29
Der Jazz............................................................................................................30
Musikalische Professionalisierung...................................................................31
Kurt Weill.........................................................................................................32
Stilmittel, Theorien, Analysen
Die Parodie..................................................................................................................35
Lieder im Volkston.......................................................................................................37
Choräle bei Brecht.......................................................................................................38
Vom Bänkelsang zur Moritat von Mackie Messer.......................................................41
Die Legende vom toten Soldaten................................................................................50
Von der dramatischen zur epischen Kunstform..........................................................55
Der V-Effekt am Beispiel der Dreigroschenoper..........................................................61
Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR………………………………………............................67
Der Dirigent Leo Siberski……………………………………………………………..........................................68
3
Einführung in das Konzert-Projekt
Viel wurde schon über den Dichter Bertolt Brecht geschrieben. Aber wie sieht es mit dem
Musiker und Komponisten Brecht aus? Sein musikalischer Darbietungsstiel, dessen
Schwerpunkt in der Kombination von Wort und Ton lag, war es, aus dem er sein Episches
Musiktheater entwarf und viele Künstler des 20. Jahrhunderts prägte.
Die SWR2 Musikstunde widmet dieser musikalischen Seite Brechts drei Sendungen und das
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR ein Konzert mit Schwerpunkt Episches
Musiktheater.
SWR YOUNG CLASSIX
DO 21. MAI 2015, 11 UHR
Theaterhaus Stuttgart, T1
Kurt Weill und Bertolt Brecht
Von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens
Suite aus der „Dreigroschenoper“ und der Oper
„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Kurt Weill
Texte von Bertolt Brecht
Geschwister-Scholl-GymnasiumStuttgart: Literatur-/Theaterkurs
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
Dirigent: Leo Siberski
Empfohlen ab Klasse 10. Auch für Erwachsene.
Tickets zu je 5 Euro (inkl. VVS-Ticket)
beim SWR2 Kulturservice unter 07221 300 200
SWR2 MUSIKSTUNDE
01. BIS 03. JUNI 2015, JEWEILS 9.05 BIS 10 UHR
Bertolt Brecht und die Musik
Mit Jasmin Bachmann
Man nehme ein Thema, viel Musik und präsentiere es fantasievoll, persönlich, originell und
informativ – das ist die SWR2 Musikstunde, die sich jede Woche einer neuen Thematik
widmet. Anfang Juni geht es an drei Tagen um die musikalische Seite Bertolt Brechts, denn
„Die Musik ist der wichtigste Beitrag zum Thema“, so Brecht.
Zu jeder Folge stehen das Manuskript zum Download und die Sendung zum Nachhören
sieben Tage online unter swr2.de/musikstunde.
01. Juni
02. Juni
03. Juni
Die Einflüsse der frühen Jahre
Der Bruch
Das Epische Musiktheater
4
Auszug aus dem Artikel „Brecht und die Musik“, der in der Orchesterzeitschrift „Klangbild“
(Ausgabe Februar 2015) des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR erschienen ist.
Am 10. Februar 1898 wird in
Augsburg Eugen Bertold Friedrich
Brecht geboren. Sein Rufname wird
Bertold, den er später wegen seiner
„holden Ritterlichkeit“ ablehnt und
sich zunächst in Bert, später dann in
Bertolt Brecht umbenennt. Sein
musikalisches Umfeld besteht aus
den Liedern der einfachen Arbeiter,
der Augsburger Liedertafel, den
Militärkapellen, dem patriotischen
Liedgut im Schulalltag und den
Kurkonzerten, die er begeistert besuchte. Er und sein Bruder erhalten Klavier- und Violinunterricht. Doch nach anfänglicher
Begeisterung stagniert Bertolts Klavierfertigkeit, da ihm das Üben nicht liegt. Darum müssen
ihm die Freunde seine geliebte Mozart Klaviersonate vorspielen. Und Hans Eisler wird ihn
später als „riesige Musikalität ohne Technik“ beschreiben.
Als Jugendlicher wird Brecht in Wandervogelmanier zum „Klampfentier“. „Da singt Brecht zu
seiner Klampfe der sämtliche Saiten fehlen und er, ein großartiger Wagner Parodist,
improvisiert eine tristanische Arie auf seine Wolfhündin Ina.“, so beschreibt sein Freund
Hans Otto Münsterer die musikalischen Ausflüge durch Stadt und Land. Kurz nach Ausbruch
des Ersten Weltkriegs kommt es zu einem radikalen, künstlerischen wie sozialen Umbruch in
Brechts Leben; sein schulisch anerzogener Patriotismus ist verflogen, seine einstige WagnerEuphorie geplatzt, Lederjacke, Schiebermütze und Zigarre werden zum Markenzeichen. Die
Musik bleibt jedoch für ihn eine urdeutsche Eigenschaft, die er auf jeden Fall fortführen will;
aber in welcher Form?
Seine Musik soll nicht durch Rauschhaftigkeit und Vernebelung – Eigenschaften, die er der
absoluten Musik der Konzertsäle zuspricht – den Hörer mitreisen, sondern durch eine
angewandte Musik, die sich am Alltagsleben der einfachen Leute orientiert, einen
alltäglichen Funktionswert erhalten. Seinen eigenen Stil findet er daher immer mehr in den
Volksgattungen wie Ballade, Volkslied, Bänkelsang, die er parodistisch einsetzt. Mitte der
1920er Jahre beginnt Brecht, sich aus zeitlichen und professionellen Gründen nach
musikalischen Mitarbeiten umzusehen. So kommen nacheinander Franz Servatius Bruinier,
Kurt Weill, Paul Hindemith, Hans Eisler und Paul Dessau ins Spiel. Brecht hört aber nie auf,
selbst zu komponieren und eigene musikalische Vorstellungen zu entwerfen. „Im Grunde
war er der Urheber der Musik, die andere für ihn komponierten und arrangierten.“, so
Werner Egk.
Bertolt Brecht
Ausschnitt aus einer
DDR Briefmarke
5
Die Zusammenarbeit zwischen Bertolt Brecht und
Kurt Weill beginnt 1927. Im
völligen Gegensatz zum damaligen Zeitgeist stellen sie
Sprache, Musik und Bild als
eigenständige epische Elemente einander gegenüber
und werten sie somit auf.
Die Musik ist für Weill und
Brecht der wichtigste Beitrag zum Thema. Beide sind
vom Amerikanischen fasziKurt Weill
Ausschnitt aus
niert und sehen den Jazz als
einer Briefmarke
Möglichkeit, zeitgenössische
deutsche Kompositionen wieder verständlich zu machen. Der Erfolg der Weill-Brecht-Songs
beruht auf der Kombination von trivialer Schlagerharmonik mit pulsierenden Jazzrhythmen,
die dem Hörer den einfachen Text sowie die volkstümlich-schlichte Melodie eintreiben.
Noch heute haben die Songs nichts von ihrem Ohrwurmcharakter verloren.
Von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens – Das Konzert
Wichtigstes Stilmittel des Epischen Theaters ist der Verfremdungseffekt, V-Effekt genannt,
dessen entlarvende Wirkung darin besteht, Standardformen aufzugreifen und durch
Hinzufügen oder Wegnehmen parodistisch zu verändern. Diesem zeitlosen V-Effekt folgt
auch das SWR Young CLASSIX Konzert am 21. Mai 2015. Unter dem Titel „Von der
Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“, der dem Song des Peachum aus der
Dreigroschenoper entlehnt ist, werden einzelne Lebensabschnitte wie Schulzeit, erste Liebe
und Kriegsdienst sarkastisch beleuchtet und Ideale wie Reichtum, Heldentod oder Frieden
an den Pranger gestellt. Auch wenn Text und Musik in den 1920er Jahren entstanden sind,
ihr Inhalt ist erschreckend aktuell.
Das Konzert richtet sich nicht nur an Schulklassen, sondern ist offen für alle Liebhaber des
Epischen Musiktheaters. Neben dem RSO Stuttgart werden Schüler des Literatur- und
Theaterkurses des Geschwister-Scholl-Gymnasiums Stuttgart dieses außergewöhnliche
Konzert mitgestalten.
Folgende Musiktitel von Kurt Weill werden im Konzert erklingen:
Kleine Dreigroschenmusik
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Nr.1 (Ouvertüre)
Nr.4 (Ballade vom angenehmen Leben)
Nr.5 (Pollys Lied)
Nr.6 (Tango Ballade)
Nr.7 (Kanonensong)
Nr.8 (Finale)
6
Mahagonny-Suite
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Nr.2 (Moderato assai)
Nr.3
Nr.5 (Molto vivace)
Nr.6
Nr.7 (Largo)
Und folgende Texte von Bertolt Brecht werden, teilweise auch in Ausschnitten, präsentiert:
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An die Herrn im Parkett
Zum Lesebuch für Städtebewohner gehörige Gedichte / I
Ich habe gehört, ihr wollt nichts lernen
Gründungssong der National Deposit Bank
Die Geschichte von einem, der nie zu spät kam (Satire)
(ohne Titel) / Anfangszeile: Ich will mit dem gehen, den ich liebe
Morgens und abends zu lesen
Schwächen
An M
Der Ehesong
Wenn Herr K. einen Menschen liebt
Beziehungen der Menschen untereinander
Kleines Lied
Legende vom toten Soldaten, aus: Hauspostillen
Der Nachgeborene
Gegen Verführung
Ergänzend kommen folgende Textauszüge hinzu:
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Heinrich Heine: Die beiden Grenadiere
Heinrich Heine: Ein Jüngling liebt ein Mädchen
Traditioneller Eröffnungsvers der Moritatensänger
7
Bertolt Brecht und die Musik
Augsburg 1898-1917
„Ich habe das Licht der Welt im Jahre 1898 erblickt. Meine Eltern sind
Schwarzwälder. Die Volksschule langweilte mich 4 Jahre. Während meines
9jährigen Eingewecktseins an einem Augsburger Realgymnasium gelang es mir
nicht, meine Lehrer wesentlich zu fördern. Mein Sinn für Muße und
Unabhängigkeit wurde von ihnen hervorgehoben. Auf der Universität hörte ich
Medizin und lernte Gitarrespielen. In der Gymnasiumszeit hatte ich mir durch
allerlei Sport einen Herzschock geholt, der mich mit den Geheimnissen der
Metaphysik bekannt machte.“1
Das Brechthaus: http://www.augsburg.de/kultur/museen-galerien/brechthaus/
Die Musik(-kultur) der Arbeiter
Augsburg um 1900
Eugen Berthold Friedrich Brecht wurde in
Augsburg am 10. Februar 1898 in
kleinbürgerliche Verhältnisse hineingeboren.
Bis zur Geburt seines Bruders Walter im Jahre
1900 wohnte die Familie an einem der
rauschenden Lechkanäle in Augsburg. Trotz
industriellem Aufschwung ließ sich die Stadt
im frühen 20.Jahrhundert als ländliche Idylle
bezeichnen. Kein Wunder also, dass später
ein großes Thema in Brechts Dichtung die
Natur war.
Obwohl die Brechts dem Bildungsbürgertum angehören, sieht es mit der häuslichen Lektüre
ehr karg aus. Brechts Biograf, Werner Mittenzwei, beschrieb die häusliche Situation
folgendermaßen:
„Während seiner Kindheit umgab Eugen im elterlichen Hause nichts, was einer literarischen Kultur
oder Tradition entsprochen hätte, auf die doch damals breite Kreise des Bürgertums großen Wert
legten. Der Vater verfügte über keine Bibliothek. Bücher existierten im Hause so gut wie gar nicht. Die
Mutter allerdings sammelte Gedichte, die ihr zufällig in die Hände kamen und die ihr gefielen.“ 2
Der Umzug in eines der Stiftungshäuser der
angesehenen Papierfabrik der Firma Georg Haindl ließ
Eugens Vater zum Prokuristen der Firma und damit die
Familie in gutbürgerliche Verhältnisse aufsteigen.
Eigentlich waren diese Häuser als Siedlung für die
Ärmeren gedacht, und so nahm die Brechtsche Familie
1
Brecht, Bertolt an Herbert Ihering, Oktober 1922, GBFA 28, 1, 177f.; zitiert nach: H.-H. Müller, T. Kindt,
Lyrik, S. 12.
2
Mittenzwei, Werner: „Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit Welträtseln“, 2 Bände, BerlinWeimar 1986, Bd. 1, S. 565; zitiert nach: H.-H. Müller, T. Kindt, Lyrik, S. 11.
8
in dieser „proletarisch-kleinbürgerlichen Umgebung“ eine privilegierte Leitungsstellung ein.
Prägend war aber auch die Atmosphäre des sozialen Gegensatzes, den Brecht später immer
wieder in seinen Werken aufgegriffen hat. Meist spielen die Stücke im einfachen
Arbeitermilieu und Konflikte entstehen dadurch, dass die Protagonisten unterschiedlichen
Gesellschaftsschichten entstammen.
„Volklieder habe ich in meiner Kindheit gehört, edle und weniger edle, das von den Königskindern, das
vom Prinz Eugen, dem edlen Ritter, und die Lieder von der Wirtin an der Lahn. Ich habe sie
glücklicherweise nicht nur gelesen, sondern auch gehört, gesungen von der Bevölkerung mit der
besonderen Intonation und bei der richtigen Gelegenheit.“3
Die naheliegende Papierfabrik brachte den jungen Eugen mit dem Musikgeschmack und
Repertoire des Arbeitermilieus in Verbindung. Er hörte den Gesang der Arbeiterinnen wenn
sie Pause machten oder bei der Arbeit waren. Die Lieder zeigten ihm, dass nicht die
ernsthafte, verschriftlichte, unantastbare Kunst die einfachen Leute erreichte, sondern der
„billige“ Schlager mit all seinem Kitsch, seinen Übertreibungen und seiner Surrealität, aber
auch mit seiner Ironie und Verfremdung.
„Ihre Haltung gegenüber den Liedern war ebenfalls lehrreich. Sie gaben sich ihnen keinesfalls naiv hin.
Sie sangen ganze Lieder oder einzelne Verse mit einiger Ironie und versahen manches Kitschige,
Übertriebene, Unreale sozusagen mit Krähenfüßen.“4
Für die Arbeiterschicht galt Kunst und damit auch Musik als aktiver Gebrauchsgegenstand
des alltäglichen Lebens und nicht als kultureller Zierrat. Eugen Berthold Brecht war von
diesem spontanen und sich an keine Regeln haltenden Musikgebrauch beeindruckt:
„Hierbei freilich klang noch, verwischt und depraviert, Altes mit, und es wurde auch noch
mitgedichtet. Die Arbeiterinnen der nahen Papierfabrik erinnerten sich nicht immer aller Verse eines
Liedes und Improvisierten Übergänge, wovon viel zu lernen war.“5
Die Alltagswelt des Arbeitermilieus mit ihren Liedern und Lektüren wurde nun auch immer
mehr durch ihre Sprechweise zu einer wesentlichen künstlerischen Orientierung für Brecht:
„Da kamen die Frauen mit ihren Kannen und Töpfen aus den Häusern und holten Milch und Sahne.
Schon stellte sich der achtzehnjährige Brecht dazu, redete mit ihnen und hörte dem Milchmann und
den Frauen zu, wie da miteinander getratscht wurde. Die Umgangssprache hatte es ihm angetan. Von
den Ausdrücken und Redewendungen der Handwerker, Straßenhändler und Viehtreiber [...] war er
magisch angezogen.“6
Darum traten immer wieder Charaktere in Brechts Werken auf, die in der „Maulart“Sprache des Volkes redeten oder zitierten; z.B. in Das Lied vom Surabaya-Johnny (Happy
End): „Nimm doch die Pfeife aus dem Maul, du Hund!“.
3
B. Brecht, GW, Bd. 19, Anm. 9.; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 56.
B. Brecht, GW, Bd. 19, S. 503f.
5
B. Brecht, GW, Bd. 19, S. 504.
6
A. Dümling, Gegen Verführung, S. 58.
4
9
Die Augsburger Liedertafel
Was die Musikpflege im Augsburger Elternhaus betraf, so war Vater Berthold Friedrich
Brecht das aktive Mitglied der Familie, denn er gehörte seit 1895 der gesellschaftlichen und
musikalisch wichtigsten Einrichtung bürgerlichen Musiklebens der Stadt an: Der Augsburger
Liedertafel. Die unterschiedlichen Qualitäten der Liedertafel in Bezug auf Musik und Text
spiegelten sich in ihrem Repertoire wieder. Dies reichte von:
„Verwandlungsmusik und Abendmahlszene’ aus Wagners Parsifal, de*m+ Schlusschor der
Meistersinger, de[m] Schlusschor aus der Faust-Symphonie von Franz Liszt, Bruckners Tedeum und
Fausts Verdammnis von Berlioz, aber auch viele gesellige Lieder erheblich geringeren Anspruchs.“7
Berthold Junior wird von seinem Vater gelegentlich zu Proben der Augsburger Liedertafel
mitgenommen worden sein. Hier und wahrscheinlich auch zu Hause, wenn der Vater die
Lieder vor sich hin sang, lernte er nicht nur die bedeutendsten spätromantischen Werke,
sondern auch den unterhaltsamen „Volksmusikton“ kennen.
Berthold Junior entwarf 1922 eine Persiflage auf solch volkstümliches Liedgut in Erinnerung
an die häusliche „Liedertafel-Seligkeit“. In seinem Gedicht Das Lied der Rosen vom
Schipkapaß heißt es:
Ein Sonntag war’s in meinen jungen Jahren
Und Vater sang mit seinem schönen Baß
Und sang, als Krug und Glas geleeret waren
Das Lied der Rosen vom Schipkapaß.
Bereits der Titel weckt Anklänge an alpenländische Volksmusik. Brecht verwendete hier die
Person des/seines singenden Vaters als Leitfigur durch das ganze Gedicht. Der voller
Aufopferung singende Vater („im Schnurrbart manche Träne“), der Naturbezug, die Rose als
Sinnbild für eine unendliche mystische Legende („Das Lied der Rosen“) und das Singen als
Lebensgefühl zeugen von purer Volksmusikromantik, die jedoch stark überzogen wird.
Brecht setzte die Bezeichnung ‚Lied’ auch in die Tat um und entwarf eine Melodieskizze mit
Begleitakkorden. Als musikalische Grundlage diente ihm dazu die altfranzösische, allgemein
bekannte Romanze „L’Etendard de la Pitié“. Der Titel, übersetzt „Die Standarte“ oder „Die
Fahne vom Mitleid“, zeugt von einem abgemilderten Kampflied-Ton. Diese Mischung aus
Romantik und Heroismus verstärkt die persiflierende Absicht Brechts.
Er muss dieses französische Lied sehr geschätzt bzw. gemocht haben, denn er verwendete
es mehrfach als melodiöses Grundgerüst für seine Lieder. Fast wie eine Art
Erkennungsmelodie zieht sich das Lied durch das Werk Brechts. Zuerst trat es in der Ballade
von den Seeräubern (1918) auf, dann eben im Lied der Rosen vom Schipkapaß (1922) und
zuletzt im Lied der Mutter Courage (1941).
7
A. Dümling, Gegen Verführung, S. 24.
10
Hausmusik
Wie in der Auflistung des Repertoires der Augsburger Liedertafel schon angeklungen, war
Vater Brecht nicht nur für die sentimentale Volks- und Unterhaltungsmusik zu begeistern. Zu
seinen Lieblingsstücken gehörten viele Kunstlieder wie „Die Uhr“ von Carl Loewe und
besonders „Das Meer“. Diese trug er dann auch gern im häuslichen Rahmen vor. Beachtlich
war dies vor allem, wenn man bedenkt, dass er trotz Mitgliedschaft in einem Chor keinerlei
Notenkenntnisse besaß. Zur Unterstützung des väterlichen Gesanges und zum allgemeinen
musikalischen Zeitvertreib schaffte sich die Familie ein teures Klavier an. Die Söhne Walter
und Berthold erhielten, dem guten Ton der bürgerlichen Musiktradition entsprechend,
Klavierunterricht. Ab der vierten Klasse erlernte Berthold auch das andere hausmusikalische
Standardinstrument Geige, indem er am freiwilligen Violinunterricht in der Schule teilnahm.
Nach dem kindlichen Vergnügen mit diesem Instrument entwickelte Brecht später eine
Antipathie gegen die Violine. Spätestens als seine ehemalige Freundin „Bi“ mit einem
Kaffeehausgeiger durchbrannte, entwickelte er einen regelrechten Hass auf Geiger, was sich
schließlich auch auf das Instrument an sich übertrug. Paul Dessau verzichtete später ihm
zuliebe sogar auf eine Erste und Zweite Geige in der Orchestrierung zur Oper „Lukullus“
(1940).
Doch zunächst erlernte Berthold sein Instrumentarium ohne Vorbehalte. Er berichtete sogar
stolz seinem Tagebuch am 23. September 1913: „Erste Klavierstunde. Sehr nett!“ Da aber
Berthold äußerst ungeduldig und auf schnellen Erfolg aus war, hatte er zum Üben, sei es
Klavier oder Geige, wenig Lust. Sein instrumentales Können hielt sich daher in
überschaubaren Grenzen, und als Klavierbegleiter für den Vater war er alles andere als
geeignet. Bertholds Schulfreund Ludwig Prestl erinnerte sich:
„Auf dem Klavier klimperte er mit einem Finger herum im Gegensatz zu seinem Bruder, der gut Klavier
spielen konnte.“8
Doch obwohl Walter anscheinend „gut Klavier spielen konnte“, schien auch er dem
musikalischen Anspruch des Vaters nicht ganz gewachsen zu sein. So mussten Bertholds
klavierspielende Schulfreunde, wenn sie zu Besuch kamen, dem Vater den Herzenswunsch
erfüllen und ihn bei seinem Lieblingslied („Das Meer“) begleiten.
Der Ingenieur Theodor Helm, ein Freund des Vaters und ebenfalls Mitglied der Augsburger
Liedertafel, trug auf seinen gelegentlichen Besuchen bei Familie Brecht eigene und fremde
Lieder zur Laute vor. Wahrscheinlich stammte daher die Begeisterung der Brüder Brecht für
das Instrument Gitarre. Ab 1912 erhielten Walter und Berthold Gitarrenunterricht. Über
Bertholds spielerisches Können gab es später unterschiedliche Angaben. Sicher aber war,
dass dieses Instrument sein musikalisches Schaffen bedeutend mitbeeinflusst hat.
Ein weiteres musikalisches Schmuckstück der elterlichen Wohnung war eine Spieldose, wohl
ein Polyphonium. Auf den verschiedenen Metallplatten, mit denen man es zum Klingen
bringen konnte, befanden sich Lieder wie „La Paloma“, der Donauwalzer, Melodien aus
Opern und Operetten und Weihnachtslieder wie „O du fröhliche“. Berthold „hat diese
Spieldose seit seiner Kindheit geliebt“. So ist es nicht verwunderlich, dass er später in Berlin
jedes Weihnachten zu Hause anrief, um neben den Weihnachtsgrüßen auch den Klang
dieser Spieldose zu hören.
8
M.J.T. Gilbert, Music, S. 10.
11
Der Plärrer
„Der Frühling sprang durch den Reifen
Des Himmels auf grünen Plan
Da kam mit Orgeln und Pfeifen
Der Plärrer bunt heran.“9
Auch heute noch findet „das große
Kulturereignis“, wie Otto Münsterer es
damals nannte, im Frühjahr und Herbst in
Augsburg statt: Der Plärrer, die traditionsreiche Volksfestveranstaltung mit nostalgischem Rummelplatzcharakter. Nahe der
Arbeitersiedlung Hettenbach errichtet. Er
diente der Volksbelustigung und Erbauung, speziell für die einfachen Schichten.
Impressionen vom Augsburger Plärrer
Bereits in Kindertagen erlebte der junge Bertolt das älteste Augsburger Volksfest, die
Jakober-Kirchweih. Es war etwas kleiner als der große Plärrer, befand sich aber nur 500
Meter von der elterlichen Wohnung entfernt.
Ab 1918 wurde der Plärrer zu Brechts zweiter Heimat, denn er war fast täglich dort. Für ihn
war er „das Schönste, was es gibt;“.
Neben Schaubuden, Karussells, Zirkusartisten und wilden Tieren war es die, wörtlich
genommen, „plärrende“ (lärmende) Musik, die die Atmosphäre des Plärrers ausmachte. Im
Gedicht Vom Schiffschaukeln – eine Plärrerattraktivität, die Bert bis zum „mich halb kaputt
geschiffschaukelt“ betrieb – heißt es im zweiten Vers:
„Nie hört die Musik auf. Engel blasen in einem kleinen Panreigen, dass er fast platzt. Man fliegt in den
Himmel, man fliegt über die Erde, Schwester Luft, Schwester! Bruder Wind! Die Zeit vergeht und nie
Musik“10
Aber auch das Drehorgelgeleier der Bänkelsänger bildete eine nie enden wollende
Musikkulisse.
9
Brecht, Bertolt: „Plärrerlied“, in: B. Brecht, GW, Bd.8, S. 27.
Brecht, Bertolt: „Vom Schiffschaukeln“, in: B. Brecht, GW, Bd.8, S. 78.
10
12
Die Kirchenmusik
Das Musikleben der Stadt Augsburg beschränkte sich neben der
bedeutenden Liedertafel und dem folkloristischen Plärrer auf das
„patriotisch-militärische Milieu“ mit seinen „regelmäßigen
Platzmusiken der Militärkapellen“. Wer sich darüber hinaus
musikalisch weiterbilden wollte, konnte dies durch das aktive
Musikleben beider Kirchen (katholisch und protestantisch) tun. Auf
Wunsch ihrer protestantischen Mutter besuchten beide Söhne den
evangelischen Kindergarten und die konfessionelle Volksschule der
Barfüßer-Kirchengemeinde. In der dritten und vierten Klasse waren
Religion
und
„Protestantische
Geschichte“
Bertholds
leistungsstärkste Fächer. Im damaligen Religionsunterricht, der von
Geistlichen abgehalten wurde, lag ein Hauptschwerpunkt auf dem
Auswendiglernen von Kirchenliedern. Dies schien Berthold beDie Barfüßerkirche
sonders leicht von der Hand zu gehen, denn Schulfreunde
berichteten, dass er auch mühelos sämtliche Bibelstellen und -texte aus dem Gedächtnis
rezitieren konnte. Es war vor allem die Sprache der Lutherbibel, die ihn faszinierte. Nach
seiner eigenen Aussage sollte diese Sprache der Grundstein für seine eigene Dichtung
werden, denn „seine dichterische Sprache *verdanke er+ vor allem seiner Großmutter
Brezing, die ihm so ausgezeichnet aus der Bibel vorgelesen habe.“ So ist es vielleicht auch
nicht verwunderlich, dass Brecht 1928 noch auf die Frage nach seinem Lieblingsbuch
antwortete „Sie werden lachen: die Bibel.“ angab. Bibel, das bedeutete für ihn
hauptsächlich poetisch-musikalische Sprache.
„Ich lese die Bibel. Ich lese sie laut, kapitelweise, aber ohne auszusetzen: Hiob und die Könige. Sie ist
unvergleichlich schön, stark, aber ein böses Buch.“11
1912 wurde Bertholds erstes Drama unter dem Titel „Die Bibel“ in der Schülerzeitung „Die
Ernte“ veröffentlicht. Brechts erstes in sich abgeschlossenes Stück befasste sich mit der
Thematik der Glaubenskriege zwischen Protestanten und Katholiken. Literarisch kommt das
Werk eher belanglos daher, aber durch den Inhalt, der mehrfach Bibelzitate und -diskurse
enthält, sprach sich Brecht bereits mit dreizehn, vierzehn Jahren gegen eine Überbewertung
des Märtyrertums aus. Aufopferung und Opfertod werden hier nicht glorifiziert, sondern
verurteilt. Diese Thematik griff Brecht später im Zusammenhang mit den beiden
Weltkriegen wieder auf; z.B. in der „Legende vom toten Soldaten“ in Bezug auf das
Soldatenverheizen im Ersten Weltkrieg.
Sein ganzes literarisches Frühwerk wurde unter anderem von folgenden Hauptthemen
durchzogen: biblisch-historische Stoffe, Natur (die allgemein auch als eine Verbindung zum
Göttlichen gesehen wird) und Gott und damit auch Glaube an sich.
Innerhalb der schulischen und privaten eingehenden Auseinandersetzung mit der Bibel war
Brecht auch auf die Psalmen bzw. Psalmgesänge gestoßen. Er sah vor allem die musische
Komponente in den Psalmen Davids, die mit Harfen-, bzw. Zitherbegleitung zu singen
gedacht waren, erreicht. Fundierter wurde sein Wissen über diese geistlichen Gesänge
durch die regelmäßigen Gottesdienstbesuche der Augsburger Barfüßerkirche. Bereits vor
der Vierten Lektion (Psalmen und Mahagonnygesänge) aus den Hauspostillen (1926) schrieb
11
Brecht, Bertold: Tagebucheintrag vom 20. Oktober 1916, in: B. Brecht, Augsburg und München, S. 57f.
13
Brecht einzelne Gedichte mit Versnummerierung (z.B. Hymne an Gott) und fasste mehrere
Gedichte unter dem Titel „Psalmen“ zusammen. Bereits hier verwendete er die Psalmform
nicht nur zur Betrachtung von Glaubensinhalten, sondern parodierte sie durch weltliche
Inhalte (z.B. in „Vom Schiffschaukeln“ oder „Gesang von einer Geliebten“). Brecht wählte
also spirituelle Formen und Themen nicht nur, weil sie ihm von Kindheit an bekannt waren
und ihn das Klangbild der Sprache faszinierte, sondern auch um mit der mächtigen
Ausstrahlung des Glaubens einen starken Verfremdungseffekt zu erzielen.
Weitere liturgische Erfahrungen verarbeitete Brecht 1914/15 in den drei Texten:
Dankgottesdienst, Die Orgel und Dankgottesdienst (Novelle). Mittelpunkt dieser Trilogie
bildet Die Orgel. Dieses Instrument musste Berthold sehr beeindruckt haben, denn das
gleichnamige Gedicht beschreibt den Klang der Königin der Instrumente wie folgt:
„Wenn der preisende Orgelton aufschwillt, dunkelt der Raum,
Schweben die Decken lautlos empor, werden gläsern die Wände und weisen das dunkle Land.“12
Die Begeisterung für die Orgel als Instrument hatte wohl ebenfalls in der Barfüßerkirche
ihren Ursprung. Augsburgs Orgeltradition war weit bekannt. Und speziell die Barfüßerkirche
besaß eine der schönsten und berühmtesten Orgeln. Sie wurde 1756-57 von dem
Silbermann Schüler Johann Georg Andreas Stein gebaut und rühmte sich damit, dass Mozart
(dessen Vater aus Augsburg stammte) auf ihr improvisiert hatte. Leider hat dieses
Instrument den zweiten Weltkrieg nicht überlebt. Brecht verfasste auch eine Novelle, in der
ein Dorforganist und damit auch das Orgelspiel im Mittelpunkt steht. Geschildert wird hier
unter anderem der Sog, den das Improvisieren auslösen kann:
„Als er zu präludieren beginnt, ganz versunken, verloren in seiner Improvisation, hat der alte Organist
alles vergessen. [...] Die Menschen unten im Kirchenschiff, den auf Schluss des Präludiums wartenden
Pfarrer, ja sogar seine ungeheuerliche Sorge: die Nachricht vom Ehrentod seines Sohnes. Alles, alles
hat er vergessen.“13
Die Musik, speziell die der Orgel und in improvisatorischer Form, wird hier zum Narkotikum.
Später gibt er sich selbst diesem „Flow-Effekt“ der Musik hin. Nächtelang zog er später mit
seinen Freunden singend und spielend über Feld und Flur und erfand Melodien aus dem
Stegreif, sprich, er improvisierte. Auch verarbeitete Brecht in der Novelle die
beeindruckende Wirkung des Orgelklangs in der großen Kirche und vielleicht waren es ja
auch seine durch solch ein Klangerlebnis hervorgerufen Gedanken, die er beschrieb.
„Es ist, als singe die alte Orgel von vergangenen, schönen Tagen, von einer goldenen, stillen Kindheit,
von Stunden, die schwebend und leuchtend vorübergezogen sind.“14
Im Dankgottesdienst kommt der Orgel die Rolle als Liebes-, bzw. Friedensbotin zu:
Und grüßend schwillt Sang
Heller und heller empor im Sturm und weht
Hochauf und klingt
Über dem Hass der Orgelton ewiger Liebe und singt
Dankgebet.15
12
Brecht, Bertolt: „Die Orgel“; in: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 28.
Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 271; zitiert nach: A.
Dümling, Gegen Verführung, S. 39.
14
A. Dümling, Gegen Verführung, S. 39.
13
14
Neben der sonntäglichen Musik im Gottesdienst hatte die Barfüßerkirche
kirchenmusikalisch weit mehr zu bieten. Das beeindruckendste musikalische Erlebnis für
den jungen Brecht war eine Aufführung der Bachschen Matthäus-Passion. Es war ein höchst
emotionales Erleben für ihn, das Genuss, Sog, innerer Schmerz, Wahn und Sinn beinhaltete.
Er beschrieb 1944 rückblickend dieses Erleben als „wilde*s+ Koma“. Diese emotionale
Überflutung durch Bachs spirituelle Großwerke (speziell der Matthäus-Passion) sah er als
Gefahr für sein krankes Herz und seinen sensiblen Verstand. Er hatte Angst davor, wieder in
solch eine Überemotion zu verfallen, die den ganzen Körper und Menschen so gefangen
nehmen konnte, dass er beschloss, solche Veranstaltungen in Zukunft zu meiden:
„Schon als Junge, als ich die Matthäuspassion in der Barfüßerkirche gehört hatte, beschloss ich, nicht
mehr so wo hinzugehen, da ich den Stupor verabscheute, in den man da verfiel, dieses wilde Koma,
und außerdem glaubte, es könne meinem Herzen schaden (das durch schwimmen und Rad fahren
etwas verbreitert war).“16
Hanns Eisler stellte später in seinen Beobachtungen über Brecht fest: die Theorie der
gestischen Musik geht bei Brecht in seine Jugend zurück und zwar genau auf diese
Begegnungen mit der Musik Johann Sebastian Bachs. Brecht beschrieb selbst die Bachschen
Rezitative aus den Passionen mit ihrer Tonsymbolik als „ein Musterbeispiel gestischer
Musik“. Gestische Musik bedeutete in Brechts Sinne das Darstellen einer erzählenden
Dichtung. Er bewunderte Bach für die Kunst, ein Epos zu musizieren. Brechts Lieblingsstück
in dieser Hinsicht, welches er sich häufig vorspielen ließ, war das erste Rezitativ „Jesus ging
mit seinen Jüngern über den Bach Kidron“ aus der Johannes-Passion von Bach. Hier tritt der
Evangelist als referierender, objektiver Berichterstatter auf. Brecht betonte später,
bezüglich seiner teilweise rezitativischen Lieder, diese nüchterne, sachliche
Darstellungsweise, die er als gestischen Grundcharakter sah.
Brechts literarisches Werk wird von biblischen und christlichen Anklängen durchzogen, sei
es als formgebendes Element in Bezug auf den Titel oder als Namensgebung für Figuren (z.B.
die Person des „Dreieinigkeitsmoses“ in der Mahagonny Oper).
Hier einige größere Werke als Beispiele:




Oratorium (1918/19): Zusammenarbeit mit Armin Kroder. Brechts außergewöhnliche
und unkonventionelle Musikvorstellung überstieg Kroders Fähigkeiten, und Brecht
traute sich nicht, eine so umfangreiche Vertonung im Alleingang zu bewerkstelligen.
Das Werk blieb daher unvertont.
David (1920): Unvollendet; in der Planung waren musikalische Einschübe
vorgesehen.
Requiem (1928): Der großstädtische Mensch wird mit der Erscheinung des Todes
konfrontiert.
Goliath (1937): Soll hier als Ausblick für die Zusammenarbeit mit Hanns Eisler stehen.
15
Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 275; zitiert nach:
M.J.T. Gilbert, Music, S. 21.
16
Brecht, Bertolt: Arbeiter Journal. 16.8.1944; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 28.
15
Musikgebrauch an der Schule
Der Musikunterricht von 1908 war mit der heutigen Pädagogik nicht zu vergleichen. Nicht
nur, dass sich der Musikunterricht gar nicht Musikunterricht nannte. Zudem bestand er rein
aus Singen. Das heißt, neben der musikalischen Auseinandersetzung mit Gesangbuchliedern
im Religionsunterricht werden zusätzlich im Fach „Gesang“ die gelernten Choräle nochmals
wiederholt. In der Satzung heißt es:
„Während der gesamten Schulzeit müssen die Kinder die nötigen Kirchenlieder und außerdem
wenigstens 12 andere Lieder dem Gedächtnis einprägen und singen und lernen [...] Der Lehrer
benützt die Geige, eventuell ein anderes geeignetes Instrument, und singt vor.“17
Damit erhielt das Kirchenlied einen hohen Stellenwert in der damaligen schulischen Bildung
und somit auch in der Allgemeinbildung. Neben dem Singen wurde auch das Musizieren im
Klassenverband angeboten. Das Klasseninstrument bei Berthold Brecht war Violine. Zum
Schulalltag gehörten auch Ausflüge dazu. Beliebt waren die Wanderungen zu den Lechauen.
Die Klassen zog dabei singend und spielend (z.B. mit Gitarre oder Geige) am Fluss entlang.
Auf dem Königlich Bayrischen Realgymnasium, das Brecht ab 1908 besuchte, rückte aber
nun vermehrt auch patriotisches Liedgut in den Fordergrund. Neben dem
„Gesangunterricht“ waren es vor allem königlich-bayrisch geprägte schulische
Veranstaltungen, bei denen Musik eine bedeutende Rolle spielte. Schulveranstaltungen, das
waren vorwiegend Feiern zu nationalen Gedenktagen. Hierbei sollte die Gemeinschaft von
Staat, Kirche, Wirtschaft und Schule demonstriert werden. Stellvertretend für solche
Veranstaltungen, soll hier das Programm der Schulfeier vom 14.Juni 1913, zum Gedenken
der Befreiungskriege und zum Regierungsantritt des deutschen Kaisers, stehen:
1.
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12.
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15.
II. Satz aus der Militär-Symphonie (C-Dur) von Joseph Haydn
Aufruf. Gedicht von Theodor Körner
Der Husar von Auerstädt. Gedicht von Adolf Friedrich Graf v. Schack
a) Schwertlied von Carl Maria v. Weber
b) Schlachtgebet von Friedrich v. Himmel. Vierstimmige Chöre
Festrede, gehalten von Prof. Dr. Hans Ockel
Deutscher Freiheit Schlachtruf von Albert Methfessel. Allgemeiner Gesang.
III. und IV. Satz aus dem Klavier-Quintett (Es-Dur) von Prinz Louis Ferdinand v. Preußen (gefallen bei
Saalfeld 10.Okt. 1806)
Szene aus Schillers Wilhelm Tell (I,4). Vorgetragen von Schülern der Oberklasse
Vaterlandliebe. Vierstimmiger gemischter Chor von Franz Abt
Der Trompeter an der Katzbach. Gedicht von Julius Mosen
Die Leipziger Schlacht. Gedicht von Ernst Moritz Arndt
Blücher am Rhein. Gedicht von August Kopisch
Deutsche Hymne. Vierstimmiger gemischter Chor
Was wir gewonnen. Gedicht von König Ludwig I.
Regentenhymne an Henry Carey. Allgemeiner Gesang18
Das patriotische Liedgut, vorgetragen durch den Schulchor, in dem Brecht zeitweise auch
mitsang, gehörte zum damaligen Standardrepertoire, das sich in jeder
17
Rohse, Eberhard: „Der frühe Brecht und die Bibel. Studien zum Augsburger Religionsunterricht und zu den
literarischen Versuchen des Gymnasiasten“, Göttingen 1983, S. 355f; zitiert nach: A. Dümling, Gegen
Verführung, S. 26.
18
Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 48; zitiert nach: A.
Dümling, Gegen Verführung, S. 29.
16
Männerchorsammlung und in jedem Kommersbüchlein der Studentenschaft fand. Auch die
Instrumentalmusik, hier z.B. Haydn, muss dem militärischen Aspekt dienen. Eine solche
Versachlichung der Musik zur Gebrauchsmusik gehörte für Berthold zum normalen
Schulalltag dazu. So wie hier die Musik bewusst zur nationalistischen Stimmungsmache
eingesetzt wurde, so setzte Brecht später auch seine Musik im Epischen Theater gezielt zur
Entlarvung von Missständen ein. Auch die Problematik, dass Lieder ohne nähere
Betrachtung des Inhalts einfach so (weil sie halt schön oder bekannt sind) durch die Schüler
gesungen wurden, findet sich später bei Brecht wieder. Der „Kanonen-Song“ ist neben der
„Moritat vom Mackie Messer“ hierfür das beste Beispiel. Beide Melodien sind so eingängig,
dass jeder sie vor sich hin singt und sie spätestens mit Robbie Williams in der U-Musik des
20.Jahrhunderts angekommen sind. Darüber aber werden Brechts moralisierende Gesten
übersehen. Das Gefährliche bei so einem „Ohrwurm“, speziell wenn er nationalpatriotischen Inhalt besitzt, aber ist, dass die propagierte Parole als Realität und etwas
Anzustrebendes übernommen wird. Es findet eine Aktivierung durch das Unterbewusstsein
statt, während das Bewusstsein außer Kraft gesetzt ist. Das beginnende 20.Jahrhundert gab
vor, was ca.20 Jahre später zur Vernichtung einer ganzen Glaubensrichtung führen sollte.
Zunächst einmal aber war Berthold, wie alle anderen auch, vom Kampfgeist und vom
Ausbruch des Krieges 1914 begeistert. Nostalgisch schrieb er über die nächtlichen
Flugzeugbeobachtungen in Turmwacht:
„Es war wunderbar schön hier in mitternächtiger Stunde auf dem hohen Turm. [...] Manchmal auch
ertönte unter uns ein Lied in die stille Nacht. Im Ratskeller sangen sie patriotische Lieder. Mächtig
schwollen die Töne der Wacht am Rhein zu uns empor. Und dann erklang es leis und weh: Muß i
denn, muß i denn zum Städtele naus.“19
Die Musik war es, vorgetragen von einer Masse, die durch ihre unmittelbare Wirkung auf
das Gefühl begeisterte und mitriss; so auch den jungen Brecht. Patriotismus und Religion –
in der Schule propagiert - wurden zu einem Musikerlebnis verschmolzen, das Brecht in
seinem Gedicht Dankgottesdienst so beschreibt:
Viel hundert Stimmen schauen empor,
Verklärt von der Freude Gold.
Viel hundert Stimmen erbrausen im Chor,
Wie das stürmt und jauchzt, wie wenn es empor
Zum Himmel sich schwingen wollt.20
Speziell die musikalische Massenwirkung der Erbauung, wie sie oben im Programm der
schulischen Feierstunde abgehalten wurde, wird hier nochmals imposant geschildert.
19
Rohse, Eberhard: „Der frühe Brecht und die Bibel. Studien zum Augsburger Religionsunterricht und zu den
literarischen Versuchen des Gymnasiasten“, Göttingen 1983, S. 373ff; zitiert nach: A. Dümling, Gegen
Verführung, S. 31.
20
Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 159; zitiert nach: A.
Dümling, Gegen Verführung, S. 31.
17
Der Bruch
1914 begann der Erste Weltkrieg. Brecht, zunächst von der schulischen Propagandaschiene
begeistert mitgerissen, bemerkte bald, dass seine Vorstellung von einer vernunftgeprägten,
humanistischen und aufgeklärten Welt nicht mehr existieren konnte. Enttäuscht und
verbittert stürzte er sich in die Dichtkunst, die zur Verarbeitungsform wurde. 1916 setzte
Brecht ein Signal, mit dem er sich von konservativen Formen abgrenzte: er nahm eine
Namensänderung vor. Die beiden Vornamen Eugen und Berthold lehnte er wegen ihrer
„holden Ritterlichkeit“ ab und nannte sich nun Bert Brecht. Durch die Alliteration und die
äußerste Knappheit schuf er eine Charakteristik, zu der auch die markante Erscheinung
seiner Person zählte.
Entgegen der bürgerlichen Tradition kleidete Bert sich nun betont nachlässig und wusch sich
selten. Aus seiner Anti-Haltung heraus entwickelte er letztendlich seinen eigenwilligen und
äußerst auffallenden optischen Stil mit Lederjacke, Schiebermütze und Zigarre.
Der Erste Weltkrieg mit seinen Materialschlachten und Stellungskämpfen tobte und Bert
begann zwischen glorifizierten Heldenballaden und der Realität des Krieges zu
unterscheiden. Der patriotischen Schulerziehung setzte er sich in einem Aufsatz - über das
todes- und vaterlandsverherrlichende Horaz-Zitat: „Dulce et decorum est pro patria mori“ –
zur Wehr, indem er sich weigerte, das gewünschte Pathos herunterzuleiern und schrieb
stattdessen:
„Der Ausspruch, dass es süß und ehrenvoll sei, für das Vaterland zu sterben, kann nur als
Zweckpropaganda gewertet werden. Der Abschied vom Leben fällt immer schwer, im Bett wie auf
dem Schlachtfeld, am meisten gewiss jungen Menschen in der Blüte ihrer Jahre. Nur Hohlköpfe
können die Eitelkeit so weit treiben, von einem leichten Sprung durch das dunkle Tor zu reden, und
auch dies nur, solange sie sich weit ab von der letzten Stunde glauben. Tritt der Knochenmann aber an
sie selbst heran, dann nehmen sie den Schild auf den Rücken und entwetzen, wie des Imperators
feister Hofnarr bei Philippi, der diesen Spruch ersann.“21
Erneut (nach Die Bibel 1914) tat Brecht seine abschätzige Meinung über den propagierten
Heldentod kund. Solche Abweichung vom standardisierten schulischen Lerninhalt blieb nicht
ohne Konsequenzen. Dank des Benediktinerpaters Romuald Sauer, der sich mit der
Begründung , der Krieg habe wohl den sensiblen Jungen etwas verwirrt, sehr für seinen
(begabten) Zöglin einsetzte, entging Bert 1916 nur knapp dem Schulverweis. 1917 entließ
ihn das kriegsbedingte „Notabitur“ aus den Zwängen des Lehrinstitutes.
Da die Lieder und der Musikgebrauch ebenfalls mit solch verherrlichenden Texten unterlegt
waren, wurde für Brecht auch die Musik zu einer anfechtbaren Institution, die zu blinder
Zustimmung verführte. Über den patriotischen Verführungsgedanken der Musikverwendung
schrieb er:
„Ein bisschen Marschmusik auf dem Marktplatz, ein paar erbeutete Fahnen, eine patriotische Rede,
nicht zu hoch für unsere brave Landbevölkerung, und Sie haben die flammendste Unterstützung
unserer Weiblichkeit.“22
21
22
Vgl. K. Völker, Brecht, S. 16.
B. Brecht, GW, Bd.6, S. 2631.
18
Fast lächerlich machte er sich über den musischen Heroismus, der bis zuletzt versuchte, die
von ihm gepredigten leeren Illusionen aufrecht zu erhalten, auch wenn die Bevölkerung
bereits körperlich und moralisch am Boden lag:
„Das Blech gießt ein wenig Heroismus in die blutarmen Herzen der Bürger.“23
Auch seine Wagner-Begeisterung wandelte sich zunehmend zu einer Anti-Wagner-Haltung,
die Mitte der 20er Jahre in einer radikalen Ablehnung des pompösen Musikdramas und in
einem Neuentwurf für eine Epische Oper gipfelte. Wie bei Thomas Mann (vgl. Doktor
Faustus) so war auch für Brecht die Musik eine urdeutsche Eigenschaft und sollte auf jeden
Fall beibehalten werden. Brecht lehnte nicht die eingängigen Schlager, Volkslieder, Hymnen
etc. ab, sondern wollte durch die Textaussage wachrütteln. Er verfasste daher selbst
Melodien zu den eigenen Texten oder griff bekannte Melodien auf und parodiert diese
durch eine neue Textzuordnung.
1916 war auch das Jahr, in dem zum ersten Mal „Liebe“ eine Rolle in seinem Leben spielte.
In seinem ersten Liebesbrief bezeichnete er sich als Dichter. Durch diese Titulierung stellte
er sich nun auf eine angesehene künstlerische Ebene und zeigte damit, dass er sich seinen
poetischen Qualitäten bewusst war und sich der künstlerischen Verantwortung, die das
Gedicht als ein filigranes lyrisches Gebilde birgt, stellen wollte. Auch das Schreiben von
Theaterstücken reizte ihn zunehmend und am 21. Oktober 1916 schrieb er selbstbewusst,
aber doch seiner momentanen Grenzen bewusst:
„Schreiben kann ich, ich kann Theaterstücke schreiben, bessere als Hebbel, wildere als Wedekind. Ich bin
faul. Berühmt werden kann ich nicht. Werde ich es, gehe ich nach Amerika und werde Cowboy *...+.“24
Rückblickend wirkt dieses Zitat des frühen Brecht sehr selbstironisch, denn er wurde
berühmt und ging (zwar nicht ganz freiwillig) nach Amerika.
23
24
B. Brecht, GW, Bd.6, S. 2636.
Brecht, Bertolt: Tagebucheintrag; in: B. Brecht, Augsburg und München, S. 59.
19
Augsburg – München 1917-1920
Konzertbesuche und Dirigierambitionen
Wenn sich die Freunde einmal nicht zu einem häuslichen Musikgelage trafen, bildete der
Ludwigsbau, der Konzert- und Stadtsaal Augsburgs, einen beliebten Treffpunkt für die Clique
und auch für die damalige Jugend im Allgemeinen. Bis 1914 gab es noch die sonntäglichen
Stadtgartenkonzerte mit Militärkapellen und der entsprechenden Musik dazu. 1915 wurde
Karl Ehrenberg Opernkapellmeister in Augsburg und führte die städtischen Sinfoniekonzerte
im Ludwigsbau ein. Neben den klassischen Werken führte das Orchester auch etwas
„leichtere“ Muse auf, bestehend aus Operettenmelodien, Militärmusik, Potpourris und
Bearbeitungen bekannter populärer Werke. Brecht schloss bald Bekanntschaft mit dem
Dirigenten und Komponisten Karl Ehrenberg, was seine vermehrten Konzertbesuche
begründete. Paula Banholzer, Brechts damalige Freundin, auch „Bi“ genannt, berichtete:
„Brecht war ständiger Gast dieser Sonntagskonzerte. Er verehrte den Leiter dieser Konzerte, Karl
Ehrenberg, sehr.“25
Aus dieser Verehrung heraus entstand Brechts Wunsch und Wille, sich selbst auch intensiv
mit Musik zu befassen und Dirigent zu werden:
„Einmal blieb er plötzlich stehen, zeigte auf den Dirigenten, der auf einem Holzpodest stand, und
sagte ganz laut: ‚Das garantier ich euch, auf solch einem Podest stehe ich auch einmal.’“,26
soweit der Bericht eines Mitschülers. Später hat Brecht die Dirigenten als
„Ballettrattenkönige“ abgetan, aber zunächst einmal war er voller Bewunderung für die
Person Ehrenberg und für diesen Berufszweig. Sein dirigentisches Nacheifern ging soweit,
dass sich plötzlich ein Notenpult mit Taktstock und aufgeschlagener Tristanpartitur darauf in
seiner Wohnungseinrichtung fand. Dieses Instrumentarium war bei ihm aber nicht lebloses
Mobiliar, sondern in stetem Gebrauch. Brecht dirigierte mit Vergnügen zu Hause. Das
Dirigieren ermöglichte ihm nach eigener Aussage Entspannung nach der anstrengenden
dichterischen Arbeit. Außer Freundin „Bi“ bekamen die Freunde dieses Dirigier-Spektakel
kaum bzw. gar nicht zu Gesicht:
„Brecht dirigierte übrigens auch zu Hause, allein oder in meiner Gegenwart. Er hatte ein kleines
Stehpult und einen relativ langen Taktstock. Damit dirigierte er Musik aus dem Gedächtnis. Da er ein
besonderes Verhältnis zur Musik habe, erklärte er mir, genüge es ihm, sie im Geiste zu hören. Das
Dirigieren sei die notwendige Folge und bereite ihm Vergnügen. Ich muss sagen, das hat mich damals
sehr beeindruckt, denn er machte es sehr gekonnt.“27
Auch bezeichnete Brecht das Dirigieren als logische Konsequenz der Verarbeitung von
gehörter bzw. erlebter Musik. Er dirigierte nicht nur aus seiner einzigen Partitur, sondern
setzte alles Musikalische, was ihm im Gedächtnis hängen geblieben war, was er irgendwo
25
Eser, Willibald; Poldner, Axel: „So viel wie eine Liebe: Der unbekannte Brecht“, München 1981, S. 32;
zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 18.
26
Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 57; zitiert nach: A.
Dümling, Gegen Verführung, S. 38.
27
Eser, Willibald; Poldner, Axel: „So viel wie eine Liebe: Der unbekannte Brecht“, München 1981, S. 111-112;
zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 10-11.
20
einmal gehört hatte, in Bewegung um. Das bedeutet, er war ein sehr aufmerksamer
Musikhörer und hatte ein auffallend gutes Gedächtnis, was musikalische Zusammenhänge
(von Themen, Motiven, Formen, Klängen, Verarbeitungsprinzipien u.v.a.) betraf. Dadurch,
dass er die Musik, über mehrere Sinne, jetzt auch durch den Bewegungssinn anhand des
Dirigierens, wahrnahm, prägten sich ihm musikalische Eigenschaften viel besser ein. Dieses
Zuhören, Einprägen, Aufgreifen und nach eigenem Gusto verändern, zog sich durch sein
ganzes musikalisches Schaffen. Nicht grundlos bezeichnete ihn Hanns Eisler später als
„riesige Musikalität ohne Technik“; denn nirgends wird berichtet, dass Brecht das Dirigieren
(gleich dem Tonsatz) unter professioneller Anleitung lernte.
Die Brecht-Clique
Trotz seines Studiums in München war Brecht regelmäßig zu Hause in Augsburg und hielt
seine Freundschaften aufrecht, die von Kindheit an eine große Rolle in seinem
künstlerischen und privaten Leben spielten. Die wichtigsten Bezugspersonen, die Bert
regelrecht um sich scharte – und deswegen auch die „Brecht-Clique“ genannt wurde –
waren Caspar Neher, Rudolf Prestel, Georg Pfanzelt, Georg Geyer und Otto Müller.
Zu Schulzeiten dienten ihm die Freunde (Georg Pfanzelt, Ludwig Prestel, Georg Geyer) in
musikalischer Hinsicht. Sie spielten dem pianistisch unterbemittelten Bert am Klavier die
klassischen und barocken Meister vor. Die Schulferien wurden bevorzugt für solche
Hausmusikaktionen verwendet. Entweder Brecht lud die Freunde – manchmal auch einzeln
– zu sich ein, besuchte sie, oder die musikbegabten und musikinteressierten Freunde trafen
sich bei „Orge“ (Georg Pfanzelt) zu hausmusikalischen Exzessen. Bert ließ hauptsächlich
Bach, Mozart und Beethoven vorspielen. Bach wurde zeitweise zu Brechts
Lieblingskomponist, da er an ihm vor allem den spielerischen Umgang mit Musik, z. B. in den
Suiten und dem Wohltemperierten Klavier, schätzte.
Dass Musik für Brecht die wichtigste Quelle bildhafter und damit auch dichterischer
Inspiration war, zeigte sich offensichtlich, als Georg Geyer ihm aus der Sonate in F, KV 280
von W. A. Mozart vorspielte:
„Brecht war oft bei mir zu Hause. Einmal spielte ich den Mittelsatz von Mozarts „Tod im Walde“, eine
Sonate in F-Dur, Köchelverzeichnis 280. Brecht saß gedankenversunken da und hörte zu. Als ich
geendet hatte, stand er langsam auf, kam zu mir ans Klavier, nahm das Notenblatt und schrieb mit
Bleistift die Worte neben den Titel:
Und er hauchte in seine Hand
Und er roch an seinem Atem und er
Roch faulig. Da dachte er bei
Sich, ich sterbe bald.“28
Brecht reagierte also in verstärktem Maße emotional auf Musik. Sie war für ihn mit
bildhaftem Inhalt gefüllt. Und Bilder stellten bei seiner dichterischen Arbeit die Grundlage
dar. Er sagte selbst über seinen Arbeitsprozess:
„Ein Dichter muss in Bildern denken und dann diese Bilder beschreiben.“29
28
Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 133; zitiert nach: A.
Dümling, Gegen Verführung, S. 35.
21
Daher war es auch nicht verwunderlich, dass sich Brecht zunehmend von den monströsen
sinfonischen Werken distanzierte. Sie stellten für ihn eine Reizüberflutung dar, die er später
am Beispiel von Wagners Musikdramen als emotionale Beeinflussung des Publikums
definierte:
„Ein einziger Blick auf die Zuhörer der Konzerte zeigte, wie unmöglich es ist, eine Musik, die solche
Wirkungen hervorbringt, für politische und philosophische Zwecke zu verwenden. Wir sehen ganze
Reihen in einen eigentümlichen Rauschzustand versetzter, völlig passiver, in sich versunkener allem
Anschein nach schwer vergifteter Menschen. Der stiere, glotzende Blick zeigt, dass diese Leute ihren
unkontrollierten Gefühlsbewegungen willenlos und hilflos preisgegeben sind.“30
Den musikalischen Schwerpunkt bei den kammermusikalischen Treffen der „Brecht-Clique“
bildete Beethoven. Brecht beschäftigte sich in den letzten Schuljahren intensiv mit diesem
Komponisten und verfasste 1914 einen feurigen Zeitungsbeitrag über die Egmont
Ouvertüre. Darin beschreibt er das Werk als:
„*...+ leidenschaftliche, stürmische Musik, deren Motiv ein Aufrütteln gegen Tyrannenjoch ist“31
1916 ließ sich Brecht mit einem Beetoven-Bild in der Hand fotografieren. Doch auch
Beethovens Musik war ihm zunehmend zu „gefühlsverwirrend“ und wurde als
überdimensionaler „Tam-Tam“ von Sentimentalität abgetan:
„den beethoven mag ich immer noch nicht, dieses drängen zum unter- und überirdischen, mit den oft
(für mich) kitschigen effekten und der ‚gefühlsverwirrung.’ das ‚sprengt alle bande’ wie der
merkantilismus, da ist diese innige pöbelhaftigkeit, dieses ‚seid umschlungen, millionen,’ wo die
millionen den doppelsinn haben (als ginge es weiter, ‚dieses coca cola der ganzen welt!.’).32
Dieses Ablehnen großer orchestraler Musikformen entsprach der allgemeinen Entwicklung
hin zu einer neuen musikalischen Sachlichkeit. Brecht wollte, wie Sigmund Freud, nicht von
einer Musik ergriffen werden, die man nicht (be)greifen kann bzw. die keinen vermittelnden
Charakter hat.
Die Freunde bildeten für Brecht den Mittelpunkt in Sachen Geselligkeit. Dieses
Beisammensein diente ihm zur Inspiration seines dichterisch-musikalischen Schaffens oder
als Anlass, sich in ein neues Liebesabenteuer zu stürzen. Das drängende Bedürfnis, stets von
lebensfrohen Freunden umgeben zu sein, stand Berts Angst vor der Einsamkeit und dem
Alleinsein gegenüber.
Besonders gesellig ging es bei den freundschaftlichen Unternehmungen, den nächtlichen
musikalisch-literarischen Streifzüge durch Augsburg und die Umgebung zu. Diese
gemeinsamen Erlebnisse der Freunde waren bezeichnend für den „Zauber dieser Jugend“ –
eine Jugend, bei der der Gemeinschaftsgedanke der damaligen Zeit, ausgehend von der
Wandervogelbewegung, eine bedeutende Rolle spielte. Verbindendes Mittel bei solchen
geselligen Stelldicheins war die Musik. Die instrumentalen Hilfsmittel dabei waren Gitarre
29
Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 103; zitiert nach: A.
Dümling, Gegen Verführung, S. 39.
30
Brecht, Bertolt: „Über Bühnenaufbau und Musik des epischen Theaters“, in: B. Brecht, GW, Bd.15, S. 480.
31
Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 249; zitiert nach: A.
Dümling, Gegen Verführung, S. 34.
32
Brecht, Bertolt: „Arbeitsjournal“, Werner Hecht (Hrsg.), 2 Bände, Frankfurt am Main 1973, S. 676; zitiert
nach: M.J.T. Gilber, Music, S. 17.
22
und Violine. Sie waren transportabel und sorgten für einen intimen nostalgischen
Lagerfeuercharakter. So begab sich die „Brecht Clique“ singend und wild dirigierend auf
Wanderschaft durch die schöne Maiennacht:
„Zu den schönsten Erinnerungen dieser Zeit gehören für mich die nächtlichen Streifzüge durch die
[Augsburger] Altstadt über Brunnlech und Graben, Pfannenstiel und Lueginsland. Da singt Brecht zu
seiner Klampfe, der sämtliche Saiten fehlen [...] oder es wird eine Kantate, fast schon eine Oper, über
die schöne Maiennacht improvisiert, zu der Freund Orge als Kapellmeister, großartig mit den Armen
fuchtelnd, ein imaginäres Orchester zu wildestem Furioso anfeuert. Oft klettern wir auch über die
Zäune oben am Stadtwall, wo den Augsburger Schönen Serenaden dargebracht werden, Brecht mit
der Gitarre, ein Freund mit der Violine, der dritte mit einem an langer Stange schwankenden Lampion.
Gesungen werden Goethes ‚Rattenfänger’ und einige Wedekind-Lieder [...] zu denen Brecht die
Melodien erfunden hatte. [...] In tiefer Nacht ziehen wir dann in bunter Reihe durch die schlafenden
Straßen der alten Reichsstadt heimwärts. Und Brecht, ein großartiger Wagner-Parodist, improvisiert
eine tristanische Arie auf seine Wolfhündin Ina.“33
Das Improvisieren und Komponieren ging Brecht wohl leicht von der Hand. Sein Freund
Georg Geyer merkte dazu an:
„Einige Male sah ich zu, wie Brecht zu Texten Melodien komponierte. Es ging letztlich ganz rasch. Aber
es war so ungewohnt und regelwidrig wie alles, was Brecht tat.“34
Diese Regelwidrigkeit brachte ihm später den Ruf „riesige Musikalität ohne Technik“ ein
(Hanns Eisler).
Neben Brechts eigenen Kompositionen und denen seines Vorbilds Frank Wedekind waren es
Goethe-Vertonungen, die im Mittelpunkt der spät abendlichen Ständchen standen:
„Wir singen nachts Lieder vom Goethe, vom Wedekind und vom Brecht.“35
Lampions gehörten für Brecht genauso unabdingbar zur nächtlichen Romantik dazu, wie
(Wein,) Weib und Gesang’:
„Wir zünden nachts auch Lampions an und ziehen durch die Stadt zu den schönen Mädchen und
machen Musik, heulen wie die Wölfe!“36
Brecht verarbeitete die nächtlichen Serenaden und Streifzüge mit seinen Freunden, die
durchzechten Nächte, die Natur und die „Jugendsünden“ in dem Gedicht „Aus verblichenen
Jugendbriefen“.
Mag auch Brecht, das „Klampfentier“, musikalisch im Mittelpunkt dieses nächtlichen
Ambientes, mit Sternenhimmel und Lampions, gestanden haben, so waren doch auch stets
seine Freunde als Instrumentalisten, Sänger oder Dirigenten (allen voran „Orge“) mit im
Einsatz:
33
Münsterer, Hans Otto: „Bert Brecht: Erinnerungen aus den Jahren 1917-22“, Zürich 1963, S. 112-113; zitiert
nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 24.
34
Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 134; zitiert nach:
M.J.T. Gilbert, Music, S. 8.
35
Brecht, Bertolt: „Briefe 25. Augsburg, Ende April 1918“, in: J. Lucchesi, R.K. Shull, Musik, S. 94.
36
Brecht, Bertolt: „Briefe 28. Augsburg, 11. Mai 1918“, in: J. Lucchesi, R.K. Shull, Musik, S. 94.
23
„Wenn wir abends zu unseren kleinen Abenteuern zusammenkamen, da waren bei Brecht Gitarre und
Lampion obligatorisch. Harrer spielte Violine, Pfanzelt war ebenfalls mit einer Gitarre ausgerüstet,
oder er dirigierte uns, andere spielten Mundharmonika oder summten die Melodie einfach so mit.“37
Mit von der Partie war auch Brechts Bruder Walter. Die Brüder traten öfters auch als Duo
musikalisch in Erscheinung. Da Walter und die Freunde so eng in Brechts Musikdramaturgie
eingebunden waren ist es nicht verwunderlich, dass sie auch eigenständig Brechts Texte
vertonten. Diese gab es dann speziell auf solchen nächtlichen Exkursionen zu erleben. Der
Bericht von Paula Banholzer zeigt nochmals das Mitwirken der Freunde am musikalischen
Akt und stellt Georg Pfanzelt als damaligen „Haupt-Brecht-Komponist“ vor:
„Zu dieser Zeit brachte er *Brecht+ mir auch fast allabendlich ein Ständchen. Dazu hatte er zwei
weitere Freunde engagiert [Otto Bezold, Georg Pfanzelt]. Alle drei trugen mir die neuesten Songs vor,
die Texte natürlich von Brecht selbst, und die Melodie von Pfanzelt, manchmal auch von Brecht.“38
Aber auch Brechts eigenes kompositorisches Schaffen wird
hier neben der schriftstellerischen Arbeit erwähnt. Dies
führte zu einer neuen Aufgabe für die „Brecht-Clique“. Sie
stellte das erste kritische Publikum für Bert, vor dem er
alles ausprobieren und seine Werke auf die
Praxistauglichkeit hin testen konnte. Sein künstlerisch
begabter und begeisterter Freundeskreis bot hierbei eine
ideale Quelle für Anregungen. Brecht muss diese
Anregungen und die künstlerische Komponente seiner
Freunde sehr geschätzt haben, denn sonst hätte er mit
Sicherheit nicht seine Literaturvorlagen zum Vertonen
hergegeben. Noch Jahre später arbeitete er mit einem
dieser Freunde, dem Maler und späteren Bühnenbildner
Caspar Neher, „Cas“, eng zusammen. Er nannte ihn sogar
„Bruder in Arte“. Neher illustrierte geplante Werke wie die
Klampfenfibel (1919) mit bunten Aquarellen und später
entwarf er die Bühnengestaltung zu Werken wie „Aufstieg
und Fall der Stadt Mahagonny“.
Bildentwurf von „Cas“ auf der
Partitur des Mahagonny Songspiel
Und wenn die „Brecht-Clique“ nicht gerade die Stadtgartenkonzerte besuchte oder auf
musikalischer Nachtwanderung war, bildete der Plärrer die zentrale Anlaufstelle für
gemeinschaftliche Vergnügungen und kulturelle Erbauung. Bert hatte dort Kontakte zu
vielen Schaustellern, zu Menschen „ohne Vorurteile und ohne Hemmungen, die ihr Leben
ohne konventionelle Bindungen zu leben verstanden.“
Im Tagebuch von 1920 heißt es über diese Wiege seiner soziokulturellen Inspiration:
„Immer streune ich abends übern Plärrer, der einem seine Negermusik mit Keulenschlägen eintreibt
[...]! Der Mond, wo wir die Hallelujasinger im Laub spielen, verfällt langsam [...] . Mit Film und
Bänkelsang werden wir uns noch einen halben Mond über Wasser halten *...+ !“39
37
Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S106; zitiert nach: M.J.T.
Gilbert, Music, S. 5.
38
Eser, Willibald; Poldner, Axel: „So viel wie eine Liebe: Der unbekannte Brecht“, München 1981, S. 24;
zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 4.
39
Brecht, Bertolt: „Tagebuch, 24. August 1920“, in: J. Lucchesi, R.K. Shull, Musik, S. 97.
24
Die Bezeichnung „Film“ spielt auf die Musikkästen an, die neben der Musik auch Bilder
zeigten.
Die wichtigste gattungsspezifische – musikalisch wie literarisch – Begegnung auf dem Plärrer
war für Brecht jedoch der Bänkelsang.
Ab 1920 löste sich die „Brecht-Clique“ langsam, wegen Studium und Beruf der einzelnen
Mitglieder, auf. Für Brecht, der bis dahin auch finanziell an Augsburg gebunden war, wurde
dadurch die Stadt immer uninteressanter. Alle wichtigen Leute, die ihn auf seinem
literarischen und musikalischen Weg weiterbringen konnten, lebten nun in München oder
Berlin. Als am 1.Mai 1920 auch noch seine Mutter starb, zu der er immer eine sehr innige
Beziehung hatte, wurde die Bindung an seine Heimatstadt noch geringer. Im gleichen Jahr
noch übersiedelte er ganz nach München. Brecht war erst einmal froh, dem Provinzialismus
entflohen zu sein, blieb aber dennoch seiner Heimatstadt (zumindest im Geiste) sein Leben
lang verbunden. Später rühmte er sich stolz als „der“ Augsburger repräsentativ für diese
Stadt zu sein.
Erste musikalische Professionalisierung
Nach dem „Notabitur“ im Frühjahr 1917 studierte Brecht
ab September Medizin an der Maximilians-Universität
München. Sein Wohnsitz wird nun wochentags dieses
Kulturzentrum – München ist vor dem Ersten Weltkrieg
kulturell weitaus bedeutender als die spätere
Künstlerstadt Berlin. Brecht ließ keine Gelegenheit
kultureller Erfahrung und Weiterbildung aus. In seinen
Briefen nach Augsburg berichtete er von Opernbesuchen,
mehrmals die Woche. Auf dem Oktoberfest lernte er
1919 eines seiner Vorbilder kennen: Karl Valentin.
„Dieser Mensch ist ein durchaus komplizierter, blutiger Witz. Er ist
von einer ganz trockenen, innerlichen Komik, bei der man rauchen
und trinken kann und unaufhörlich von einem innerlichen Gelächter
geschüttelt wird, das nichts besonders Gutartiges hat.“40
Portrait Karl Valentin, Eugen Rosenfeld
Valentin war ein Mensch mit bissigem, zynischen und vor allem kritischen Humor und somit
genau auf Brechts Gedankenebene. Er schuf eine Atmosphäre, die sinnliches und geistiges
Erleben direkt nebeneinander stellte und dadurch das kabarettistische Flair ausmachte.
Soldatenlieder wurden gekonnt parodiert und seine Figuren zeigte Valentin immer mit
einem distanzierten Darstellungsstil; d.h., er verwandelte sich nicht in sie. Eine
Darstellungspraxis, wie sie später als Grundregel in das Epische Theater von Brecht
40
Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. 30 Bände, Werner Hecht, Jan
Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller (Hrsg.), Berlin-Weimar und Frankfurt am Main 1988, Band 21,
S.101; in: R. Jaretzky, Brecht, S. 30.
25
eingegangen ist. Valentins freche und unkonventionelle Art griff Bertolt auf und sah sich
selbst als proletarische Person, die sich streitbar der Münchner Boheme entgegenstellte.
Beide harmonierten so gut, dass Bertolt zunächst einmal als Statist in einem der
beliebtesten Werke Valentins mitwirken durfte: Die Orchesterprobe. Später spielte er dann
sogar als Klarinettist in Valentins Kabarettorchester mit.
Siehe Bild unter: http://www.br.de/nachrichten/brecht_valentin.
Ab 1918 stiegen Brechts Lyrikproduktion und die damit verbundenen spontanen
Melodiefassungen immens an. Darum entschloss er sich, eine Art der schriftlichen Fixierung
zu entwerfen. Zum einen ist dies nötig, damit die Melodien nicht verloren gehen und
reproduzierbar gemacht werden, zum anderen ist etwas Geschriebenes, Gedrucktes,
Veröffentlichtes von Belang, um über die Stadtgrenzen hinaus bekannt zu werden, was
Brecht anstrebte. Indem er seine Lyrik auch musikalisch durch die Notation der
Öffentlichkeit zugänglich machte, stieg dadurch auch der Gebrauchswert seiner Lyrik, den er
forderte:
„Lyrik muss zweifelsohne etwas sein, was man ohne weiteres auf den Gebrauchswert untersuchen
können muss.“41
Wie bei seinen regelwidrigen Spontanvertonungen, die er aus musikalischer Gewohnheit
heraus entwarf, so zeigte sich auch in der Notationsart Brechts „riesige Musikalität ohne
Technik.“ Obwohl Bertolt Noten lesen und schreiben konnte, er hatte ja schließlich
klassischen Klavier-, Geigen- und Gitarreunterricht, entwickelte er aus Zeitgründen heraus –
seine lyrisch-musikalischen Schaffensprozesse finden zum Teil unterwegs statt – seine
eigene stenographische Notenschrift, die zunächst einmal als Erinnerungsstütze für seine
musikalischen Einfälle gedacht war. Brechts Freund Georg Geyer beschreibt die Ansätze von
Berts Schnellnotenschrift im Sinne von Zeiteinsparung:
„Einige Male sah ich zu, wie Brecht zu Texten Melodien komponierte. Es ging letztlich ganz rasch. Aber
es war so ungewohnt und regelwidrig wie alles, was Brecht tat. Er zog ganz hauchdünn die fünf
Notenlinien, und dann machte er anstelle der Notenköpfe einfach nur kleine Kreuze mit nach unten
gezogenen Strichen daran. So notierte er sich sozusagen die Melodien zu seinen Versen in Kurzform.
Brecht konnte natürlich Noten lesen und schreiben, nur mit den Kreuzen statt der Noten schien es
ihm schneller zu gehen.“42
Was Brecht von der standardisierten Notation übernahm waren die fünf Notenlinien und die
dazugehörigen Tonhöhen, den Violinschlüssel, die Tonartangabe durch Vorzeichen und
manchmal auch Taktangaben. Ab und zu hat Brecht auch Akkordsymbole, wie sie in den
gängigen Liederbüchern gehandhabt werden (Großbuchstabe entspricht Dur,
Kleinbuchstabe bedeutet Moll), zu seinen Melodieentwürfen hinzugefügt. Anders als in der
Standardnotenschrift verwendet Brecht einen schrägen Strich, um einen kurzen Notenwert
anzugeben. Lange Noten werden durch ein Kreuz wie in der Schlagwerknotation
gekennzeichnet. Damit ist nur eine relative Tondauer gewährleistet, denn die Noten stehen
41
Schumacher, Ernst: „Die dramatischen Versuche B. Brechts. 11918-1933“, Berlin 1955, o.S. ; zitiert nach: J.
Mittenzwei, Musik in Literatur, S. 428.
42
Frisch,Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Franfurt am Main 1976, S. 134; zitiert nach: A.
Dümling, Gegen Verführung, S. 74.
26
somit nur im Verhältnis kurz zu lang, aber nicht in einer Proportionalität zueinander. Eine
Eingrenzung der Melodie in Takte und damit in rhythmische Strukturen gibt es nicht. Das
Charakteristische bei Brecht ist, dass er seine Melodien nach den Versen seiner Lyrik statt
nach Takten gliedert. Ist im Melodieverlauf ein Vers zu Ende, wird dies durch einen
senkrechten Strich – so ähnlich wie ein Taktstrich, nur über die Notenlinien etwas
hinausragend – kenntlich gemacht. Darum genügt es auch, dass Brecht meist nur die
Anfänge der Verszeilen unter die Noten setzte, da diese bereits separat in schriftlicher Form
existierten. Ein Zeilenende stellt bei Brecht eine Zäsur dar. Dies liefert somit schon einen
Hinweis auf den Rhythmus. Der andere Hinweis liegt im Text selbst. Das Reimschema gibt
die Betonungen, speziell durch denn Sinnakzent der Reimsilbe, vor, das Metrum der Verse
die rhythmische Struktur der Melodie. Damit rhythmisieren sich die Lieder von selbst. Als
Beispiel soll die Notenskizze zu Brechts Schlager „Das Lied von der Rose vom Schipkapaß“
dienen:
Hier zunächst die stenographische Aufzeichnung im Stile Brechts.
In gebräuchliche Notenschrift übertragen sieht die Notenzeile wie folgt aus:
Die Tonhöhen werden eins zu eins übernommen. Der 3/4-Takt ergibt sich aus dem Auftakt
der kurzen („Punkt“) unbetonten Silbe „Ein“ am Anfang der ersten Verszeile und dem
Hauptwortakzent in Kombination mit dem langen Notenwert (Kreuz) auf „Sonn-„. Das
Versende bekommt durch die Punktierung bzw. Verlängerung und die darauffolgende Pause
die gewünschte Betonung und Zäsur.
Für den gestischen Gesangsvortrag gibt auch die Lautgestalt der Texte den Ton an, denn
Brecht schreibt auch keine musikalischen Vortragsmerkmale wie Tempo- oder
Charakteristikbezeichnungen vor.
Als Brecht ab 1922 an seinen Hauspostillen arbeitete, stellte sich im Hinblick auf die
geplante Veröffentlichung und durch die beginnende Zusammenarbeit mit professionellen
Komponisten eine Standardisierung seiner Notation ein. Es ist bemerkenswert, dass Brecht
seine wichtigste Gedichtsammlung nicht nur formell und inhaltlich an musikalischen
Parametern anlehnte, sondern ihr auch einen Notenanhang zur praktischen Handhabung
hinzufügte.
27
München – Berlin 1920-24
Die Situation
1920 zog Brecht endgültig nach München. Er fuhr aber noch regelmäßig nach Augsburg, da
er dort seit 1919 (und noch bis 1922) als Theaterkritiker beim Augsburger Volkswille
arbeitete und bissige Kritiken verfasste. Neben seiner Arbeit an eigenen Stücken, wurde
Brecht Dramaturg an den Münchner Kammerspiele(n) und begab sich auf die Suche nach
Verlegern für seine Werke.
Offiziell trat er nun unter dem Namen „Bertolt“ Brecht in Erscheinung.
Nach der ersten Berlinreise im Februar 1920 reiste er nun immer häufiger in die werdende
deutsche Kulturhauptstadt und knüpfte Kontakte zu Literaten, Regisseuren, Dramaturgen,
Verlegern und Schauspielern.
Aber Berlin hatte noch kein Interesse an den Werken des Neulings. Darum wurden Brechts
erste große Stücke in den Münchner Kammerspiele(n) („Trommeln in der Nacht“ 1922) und
am Bayrische(n) Staatsschauspiel („Im Dickicht der Städte“ 1923) uraufgeführt. Aufgrund
Brechts anti-politischer Haltung wurde Im Dickicht der Städte jedoch bald abgesetzt. Brecht
hoffte nun auf Berlin, dass ihm zum endgültigen Durchbruch verhelfen sollte.
Ab 1922 schrieb Brecht auch Beiträge für den Berliner Börsen-Courier.
Marianne Zoff
Marianne
Zoff
Am 3.November 1922 heiratete Brecht die Wiener
Mezzo-Sopranistin Marianne Zoff. Seine Verehrung für
diese Frau führte ihn wieder sehr häufig ins Theater,
wo seine Frau auftrat, und brachte ihn so mit dem
wichtigsten Opernrepertoire in Berührung. Zu Hause
schaute und hörte er ihr gerne beim Üben zu und wird
ihr wohl ab und zu auch beim Einstudieren der Rollen
geholfen haben: „Wir nehmen Carmen durch *und+
den Rosenkavalier“, berichtet Brecht. Ihr zuliebe, um
sie auf der Bühne bewundern zu können, besuchte er
auch die Opernvorstellungen, die ihn nicht
ansprachen:
„Ich mache das Rheingold durch; die Aufführung wird scheußlich abgesetzt. Das Orchester leidet an
Knochenerweichung, hier hat alles Plattfüße. Die Göttchen deklamieren zwischen ziemlich sorgfältig
ausgeführten Kopien von Versteinerungen der Juraformation, und die Dämpfe aus der Waschküche, in
der Wotans schmutzige Herrenwäsche gewaschen wird, machen einem übel. Erstaunlich einzig
Mariannes schöne, zarte Stimme.“43
Manchmal musizierten sie auch beide gemeinsam, wie Marianne sich erinnert:
„Da haben wir *...+ manchmal miteinander musiziert. Er spielte auf der Klampfe, ich auf dem
Klavier.“44
43
Brecht, Bertolt: „Tagebucheintrag vom 28. Oktober 1921 in Berlin“, in: B. Brecht, Augsburg und München, S.
66.
44
Eser, Willibald; Poldner, Axel: „So viel wie eine Liebe. Der unbekannte Brecht“, München 1981, S. 175;
zitiet nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 19.
28
Berlin 1924-30
Neues und Altes
Nach immer ausgiebigeren Berlinaufenthalten übersiedelte Brecht 1924 endgültig in die
aufstrebende Kulturmetropole. Er stürzte sich in den Großstadtdschungel und wusste bald
die Riesenstadt zu genießen und auf der anderen Seite wegen dem sozialen Kampf „Jedergegen-Jeden“ zu verabscheuen. Berlin war in der Zwischenzeit zu einer künstlerischen
Weltstadt geworden, allerdings eher im Hinblick auf das Kabarett als auf das traditionelle
Theater. Brecht war daher auch häufiger in kabarettistischen Veranstaltungen (auch selbst
als Akteur) zu finden.
Kurz nach seinem Einzug in seine neue Wohnung erwarb Brecht bei einem
Gebrauchtwarenhändler ein optisch sehr schönes, aber mechanisch beschädigtes
Tafelklavier. Brecht war trotzdem sehr stolz auf diese Errungenschaft.
Auch die Tradition seiner Balladenvorträge innerhalb der Freundes- und Künstlerkreise
behielt Brecht bei. Die Leute sehnten sich regelrecht nach seinen markant provokanten
Vorträgen. Die Beschreibungen seiner Vorträge aus der Berliner Zeit ähnelten denen aus
Augsburg, enthielten aber eine Schuss Nostalgie:
„Brechts Vortrag verhinderte eine gute und ruhige Aufnahme des Gedichts durch unerwartete
Verhärtungen, Verschärfungen beiläufiger Stellen, oder durch betont ruhige Wiedergabe an und für
sich hochdramatischer Passagen. Die Balladen liefen bei ihm eben nicht glatt ab; sie bekamen einen
unregelmäßigen und einen holprigen Gang. Brecht rang den Zuhörern die Haltung einer permanenten
Bereitschaft zur Veränderung ihrer Reaktionen ab. Das Entscheidende aber war wohl die unmittelbare
Begegnung mit einer enormen schöpferischen Kraft, die beim Vortrag des Dichters selbst ganz frei
wurde. Sie erzeigte sich vielleicht deshalb so stark, weil Brecht weder seine Seele entblößte, noch das
Herz aufriss, sondern ‚kunstvoll’ vortrug, das heißt die Besonderheiten und Schönheiten der Balladen
sehen ließ.“45
Mit der Zeit wurden aber seine öffentlichen Gesangsdarbietungen, z.B. in Trude Hesterbergs
Kabarett „Wilde Bühne“, seltener. Erstens waren seine politischen Lieder, voran „Die
Legende vom toten Soldaten“, und deren makaberer Vortrag umstritten. Zweitens war solch
ein Musizieren an das Augsburger Milieu mit seinen privaten Kreisen gebunden und drittens
griff Brecht immer seltener zur Gitarre und spielte lieber Grammophon. Eine äußerst
wichtige Rolle spielte dieses „Musikinstrument“ – Brecht besaß ein billiges
Blechgrammophon – als musikalische Hintergrundkulisse während seines literarischen
Arbeitens. Es waren vor allem Rhythmen moderner Schallplattenmusik, die Brecht bei seiner
Arbeit unterstützten. Zu diesen Rhythmen ging er im Zimmer umher und „probierte laut die
Überschriften der Moritaten [an welchen er gerade arbeitete], scharf skandierend. „
Der einstige Balladensänger Brecht sah sich zunehmend größeren Formen gewachsen und
entwickelte sich weg von der überschaubaren Gedicht- und Liedform hin zum
Stückeschreiber. Die Musik bzw. das „Lied“ blieb aber ein zentraler Bestandteil dieser
umfangreicheren Form. Brecht revolutionierte gerade durch die Verwendung von Musik für
das Theater.
45
Reich, Bernhard: „Erinnerungen an den jungen Brecht“, in: Sinn und Form. 2. Sonderheft Brecht, 1957, S.
297f.; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 129.
29
Anregungen für seine neue textliche und
musikalische Handhabung holte er sich bei den
drei bedeutendsten Regisseuren der Berliner
Bühnen: Max Reinhardt (links), Leopold Jenner,
Erwin Piscator (rechts).
Er arbeitete an einer Reihe von Piscators
Inszenierungen im dramaturgischen Rahmen mit
und lernte so Piscators Vorstellung eines neuen,
epischen statt konventionellen dramatischen Stils
kennen. Piscators Hauptansatzpunkt betraf zum einen das Publikum,
das durch die (Bühnen-)Vorgänge mit einbezogen werden sollte, z.B.
dadurch, dass der Chor im Publikum singen sollte. Der andere Aspekt
galt dem Bühnenbild. Es sollte wirtschaftliche, gesellschaftliche und
politische Hintergründe und Zusammenhänge deutlich sichtbar
machen, was durch illustrierende Mittel wie Statistiken, graphische
Schaubilder, Projektionen, Fotos und Filme ermöglicht wurden. Dies waren
Verfremdungsmöglichkeiten für das Theater, die später bei Brechts Theorie vom Epischen
Theater unbedingt dazugehörten.
Der Jazz
Zwar gastierten bereits 1914 erste Ragtimekapellen in Deutschland, aber die große
Jazzwelle kam erst ab 1917 von Nordamerika über Paris nach Europa und hatte spätestens
nach dem Ersten Weltkrieg auch Deutschland erreicht. Ab 1920 wurde der Jazz auch für
Brecht eine wichtige Stilrichtung für seine Dichtung ebenso wie für seine Musik. Den
zunächst als „Negermusik“ verachteten Jazz sah Brecht als Möglichkeit, der deutschen
Musikkultur etwas gegenüber- bis entgegenzustellen. Befreit von dem Zwang, nur von
„deutscher Musik“ als Inspiration für seine Kompositionen abhängig zu sein, schrieb Brecht:
„Meine ganze Jugend war mir jede Musik eine Qual und jetzt, wo die Jazzbands endlich da sind, fühle
ich mich wohl dabei.“46
Zusätzlich kam der Jazz Brecht sehr gelegen, da eine Zuwendung zum Jazz zunächst als
Protest gegen eine zivilisierte bürgerliche Kulturlandschaft verstanden wurde. Brecht wollte
provozieren und diese kurzgliedrige, witzige, unromantische und unpathetische
amerikanische „Schlagermusik“ traf genau seine Anti-Wagner-Haltung. Sein Grammophon
ließ Brecht mit Begeisterung Jazz spielen. Wichtigstes volkstümlichstes Element im Jazz, das
die neue Musik ab 1920 eingehend beeinflusste (z.B. die Musik von Igor Stravinsky), war der
scharfe, lebhafte Rhythmus. Hauptmerkmal dieser Rhythmik war die Synkope. Durch sie
ergaben sich neue rhythmische Formgebilde, die z.B. durch ihre Kontinuität in der
Tanzmusik Anklang fanden (z.B. der Foxtrott) oder als freie Rhythmen innerhalb eines
Musikstücks verwendet wurden (z.B. im Blues). Da Brecht die rhythmische Struktur seiner
Melodien stets am Sprachrhythmus anlehnte, was zu freien Rhythmen führte, sah er sich
einerseits in seinem Ansatz bestätigt und konnte andererseits dadurch leicht jazzige
46
Brecht, Bertolt: „Aus Notizbüchern“, in: B. Brecht, GW, Bd.15, S. 69.
30
Anklänge in seinen Songs verarbeiten. Häufig griff er auf rhythmische Partien der Tanzmusik
zurück. „Der Kanonen-Song“ hat z.B. die typische Foxtrott Rhythmik (der bereits in der
Tempoangabe erwähnt wird) in der Klavierbegleitung, nämlich nachschlagende Viertel und
Achtel:
Eine andere Auswirkung dieser musikalischen Amerikawelle war, dass Brecht, obwohl er des
Englischen nicht besonders mächtig war, vermehrt Anglizismen in seinen Stücken und
Liedern verwendete. Bestes Beispiel hierfür ist die spätere Oper „Aufstieg und Fall der Stadt
Mahagonny“. Die Protagonisten tragen im Original fremdsprachige Namen wie Jim
Mahoney, Jack O’Brien und Jenny Hill. Die Lieder, in der Gestalt des Songs, verweisen schon
durch diese Titulierung auf den englischen Text, z.B. Alabama-Song und Benares-Song. Es
war das erste Mal, dass Brecht ganze Lieder in einer Fremdsprache verfasste.
Musikalische Professionalisierung
Durch die Zusammenarbeit mit den Künstlergrößen der damaligen Zeit stieg, Brechts
eigener Anspruch an seine Kunst. Daher wählte er primär die Literatur als sein
Hauptarbeitsfeld, in der er sich am meisten verankert sah. Da er aber nicht auf die Musik
verzichten wollte, die auch Inhalt seiner Theaterpraxis war, trat er diesen Bereich
zunehmend an professionelle Komponisten, Musiker und Sänger ab. Das Klavierspielen war
noch immer nicht seine Stärke. Er benötigte das Instrument hauptsächlich dafür, seine
Lieder zu überarbeiten und sie zu notieren. Da dies durch seine „Ein-Finger-Technik“ sehr
mühsam vorwärts ging, war das auch für Brecht ein Anlass, sich nach musikalischen
Mitarbeitern umzusehen. Es war hauptsächlich ein Zeitproblem das Brecht daran hinderte,
Text und Musik in gleichem Umfang zu entwerfen. Es fand also eine Art Arbeitsteilung statt,
bei der Brecht nie aufgehört hatte, selbst zu komponieren und musikalische Vorstellungen
zu entwerfen. Er behielt sich ein nicht geringes Mitspracherecht gegenüber seinen
engagierten musikalischen Assistenzen bei. Viele sahen in ihm den Ausgangspunkt für die
literarischen wie musikalischen Werke:
„Brecht hatte einen unverwechselbaren Tonfall. Im Grunde war er der Urheber der Musik, die andere für ihn
komponierten und arrangierten.“47
Brecht sah Text und Musik als zwei aufeinander angewiesene Parameter an. Er hatte nicht
nur von seinem Text, sondern auch von dessen musikalischer Umsetzung eine genaue
Vorstellung, die er an seine Komponisten weitergab. Dadurch, dass Komponisten wie Weill,
Hindemith, Eisler und Dessau nach seinen Skizzen und Entwürfen komponierten, blieb
Brechts musikalische Grundidee erhalten. Jedoch konzipierte Brecht seine Text-Musik47
Egk, Werner: „Die Zeit wartet nicht“, Percha 1973, S. 164; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S.
185.
31
Beziehung so offen, dass die Komponisten nicht das Gefühl hatten, man würde ihre
künstlerische Arbeit einengen und darum gerne mit ihm zusammen arbeiteten. Er war
derjenige, der seine Komponisten erst durch die Zusammenarbeit mit ihm bekannt machte;
sie vertonten seine Werke und wurden dadurch berühmt.
Kurt Weill (1900-1950)
Der Anlass der Zusammenarbeit zwischen Bertolt
Brecht und Kurt Weill, welche im März 1927,
begann, war der Auftrag an Weill, für das Deutsche
Kammermusikfest Baden-Baden einen Einakter
(Oper) zu komponieren. Allerdings wurde sein
erster Entwurf abgelehnt und den darauffolgenden
verwarf er selbst. Durch das Hören der
Radioaufführung von Brechts „Mann ist Mann“,
wurde Weill auf ihn aufmerksam. Das gemeinsame Treffen verlief erfolgreich, und Brecht
schlug „Mahagonny“ (Grundlage waren die Mahagonnygesänge) als Opernprojekt vor.
Brecht hatte zu diesem Zeitpunkt bereits selbst einen ausführlichen Plan zu einer
„Mahagonny-Oper“, der mit der späteren Oper in wesentlichen Teilen übereinstimmte.
Vermutlich schien ihnen dieses Opernprojekt für die Kürze der Zeit zu umfangreich (zu
diesem Zeitpunkt hatten sie erst einen Monat zusammengearbeitet, und die Aufführung war
auf Juli angesetzt), und so wählten sie als eine Art Vorstufe zur geplanten ‚großen’ Operform
das ‚kleinere’ Songspiel. Für Weill, der bisher vorwiegend komplizierte und
psychologisierende Musik geschrieben hatte, war dieses Projekt eine neue
Herausforderung.
Wie Brecht so war auch Weill auf eine allgemeine Verständlichkeit von Musik bedacht. Er
griff ebenfalls auf populäre, bereits vorhandene Musik zurück und funktionierte diese zu
seinen musikalischen Zwecken um. Mit Weill geriet Brecht an einen Komponisten, der, wie
er selbst, vom „Amerikanischen“ fasziniert war. Für Weill stellte der Jazz eine Möglichkeit
dar, Musik nach all der Atonalität der zeitgenössischen deutschen Komponisten wieder
verständlich zu machen. 1929 merkt er dazu an:
„*...+ dass an der rhythmischen, harmonischen und formalen Auflockerung, die wir heute erreicht
haben, und vor allem an der ständig wachsenden Einfachheit und Verständlichkeit unserer Musik der
Jazz einen wesentlichen Anteil hatte.“48
Im Laufe der Zeit verfremdete Weill aber seinen „einfachen“, bzw. verständlichen Stil
zunehmend durch den Gebrauch von hinzugefügten Sekunden als ‚störendes’ bzw.
„anreicherndes“ Element im Dreiklang.
Nach dem Bericht von Weills Ehefrau Lotte Lenya erfolgte die gemeinsame Arbeit zwischen
Weill und Brecht folgendermaßen:
„*...+ Manchmal nahm Brecht seine Gitarre zur Hand und schlug ein paar Saiten an, um Kurt eine
Vorstellung von seiner Auffassung zu geben. Weill notierte sich diese Einfälle mit seinem kleinen,
ernsthaften Lächeln. Er sagte nie nein dazu; immer versprach er, er wolle versuchen, die Anregungen
Brechts zu verarbeiten, wenn er zu Hause ans Komponieren ginge.“49
48
Weill, Kurt: „Ausgewählte Schriften“, David Drew (Hrsg.), Frankfurt am Main 1975, S. 197; zitiert nach: A.
Dümling, Gegen Verführung, S. 140.
49
Lenya-Weill, Lotte: “Das waren Zeiten!”, in: Bertolt Brechts Dreigroschenbuch, Frankfurt 1960, S. 222.
32
Wie Brecht so hatte auch Weill Ambitionen in Hinblick auf theatralische Gattungen, speziell
auf die Oper. Hierbei traf Weill (gleich Brecht) auf das Musikdrama Richard Wagners, das er
als „einschläfernd oder berauschend *...+ wie Alkohol oder andere Rauschgifte“ bezeichnete.
Dieser Vergleich klingt sehr ähnlich wie Brechts Beschreibung der damaligen Konzertsituation:
„Ein einziger Blick auf die Zuhörer der Konzerte zeigt, wie unmöglich es ist, eine Musik, die solche
Wirkung hervorbringt, für politische und philosophische Zwecke zu verwenden. Wir sehen ganze
Reihen in einen eigentümlichen Rauschzustand versetzt, völlig passiver, in sich versunkener, allem
Anschein nach schwer vergifteter Menschen. Der stiere glotzende Blick zeigt, dass diese Menschen
ihren unkontrollierten Gefühlsbewegungen willenlos und hilflos preisgegeben sind *...+.“50
Weill schwebte eine theatralische Musikform vor, bei dem die Sprache einfach sein sollte,
dass man auch mitsingen konnte, es sollte zeigen „was der Mensch tut“ und forderte
hieraus einen „gestischen Charakter“. Diese Ansätze entsprechen Brechts Entwurf für ein
episches (Musik-) Theater im Gegensatz zur dramatischen Form des Theaters. Wie Brecht
stellte auch Weill diesen neuen Ansatz, der dem damaligen Zeitgeist nachkam als völligen
Kontrast zu Wagner dar.
„*...+ Diese Art Musik ist die konsequenteste Reaktion auf Wagner. Sie bedeutet die vollständige
Zerstörung des Begriffs Musikdrama.“51
Und Brecht schrieb dementsprechend über die damalige unbefriedigende Theatersituation:
„Man würde es *das Theater+ schon ungerecht beurteilen, wenn man etwas unterstellte, dass es mit
geistigen Dingen, also mit Kunst, irgend etwas zu tun haben wollte.“52
Brecht und Weills Ansichten reihten sich in die Kreuzfeuerkritik an der Oper im 20.
Jahrhundert ein. Zwar gab es bereits avantgardistische Versuche zu einer Abkehr von der
Gefühlsnostalgie durch Igor Stravinskys „Geschichte vom Soldaten“ und Alban Bergs
„Woyzzek“, aber ein allgemeiner Erneuerungsprozess hin zu einer musikalischen
Sachlichkeit konnte nicht erreicht werden.
Obwohl beide gemeinsam aus ihren Ideen eine Konzeption für ein neues Musiktheater
entwarfen, bezeichnete Weill Brecht als den Urheber des epischen Gattungsprinzips. Ihrer
Entwicklung eines neuen Musiktheaters lagen folgende Änderungsabsichten zu Grunde:
-
Die Stimme des Sängers sollte nicht mehr in der allgemeinen (orchestralen) Akustik untergehen,
sondern das Singen und Sprechen wurde zum Maß der Musik erhoben.
-
Der Text orientierte sich nun an der Sprache und sollte gut artikuliert werden, um fehlerhafte
Textbehandlungen zu vermeiden.
-
Es wurde ein gestischer Vortrag gefordert, der eine Verknüpfung zwischen Stimme und Körper
herstellen sollte. Weill bezeichnete diese neuartige Bewegungsessenz, die einen Revue-Anklang mit
sich zieht, als „aufreizend“, eine Bezeichnung, die bislang nicht für die ernste Musik verwendet wurde.
50
Brecht, Bertolt: „Über die Verwendung von Musik für ein episches Theater“, in: B. Brecht, GW, Bd.15, S.
480.
51
Weill, Kurt: „Musik und Theater. Gesammelte Schriften“, Stephen Hinton und Jürgen Schebera (Hrsg.),
Berlin 1990, S. 302; zitiert nach: H.-C. von Herrmann, Maschinen, S. 121.
52
Brecht, Bertolt: „Theatersituation 1917-1927“, in: B. Brecht, Berlin, S. 93.
33
-
Das Orchester sollte nicht mehr ‚versenkt’, sondern sichtbar auf der Bühne positioniert werden und
zudem auf maximal dreißig Spezialisten verkleinert werden.
-
Als musikalisches Experiment aufgrund des Gebrauchscharakters wurde die Musik in Distanz zur
bürgerlichen Konzertradition gesehen. Musik sollte vorsichtig, gezielt zum Aufrütteln eingesetzt
werden und nicht als Rauschmittel. Dazu seien klare, evt. kleinere, überschaubare Formen nötig.
-
Der kurze und prägnanten Songstil tritt der unendlichen Melodie Richard Wagners gegenüber. Es wird
sparsamer instrumentiert im Vergleich zur „Materialschlacht“ in den Werken von Mahler, Strauss und
Wagner. Die Opernform wird zu einem Songspiel und zu einer Oper für die kleinen Leute (Die
Dreigroschenoper: eine Oper für Bettler) verkleinert.
-
Neue Leichtigkeit entsteht auch durch klare, eindeutige Harmonien, die eine Rückkehr zu klassischen
Vorbildern ermöglichen. Leichtigkeit bezieht sich hier nicht auf eine intellektuelle Aussage, sondern
auf die Verständlichkeit.
Der Erfolg der Lieder Weills beruht auf seiner Kombination von trivialer Schlagerharmonik
mit pulsierenden Jazzrhythmen, die mit „Gewalt“ dem Hörer Text und Melodie eintreiben.
Diese Kombination, in Bezug auf einen hinterfragenden Text betrachtet, lässt die Grenze
zwischen U- und E-Musik schwinden. Die Musik soll sich nun nicht mehr selbst darstellen,
sondern gesellschaftliche Handhabungen kritisch aufwerfen.
Die „Aufwertung“ des Textes und die daraus folgende „Abwertung“ der Musik führten auch
bei Brecht und Weill zwangsläufig zur historischen Streitfrage: Wessen Kunst ist die
Wichtigere? Brecht ordnete eindeutig die Musik eines Bühnenstücks dem Text unter, da die
textliche Mitteilung ihm am wichtigsten war. In Sachen Reihenfolge der Autorschaft, in
Bezug auf die gemeinsamen Opern, war für Brecht entscheidend, wer die Konzeption
entworfen hatte. Da dies im Falle von Mahagonny er selbst war, müsste die Titulierung nach
seiner Vorstellung heißen: „Oper von Brecht mit Musik von Weill“. Weill bestand aber
darauf, dass wie üblich bei einer musikalischen Gattung, wie der der Oper, der
Musikkomponist bedeutender sei und als erstes genannt werden müsse: „Oper von Weill
nach Worten von Brecht“. Die Beziehung der beiden wurde darüber immer angespannter
und eskalierte während der Proben zur Uraufführung der Mahagonny-Oper 1931. In
Augenzeugenberichten heißt es:
„Während wir Mahagonny probierten, stritt brecht für die Priorität des Wortes, Weill für die der
Musik. Anwälte kamen ins Theater, sie drohten mit einstweiligen Verfügungen. Brecht schlug einem
Pressefotographen die Kamera aus der Hand, er hatte ihn zusammen mit Weill aufgenommen. ‚Den
falschen Richard Strauß werfe ich in voller Kriegsbemalung die Treppe hinunter!’ schrie Brecht hinter
Weill her.“53
Kurz Zeit später kam es dann auch zum endgültigen Bruch zwischen den beiden gerade
aufgrund dieser Streitfrage.
53
Aufricht, Ernst Josepf: „Erzähle, damit Du Dein Recht aufweist“, Berlin 1966, S. 126; zitiert nach: M.J.T.
Gilbert, Music, S. 57.
34
Stilmittel, Theorien, Analysen
Die Parodie
Als Auflehnung gegenüber der propagierenden Musikhandhabung und einem
emotionalisierten Konzertwesen setzte Brecht diesen nicht eine neue Stilrichtung entgegen,
sondern bearbeitete die bereits vorhandene Musikliteratur zu seinen Zwecken. Brecht griff
auf fremde und eigene Melodien zurück und überarbeitete diese gemäß der Umsingepraxis
unter den textlich-musikalischen Gesichtspunkten: Neufassung, Ergänzung, Präzisierung.
Diese Form der musikalischen Parodie durchzog Brechts kompositorisches Werk. Er
verarbeitete dabei verschiedene, historisch bereits erprobte Formen der von Parodie:
-
Verspottung und Nachahmung eines bekannten Gegenstandes
Form und Charakteristika bleiben gleich, erhalten aber einen nicht dazu passenden Inhalt
-
Umgestaltung der musikalischen Form für neuen Zweck
Instrumentale Umsetzung an das aktuelle Klangideal anpassen (Methode aus Barock und Klassik)
-
Karikierende, satirische, ironische Nachahmung bestimmter musikalischer Gattungen,
z.B. die Opernparodien im 18./19. Jahrhundert
Anfangs übernahm Brecht vermutlich fremde Melodien, z.B. die bekannte französische
Ballade „L’Etendard de la Pitie“ in „Ballade von den Seeräubern“, um seinen Liedern einen
Bekanntheitsgrad mitzugeben und um seine Anlehnung an seine Vorbilder, z.B.
Textpassagen von F. Villon in „Die Dreigroschenoper“, zu zeigen. Er konnte somit auch
Kontraste setzen, indem er „Volkslieder“ mit einem niveauvolleren Text und Inhalt versah;
z.B. die Anlehnung an die populäre Schnulze „Gebet einer Jungfrau“, die innerhalb der
intellektvollen Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ erklingt. Dieses Prinzip
wendete er aber auch umgekehrt an und versah intellektuelle Musikstücke mit einem
trivialen Text und Inhalt; z.B. zitiert er im „Benares-Song“ Puccinis Belcanto-Stil aus dessen
Oper „Madame Butterfly“. Brecht ging sehr locker mit dem textlichen und musikalischen
„Eigentum“ andere Künstler um. So schrieb Lotte Lenya über Brechts musikalische
„Kleptomanie“:
„Dass Brecht es nicht so genau nimmt mit dem geistigen Eigentum, dass weiß doch jedes Kind.
Natürlich klaut er- aber er klaut mit Genie, und darauf kommt es an.“54
Zunehmend wurden die melodischen Anklänge in Bezug auf Originaltext, Harmonie und
musikalischen Kontext in der Weise verwendet, dass sie zur typischen Denunzierung eines
Gegenstandes führten. Diese wurde charakteristisch für Brecht mit der er nachhaltig die
nachfolgenden Künstlergenerationen beeinflusste.
Hier nun einige Beispiele von Brechts parodistischem Schaffen:
54
Lenya, Lotte: „Das waren Zeiten!“, in: Bertolt Brechts Dreigroschenbuch. Texte, Materialien, Dokumente,
Siegfried Unseld (Hrsg.), Frankfurt am Main 1960, S. 220f.; zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 41.
35
Baal (1918)
Als Wagner-Parodie verwendet Brecht das „Tristan-Motiv“ an der Stelle im Stück, an der
der betrunkene Baal sich auf die Suche nach seinem nächsten weiblichen Opfer macht.
Brecht nimmt dieses „heilige“ Motiv, setzt es in einen von niederen Trieben gesteuerten
Kontext und macht es damit lächerlich.
Trommeln in der Nacht (1919)
Brecht verwendet die Internationale und das Ave Maria von Bach/Gounod für seine
Musik.
Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1929)
Im Rahmen seiner Amerikabegeisterung, speziell für den Jazz und den amerikanischen
Schlager, wird Brecht wohl auch mit dem „old standard song“ – „There is a Tavern in the
Town“ in Berührung gekommen sein. Im „Benares Song“ präzisiert Brecht die
Textaussage in Anlehnung an den „popular song“ zu: „There is no whiskey in the town /
There is no bar to sit us down“.
Im Refrain dieses Songs zitiert Brecht Motive aus der „Un bel di“ Arie der Madame
Butterfly aus der gleichnamigen Oper von Giacomo Puccini, eine Oper, die Brecht sehr
gemocht hat. Beide Lieder weisen den fast exakt gleichen Rhythmus und das
sequenzzierende Umspielungsmotiv auf:
Benares Song, Refrain
„Un bel di“ aus Madame Butterfly
Der Prolog vom „Mahagonny Songspiel“, der auch in der Opernversion verwendet wurde,
weißt nicht Parallelen zu Carl Maria von Webers Volkslied aus der Oper „Der Freischütz“ auf:
Der Freischütz
36
Mahagonny
Hitler-Choräle (1933)
Die absolut makaberste Parodie schuf Brecht mit den Hitler-Chorälen. Brecht formulierte
kirchliche Liedtexte, speziell alte, traditionelle Kernlieder des christlichen Glaubens wie
„Nun danket alle Gott“ von Martin Rinckart (1636), „Lobe den Herren, den mächtigen
König der Ehren“ von Joachim Neander (1680), und „Ein’ feste Burg ist unser Gott“ von
Martin Luther (1529) „hitlergetreu“ um, so dass Form, Rhythmus, Metrik und
Wortanklänge erhalten blieben.
Die Krone setzte Brecht dem Ganzen dadurch auf, dass er diese Texte auch auf die
originale geistliche Melodieweise singen ließ. Einen größeren Kontrast als „Nun danket
alle Gott für Hitler“ zu schreiben und dann noch zu singen, kann kaum übertroffen
werden.
Als Beispiel: Das Original „Befiehl du deine Wege“ und die Brechtsche Fassung findet man unter:
https://deutschunterlagen.files.wordpress.com/2014/12/brecht-parodien-wessel-gerhardt.pdf
Lieder im Volkston
Brechts gesellschaftliche Blickrichtung von unten her führte ihn schließlich zum Volkslied.
Der Wandervogel hatte ihm gezeigt, dass eine solche Wiederbelebung des Volkslieds die
Massen (speziell die Jugend) aus den Konzertsälen hinaus ins Freie locken kann. Es fand eine
Aktivierung des Zuhörers statt, denn alle sangen mit. Brecht wollte ein aktives Musikhören
mit der Möglichkeit zur Selbstbeteiligung. Darum standen bei ihm volksliedhafte Formen an
erster Stelle. Die entscheidenden Charakteristika des Volksliedes waren für Brecht:
- sozialer Kontext:
Kultur (bzw. das Singen an sich) wird als Teil der Lebenspraxis angesehen und nicht durch eine
Räumlichkeit vom Alltag distanziert. Dadurch erhält Musik verstärkt einen kommunikativen Charakter,
denn jeder kann mitmachen.
- Einfachheit:
Volkslieder haben einen schlichten Aufbau hinsichtlich Form (z.B. Wiederholungen durch Refrains),
Wortwahl (in Reimform), Melodie (auf der Grundlage von Tonleitern und Dreiklangsbrechungen),
Rhythmus (relativ einfach, gleichmäßig ohne Synkopen), Harmonie (Dominante-Tonika) und
Instrumentierung (Gitarre, Trompete, Trommel).
- Einprägsamkeit:
Die ‚einfache’ Struktur macht die Lieder sehr schnell eingängig und dadurch wiederholbar. Einprägsam
werden die Lieder auch durch eine thematische Zuordnung wie Abzählreime und Tanzlieder für die
Kinder, und Küchen-, Liebeslieder und Bänkelsang für die Erwachsenen.
37
- Gebrauchscharakter:
Aus Einprägsamkeit ergibt sich die Möglichkeit zur (einfachen) Reproduktion des Gehörten und damit
der Gebrauchswert. Nicht nur die Melodien können wiedergegeben werden, sondern dadurch, dass in
vielen Haushalten eine Gitarre zur Hand war, die durch Gegenstände mit Schlagzeugfunktion und
einer Art von „Tröte“ unterstützt werden konnte, ließen sich sogar Begleitformen reproduzieren und
improvisieren.
Diese Charakteristika legte Brecht seinen Liedern zugrunde. Allerdings lassen sich seine
Lieder nicht als „Volkslieder“ bezeichnen, da er die klischeehafte Handhabe der Volkslieder,
speziell die ‚Volkstümelei’ des Wandervogels, ablehnte. Zur Begründung gab er an:
„Die modernen Lieder ‚im Volkston’ sind oft abschreckende Beispiele, schon ihrer künstlichen Einfachheit
wegen. Wo das Volkslied etwas Kompliziertes einfach sagt, sagen die modernen Nachahmer etwas
Einfaches oder Einfältiges einfach.“55
„Lieder im Volkston“ sollten seiner Meinung nach ihre Schlichtheit beibehalten, jedoch ohne
kindlich-naiv zu sein. Bereits während seiner Schulzeit waren Brecht übersensible,
verniedlichende Volkslieder zu wider. Als der Schulchor, in dem Brecht eine zeitlang
mitgesungen hatte, die folgende Strophe:
Soviel der Mai auch Blümlein beut
Zu Trost und Augenweide,
Ich weiß nur eins, das mich erfreut,
Das Blümlein auf der Heide.56
singen sollte, beschwerte sich Brecht lautstark beim Chorleiter mit den Worten:
„Was mutet er uns da zu!“57
Die Beschwerde brachte Brecht Ärger mit dem Musiklehrer und dem Rektor ein und hielt
sich daraufhin vom Schulchor fern.
Choräle bei Brecht
„Wenn das Wetter schön war, saß er halsbrecherisch im Fenster mit der Gitarre, spielte und sang.
Aber er rezitierte mehr [...]. Es ist eine Überbetonung des gesprochenen Wortes [...]. Es war so ähnlich
58
wie gregorianischer Choral.“
Brechts Vortragsweise führte bei vielen Zuhörern zu sakralen Assoziationen, speziell durch
die Form des „Chorals“, die er häufig verwendete. Hier soll an ein paar ausgewählten
Beispielen aus der „Dreigroschenoper“ und der Oper „Aufstieg und Fall der Stadt
Mahagonny“ die Verwendung der Choralform bei Brecht gezeigt werden:
55
„Bertolt Brecht. Gesammelte Werke Bd. 19“, S. 505.
Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 132; zitiert nach: A.
Dümling, Gegen Verführung, S. 53.
57
Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 132; zitiert nach: A.
Dümling, Gegen Verführung, S. 52.
58
Auskunft nach Friedrich Mayer, in: J. Lucchesi, R.K. Shull, Musik, S. 67.
56
38
Gegen Verführung (1918)
Dieser Text (1926 ebenfalls in die Hauspostillen übernommen) trägt zwar nicht die
Bezeichnung „Choral“, dennoch verweist er durch seinen ursprünglichen Titel „Luzifers
Abendlied“ gerade durch die Opposition zum christlichen, „göttlichen“ Abendchoral auf
diese sakrale Form. Schon allein die äußerliche, regelmäßige Strophenform erinnert an das
Erscheinungsbild eines geistlichen Liedes. Darüber hinaus steht es als der moralische Appell
am Ende der Hauspostillen.
Das Gedicht „Gegen Verführung“ findet sich unter:
http://www.deutschelyrik.de/index.php/gegen-verfuehrung.html
1929 wurde dieser Text von Weill für die Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ als
Choral vertont. Die Melodie umfasst 10 Takte, bestehend aus zwei Viertaktern, denen der
fünften Verszeile der Gedichtstrophen entsprechend, wieder eine Art Terminatio (zwei
Takte) angehängt ist. Der „Choralgesang“ baut sich von Strophe zu Strophe dynamisch und
harmonisch immer mehr auf; von piano zu fortissimo und vom einstimmigen Sologesang
zum vierstimmigen homophonen Chorgesang. Die Choralmelodie wandert durch die
Stimmen bzw. Stimmgruppen. Das Stück wird dadurch fast zu einer Choralvariation. Hierbei
soll die Solostimme des „Jim“ immer führend sein, sie singt aber nicht immer die Melodie.
Man könnte die einzelnen Variationen als unterschiedliche Choralbearbeitungen ansahen.
Interessant ist auch die Position dieses Chorals im ganzen Stück: es ist die Exekutionsszene.
In der Regieanweisung heißt es: „Er *Jim+ steht vor dem Galgen, und während man ihn für
die Hinrichtung vorbereitet, singt er“.
Morgenchoral des Peachum (1928)
Das Stück ist eine musikalische wie wörtliche Übernahme aus der originalen „The Beggar’s
Opera“. Weill zitiert Originalgetreu die Melodie von Johann Christoph Pepusch und Brecht
greift John Gays Textinhalt auf und überträgt ihn in einen predigenden Choralkontext:
Brecht verwendet für die deutsche Textfassung den christlichen Erweckungsruf, wie er in
vielen Chorälen auftritt: „Wach auf, du Christenheit!“, in der Form von: „Wach auf du
verroteter Christ!“. Der wachrüttelnde Aufruf ist christlichen Prinzipien entlehnt, wird aber
durch den Aufruf zu sündigem Leben verkehrt.
39
Neben der kirchlichen Instrumentation mit Harmonium ist der Text das einzige, was die
Bezeichnung „Choral“ in parodistischer Sicht rechtfertigt, denn die musikalische Form
entspricht eher dem Lied. In einem Choral würde niemals für vier aufeinanderfolgende
Textzeilen genau der gleiche Melodieverlauf verwendet werden. Darum taucht dieses Stück
in der Originalen „Beggar’s Opera“ unter der Bezeichnung „Air“ auf.
Schlusschoral in der Dreigroschenoper (1928)
„Das hört sich ja an wie Bach“ beschwerten sich die Dreigroschenoper-Darsteller und
forderten die Streichung des Schlusschorals am Ende der Oper. Brecht lehnte ab, und so
blieb der kontrastreiche Schlusschoral59 bestehen.
Video der „Dreigroschenoper“ (Original von 1930): https://www.youtube.com/watch?v=TF_jtz0kP9s
Während der Chor unisono im Forte von der großen Kälte und Dunkelheit des
aufkommenden irdischen Jammertals singt, streben die Melodie und der Orchestersatz
immer mehr der himmlischen Erlösung entgegen. Der Text und die Melodie weisen sich
durch die Struktur – jeder Vers entspricht fünf zweigliedrigen Takten – eindeutig als Choral
aus. Eingeleitet wird diese große Schlussnummer entsprechend der Oratorientradition
durch eine rezitativische Passage des Peachum.
Der Anklang an Bach, den die Darsteller damals beanstandeten, ist begründet. Brechts
Choral mit seiner triolischen Durchpulsung in den Begleitstimmen (Saxophone und
Harmonium) entspricht der Anlage der Bachschen Choralbearbeitung von „Jesu bleibet
meine Freude“:
Hier erkling zur triolisch durchpulsten Überstimme über einem schreitenden Bass der
eigentliche Choral. Um aber nicht Bach zu sehr zu zitieren, baute Weill absichtlich „falsche“
Töne ein, die zu exotischen Akkordverbindungen führen und sich somit von Bach
distanzieren.
59
K. Weill, Dreigroschenoper, S. 130f.
40
Vom Bänkelsang zur „Moritat von Mackie Messer“
„Menschen, höret die Geschichte,
Die erst kürzlich ist geschehn,
Die ich treulich euch berichte,
Laßt uns dran ein Beispiel nehm’.“60
So lautete der traditionelle Eröffnungsvers der Moritatensänger auf dem Augsburger
Plärrer. Brecht hatte diese Bänkelsänger erlebt und der Bänkelsang wurde zu einer der
wichtigsten Kunstformen seines musiktheatralischen Schaffens.
Der Bänkelsang reicht mit seinem Ursprung als „Zeitungssingen“ bis ins Mittelalter zurück.
Wie der Name schon sagt, hatten die „Zeitungslieder“ eine Zeitungsfunktion und dienten
der Nachrichtenübermittlung. Aktuelle Ereignisse wurden in Reimform gebracht und in der
Form von Liedern als wichtigstes Nachrichtenmedium für die analphabetisierte Bevölkerung
zugänglich gemacht. Vorgetragen wurden diese neuesten Nachrichten auf den großen
öffentlichen Plätzen der Städte, um sie einer möglichst großen Masse zugänglich zu machen.
Mit der Zeit war auch der überwiegende Teil des einfachen Volks der Schriftsprache
mächtig, denn die Zeitungslieder wurden nicht nur gesungen, sondern waren auch gedruckt
zu erhalten. Und das Interesse an diesen Liedblättern, auch „Neue Zeitungen“ genannt, war
groß. Die Autoren der Neuen Zeitungen entstammten den gebildeten Schichten und waren
Geistliche, Lehrer und teilweise Studenten. Der Adressat ihrer moralisierenden Texte war
das einfache Volk, das durch ihre didaktischen Kniffe belehrt und erzogen werden sollte. Zur
Sprachgestaltung verwendeten sie dialogisch angelegte und äußerst bildhafte
Schilderungen. Die darin beschriebenen und handelnden Figuren entstammten den
niederen Bevölkerungsschichten, um das einfache Volk durch den Identifikationsmoment
direkt erreichen zu können. Während Geistliche, Lehrer und Studenten den geistigen Kopf
der Neuen Zeitungen bildeten, stellte der Verkäufer der Liedblätter, der „Zeitungssänger“ –
ebenfalls eher aus einer niederen Schicht stammend – den musikalischer Künstler dar. Er
versuchte durch seinen Gesang so viele Liedblätter wie möglich zu verkaufen, für die er, und
nicht für den Gesang, bezahlt wurde. Mit Ausbau der Presse und des Buchdrucks ab Mitte
des 15.Jahrhunderts verlor die „Neue Zeitung“ zunehmend an Bedeutung. Der musikalische
Kaufruf wurde zur Nebensache und wich einem Unterhaltungscharakter. Weniger der
aktuelle Informationsgehalt als das Erzählen von zeitlosen, grauenerregenden und
sentimentalen Geschichten stand nun im Mittelpunkt. Zu dem weiterhin vorhandenen
belehrenden Grundcharakter kam jetzt noch der Unterhaltungswert dazu, der vor allem
durch die Ansprache von Gefühlen funktionierte. Auf der emotionalen und moralischen
Schiene wurden traurige und schauerliche Schicksale, Wahnsinn und Mutterliebe, Naturund Schiffskatastrophen geschildert. Die Lieder, deren Texte in Form von Balladen verfasst
wurden, hatten Titel wie: „Die schöne Förstertochter“, „Die Räuberbraut“, „Die grausame
Mordtat des Heinrich Thiele und dessen Hinrichtung“. Um diesen theatralischen
Erzählungen einen schaustellerischen Charakter zu geben, entwickelte sich eine
Vortragsweise, die stark auf gestische und mimische Effekte zurückgriff. Diese Form der zur
Schau stellenden Musik mit ihrem Volksballadencharakter wurde zum Gegenpol einer
bürgerweltlichen Hausmusiktradition und von den gebildeten Ständen fast schon verachtet.
Um 1700 erfolgt die Umbenennung in Bänkelsang, in Anlehnung an das „Bänkel“ (=Hocker),
auf dem der „Bänkelsänger“ die Balladen vortrug.
60
Vgl. A. Dümling, Gegen Verführung, S. 65.
41
Der Bänkelsang, „die Musik für’s Volk“, erhielt durch (Jahr-)Märkte und Volksfeste ihre
Massenzugänglichkeit. Auf dem Plärrer ist der Bänkelsang mit seiner historisch getreuen
Darstellung eine Attraktion. Die Bänkelsänger treten mit folgenden Requisiten auf:
-
Einem Bänkchen, das „Bänkel“, auf dem sie stehen, um den Überblick über die Zuhörer und -schauer
zu haben und damit sie von allen gesehen werden können.
-
Einem Rohrstock, mit dem der Sänger auf aufgehängte Leinwandbilder zeigt, um zu verdeutlichen,
welches Bild gerade zur gesungenen Passage passt.
-
Große Schilder bzw. farbige Bilddarstellungen, die die Geschichten illustrieren sollen. Später wurden
sie zu bewegten Bildern.
Zum Teil blieben Brecht diese bildlichen Darstellungen sehr detailgetreu im Gedächtnis. Er
berichtete von Bildern zu juristischen, historischen, mythischen und militärischen
Geschichten:
„Ich besuchte häufig den alljährlichen Herbstplärrer, einen Schaubudenjahrmarkt auf dem ‚kleinen
Exerzierplatz’ mit der Musik vieler Karusselle und Panoramen, die krude Bilder zeigten wie ‚Die
Erschießung des Anarchisten Ferrer zu Madrid’ oder ‚Nero betrachtet den Brand Roms’ oder ‚Die
bayrischen Löwen erstürmen die Düppeler Schanze’ oder ‚Flucht Karls des Kühnen nach der Schlacht
bei Murten’. Ich erinnere mich an das Pferd Karls des Kühnen. Es hatte enorme, erschrockene Augen,
als fühle es die Schrecken der historischen Situation.“61
Nebenstehende
Zeitschriftenillustration
von 1892 zeigt einen Bänkelsänger mit
seinen Schaubildern, dem Stock und einem
Bänkchen oder Ähnlichem, das sich durch
seine erhöhte Position erahnen lässt. Sein
Gesang wird durch eine Drehleier, die die
Frau neben ihm spielt, unterstützt.
Brecht griff in seinen Werken immer
wieder auf solche Darstellungsformen
zurück. Ganz explizit tat er dies in der
Dreigroschenoper. Die Hintergrundkulisse
bildete der belebte Jahrmarkt von Soho.
Die Partitur sieht vor: Ein Ausrufer singt eine Moritat zu einer „In der Art eines Leierkastens“
gehandhabten Harmonium-Begleitung.
Bis zum 19. Jahrhundert waren auch Harfe, Fidel und Gitarre beliebte Begleitinstrumente,
bis sie von der Drehorgel, auch dem Zwecke angepasst „Singorgel“62 genannt, immer mehr
verdrängt wurden. Meist abschätzig wird die Drehorgel daher auch als „Bettlerinstrument“
bezeichnet.
61
62
Brecht, Bertolt: „Bei Durchsicht meiner ersten Stücke“, Stücke I; zitiert nach: M. Esslin:, Brecht, S. 15f.
Vgl. A. Dümling, Gegen Verführung, S. 67.
42
François Villon (1431-?)
Als Begründer einer neuen Balladenform, die schonungslos
verachtend, spöttisch, moralisierend und mit tiefer Empfindsamkeit
ihre Umwelt bloßstellte, galt François Villon.
François war ein gebildeter Mann, denn es war ihm vergönnt, an
der Sorbonne in Paris zu studieren. Auf die schiefe Bahn geriet er,
als er 1455 im Streit einen Priester erschlug. Sein Leben verlief nun
wie im Abenteuerfilm. Er musste mehrfach fliehen, wurde hin und
wieder verhaftet, schloss sich schließlich einer Räuberbande an,
wurde zum Tode verurteilt, begnadigt und letztendlich verbannt.
Danach verlief sich seine Spur ab 1463.
Doch mehr noch als der Ruf des Mörders und Straßenbanditen war
Villon für seine Balladendichtungen, die zum Kern französischer
Lyrik des Mittelalters zählen, bekannt. Das revolutionäre Neue an seiner Dichtung war die
emotionale Komponente, mit der er Gefühle persönlich und so intensiv wie kaum ein
Dichter vor ihm darstellte. Die Ballade wurde zu seiner bevorzugten Form. Zusätzlich zur
Emotionalität der Texte kam aber auch noch ein kritischer Unterton in Form von Ironie dazu.
Villon denunzierte schließlich die Gesellschaft, indem er eine grobe, derbe Umgangssprache
für seine Lyrik verwendete. Manche Balladen waren sogar in einer Art „Gaunersprache“
verfasst, die nur für Eingeweihte verständlich war. Seine Gedichte und Balladen standen
dadurch in Kontrast zur damaligen gehobenen Hoflyrik.
Villons literarisches Werk hatte Brecht vermutlich auch wegen dessen Reflexionen über
Leben und Tod in testamentarischer Gestalt „Le petit testament“ (1456) und „Le grand
testament“ (1461) interessiert, da Brecht selbst häufig christliche Textformen für seine
Gedichte verwendete; z.B. Brechts Einakter „Die Bibel“ im Vergleich zu Villons
Testamenttexten.
Frank Wedekind (1864-1918)
Frank Wedekind war es, der die alte Form des Bänkelsangs durch seine Neugestaltung auf
die Bühne brachte.
Wie Brecht so studierte auch Frank Wedekind in München und war
ein fleißiger Opern- und Kunstbesucher. Jedoch missfiel ihm
zunehmend die Künstlichkeit einer bürgerlichen Musikkultur, die sich
gern mit Traditionswerken aus Klassik und Romantik überfluten ließ.
Nach Wedekinds Ansicht sollte man der Musik empfindsam
gegenübertreten und sich um ein besseres Musikverständnis
bemühen.
Auf
eine
Überflutung
des
anspruchsvollen
musikausübenden Marktes durch bürgerlichen Dilettantismus weist
Wedekind im Vorwort seines Stücks „Musik“ (1907), das er ein
‚Sittengemälde’ nannte, mit scharfer Kritik hin:
43
„Die Tendenz, die dem Sittengemälde zugrunde liegt, ist die Bekämpfung des mit jedem Jahr
unheilvoller um sich greifenden Musikstudiums. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass es unter 100
Musikschülerinnen höchstens nur einer einzigen vergönnt ist, ihrer Kunst einen nennenswerten
Dienst zu leisten, dass aber durch jede dieser Musikschülerinnen mindestens 100 geistige Arbeiter in
ihrer Denktätigkeit gestört und durch nutzloses Klaviergeklimper manchmal der Verzweiflung
nahegebracht werden, dass also auf jeden Menschen, der in der Musik Erfolg erntet, 10 000 Opfer
fallen, denen das Denken eigener Gedanken rücksichtslos vernichtet wurde, dann wird man das
Wedekindsche Buch unbedingt als eine ebenso mutige wie verdienstvolle Tat begrüßen müssen.“63
Aus Wedekinds Ablehnung gegen berauschende Musik entstammte auch die Antipathie
gegenüber Ludwig van Beethoven und Richard Wagner.
Wedekind, damaliger Dramaturg am Münchner Schauspielhaus, hatte gerade wegen
Majestätsbeleidigung neun Monate hinter Gittern gesessen, als er ab 1901 einer der elf
Scharfrichter an Deutschlands zweitberühmtester Kabarett- und Kleinkunstbühne in
München wurde. Er spielte und sang eigene Balladen und Bänkellieder und begleitete sich
dazu mit Laute und Gitarre. Die Kleinkunstbühne bot für Wedekind den idealen Platz, im
Gegensatz zum steifen Konzertsaal, um seinen Liedern ein entsprechendes gestisches,
mimisches und atmosphärisches Flair zu geben. Die Scharfrichter parodierten nicht nur
Weltbilder, indem sie zum Beispiel ihre Aufführungen als „Exekutionen“ betitelten, sondern
auch die aktuelle Musikhandhabung, zum Beispiel in Form von „Überouvertüren“, die vor
allem auf Richard Wagner anspielten.
Während die Meinungen über Wedekind als Schauspieler auseinander gingen, wurde er als
Bänkelsänger gefeiert. Er entwickelte eine neue Form der Einfachheit, indem er äußerst
schlicht mit Tonart, Takt, Harmonik, Rhythmus und Melodie umging.
Doch wie kam eigentlich Brecht mit Wedekind und dessen Werken in Berührung? Obwohl
die literarische Lektüre im Augsburger Hause Brecht nicht sehr gepflegt wurde, mit
Ausnahme der Mutter, die Gedichte sammelte, unterstützten die Eltern den Lesehunger des
jungen (damals noch) Berthold mit Büchergeschenken. 1914 schenkte ihm der Vater in
diesem Zusammenhang eine Gesamtausgabe der Werke Frank Wedekinds. Die Freunde
berichteten von Brechts eifrigem Studium dieser Lektüre. Oft spielte er mit ihnen die
Wedekindstücke mit dem Puppentheater nach. Und in Bezug auf die nächtlichen Streifzüge
der „Brecht-Clique“ erinnerte sich Otto Münsterer, dass beide Brüder, Walter und Bert,
manchmal gemeinsam Wedekindlieder mit eigener Gitarrenbegleitung vortrugen.
Der direkte Kontakt zwischen Brecht und Wedekind kam durch das Studium an der
Münchner Universität durch den Wedekindbiographen Prof. Kutscher zustande. Arthur
Kutscher, Theaterprofessor und Wedekindspezialist, führte Brecht zunächst mit seinen
theatergeschichtlichen Vorlesungen in die Münchner Literatenkreise, Theater-, Kabarettund Filmszene ein. Dann ermöglichte er ihm auch, Wedekind als Vortragskünstler in der
Rolle seiner Dramenfigur „Marquis von Keith“, live zu erleben. Brecht beschrieb diese
Begegnung mit dem Anti-Helden (Antiintellektualität hin zum Animalischen) Wedekind und
dessen enormer Bühnenwirkung sehr emotional und tiefgreifend:
„Er füllte alle Winkel mit sich aus. Er stand da, hässlich, brutal, gefährlich, mit kurzgeschorenen roten
Haaren, die Hände in den Hosentaschen, und man fühlte: den bringt kein Teufel weg.“64
63
Wedekind, Frank: „Die Musik“, in: Werke in drei Bänden, Manfred Hahn (Hrsg.), Berlin und Weimar 1969,
Bd.2, S. 752; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 69.
64
Brecht, Bertolt: „Frank Wedekind“, in: B. Brecht, GW, Bd.15, S. 3.
44
Beeindruckt von diesem Manne besuchte Brecht so oft es ging Auftritte von Wedekind. Das
Markante an diesem Mann war seine Stimme und seine „faunsartige“ Erscheinung. Vor
allem die Stimme war es, die durch ihre ‚Ungeschultheit’ und den ungeschönten Klang, wie
einer aus dem Volk eben, bestach. Auch das Gitarrespiel diente mehr der harmonischen und
melodischen Unterstützung eines Sprechgesangs als einem konzertanten Beitrag. Vielmehr
spielte die Art des Vortrags (mimisch, gestisch) die bedeutendere Rolle.
„*...+ niemand vergaß je wieder diese metallene, harte, trockene Stimme, dieses eherne Faunsgesicht
mit den ‚schwermütigen Eulenaugen’ in den starren Zügen. Er sang vor einigen Wochen in der
Bonbonnière zur Gitarre seine Lieder mit spröder Stimme, etwas monoton und sehr ungeschult. Nie
hat mich ein Sänger so begeistert und erschüttert. Es war die enorme Lebendigkeit dieses Menschen,
die Energie, die ihn befähigte, von Gelächter und Hohn überschüttet, sein ehernes Hoheslied auf die
Menschlichkeit zu schaffen, die ihm auch diesen persönlichen Zauber verlieh.“65
„Da kam also dieser junge, korrekte Mann, immer im kurzen schwarzen Rock und Zylinderhut, sah aus
wie ein Diplomat und sprach wie ein Zirkusdirektor. [...] Wenn man ihn in Schwarz und Weiß, in
Lackstifletten und Chapeau claque dahin wandern sah, wusste man nie, geht er nun zur Beerdigung
oder in den Ballsaal.“66
Brecht entsprach zwar mit seiner dunklen Lederjacke, der Schiebermütze und einer Zigarre
in der Hand nicht dem übereleganten Stil Wedekinds, war aber wie er auf seine Art äußerst
markant und evt. auch anstößig gekleidet.
Das besondere an Wedekinds künstlerischer Arbeit war, dass er selbst Dichter, Komponist
und Interpret in einer Person war, was wiederum eine Parallele zum dichtenden
Moritatensänger Brecht ist.
Als Brecht an einem Samstag Abend, genauer am 9. März 1918, mit seinen Freunden
singend – darunter auch Lieder von Wedekind – den Lech bei Augsburg entlang zog ahnte
niemand, dass sein Idol, Fran Wedekind, zur selben Zeit gestorben war. Brecht erfuhr es am
nächsten Tag aus der Zeitung und war fassungslos.
„Am Samstag durch die sternbesäte Nacht den Lech hinunterschwärmend, sangen wir zufällig seine
Lieder zur Gitarre, das an Franziska, das vom blinden Knaben, ein Tanzlied. Und, schon sehr spät, am
Wehr sitzend, die Schuhe fast im Wasser, das von des Glückes Launen. Sonntag morgen lasen wir
erschüttert, dass Frank Wedekind am Samstag gestorben sei. [...] Zum letztenmal sah und hörte ich
ihn vor sechs Wochen bei der Abschiedsfeier des Kutscher-Seminars. Er schien völlig gesund, sprach
angeregt und sang auf unseren Zuruf drei seiner schönsten Lieder zur Laute, ziemlich spät nach
Mitternacht. Bevor ich nicht gesehen habe, wie man ihn begräbt, kann ich seinen Tod nicht erfassen.
Sein größtes Werk war seine Persönlichkeit.“67
Am darauffolgenden Abend veranstalteten die Freunde unter Brechts Regie eine Trauerfeier
für die „große Erzieherpersönlichkeit“ Frank Wedekind, wie Brecht ihn ansah. „Das Lied vom
Blinden Knabe“ wurde zum Requiemtext für den großen Bänkelsänger:
„Wedekind hat keine großartigere Leichenfeier gehabt, als die, welche ihm Brecht bereitete, als er
seinen Freunden auf die Kunde von des letzten Bänkelsängers Tod ein einsamer Nacht am Lech zur
Gitarre das Lied vom ‚Blinden Knaben’ sang.“68
65
Brecht, Bertolt: „Frank Wedekind“, in: B. Brecht, GW, Bd.15, S. 3f.
Kiaulehn, Walther: „Vorwort“, zu: F. Wedekind, Chansons, S. 6.
67
Brecht, Bertolt: „Frank Wedekind“, in: B. Brecht, GW, Bd.15, S. 3f.
68
Högel, Max: „Bertolt Brecht”, Augsburg 1962, S. 19; zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 3.
66
45
Bertolt Brecht als Bänkelsänger
„Denn irgendwer sang. Irgendwer hatte die kleine, feuchte Zigarre weggelegt, hatte die auf seinen
Schenkeln liegende Gitarre gegen seinen hohlen Bauch gedrückt, hatte mit einer krächzenden,
konsonantischen Stimme zu intonieren begonnen. [...] Der war ein vierundzwanzigjähriger Mensch,
dürr, trocken, ein stacheliges, fahles Gesicht mit stechenden Punktaugen, darüber kurzgeschnittenes,
dunkles, struppiges Haar mit zwei Wirbeln, aus denen strähnige Halme protestierend aufstanden. [...]
Eine billige Stahlbrille hing lose von den bemerkenswert feinen Ohren über die schmale, spitze Nase
herab. Seltsam zart war der Mund, der das träumte, was sonst die Augen träumen.“69
Auch wenn diese Beschreibung erst in den Berliner Jahren entstand, so steht doch fest, dass
Brecht, abgesehen von den Auswirkungen seiner nicht regelmäßig betriebenen
Körperpflege, eine groteske Ausstrahlung hatte. Wenn nun dieser Mensch mit seiner
auffallenden Erscheinung seine Vorträge gestisch und mit mimischem Ausdruck
unterstützte, dann benötigte er als Bänkelsänger keine Schaubilder und Schautafeln mehr,
denn er hatte für seinen darstellerischen Vortrag eine lebendige Naturkulisse (z.B.
Liederabende am Lechufer). Von einem „Bänkel“ ist nicht die Rede. Brecht wird sich
dennoch so positioniert haben, bzw. die anderen um sich herum, dass jeder einen Blick auf
den musikalischen Balladendichter hatte und er sein Publikum direkt, von Aug zu Aug,
ansprechen konnte.
Was aber auf jeden Fall bei einem Bänkelsänger wie Brecht nicht fehlen durfte, war ein
Musikinstrument. Auch Brecht hatte sein Instrument gefunden. Statt dem
Standardinstrument der Bänkelsänger im 18.Jahrhundert und der heutigen Bänkelsänger auf
den Jahrmärkten, nämlich der Drehorgel, griff Brecht (auch aus praktischen Gründen) auf
das Modeinstrument seiner Zeit zurück: Die Gitarre. In manchen Beschreibungen wird
Brechts Gitarre als Klampfe bezeichnet. Klampfe bedeutet, es handelt sich um eine sehr
einfach verarbeitete Gitarre, denn das Wort galt und gilt als abwertende Bezeichnung. Hans
Otto Münsterer berichtet explizit über den schlechten Zustand von Brechts Instruments:
„Da singt Brecht zu seiner Klampfe, der sämtliche Saiten fehlen“70
Vermutlich ist die Aussage etwas überzogen, da sonst keine
musikalische Handhabung mehr möglich wäre, oder Brecht
begleitete sich bewusst mit Gitarrengeräuschen als mit Klang.
Die Popularität verdankte die Gitarre dem Wandervogel, der
selbst auf der Suche nach einem geeigneten Instrument für
seine Schülerfahrten die Gitarre wählte. Für Musikbegleitung im
Freien wurde ein Instrument benötigt, das transportabel war
und mit dem man stützende Akkorde zur Melodielinie
dazuspielen konnte. So wurde die Gitarre auch zu Brechts
Erkennungsinstrument. Auf vielen Fotos ließ er sich mit diesem
Instrument ablichten. Sie zeigen, dass Brecht selbst aus dem
Gitarrespielen einen eigenen Stil entwickelt hatte. Anstatt der
Norm entsprechend den Gitarrenhals nach oben zu halten, zeigt
er bei ihm nach unten.
69
Bronnen, Arnolt: „Tage mit Bertolt Brecht. Geschichte einer unvollendeten Freundschaft“, Darmstadt 1976,
S. 12; zitiert nach: J.Lucchesi, R.K. Shull, Musik, S. 12.
70
Vgl. Münsterer, Hans Otto: „Bert Brecht. Erinnerungen aus den Jahren 1917-22“, Zürich 1963, S. 112-113;
zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 24.
46
Die Moritat vom Mackie Messer
Eher notgedrungen entstand eines von Brechts bekanntesten und berühmtesten
Bänkelliedern, „Die Moritat vom Mackie Messer“. Nachdem 1928 in nur wenigen Wochen
„Die Dreigroschenoper“ fertiggestellt wurde, liefen die knapp bemessenen Endproben alles
andere als zufriedenstellend ab. Sämtliche Schauspieler fielen wegen Krankheit oder
Trauerfällen aus, manche weigerten sich, das ihrer Figur zugedachte, anrüchige Lied zu
singen, und zuletzt forderte auch noch der ‚eitle’ Operettensänger Harald Paulsen, der als
Mackie Messer unbedingt mit hellblauer Krawatte auftreten wollte, ein Eröffnungsstück für
seine Person. Brecht stand also unter enormem Zeitdruck, d.h. er wird sich mit einer „lastminute-Komposition“, betreffend den Text und die musikalischen Anregungen für Kurt
Weill, nicht auf literarisches Neuland begeben, sondern eher auf Formen zurückgreifen, die
bereits unter Erfolg erprobt wurden. Für Harald Paulsen als Räuberhauptmann Macheath
schien als Gattung der dem Bänkelsang entnommene Moritatenstil am besten geeignet.
Auch passte dieser bestens in den sozialen Kontext der ‚Oper für Bettler’, die auf der Straße
und nicht in der bürgerlichen Wohnstube spielt. Schon allein der Name „Mackie Messer“ ist
durch seine Alliteration und den ‚blutrünstigen’ Anklang (durch das Messer) bestens für das
Genre des Bänkelsanges geeignet. Durch das Hinzufügen der Bezeichnung Moritat zum
Namen des Betreffenden wurde die Alliteration erweitert und zur einprägsamen Schlagzeile.
Aufgrund solcher Hintergedanken mag Brecht schließlich zu folgendem Einfall gekommen
sein:
„Lassen wir ihn *Harald Paulsen+ so süßlich und charmant. Weill und ich führen ihn durch eine Moritat
ein, die seine grausigen Schandtaten besingt, um so unheimlicher wirkt er mit seiner hellblauen
Schleife.“71
Und so eröffnet nach der Ouvertüre ein Stück im Straßenmusikstil Die Dreigroschenoper.
Brecht entwarf hierfür ein absolut traditionelles Bild des Bänkelsangs. Die Szenerie spielt auf
dem Jahrmarkt von Soho, dem Treffpunkt für Handel, Arbeit und Soziales.
Der Dreigroschenoper-Film, der sich sehr genau an die Inszenierung der Uraufführung hielt, zeigt
Ernst Busch als Moritatensänger Mackie Messer auf dem Jahrmarkt von Soho:
Video auf Youtube unter „Ernst Busch-Moritat“.
Er steht zwar nicht auf einem „Bänkel“, aber dennoch erhöht; auf einer Art Mauer oder
Hafenkante. Um seine nicht so edle Kleidung etwas aufzuwerten und um dem Akt einen
formellen Rahmen zu geben, werten übergroßes Jackett und Zylinder seine Erscheinung auf.
Er wirkt fast wie ein Zirkusdirektor, bzw. durch den Zeigestab beinahe als Dompteur (der
Zuschauer). Neben dem Zeigestab hat er natürlich auch das andere wichtige Utensil des
Bänkelsängers dabei, die Bildtafeln zur Veranschaulichung der geschichtlichen Ereignisse. Im
Moment befindet er sich bei Bild Nummer fünf, das sich auf die Textstelle der fünften
Liedstrophe (im Originaltext die achte Strophe) mit dem „großen Feuer in Soho“ bezieht.
Leider ist der Bildausschnitt etwas zu schmal, daher sieht man den obligatorischen
Drehorgelspieler nicht, der sich rechts neben dem Moritatensänger befindet.
Da Bertolt Brecht immer eng mit seinen Komponisten zusammenarbeitete, z.B. ihnen
musikalische Ideen vorspielte, ist anzunehmen, dass auch hier die musikalischen
Grundideen nicht nur von Kurt Weill alleine stammen.
71
Vgl. K. Völker, Brecht, S. 142.
47
Instrumentiert ist die Moritat für Altsaxophon (alternierend Sopransaxophon),
Tenorsaxophon, Trompete, Posaune, Schlagwerk, Banjo, Klavier und Harmonium. In diesem
Lied wie auch in der ganzen Oper sorgt die Besetzung der Band für einen jazzigen Anklang,
Banjo und Klavier sorgen neben der harmoniefüllenden Funktion in Anlehnung an den
„privaten Charakter“ von Brechts Musik, sind Banjo und Klavier besetzt, und das Harmonium
sorgt durch seine (Dreh-)Orgelaffinität für ein sakrales (Jahrmarkts-)Flair. In Bezug auf das
Harmonium wird in der Partitur sogar angemerkt, dass es „In der Art eines Leierkastens“
gespielt bzw. klingen soll. Für die Uraufführung wurde zur musikalischen Begleitung speziell
eine Walze bei dem Drehorgelbauer Giovanni Bacigalupo in Auftrag gegeben. Auf der
Aufnahme, bei der Brecht selbst seine Mackie-Messer-Moritat ‚singt’ (um 1930 herum
entstanden) ist vermutlich diese Walze zu hören, denn trotz der schlechten
Aufnahmequalität kann man deutlich hören, dass es sich hierbei nicht um ein begleitendes
Harmonium handelt.
Folgende, aus dem Kaufgedanken des Bänkelsangs abgeleiteten Charakteristika der Musik,
des Textes und des Vortrags finden sich in diesem Stück wieder:
Um ein häusliches Nachsingen der Lieder zu ermöglichen, sollten sie einfach und
einprägsam sein. In den ersten acht Takten beschränkt sich die Melodie auf wenige Töne
von denen der immer wieder erreichte „Rezitationston“ a1 der Führende ist. Darunter spielt
sich über dem Ostinato c-G das sehr konventionelle I-II7-V7-I ab (vgl. z.B. Präludium Nr. 1
aus dem Wohltemperierten Klavier von Johann Sebastian Bach). Durch diese Synthese von
„alt“ und „neu“ wirkt dieses Stück eigenwillig und eindringlich.
Ab Takt 9 entwickelt sich aus dem zuvor penetrant wiederholten Anfangsmotiv eine
espressive Melodie, die sich dem Hörer schnell erschließt, vielleicht mit Ausnahme des
Septsprunges in Takt 11 und 13, der das „Messer“ versinnbildlicht.
Weill und Brecht schafften es, eine einprägsame Melodie ohne Leittöne zu entwerfen, die
sogar völlig unabhängig vom Grundton des gänzlich diatonisch begleitenden harmonischen
Modells ist.
Auch textlich betrachtet weißt das Stück einfache Strukturierungselemente auf. Versweise
betrachtet hat der Text im vierhebigen Jambus das Reimschema abcb, welches sich auf die
Melodie zu 4+4+4+4 Takten überträgt. Wenn man das Stück großflächiger betrachtet, was
auch dem Melodieverlauf mehr entspricht, so lassen sich zweimal acht Takte gruppieren, die
sich textlich aufeinander reimen.
Um das Lied nicht nur durch den Titel „Moritat“ und die einfache harmonische und
melodische Struktur (die auch ein Volkslied sein könnte) als Bänkelsang auszuweisen, muss
auf jeden Fall irgendeine Art Affinität zur monotonen, leiernden Drehorgelmusik hergestellt
werden. Der Text kommt dem durch seine jambische „Leier“ schon einmal entgegen. Diese
48
Monotonie wird auf den Rhythmus der Moritat übertragen. Der Gesangspart des
„Ausrufers“ hat im ganzen Stück stets den gleichen Rhythmus:
Einzige Ausnahme sind die Überbindungen von T.9 auf 10 und von T.15 auf 16. Durch den
Melodie- und damit auch Spannungsbogen in T.9-10 kann diese Rhythmische Variation
(Haltebogen statt Pause) eventuell realisiert werden, während T.15-16 schon als
Strophenende verklingt. Durch die langen Noten und die Pause am Versende entsteht eine
Fermatenwirkung, die das Zeilenende hervorhebt. Jedoch wird durch die Auftaktigkeit, die
sich aus der Hauptbetonung auf der zweiten Hebung der Verse ergibt, immer wieder
Schwung geholt, wie beim Drehorgeldrehen, sodass die Melodie wie ein „perpetuum
mobile“ unaufhaltsam weiter ertönt. Das Harmonium mit seiner Leierkastenfunktion
unterstützt anfangs (T.1-16) den monotonen und daher äußerst einprägsamen Rhythmus.
Der Bass (linke Hand des Klaviers) hält stets den Grundschlag des 2/2-Takts, während die
Akkorde (rechte Hand) darüber in Vierteln pulsieren. Erst ab der dritten Strophe bringen
wechselnde Instrumentation und rhythmische Variationen (z.B. Synkopen in der
Klavierbegleitung) das Stück noch mehr in Fahrt. Jedoch bleibt stets ein Grundpuls, sei es in
Halben oder Vierteln, gewahrt.
Am Ende des Stücks wird die im Verlauf verdichtete Instrumentation wieder
zurückgenommen, und das Lied läuft, auch durch die Textwiederholung am Ende, aus, als
wenn man bei einer Drehorgel immer langsamer drehen würde. Schließlich bricht die
Klavier- und Saxophonbegleitung ohne rit. und dim. einfach ab:
Diese ‚einfache’ Handhabung von Text, Melodie, Harmonie und Rhythmus macht das Stück
nicht nur gut geeignet für die an sich komplizierte, aufwändige Herstellung einer Walze,
sondern hat ihm bis in die heutige Zeit den Status eines „Evergreen“ beschert. Wie beim
Kanonensong kann dies Brecht alles andere als Recht sein, denn der ganze kritische
49
Textinhalt wird dadurch verkannt. Nach Brechts Vorstellung sollte eigentlich gerade anders
herum eine schöne Melodie als Kontrast zum mörderischen Textinhalt diesen dadurch
besonders betonen und Missstände entlarven. Auch der gestische Vortrag sollte nicht nur
„Show“ sein, sondern den Text kritisch hinterfragen. Im Brecht-Liederbuch findet sich
folgende Anmerkung, die diese Zwiespältigkeit zwischen Musikgehalt und Textinhalt
beschreibt:
„Hier wird mit Schmiß und Unschuldsmiene gesungen, zart, fast träumerisch, wo angebracht, und
anderswo mit plärrender Aufgekratztheit, jedenfalls stets Gefühlen hingegeben, welche zugleich
durch das Umfeld, in dem sie stehen, höchst fragwürdig erscheinen.“72
Dass Brecht und Weill in diesem Lied auf traditionelle Musikformen, sprich den Bänkelsang,
zurückgriffen, ist unverkennbar. Aber dennoch gelang es ihnen, diese veraltete Form in
Bezug auf das Musikleben ihrer Zeit zu aktualisieren. Der Jazz, der sich damals zunehmender
Beliebtheit erfreute, hielt als Verfremdungseffekt Einzug in den Bänkelsang. Der Bänkelsang,
als Gattung aus dem Volk stammend, wurde durch die moderne Musik des Volks (Musik der
schwarzen amerikanischen Unterschicht) angereichert. Dies zeigt sich zum einen in der
Instrumentation. Neben dem leiernden Drehorgelanklang brachte die Jazz-Band-Besetzung
neue Klangfarben, z.B. das Banjo als neue Form der Gitarre, mit ins Spiel. Zum anderen
wurde der monotone Rhythmus durch jazzige Variationen, vor allem durch Synkopen, etwas
aufgelockert. Schon die Tempoangabe „Blues-Tempo“ weißt auf eine jazzige Verfremdung
der traditionellen Moritat hin.
Die Legende vom toten Soldaten
Der Grund dafür, dass die „Hauspostillen“ beim Propyläen-Verlag (nicht bei Kiepenheuer)
erschienen und dass Brecht 1935 ausgebürgert wurde, war „Die Legende vom toten
Soldaten“.
„Die Legende vom toten Soldaten“ findet sich auf Youtube: „ernst busch-legende vom toten soldaten“
Der ideologische Hintergrund zu dieser Ballade geht auf die Jahre vor 1916 zurück. Es war
die Zeit, die sich mit Begeisterung der militärischen Propaganda widmete. Gehorsam,
Aufopferung und Dienst für das Volk, vermittelt durch die Kunst (speziell die Musik), waren
die zentralen Leitgedanken der Ideologie. Als Brecht hinter die Kulisse des
Massengedankens, in dem das Individuum untergeht und die Kunst zweckentfremdend
glorifiziert wird, sah, begann er bereits 1916 in seinem Schulaufsatz die Kunst als
Mobilmachung gegen Untertanengeist einzusetzen. Diese Antikriegshaltung gipfelte 1918 in
der Ballade vom toten Soldaten. Brecht sprach die im Verlaufe des menschenvernichtenden
Weltkriegs aufgekommene Antikriegshaltung der Bevölkerung aus, indem er über das
„Soldatenverheizen“ und die Pflichterfüllung bis zuletzt (und über den Tod hinaus) schrieb.
Das einschneidende Erlebnis, das Brecht zu dieser Moritat veranlasste, war seine eigene
Einberufung zum Militärdienst. Selbstironisch regelte Brecht noch seine „irdischen
Angelegenheiten“, eher sich seinem „Todesurteil“, wie er selbst den Einberufungsbefehl
72
F. Hennenberg, Liederbuch, S. 386.
50
nannte, ergab. Vom 1.Oktober 1918 bis zum 9. Januar 1919 diente er nun im Augsburger
Reservelazarett in der Seuchenabteilung für Geschlechtskrankheiten. Ironisch und makaber
sagt Brecht später über seine Arbeit im Lazarett:
„Ich wurde zum Kriegsdienst einberufen, und in ein Feldlazarett gesteckt. Ich legte Verbände an,
bepinselte Wunden mit Jod, gab Klistiere, half bei Bluttransfusionen mit. Wenn der Herr Stabarzt
kommandierte: ‚Amputieren Sie das Bein, Brecht!’ antwortete ich: ‚Zu Befehl, Herr Stabarzt!’ und
schnitt das Bein ab. Wenn man mir sagte: ‚Machen Sie eine Trepanation!’, öffnete ich den Schädel
eines Mannes und reparierte an seinem Gehirn herum. Ich sah, wie Menschen zusammengeflickt
wurden, damit sie so rasch wie möglich an die Front zurücktransportiert werden konnten.“73
Genau diese Übertreibung als Kritik am Krieg bildet die Grundlage für „Die Legende vom
toten Soldaten“, Brechts wirkungsvollstes Antikrieslied, das einen Monat nach dem Beginn
seines Lazarettdienstes im November 1918 entstand. Die Instrumentalisierung der Medizin
zu Gunsten des Krieges, die den kaputten Menschen wie eine (Kriegs-) Maschine wieder
zusammenflickt und ihn abermals verheizt, führt die ganze Ideologie des Krieges vor. Brecht
entlarvte somit den Traum vom Soldatentum als Betrug durch leere und falsche
Versprechungen und durch Manipulation des Gemeinschaftsgedankens. Brecht wählte hier
ganz bewusst die Form der Ballade für diesen lyrischen Text. Bereits in seinem
Schullesebuch war der Ballade ein kämpferischer und tragischer Inhalt zugesprochen
worden:
„Die Ballade neigt nach ihrem Ursprung aus *...+ dem nachdenklichen, träumerischen,
melancholischen Norden mehr dahin, ein Leiden dazustellen. Die Ballade [...] zeigt den Menschen im
Kampf mit den Naturgewalten, die herzlos und gewalttätig ihm überlegen sind. [...] In der Ballade
bildet das Ereignis in seiner erschütternden Tragik den Mittelpunkt und es kommt besonders darauf
an, dies Ereignis zu vergegenwärtigen, die Szene möglichst nahe heranzurücken *...+ .“74
In einer neuen Wirklichkeit setzt Brecht hier den Menschen an die Stelle von
„Naturgewalten“. Die Vermittlung der Szene geschieht bei Brecht durch den damals
aktuellen Bezug zur Kriegssituation und die damit verbundene Verwendung von
militärischem Fachvokabular, z.B. „k.v.“ für „kriegsverwendungsfähig“. Während es aber in
der Balladendefinition heißt, der Mensch stehe in einem (ausweglosen) Kampf mit einem
Gegenüber, so nimmt der Soldat bei Brecht eine passive Rolle ein, da er bereits tot und
damit nicht handlungsfähig ist. Auch bildet die reine Pflichterfüllung der Befehle den
Antrieb, denn der Soldat hat keinen eigenen Willen mehr. Die Ballade stellt dadurch einen
Kontrast zur Heldenballade „Die Grenadiere“ (1822) von Heinrich Heine (1797-1856) dar. In
Heines Ballade ist es der Soldat, der den Gedanken an eine „Auferstehung“ hegt und bereit
ist, erneut in den Krieg zu ziehen. Während bei Heine die beiden Grenadiere begeistert in
die Schlacht ziehen und in hymnischen Strophen ruhm- und ehrenvoll bis zum Tod für das
Vaterland bzw. den Kaiser kämpfen wollen, beschreibt Brecht die alltägliche Banalität des
Heldentods ohne jeglichen Gefühlstaumel. In Anlehnung an sein Vorbild Joseph Rydyard
73
Trejakow, Sergei: „Bert Brecht“, International Literature, Moskau 1937, o.S. ; zitiert nach: M. Esslin, Brecht,
S. 21.
74
Rohse, „Der frühe Brecht und die Bibel“, (Gott, Bn.2), S. 259; zitiert nach: H.-H.Müller, T. Kindt, Lyrik, S.
103.
51
Kipling, der gerne seine Soldatenfiguren in einem aggressiven Ton und mit „Slang“ reden
lässt, greift Brecht die Verwendung von Alltagssprache auf (z.B. „Schmeißt seine Beine vom
Arsch“, Strophe 9). Auch bei Kipling gehen die Soldaten ihrer Pflichterfüllung bis zuletzt
nach, und zwar mit einer mitreißenden Rhythmik, von der Brecht begeistert war. Der
Rhythmus in Brechts Ballade ist freimetrisch, d.h. wie Heine bei den Grenadieren, legt er
den Strophen keine einheitliche metrische Versstruktur zugrunde. Heines „Buch der Lieder“
(1927), welches die Ballade der Grenadiere enthält, war daher auch für die damalige Zeit
revolutionär und bildete Höhenpunkt und Abschluss der Romantik in einem. Neben der
aufgebrochenen Metrischen Struktur verwenden beide Dichter auch das volkstümliche
Reimschema: a b a b:
Bertolt Brecht
Heinrich Heine
Legende vom toten Soldaten
Die Grenadiere
٧
٧
/
٧
/
/ ٧
٧
/
Und als der Krieg im vierten Lenz
٧ ٧
٧ ٧
/
/ ٧
٧
٧ / ٧٧
٧
/
/ ٧
/
٧
/ ٧
٧
/ ٧ /
/٧ ٧ /
٧
٧ / ٧
Die waren in Russland gefangen.
٧
/
Da zog der Soldat seine Konsequenz
٧
٧
Nach Frankreich zogen zwei Grenadier’,
Keinen Ausblick auf Frieden bot
٧ /
/
/ ٧
/ ٧ ٧
/
٧
٧
/
Und als sie kamen ins deutsche Quartier,
/ ٧ /
٧
Und starb den Heldentod.
/ ٧ ٧
/ ٧ / ٧
Sie ließen die Köpfe hangen.
Aufgrund dieser freirhythmischen Versstruktur (mit ihrem Sprachanklang) wählte bereits
Robert Schumann für seine Vertonung von Heines Grenadieren neben einer auf- und
absteigenden Dreiklangsmelodie eine verstärkt rezitativische Vortragsweise:
Brecht beginnt auftaktig wie Schumann, schreibt aber ein Marschmetrum im 6/8-Takt vor,
was das strenge metrische Marschieren (vgl. Schumanns 4/4-Takt) leicht „tänzeln“ lässt.
Dadurch, dass die unterschiedliche Metrische Strukturierung (bei Brecht und Heine) in jeder
Strophe ihre Zusammensetzung und Abfolge ändert, ergibt sich daraus, dass jede Strophe in
52
Bezug auf den Notentext rhythmisch variiert bzw. angepasst werden muss. Während die
erste Strophe bei Brecht folgende Gestalt hat:
müsste der Rhythmus und die Melodie bei ihm auf die zweite Strophe übertragen bereits
wie folgt aussehen:
٧
/
٧ / ٧
٧
/
/
٧
/ ٧ ٧
٧
/
/
Der Krieg war aber noch nicht gar
Drum tat es dem Kaiser leid
٧
٧
/
٧ /
٧
/ ٧
/
Dass sein Soldat gestorben war:
/
٧
٧
/
٧
/
Es schien ihm noch vor der Zeit.
Und auch bei Schumann finden sich diese rhythmischen Abweichungen:
In Brechts Gedicht spielt die Musik (die auf ihren Erbauungscharakter beschränkt ist) selbst
eine wichtige Rolle im Text. In der neunten Strophe ist von einem flotten Marsch die Rede,
dessen rhythmisch und metrischer Anklang in Brechts Vertonung zu spüren ist. In den
Strophen 13, 16 und 17 wir die militärische Musikparade unter der Bezeichnung
„Tschindrara“ zusammengefasst.
Brecht komponierte eine Melodie, die melodisch einfach ist: der Tonumfang beschränkt sich
auf den Quintraum d-a in der bequemen Mittellage, und die formale Anlage besteht aus
zweimal vier Takten, die beinahe identisch sind. Alle 19 Strophen werden auf diese Melodie,
die in sich schon eine Wiederholung darstellt, gesungen, so dass wieder der Anklang zum
gleichförmigen Leiern des Moritatenstils zum Vorschein kommt. Verstärkt wird dieses
Gefühl einer „Never-ending-Melody“ dadurch, dass die Strophe mit einem Quintabsatz bzw.
Halbschluss endet. Daraus ergibt sich zwangsläufig ein unaufhörliches Weitermarschieren
der Musik und des Soldaten. Selbst beim endgültigen Schluss des Liedes ist kein Ganzschluss
53
vorgesehen. Die Musik ist hier nur Mittel zum Texttransport und stellt wie beim Bänkelsang
durch die Strophenreihung Bild an Bild. Als Brecht dieses Lied in sein Drama Trommeln in
der Nacht einarbeitete, erschien es, dem Charakter entsprechend, unter dem Titel „Moritat
vom toten Soldaten“ und wurde von der Figur des Gastwirtes zur Klampfe singend
vorgetragen. Um die militärische Affinität des Liedes zusätzlich zur marschartigen Pulsierung
des 6/8-Takts noch zu verstärken, verwendet Brecht auftaktige 16tel Paare als eine Art
Fanfarenanklang.
„Die Legende vom toten Soldaten“ wurde für Brecht zu einem seiner bevorzugten Lieder.
Mehrfach, auch aufgrund etlicher freundschaftlicher Bitten, gab er diese Moritat,
angefangen von Augsburger Schenken bis hin zur Wilde[n] Bühne von Trude Hesterberg in
Berlin, zum Besten.
„Er hatte sich selbst eine Melodie, eine rasche, hüpfende, synkopisierende, zurechtgelegt. Die Stimme
klang etwas spröde, und grell; sie vermochte ein Wort oder einen Begriff wie mit dem Hammer
einzuschlagen, das Wort mit einem Schnitt zu zerschneiden wie mit einem Fallbeil, es aufzuspießen und es
wie auf einem Speer hochzuhalten. Bei dem Wort „Heldentod“ hielt er einige Sekunden das „o“ hoch,
damit das freche „o“ auch gut von allen Seiten gesehen werde.“75
Inspiriert durch diese Vorträge des Liedes, das 1922 auch durch die Aufführungen von
„Trommeln in der Nacht“ bekannt wurde, schrieb Kurt Weill 1929 eine Fassung für
Männerchor a cappella. Und Hanns Eisler verfasste 1958 17 Variationen für Ernst Busch über
dieses Lied, die leider unveröffentlicht blieben.
Die Reaktionen auf „Die Legende vom toten Soldaten“ reichten von lebhafter Zustimmung
bis zur völligen Ablehnung. Während Brechts Freunde, die zum Teil den Krieg ebenfalls
hautnah und so wie er unverblümt war miterlebt hatten, begeistert davon waren, dass
jemand auf satirische Weise aussprach, was alle dachten, war die konservative Seite über
solch einen zerstörerischen Sinn entrüstet. Aus diesem Grund lehnte auch Gustav
Kiepenheuer 1926 den Druck der „Hauspostillen“ durch seinen Verlag ab, da sich Brecht
weigerte, Textpassagen und speziell die Legende vom toten Soldaten zu streichen. So
erschienen 1927 „Die Hauspostillen“ mit der „Legende vom toten Soldaten“ beim
Propyläen-Verlag. Bereits in den 20er Jahren wurde das Lied als eine Verhöhnung des
deutschen Soldaten angesehen und auf Platz fünf der schwarzen Liste der NS-Regierung
gesetzt. 1935 war dieses Lied schließlich mit ein Grund, für die Ausbürgerung Brechts.
75
Reich, Bernhard: „Im Wettlauf mit der Zeit. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten deutscher Theatergeschichte“,
Berlin 1970, S. 297 f.; zitiert nach: F. Hennenberg, Liederbuch, S. 363f.
54
Von der dramatischen zur epischen Kunstform
„Was wir machen wollten, war die Urform der Oper. Bei jedem musikalischen Bühnenwerk taucht von
neuem die Frage auf: Wie ist Musik, wie ist vor allem Gesang im Theater überhaupt möglich? Diese
Frage wurde hier einmal auf die primitivste Art gelöst. Ich hatte eine realistische Handlung, musste
also die Musik dagegensetzen, da ich ihr jede Möglichkeit einer realistischen Wirkung abspreche. So
wurde also die Handlung entweder unterbrochen, um Musik zu machen, oder sie wurde bewusst zu
einem Punkt geführt, wo einfach gesungen werden musste.“76
Die Musik wird also aus ihrem „dahinschwelgenden Rauschzustand“ herausgelöst und erhält
eine explizite Aufgabe. Sie unterbricht das Handlungsgeschehen, oder entsteht aus einer
pädagogischen Notwendigkeit heraus, die erklären soll (meist durch Kontrastierung und
Parodie), wie der Zuhörer die Situation zu verstehen hat. Brecht und Weills Ansatz „weg
vom Dramatischen – hin zum Epischen“ verschiebt den Schwerpunkt der Kunstformen vom
„Kulinarischen“ hin zum „Lehrhaften“.
In seinen Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von 1930 und
1938 stellte Brecht die gemeinsam mit Weill entwickelte Epische Form der Dramatischen
gegenüber. In Bezug auf die Oper als Musterbeispiel der „Verführungskunst“ ergeben sich
hieraus folgende Unterschiede:
76
Weill, Kurt: „Über die Dreigroschenoper”, in: Ausgewählte Schriften, David Drew (Hrsg.), Franbkfurt am
Main 1975, S. 55-56; zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 71.
55
Dramatische Oper
Musik in Form von Arien,
Rezitativen, Chören. Einheitlicher
musikalischer Stil.
Epische Oper
Musik in Form des Songs (auch in
Bezug auf Chöre). Colagierende
Musikhandhabung (Mischung aus
Jazz, Volkslied, Schlager, Ballade).
Die Musik serviert illustrativ durch
Handlung:
D.h. der Liedtext treibt die Handlung
voran (Rezitativ) und ist auf diese
bezogen (Arie).
Musik
in
der
erzählenden
Vermittlerrolle:
Die Songs stehen separat zu
Handlung und Szene und betrachten
diese
durch
Erzählen
einer
Geschichte, Ballade.
Musik steht über dem Text:
Figurierte Melodien zerlegen den
Text
in
seine
phonetischen
Bestandteile. Libretto nicht an
lyrische Richtlinien gebunden. Ein
großer Orchestersatz verstärkt die
musikalische Klangfläche. Aufgrund
von
banalen
Texten
und
vernachlässigtem Libretto ist die
Musik führend.
Text
als
Grundlage
einer
musikalischen Schilderung:
Die
Musik
ist
nach
dem
Textrhythmus
und
dessen
Sprachintonation gestaltet. Dies
führt zu einem Sprechgesang. Es gibt
keine
komplizierten
Melodien,
sondern eingängige Motive wie im
Bereich des Schlagers. Das Libretto
wird durch Verwendung von Lyrik
aufgewertet. Das Orchester ist wie
eine kleine Jazzband besetzt. Größe
und Instrumentarium haben sich
geändert.
Der Zuhörer bzw. Zuschauer wird
durch die Musik getragen:
Durch die Gefühlsbeschreibungen in
den Gesängen (Arien) wird dem
Zuhörer
/
Zuschauer
eine
Mitfühlhaltung
aufgesetzt.
Grundlage hierfür bildet ein
traditionelles Menschenbild (gutböse), das sich in der traditionellen
Harmonie
und
Musikformhandhabung äußert. Der
Mensch an sich wird somit als
bekannt
und
unveränderlich
vorausgesetzt.
Musik fordert Stellungnahme durch
eine Gegenüberstellung:
Handlung und Musik stehen sich
gegenüber. Im Song werden keine
Gefühlswallungen
beschrieben,
sondern eine separierte Szenerie
wird gestisch geschildert. Dadurch
wird dem Zuschauer/-hörer eine
distanzierte Betrachtungsweise in
Bezug auf das Bühnengeschehen
ermöglicht.
Es
findet
keine
emotionale Beeinflussung statt,
sondern das Publikum muss sich
selbst mit dem Erlebten kritisch
auseinandersetzen, wird sozusagen
mindestens geistig am Geschehen
beteiligt. Der Mensch wir hier als
wandelbares Objekt verstanden und
zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht. Die musikalische
Harmonie wir durch Hinzufügen
akkordfremder Töne angereichert.
Linearer Spannungsaufbau:
Steigender Aufbau hin zu einem
Höhepunkt. Keine unterbrochene
Handlung, sondern jede Szene baut
auf der anderen auf.
Szenenspannung / Montage:
Jeder Song steht für sich und ist in
sich
gegliedert
(Steigerung,
Höhepunkt).
Die
Text-MusikMontage
blockiert
einen
kontinuierlichen Spannungsaufbau.
57
„Die Musik ist der wichtigste Beitrag zum Thema.“ schrieb Brecht zur Gewichtsverschiebung
zwischen Dramatischer und Epischer Oper. Musik, Wort und Bild sollten durch mehr
Selbstständigkeit aufgewertet werden.
Während Brechts und Weills erster großer epischer Wurf Die Dreigroschenoper (1928) durch
die Kontrastierung zur Dramatischen Oper die alte Form entlarvt, denunziert die Oper
„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ (1929) gerade dadurch, dass sie sich am
„dahinschwelgenden Rauschzustand“, am „Kulinarischen“ erfreut. Der Neuerungsprozess
sollte hier durch inhaltliche und formale Aktualisierung hinsichtlich des Zeitgeistes erreicht
werden:
„Die Oper soll, ohne dass ihr kulinarischer Charakter geändert wird, inhaltlich aktualisiert und der
Form nach technifiziert werden.“77
Die Arbeitsweise der (Opern-)Musik beschrieb Brecht folgendermaßen:
„Die Musik arbeitete so, gerade indem sie sich rein gefühlsmäßig gebärdete und auf keinen der
üblichen narkotischen Reize verzichtete, an der Enthüllung der bürgerlichen Ideologien mit. Sie wurde
sozusagen zur Schmutzaufwirblerin, Provokatorin und Denunziantin.“78
Das Gefühlsmäßige, das gerade das „Kulinarische“ hervorruft, entsteht durch eine
Genusshaltung, die sich an Sinnesfreuden und am Spaß am Untergang vergnügt und zum
käuflichen Selbstzweck wird. „Die Oper Mahagonny wird dem Unvernünftigen der
Kunstgattung Oper bewusst gerecht“, denn „ihr Inhalt ist der Genuss.“ Diese Oper
entmündigt sich also dadurch, dass sie den Zweck der Oper, nämlich „Genuss“ , zum eigenen
Inhalt macht. Formal betrachtet folgt der Aufbau der Mahagonny Oper musikalischen
Konventionen. Die Oper Mahagonny enthält Lieder, Ariosi, Tänze, Chor- und
Ensemblestücke, Kantilenen und ein ‚großes’ Orchester. Allerdings bringen die
Musikcollagen (z.B. durch den Jazz) einen neuen Klang in die Opernhäuser. Zusätzlich dazu
erhält die Darstellung durch ein rationales Bühnenbild (Boxring mit Projektionen, Film- und
Toneffekten als Kulisse) einen Realitätsbezug, der wiederum durch die „irrationale“ Musik
aufgehoben wird. Die Reaktionen des Publikums auf diese neue Form der Oper reichten von
Lachen und Applaus bis Pfeifen und Kopfschütteln.
Wichtig bei diesem Opernprojekt war für Weill, dass Mahagonny einen allgemeingültigen
Status erreichte und über die Zeit bestehen konnte:
„Das Stück, das wir schaffen werden, wird nicht Aktualitäten ausnützen, die nach einem Jahr veraltet
sind, sondern es will unsere Zeit in einer endgültigen Form gestalten. Es gilt eben das neue Genre zu
schaffen, das die völlig veränderten Lebensäußerungen unserer Zeit in einer entsprechenden Form
behandelt.“79
Ein Aspekt dieses zeitlosen Ansatzes ist z.B., dass Mahagonny durch seinen Titel und die
undefinierte geographische Lage der fiktiven Stadt (zwischen Benares und Alaska) überall
und jederzeit (denn Geld und Verführung spielten und werden immer eine große Rolle
spielen) sein kann.
77
Brecht, Bertolt: „Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, in: B. Brecht, Berlin, S. 33.
Brecht, Bertolt: „Gesammelte Werke“, Frankfurt am Main 1967, Bd.15, S. 474; zitiert nach: F. Hennenberg,
Liederbuch, S. 385.
79
Weill, Kurt, o.A.; zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 65.
78
58
Das Epische Theater
„Die epische Theaterform ist eine stufenartige Aneinanderreihung von Zuständen. Sie ist daher die ideale
Form des musikalischen Theaters, denn nur Zustände können in geschlossener Form musiziert werden.“80
Dies sagte Kurt Weill über Bertolt Brechts Theorie eines Epischen Theaters. Dabei nennt er
zugleich das wichtigste Merkmal des Epischen, das förmlich nach einer musikalischen
Komponente verlangt und sich auch auf diese überträgt: die Verarbeitung verschiedener
(kontrastierender) Ebenen miteinander. Brechts Theorie des Epischen Theaters entstand,
wie die Idee der epischen Oper, als Gegenpol zur einer verschwommenen und veralteten
Theaterpraxis, die wohlerzogene Leute im Frack beherbergte und durch festliche
Atmosphäre große, überschwängliche Gefühle vorheucheln wollte.
Brecht wollte neue populäre, moderne, sachliche, einfache, prägnante und aktuelle
Ausdrucksformen, die verwendbar für jedermann sein sollten. Um mit all diesen
verschiedenen Ansätzen gleichzeitig agieren zu können, trennte Brecht, entgegen der
Wagnerschen Auffassung eines Gesamtkunstwerkes, die einzelnen Bühnenelemente
voneinander. Dadurch erzielt er eine Verselbstständigung von Sprache, Musik und Bild und
überwindet somit den alten Primatkampf zwischen Wort, Ton und Darstellung. Neu und
entgegen des Dramas eines Aristoteles gerichtet werden die einzelnen Elemente ohne
künstlichen Rahmen (sei es Ort, Zeit, etc.) aneinander gereiht, miteinander verwoben und
erzählen und erzielen dadurch verschiedene Zustände. Im Unterschied zu Erwin Piscator (bei
dem Brecht in die Lehre ging), der nach Brechts Worten das Erfassen neuer Stoffe ermöglicht
hatte, nutzt Brecht die „alten“ Formen, um neue Stoffe durch das Drama erst distanziert
erfassbar zu machen. Darum verwendete Brecht bevorzugt historische Themen (z.B. das
Leben Eduards des Zweiten, 1924) und Historisierungen, um die Unveränderbarkeit der Welt
und ihrer Gesellschaft zu zeigen.
Während Brechts frühe Stücke eine sinnliche und exotische Welt schilderten, steht Mitte
und vor allem Ende der 20er Jahre das Lehrhafte im Mittelpunkt. Jedoch darf auch weiterhin
Emotion eine Rolle spielen:
„Das Wesentliche am epischen Theater ist es vielleicht, dass es nicht so sehr an das Gefühl, sondern
mehr an die Ratio des Zuschauers appelliert. Nicht miterleben soll der Zuschauer, sondern sich
auseinandersetzen. Dabei wäre es ganz und gar unrichtig, diesem Theater das Gefühl absprechen zu
wollen.“81
Um diesen Aspekt auch noch in den geforderten Komplex aus Lyrik, Musik und Graphik
einzuarbeiten, wurde ein größerer Theaterapparat benötigt, was sich in erster Linie auf die
Bühnentechnik auswirkte. Die Elektrifizierungswelle der damaligen Zeit ermöglichte dem
Theater neue formelle Mittel wie z.B. eine Drehbühne und Filmprojektionen. Brecht war so
begeistert von der Technik und der Maschinerie, dass er wie sei Vorbild Piscator den
Bühnenaufbau durch Projektionen von Ziffern, Statistiken, Bildern, Filmen u.a. als
Hintergrund änderte und dadurch modernisierte und aktualisierte. Aktualisierung bedeutete
80
Weill, Kurt: „Ausgewählte Schriften“, David Drew (Hrsg.) Frankfurt am Main 1975, S. 57; zitiert nach: A.
Dümling, Gegen Verführung, S. 161.
81
Brecht, Bertolt: „Betrachtung über die Schwierigkeiten des epischen Theaters“, in: Frankfurter Zeitung,
Literaturblatt, 27. November 1927; zitiert nach: J. Willett, Theater, S. 156.
59
auch, dass Kulisse nicht mehr nur der szenischen Untermalung diente, sondern als
eigenständiges Spannungselement die Szene mitgestaltete.
Im Unterschied zu Piscator, der hauptsächlich seine Neuerung des veralteten
Theaterapparats durch neue technische Bühnenbildformen erzielte, setzte Brecht zusätzlich
auf eine veränderte Grundeinstellung der Schauspieler in Bezug auf die darzustellende Figur:
„Es *künstlerisches Temperament] tobt sich meist in überlauten oder künstlich verhaltenem Sprechen
aus und überdeckt die Leidenschaft der Stückfigur durch die Leidenschaft des Schauspielers. Echte
menschliche Töne hört man dann selten, und man hat den Eindruck, es gehe im Leben zu wie auf dem
Theater, statt des Eindrucks, es gehe im Theater zu wie im Leben.“82
Wichtigster Bestandteil der neuen Theaterform aber war die Musik. Brecht brach damit die
rein auf sprachliche Äußerungen angelegten Konventionen des Dramas auf und erleichterte
die dramatische Form durch musikalische Ergänzungen:
„Jedoch wurde durch die Einführung der Musik immerhin mit der damaligen dramatischen Konvention
gebrochen: das Drama wurde an Gewicht leichter, sozusagen eleganter; die Darbietungen der Theater
gewannen artistischen Charakter. Die Enge, Dumpfheit und Zähflüssigkeit der impressionistischen und
die manische Einseitigkeit der expressionistischen Dramen wurde schon einfach dadurch durch die
Musik angegriffen, dass sie Abwechslung hineinbrachte.“83
Dass diese Musik ebenfalls eine Neuschöpfung darstellt, die aus ihrem Selbstzweck heraus
die Handlung kommentiert statt illustriert, und sich damit gegen die romantische
musiktheatralische Handhabung stellte, demonstriert Brecht dadurch, dass er sein
kompositorisches Werk wie ein „Schüttelreim“ als „Misuk“ bezeichnete. Hanns Eisler
definierte dieses nach Vernunft strebende musikalische neue Wortgebilde so:
„Sie ist vor allem nicht dekadent und formalistisch, sondern im höchsten Grade volkstümlich. Sie
erinnert am ehesten an den Gesang arbeitender Frauen in Hinterhöfen an den Sonntagnachmittagen.
[...] Ich hoffe, Brecht richtig zu interpretieren, wenn ich ferner feststelle, dass Misuk eine Kunstart sein
will, die das vermeidet, was zum Beispiel bei Sinfoniekonzerten und Opern oft eintritt:
Gefühlsverwirrung. Denn Brecht war nie bereit, sein Gehirn an der Gaderobe abzugeben. Er hielt für
eine der besten Unterhaltungen die Anwendung von Vernunft.“
82
Brecht, Bertolt: „Kontrolle des Bühnentemperaments“, in: Theaterarbeit, Dresden 1952, S. 385; zitiert nach: J.
Willett, Theater, S. 153.
83
B. Brecht, GW, Bd.15, S. 472.
60
Der V-Effekt am Beispiel der Dreigroschenoper
„Die Dreigroschenoper“ ist ein Musterbeispiel Epischen Musiktheaters. Sie stellt
verschiedenste musikalische und sprachliche Ebenen gegenüber und kombiniert sie
sinnwidrig:
„Hier wird mit Schmiss und Unschuldmiene gesungen, zart, fast träumerisch, wo angebracht, und
anderswo mit plärrender Aufgekratztheit, jedenfalls stets Gefühlen hingegeben, welche zugleich durch
das Umfeld, in dem sie stehen, höchst fragwürdig erscheinen.“84
Wichtigstes Stilmittel und „formaler Trick“ des Epischen Theaters ist der
Verfremdungseffekt, V-Effekt genannt. Dessen entlarvende Wirkung besteht darin, dass er
Standardformen aufgreift und sie durch Hinzufügen oder Wegnehmen einer eigenen, aber
meist fremden Komponente parodistisch verändert. Dazu zählt z.B. das Verwenden mehrere
zeitlich und räumlich unabhängiger Ebenen. Mit einem parodistischen Anklang an Wagners
Schrift „Über die Verwendung von Musik im Drama“ (1879) verfasste Brecht 1935 seine
entwickelte musikalische Verfremdungswirkung unter dem Titel „Über die Verwendung von
Musik für ein episches Theater“ zusammen:
„Die epische Theaterform ist eine stufenartige Aneinanderreihung von Zuständen. Sie ist daher die ideale
Form des musikalischen Theaters, denn nur Zustände können in geschlossener Form musiziert werden,
und eine Aneinanderreihung von Zuständen ergibt die gesteigerte Form des musikalischen Theaters: die
Oper.“85
Wichtigste Neuschöpfung in Bezug auf ein Musiktheater ist die sich ergänzende
Eigenständigkeit von Musik und Wort, ausgehend vom darstellerischen Handeln:
„So seien all die Schwesterkünste der Schauspielkunst hier geladen, nicht um ein ‚Gesamtkunstwerk’
herauszustellen, in dem sich alle aufgeben und verlieren, sondern sie sollen, zusammen mit der
Schauspielkunst, die gemeinsame Aufgabe in ihrer verschiedenen Weise fördern, und ihr Verkehr
miteinander besteht darin, dass sie sich gegenseitig verfremden.“86
Die Sprache wird nüchtern, scharf, schlagzeilenartig und prägnant (im Moritatenstil) zum
„Gegen-die-Musik-sprechen“, d.h. unabhängig von Melodie und Rhythmus eingesetzt.
Brecht gibt drei Ebenen des „gesprochenen“ Wortes im Theater vor, die stets strikt zu
trennen sind:
-
Nüchternes Reden (z.B. Der Barbara-Song)
Ein „dramatischer“ Sachverhalt wird mit einem (emotional) reduzierten Sprachstil vorgetragen. Er
kann z.B. durch Umgangssprache, dialektale Färbung und falsche Grammatik unterstützt werden.
Anglizismen mit ihrer exotischen Färbung werden eher dem nüchternen Reden zugeordnet, da es sich
um einfache englische Ausdrucksformen handelt, die zum Teil auch fehlerhafte Grammatik aufweisen.
84
F. Hennenberg, Liederbuch, S. 386.
Weill, Kurt: „Ausgewählte Schriften“, David Drew (Hrsg.), S. 57; zitiert nach: A. Dümling:, Gegen
Verführung, S. 161.
86
Brecht, Bertolt: „Kleines Organon für Theater“, in: B. Brecht, GW, Bd.16, S. 698f.
85
61
-
Gehobenes Reden (z.B. Morgenchoral des Peachum)
Kann z.B. durch eine trockene, umständliche Amtssprache erzeugt werden. Auch Anklänge an die
gewaltige Sinnlichkeit der Lutherischen Bibelsprache können dazuzählen.
-
Singen (z.B. Der Kanonen-Song)
Das Singen stellt sowohl durch den anderen Stimmgebrauch eine neue Ebene dar, kann aber durch
den Textinhalt auf die beiden anderen Ebenen verweisen. Der Gesang stellt aber keinesfalls eine
Beschreibung von Gefühlen dar. Die gesangliche Ebene kann durch einen volkstümlichen Aufbau in
Strophe und Refrain verdeutlicht werden.
Diese unterteilten Vortragsweisen werden nun gleichberechtigt, wechselweise miteinander
kombiniert, so dass es keinen einheitlichen Sprachstil gibt und damit das reine Sprechen im
Drama und das reine Singen in der Oper verfremdet. Die einzelnen Umbrüche der
sprachlichen Äußerungen sollen vom Schauspieler sich selbst und dem Publikum bewusst
gemacht werden. In seinen „Anmerkungen zur Dreigroschenoper“ schrieb Brecht über die
drei sprachlichen Ebenen:
„Nichts ist abscheulicher, als wenn der Schauspieler sich den Anschein gibt, als merke er nicht, dass er
eben den Boden der nüchternen Rede verlassen hat und bereits singe. Die drei Ebenen: nüchternes
Reden, gehobenes Reden und Singen, müssen stets voneinander getrennt bleiben, und keinesfalls
bedeutet das gehobene Reden eine Steigerung des nüchternen Redens und das Singen eine solche des
gehobenen Redens. Keinesfalls also stellt sich, wo Worte infolge des Übermaßes der Gefühle fehlen,
der Gesang ein.“87
Brecht baute auch gerne Zitate aus berühmten Werken in seine Libretti mit ein; z.B. den
Ausspruch „beneidenswert, wer frei davon“, der unter anderem den ständig wiederkehrenden Refrain des Salomonsong bildet und der der Textpassage „Wohl dem, der frei von
Schuld und Fehle“ aus Schillers Ballade „Die Kraniche des Ibykus“ entlehnt ist.
Sowohl die drei sprachlichen Ebenen als auch die beibehaltene Reimform der Liedtexte
verhindern, dass Bühnenfigur und Schauspieler miteinander verschmelzen. Um dem
Zuschauer diese Trennung auch optisch zu verdeutlichen, nimmt der Schauspieler zum
Vortrag der Lieder einen Stellungswechsel vor, der die Einheitlichkeit des Bühnenraumes
durchbricht. Damit begibt er sich durch die konkrete Raumzuordnung von Sprechen und
Singen auf eine andere Mitteilungsebene. Der Darsteller tritt quasi für einige Zeit mit dem
Lied aus dem Stück heraus und unterbricht dadurch den Handlungsverlauf.
Zusätzlich zur Unterbrechung der Handlung kann auch eine direkte Ansprache, auf das
Publikum bezogen, erfolgen, so dass der Zuschauer regelrecht zum aktiven Mitdenken
gezwungen wird; z.B. „Ihr saht den weisen Salomo“ (Salomonsong) oder „Meine Herrn, heut
sehn Sie mich Gläser abwaschen“ (Seeräuberjenny). Die Dreigroschenoper hat zudem die
Besonderheit, dass eine Art erläuternder Prolog an den Anfang gestellt werden kann, der
dem Publikum mit direkter Ansprache genau sagt, wie die Oper und ihr Titel zu verstehen
sind. Verkündet wird das ganze durch einen kommentierenden Autor, der selbst als eine Art
Bettler auftritt:
87
Brecht, Bertolt: „Anmerkungen zur Dreigroschenoper“; in: B. Brecht, GW, Bd.17, S. 996f.
62
„Sie werden eine Oper für Bettler hören. Weil diese Oper so prunkvoll gedacht war, wie nur Bettler sie
erträumen, und weil sie doch so billig sein sollte, dass Bettler sie bezahlen können, heißt sie: Die
Dreigroschenoper.“88
Durch die Brechung der getrennten Bezugsebene zwischen Schauspieler und Zuschauer, die
zu einer Einbindung des Publikums in das Geschehen führt, wird auch gleichzeitig der
Zuschauer an einem Einfühlungsprozess gehindert, der allerdings laut Brecht nicht mit
Emotionslosigkeit verwechselt werden darf.
„Eine Gestaltung, die auf Einfühlung mehr oder weniger verzichtet, braucht keineswegs eine
„gefühllose“ Gestaltung zu sein. [...] Die Beschreibung des V-Effekts wirkt bei weitem unnatürlicher als
die Ausführung desselben.“89
Andererseits setzten aber auch Brecht und Weill gerade solche gefühlvolle Mitsingmelodien
ein, um durch die Überbetonung zu entlarven. Bestes Beispiel dafür ist Der Kanonen-Song.
Seine Kriegsromantik, die den Kampf als nostalgisches Abenteuer darstellt und im Foxtrott
eine eingehende und schmissige Rhythmik gefunden hat, wurde (neben „Die Moritat vom
Mackie Messer“) zu dem Mitsingstück aus dieser Oper. Bei der Opernpremiere 1928 musste
dieses Lied aufgrund der nicht enden wollenden Begeisterung des Publikums nochmals
wiederholt werden. Der „Kanonen-Song“ ist aber auch Beispiel dafür, dass eine
„Überkulinarisierung“ der Oper vom Zuschauer nicht immer erkannt wird. Ein geistig blindes
Mitsingen wie es speziell bei diesem Lied und der Moritat der Fall war, entsprach keinesfalls
der denunzierenden Aussage Brechts.
Um dem Zuschauer den Sinn der Liedtexte demonstrativ deutlich und nicht durch Betonung
des Gefühlsinhaltes zu vermitteln, ist der Gesang in rezitativischer Weise und nicht in der
Tradition des „Bell Canto“ gehalten. Es wurden Moritatenelemente mit Anklängen an Arien
der englischen Hofoper (vgl. G.F. Händel und H. Purcell, die schon in der Originalen „Beggar’s
Opera“ von 1729 Pepusch populären Balladen aus England, Schottland und Irland
gegenüberstanden) kombiniert. Diese Mischung von hoher mit niederer Kunst, von Moritat
(z.B. Die Moritat vom Mackie Messer) und „Opera Seria“ (z.B. III. Dreigroschenfinale mit
seinem erzwungenen Happy End) führt durch ihre gesellschaftliche Gegenüberstellung zu
einer Kunstkritik durch Parodie. Brecht setzt äußerlich einen opernhaften Rahmen, während
die moralischen Wertvorstellungen einer ernsten Musik inhaltlich verkehrt werden. In
diesem Verfahren sieht Brecht auch die Verknüpfung zum Hintergrund The Beggar’s Opera:
„Wie vor zweihundert Jahren haben wir eine Gesellschaftsordnung, in der so ziemlich alle Schichten
der Bevölkerung [...] moralische Grundsätze berücksichtigen, indem sie nicht in Moral, sondern
natürlich von Moral leben. Formal stellt Die Dreigroschenoper den Urtypus einer Oper dar: Sie enthält
die Elemente der Oper und die Elemente des Dramas.“90
88
Kurt Weill: Die Dreigroschenoper, Historische Aufnahme von 1930 mit Kurt Gerron als Mackie Messer. ©
Membran Music Ltd., o.J.
89
Brecht, Bertolt: „Schriften zum Theater“, Frankfurt am Main 1963/64, S. 114; zitiert nach: J. Willett, Theater,
S. 164.
90
Brecht, Bertolt: „Über Die Dreigroschneoper“, in: B. Brecht, GW, Bd.17, S. 989.
63
Die Opern von Brecht und Weill wurden darüber hinaus von Schauspielern und nicht von
Sängern aufgeführt, um eben dem weichen kulinarischen Stil einen harten sprecherischen
entgegenzustellen. „Ich konnte keine Note lesen *...+ gerade deswegen wurde ich gewählt.“
so Lotte Lenya im Rückblick auf ihre Rolle der Jenny in „Die Dreigroschenoper“.
„Dieses Zurückgehen auf eine primitive Opernform brachte eine weitgehende Vereinfachung der
musikalischen Sprache mit sich. Es galt, eine Musik zu schreiben, die von Schauspielern, also von
musikalischen Laien gesungen werden kann. Aber was zunächst eine Beschränkung schien, erwies sich
im Laufe der Arbeit als eine ungeheuere Bereicherung. Erst die Durchführung einer fassbaren,
sinnfälligen Melodik ermöglichte das, was in der Dreigroschenoper gelungen ist, die Schaffung einer
neuen Genres des musikalischen Theaters.“91
Die Zitate zeigen auch, dass Brecht und Weill eine unprofessionelle Musikhandhabung in
Bezug auf den Gesang erzielen wollten und die klanglich eher an kabarettistische
Darstellungsformen des Sprechgesangs erinnern sollte.
Der Schauspieler selbst verwendete für seine gesangliche Darstellung keine Requisiten. Im
Laufe der Zeit wurde er aber durch Demonstrationshilfen wie Projektionen und
Bildmontagen unterstützt. Eine Demonstrationshilfe ist zum Beispiel die Vorankündigungen
zu den einzelnen Liedern. Wie im Prolog zu „Die Dreigroschenoper“ so berichtet auch hier
der Vorspann schon einmal vorweg, um was es in dem Lied gehen wird und wie die Szenerie
zu verstehen ist. Dies geschieht ebenfalls in einer sehr „nüchternen“ Form, z.B. „Durch ein
kleines Lied deutet Polly ihren Eltern ihre Verheiratung mit dem Räuber Macheath an.“
Ein Lichtwechsel im wahrsten Sinne des Wortes soll nicht desillusionieren, indem er alles in
einem unbekannten Licht zeigt, sondern dem Publikum einen kritischen und distanzierten
Blick auf vermeidliche Selbstverständlichkeiten ermöglichen.
Die Musik steht auch selbst als wichtigstes Mittel zur Verfremdung für formale und
inhaltliche Diskrepanz. Musik soll nach Brechts Auffassung den gestischen Akzent zum
gedanklichen Ausdruck des Textes bilden. Sie stiftet Widersprüche (zwischen den
Realitätsebenen, z.B. Zeit und Raum), regt zum kritischen Nachdenken an (durch Ansprechen
des Zuschauers, z.B. durch die Verwendung bereits bekannter Melodien) und intensiviert
den Sinngehalt des Textes (durch ironische Überbetonungen von Banalitäten, z.B. durch eine
simple und sich ständig wiederholende Harmoniefolge). Unterstütz wird das Ganze durch die
Verwendung unterschiedlicher Musikstile. Neben der äußerst starken Rhythmik und Melodik
des Jazz hat Brecht auch melodiöse volkstümliche, unterhaltungsmusikalische Elemente
verwendet. Wichtig für den musikalischen Rahmen waren historische Musikformen wie z.B.
der Choral (z.B. Morgenchoral) mit textlichem Gesangbuchanklang und sakraler
Instrumentierung (mit Harmonium). Dazu zählten auch eingefügte Balladen von Franςois
Villon und Rudyard Kipling. Holt man weit aus, so zitiert sich Brecht mit der Oper selbst,
indem er auf bereits existierende, selbstkomponierte Lieder (wie „Der Barbara-Song“,
„Seeräuberjenny“ und „Der Kanonen-Song“) zurückgreift. In „Trommeln in der Nacht“
verwendete Brecht noch als parodierenden Zitatstil Originalaufnahmen, die mit einem
Grammophon während der Bühnenhandlung abgespielt wurden. Darunter waren der Choral
„Ich bete an die Macht der Liebe“, das „Ave Maria“ von Bach/Gounod und die Strophe
„Deutschland, Deutschland über alles“. Der Kontrast entstand hierbei nicht nur durch die
91
Weill, Kurt: „Über die Dreigroschenoper“, in: Ausgewählte Schriften, Frankfurt am Amin 1975, S. 55f.; zitiert
nach: M.J.T.Gilbert, Music, S. 71.
64
musikalische Unterbrechung der Handlung, sondern durch die Abwertung des sakralen durch
den populistischen Klangkörper Grammophon und vor allem durch die kontrastierende
Gegenüberstellung von Kirche und Staat durch das jeweilige repräsentative Liedgut.
Wenn man die musikalische Form betrachtet, mit der Brecht in früheren Theaterstücken
gearbeitet hat – Liedern, Märschen etc. – steht nun die Gattung des Songs im Mittelpunkt.
Der Song bei Brecht ist eine Mischung aus Moritat, Rollenlied, Volkslied und speziell dem
Chanson. Im Unterschied zum Lied ist er humoristisch und als Parodie gedacht. Er hat einen
Adressaten, eventuell einen sozial-politischen Kontext und benutzt keine Requisiten. Als
äußerliches Merkmal gilt eine gestische Vortragsweise, die sowohl stimmliche wie mimische
Anforderungen stellt. Dies sind teilweise Kriterien, die Brecht bereits beim Vortrag seiner
Lieder forderte. Das bedeutet, der Song ist im Wesentlichen Brechts überarbeitete Liedform,
die integriert in ein Stück auf die Bühne gestellt wird. Wie dem Chanson so ist auch dem
Song zuweilen eigen, dass er zielgerichtet für eine bestimmte Person geschrieben wurde.
Bestes Beispiel dafür ist Die Moritat vom Mackie Messer, die der Hauptdarsteller als
Auftrittslied einforderte. Für manche Lieder wählte Brecht spezielle Tonarten, die dem
Stimmumfang z.B. von Lotte Lenya entsprachen. Der Song erhält eine eigene Inszenierung
auf der Bühne. Der Titel wird durch Projektionen, oder eine heruntergelassene Tafel vom
Schnürboden (wie in Die Dreigroschenoper), sichtbar gemacht. Wichtig dabei ist auch immer
ein stimmungsvoller Lichtwechsel. Die Regieanweisungen zu den einzelnen Songs haben
stets die gleiche Gestalt:
„Songbeleuchtung: goldenes Licht. Die Orgel wird illuminiert. An einer Stange kommen von oben drei
Lampen herunter und auf den Tafeln steht: *....+“92
Bei den Beleuchtungswechseln bevorzugte Brecht auch gerne provokanter Weise
grellweißes Licht.
Der Song an sich hat mehrere Ansatzpunkte um verfremdend zu wirken:
- Die Besetzung
Statt der sinfonischen Orchesterbesetzung stellt Brecht eine kleine Jazzband von acht Musikern (die LewisRuth-Band spielte die Premiere von Die Dreigroschenoper) auf die Bühne. In Sachen Rollenbesetzung bildet
später Der Ozeanflug ein Beispiel, denn Brecht lässt die Person des Lindbergh in der Figur der Flieger von allen
gemeinsam sprechen bzw. singen. Verfremdend wirkt auch, wenn in Trommeln in der Nacht ein Grammophon
bekannte Hymnen spielt und damit eine neue Form der Live-Musik entsteht.
- Die Form
Es entsteht ein gesteigertes Interesse an melodischen Musikverläufen, die dadurch auch den Text betonen und
gerade durch das kulinarische entlarven. Unschuldige Melodien kontrastieren zu ernsten Themen wie z.B.
Heirat und Verführung in „Der Barbara-Song“, Ausbeutung in „Die Zuhälterballade“ und Tod in „Der KanonenSong“.
- Die Harmonik
Die Harmonik der Liedbegleitung sollte einprägsam sein, um schnell eine Vorstellung vom Songverlauf zu
bekommen. Eine einfache Harmonik entzieht nicht dem Text und seiner Aussage die Aufmerksamkeit. Harte
Wechsel der Tongeschlechter können ebenfalls Kontraste erzeugen
92
Brecht, Bertolt: „Die Dreigroschenoper“; in: B. Brecht, GW, Bd.2, S. 464.
65
- Der Rhythmus
Der Rhythmus wird zunehmend jazzige, dadurch schlagkräftiger und unterstützt somit den Sprechgesang (z.B.
das Shimmy-Tempo in „Die Ballade vom angenehmen Leben“). Weill setzt kontrastierend zu den langen
Melodiebögen harte rhythmische Linien vor allem in den Bässen ein (z.B. die Tangobegleitung mit tiefen Bässen
in „Die Zuhälterballade“). Die Bandbesetzung mit Schlagzeug verstärkt die pulsierende rhythmische Wirkung
der Musik.
- Die Parodie
Die Nachahmung und Übertreibung von Banalitäten und Klischees wirkt enthüllend. Brecht kombiniert z.B.
synkopischen Jazzrhythmus mit der geraden Viertelbewegung des Harmoniums in „Die Moritat vom Mackie
Messer“. Parodistisch wirkt auch, wenn die veraltete Volksgattung Ballade auf die moderne Volklore, den Jazz
übertragen wird (z.B. „Die Ballade vom angenehmen Leben“ als Shimmy). Die größte Parodie in „Die
Dreigroschenoper“ ist das willkürliche Happy End durch die Verkündigung des reitenden Boten, damit das Stück
auf keinen Fall traurig enden darf.
Durch diese Darstellungsweise der Songs werden die Brüche zwischen den einzelnen Ebenen
sichtbar und stellen die Musik als eigenständigen Teil des Stückes dar. Um aber die Musik als
Bestandteil des Theaters zu zeigen, wir das Orchester auf der Bühne positioniert, damit jeder
es sehen kann. In der Dreigroschenoper erhielt es seinen Platz im Bühnenprospekt, der wie
eine große Jahrmarktorgel gestaltet war. Als Abkehr zur Oper sangen somit die Schauspieler
mit dem Rücken zum Orchester, bzw. der Jazzband. Wenn das Orchester nun spielte,
begannen die Lichter am Orgelprospekt zu blinken.
„Die Dreigroschenoper ist nicht nur die nüchternste Verspottung der zwanziger Jahre, sondern auch
das gefühlvollste und innigste Werk jener Zeit.“93
93
Singermann, Boris: „Brechts ‚Dreigroschenoper’. Zur Ästhetik der Montage, in: Brecht-Jahrbuch 1976,
Suhrkamp Verlag (Hrsg.), Frankfurt am Main 1976, S. 68; zitiert nach: F. Hennenberg, Liederbuch, S. 386.
66
Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
Das RSO Stuttgart in Aktion (© SWR)
Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR (kurz RSO) ist ein Rundfunk-Orchester. Das
heißt, alle seine Konzerte werden mit Mikrofonen aufgenommen, um live oder zu einem
späteren Zeitpunkt im Radio gesendet zu werden. Ab und zu spielt das Orchester auch ohne
Publikum, um neue CDs aufzunehmen. Viele dieser CDs wurden mit Preisen ausgezeichnet.
Das RSO gehört damit zu den besten Orchestern Deutschlands.
Gegründet wurde das RSO vor über 60 Jahren. Heute besteht das Orchester aus 102
Musikern, die aus 20 verschiedenen Ländern kommen und zwischen 23 und 64 Jahre alt sind.
Um im RSO aufgenommen zu werden, mussten die Musiker zuerst an einer Musikhochschule
studieren und dann ein sogenanntes Probespiel gewinnen. Das Probespiel ist so etwas wie
ein Casting. Die Orchestermitglieder werden zur Jury und wählen unter den zahlreichen
Kandidaten den Besten aus, der dann den Job beim RSO bekommt.
Geleitet wird das Orchester meist von seinem französischen Chefdirigenten Stéphane
Denève. Aber auch andere berühmte Dirigenten aus aller Welt sind das Jahr über zu Gast
beim RSO. Die Werke, die das RSO bei Konzerten spielt, können schon mehrere hundert
Jahre alt sein oder aber sie entstehen erst zum Konzerttermin und werden dann vom
Orchester uraufgeführt. Das RSO repräsentiert somit unsere ganze Musiktradition vom 18.
Jahrhundert bis heute.
Das Jahr über gibt das RSO ca. 80 Konzerte; auf Tourneen im Ausland wie Amerika, China
oder Japan, bei Gastkonzerten im europäischen In- und Ausland, im Sendegebiet des SWR.
Davon finden natürlich viele in Stuttgart statt.
Neben ihrer Konzerttätigkeit pflegen die RSO-Profis auch den persönlichen Kontakt zu ihrem
jungen Publikum. Darum unterstutzen sie mit viel Engagement das Jugendprogramm SWR
Young CLASSIX.
67
Der Dirigent Leo Siberski
Leo Siberski begann seine Musikkarriere 1990 als einer der jüngsten
Mitglieder aller Zeiten des Bayreuther Festspielorchesters und als
Solo-Trompeter der Staatskapelle Berlin (1992-1998). An der
„Hanns-Eisler“-Hochschule für Musik Berlin studierte er Dirigat bei
Prof. Rolf Reuter.
In Berlin dirigierte Leo Siberski das Orchester der Oper, das
Sibelius-Orchester, das Kammerphilharmonie-Orchester Berlin und
das Orchester der Jungen Philharmonie Brandenburg.
Leo Siberski interessiert sich aber auch für Multimedia- und
Crossover-Konzerte und gründete das Ensemble Colours of Music
und das Metropolis Filmorchester. Das Sonderkonzert des Philharmonischen Orchesters Kiel
mit Klaus Doldinger & Passport im November 2011 wurde in der Presse hoch gelobt.
Leo Siberski assistierte namenhaften Dirigenten, wie Daniel Barenboim (Staatsoper Berlin
2003), Kent Nagano (Staatsoper Berlin 2003, Los Angeles Opera 2004), Vladimir Jurowski
(Glyndebourne 2003-2005), und Fabio Luisi (Staatsoper Berlin 2003, Semperoper 2004, MDR
2005).
Die Oper in Mainz, Gera, Plauen-Zwickau, Görlitz, Cottbus sowie das Schlosspark-Theater
Berlin gehören zu Stationen seiner Karriere als Operndirigent. 2007 dirigierte er in Dresden
„Die Zauberflöte“ und „Hamlet“ an der Deutschen Oper am Rhein.
Die Erstaufführung der Oper „Der Sturm“ am Theater Bielefeld war unter seiner Leitung so
erfolgreich, dass er für vier Spielzeiten zum stellvertretenden GMD und 1. Kapellmeister
berufen wurde.
Leo Siberski gastierte bereits bei den Bremer Philharmonikern, der Deutschen Radio
Philharmonie Saarbrücken und Kaiserslautern, dem Münchner Rundfunkorchester, dem
MDR Sinfonieorchester, den Düsseldorfer Sinfonikern, der Württembergischen Philharmonie
Reutlingen, der Jenaer Philharmonie und dem Sinfonieorchester Wuppertal. Von der
Staatsoper Hannover und dem Tiroler Landestheater Innsbruck wurde er 2010 eingeladen,
die Premiere von G. Puccinis Oper „Manon Lescaut“ zu leiten, welche einen großen Erfolg
feierte.
Die Stelle des GMD und des 1. Kapellmeisters am Theater Kiel hat Leo Siberski seit der
Spielzeit 2011/2012 inne. Die Wiederaufnahme der „Zauberflöte“ sowie die Premiere der
Oper „I Lombardi alla prima crociata“ von G. Verdi erhielten in der Presse durchweg sehr
gute Kritiken.
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