Kurt Weill / Bertolt Brecht Von der Unzulänglichkeit menschlichen
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Kurt Weill / Bertolt Brecht Von der Unzulänglichkeit menschlichen
Kurt Weill / Bertolt Brecht Von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens Suite aus der „Dreigroschenoper“ und der Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Kurt Weill Texte von Bertolt Brecht Do 21.05.2015, 11 Uhr Stuttgart, Theaterhaus, T1 Geschwister-Scholl-Gymnasium Stuttgart Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR Dirigent: Leo Siberski Empfohlen ab Klasse 10/ auch für Erwachsene Mo 01.06. – Mi 03.06.2015, jeweils 9.05-10.00 Uhr SWR2 Musikstunde Bertolt Brecht und die Musik Erstellt von Jasmin Bachmann und Sabrina Wiedemann Zu dieser Handreichung: Diese Handreichung versteht sich als umfangreiche Informationssammlung zu Bertolt Brecht, seinem musikalischen Wirken, seinen Einflüssen und Werken bis 1930. Neben einer chronologischen Abhandlung, mit Schwerpunkt auf das musikalische Schaffen Brechts, enthält sie Kapitel zu einzelnen Werken oder Stilelementen, die im Konzert eine zentrale Rolle spielen werden. Die Inhalte sind einer musikwissenschaftlichen Examensarbeit entnommen und daher an manchen Stellen lose aneinandergereiht. 2 Inhalt Einführung in das Konzert-Projekt………………………………………………………...........……..................4 Bertolt Brecht und die Musik Augsburg 1898-1917 Die Musik(-kultur) der Arbeiter.........................................................................8 Die Augsburger Liedertafel..............................................................................10 Hausmusik........................................................................................................11 Der Plärrer.......................................................................................................12 Die Kirchenmusik.............................................................................................13 Musikgebrauch an der Schule..........................................................................16 Der Bruch.........................................................................................................18 Augsburg-München 1917-1920 Konzertbesuche und Dirigierambitionen.........................................................20 Die Brecht-Clique.............................................................................................21 Erste musikalische Professionalisierung..........................................................25 München-Berlin 1920-1924 Die Situation....................................................................................................28 Marianne Zoff..................................................................................................28 Berlin 1924-1930 Neues und Altes...............................................................................................29 Der Jazz............................................................................................................30 Musikalische Professionalisierung...................................................................31 Kurt Weill.........................................................................................................32 Stilmittel, Theorien, Analysen Die Parodie..................................................................................................................35 Lieder im Volkston.......................................................................................................37 Choräle bei Brecht.......................................................................................................38 Vom Bänkelsang zur Moritat von Mackie Messer.......................................................41 Die Legende vom toten Soldaten................................................................................50 Von der dramatischen zur epischen Kunstform..........................................................55 Der V-Effekt am Beispiel der Dreigroschenoper..........................................................61 Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR………………………………………............................67 Der Dirigent Leo Siberski……………………………………………………………..........................................68 3 Einführung in das Konzert-Projekt Viel wurde schon über den Dichter Bertolt Brecht geschrieben. Aber wie sieht es mit dem Musiker und Komponisten Brecht aus? Sein musikalischer Darbietungsstiel, dessen Schwerpunkt in der Kombination von Wort und Ton lag, war es, aus dem er sein Episches Musiktheater entwarf und viele Künstler des 20. Jahrhunderts prägte. Die SWR2 Musikstunde widmet dieser musikalischen Seite Brechts drei Sendungen und das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR ein Konzert mit Schwerpunkt Episches Musiktheater. SWR YOUNG CLASSIX DO 21. MAI 2015, 11 UHR Theaterhaus Stuttgart, T1 Kurt Weill und Bertolt Brecht Von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens Suite aus der „Dreigroschenoper“ und der Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Kurt Weill Texte von Bertolt Brecht Geschwister-Scholl-GymnasiumStuttgart: Literatur-/Theaterkurs Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR Dirigent: Leo Siberski Empfohlen ab Klasse 10. Auch für Erwachsene. Tickets zu je 5 Euro (inkl. VVS-Ticket) beim SWR2 Kulturservice unter 07221 300 200 SWR2 MUSIKSTUNDE 01. BIS 03. JUNI 2015, JEWEILS 9.05 BIS 10 UHR Bertolt Brecht und die Musik Mit Jasmin Bachmann Man nehme ein Thema, viel Musik und präsentiere es fantasievoll, persönlich, originell und informativ – das ist die SWR2 Musikstunde, die sich jede Woche einer neuen Thematik widmet. Anfang Juni geht es an drei Tagen um die musikalische Seite Bertolt Brechts, denn „Die Musik ist der wichtigste Beitrag zum Thema“, so Brecht. Zu jeder Folge stehen das Manuskript zum Download und die Sendung zum Nachhören sieben Tage online unter swr2.de/musikstunde. 01. Juni 02. Juni 03. Juni Die Einflüsse der frühen Jahre Der Bruch Das Epische Musiktheater 4 Auszug aus dem Artikel „Brecht und die Musik“, der in der Orchesterzeitschrift „Klangbild“ (Ausgabe Februar 2015) des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR erschienen ist. Am 10. Februar 1898 wird in Augsburg Eugen Bertold Friedrich Brecht geboren. Sein Rufname wird Bertold, den er später wegen seiner „holden Ritterlichkeit“ ablehnt und sich zunächst in Bert, später dann in Bertolt Brecht umbenennt. Sein musikalisches Umfeld besteht aus den Liedern der einfachen Arbeiter, der Augsburger Liedertafel, den Militärkapellen, dem patriotischen Liedgut im Schulalltag und den Kurkonzerten, die er begeistert besuchte. Er und sein Bruder erhalten Klavier- und Violinunterricht. Doch nach anfänglicher Begeisterung stagniert Bertolts Klavierfertigkeit, da ihm das Üben nicht liegt. Darum müssen ihm die Freunde seine geliebte Mozart Klaviersonate vorspielen. Und Hans Eisler wird ihn später als „riesige Musikalität ohne Technik“ beschreiben. Als Jugendlicher wird Brecht in Wandervogelmanier zum „Klampfentier“. „Da singt Brecht zu seiner Klampfe der sämtliche Saiten fehlen und er, ein großartiger Wagner Parodist, improvisiert eine tristanische Arie auf seine Wolfhündin Ina.“, so beschreibt sein Freund Hans Otto Münsterer die musikalischen Ausflüge durch Stadt und Land. Kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs kommt es zu einem radikalen, künstlerischen wie sozialen Umbruch in Brechts Leben; sein schulisch anerzogener Patriotismus ist verflogen, seine einstige WagnerEuphorie geplatzt, Lederjacke, Schiebermütze und Zigarre werden zum Markenzeichen. Die Musik bleibt jedoch für ihn eine urdeutsche Eigenschaft, die er auf jeden Fall fortführen will; aber in welcher Form? Seine Musik soll nicht durch Rauschhaftigkeit und Vernebelung – Eigenschaften, die er der absoluten Musik der Konzertsäle zuspricht – den Hörer mitreisen, sondern durch eine angewandte Musik, die sich am Alltagsleben der einfachen Leute orientiert, einen alltäglichen Funktionswert erhalten. Seinen eigenen Stil findet er daher immer mehr in den Volksgattungen wie Ballade, Volkslied, Bänkelsang, die er parodistisch einsetzt. Mitte der 1920er Jahre beginnt Brecht, sich aus zeitlichen und professionellen Gründen nach musikalischen Mitarbeiten umzusehen. So kommen nacheinander Franz Servatius Bruinier, Kurt Weill, Paul Hindemith, Hans Eisler und Paul Dessau ins Spiel. Brecht hört aber nie auf, selbst zu komponieren und eigene musikalische Vorstellungen zu entwerfen. „Im Grunde war er der Urheber der Musik, die andere für ihn komponierten und arrangierten.“, so Werner Egk. Bertolt Brecht Ausschnitt aus einer DDR Briefmarke 5 Die Zusammenarbeit zwischen Bertolt Brecht und Kurt Weill beginnt 1927. Im völligen Gegensatz zum damaligen Zeitgeist stellen sie Sprache, Musik und Bild als eigenständige epische Elemente einander gegenüber und werten sie somit auf. Die Musik ist für Weill und Brecht der wichtigste Beitrag zum Thema. Beide sind vom Amerikanischen fasziKurt Weill Ausschnitt aus niert und sehen den Jazz als einer Briefmarke Möglichkeit, zeitgenössische deutsche Kompositionen wieder verständlich zu machen. Der Erfolg der Weill-Brecht-Songs beruht auf der Kombination von trivialer Schlagerharmonik mit pulsierenden Jazzrhythmen, die dem Hörer den einfachen Text sowie die volkstümlich-schlichte Melodie eintreiben. Noch heute haben die Songs nichts von ihrem Ohrwurmcharakter verloren. Von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens – Das Konzert Wichtigstes Stilmittel des Epischen Theaters ist der Verfremdungseffekt, V-Effekt genannt, dessen entlarvende Wirkung darin besteht, Standardformen aufzugreifen und durch Hinzufügen oder Wegnehmen parodistisch zu verändern. Diesem zeitlosen V-Effekt folgt auch das SWR Young CLASSIX Konzert am 21. Mai 2015. Unter dem Titel „Von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“, der dem Song des Peachum aus der Dreigroschenoper entlehnt ist, werden einzelne Lebensabschnitte wie Schulzeit, erste Liebe und Kriegsdienst sarkastisch beleuchtet und Ideale wie Reichtum, Heldentod oder Frieden an den Pranger gestellt. Auch wenn Text und Musik in den 1920er Jahren entstanden sind, ihr Inhalt ist erschreckend aktuell. Das Konzert richtet sich nicht nur an Schulklassen, sondern ist offen für alle Liebhaber des Epischen Musiktheaters. Neben dem RSO Stuttgart werden Schüler des Literatur- und Theaterkurses des Geschwister-Scholl-Gymnasiums Stuttgart dieses außergewöhnliche Konzert mitgestalten. Folgende Musiktitel von Kurt Weill werden im Konzert erklingen: Kleine Dreigroschenmusik Nr.1 (Ouvertüre) Nr.4 (Ballade vom angenehmen Leben) Nr.5 (Pollys Lied) Nr.6 (Tango Ballade) Nr.7 (Kanonensong) Nr.8 (Finale) 6 Mahagonny-Suite Nr.2 (Moderato assai) Nr.3 Nr.5 (Molto vivace) Nr.6 Nr.7 (Largo) Und folgende Texte von Bertolt Brecht werden, teilweise auch in Ausschnitten, präsentiert: An die Herrn im Parkett Zum Lesebuch für Städtebewohner gehörige Gedichte / I Ich habe gehört, ihr wollt nichts lernen Gründungssong der National Deposit Bank Die Geschichte von einem, der nie zu spät kam (Satire) (ohne Titel) / Anfangszeile: Ich will mit dem gehen, den ich liebe Morgens und abends zu lesen Schwächen An M Der Ehesong Wenn Herr K. einen Menschen liebt Beziehungen der Menschen untereinander Kleines Lied Legende vom toten Soldaten, aus: Hauspostillen Der Nachgeborene Gegen Verführung Ergänzend kommen folgende Textauszüge hinzu: Heinrich Heine: Die beiden Grenadiere Heinrich Heine: Ein Jüngling liebt ein Mädchen Traditioneller Eröffnungsvers der Moritatensänger 7 Bertolt Brecht und die Musik Augsburg 1898-1917 „Ich habe das Licht der Welt im Jahre 1898 erblickt. Meine Eltern sind Schwarzwälder. Die Volksschule langweilte mich 4 Jahre. Während meines 9jährigen Eingewecktseins an einem Augsburger Realgymnasium gelang es mir nicht, meine Lehrer wesentlich zu fördern. Mein Sinn für Muße und Unabhängigkeit wurde von ihnen hervorgehoben. Auf der Universität hörte ich Medizin und lernte Gitarrespielen. In der Gymnasiumszeit hatte ich mir durch allerlei Sport einen Herzschock geholt, der mich mit den Geheimnissen der Metaphysik bekannt machte.“1 Das Brechthaus: http://www.augsburg.de/kultur/museen-galerien/brechthaus/ Die Musik(-kultur) der Arbeiter Augsburg um 1900 Eugen Berthold Friedrich Brecht wurde in Augsburg am 10. Februar 1898 in kleinbürgerliche Verhältnisse hineingeboren. Bis zur Geburt seines Bruders Walter im Jahre 1900 wohnte die Familie an einem der rauschenden Lechkanäle in Augsburg. Trotz industriellem Aufschwung ließ sich die Stadt im frühen 20.Jahrhundert als ländliche Idylle bezeichnen. Kein Wunder also, dass später ein großes Thema in Brechts Dichtung die Natur war. Obwohl die Brechts dem Bildungsbürgertum angehören, sieht es mit der häuslichen Lektüre ehr karg aus. Brechts Biograf, Werner Mittenzwei, beschrieb die häusliche Situation folgendermaßen: „Während seiner Kindheit umgab Eugen im elterlichen Hause nichts, was einer literarischen Kultur oder Tradition entsprochen hätte, auf die doch damals breite Kreise des Bürgertums großen Wert legten. Der Vater verfügte über keine Bibliothek. Bücher existierten im Hause so gut wie gar nicht. Die Mutter allerdings sammelte Gedichte, die ihr zufällig in die Hände kamen und die ihr gefielen.“ 2 Der Umzug in eines der Stiftungshäuser der angesehenen Papierfabrik der Firma Georg Haindl ließ Eugens Vater zum Prokuristen der Firma und damit die Familie in gutbürgerliche Verhältnisse aufsteigen. Eigentlich waren diese Häuser als Siedlung für die Ärmeren gedacht, und so nahm die Brechtsche Familie 1 Brecht, Bertolt an Herbert Ihering, Oktober 1922, GBFA 28, 1, 177f.; zitiert nach: H.-H. Müller, T. Kindt, Lyrik, S. 12. 2 Mittenzwei, Werner: „Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit Welträtseln“, 2 Bände, BerlinWeimar 1986, Bd. 1, S. 565; zitiert nach: H.-H. Müller, T. Kindt, Lyrik, S. 11. 8 in dieser „proletarisch-kleinbürgerlichen Umgebung“ eine privilegierte Leitungsstellung ein. Prägend war aber auch die Atmosphäre des sozialen Gegensatzes, den Brecht später immer wieder in seinen Werken aufgegriffen hat. Meist spielen die Stücke im einfachen Arbeitermilieu und Konflikte entstehen dadurch, dass die Protagonisten unterschiedlichen Gesellschaftsschichten entstammen. „Volklieder habe ich in meiner Kindheit gehört, edle und weniger edle, das von den Königskindern, das vom Prinz Eugen, dem edlen Ritter, und die Lieder von der Wirtin an der Lahn. Ich habe sie glücklicherweise nicht nur gelesen, sondern auch gehört, gesungen von der Bevölkerung mit der besonderen Intonation und bei der richtigen Gelegenheit.“3 Die naheliegende Papierfabrik brachte den jungen Eugen mit dem Musikgeschmack und Repertoire des Arbeitermilieus in Verbindung. Er hörte den Gesang der Arbeiterinnen wenn sie Pause machten oder bei der Arbeit waren. Die Lieder zeigten ihm, dass nicht die ernsthafte, verschriftlichte, unantastbare Kunst die einfachen Leute erreichte, sondern der „billige“ Schlager mit all seinem Kitsch, seinen Übertreibungen und seiner Surrealität, aber auch mit seiner Ironie und Verfremdung. „Ihre Haltung gegenüber den Liedern war ebenfalls lehrreich. Sie gaben sich ihnen keinesfalls naiv hin. Sie sangen ganze Lieder oder einzelne Verse mit einiger Ironie und versahen manches Kitschige, Übertriebene, Unreale sozusagen mit Krähenfüßen.“4 Für die Arbeiterschicht galt Kunst und damit auch Musik als aktiver Gebrauchsgegenstand des alltäglichen Lebens und nicht als kultureller Zierrat. Eugen Berthold Brecht war von diesem spontanen und sich an keine Regeln haltenden Musikgebrauch beeindruckt: „Hierbei freilich klang noch, verwischt und depraviert, Altes mit, und es wurde auch noch mitgedichtet. Die Arbeiterinnen der nahen Papierfabrik erinnerten sich nicht immer aller Verse eines Liedes und Improvisierten Übergänge, wovon viel zu lernen war.“5 Die Alltagswelt des Arbeitermilieus mit ihren Liedern und Lektüren wurde nun auch immer mehr durch ihre Sprechweise zu einer wesentlichen künstlerischen Orientierung für Brecht: „Da kamen die Frauen mit ihren Kannen und Töpfen aus den Häusern und holten Milch und Sahne. Schon stellte sich der achtzehnjährige Brecht dazu, redete mit ihnen und hörte dem Milchmann und den Frauen zu, wie da miteinander getratscht wurde. Die Umgangssprache hatte es ihm angetan. Von den Ausdrücken und Redewendungen der Handwerker, Straßenhändler und Viehtreiber [...] war er magisch angezogen.“6 Darum traten immer wieder Charaktere in Brechts Werken auf, die in der „Maulart“Sprache des Volkes redeten oder zitierten; z.B. in Das Lied vom Surabaya-Johnny (Happy End): „Nimm doch die Pfeife aus dem Maul, du Hund!“. 3 B. Brecht, GW, Bd. 19, Anm. 9.; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 56. B. Brecht, GW, Bd. 19, S. 503f. 5 B. Brecht, GW, Bd. 19, S. 504. 6 A. Dümling, Gegen Verführung, S. 58. 4 9 Die Augsburger Liedertafel Was die Musikpflege im Augsburger Elternhaus betraf, so war Vater Berthold Friedrich Brecht das aktive Mitglied der Familie, denn er gehörte seit 1895 der gesellschaftlichen und musikalisch wichtigsten Einrichtung bürgerlichen Musiklebens der Stadt an: Der Augsburger Liedertafel. Die unterschiedlichen Qualitäten der Liedertafel in Bezug auf Musik und Text spiegelten sich in ihrem Repertoire wieder. Dies reichte von: „Verwandlungsmusik und Abendmahlszene’ aus Wagners Parsifal, de*m+ Schlusschor der Meistersinger, de[m] Schlusschor aus der Faust-Symphonie von Franz Liszt, Bruckners Tedeum und Fausts Verdammnis von Berlioz, aber auch viele gesellige Lieder erheblich geringeren Anspruchs.“7 Berthold Junior wird von seinem Vater gelegentlich zu Proben der Augsburger Liedertafel mitgenommen worden sein. Hier und wahrscheinlich auch zu Hause, wenn der Vater die Lieder vor sich hin sang, lernte er nicht nur die bedeutendsten spätromantischen Werke, sondern auch den unterhaltsamen „Volksmusikton“ kennen. Berthold Junior entwarf 1922 eine Persiflage auf solch volkstümliches Liedgut in Erinnerung an die häusliche „Liedertafel-Seligkeit“. In seinem Gedicht Das Lied der Rosen vom Schipkapaß heißt es: Ein Sonntag war’s in meinen jungen Jahren Und Vater sang mit seinem schönen Baß Und sang, als Krug und Glas geleeret waren Das Lied der Rosen vom Schipkapaß. Bereits der Titel weckt Anklänge an alpenländische Volksmusik. Brecht verwendete hier die Person des/seines singenden Vaters als Leitfigur durch das ganze Gedicht. Der voller Aufopferung singende Vater („im Schnurrbart manche Träne“), der Naturbezug, die Rose als Sinnbild für eine unendliche mystische Legende („Das Lied der Rosen“) und das Singen als Lebensgefühl zeugen von purer Volksmusikromantik, die jedoch stark überzogen wird. Brecht setzte die Bezeichnung ‚Lied’ auch in die Tat um und entwarf eine Melodieskizze mit Begleitakkorden. Als musikalische Grundlage diente ihm dazu die altfranzösische, allgemein bekannte Romanze „L’Etendard de la Pitié“. Der Titel, übersetzt „Die Standarte“ oder „Die Fahne vom Mitleid“, zeugt von einem abgemilderten Kampflied-Ton. Diese Mischung aus Romantik und Heroismus verstärkt die persiflierende Absicht Brechts. Er muss dieses französische Lied sehr geschätzt bzw. gemocht haben, denn er verwendete es mehrfach als melodiöses Grundgerüst für seine Lieder. Fast wie eine Art Erkennungsmelodie zieht sich das Lied durch das Werk Brechts. Zuerst trat es in der Ballade von den Seeräubern (1918) auf, dann eben im Lied der Rosen vom Schipkapaß (1922) und zuletzt im Lied der Mutter Courage (1941). 7 A. Dümling, Gegen Verführung, S. 24. 10 Hausmusik Wie in der Auflistung des Repertoires der Augsburger Liedertafel schon angeklungen, war Vater Brecht nicht nur für die sentimentale Volks- und Unterhaltungsmusik zu begeistern. Zu seinen Lieblingsstücken gehörten viele Kunstlieder wie „Die Uhr“ von Carl Loewe und besonders „Das Meer“. Diese trug er dann auch gern im häuslichen Rahmen vor. Beachtlich war dies vor allem, wenn man bedenkt, dass er trotz Mitgliedschaft in einem Chor keinerlei Notenkenntnisse besaß. Zur Unterstützung des väterlichen Gesanges und zum allgemeinen musikalischen Zeitvertreib schaffte sich die Familie ein teures Klavier an. Die Söhne Walter und Berthold erhielten, dem guten Ton der bürgerlichen Musiktradition entsprechend, Klavierunterricht. Ab der vierten Klasse erlernte Berthold auch das andere hausmusikalische Standardinstrument Geige, indem er am freiwilligen Violinunterricht in der Schule teilnahm. Nach dem kindlichen Vergnügen mit diesem Instrument entwickelte Brecht später eine Antipathie gegen die Violine. Spätestens als seine ehemalige Freundin „Bi“ mit einem Kaffeehausgeiger durchbrannte, entwickelte er einen regelrechten Hass auf Geiger, was sich schließlich auch auf das Instrument an sich übertrug. Paul Dessau verzichtete später ihm zuliebe sogar auf eine Erste und Zweite Geige in der Orchestrierung zur Oper „Lukullus“ (1940). Doch zunächst erlernte Berthold sein Instrumentarium ohne Vorbehalte. Er berichtete sogar stolz seinem Tagebuch am 23. September 1913: „Erste Klavierstunde. Sehr nett!“ Da aber Berthold äußerst ungeduldig und auf schnellen Erfolg aus war, hatte er zum Üben, sei es Klavier oder Geige, wenig Lust. Sein instrumentales Können hielt sich daher in überschaubaren Grenzen, und als Klavierbegleiter für den Vater war er alles andere als geeignet. Bertholds Schulfreund Ludwig Prestl erinnerte sich: „Auf dem Klavier klimperte er mit einem Finger herum im Gegensatz zu seinem Bruder, der gut Klavier spielen konnte.“8 Doch obwohl Walter anscheinend „gut Klavier spielen konnte“, schien auch er dem musikalischen Anspruch des Vaters nicht ganz gewachsen zu sein. So mussten Bertholds klavierspielende Schulfreunde, wenn sie zu Besuch kamen, dem Vater den Herzenswunsch erfüllen und ihn bei seinem Lieblingslied („Das Meer“) begleiten. Der Ingenieur Theodor Helm, ein Freund des Vaters und ebenfalls Mitglied der Augsburger Liedertafel, trug auf seinen gelegentlichen Besuchen bei Familie Brecht eigene und fremde Lieder zur Laute vor. Wahrscheinlich stammte daher die Begeisterung der Brüder Brecht für das Instrument Gitarre. Ab 1912 erhielten Walter und Berthold Gitarrenunterricht. Über Bertholds spielerisches Können gab es später unterschiedliche Angaben. Sicher aber war, dass dieses Instrument sein musikalisches Schaffen bedeutend mitbeeinflusst hat. Ein weiteres musikalisches Schmuckstück der elterlichen Wohnung war eine Spieldose, wohl ein Polyphonium. Auf den verschiedenen Metallplatten, mit denen man es zum Klingen bringen konnte, befanden sich Lieder wie „La Paloma“, der Donauwalzer, Melodien aus Opern und Operetten und Weihnachtslieder wie „O du fröhliche“. Berthold „hat diese Spieldose seit seiner Kindheit geliebt“. So ist es nicht verwunderlich, dass er später in Berlin jedes Weihnachten zu Hause anrief, um neben den Weihnachtsgrüßen auch den Klang dieser Spieldose zu hören. 8 M.J.T. Gilbert, Music, S. 10. 11 Der Plärrer „Der Frühling sprang durch den Reifen Des Himmels auf grünen Plan Da kam mit Orgeln und Pfeifen Der Plärrer bunt heran.“9 Auch heute noch findet „das große Kulturereignis“, wie Otto Münsterer es damals nannte, im Frühjahr und Herbst in Augsburg statt: Der Plärrer, die traditionsreiche Volksfestveranstaltung mit nostalgischem Rummelplatzcharakter. Nahe der Arbeitersiedlung Hettenbach errichtet. Er diente der Volksbelustigung und Erbauung, speziell für die einfachen Schichten. Impressionen vom Augsburger Plärrer Bereits in Kindertagen erlebte der junge Bertolt das älteste Augsburger Volksfest, die Jakober-Kirchweih. Es war etwas kleiner als der große Plärrer, befand sich aber nur 500 Meter von der elterlichen Wohnung entfernt. Ab 1918 wurde der Plärrer zu Brechts zweiter Heimat, denn er war fast täglich dort. Für ihn war er „das Schönste, was es gibt;“. Neben Schaubuden, Karussells, Zirkusartisten und wilden Tieren war es die, wörtlich genommen, „plärrende“ (lärmende) Musik, die die Atmosphäre des Plärrers ausmachte. Im Gedicht Vom Schiffschaukeln – eine Plärrerattraktivität, die Bert bis zum „mich halb kaputt geschiffschaukelt“ betrieb – heißt es im zweiten Vers: „Nie hört die Musik auf. Engel blasen in einem kleinen Panreigen, dass er fast platzt. Man fliegt in den Himmel, man fliegt über die Erde, Schwester Luft, Schwester! Bruder Wind! Die Zeit vergeht und nie Musik“10 Aber auch das Drehorgelgeleier der Bänkelsänger bildete eine nie enden wollende Musikkulisse. 9 Brecht, Bertolt: „Plärrerlied“, in: B. Brecht, GW, Bd.8, S. 27. Brecht, Bertolt: „Vom Schiffschaukeln“, in: B. Brecht, GW, Bd.8, S. 78. 10 12 Die Kirchenmusik Das Musikleben der Stadt Augsburg beschränkte sich neben der bedeutenden Liedertafel und dem folkloristischen Plärrer auf das „patriotisch-militärische Milieu“ mit seinen „regelmäßigen Platzmusiken der Militärkapellen“. Wer sich darüber hinaus musikalisch weiterbilden wollte, konnte dies durch das aktive Musikleben beider Kirchen (katholisch und protestantisch) tun. Auf Wunsch ihrer protestantischen Mutter besuchten beide Söhne den evangelischen Kindergarten und die konfessionelle Volksschule der Barfüßer-Kirchengemeinde. In der dritten und vierten Klasse waren Religion und „Protestantische Geschichte“ Bertholds leistungsstärkste Fächer. Im damaligen Religionsunterricht, der von Geistlichen abgehalten wurde, lag ein Hauptschwerpunkt auf dem Auswendiglernen von Kirchenliedern. Dies schien Berthold beDie Barfüßerkirche sonders leicht von der Hand zu gehen, denn Schulfreunde berichteten, dass er auch mühelos sämtliche Bibelstellen und -texte aus dem Gedächtnis rezitieren konnte. Es war vor allem die Sprache der Lutherbibel, die ihn faszinierte. Nach seiner eigenen Aussage sollte diese Sprache der Grundstein für seine eigene Dichtung werden, denn „seine dichterische Sprache *verdanke er+ vor allem seiner Großmutter Brezing, die ihm so ausgezeichnet aus der Bibel vorgelesen habe.“ So ist es vielleicht auch nicht verwunderlich, dass Brecht 1928 noch auf die Frage nach seinem Lieblingsbuch antwortete „Sie werden lachen: die Bibel.“ angab. Bibel, das bedeutete für ihn hauptsächlich poetisch-musikalische Sprache. „Ich lese die Bibel. Ich lese sie laut, kapitelweise, aber ohne auszusetzen: Hiob und die Könige. Sie ist unvergleichlich schön, stark, aber ein böses Buch.“11 1912 wurde Bertholds erstes Drama unter dem Titel „Die Bibel“ in der Schülerzeitung „Die Ernte“ veröffentlicht. Brechts erstes in sich abgeschlossenes Stück befasste sich mit der Thematik der Glaubenskriege zwischen Protestanten und Katholiken. Literarisch kommt das Werk eher belanglos daher, aber durch den Inhalt, der mehrfach Bibelzitate und -diskurse enthält, sprach sich Brecht bereits mit dreizehn, vierzehn Jahren gegen eine Überbewertung des Märtyrertums aus. Aufopferung und Opfertod werden hier nicht glorifiziert, sondern verurteilt. Diese Thematik griff Brecht später im Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen wieder auf; z.B. in der „Legende vom toten Soldaten“ in Bezug auf das Soldatenverheizen im Ersten Weltkrieg. Sein ganzes literarisches Frühwerk wurde unter anderem von folgenden Hauptthemen durchzogen: biblisch-historische Stoffe, Natur (die allgemein auch als eine Verbindung zum Göttlichen gesehen wird) und Gott und damit auch Glaube an sich. Innerhalb der schulischen und privaten eingehenden Auseinandersetzung mit der Bibel war Brecht auch auf die Psalmen bzw. Psalmgesänge gestoßen. Er sah vor allem die musische Komponente in den Psalmen Davids, die mit Harfen-, bzw. Zitherbegleitung zu singen gedacht waren, erreicht. Fundierter wurde sein Wissen über diese geistlichen Gesänge durch die regelmäßigen Gottesdienstbesuche der Augsburger Barfüßerkirche. Bereits vor der Vierten Lektion (Psalmen und Mahagonnygesänge) aus den Hauspostillen (1926) schrieb 11 Brecht, Bertold: Tagebucheintrag vom 20. Oktober 1916, in: B. Brecht, Augsburg und München, S. 57f. 13 Brecht einzelne Gedichte mit Versnummerierung (z.B. Hymne an Gott) und fasste mehrere Gedichte unter dem Titel „Psalmen“ zusammen. Bereits hier verwendete er die Psalmform nicht nur zur Betrachtung von Glaubensinhalten, sondern parodierte sie durch weltliche Inhalte (z.B. in „Vom Schiffschaukeln“ oder „Gesang von einer Geliebten“). Brecht wählte also spirituelle Formen und Themen nicht nur, weil sie ihm von Kindheit an bekannt waren und ihn das Klangbild der Sprache faszinierte, sondern auch um mit der mächtigen Ausstrahlung des Glaubens einen starken Verfremdungseffekt zu erzielen. Weitere liturgische Erfahrungen verarbeitete Brecht 1914/15 in den drei Texten: Dankgottesdienst, Die Orgel und Dankgottesdienst (Novelle). Mittelpunkt dieser Trilogie bildet Die Orgel. Dieses Instrument musste Berthold sehr beeindruckt haben, denn das gleichnamige Gedicht beschreibt den Klang der Königin der Instrumente wie folgt: „Wenn der preisende Orgelton aufschwillt, dunkelt der Raum, Schweben die Decken lautlos empor, werden gläsern die Wände und weisen das dunkle Land.“12 Die Begeisterung für die Orgel als Instrument hatte wohl ebenfalls in der Barfüßerkirche ihren Ursprung. Augsburgs Orgeltradition war weit bekannt. Und speziell die Barfüßerkirche besaß eine der schönsten und berühmtesten Orgeln. Sie wurde 1756-57 von dem Silbermann Schüler Johann Georg Andreas Stein gebaut und rühmte sich damit, dass Mozart (dessen Vater aus Augsburg stammte) auf ihr improvisiert hatte. Leider hat dieses Instrument den zweiten Weltkrieg nicht überlebt. Brecht verfasste auch eine Novelle, in der ein Dorforganist und damit auch das Orgelspiel im Mittelpunkt steht. Geschildert wird hier unter anderem der Sog, den das Improvisieren auslösen kann: „Als er zu präludieren beginnt, ganz versunken, verloren in seiner Improvisation, hat der alte Organist alles vergessen. [...] Die Menschen unten im Kirchenschiff, den auf Schluss des Präludiums wartenden Pfarrer, ja sogar seine ungeheuerliche Sorge: die Nachricht vom Ehrentod seines Sohnes. Alles, alles hat er vergessen.“13 Die Musik, speziell die der Orgel und in improvisatorischer Form, wird hier zum Narkotikum. Später gibt er sich selbst diesem „Flow-Effekt“ der Musik hin. Nächtelang zog er später mit seinen Freunden singend und spielend über Feld und Flur und erfand Melodien aus dem Stegreif, sprich, er improvisierte. Auch verarbeitete Brecht in der Novelle die beeindruckende Wirkung des Orgelklangs in der großen Kirche und vielleicht waren es ja auch seine durch solch ein Klangerlebnis hervorgerufen Gedanken, die er beschrieb. „Es ist, als singe die alte Orgel von vergangenen, schönen Tagen, von einer goldenen, stillen Kindheit, von Stunden, die schwebend und leuchtend vorübergezogen sind.“14 Im Dankgottesdienst kommt der Orgel die Rolle als Liebes-, bzw. Friedensbotin zu: Und grüßend schwillt Sang Heller und heller empor im Sturm und weht Hochauf und klingt Über dem Hass der Orgelton ewiger Liebe und singt Dankgebet.15 12 Brecht, Bertolt: „Die Orgel“; in: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 28. Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 271; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 39. 14 A. Dümling, Gegen Verführung, S. 39. 13 14 Neben der sonntäglichen Musik im Gottesdienst hatte die Barfüßerkirche kirchenmusikalisch weit mehr zu bieten. Das beeindruckendste musikalische Erlebnis für den jungen Brecht war eine Aufführung der Bachschen Matthäus-Passion. Es war ein höchst emotionales Erleben für ihn, das Genuss, Sog, innerer Schmerz, Wahn und Sinn beinhaltete. Er beschrieb 1944 rückblickend dieses Erleben als „wilde*s+ Koma“. Diese emotionale Überflutung durch Bachs spirituelle Großwerke (speziell der Matthäus-Passion) sah er als Gefahr für sein krankes Herz und seinen sensiblen Verstand. Er hatte Angst davor, wieder in solch eine Überemotion zu verfallen, die den ganzen Körper und Menschen so gefangen nehmen konnte, dass er beschloss, solche Veranstaltungen in Zukunft zu meiden: „Schon als Junge, als ich die Matthäuspassion in der Barfüßerkirche gehört hatte, beschloss ich, nicht mehr so wo hinzugehen, da ich den Stupor verabscheute, in den man da verfiel, dieses wilde Koma, und außerdem glaubte, es könne meinem Herzen schaden (das durch schwimmen und Rad fahren etwas verbreitert war).“16 Hanns Eisler stellte später in seinen Beobachtungen über Brecht fest: die Theorie der gestischen Musik geht bei Brecht in seine Jugend zurück und zwar genau auf diese Begegnungen mit der Musik Johann Sebastian Bachs. Brecht beschrieb selbst die Bachschen Rezitative aus den Passionen mit ihrer Tonsymbolik als „ein Musterbeispiel gestischer Musik“. Gestische Musik bedeutete in Brechts Sinne das Darstellen einer erzählenden Dichtung. Er bewunderte Bach für die Kunst, ein Epos zu musizieren. Brechts Lieblingsstück in dieser Hinsicht, welches er sich häufig vorspielen ließ, war das erste Rezitativ „Jesus ging mit seinen Jüngern über den Bach Kidron“ aus der Johannes-Passion von Bach. Hier tritt der Evangelist als referierender, objektiver Berichterstatter auf. Brecht betonte später, bezüglich seiner teilweise rezitativischen Lieder, diese nüchterne, sachliche Darstellungsweise, die er als gestischen Grundcharakter sah. Brechts literarisches Werk wird von biblischen und christlichen Anklängen durchzogen, sei es als formgebendes Element in Bezug auf den Titel oder als Namensgebung für Figuren (z.B. die Person des „Dreieinigkeitsmoses“ in der Mahagonny Oper). Hier einige größere Werke als Beispiele: Oratorium (1918/19): Zusammenarbeit mit Armin Kroder. Brechts außergewöhnliche und unkonventionelle Musikvorstellung überstieg Kroders Fähigkeiten, und Brecht traute sich nicht, eine so umfangreiche Vertonung im Alleingang zu bewerkstelligen. Das Werk blieb daher unvertont. David (1920): Unvollendet; in der Planung waren musikalische Einschübe vorgesehen. Requiem (1928): Der großstädtische Mensch wird mit der Erscheinung des Todes konfrontiert. Goliath (1937): Soll hier als Ausblick für die Zusammenarbeit mit Hanns Eisler stehen. 15 Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 275; zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 21. 16 Brecht, Bertolt: Arbeiter Journal. 16.8.1944; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 28. 15 Musikgebrauch an der Schule Der Musikunterricht von 1908 war mit der heutigen Pädagogik nicht zu vergleichen. Nicht nur, dass sich der Musikunterricht gar nicht Musikunterricht nannte. Zudem bestand er rein aus Singen. Das heißt, neben der musikalischen Auseinandersetzung mit Gesangbuchliedern im Religionsunterricht werden zusätzlich im Fach „Gesang“ die gelernten Choräle nochmals wiederholt. In der Satzung heißt es: „Während der gesamten Schulzeit müssen die Kinder die nötigen Kirchenlieder und außerdem wenigstens 12 andere Lieder dem Gedächtnis einprägen und singen und lernen [...] Der Lehrer benützt die Geige, eventuell ein anderes geeignetes Instrument, und singt vor.“17 Damit erhielt das Kirchenlied einen hohen Stellenwert in der damaligen schulischen Bildung und somit auch in der Allgemeinbildung. Neben dem Singen wurde auch das Musizieren im Klassenverband angeboten. Das Klasseninstrument bei Berthold Brecht war Violine. Zum Schulalltag gehörten auch Ausflüge dazu. Beliebt waren die Wanderungen zu den Lechauen. Die Klassen zog dabei singend und spielend (z.B. mit Gitarre oder Geige) am Fluss entlang. Auf dem Königlich Bayrischen Realgymnasium, das Brecht ab 1908 besuchte, rückte aber nun vermehrt auch patriotisches Liedgut in den Fordergrund. Neben dem „Gesangunterricht“ waren es vor allem königlich-bayrisch geprägte schulische Veranstaltungen, bei denen Musik eine bedeutende Rolle spielte. Schulveranstaltungen, das waren vorwiegend Feiern zu nationalen Gedenktagen. Hierbei sollte die Gemeinschaft von Staat, Kirche, Wirtschaft und Schule demonstriert werden. Stellvertretend für solche Veranstaltungen, soll hier das Programm der Schulfeier vom 14.Juni 1913, zum Gedenken der Befreiungskriege und zum Regierungsantritt des deutschen Kaisers, stehen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. II. Satz aus der Militär-Symphonie (C-Dur) von Joseph Haydn Aufruf. Gedicht von Theodor Körner Der Husar von Auerstädt. Gedicht von Adolf Friedrich Graf v. Schack a) Schwertlied von Carl Maria v. Weber b) Schlachtgebet von Friedrich v. Himmel. Vierstimmige Chöre Festrede, gehalten von Prof. Dr. Hans Ockel Deutscher Freiheit Schlachtruf von Albert Methfessel. Allgemeiner Gesang. III. und IV. Satz aus dem Klavier-Quintett (Es-Dur) von Prinz Louis Ferdinand v. Preußen (gefallen bei Saalfeld 10.Okt. 1806) Szene aus Schillers Wilhelm Tell (I,4). Vorgetragen von Schülern der Oberklasse Vaterlandliebe. Vierstimmiger gemischter Chor von Franz Abt Der Trompeter an der Katzbach. Gedicht von Julius Mosen Die Leipziger Schlacht. Gedicht von Ernst Moritz Arndt Blücher am Rhein. Gedicht von August Kopisch Deutsche Hymne. Vierstimmiger gemischter Chor Was wir gewonnen. Gedicht von König Ludwig I. Regentenhymne an Henry Carey. Allgemeiner Gesang18 Das patriotische Liedgut, vorgetragen durch den Schulchor, in dem Brecht zeitweise auch mitsang, gehörte zum damaligen Standardrepertoire, das sich in jeder 17 Rohse, Eberhard: „Der frühe Brecht und die Bibel. Studien zum Augsburger Religionsunterricht und zu den literarischen Versuchen des Gymnasiasten“, Göttingen 1983, S. 355f; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 26. 18 Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 48; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 29. 16 Männerchorsammlung und in jedem Kommersbüchlein der Studentenschaft fand. Auch die Instrumentalmusik, hier z.B. Haydn, muss dem militärischen Aspekt dienen. Eine solche Versachlichung der Musik zur Gebrauchsmusik gehörte für Berthold zum normalen Schulalltag dazu. So wie hier die Musik bewusst zur nationalistischen Stimmungsmache eingesetzt wurde, so setzte Brecht später auch seine Musik im Epischen Theater gezielt zur Entlarvung von Missständen ein. Auch die Problematik, dass Lieder ohne nähere Betrachtung des Inhalts einfach so (weil sie halt schön oder bekannt sind) durch die Schüler gesungen wurden, findet sich später bei Brecht wieder. Der „Kanonen-Song“ ist neben der „Moritat vom Mackie Messer“ hierfür das beste Beispiel. Beide Melodien sind so eingängig, dass jeder sie vor sich hin singt und sie spätestens mit Robbie Williams in der U-Musik des 20.Jahrhunderts angekommen sind. Darüber aber werden Brechts moralisierende Gesten übersehen. Das Gefährliche bei so einem „Ohrwurm“, speziell wenn er nationalpatriotischen Inhalt besitzt, aber ist, dass die propagierte Parole als Realität und etwas Anzustrebendes übernommen wird. Es findet eine Aktivierung durch das Unterbewusstsein statt, während das Bewusstsein außer Kraft gesetzt ist. Das beginnende 20.Jahrhundert gab vor, was ca.20 Jahre später zur Vernichtung einer ganzen Glaubensrichtung führen sollte. Zunächst einmal aber war Berthold, wie alle anderen auch, vom Kampfgeist und vom Ausbruch des Krieges 1914 begeistert. Nostalgisch schrieb er über die nächtlichen Flugzeugbeobachtungen in Turmwacht: „Es war wunderbar schön hier in mitternächtiger Stunde auf dem hohen Turm. [...] Manchmal auch ertönte unter uns ein Lied in die stille Nacht. Im Ratskeller sangen sie patriotische Lieder. Mächtig schwollen die Töne der Wacht am Rhein zu uns empor. Und dann erklang es leis und weh: Muß i denn, muß i denn zum Städtele naus.“19 Die Musik war es, vorgetragen von einer Masse, die durch ihre unmittelbare Wirkung auf das Gefühl begeisterte und mitriss; so auch den jungen Brecht. Patriotismus und Religion – in der Schule propagiert - wurden zu einem Musikerlebnis verschmolzen, das Brecht in seinem Gedicht Dankgottesdienst so beschreibt: Viel hundert Stimmen schauen empor, Verklärt von der Freude Gold. Viel hundert Stimmen erbrausen im Chor, Wie das stürmt und jauchzt, wie wenn es empor Zum Himmel sich schwingen wollt.20 Speziell die musikalische Massenwirkung der Erbauung, wie sie oben im Programm der schulischen Feierstunde abgehalten wurde, wird hier nochmals imposant geschildert. 19 Rohse, Eberhard: „Der frühe Brecht und die Bibel. Studien zum Augsburger Religionsunterricht und zu den literarischen Versuchen des Gymnasiasten“, Göttingen 1983, S. 373ff; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 31. 20 Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 159; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 31. 17 Der Bruch 1914 begann der Erste Weltkrieg. Brecht, zunächst von der schulischen Propagandaschiene begeistert mitgerissen, bemerkte bald, dass seine Vorstellung von einer vernunftgeprägten, humanistischen und aufgeklärten Welt nicht mehr existieren konnte. Enttäuscht und verbittert stürzte er sich in die Dichtkunst, die zur Verarbeitungsform wurde. 1916 setzte Brecht ein Signal, mit dem er sich von konservativen Formen abgrenzte: er nahm eine Namensänderung vor. Die beiden Vornamen Eugen und Berthold lehnte er wegen ihrer „holden Ritterlichkeit“ ab und nannte sich nun Bert Brecht. Durch die Alliteration und die äußerste Knappheit schuf er eine Charakteristik, zu der auch die markante Erscheinung seiner Person zählte. Entgegen der bürgerlichen Tradition kleidete Bert sich nun betont nachlässig und wusch sich selten. Aus seiner Anti-Haltung heraus entwickelte er letztendlich seinen eigenwilligen und äußerst auffallenden optischen Stil mit Lederjacke, Schiebermütze und Zigarre. Der Erste Weltkrieg mit seinen Materialschlachten und Stellungskämpfen tobte und Bert begann zwischen glorifizierten Heldenballaden und der Realität des Krieges zu unterscheiden. Der patriotischen Schulerziehung setzte er sich in einem Aufsatz - über das todes- und vaterlandsverherrlichende Horaz-Zitat: „Dulce et decorum est pro patria mori“ – zur Wehr, indem er sich weigerte, das gewünschte Pathos herunterzuleiern und schrieb stattdessen: „Der Ausspruch, dass es süß und ehrenvoll sei, für das Vaterland zu sterben, kann nur als Zweckpropaganda gewertet werden. Der Abschied vom Leben fällt immer schwer, im Bett wie auf dem Schlachtfeld, am meisten gewiss jungen Menschen in der Blüte ihrer Jahre. Nur Hohlköpfe können die Eitelkeit so weit treiben, von einem leichten Sprung durch das dunkle Tor zu reden, und auch dies nur, solange sie sich weit ab von der letzten Stunde glauben. Tritt der Knochenmann aber an sie selbst heran, dann nehmen sie den Schild auf den Rücken und entwetzen, wie des Imperators feister Hofnarr bei Philippi, der diesen Spruch ersann.“21 Erneut (nach Die Bibel 1914) tat Brecht seine abschätzige Meinung über den propagierten Heldentod kund. Solche Abweichung vom standardisierten schulischen Lerninhalt blieb nicht ohne Konsequenzen. Dank des Benediktinerpaters Romuald Sauer, der sich mit der Begründung , der Krieg habe wohl den sensiblen Jungen etwas verwirrt, sehr für seinen (begabten) Zöglin einsetzte, entging Bert 1916 nur knapp dem Schulverweis. 1917 entließ ihn das kriegsbedingte „Notabitur“ aus den Zwängen des Lehrinstitutes. Da die Lieder und der Musikgebrauch ebenfalls mit solch verherrlichenden Texten unterlegt waren, wurde für Brecht auch die Musik zu einer anfechtbaren Institution, die zu blinder Zustimmung verführte. Über den patriotischen Verführungsgedanken der Musikverwendung schrieb er: „Ein bisschen Marschmusik auf dem Marktplatz, ein paar erbeutete Fahnen, eine patriotische Rede, nicht zu hoch für unsere brave Landbevölkerung, und Sie haben die flammendste Unterstützung unserer Weiblichkeit.“22 21 22 Vgl. K. Völker, Brecht, S. 16. B. Brecht, GW, Bd.6, S. 2631. 18 Fast lächerlich machte er sich über den musischen Heroismus, der bis zuletzt versuchte, die von ihm gepredigten leeren Illusionen aufrecht zu erhalten, auch wenn die Bevölkerung bereits körperlich und moralisch am Boden lag: „Das Blech gießt ein wenig Heroismus in die blutarmen Herzen der Bürger.“23 Auch seine Wagner-Begeisterung wandelte sich zunehmend zu einer Anti-Wagner-Haltung, die Mitte der 20er Jahre in einer radikalen Ablehnung des pompösen Musikdramas und in einem Neuentwurf für eine Epische Oper gipfelte. Wie bei Thomas Mann (vgl. Doktor Faustus) so war auch für Brecht die Musik eine urdeutsche Eigenschaft und sollte auf jeden Fall beibehalten werden. Brecht lehnte nicht die eingängigen Schlager, Volkslieder, Hymnen etc. ab, sondern wollte durch die Textaussage wachrütteln. Er verfasste daher selbst Melodien zu den eigenen Texten oder griff bekannte Melodien auf und parodiert diese durch eine neue Textzuordnung. 1916 war auch das Jahr, in dem zum ersten Mal „Liebe“ eine Rolle in seinem Leben spielte. In seinem ersten Liebesbrief bezeichnete er sich als Dichter. Durch diese Titulierung stellte er sich nun auf eine angesehene künstlerische Ebene und zeigte damit, dass er sich seinen poetischen Qualitäten bewusst war und sich der künstlerischen Verantwortung, die das Gedicht als ein filigranes lyrisches Gebilde birgt, stellen wollte. Auch das Schreiben von Theaterstücken reizte ihn zunehmend und am 21. Oktober 1916 schrieb er selbstbewusst, aber doch seiner momentanen Grenzen bewusst: „Schreiben kann ich, ich kann Theaterstücke schreiben, bessere als Hebbel, wildere als Wedekind. Ich bin faul. Berühmt werden kann ich nicht. Werde ich es, gehe ich nach Amerika und werde Cowboy *...+.“24 Rückblickend wirkt dieses Zitat des frühen Brecht sehr selbstironisch, denn er wurde berühmt und ging (zwar nicht ganz freiwillig) nach Amerika. 23 24 B. Brecht, GW, Bd.6, S. 2636. Brecht, Bertolt: Tagebucheintrag; in: B. Brecht, Augsburg und München, S. 59. 19 Augsburg – München 1917-1920 Konzertbesuche und Dirigierambitionen Wenn sich die Freunde einmal nicht zu einem häuslichen Musikgelage trafen, bildete der Ludwigsbau, der Konzert- und Stadtsaal Augsburgs, einen beliebten Treffpunkt für die Clique und auch für die damalige Jugend im Allgemeinen. Bis 1914 gab es noch die sonntäglichen Stadtgartenkonzerte mit Militärkapellen und der entsprechenden Musik dazu. 1915 wurde Karl Ehrenberg Opernkapellmeister in Augsburg und führte die städtischen Sinfoniekonzerte im Ludwigsbau ein. Neben den klassischen Werken führte das Orchester auch etwas „leichtere“ Muse auf, bestehend aus Operettenmelodien, Militärmusik, Potpourris und Bearbeitungen bekannter populärer Werke. Brecht schloss bald Bekanntschaft mit dem Dirigenten und Komponisten Karl Ehrenberg, was seine vermehrten Konzertbesuche begründete. Paula Banholzer, Brechts damalige Freundin, auch „Bi“ genannt, berichtete: „Brecht war ständiger Gast dieser Sonntagskonzerte. Er verehrte den Leiter dieser Konzerte, Karl Ehrenberg, sehr.“25 Aus dieser Verehrung heraus entstand Brechts Wunsch und Wille, sich selbst auch intensiv mit Musik zu befassen und Dirigent zu werden: „Einmal blieb er plötzlich stehen, zeigte auf den Dirigenten, der auf einem Holzpodest stand, und sagte ganz laut: ‚Das garantier ich euch, auf solch einem Podest stehe ich auch einmal.’“,26 soweit der Bericht eines Mitschülers. Später hat Brecht die Dirigenten als „Ballettrattenkönige“ abgetan, aber zunächst einmal war er voller Bewunderung für die Person Ehrenberg und für diesen Berufszweig. Sein dirigentisches Nacheifern ging soweit, dass sich plötzlich ein Notenpult mit Taktstock und aufgeschlagener Tristanpartitur darauf in seiner Wohnungseinrichtung fand. Dieses Instrumentarium war bei ihm aber nicht lebloses Mobiliar, sondern in stetem Gebrauch. Brecht dirigierte mit Vergnügen zu Hause. Das Dirigieren ermöglichte ihm nach eigener Aussage Entspannung nach der anstrengenden dichterischen Arbeit. Außer Freundin „Bi“ bekamen die Freunde dieses Dirigier-Spektakel kaum bzw. gar nicht zu Gesicht: „Brecht dirigierte übrigens auch zu Hause, allein oder in meiner Gegenwart. Er hatte ein kleines Stehpult und einen relativ langen Taktstock. Damit dirigierte er Musik aus dem Gedächtnis. Da er ein besonderes Verhältnis zur Musik habe, erklärte er mir, genüge es ihm, sie im Geiste zu hören. Das Dirigieren sei die notwendige Folge und bereite ihm Vergnügen. Ich muss sagen, das hat mich damals sehr beeindruckt, denn er machte es sehr gekonnt.“27 Auch bezeichnete Brecht das Dirigieren als logische Konsequenz der Verarbeitung von gehörter bzw. erlebter Musik. Er dirigierte nicht nur aus seiner einzigen Partitur, sondern setzte alles Musikalische, was ihm im Gedächtnis hängen geblieben war, was er irgendwo 25 Eser, Willibald; Poldner, Axel: „So viel wie eine Liebe: Der unbekannte Brecht“, München 1981, S. 32; zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 18. 26 Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 57; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 38. 27 Eser, Willibald; Poldner, Axel: „So viel wie eine Liebe: Der unbekannte Brecht“, München 1981, S. 111-112; zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 10-11. 20 einmal gehört hatte, in Bewegung um. Das bedeutet, er war ein sehr aufmerksamer Musikhörer und hatte ein auffallend gutes Gedächtnis, was musikalische Zusammenhänge (von Themen, Motiven, Formen, Klängen, Verarbeitungsprinzipien u.v.a.) betraf. Dadurch, dass er die Musik, über mehrere Sinne, jetzt auch durch den Bewegungssinn anhand des Dirigierens, wahrnahm, prägten sich ihm musikalische Eigenschaften viel besser ein. Dieses Zuhören, Einprägen, Aufgreifen und nach eigenem Gusto verändern, zog sich durch sein ganzes musikalisches Schaffen. Nicht grundlos bezeichnete ihn Hanns Eisler später als „riesige Musikalität ohne Technik“; denn nirgends wird berichtet, dass Brecht das Dirigieren (gleich dem Tonsatz) unter professioneller Anleitung lernte. Die Brecht-Clique Trotz seines Studiums in München war Brecht regelmäßig zu Hause in Augsburg und hielt seine Freundschaften aufrecht, die von Kindheit an eine große Rolle in seinem künstlerischen und privaten Leben spielten. Die wichtigsten Bezugspersonen, die Bert regelrecht um sich scharte – und deswegen auch die „Brecht-Clique“ genannt wurde – waren Caspar Neher, Rudolf Prestel, Georg Pfanzelt, Georg Geyer und Otto Müller. Zu Schulzeiten dienten ihm die Freunde (Georg Pfanzelt, Ludwig Prestel, Georg Geyer) in musikalischer Hinsicht. Sie spielten dem pianistisch unterbemittelten Bert am Klavier die klassischen und barocken Meister vor. Die Schulferien wurden bevorzugt für solche Hausmusikaktionen verwendet. Entweder Brecht lud die Freunde – manchmal auch einzeln – zu sich ein, besuchte sie, oder die musikbegabten und musikinteressierten Freunde trafen sich bei „Orge“ (Georg Pfanzelt) zu hausmusikalischen Exzessen. Bert ließ hauptsächlich Bach, Mozart und Beethoven vorspielen. Bach wurde zeitweise zu Brechts Lieblingskomponist, da er an ihm vor allem den spielerischen Umgang mit Musik, z. B. in den Suiten und dem Wohltemperierten Klavier, schätzte. Dass Musik für Brecht die wichtigste Quelle bildhafter und damit auch dichterischer Inspiration war, zeigte sich offensichtlich, als Georg Geyer ihm aus der Sonate in F, KV 280 von W. A. Mozart vorspielte: „Brecht war oft bei mir zu Hause. Einmal spielte ich den Mittelsatz von Mozarts „Tod im Walde“, eine Sonate in F-Dur, Köchelverzeichnis 280. Brecht saß gedankenversunken da und hörte zu. Als ich geendet hatte, stand er langsam auf, kam zu mir ans Klavier, nahm das Notenblatt und schrieb mit Bleistift die Worte neben den Titel: Und er hauchte in seine Hand Und er roch an seinem Atem und er Roch faulig. Da dachte er bei Sich, ich sterbe bald.“28 Brecht reagierte also in verstärktem Maße emotional auf Musik. Sie war für ihn mit bildhaftem Inhalt gefüllt. Und Bilder stellten bei seiner dichterischen Arbeit die Grundlage dar. Er sagte selbst über seinen Arbeitsprozess: „Ein Dichter muss in Bildern denken und dann diese Bilder beschreiben.“29 28 Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 133; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 35. 21 Daher war es auch nicht verwunderlich, dass sich Brecht zunehmend von den monströsen sinfonischen Werken distanzierte. Sie stellten für ihn eine Reizüberflutung dar, die er später am Beispiel von Wagners Musikdramen als emotionale Beeinflussung des Publikums definierte: „Ein einziger Blick auf die Zuhörer der Konzerte zeigte, wie unmöglich es ist, eine Musik, die solche Wirkungen hervorbringt, für politische und philosophische Zwecke zu verwenden. Wir sehen ganze Reihen in einen eigentümlichen Rauschzustand versetzter, völlig passiver, in sich versunkener allem Anschein nach schwer vergifteter Menschen. Der stiere, glotzende Blick zeigt, dass diese Leute ihren unkontrollierten Gefühlsbewegungen willenlos und hilflos preisgegeben sind.“30 Den musikalischen Schwerpunkt bei den kammermusikalischen Treffen der „Brecht-Clique“ bildete Beethoven. Brecht beschäftigte sich in den letzten Schuljahren intensiv mit diesem Komponisten und verfasste 1914 einen feurigen Zeitungsbeitrag über die Egmont Ouvertüre. Darin beschreibt er das Werk als: „*...+ leidenschaftliche, stürmische Musik, deren Motiv ein Aufrütteln gegen Tyrannenjoch ist“31 1916 ließ sich Brecht mit einem Beetoven-Bild in der Hand fotografieren. Doch auch Beethovens Musik war ihm zunehmend zu „gefühlsverwirrend“ und wurde als überdimensionaler „Tam-Tam“ von Sentimentalität abgetan: „den beethoven mag ich immer noch nicht, dieses drängen zum unter- und überirdischen, mit den oft (für mich) kitschigen effekten und der ‚gefühlsverwirrung.’ das ‚sprengt alle bande’ wie der merkantilismus, da ist diese innige pöbelhaftigkeit, dieses ‚seid umschlungen, millionen,’ wo die millionen den doppelsinn haben (als ginge es weiter, ‚dieses coca cola der ganzen welt!.’).32 Dieses Ablehnen großer orchestraler Musikformen entsprach der allgemeinen Entwicklung hin zu einer neuen musikalischen Sachlichkeit. Brecht wollte, wie Sigmund Freud, nicht von einer Musik ergriffen werden, die man nicht (be)greifen kann bzw. die keinen vermittelnden Charakter hat. Die Freunde bildeten für Brecht den Mittelpunkt in Sachen Geselligkeit. Dieses Beisammensein diente ihm zur Inspiration seines dichterisch-musikalischen Schaffens oder als Anlass, sich in ein neues Liebesabenteuer zu stürzen. Das drängende Bedürfnis, stets von lebensfrohen Freunden umgeben zu sein, stand Berts Angst vor der Einsamkeit und dem Alleinsein gegenüber. Besonders gesellig ging es bei den freundschaftlichen Unternehmungen, den nächtlichen musikalisch-literarischen Streifzüge durch Augsburg und die Umgebung zu. Diese gemeinsamen Erlebnisse der Freunde waren bezeichnend für den „Zauber dieser Jugend“ – eine Jugend, bei der der Gemeinschaftsgedanke der damaligen Zeit, ausgehend von der Wandervogelbewegung, eine bedeutende Rolle spielte. Verbindendes Mittel bei solchen geselligen Stelldicheins war die Musik. Die instrumentalen Hilfsmittel dabei waren Gitarre 29 Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 103; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 39. 30 Brecht, Bertolt: „Über Bühnenaufbau und Musik des epischen Theaters“, in: B. Brecht, GW, Bd.15, S. 480. 31 Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 249; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 34. 32 Brecht, Bertolt: „Arbeitsjournal“, Werner Hecht (Hrsg.), 2 Bände, Frankfurt am Main 1973, S. 676; zitiert nach: M.J.T. Gilber, Music, S. 17. 22 und Violine. Sie waren transportabel und sorgten für einen intimen nostalgischen Lagerfeuercharakter. So begab sich die „Brecht Clique“ singend und wild dirigierend auf Wanderschaft durch die schöne Maiennacht: „Zu den schönsten Erinnerungen dieser Zeit gehören für mich die nächtlichen Streifzüge durch die [Augsburger] Altstadt über Brunnlech und Graben, Pfannenstiel und Lueginsland. Da singt Brecht zu seiner Klampfe, der sämtliche Saiten fehlen [...] oder es wird eine Kantate, fast schon eine Oper, über die schöne Maiennacht improvisiert, zu der Freund Orge als Kapellmeister, großartig mit den Armen fuchtelnd, ein imaginäres Orchester zu wildestem Furioso anfeuert. Oft klettern wir auch über die Zäune oben am Stadtwall, wo den Augsburger Schönen Serenaden dargebracht werden, Brecht mit der Gitarre, ein Freund mit der Violine, der dritte mit einem an langer Stange schwankenden Lampion. Gesungen werden Goethes ‚Rattenfänger’ und einige Wedekind-Lieder [...] zu denen Brecht die Melodien erfunden hatte. [...] In tiefer Nacht ziehen wir dann in bunter Reihe durch die schlafenden Straßen der alten Reichsstadt heimwärts. Und Brecht, ein großartiger Wagner-Parodist, improvisiert eine tristanische Arie auf seine Wolfhündin Ina.“33 Das Improvisieren und Komponieren ging Brecht wohl leicht von der Hand. Sein Freund Georg Geyer merkte dazu an: „Einige Male sah ich zu, wie Brecht zu Texten Melodien komponierte. Es ging letztlich ganz rasch. Aber es war so ungewohnt und regelwidrig wie alles, was Brecht tat.“34 Diese Regelwidrigkeit brachte ihm später den Ruf „riesige Musikalität ohne Technik“ ein (Hanns Eisler). Neben Brechts eigenen Kompositionen und denen seines Vorbilds Frank Wedekind waren es Goethe-Vertonungen, die im Mittelpunkt der spät abendlichen Ständchen standen: „Wir singen nachts Lieder vom Goethe, vom Wedekind und vom Brecht.“35 Lampions gehörten für Brecht genauso unabdingbar zur nächtlichen Romantik dazu, wie (Wein,) Weib und Gesang’: „Wir zünden nachts auch Lampions an und ziehen durch die Stadt zu den schönen Mädchen und machen Musik, heulen wie die Wölfe!“36 Brecht verarbeitete die nächtlichen Serenaden und Streifzüge mit seinen Freunden, die durchzechten Nächte, die Natur und die „Jugendsünden“ in dem Gedicht „Aus verblichenen Jugendbriefen“. Mag auch Brecht, das „Klampfentier“, musikalisch im Mittelpunkt dieses nächtlichen Ambientes, mit Sternenhimmel und Lampions, gestanden haben, so waren doch auch stets seine Freunde als Instrumentalisten, Sänger oder Dirigenten (allen voran „Orge“) mit im Einsatz: 33 Münsterer, Hans Otto: „Bert Brecht: Erinnerungen aus den Jahren 1917-22“, Zürich 1963, S. 112-113; zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 24. 34 Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 134; zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 8. 35 Brecht, Bertolt: „Briefe 25. Augsburg, Ende April 1918“, in: J. Lucchesi, R.K. Shull, Musik, S. 94. 36 Brecht, Bertolt: „Briefe 28. Augsburg, 11. Mai 1918“, in: J. Lucchesi, R.K. Shull, Musik, S. 94. 23 „Wenn wir abends zu unseren kleinen Abenteuern zusammenkamen, da waren bei Brecht Gitarre und Lampion obligatorisch. Harrer spielte Violine, Pfanzelt war ebenfalls mit einer Gitarre ausgerüstet, oder er dirigierte uns, andere spielten Mundharmonika oder summten die Melodie einfach so mit.“37 Mit von der Partie war auch Brechts Bruder Walter. Die Brüder traten öfters auch als Duo musikalisch in Erscheinung. Da Walter und die Freunde so eng in Brechts Musikdramaturgie eingebunden waren ist es nicht verwunderlich, dass sie auch eigenständig Brechts Texte vertonten. Diese gab es dann speziell auf solchen nächtlichen Exkursionen zu erleben. Der Bericht von Paula Banholzer zeigt nochmals das Mitwirken der Freunde am musikalischen Akt und stellt Georg Pfanzelt als damaligen „Haupt-Brecht-Komponist“ vor: „Zu dieser Zeit brachte er *Brecht+ mir auch fast allabendlich ein Ständchen. Dazu hatte er zwei weitere Freunde engagiert [Otto Bezold, Georg Pfanzelt]. Alle drei trugen mir die neuesten Songs vor, die Texte natürlich von Brecht selbst, und die Melodie von Pfanzelt, manchmal auch von Brecht.“38 Aber auch Brechts eigenes kompositorisches Schaffen wird hier neben der schriftstellerischen Arbeit erwähnt. Dies führte zu einer neuen Aufgabe für die „Brecht-Clique“. Sie stellte das erste kritische Publikum für Bert, vor dem er alles ausprobieren und seine Werke auf die Praxistauglichkeit hin testen konnte. Sein künstlerisch begabter und begeisterter Freundeskreis bot hierbei eine ideale Quelle für Anregungen. Brecht muss diese Anregungen und die künstlerische Komponente seiner Freunde sehr geschätzt haben, denn sonst hätte er mit Sicherheit nicht seine Literaturvorlagen zum Vertonen hergegeben. Noch Jahre später arbeitete er mit einem dieser Freunde, dem Maler und späteren Bühnenbildner Caspar Neher, „Cas“, eng zusammen. Er nannte ihn sogar „Bruder in Arte“. Neher illustrierte geplante Werke wie die Klampfenfibel (1919) mit bunten Aquarellen und später entwarf er die Bühnengestaltung zu Werken wie „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. Bildentwurf von „Cas“ auf der Partitur des Mahagonny Songspiel Und wenn die „Brecht-Clique“ nicht gerade die Stadtgartenkonzerte besuchte oder auf musikalischer Nachtwanderung war, bildete der Plärrer die zentrale Anlaufstelle für gemeinschaftliche Vergnügungen und kulturelle Erbauung. Bert hatte dort Kontakte zu vielen Schaustellern, zu Menschen „ohne Vorurteile und ohne Hemmungen, die ihr Leben ohne konventionelle Bindungen zu leben verstanden.“ Im Tagebuch von 1920 heißt es über diese Wiege seiner soziokulturellen Inspiration: „Immer streune ich abends übern Plärrer, der einem seine Negermusik mit Keulenschlägen eintreibt [...]! Der Mond, wo wir die Hallelujasinger im Laub spielen, verfällt langsam [...] . Mit Film und Bänkelsang werden wir uns noch einen halben Mond über Wasser halten *...+ !“39 37 Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S106; zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 5. 38 Eser, Willibald; Poldner, Axel: „So viel wie eine Liebe: Der unbekannte Brecht“, München 1981, S. 24; zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 4. 39 Brecht, Bertolt: „Tagebuch, 24. August 1920“, in: J. Lucchesi, R.K. Shull, Musik, S. 97. 24 Die Bezeichnung „Film“ spielt auf die Musikkästen an, die neben der Musik auch Bilder zeigten. Die wichtigste gattungsspezifische – musikalisch wie literarisch – Begegnung auf dem Plärrer war für Brecht jedoch der Bänkelsang. Ab 1920 löste sich die „Brecht-Clique“ langsam, wegen Studium und Beruf der einzelnen Mitglieder, auf. Für Brecht, der bis dahin auch finanziell an Augsburg gebunden war, wurde dadurch die Stadt immer uninteressanter. Alle wichtigen Leute, die ihn auf seinem literarischen und musikalischen Weg weiterbringen konnten, lebten nun in München oder Berlin. Als am 1.Mai 1920 auch noch seine Mutter starb, zu der er immer eine sehr innige Beziehung hatte, wurde die Bindung an seine Heimatstadt noch geringer. Im gleichen Jahr noch übersiedelte er ganz nach München. Brecht war erst einmal froh, dem Provinzialismus entflohen zu sein, blieb aber dennoch seiner Heimatstadt (zumindest im Geiste) sein Leben lang verbunden. Später rühmte er sich stolz als „der“ Augsburger repräsentativ für diese Stadt zu sein. Erste musikalische Professionalisierung Nach dem „Notabitur“ im Frühjahr 1917 studierte Brecht ab September Medizin an der Maximilians-Universität München. Sein Wohnsitz wird nun wochentags dieses Kulturzentrum – München ist vor dem Ersten Weltkrieg kulturell weitaus bedeutender als die spätere Künstlerstadt Berlin. Brecht ließ keine Gelegenheit kultureller Erfahrung und Weiterbildung aus. In seinen Briefen nach Augsburg berichtete er von Opernbesuchen, mehrmals die Woche. Auf dem Oktoberfest lernte er 1919 eines seiner Vorbilder kennen: Karl Valentin. „Dieser Mensch ist ein durchaus komplizierter, blutiger Witz. Er ist von einer ganz trockenen, innerlichen Komik, bei der man rauchen und trinken kann und unaufhörlich von einem innerlichen Gelächter geschüttelt wird, das nichts besonders Gutartiges hat.“40 Portrait Karl Valentin, Eugen Rosenfeld Valentin war ein Mensch mit bissigem, zynischen und vor allem kritischen Humor und somit genau auf Brechts Gedankenebene. Er schuf eine Atmosphäre, die sinnliches und geistiges Erleben direkt nebeneinander stellte und dadurch das kabarettistische Flair ausmachte. Soldatenlieder wurden gekonnt parodiert und seine Figuren zeigte Valentin immer mit einem distanzierten Darstellungsstil; d.h., er verwandelte sich nicht in sie. Eine Darstellungspraxis, wie sie später als Grundregel in das Epische Theater von Brecht 40 Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. 30 Bände, Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller (Hrsg.), Berlin-Weimar und Frankfurt am Main 1988, Band 21, S.101; in: R. Jaretzky, Brecht, S. 30. 25 eingegangen ist. Valentins freche und unkonventionelle Art griff Bertolt auf und sah sich selbst als proletarische Person, die sich streitbar der Münchner Boheme entgegenstellte. Beide harmonierten so gut, dass Bertolt zunächst einmal als Statist in einem der beliebtesten Werke Valentins mitwirken durfte: Die Orchesterprobe. Später spielte er dann sogar als Klarinettist in Valentins Kabarettorchester mit. Siehe Bild unter: http://www.br.de/nachrichten/brecht_valentin. Ab 1918 stiegen Brechts Lyrikproduktion und die damit verbundenen spontanen Melodiefassungen immens an. Darum entschloss er sich, eine Art der schriftlichen Fixierung zu entwerfen. Zum einen ist dies nötig, damit die Melodien nicht verloren gehen und reproduzierbar gemacht werden, zum anderen ist etwas Geschriebenes, Gedrucktes, Veröffentlichtes von Belang, um über die Stadtgrenzen hinaus bekannt zu werden, was Brecht anstrebte. Indem er seine Lyrik auch musikalisch durch die Notation der Öffentlichkeit zugänglich machte, stieg dadurch auch der Gebrauchswert seiner Lyrik, den er forderte: „Lyrik muss zweifelsohne etwas sein, was man ohne weiteres auf den Gebrauchswert untersuchen können muss.“41 Wie bei seinen regelwidrigen Spontanvertonungen, die er aus musikalischer Gewohnheit heraus entwarf, so zeigte sich auch in der Notationsart Brechts „riesige Musikalität ohne Technik.“ Obwohl Bertolt Noten lesen und schreiben konnte, er hatte ja schließlich klassischen Klavier-, Geigen- und Gitarreunterricht, entwickelte er aus Zeitgründen heraus – seine lyrisch-musikalischen Schaffensprozesse finden zum Teil unterwegs statt – seine eigene stenographische Notenschrift, die zunächst einmal als Erinnerungsstütze für seine musikalischen Einfälle gedacht war. Brechts Freund Georg Geyer beschreibt die Ansätze von Berts Schnellnotenschrift im Sinne von Zeiteinsparung: „Einige Male sah ich zu, wie Brecht zu Texten Melodien komponierte. Es ging letztlich ganz rasch. Aber es war so ungewohnt und regelwidrig wie alles, was Brecht tat. Er zog ganz hauchdünn die fünf Notenlinien, und dann machte er anstelle der Notenköpfe einfach nur kleine Kreuze mit nach unten gezogenen Strichen daran. So notierte er sich sozusagen die Melodien zu seinen Versen in Kurzform. Brecht konnte natürlich Noten lesen und schreiben, nur mit den Kreuzen statt der Noten schien es ihm schneller zu gehen.“42 Was Brecht von der standardisierten Notation übernahm waren die fünf Notenlinien und die dazugehörigen Tonhöhen, den Violinschlüssel, die Tonartangabe durch Vorzeichen und manchmal auch Taktangaben. Ab und zu hat Brecht auch Akkordsymbole, wie sie in den gängigen Liederbüchern gehandhabt werden (Großbuchstabe entspricht Dur, Kleinbuchstabe bedeutet Moll), zu seinen Melodieentwürfen hinzugefügt. Anders als in der Standardnotenschrift verwendet Brecht einen schrägen Strich, um einen kurzen Notenwert anzugeben. Lange Noten werden durch ein Kreuz wie in der Schlagwerknotation gekennzeichnet. Damit ist nur eine relative Tondauer gewährleistet, denn die Noten stehen 41 Schumacher, Ernst: „Die dramatischen Versuche B. Brechts. 11918-1933“, Berlin 1955, o.S. ; zitiert nach: J. Mittenzwei, Musik in Literatur, S. 428. 42 Frisch,Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Franfurt am Main 1976, S. 134; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 74. 26 somit nur im Verhältnis kurz zu lang, aber nicht in einer Proportionalität zueinander. Eine Eingrenzung der Melodie in Takte und damit in rhythmische Strukturen gibt es nicht. Das Charakteristische bei Brecht ist, dass er seine Melodien nach den Versen seiner Lyrik statt nach Takten gliedert. Ist im Melodieverlauf ein Vers zu Ende, wird dies durch einen senkrechten Strich – so ähnlich wie ein Taktstrich, nur über die Notenlinien etwas hinausragend – kenntlich gemacht. Darum genügt es auch, dass Brecht meist nur die Anfänge der Verszeilen unter die Noten setzte, da diese bereits separat in schriftlicher Form existierten. Ein Zeilenende stellt bei Brecht eine Zäsur dar. Dies liefert somit schon einen Hinweis auf den Rhythmus. Der andere Hinweis liegt im Text selbst. Das Reimschema gibt die Betonungen, speziell durch denn Sinnakzent der Reimsilbe, vor, das Metrum der Verse die rhythmische Struktur der Melodie. Damit rhythmisieren sich die Lieder von selbst. Als Beispiel soll die Notenskizze zu Brechts Schlager „Das Lied von der Rose vom Schipkapaß“ dienen: Hier zunächst die stenographische Aufzeichnung im Stile Brechts. In gebräuchliche Notenschrift übertragen sieht die Notenzeile wie folgt aus: Die Tonhöhen werden eins zu eins übernommen. Der 3/4-Takt ergibt sich aus dem Auftakt der kurzen („Punkt“) unbetonten Silbe „Ein“ am Anfang der ersten Verszeile und dem Hauptwortakzent in Kombination mit dem langen Notenwert (Kreuz) auf „Sonn-„. Das Versende bekommt durch die Punktierung bzw. Verlängerung und die darauffolgende Pause die gewünschte Betonung und Zäsur. Für den gestischen Gesangsvortrag gibt auch die Lautgestalt der Texte den Ton an, denn Brecht schreibt auch keine musikalischen Vortragsmerkmale wie Tempo- oder Charakteristikbezeichnungen vor. Als Brecht ab 1922 an seinen Hauspostillen arbeitete, stellte sich im Hinblick auf die geplante Veröffentlichung und durch die beginnende Zusammenarbeit mit professionellen Komponisten eine Standardisierung seiner Notation ein. Es ist bemerkenswert, dass Brecht seine wichtigste Gedichtsammlung nicht nur formell und inhaltlich an musikalischen Parametern anlehnte, sondern ihr auch einen Notenanhang zur praktischen Handhabung hinzufügte. 27 München – Berlin 1920-24 Die Situation 1920 zog Brecht endgültig nach München. Er fuhr aber noch regelmäßig nach Augsburg, da er dort seit 1919 (und noch bis 1922) als Theaterkritiker beim Augsburger Volkswille arbeitete und bissige Kritiken verfasste. Neben seiner Arbeit an eigenen Stücken, wurde Brecht Dramaturg an den Münchner Kammerspiele(n) und begab sich auf die Suche nach Verlegern für seine Werke. Offiziell trat er nun unter dem Namen „Bertolt“ Brecht in Erscheinung. Nach der ersten Berlinreise im Februar 1920 reiste er nun immer häufiger in die werdende deutsche Kulturhauptstadt und knüpfte Kontakte zu Literaten, Regisseuren, Dramaturgen, Verlegern und Schauspielern. Aber Berlin hatte noch kein Interesse an den Werken des Neulings. Darum wurden Brechts erste große Stücke in den Münchner Kammerspiele(n) („Trommeln in der Nacht“ 1922) und am Bayrische(n) Staatsschauspiel („Im Dickicht der Städte“ 1923) uraufgeführt. Aufgrund Brechts anti-politischer Haltung wurde Im Dickicht der Städte jedoch bald abgesetzt. Brecht hoffte nun auf Berlin, dass ihm zum endgültigen Durchbruch verhelfen sollte. Ab 1922 schrieb Brecht auch Beiträge für den Berliner Börsen-Courier. Marianne Zoff Marianne Zoff Am 3.November 1922 heiratete Brecht die Wiener Mezzo-Sopranistin Marianne Zoff. Seine Verehrung für diese Frau führte ihn wieder sehr häufig ins Theater, wo seine Frau auftrat, und brachte ihn so mit dem wichtigsten Opernrepertoire in Berührung. Zu Hause schaute und hörte er ihr gerne beim Üben zu und wird ihr wohl ab und zu auch beim Einstudieren der Rollen geholfen haben: „Wir nehmen Carmen durch *und+ den Rosenkavalier“, berichtet Brecht. Ihr zuliebe, um sie auf der Bühne bewundern zu können, besuchte er auch die Opernvorstellungen, die ihn nicht ansprachen: „Ich mache das Rheingold durch; die Aufführung wird scheußlich abgesetzt. Das Orchester leidet an Knochenerweichung, hier hat alles Plattfüße. Die Göttchen deklamieren zwischen ziemlich sorgfältig ausgeführten Kopien von Versteinerungen der Juraformation, und die Dämpfe aus der Waschküche, in der Wotans schmutzige Herrenwäsche gewaschen wird, machen einem übel. Erstaunlich einzig Mariannes schöne, zarte Stimme.“43 Manchmal musizierten sie auch beide gemeinsam, wie Marianne sich erinnert: „Da haben wir *...+ manchmal miteinander musiziert. Er spielte auf der Klampfe, ich auf dem Klavier.“44 43 Brecht, Bertolt: „Tagebucheintrag vom 28. Oktober 1921 in Berlin“, in: B. Brecht, Augsburg und München, S. 66. 44 Eser, Willibald; Poldner, Axel: „So viel wie eine Liebe. Der unbekannte Brecht“, München 1981, S. 175; zitiet nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 19. 28 Berlin 1924-30 Neues und Altes Nach immer ausgiebigeren Berlinaufenthalten übersiedelte Brecht 1924 endgültig in die aufstrebende Kulturmetropole. Er stürzte sich in den Großstadtdschungel und wusste bald die Riesenstadt zu genießen und auf der anderen Seite wegen dem sozialen Kampf „Jedergegen-Jeden“ zu verabscheuen. Berlin war in der Zwischenzeit zu einer künstlerischen Weltstadt geworden, allerdings eher im Hinblick auf das Kabarett als auf das traditionelle Theater. Brecht war daher auch häufiger in kabarettistischen Veranstaltungen (auch selbst als Akteur) zu finden. Kurz nach seinem Einzug in seine neue Wohnung erwarb Brecht bei einem Gebrauchtwarenhändler ein optisch sehr schönes, aber mechanisch beschädigtes Tafelklavier. Brecht war trotzdem sehr stolz auf diese Errungenschaft. Auch die Tradition seiner Balladenvorträge innerhalb der Freundes- und Künstlerkreise behielt Brecht bei. Die Leute sehnten sich regelrecht nach seinen markant provokanten Vorträgen. Die Beschreibungen seiner Vorträge aus der Berliner Zeit ähnelten denen aus Augsburg, enthielten aber eine Schuss Nostalgie: „Brechts Vortrag verhinderte eine gute und ruhige Aufnahme des Gedichts durch unerwartete Verhärtungen, Verschärfungen beiläufiger Stellen, oder durch betont ruhige Wiedergabe an und für sich hochdramatischer Passagen. Die Balladen liefen bei ihm eben nicht glatt ab; sie bekamen einen unregelmäßigen und einen holprigen Gang. Brecht rang den Zuhörern die Haltung einer permanenten Bereitschaft zur Veränderung ihrer Reaktionen ab. Das Entscheidende aber war wohl die unmittelbare Begegnung mit einer enormen schöpferischen Kraft, die beim Vortrag des Dichters selbst ganz frei wurde. Sie erzeigte sich vielleicht deshalb so stark, weil Brecht weder seine Seele entblößte, noch das Herz aufriss, sondern ‚kunstvoll’ vortrug, das heißt die Besonderheiten und Schönheiten der Balladen sehen ließ.“45 Mit der Zeit wurden aber seine öffentlichen Gesangsdarbietungen, z.B. in Trude Hesterbergs Kabarett „Wilde Bühne“, seltener. Erstens waren seine politischen Lieder, voran „Die Legende vom toten Soldaten“, und deren makaberer Vortrag umstritten. Zweitens war solch ein Musizieren an das Augsburger Milieu mit seinen privaten Kreisen gebunden und drittens griff Brecht immer seltener zur Gitarre und spielte lieber Grammophon. Eine äußerst wichtige Rolle spielte dieses „Musikinstrument“ – Brecht besaß ein billiges Blechgrammophon – als musikalische Hintergrundkulisse während seines literarischen Arbeitens. Es waren vor allem Rhythmen moderner Schallplattenmusik, die Brecht bei seiner Arbeit unterstützten. Zu diesen Rhythmen ging er im Zimmer umher und „probierte laut die Überschriften der Moritaten [an welchen er gerade arbeitete], scharf skandierend. „ Der einstige Balladensänger Brecht sah sich zunehmend größeren Formen gewachsen und entwickelte sich weg von der überschaubaren Gedicht- und Liedform hin zum Stückeschreiber. Die Musik bzw. das „Lied“ blieb aber ein zentraler Bestandteil dieser umfangreicheren Form. Brecht revolutionierte gerade durch die Verwendung von Musik für das Theater. 45 Reich, Bernhard: „Erinnerungen an den jungen Brecht“, in: Sinn und Form. 2. Sonderheft Brecht, 1957, S. 297f.; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 129. 29 Anregungen für seine neue textliche und musikalische Handhabung holte er sich bei den drei bedeutendsten Regisseuren der Berliner Bühnen: Max Reinhardt (links), Leopold Jenner, Erwin Piscator (rechts). Er arbeitete an einer Reihe von Piscators Inszenierungen im dramaturgischen Rahmen mit und lernte so Piscators Vorstellung eines neuen, epischen statt konventionellen dramatischen Stils kennen. Piscators Hauptansatzpunkt betraf zum einen das Publikum, das durch die (Bühnen-)Vorgänge mit einbezogen werden sollte, z.B. dadurch, dass der Chor im Publikum singen sollte. Der andere Aspekt galt dem Bühnenbild. Es sollte wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Hintergründe und Zusammenhänge deutlich sichtbar machen, was durch illustrierende Mittel wie Statistiken, graphische Schaubilder, Projektionen, Fotos und Filme ermöglicht wurden. Dies waren Verfremdungsmöglichkeiten für das Theater, die später bei Brechts Theorie vom Epischen Theater unbedingt dazugehörten. Der Jazz Zwar gastierten bereits 1914 erste Ragtimekapellen in Deutschland, aber die große Jazzwelle kam erst ab 1917 von Nordamerika über Paris nach Europa und hatte spätestens nach dem Ersten Weltkrieg auch Deutschland erreicht. Ab 1920 wurde der Jazz auch für Brecht eine wichtige Stilrichtung für seine Dichtung ebenso wie für seine Musik. Den zunächst als „Negermusik“ verachteten Jazz sah Brecht als Möglichkeit, der deutschen Musikkultur etwas gegenüber- bis entgegenzustellen. Befreit von dem Zwang, nur von „deutscher Musik“ als Inspiration für seine Kompositionen abhängig zu sein, schrieb Brecht: „Meine ganze Jugend war mir jede Musik eine Qual und jetzt, wo die Jazzbands endlich da sind, fühle ich mich wohl dabei.“46 Zusätzlich kam der Jazz Brecht sehr gelegen, da eine Zuwendung zum Jazz zunächst als Protest gegen eine zivilisierte bürgerliche Kulturlandschaft verstanden wurde. Brecht wollte provozieren und diese kurzgliedrige, witzige, unromantische und unpathetische amerikanische „Schlagermusik“ traf genau seine Anti-Wagner-Haltung. Sein Grammophon ließ Brecht mit Begeisterung Jazz spielen. Wichtigstes volkstümlichstes Element im Jazz, das die neue Musik ab 1920 eingehend beeinflusste (z.B. die Musik von Igor Stravinsky), war der scharfe, lebhafte Rhythmus. Hauptmerkmal dieser Rhythmik war die Synkope. Durch sie ergaben sich neue rhythmische Formgebilde, die z.B. durch ihre Kontinuität in der Tanzmusik Anklang fanden (z.B. der Foxtrott) oder als freie Rhythmen innerhalb eines Musikstücks verwendet wurden (z.B. im Blues). Da Brecht die rhythmische Struktur seiner Melodien stets am Sprachrhythmus anlehnte, was zu freien Rhythmen führte, sah er sich einerseits in seinem Ansatz bestätigt und konnte andererseits dadurch leicht jazzige 46 Brecht, Bertolt: „Aus Notizbüchern“, in: B. Brecht, GW, Bd.15, S. 69. 30 Anklänge in seinen Songs verarbeiten. Häufig griff er auf rhythmische Partien der Tanzmusik zurück. „Der Kanonen-Song“ hat z.B. die typische Foxtrott Rhythmik (der bereits in der Tempoangabe erwähnt wird) in der Klavierbegleitung, nämlich nachschlagende Viertel und Achtel: Eine andere Auswirkung dieser musikalischen Amerikawelle war, dass Brecht, obwohl er des Englischen nicht besonders mächtig war, vermehrt Anglizismen in seinen Stücken und Liedern verwendete. Bestes Beispiel hierfür ist die spätere Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. Die Protagonisten tragen im Original fremdsprachige Namen wie Jim Mahoney, Jack O’Brien und Jenny Hill. Die Lieder, in der Gestalt des Songs, verweisen schon durch diese Titulierung auf den englischen Text, z.B. Alabama-Song und Benares-Song. Es war das erste Mal, dass Brecht ganze Lieder in einer Fremdsprache verfasste. Musikalische Professionalisierung Durch die Zusammenarbeit mit den Künstlergrößen der damaligen Zeit stieg, Brechts eigener Anspruch an seine Kunst. Daher wählte er primär die Literatur als sein Hauptarbeitsfeld, in der er sich am meisten verankert sah. Da er aber nicht auf die Musik verzichten wollte, die auch Inhalt seiner Theaterpraxis war, trat er diesen Bereich zunehmend an professionelle Komponisten, Musiker und Sänger ab. Das Klavierspielen war noch immer nicht seine Stärke. Er benötigte das Instrument hauptsächlich dafür, seine Lieder zu überarbeiten und sie zu notieren. Da dies durch seine „Ein-Finger-Technik“ sehr mühsam vorwärts ging, war das auch für Brecht ein Anlass, sich nach musikalischen Mitarbeitern umzusehen. Es war hauptsächlich ein Zeitproblem das Brecht daran hinderte, Text und Musik in gleichem Umfang zu entwerfen. Es fand also eine Art Arbeitsteilung statt, bei der Brecht nie aufgehört hatte, selbst zu komponieren und musikalische Vorstellungen zu entwerfen. Er behielt sich ein nicht geringes Mitspracherecht gegenüber seinen engagierten musikalischen Assistenzen bei. Viele sahen in ihm den Ausgangspunkt für die literarischen wie musikalischen Werke: „Brecht hatte einen unverwechselbaren Tonfall. Im Grunde war er der Urheber der Musik, die andere für ihn komponierten und arrangierten.“47 Brecht sah Text und Musik als zwei aufeinander angewiesene Parameter an. Er hatte nicht nur von seinem Text, sondern auch von dessen musikalischer Umsetzung eine genaue Vorstellung, die er an seine Komponisten weitergab. Dadurch, dass Komponisten wie Weill, Hindemith, Eisler und Dessau nach seinen Skizzen und Entwürfen komponierten, blieb Brechts musikalische Grundidee erhalten. Jedoch konzipierte Brecht seine Text-Musik47 Egk, Werner: „Die Zeit wartet nicht“, Percha 1973, S. 164; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 185. 31 Beziehung so offen, dass die Komponisten nicht das Gefühl hatten, man würde ihre künstlerische Arbeit einengen und darum gerne mit ihm zusammen arbeiteten. Er war derjenige, der seine Komponisten erst durch die Zusammenarbeit mit ihm bekannt machte; sie vertonten seine Werke und wurden dadurch berühmt. Kurt Weill (1900-1950) Der Anlass der Zusammenarbeit zwischen Bertolt Brecht und Kurt Weill, welche im März 1927, begann, war der Auftrag an Weill, für das Deutsche Kammermusikfest Baden-Baden einen Einakter (Oper) zu komponieren. Allerdings wurde sein erster Entwurf abgelehnt und den darauffolgenden verwarf er selbst. Durch das Hören der Radioaufführung von Brechts „Mann ist Mann“, wurde Weill auf ihn aufmerksam. Das gemeinsame Treffen verlief erfolgreich, und Brecht schlug „Mahagonny“ (Grundlage waren die Mahagonnygesänge) als Opernprojekt vor. Brecht hatte zu diesem Zeitpunkt bereits selbst einen ausführlichen Plan zu einer „Mahagonny-Oper“, der mit der späteren Oper in wesentlichen Teilen übereinstimmte. Vermutlich schien ihnen dieses Opernprojekt für die Kürze der Zeit zu umfangreich (zu diesem Zeitpunkt hatten sie erst einen Monat zusammengearbeitet, und die Aufführung war auf Juli angesetzt), und so wählten sie als eine Art Vorstufe zur geplanten ‚großen’ Operform das ‚kleinere’ Songspiel. Für Weill, der bisher vorwiegend komplizierte und psychologisierende Musik geschrieben hatte, war dieses Projekt eine neue Herausforderung. Wie Brecht so war auch Weill auf eine allgemeine Verständlichkeit von Musik bedacht. Er griff ebenfalls auf populäre, bereits vorhandene Musik zurück und funktionierte diese zu seinen musikalischen Zwecken um. Mit Weill geriet Brecht an einen Komponisten, der, wie er selbst, vom „Amerikanischen“ fasziniert war. Für Weill stellte der Jazz eine Möglichkeit dar, Musik nach all der Atonalität der zeitgenössischen deutschen Komponisten wieder verständlich zu machen. 1929 merkt er dazu an: „*...+ dass an der rhythmischen, harmonischen und formalen Auflockerung, die wir heute erreicht haben, und vor allem an der ständig wachsenden Einfachheit und Verständlichkeit unserer Musik der Jazz einen wesentlichen Anteil hatte.“48 Im Laufe der Zeit verfremdete Weill aber seinen „einfachen“, bzw. verständlichen Stil zunehmend durch den Gebrauch von hinzugefügten Sekunden als ‚störendes’ bzw. „anreicherndes“ Element im Dreiklang. Nach dem Bericht von Weills Ehefrau Lotte Lenya erfolgte die gemeinsame Arbeit zwischen Weill und Brecht folgendermaßen: „*...+ Manchmal nahm Brecht seine Gitarre zur Hand und schlug ein paar Saiten an, um Kurt eine Vorstellung von seiner Auffassung zu geben. Weill notierte sich diese Einfälle mit seinem kleinen, ernsthaften Lächeln. Er sagte nie nein dazu; immer versprach er, er wolle versuchen, die Anregungen Brechts zu verarbeiten, wenn er zu Hause ans Komponieren ginge.“49 48 Weill, Kurt: „Ausgewählte Schriften“, David Drew (Hrsg.), Frankfurt am Main 1975, S. 197; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 140. 49 Lenya-Weill, Lotte: “Das waren Zeiten!”, in: Bertolt Brechts Dreigroschenbuch, Frankfurt 1960, S. 222. 32 Wie Brecht so hatte auch Weill Ambitionen in Hinblick auf theatralische Gattungen, speziell auf die Oper. Hierbei traf Weill (gleich Brecht) auf das Musikdrama Richard Wagners, das er als „einschläfernd oder berauschend *...+ wie Alkohol oder andere Rauschgifte“ bezeichnete. Dieser Vergleich klingt sehr ähnlich wie Brechts Beschreibung der damaligen Konzertsituation: „Ein einziger Blick auf die Zuhörer der Konzerte zeigt, wie unmöglich es ist, eine Musik, die solche Wirkung hervorbringt, für politische und philosophische Zwecke zu verwenden. Wir sehen ganze Reihen in einen eigentümlichen Rauschzustand versetzt, völlig passiver, in sich versunkener, allem Anschein nach schwer vergifteter Menschen. Der stiere glotzende Blick zeigt, dass diese Menschen ihren unkontrollierten Gefühlsbewegungen willenlos und hilflos preisgegeben sind *...+.“50 Weill schwebte eine theatralische Musikform vor, bei dem die Sprache einfach sein sollte, dass man auch mitsingen konnte, es sollte zeigen „was der Mensch tut“ und forderte hieraus einen „gestischen Charakter“. Diese Ansätze entsprechen Brechts Entwurf für ein episches (Musik-) Theater im Gegensatz zur dramatischen Form des Theaters. Wie Brecht stellte auch Weill diesen neuen Ansatz, der dem damaligen Zeitgeist nachkam als völligen Kontrast zu Wagner dar. „*...+ Diese Art Musik ist die konsequenteste Reaktion auf Wagner. Sie bedeutet die vollständige Zerstörung des Begriffs Musikdrama.“51 Und Brecht schrieb dementsprechend über die damalige unbefriedigende Theatersituation: „Man würde es *das Theater+ schon ungerecht beurteilen, wenn man etwas unterstellte, dass es mit geistigen Dingen, also mit Kunst, irgend etwas zu tun haben wollte.“52 Brecht und Weills Ansichten reihten sich in die Kreuzfeuerkritik an der Oper im 20. Jahrhundert ein. Zwar gab es bereits avantgardistische Versuche zu einer Abkehr von der Gefühlsnostalgie durch Igor Stravinskys „Geschichte vom Soldaten“ und Alban Bergs „Woyzzek“, aber ein allgemeiner Erneuerungsprozess hin zu einer musikalischen Sachlichkeit konnte nicht erreicht werden. Obwohl beide gemeinsam aus ihren Ideen eine Konzeption für ein neues Musiktheater entwarfen, bezeichnete Weill Brecht als den Urheber des epischen Gattungsprinzips. Ihrer Entwicklung eines neuen Musiktheaters lagen folgende Änderungsabsichten zu Grunde: - Die Stimme des Sängers sollte nicht mehr in der allgemeinen (orchestralen) Akustik untergehen, sondern das Singen und Sprechen wurde zum Maß der Musik erhoben. - Der Text orientierte sich nun an der Sprache und sollte gut artikuliert werden, um fehlerhafte Textbehandlungen zu vermeiden. - Es wurde ein gestischer Vortrag gefordert, der eine Verknüpfung zwischen Stimme und Körper herstellen sollte. Weill bezeichnete diese neuartige Bewegungsessenz, die einen Revue-Anklang mit sich zieht, als „aufreizend“, eine Bezeichnung, die bislang nicht für die ernste Musik verwendet wurde. 50 Brecht, Bertolt: „Über die Verwendung von Musik für ein episches Theater“, in: B. Brecht, GW, Bd.15, S. 480. 51 Weill, Kurt: „Musik und Theater. Gesammelte Schriften“, Stephen Hinton und Jürgen Schebera (Hrsg.), Berlin 1990, S. 302; zitiert nach: H.-C. von Herrmann, Maschinen, S. 121. 52 Brecht, Bertolt: „Theatersituation 1917-1927“, in: B. Brecht, Berlin, S. 93. 33 - Das Orchester sollte nicht mehr ‚versenkt’, sondern sichtbar auf der Bühne positioniert werden und zudem auf maximal dreißig Spezialisten verkleinert werden. - Als musikalisches Experiment aufgrund des Gebrauchscharakters wurde die Musik in Distanz zur bürgerlichen Konzertradition gesehen. Musik sollte vorsichtig, gezielt zum Aufrütteln eingesetzt werden und nicht als Rauschmittel. Dazu seien klare, evt. kleinere, überschaubare Formen nötig. - Der kurze und prägnanten Songstil tritt der unendlichen Melodie Richard Wagners gegenüber. Es wird sparsamer instrumentiert im Vergleich zur „Materialschlacht“ in den Werken von Mahler, Strauss und Wagner. Die Opernform wird zu einem Songspiel und zu einer Oper für die kleinen Leute (Die Dreigroschenoper: eine Oper für Bettler) verkleinert. - Neue Leichtigkeit entsteht auch durch klare, eindeutige Harmonien, die eine Rückkehr zu klassischen Vorbildern ermöglichen. Leichtigkeit bezieht sich hier nicht auf eine intellektuelle Aussage, sondern auf die Verständlichkeit. Der Erfolg der Lieder Weills beruht auf seiner Kombination von trivialer Schlagerharmonik mit pulsierenden Jazzrhythmen, die mit „Gewalt“ dem Hörer Text und Melodie eintreiben. Diese Kombination, in Bezug auf einen hinterfragenden Text betrachtet, lässt die Grenze zwischen U- und E-Musik schwinden. Die Musik soll sich nun nicht mehr selbst darstellen, sondern gesellschaftliche Handhabungen kritisch aufwerfen. Die „Aufwertung“ des Textes und die daraus folgende „Abwertung“ der Musik führten auch bei Brecht und Weill zwangsläufig zur historischen Streitfrage: Wessen Kunst ist die Wichtigere? Brecht ordnete eindeutig die Musik eines Bühnenstücks dem Text unter, da die textliche Mitteilung ihm am wichtigsten war. In Sachen Reihenfolge der Autorschaft, in Bezug auf die gemeinsamen Opern, war für Brecht entscheidend, wer die Konzeption entworfen hatte. Da dies im Falle von Mahagonny er selbst war, müsste die Titulierung nach seiner Vorstellung heißen: „Oper von Brecht mit Musik von Weill“. Weill bestand aber darauf, dass wie üblich bei einer musikalischen Gattung, wie der der Oper, der Musikkomponist bedeutender sei und als erstes genannt werden müsse: „Oper von Weill nach Worten von Brecht“. Die Beziehung der beiden wurde darüber immer angespannter und eskalierte während der Proben zur Uraufführung der Mahagonny-Oper 1931. In Augenzeugenberichten heißt es: „Während wir Mahagonny probierten, stritt brecht für die Priorität des Wortes, Weill für die der Musik. Anwälte kamen ins Theater, sie drohten mit einstweiligen Verfügungen. Brecht schlug einem Pressefotographen die Kamera aus der Hand, er hatte ihn zusammen mit Weill aufgenommen. ‚Den falschen Richard Strauß werfe ich in voller Kriegsbemalung die Treppe hinunter!’ schrie Brecht hinter Weill her.“53 Kurz Zeit später kam es dann auch zum endgültigen Bruch zwischen den beiden gerade aufgrund dieser Streitfrage. 53 Aufricht, Ernst Josepf: „Erzähle, damit Du Dein Recht aufweist“, Berlin 1966, S. 126; zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 57. 34 Stilmittel, Theorien, Analysen Die Parodie Als Auflehnung gegenüber der propagierenden Musikhandhabung und einem emotionalisierten Konzertwesen setzte Brecht diesen nicht eine neue Stilrichtung entgegen, sondern bearbeitete die bereits vorhandene Musikliteratur zu seinen Zwecken. Brecht griff auf fremde und eigene Melodien zurück und überarbeitete diese gemäß der Umsingepraxis unter den textlich-musikalischen Gesichtspunkten: Neufassung, Ergänzung, Präzisierung. Diese Form der musikalischen Parodie durchzog Brechts kompositorisches Werk. Er verarbeitete dabei verschiedene, historisch bereits erprobte Formen der von Parodie: - Verspottung und Nachahmung eines bekannten Gegenstandes Form und Charakteristika bleiben gleich, erhalten aber einen nicht dazu passenden Inhalt - Umgestaltung der musikalischen Form für neuen Zweck Instrumentale Umsetzung an das aktuelle Klangideal anpassen (Methode aus Barock und Klassik) - Karikierende, satirische, ironische Nachahmung bestimmter musikalischer Gattungen, z.B. die Opernparodien im 18./19. Jahrhundert Anfangs übernahm Brecht vermutlich fremde Melodien, z.B. die bekannte französische Ballade „L’Etendard de la Pitie“ in „Ballade von den Seeräubern“, um seinen Liedern einen Bekanntheitsgrad mitzugeben und um seine Anlehnung an seine Vorbilder, z.B. Textpassagen von F. Villon in „Die Dreigroschenoper“, zu zeigen. Er konnte somit auch Kontraste setzen, indem er „Volkslieder“ mit einem niveauvolleren Text und Inhalt versah; z.B. die Anlehnung an die populäre Schnulze „Gebet einer Jungfrau“, die innerhalb der intellektvollen Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ erklingt. Dieses Prinzip wendete er aber auch umgekehrt an und versah intellektuelle Musikstücke mit einem trivialen Text und Inhalt; z.B. zitiert er im „Benares-Song“ Puccinis Belcanto-Stil aus dessen Oper „Madame Butterfly“. Brecht ging sehr locker mit dem textlichen und musikalischen „Eigentum“ andere Künstler um. So schrieb Lotte Lenya über Brechts musikalische „Kleptomanie“: „Dass Brecht es nicht so genau nimmt mit dem geistigen Eigentum, dass weiß doch jedes Kind. Natürlich klaut er- aber er klaut mit Genie, und darauf kommt es an.“54 Zunehmend wurden die melodischen Anklänge in Bezug auf Originaltext, Harmonie und musikalischen Kontext in der Weise verwendet, dass sie zur typischen Denunzierung eines Gegenstandes führten. Diese wurde charakteristisch für Brecht mit der er nachhaltig die nachfolgenden Künstlergenerationen beeinflusste. Hier nun einige Beispiele von Brechts parodistischem Schaffen: 54 Lenya, Lotte: „Das waren Zeiten!“, in: Bertolt Brechts Dreigroschenbuch. Texte, Materialien, Dokumente, Siegfried Unseld (Hrsg.), Frankfurt am Main 1960, S. 220f.; zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 41. 35 Baal (1918) Als Wagner-Parodie verwendet Brecht das „Tristan-Motiv“ an der Stelle im Stück, an der der betrunkene Baal sich auf die Suche nach seinem nächsten weiblichen Opfer macht. Brecht nimmt dieses „heilige“ Motiv, setzt es in einen von niederen Trieben gesteuerten Kontext und macht es damit lächerlich. Trommeln in der Nacht (1919) Brecht verwendet die Internationale und das Ave Maria von Bach/Gounod für seine Musik. Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1929) Im Rahmen seiner Amerikabegeisterung, speziell für den Jazz und den amerikanischen Schlager, wird Brecht wohl auch mit dem „old standard song“ – „There is a Tavern in the Town“ in Berührung gekommen sein. Im „Benares Song“ präzisiert Brecht die Textaussage in Anlehnung an den „popular song“ zu: „There is no whiskey in the town / There is no bar to sit us down“. Im Refrain dieses Songs zitiert Brecht Motive aus der „Un bel di“ Arie der Madame Butterfly aus der gleichnamigen Oper von Giacomo Puccini, eine Oper, die Brecht sehr gemocht hat. Beide Lieder weisen den fast exakt gleichen Rhythmus und das sequenzzierende Umspielungsmotiv auf: Benares Song, Refrain „Un bel di“ aus Madame Butterfly Der Prolog vom „Mahagonny Songspiel“, der auch in der Opernversion verwendet wurde, weißt nicht Parallelen zu Carl Maria von Webers Volkslied aus der Oper „Der Freischütz“ auf: Der Freischütz 36 Mahagonny Hitler-Choräle (1933) Die absolut makaberste Parodie schuf Brecht mit den Hitler-Chorälen. Brecht formulierte kirchliche Liedtexte, speziell alte, traditionelle Kernlieder des christlichen Glaubens wie „Nun danket alle Gott“ von Martin Rinckart (1636), „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“ von Joachim Neander (1680), und „Ein’ feste Burg ist unser Gott“ von Martin Luther (1529) „hitlergetreu“ um, so dass Form, Rhythmus, Metrik und Wortanklänge erhalten blieben. Die Krone setzte Brecht dem Ganzen dadurch auf, dass er diese Texte auch auf die originale geistliche Melodieweise singen ließ. Einen größeren Kontrast als „Nun danket alle Gott für Hitler“ zu schreiben und dann noch zu singen, kann kaum übertroffen werden. Als Beispiel: Das Original „Befiehl du deine Wege“ und die Brechtsche Fassung findet man unter: https://deutschunterlagen.files.wordpress.com/2014/12/brecht-parodien-wessel-gerhardt.pdf Lieder im Volkston Brechts gesellschaftliche Blickrichtung von unten her führte ihn schließlich zum Volkslied. Der Wandervogel hatte ihm gezeigt, dass eine solche Wiederbelebung des Volkslieds die Massen (speziell die Jugend) aus den Konzertsälen hinaus ins Freie locken kann. Es fand eine Aktivierung des Zuhörers statt, denn alle sangen mit. Brecht wollte ein aktives Musikhören mit der Möglichkeit zur Selbstbeteiligung. Darum standen bei ihm volksliedhafte Formen an erster Stelle. Die entscheidenden Charakteristika des Volksliedes waren für Brecht: - sozialer Kontext: Kultur (bzw. das Singen an sich) wird als Teil der Lebenspraxis angesehen und nicht durch eine Räumlichkeit vom Alltag distanziert. Dadurch erhält Musik verstärkt einen kommunikativen Charakter, denn jeder kann mitmachen. - Einfachheit: Volkslieder haben einen schlichten Aufbau hinsichtlich Form (z.B. Wiederholungen durch Refrains), Wortwahl (in Reimform), Melodie (auf der Grundlage von Tonleitern und Dreiklangsbrechungen), Rhythmus (relativ einfach, gleichmäßig ohne Synkopen), Harmonie (Dominante-Tonika) und Instrumentierung (Gitarre, Trompete, Trommel). - Einprägsamkeit: Die ‚einfache’ Struktur macht die Lieder sehr schnell eingängig und dadurch wiederholbar. Einprägsam werden die Lieder auch durch eine thematische Zuordnung wie Abzählreime und Tanzlieder für die Kinder, und Küchen-, Liebeslieder und Bänkelsang für die Erwachsenen. 37 - Gebrauchscharakter: Aus Einprägsamkeit ergibt sich die Möglichkeit zur (einfachen) Reproduktion des Gehörten und damit der Gebrauchswert. Nicht nur die Melodien können wiedergegeben werden, sondern dadurch, dass in vielen Haushalten eine Gitarre zur Hand war, die durch Gegenstände mit Schlagzeugfunktion und einer Art von „Tröte“ unterstützt werden konnte, ließen sich sogar Begleitformen reproduzieren und improvisieren. Diese Charakteristika legte Brecht seinen Liedern zugrunde. Allerdings lassen sich seine Lieder nicht als „Volkslieder“ bezeichnen, da er die klischeehafte Handhabe der Volkslieder, speziell die ‚Volkstümelei’ des Wandervogels, ablehnte. Zur Begründung gab er an: „Die modernen Lieder ‚im Volkston’ sind oft abschreckende Beispiele, schon ihrer künstlichen Einfachheit wegen. Wo das Volkslied etwas Kompliziertes einfach sagt, sagen die modernen Nachahmer etwas Einfaches oder Einfältiges einfach.“55 „Lieder im Volkston“ sollten seiner Meinung nach ihre Schlichtheit beibehalten, jedoch ohne kindlich-naiv zu sein. Bereits während seiner Schulzeit waren Brecht übersensible, verniedlichende Volkslieder zu wider. Als der Schulchor, in dem Brecht eine zeitlang mitgesungen hatte, die folgende Strophe: Soviel der Mai auch Blümlein beut Zu Trost und Augenweide, Ich weiß nur eins, das mich erfreut, Das Blümlein auf der Heide.56 singen sollte, beschwerte sich Brecht lautstark beim Chorleiter mit den Worten: „Was mutet er uns da zu!“57 Die Beschwerde brachte Brecht Ärger mit dem Musiklehrer und dem Rektor ein und hielt sich daraufhin vom Schulchor fern. Choräle bei Brecht „Wenn das Wetter schön war, saß er halsbrecherisch im Fenster mit der Gitarre, spielte und sang. Aber er rezitierte mehr [...]. Es ist eine Überbetonung des gesprochenen Wortes [...]. Es war so ähnlich 58 wie gregorianischer Choral.“ Brechts Vortragsweise führte bei vielen Zuhörern zu sakralen Assoziationen, speziell durch die Form des „Chorals“, die er häufig verwendete. Hier soll an ein paar ausgewählten Beispielen aus der „Dreigroschenoper“ und der Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ die Verwendung der Choralform bei Brecht gezeigt werden: 55 „Bertolt Brecht. Gesammelte Werke Bd. 19“, S. 505. Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 132; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 53. 57 Frisch, Werner; Obermeier, K.W.: „Brecht in Augsburg“, Frankfurt am Main 1976, S. 132; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 52. 58 Auskunft nach Friedrich Mayer, in: J. Lucchesi, R.K. Shull, Musik, S. 67. 56 38 Gegen Verführung (1918) Dieser Text (1926 ebenfalls in die Hauspostillen übernommen) trägt zwar nicht die Bezeichnung „Choral“, dennoch verweist er durch seinen ursprünglichen Titel „Luzifers Abendlied“ gerade durch die Opposition zum christlichen, „göttlichen“ Abendchoral auf diese sakrale Form. Schon allein die äußerliche, regelmäßige Strophenform erinnert an das Erscheinungsbild eines geistlichen Liedes. Darüber hinaus steht es als der moralische Appell am Ende der Hauspostillen. Das Gedicht „Gegen Verführung“ findet sich unter: http://www.deutschelyrik.de/index.php/gegen-verfuehrung.html 1929 wurde dieser Text von Weill für die Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ als Choral vertont. Die Melodie umfasst 10 Takte, bestehend aus zwei Viertaktern, denen der fünften Verszeile der Gedichtstrophen entsprechend, wieder eine Art Terminatio (zwei Takte) angehängt ist. Der „Choralgesang“ baut sich von Strophe zu Strophe dynamisch und harmonisch immer mehr auf; von piano zu fortissimo und vom einstimmigen Sologesang zum vierstimmigen homophonen Chorgesang. Die Choralmelodie wandert durch die Stimmen bzw. Stimmgruppen. Das Stück wird dadurch fast zu einer Choralvariation. Hierbei soll die Solostimme des „Jim“ immer führend sein, sie singt aber nicht immer die Melodie. Man könnte die einzelnen Variationen als unterschiedliche Choralbearbeitungen ansahen. Interessant ist auch die Position dieses Chorals im ganzen Stück: es ist die Exekutionsszene. In der Regieanweisung heißt es: „Er *Jim+ steht vor dem Galgen, und während man ihn für die Hinrichtung vorbereitet, singt er“. Morgenchoral des Peachum (1928) Das Stück ist eine musikalische wie wörtliche Übernahme aus der originalen „The Beggar’s Opera“. Weill zitiert Originalgetreu die Melodie von Johann Christoph Pepusch und Brecht greift John Gays Textinhalt auf und überträgt ihn in einen predigenden Choralkontext: Brecht verwendet für die deutsche Textfassung den christlichen Erweckungsruf, wie er in vielen Chorälen auftritt: „Wach auf, du Christenheit!“, in der Form von: „Wach auf du verroteter Christ!“. Der wachrüttelnde Aufruf ist christlichen Prinzipien entlehnt, wird aber durch den Aufruf zu sündigem Leben verkehrt. 39 Neben der kirchlichen Instrumentation mit Harmonium ist der Text das einzige, was die Bezeichnung „Choral“ in parodistischer Sicht rechtfertigt, denn die musikalische Form entspricht eher dem Lied. In einem Choral würde niemals für vier aufeinanderfolgende Textzeilen genau der gleiche Melodieverlauf verwendet werden. Darum taucht dieses Stück in der Originalen „Beggar’s Opera“ unter der Bezeichnung „Air“ auf. Schlusschoral in der Dreigroschenoper (1928) „Das hört sich ja an wie Bach“ beschwerten sich die Dreigroschenoper-Darsteller und forderten die Streichung des Schlusschorals am Ende der Oper. Brecht lehnte ab, und so blieb der kontrastreiche Schlusschoral59 bestehen. Video der „Dreigroschenoper“ (Original von 1930): https://www.youtube.com/watch?v=TF_jtz0kP9s Während der Chor unisono im Forte von der großen Kälte und Dunkelheit des aufkommenden irdischen Jammertals singt, streben die Melodie und der Orchestersatz immer mehr der himmlischen Erlösung entgegen. Der Text und die Melodie weisen sich durch die Struktur – jeder Vers entspricht fünf zweigliedrigen Takten – eindeutig als Choral aus. Eingeleitet wird diese große Schlussnummer entsprechend der Oratorientradition durch eine rezitativische Passage des Peachum. Der Anklang an Bach, den die Darsteller damals beanstandeten, ist begründet. Brechts Choral mit seiner triolischen Durchpulsung in den Begleitstimmen (Saxophone und Harmonium) entspricht der Anlage der Bachschen Choralbearbeitung von „Jesu bleibet meine Freude“: Hier erkling zur triolisch durchpulsten Überstimme über einem schreitenden Bass der eigentliche Choral. Um aber nicht Bach zu sehr zu zitieren, baute Weill absichtlich „falsche“ Töne ein, die zu exotischen Akkordverbindungen führen und sich somit von Bach distanzieren. 59 K. Weill, Dreigroschenoper, S. 130f. 40 Vom Bänkelsang zur „Moritat von Mackie Messer“ „Menschen, höret die Geschichte, Die erst kürzlich ist geschehn, Die ich treulich euch berichte, Laßt uns dran ein Beispiel nehm’.“60 So lautete der traditionelle Eröffnungsvers der Moritatensänger auf dem Augsburger Plärrer. Brecht hatte diese Bänkelsänger erlebt und der Bänkelsang wurde zu einer der wichtigsten Kunstformen seines musiktheatralischen Schaffens. Der Bänkelsang reicht mit seinem Ursprung als „Zeitungssingen“ bis ins Mittelalter zurück. Wie der Name schon sagt, hatten die „Zeitungslieder“ eine Zeitungsfunktion und dienten der Nachrichtenübermittlung. Aktuelle Ereignisse wurden in Reimform gebracht und in der Form von Liedern als wichtigstes Nachrichtenmedium für die analphabetisierte Bevölkerung zugänglich gemacht. Vorgetragen wurden diese neuesten Nachrichten auf den großen öffentlichen Plätzen der Städte, um sie einer möglichst großen Masse zugänglich zu machen. Mit der Zeit war auch der überwiegende Teil des einfachen Volks der Schriftsprache mächtig, denn die Zeitungslieder wurden nicht nur gesungen, sondern waren auch gedruckt zu erhalten. Und das Interesse an diesen Liedblättern, auch „Neue Zeitungen“ genannt, war groß. Die Autoren der Neuen Zeitungen entstammten den gebildeten Schichten und waren Geistliche, Lehrer und teilweise Studenten. Der Adressat ihrer moralisierenden Texte war das einfache Volk, das durch ihre didaktischen Kniffe belehrt und erzogen werden sollte. Zur Sprachgestaltung verwendeten sie dialogisch angelegte und äußerst bildhafte Schilderungen. Die darin beschriebenen und handelnden Figuren entstammten den niederen Bevölkerungsschichten, um das einfache Volk durch den Identifikationsmoment direkt erreichen zu können. Während Geistliche, Lehrer und Studenten den geistigen Kopf der Neuen Zeitungen bildeten, stellte der Verkäufer der Liedblätter, der „Zeitungssänger“ – ebenfalls eher aus einer niederen Schicht stammend – den musikalischer Künstler dar. Er versuchte durch seinen Gesang so viele Liedblätter wie möglich zu verkaufen, für die er, und nicht für den Gesang, bezahlt wurde. Mit Ausbau der Presse und des Buchdrucks ab Mitte des 15.Jahrhunderts verlor die „Neue Zeitung“ zunehmend an Bedeutung. Der musikalische Kaufruf wurde zur Nebensache und wich einem Unterhaltungscharakter. Weniger der aktuelle Informationsgehalt als das Erzählen von zeitlosen, grauenerregenden und sentimentalen Geschichten stand nun im Mittelpunkt. Zu dem weiterhin vorhandenen belehrenden Grundcharakter kam jetzt noch der Unterhaltungswert dazu, der vor allem durch die Ansprache von Gefühlen funktionierte. Auf der emotionalen und moralischen Schiene wurden traurige und schauerliche Schicksale, Wahnsinn und Mutterliebe, Naturund Schiffskatastrophen geschildert. Die Lieder, deren Texte in Form von Balladen verfasst wurden, hatten Titel wie: „Die schöne Förstertochter“, „Die Räuberbraut“, „Die grausame Mordtat des Heinrich Thiele und dessen Hinrichtung“. Um diesen theatralischen Erzählungen einen schaustellerischen Charakter zu geben, entwickelte sich eine Vortragsweise, die stark auf gestische und mimische Effekte zurückgriff. Diese Form der zur Schau stellenden Musik mit ihrem Volksballadencharakter wurde zum Gegenpol einer bürgerweltlichen Hausmusiktradition und von den gebildeten Ständen fast schon verachtet. Um 1700 erfolgt die Umbenennung in Bänkelsang, in Anlehnung an das „Bänkel“ (=Hocker), auf dem der „Bänkelsänger“ die Balladen vortrug. 60 Vgl. A. Dümling, Gegen Verführung, S. 65. 41 Der Bänkelsang, „die Musik für’s Volk“, erhielt durch (Jahr-)Märkte und Volksfeste ihre Massenzugänglichkeit. Auf dem Plärrer ist der Bänkelsang mit seiner historisch getreuen Darstellung eine Attraktion. Die Bänkelsänger treten mit folgenden Requisiten auf: - Einem Bänkchen, das „Bänkel“, auf dem sie stehen, um den Überblick über die Zuhörer und -schauer zu haben und damit sie von allen gesehen werden können. - Einem Rohrstock, mit dem der Sänger auf aufgehängte Leinwandbilder zeigt, um zu verdeutlichen, welches Bild gerade zur gesungenen Passage passt. - Große Schilder bzw. farbige Bilddarstellungen, die die Geschichten illustrieren sollen. Später wurden sie zu bewegten Bildern. Zum Teil blieben Brecht diese bildlichen Darstellungen sehr detailgetreu im Gedächtnis. Er berichtete von Bildern zu juristischen, historischen, mythischen und militärischen Geschichten: „Ich besuchte häufig den alljährlichen Herbstplärrer, einen Schaubudenjahrmarkt auf dem ‚kleinen Exerzierplatz’ mit der Musik vieler Karusselle und Panoramen, die krude Bilder zeigten wie ‚Die Erschießung des Anarchisten Ferrer zu Madrid’ oder ‚Nero betrachtet den Brand Roms’ oder ‚Die bayrischen Löwen erstürmen die Düppeler Schanze’ oder ‚Flucht Karls des Kühnen nach der Schlacht bei Murten’. Ich erinnere mich an das Pferd Karls des Kühnen. Es hatte enorme, erschrockene Augen, als fühle es die Schrecken der historischen Situation.“61 Nebenstehende Zeitschriftenillustration von 1892 zeigt einen Bänkelsänger mit seinen Schaubildern, dem Stock und einem Bänkchen oder Ähnlichem, das sich durch seine erhöhte Position erahnen lässt. Sein Gesang wird durch eine Drehleier, die die Frau neben ihm spielt, unterstützt. Brecht griff in seinen Werken immer wieder auf solche Darstellungsformen zurück. Ganz explizit tat er dies in der Dreigroschenoper. Die Hintergrundkulisse bildete der belebte Jahrmarkt von Soho. Die Partitur sieht vor: Ein Ausrufer singt eine Moritat zu einer „In der Art eines Leierkastens“ gehandhabten Harmonium-Begleitung. Bis zum 19. Jahrhundert waren auch Harfe, Fidel und Gitarre beliebte Begleitinstrumente, bis sie von der Drehorgel, auch dem Zwecke angepasst „Singorgel“62 genannt, immer mehr verdrängt wurden. Meist abschätzig wird die Drehorgel daher auch als „Bettlerinstrument“ bezeichnet. 61 62 Brecht, Bertolt: „Bei Durchsicht meiner ersten Stücke“, Stücke I; zitiert nach: M. Esslin:, Brecht, S. 15f. Vgl. A. Dümling, Gegen Verführung, S. 67. 42 François Villon (1431-?) Als Begründer einer neuen Balladenform, die schonungslos verachtend, spöttisch, moralisierend und mit tiefer Empfindsamkeit ihre Umwelt bloßstellte, galt François Villon. François war ein gebildeter Mann, denn es war ihm vergönnt, an der Sorbonne in Paris zu studieren. Auf die schiefe Bahn geriet er, als er 1455 im Streit einen Priester erschlug. Sein Leben verlief nun wie im Abenteuerfilm. Er musste mehrfach fliehen, wurde hin und wieder verhaftet, schloss sich schließlich einer Räuberbande an, wurde zum Tode verurteilt, begnadigt und letztendlich verbannt. Danach verlief sich seine Spur ab 1463. Doch mehr noch als der Ruf des Mörders und Straßenbanditen war Villon für seine Balladendichtungen, die zum Kern französischer Lyrik des Mittelalters zählen, bekannt. Das revolutionäre Neue an seiner Dichtung war die emotionale Komponente, mit der er Gefühle persönlich und so intensiv wie kaum ein Dichter vor ihm darstellte. Die Ballade wurde zu seiner bevorzugten Form. Zusätzlich zur Emotionalität der Texte kam aber auch noch ein kritischer Unterton in Form von Ironie dazu. Villon denunzierte schließlich die Gesellschaft, indem er eine grobe, derbe Umgangssprache für seine Lyrik verwendete. Manche Balladen waren sogar in einer Art „Gaunersprache“ verfasst, die nur für Eingeweihte verständlich war. Seine Gedichte und Balladen standen dadurch in Kontrast zur damaligen gehobenen Hoflyrik. Villons literarisches Werk hatte Brecht vermutlich auch wegen dessen Reflexionen über Leben und Tod in testamentarischer Gestalt „Le petit testament“ (1456) und „Le grand testament“ (1461) interessiert, da Brecht selbst häufig christliche Textformen für seine Gedichte verwendete; z.B. Brechts Einakter „Die Bibel“ im Vergleich zu Villons Testamenttexten. Frank Wedekind (1864-1918) Frank Wedekind war es, der die alte Form des Bänkelsangs durch seine Neugestaltung auf die Bühne brachte. Wie Brecht so studierte auch Frank Wedekind in München und war ein fleißiger Opern- und Kunstbesucher. Jedoch missfiel ihm zunehmend die Künstlichkeit einer bürgerlichen Musikkultur, die sich gern mit Traditionswerken aus Klassik und Romantik überfluten ließ. Nach Wedekinds Ansicht sollte man der Musik empfindsam gegenübertreten und sich um ein besseres Musikverständnis bemühen. Auf eine Überflutung des anspruchsvollen musikausübenden Marktes durch bürgerlichen Dilettantismus weist Wedekind im Vorwort seines Stücks „Musik“ (1907), das er ein ‚Sittengemälde’ nannte, mit scharfer Kritik hin: 43 „Die Tendenz, die dem Sittengemälde zugrunde liegt, ist die Bekämpfung des mit jedem Jahr unheilvoller um sich greifenden Musikstudiums. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass es unter 100 Musikschülerinnen höchstens nur einer einzigen vergönnt ist, ihrer Kunst einen nennenswerten Dienst zu leisten, dass aber durch jede dieser Musikschülerinnen mindestens 100 geistige Arbeiter in ihrer Denktätigkeit gestört und durch nutzloses Klaviergeklimper manchmal der Verzweiflung nahegebracht werden, dass also auf jeden Menschen, der in der Musik Erfolg erntet, 10 000 Opfer fallen, denen das Denken eigener Gedanken rücksichtslos vernichtet wurde, dann wird man das Wedekindsche Buch unbedingt als eine ebenso mutige wie verdienstvolle Tat begrüßen müssen.“63 Aus Wedekinds Ablehnung gegen berauschende Musik entstammte auch die Antipathie gegenüber Ludwig van Beethoven und Richard Wagner. Wedekind, damaliger Dramaturg am Münchner Schauspielhaus, hatte gerade wegen Majestätsbeleidigung neun Monate hinter Gittern gesessen, als er ab 1901 einer der elf Scharfrichter an Deutschlands zweitberühmtester Kabarett- und Kleinkunstbühne in München wurde. Er spielte und sang eigene Balladen und Bänkellieder und begleitete sich dazu mit Laute und Gitarre. Die Kleinkunstbühne bot für Wedekind den idealen Platz, im Gegensatz zum steifen Konzertsaal, um seinen Liedern ein entsprechendes gestisches, mimisches und atmosphärisches Flair zu geben. Die Scharfrichter parodierten nicht nur Weltbilder, indem sie zum Beispiel ihre Aufführungen als „Exekutionen“ betitelten, sondern auch die aktuelle Musikhandhabung, zum Beispiel in Form von „Überouvertüren“, die vor allem auf Richard Wagner anspielten. Während die Meinungen über Wedekind als Schauspieler auseinander gingen, wurde er als Bänkelsänger gefeiert. Er entwickelte eine neue Form der Einfachheit, indem er äußerst schlicht mit Tonart, Takt, Harmonik, Rhythmus und Melodie umging. Doch wie kam eigentlich Brecht mit Wedekind und dessen Werken in Berührung? Obwohl die literarische Lektüre im Augsburger Hause Brecht nicht sehr gepflegt wurde, mit Ausnahme der Mutter, die Gedichte sammelte, unterstützten die Eltern den Lesehunger des jungen (damals noch) Berthold mit Büchergeschenken. 1914 schenkte ihm der Vater in diesem Zusammenhang eine Gesamtausgabe der Werke Frank Wedekinds. Die Freunde berichteten von Brechts eifrigem Studium dieser Lektüre. Oft spielte er mit ihnen die Wedekindstücke mit dem Puppentheater nach. Und in Bezug auf die nächtlichen Streifzüge der „Brecht-Clique“ erinnerte sich Otto Münsterer, dass beide Brüder, Walter und Bert, manchmal gemeinsam Wedekindlieder mit eigener Gitarrenbegleitung vortrugen. Der direkte Kontakt zwischen Brecht und Wedekind kam durch das Studium an der Münchner Universität durch den Wedekindbiographen Prof. Kutscher zustande. Arthur Kutscher, Theaterprofessor und Wedekindspezialist, führte Brecht zunächst mit seinen theatergeschichtlichen Vorlesungen in die Münchner Literatenkreise, Theater-, Kabarettund Filmszene ein. Dann ermöglichte er ihm auch, Wedekind als Vortragskünstler in der Rolle seiner Dramenfigur „Marquis von Keith“, live zu erleben. Brecht beschrieb diese Begegnung mit dem Anti-Helden (Antiintellektualität hin zum Animalischen) Wedekind und dessen enormer Bühnenwirkung sehr emotional und tiefgreifend: „Er füllte alle Winkel mit sich aus. Er stand da, hässlich, brutal, gefährlich, mit kurzgeschorenen roten Haaren, die Hände in den Hosentaschen, und man fühlte: den bringt kein Teufel weg.“64 63 Wedekind, Frank: „Die Musik“, in: Werke in drei Bänden, Manfred Hahn (Hrsg.), Berlin und Weimar 1969, Bd.2, S. 752; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 69. 64 Brecht, Bertolt: „Frank Wedekind“, in: B. Brecht, GW, Bd.15, S. 3. 44 Beeindruckt von diesem Manne besuchte Brecht so oft es ging Auftritte von Wedekind. Das Markante an diesem Mann war seine Stimme und seine „faunsartige“ Erscheinung. Vor allem die Stimme war es, die durch ihre ‚Ungeschultheit’ und den ungeschönten Klang, wie einer aus dem Volk eben, bestach. Auch das Gitarrespiel diente mehr der harmonischen und melodischen Unterstützung eines Sprechgesangs als einem konzertanten Beitrag. Vielmehr spielte die Art des Vortrags (mimisch, gestisch) die bedeutendere Rolle. „*...+ niemand vergaß je wieder diese metallene, harte, trockene Stimme, dieses eherne Faunsgesicht mit den ‚schwermütigen Eulenaugen’ in den starren Zügen. Er sang vor einigen Wochen in der Bonbonnière zur Gitarre seine Lieder mit spröder Stimme, etwas monoton und sehr ungeschult. Nie hat mich ein Sänger so begeistert und erschüttert. Es war die enorme Lebendigkeit dieses Menschen, die Energie, die ihn befähigte, von Gelächter und Hohn überschüttet, sein ehernes Hoheslied auf die Menschlichkeit zu schaffen, die ihm auch diesen persönlichen Zauber verlieh.“65 „Da kam also dieser junge, korrekte Mann, immer im kurzen schwarzen Rock und Zylinderhut, sah aus wie ein Diplomat und sprach wie ein Zirkusdirektor. [...] Wenn man ihn in Schwarz und Weiß, in Lackstifletten und Chapeau claque dahin wandern sah, wusste man nie, geht er nun zur Beerdigung oder in den Ballsaal.“66 Brecht entsprach zwar mit seiner dunklen Lederjacke, der Schiebermütze und einer Zigarre in der Hand nicht dem übereleganten Stil Wedekinds, war aber wie er auf seine Art äußerst markant und evt. auch anstößig gekleidet. Das besondere an Wedekinds künstlerischer Arbeit war, dass er selbst Dichter, Komponist und Interpret in einer Person war, was wiederum eine Parallele zum dichtenden Moritatensänger Brecht ist. Als Brecht an einem Samstag Abend, genauer am 9. März 1918, mit seinen Freunden singend – darunter auch Lieder von Wedekind – den Lech bei Augsburg entlang zog ahnte niemand, dass sein Idol, Fran Wedekind, zur selben Zeit gestorben war. Brecht erfuhr es am nächsten Tag aus der Zeitung und war fassungslos. „Am Samstag durch die sternbesäte Nacht den Lech hinunterschwärmend, sangen wir zufällig seine Lieder zur Gitarre, das an Franziska, das vom blinden Knaben, ein Tanzlied. Und, schon sehr spät, am Wehr sitzend, die Schuhe fast im Wasser, das von des Glückes Launen. Sonntag morgen lasen wir erschüttert, dass Frank Wedekind am Samstag gestorben sei. [...] Zum letztenmal sah und hörte ich ihn vor sechs Wochen bei der Abschiedsfeier des Kutscher-Seminars. Er schien völlig gesund, sprach angeregt und sang auf unseren Zuruf drei seiner schönsten Lieder zur Laute, ziemlich spät nach Mitternacht. Bevor ich nicht gesehen habe, wie man ihn begräbt, kann ich seinen Tod nicht erfassen. Sein größtes Werk war seine Persönlichkeit.“67 Am darauffolgenden Abend veranstalteten die Freunde unter Brechts Regie eine Trauerfeier für die „große Erzieherpersönlichkeit“ Frank Wedekind, wie Brecht ihn ansah. „Das Lied vom Blinden Knabe“ wurde zum Requiemtext für den großen Bänkelsänger: „Wedekind hat keine großartigere Leichenfeier gehabt, als die, welche ihm Brecht bereitete, als er seinen Freunden auf die Kunde von des letzten Bänkelsängers Tod ein einsamer Nacht am Lech zur Gitarre das Lied vom ‚Blinden Knaben’ sang.“68 65 Brecht, Bertolt: „Frank Wedekind“, in: B. Brecht, GW, Bd.15, S. 3f. Kiaulehn, Walther: „Vorwort“, zu: F. Wedekind, Chansons, S. 6. 67 Brecht, Bertolt: „Frank Wedekind“, in: B. Brecht, GW, Bd.15, S. 3f. 68 Högel, Max: „Bertolt Brecht”, Augsburg 1962, S. 19; zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 3. 66 45 Bertolt Brecht als Bänkelsänger „Denn irgendwer sang. Irgendwer hatte die kleine, feuchte Zigarre weggelegt, hatte die auf seinen Schenkeln liegende Gitarre gegen seinen hohlen Bauch gedrückt, hatte mit einer krächzenden, konsonantischen Stimme zu intonieren begonnen. [...] Der war ein vierundzwanzigjähriger Mensch, dürr, trocken, ein stacheliges, fahles Gesicht mit stechenden Punktaugen, darüber kurzgeschnittenes, dunkles, struppiges Haar mit zwei Wirbeln, aus denen strähnige Halme protestierend aufstanden. [...] Eine billige Stahlbrille hing lose von den bemerkenswert feinen Ohren über die schmale, spitze Nase herab. Seltsam zart war der Mund, der das träumte, was sonst die Augen träumen.“69 Auch wenn diese Beschreibung erst in den Berliner Jahren entstand, so steht doch fest, dass Brecht, abgesehen von den Auswirkungen seiner nicht regelmäßig betriebenen Körperpflege, eine groteske Ausstrahlung hatte. Wenn nun dieser Mensch mit seiner auffallenden Erscheinung seine Vorträge gestisch und mit mimischem Ausdruck unterstützte, dann benötigte er als Bänkelsänger keine Schaubilder und Schautafeln mehr, denn er hatte für seinen darstellerischen Vortrag eine lebendige Naturkulisse (z.B. Liederabende am Lechufer). Von einem „Bänkel“ ist nicht die Rede. Brecht wird sich dennoch so positioniert haben, bzw. die anderen um sich herum, dass jeder einen Blick auf den musikalischen Balladendichter hatte und er sein Publikum direkt, von Aug zu Aug, ansprechen konnte. Was aber auf jeden Fall bei einem Bänkelsänger wie Brecht nicht fehlen durfte, war ein Musikinstrument. Auch Brecht hatte sein Instrument gefunden. Statt dem Standardinstrument der Bänkelsänger im 18.Jahrhundert und der heutigen Bänkelsänger auf den Jahrmärkten, nämlich der Drehorgel, griff Brecht (auch aus praktischen Gründen) auf das Modeinstrument seiner Zeit zurück: Die Gitarre. In manchen Beschreibungen wird Brechts Gitarre als Klampfe bezeichnet. Klampfe bedeutet, es handelt sich um eine sehr einfach verarbeitete Gitarre, denn das Wort galt und gilt als abwertende Bezeichnung. Hans Otto Münsterer berichtet explizit über den schlechten Zustand von Brechts Instruments: „Da singt Brecht zu seiner Klampfe, der sämtliche Saiten fehlen“70 Vermutlich ist die Aussage etwas überzogen, da sonst keine musikalische Handhabung mehr möglich wäre, oder Brecht begleitete sich bewusst mit Gitarrengeräuschen als mit Klang. Die Popularität verdankte die Gitarre dem Wandervogel, der selbst auf der Suche nach einem geeigneten Instrument für seine Schülerfahrten die Gitarre wählte. Für Musikbegleitung im Freien wurde ein Instrument benötigt, das transportabel war und mit dem man stützende Akkorde zur Melodielinie dazuspielen konnte. So wurde die Gitarre auch zu Brechts Erkennungsinstrument. Auf vielen Fotos ließ er sich mit diesem Instrument ablichten. Sie zeigen, dass Brecht selbst aus dem Gitarrespielen einen eigenen Stil entwickelt hatte. Anstatt der Norm entsprechend den Gitarrenhals nach oben zu halten, zeigt er bei ihm nach unten. 69 Bronnen, Arnolt: „Tage mit Bertolt Brecht. Geschichte einer unvollendeten Freundschaft“, Darmstadt 1976, S. 12; zitiert nach: J.Lucchesi, R.K. Shull, Musik, S. 12. 70 Vgl. Münsterer, Hans Otto: „Bert Brecht. Erinnerungen aus den Jahren 1917-22“, Zürich 1963, S. 112-113; zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 24. 46 Die Moritat vom Mackie Messer Eher notgedrungen entstand eines von Brechts bekanntesten und berühmtesten Bänkelliedern, „Die Moritat vom Mackie Messer“. Nachdem 1928 in nur wenigen Wochen „Die Dreigroschenoper“ fertiggestellt wurde, liefen die knapp bemessenen Endproben alles andere als zufriedenstellend ab. Sämtliche Schauspieler fielen wegen Krankheit oder Trauerfällen aus, manche weigerten sich, das ihrer Figur zugedachte, anrüchige Lied zu singen, und zuletzt forderte auch noch der ‚eitle’ Operettensänger Harald Paulsen, der als Mackie Messer unbedingt mit hellblauer Krawatte auftreten wollte, ein Eröffnungsstück für seine Person. Brecht stand also unter enormem Zeitdruck, d.h. er wird sich mit einer „lastminute-Komposition“, betreffend den Text und die musikalischen Anregungen für Kurt Weill, nicht auf literarisches Neuland begeben, sondern eher auf Formen zurückgreifen, die bereits unter Erfolg erprobt wurden. Für Harald Paulsen als Räuberhauptmann Macheath schien als Gattung der dem Bänkelsang entnommene Moritatenstil am besten geeignet. Auch passte dieser bestens in den sozialen Kontext der ‚Oper für Bettler’, die auf der Straße und nicht in der bürgerlichen Wohnstube spielt. Schon allein der Name „Mackie Messer“ ist durch seine Alliteration und den ‚blutrünstigen’ Anklang (durch das Messer) bestens für das Genre des Bänkelsanges geeignet. Durch das Hinzufügen der Bezeichnung Moritat zum Namen des Betreffenden wurde die Alliteration erweitert und zur einprägsamen Schlagzeile. Aufgrund solcher Hintergedanken mag Brecht schließlich zu folgendem Einfall gekommen sein: „Lassen wir ihn *Harald Paulsen+ so süßlich und charmant. Weill und ich führen ihn durch eine Moritat ein, die seine grausigen Schandtaten besingt, um so unheimlicher wirkt er mit seiner hellblauen Schleife.“71 Und so eröffnet nach der Ouvertüre ein Stück im Straßenmusikstil Die Dreigroschenoper. Brecht entwarf hierfür ein absolut traditionelles Bild des Bänkelsangs. Die Szenerie spielt auf dem Jahrmarkt von Soho, dem Treffpunkt für Handel, Arbeit und Soziales. Der Dreigroschenoper-Film, der sich sehr genau an die Inszenierung der Uraufführung hielt, zeigt Ernst Busch als Moritatensänger Mackie Messer auf dem Jahrmarkt von Soho: Video auf Youtube unter „Ernst Busch-Moritat“. Er steht zwar nicht auf einem „Bänkel“, aber dennoch erhöht; auf einer Art Mauer oder Hafenkante. Um seine nicht so edle Kleidung etwas aufzuwerten und um dem Akt einen formellen Rahmen zu geben, werten übergroßes Jackett und Zylinder seine Erscheinung auf. Er wirkt fast wie ein Zirkusdirektor, bzw. durch den Zeigestab beinahe als Dompteur (der Zuschauer). Neben dem Zeigestab hat er natürlich auch das andere wichtige Utensil des Bänkelsängers dabei, die Bildtafeln zur Veranschaulichung der geschichtlichen Ereignisse. Im Moment befindet er sich bei Bild Nummer fünf, das sich auf die Textstelle der fünften Liedstrophe (im Originaltext die achte Strophe) mit dem „großen Feuer in Soho“ bezieht. Leider ist der Bildausschnitt etwas zu schmal, daher sieht man den obligatorischen Drehorgelspieler nicht, der sich rechts neben dem Moritatensänger befindet. Da Bertolt Brecht immer eng mit seinen Komponisten zusammenarbeitete, z.B. ihnen musikalische Ideen vorspielte, ist anzunehmen, dass auch hier die musikalischen Grundideen nicht nur von Kurt Weill alleine stammen. 71 Vgl. K. Völker, Brecht, S. 142. 47 Instrumentiert ist die Moritat für Altsaxophon (alternierend Sopransaxophon), Tenorsaxophon, Trompete, Posaune, Schlagwerk, Banjo, Klavier und Harmonium. In diesem Lied wie auch in der ganzen Oper sorgt die Besetzung der Band für einen jazzigen Anklang, Banjo und Klavier sorgen neben der harmoniefüllenden Funktion in Anlehnung an den „privaten Charakter“ von Brechts Musik, sind Banjo und Klavier besetzt, und das Harmonium sorgt durch seine (Dreh-)Orgelaffinität für ein sakrales (Jahrmarkts-)Flair. In Bezug auf das Harmonium wird in der Partitur sogar angemerkt, dass es „In der Art eines Leierkastens“ gespielt bzw. klingen soll. Für die Uraufführung wurde zur musikalischen Begleitung speziell eine Walze bei dem Drehorgelbauer Giovanni Bacigalupo in Auftrag gegeben. Auf der Aufnahme, bei der Brecht selbst seine Mackie-Messer-Moritat ‚singt’ (um 1930 herum entstanden) ist vermutlich diese Walze zu hören, denn trotz der schlechten Aufnahmequalität kann man deutlich hören, dass es sich hierbei nicht um ein begleitendes Harmonium handelt. Folgende, aus dem Kaufgedanken des Bänkelsangs abgeleiteten Charakteristika der Musik, des Textes und des Vortrags finden sich in diesem Stück wieder: Um ein häusliches Nachsingen der Lieder zu ermöglichen, sollten sie einfach und einprägsam sein. In den ersten acht Takten beschränkt sich die Melodie auf wenige Töne von denen der immer wieder erreichte „Rezitationston“ a1 der Führende ist. Darunter spielt sich über dem Ostinato c-G das sehr konventionelle I-II7-V7-I ab (vgl. z.B. Präludium Nr. 1 aus dem Wohltemperierten Klavier von Johann Sebastian Bach). Durch diese Synthese von „alt“ und „neu“ wirkt dieses Stück eigenwillig und eindringlich. Ab Takt 9 entwickelt sich aus dem zuvor penetrant wiederholten Anfangsmotiv eine espressive Melodie, die sich dem Hörer schnell erschließt, vielleicht mit Ausnahme des Septsprunges in Takt 11 und 13, der das „Messer“ versinnbildlicht. Weill und Brecht schafften es, eine einprägsame Melodie ohne Leittöne zu entwerfen, die sogar völlig unabhängig vom Grundton des gänzlich diatonisch begleitenden harmonischen Modells ist. Auch textlich betrachtet weißt das Stück einfache Strukturierungselemente auf. Versweise betrachtet hat der Text im vierhebigen Jambus das Reimschema abcb, welches sich auf die Melodie zu 4+4+4+4 Takten überträgt. Wenn man das Stück großflächiger betrachtet, was auch dem Melodieverlauf mehr entspricht, so lassen sich zweimal acht Takte gruppieren, die sich textlich aufeinander reimen. Um das Lied nicht nur durch den Titel „Moritat“ und die einfache harmonische und melodische Struktur (die auch ein Volkslied sein könnte) als Bänkelsang auszuweisen, muss auf jeden Fall irgendeine Art Affinität zur monotonen, leiernden Drehorgelmusik hergestellt werden. Der Text kommt dem durch seine jambische „Leier“ schon einmal entgegen. Diese 48 Monotonie wird auf den Rhythmus der Moritat übertragen. Der Gesangspart des „Ausrufers“ hat im ganzen Stück stets den gleichen Rhythmus: Einzige Ausnahme sind die Überbindungen von T.9 auf 10 und von T.15 auf 16. Durch den Melodie- und damit auch Spannungsbogen in T.9-10 kann diese Rhythmische Variation (Haltebogen statt Pause) eventuell realisiert werden, während T.15-16 schon als Strophenende verklingt. Durch die langen Noten und die Pause am Versende entsteht eine Fermatenwirkung, die das Zeilenende hervorhebt. Jedoch wird durch die Auftaktigkeit, die sich aus der Hauptbetonung auf der zweiten Hebung der Verse ergibt, immer wieder Schwung geholt, wie beim Drehorgeldrehen, sodass die Melodie wie ein „perpetuum mobile“ unaufhaltsam weiter ertönt. Das Harmonium mit seiner Leierkastenfunktion unterstützt anfangs (T.1-16) den monotonen und daher äußerst einprägsamen Rhythmus. Der Bass (linke Hand des Klaviers) hält stets den Grundschlag des 2/2-Takts, während die Akkorde (rechte Hand) darüber in Vierteln pulsieren. Erst ab der dritten Strophe bringen wechselnde Instrumentation und rhythmische Variationen (z.B. Synkopen in der Klavierbegleitung) das Stück noch mehr in Fahrt. Jedoch bleibt stets ein Grundpuls, sei es in Halben oder Vierteln, gewahrt. Am Ende des Stücks wird die im Verlauf verdichtete Instrumentation wieder zurückgenommen, und das Lied läuft, auch durch die Textwiederholung am Ende, aus, als wenn man bei einer Drehorgel immer langsamer drehen würde. Schließlich bricht die Klavier- und Saxophonbegleitung ohne rit. und dim. einfach ab: Diese ‚einfache’ Handhabung von Text, Melodie, Harmonie und Rhythmus macht das Stück nicht nur gut geeignet für die an sich komplizierte, aufwändige Herstellung einer Walze, sondern hat ihm bis in die heutige Zeit den Status eines „Evergreen“ beschert. Wie beim Kanonensong kann dies Brecht alles andere als Recht sein, denn der ganze kritische 49 Textinhalt wird dadurch verkannt. Nach Brechts Vorstellung sollte eigentlich gerade anders herum eine schöne Melodie als Kontrast zum mörderischen Textinhalt diesen dadurch besonders betonen und Missstände entlarven. Auch der gestische Vortrag sollte nicht nur „Show“ sein, sondern den Text kritisch hinterfragen. Im Brecht-Liederbuch findet sich folgende Anmerkung, die diese Zwiespältigkeit zwischen Musikgehalt und Textinhalt beschreibt: „Hier wird mit Schmiß und Unschuldsmiene gesungen, zart, fast träumerisch, wo angebracht, und anderswo mit plärrender Aufgekratztheit, jedenfalls stets Gefühlen hingegeben, welche zugleich durch das Umfeld, in dem sie stehen, höchst fragwürdig erscheinen.“72 Dass Brecht und Weill in diesem Lied auf traditionelle Musikformen, sprich den Bänkelsang, zurückgriffen, ist unverkennbar. Aber dennoch gelang es ihnen, diese veraltete Form in Bezug auf das Musikleben ihrer Zeit zu aktualisieren. Der Jazz, der sich damals zunehmender Beliebtheit erfreute, hielt als Verfremdungseffekt Einzug in den Bänkelsang. Der Bänkelsang, als Gattung aus dem Volk stammend, wurde durch die moderne Musik des Volks (Musik der schwarzen amerikanischen Unterschicht) angereichert. Dies zeigt sich zum einen in der Instrumentation. Neben dem leiernden Drehorgelanklang brachte die Jazz-Band-Besetzung neue Klangfarben, z.B. das Banjo als neue Form der Gitarre, mit ins Spiel. Zum anderen wurde der monotone Rhythmus durch jazzige Variationen, vor allem durch Synkopen, etwas aufgelockert. Schon die Tempoangabe „Blues-Tempo“ weißt auf eine jazzige Verfremdung der traditionellen Moritat hin. Die Legende vom toten Soldaten Der Grund dafür, dass die „Hauspostillen“ beim Propyläen-Verlag (nicht bei Kiepenheuer) erschienen und dass Brecht 1935 ausgebürgert wurde, war „Die Legende vom toten Soldaten“. „Die Legende vom toten Soldaten“ findet sich auf Youtube: „ernst busch-legende vom toten soldaten“ Der ideologische Hintergrund zu dieser Ballade geht auf die Jahre vor 1916 zurück. Es war die Zeit, die sich mit Begeisterung der militärischen Propaganda widmete. Gehorsam, Aufopferung und Dienst für das Volk, vermittelt durch die Kunst (speziell die Musik), waren die zentralen Leitgedanken der Ideologie. Als Brecht hinter die Kulisse des Massengedankens, in dem das Individuum untergeht und die Kunst zweckentfremdend glorifiziert wird, sah, begann er bereits 1916 in seinem Schulaufsatz die Kunst als Mobilmachung gegen Untertanengeist einzusetzen. Diese Antikriegshaltung gipfelte 1918 in der Ballade vom toten Soldaten. Brecht sprach die im Verlaufe des menschenvernichtenden Weltkriegs aufgekommene Antikriegshaltung der Bevölkerung aus, indem er über das „Soldatenverheizen“ und die Pflichterfüllung bis zuletzt (und über den Tod hinaus) schrieb. Das einschneidende Erlebnis, das Brecht zu dieser Moritat veranlasste, war seine eigene Einberufung zum Militärdienst. Selbstironisch regelte Brecht noch seine „irdischen Angelegenheiten“, eher sich seinem „Todesurteil“, wie er selbst den Einberufungsbefehl 72 F. Hennenberg, Liederbuch, S. 386. 50 nannte, ergab. Vom 1.Oktober 1918 bis zum 9. Januar 1919 diente er nun im Augsburger Reservelazarett in der Seuchenabteilung für Geschlechtskrankheiten. Ironisch und makaber sagt Brecht später über seine Arbeit im Lazarett: „Ich wurde zum Kriegsdienst einberufen, und in ein Feldlazarett gesteckt. Ich legte Verbände an, bepinselte Wunden mit Jod, gab Klistiere, half bei Bluttransfusionen mit. Wenn der Herr Stabarzt kommandierte: ‚Amputieren Sie das Bein, Brecht!’ antwortete ich: ‚Zu Befehl, Herr Stabarzt!’ und schnitt das Bein ab. Wenn man mir sagte: ‚Machen Sie eine Trepanation!’, öffnete ich den Schädel eines Mannes und reparierte an seinem Gehirn herum. Ich sah, wie Menschen zusammengeflickt wurden, damit sie so rasch wie möglich an die Front zurücktransportiert werden konnten.“73 Genau diese Übertreibung als Kritik am Krieg bildet die Grundlage für „Die Legende vom toten Soldaten“, Brechts wirkungsvollstes Antikrieslied, das einen Monat nach dem Beginn seines Lazarettdienstes im November 1918 entstand. Die Instrumentalisierung der Medizin zu Gunsten des Krieges, die den kaputten Menschen wie eine (Kriegs-) Maschine wieder zusammenflickt und ihn abermals verheizt, führt die ganze Ideologie des Krieges vor. Brecht entlarvte somit den Traum vom Soldatentum als Betrug durch leere und falsche Versprechungen und durch Manipulation des Gemeinschaftsgedankens. Brecht wählte hier ganz bewusst die Form der Ballade für diesen lyrischen Text. Bereits in seinem Schullesebuch war der Ballade ein kämpferischer und tragischer Inhalt zugesprochen worden: „Die Ballade neigt nach ihrem Ursprung aus *...+ dem nachdenklichen, träumerischen, melancholischen Norden mehr dahin, ein Leiden dazustellen. Die Ballade [...] zeigt den Menschen im Kampf mit den Naturgewalten, die herzlos und gewalttätig ihm überlegen sind. [...] In der Ballade bildet das Ereignis in seiner erschütternden Tragik den Mittelpunkt und es kommt besonders darauf an, dies Ereignis zu vergegenwärtigen, die Szene möglichst nahe heranzurücken *...+ .“74 In einer neuen Wirklichkeit setzt Brecht hier den Menschen an die Stelle von „Naturgewalten“. Die Vermittlung der Szene geschieht bei Brecht durch den damals aktuellen Bezug zur Kriegssituation und die damit verbundene Verwendung von militärischem Fachvokabular, z.B. „k.v.“ für „kriegsverwendungsfähig“. Während es aber in der Balladendefinition heißt, der Mensch stehe in einem (ausweglosen) Kampf mit einem Gegenüber, so nimmt der Soldat bei Brecht eine passive Rolle ein, da er bereits tot und damit nicht handlungsfähig ist. Auch bildet die reine Pflichterfüllung der Befehle den Antrieb, denn der Soldat hat keinen eigenen Willen mehr. Die Ballade stellt dadurch einen Kontrast zur Heldenballade „Die Grenadiere“ (1822) von Heinrich Heine (1797-1856) dar. In Heines Ballade ist es der Soldat, der den Gedanken an eine „Auferstehung“ hegt und bereit ist, erneut in den Krieg zu ziehen. Während bei Heine die beiden Grenadiere begeistert in die Schlacht ziehen und in hymnischen Strophen ruhm- und ehrenvoll bis zum Tod für das Vaterland bzw. den Kaiser kämpfen wollen, beschreibt Brecht die alltägliche Banalität des Heldentods ohne jeglichen Gefühlstaumel. In Anlehnung an sein Vorbild Joseph Rydyard 73 Trejakow, Sergei: „Bert Brecht“, International Literature, Moskau 1937, o.S. ; zitiert nach: M. Esslin, Brecht, S. 21. 74 Rohse, „Der frühe Brecht und die Bibel“, (Gott, Bn.2), S. 259; zitiert nach: H.-H.Müller, T. Kindt, Lyrik, S. 103. 51 Kipling, der gerne seine Soldatenfiguren in einem aggressiven Ton und mit „Slang“ reden lässt, greift Brecht die Verwendung von Alltagssprache auf (z.B. „Schmeißt seine Beine vom Arsch“, Strophe 9). Auch bei Kipling gehen die Soldaten ihrer Pflichterfüllung bis zuletzt nach, und zwar mit einer mitreißenden Rhythmik, von der Brecht begeistert war. Der Rhythmus in Brechts Ballade ist freimetrisch, d.h. wie Heine bei den Grenadieren, legt er den Strophen keine einheitliche metrische Versstruktur zugrunde. Heines „Buch der Lieder“ (1927), welches die Ballade der Grenadiere enthält, war daher auch für die damalige Zeit revolutionär und bildete Höhenpunkt und Abschluss der Romantik in einem. Neben der aufgebrochenen Metrischen Struktur verwenden beide Dichter auch das volkstümliche Reimschema: a b a b: Bertolt Brecht Heinrich Heine Legende vom toten Soldaten Die Grenadiere ٧ ٧ / ٧ / / ٧ ٧ / Und als der Krieg im vierten Lenz ٧ ٧ ٧ ٧ / / ٧ ٧ ٧ / ٧٧ ٧ / / ٧ / ٧ / ٧ ٧ / ٧ / /٧ ٧ / ٧ ٧ / ٧ Die waren in Russland gefangen. ٧ / Da zog der Soldat seine Konsequenz ٧ ٧ Nach Frankreich zogen zwei Grenadier’, Keinen Ausblick auf Frieden bot ٧ / / / ٧ / ٧ ٧ / ٧ ٧ / Und als sie kamen ins deutsche Quartier, / ٧ / ٧ Und starb den Heldentod. / ٧ ٧ / ٧ / ٧ Sie ließen die Köpfe hangen. Aufgrund dieser freirhythmischen Versstruktur (mit ihrem Sprachanklang) wählte bereits Robert Schumann für seine Vertonung von Heines Grenadieren neben einer auf- und absteigenden Dreiklangsmelodie eine verstärkt rezitativische Vortragsweise: Brecht beginnt auftaktig wie Schumann, schreibt aber ein Marschmetrum im 6/8-Takt vor, was das strenge metrische Marschieren (vgl. Schumanns 4/4-Takt) leicht „tänzeln“ lässt. Dadurch, dass die unterschiedliche Metrische Strukturierung (bei Brecht und Heine) in jeder Strophe ihre Zusammensetzung und Abfolge ändert, ergibt sich daraus, dass jede Strophe in 52 Bezug auf den Notentext rhythmisch variiert bzw. angepasst werden muss. Während die erste Strophe bei Brecht folgende Gestalt hat: müsste der Rhythmus und die Melodie bei ihm auf die zweite Strophe übertragen bereits wie folgt aussehen: ٧ / ٧ / ٧ ٧ / / ٧ / ٧ ٧ ٧ / / Der Krieg war aber noch nicht gar Drum tat es dem Kaiser leid ٧ ٧ / ٧ / ٧ / ٧ / Dass sein Soldat gestorben war: / ٧ ٧ / ٧ / Es schien ihm noch vor der Zeit. Und auch bei Schumann finden sich diese rhythmischen Abweichungen: In Brechts Gedicht spielt die Musik (die auf ihren Erbauungscharakter beschränkt ist) selbst eine wichtige Rolle im Text. In der neunten Strophe ist von einem flotten Marsch die Rede, dessen rhythmisch und metrischer Anklang in Brechts Vertonung zu spüren ist. In den Strophen 13, 16 und 17 wir die militärische Musikparade unter der Bezeichnung „Tschindrara“ zusammengefasst. Brecht komponierte eine Melodie, die melodisch einfach ist: der Tonumfang beschränkt sich auf den Quintraum d-a in der bequemen Mittellage, und die formale Anlage besteht aus zweimal vier Takten, die beinahe identisch sind. Alle 19 Strophen werden auf diese Melodie, die in sich schon eine Wiederholung darstellt, gesungen, so dass wieder der Anklang zum gleichförmigen Leiern des Moritatenstils zum Vorschein kommt. Verstärkt wird dieses Gefühl einer „Never-ending-Melody“ dadurch, dass die Strophe mit einem Quintabsatz bzw. Halbschluss endet. Daraus ergibt sich zwangsläufig ein unaufhörliches Weitermarschieren der Musik und des Soldaten. Selbst beim endgültigen Schluss des Liedes ist kein Ganzschluss 53 vorgesehen. Die Musik ist hier nur Mittel zum Texttransport und stellt wie beim Bänkelsang durch die Strophenreihung Bild an Bild. Als Brecht dieses Lied in sein Drama Trommeln in der Nacht einarbeitete, erschien es, dem Charakter entsprechend, unter dem Titel „Moritat vom toten Soldaten“ und wurde von der Figur des Gastwirtes zur Klampfe singend vorgetragen. Um die militärische Affinität des Liedes zusätzlich zur marschartigen Pulsierung des 6/8-Takts noch zu verstärken, verwendet Brecht auftaktige 16tel Paare als eine Art Fanfarenanklang. „Die Legende vom toten Soldaten“ wurde für Brecht zu einem seiner bevorzugten Lieder. Mehrfach, auch aufgrund etlicher freundschaftlicher Bitten, gab er diese Moritat, angefangen von Augsburger Schenken bis hin zur Wilde[n] Bühne von Trude Hesterberg in Berlin, zum Besten. „Er hatte sich selbst eine Melodie, eine rasche, hüpfende, synkopisierende, zurechtgelegt. Die Stimme klang etwas spröde, und grell; sie vermochte ein Wort oder einen Begriff wie mit dem Hammer einzuschlagen, das Wort mit einem Schnitt zu zerschneiden wie mit einem Fallbeil, es aufzuspießen und es wie auf einem Speer hochzuhalten. Bei dem Wort „Heldentod“ hielt er einige Sekunden das „o“ hoch, damit das freche „o“ auch gut von allen Seiten gesehen werde.“75 Inspiriert durch diese Vorträge des Liedes, das 1922 auch durch die Aufführungen von „Trommeln in der Nacht“ bekannt wurde, schrieb Kurt Weill 1929 eine Fassung für Männerchor a cappella. Und Hanns Eisler verfasste 1958 17 Variationen für Ernst Busch über dieses Lied, die leider unveröffentlicht blieben. Die Reaktionen auf „Die Legende vom toten Soldaten“ reichten von lebhafter Zustimmung bis zur völligen Ablehnung. Während Brechts Freunde, die zum Teil den Krieg ebenfalls hautnah und so wie er unverblümt war miterlebt hatten, begeistert davon waren, dass jemand auf satirische Weise aussprach, was alle dachten, war die konservative Seite über solch einen zerstörerischen Sinn entrüstet. Aus diesem Grund lehnte auch Gustav Kiepenheuer 1926 den Druck der „Hauspostillen“ durch seinen Verlag ab, da sich Brecht weigerte, Textpassagen und speziell die Legende vom toten Soldaten zu streichen. So erschienen 1927 „Die Hauspostillen“ mit der „Legende vom toten Soldaten“ beim Propyläen-Verlag. Bereits in den 20er Jahren wurde das Lied als eine Verhöhnung des deutschen Soldaten angesehen und auf Platz fünf der schwarzen Liste der NS-Regierung gesetzt. 1935 war dieses Lied schließlich mit ein Grund, für die Ausbürgerung Brechts. 75 Reich, Bernhard: „Im Wettlauf mit der Zeit. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten deutscher Theatergeschichte“, Berlin 1970, S. 297 f.; zitiert nach: F. Hennenberg, Liederbuch, S. 363f. 54 Von der dramatischen zur epischen Kunstform „Was wir machen wollten, war die Urform der Oper. Bei jedem musikalischen Bühnenwerk taucht von neuem die Frage auf: Wie ist Musik, wie ist vor allem Gesang im Theater überhaupt möglich? Diese Frage wurde hier einmal auf die primitivste Art gelöst. Ich hatte eine realistische Handlung, musste also die Musik dagegensetzen, da ich ihr jede Möglichkeit einer realistischen Wirkung abspreche. So wurde also die Handlung entweder unterbrochen, um Musik zu machen, oder sie wurde bewusst zu einem Punkt geführt, wo einfach gesungen werden musste.“76 Die Musik wird also aus ihrem „dahinschwelgenden Rauschzustand“ herausgelöst und erhält eine explizite Aufgabe. Sie unterbricht das Handlungsgeschehen, oder entsteht aus einer pädagogischen Notwendigkeit heraus, die erklären soll (meist durch Kontrastierung und Parodie), wie der Zuhörer die Situation zu verstehen hat. Brecht und Weills Ansatz „weg vom Dramatischen – hin zum Epischen“ verschiebt den Schwerpunkt der Kunstformen vom „Kulinarischen“ hin zum „Lehrhaften“. In seinen Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von 1930 und 1938 stellte Brecht die gemeinsam mit Weill entwickelte Epische Form der Dramatischen gegenüber. In Bezug auf die Oper als Musterbeispiel der „Verführungskunst“ ergeben sich hieraus folgende Unterschiede: 76 Weill, Kurt: „Über die Dreigroschenoper”, in: Ausgewählte Schriften, David Drew (Hrsg.), Franbkfurt am Main 1975, S. 55-56; zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 71. 55 Dramatische Oper Musik in Form von Arien, Rezitativen, Chören. Einheitlicher musikalischer Stil. Epische Oper Musik in Form des Songs (auch in Bezug auf Chöre). Colagierende Musikhandhabung (Mischung aus Jazz, Volkslied, Schlager, Ballade). Die Musik serviert illustrativ durch Handlung: D.h. der Liedtext treibt die Handlung voran (Rezitativ) und ist auf diese bezogen (Arie). Musik in der erzählenden Vermittlerrolle: Die Songs stehen separat zu Handlung und Szene und betrachten diese durch Erzählen einer Geschichte, Ballade. Musik steht über dem Text: Figurierte Melodien zerlegen den Text in seine phonetischen Bestandteile. Libretto nicht an lyrische Richtlinien gebunden. Ein großer Orchestersatz verstärkt die musikalische Klangfläche. Aufgrund von banalen Texten und vernachlässigtem Libretto ist die Musik führend. Text als Grundlage einer musikalischen Schilderung: Die Musik ist nach dem Textrhythmus und dessen Sprachintonation gestaltet. Dies führt zu einem Sprechgesang. Es gibt keine komplizierten Melodien, sondern eingängige Motive wie im Bereich des Schlagers. Das Libretto wird durch Verwendung von Lyrik aufgewertet. Das Orchester ist wie eine kleine Jazzband besetzt. Größe und Instrumentarium haben sich geändert. Der Zuhörer bzw. Zuschauer wird durch die Musik getragen: Durch die Gefühlsbeschreibungen in den Gesängen (Arien) wird dem Zuhörer / Zuschauer eine Mitfühlhaltung aufgesetzt. Grundlage hierfür bildet ein traditionelles Menschenbild (gutböse), das sich in der traditionellen Harmonie und Musikformhandhabung äußert. Der Mensch an sich wird somit als bekannt und unveränderlich vorausgesetzt. Musik fordert Stellungnahme durch eine Gegenüberstellung: Handlung und Musik stehen sich gegenüber. Im Song werden keine Gefühlswallungen beschrieben, sondern eine separierte Szenerie wird gestisch geschildert. Dadurch wird dem Zuschauer/-hörer eine distanzierte Betrachtungsweise in Bezug auf das Bühnengeschehen ermöglicht. Es findet keine emotionale Beeinflussung statt, sondern das Publikum muss sich selbst mit dem Erlebten kritisch auseinandersetzen, wird sozusagen mindestens geistig am Geschehen beteiligt. Der Mensch wir hier als wandelbares Objekt verstanden und zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht. Die musikalische Harmonie wir durch Hinzufügen akkordfremder Töne angereichert. Linearer Spannungsaufbau: Steigender Aufbau hin zu einem Höhepunkt. Keine unterbrochene Handlung, sondern jede Szene baut auf der anderen auf. Szenenspannung / Montage: Jeder Song steht für sich und ist in sich gegliedert (Steigerung, Höhepunkt). Die Text-MusikMontage blockiert einen kontinuierlichen Spannungsaufbau. 57 „Die Musik ist der wichtigste Beitrag zum Thema.“ schrieb Brecht zur Gewichtsverschiebung zwischen Dramatischer und Epischer Oper. Musik, Wort und Bild sollten durch mehr Selbstständigkeit aufgewertet werden. Während Brechts und Weills erster großer epischer Wurf Die Dreigroschenoper (1928) durch die Kontrastierung zur Dramatischen Oper die alte Form entlarvt, denunziert die Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ (1929) gerade dadurch, dass sie sich am „dahinschwelgenden Rauschzustand“, am „Kulinarischen“ erfreut. Der Neuerungsprozess sollte hier durch inhaltliche und formale Aktualisierung hinsichtlich des Zeitgeistes erreicht werden: „Die Oper soll, ohne dass ihr kulinarischer Charakter geändert wird, inhaltlich aktualisiert und der Form nach technifiziert werden.“77 Die Arbeitsweise der (Opern-)Musik beschrieb Brecht folgendermaßen: „Die Musik arbeitete so, gerade indem sie sich rein gefühlsmäßig gebärdete und auf keinen der üblichen narkotischen Reize verzichtete, an der Enthüllung der bürgerlichen Ideologien mit. Sie wurde sozusagen zur Schmutzaufwirblerin, Provokatorin und Denunziantin.“78 Das Gefühlsmäßige, das gerade das „Kulinarische“ hervorruft, entsteht durch eine Genusshaltung, die sich an Sinnesfreuden und am Spaß am Untergang vergnügt und zum käuflichen Selbstzweck wird. „Die Oper Mahagonny wird dem Unvernünftigen der Kunstgattung Oper bewusst gerecht“, denn „ihr Inhalt ist der Genuss.“ Diese Oper entmündigt sich also dadurch, dass sie den Zweck der Oper, nämlich „Genuss“ , zum eigenen Inhalt macht. Formal betrachtet folgt der Aufbau der Mahagonny Oper musikalischen Konventionen. Die Oper Mahagonny enthält Lieder, Ariosi, Tänze, Chor- und Ensemblestücke, Kantilenen und ein ‚großes’ Orchester. Allerdings bringen die Musikcollagen (z.B. durch den Jazz) einen neuen Klang in die Opernhäuser. Zusätzlich dazu erhält die Darstellung durch ein rationales Bühnenbild (Boxring mit Projektionen, Film- und Toneffekten als Kulisse) einen Realitätsbezug, der wiederum durch die „irrationale“ Musik aufgehoben wird. Die Reaktionen des Publikums auf diese neue Form der Oper reichten von Lachen und Applaus bis Pfeifen und Kopfschütteln. Wichtig bei diesem Opernprojekt war für Weill, dass Mahagonny einen allgemeingültigen Status erreichte und über die Zeit bestehen konnte: „Das Stück, das wir schaffen werden, wird nicht Aktualitäten ausnützen, die nach einem Jahr veraltet sind, sondern es will unsere Zeit in einer endgültigen Form gestalten. Es gilt eben das neue Genre zu schaffen, das die völlig veränderten Lebensäußerungen unserer Zeit in einer entsprechenden Form behandelt.“79 Ein Aspekt dieses zeitlosen Ansatzes ist z.B., dass Mahagonny durch seinen Titel und die undefinierte geographische Lage der fiktiven Stadt (zwischen Benares und Alaska) überall und jederzeit (denn Geld und Verführung spielten und werden immer eine große Rolle spielen) sein kann. 77 Brecht, Bertolt: „Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, in: B. Brecht, Berlin, S. 33. Brecht, Bertolt: „Gesammelte Werke“, Frankfurt am Main 1967, Bd.15, S. 474; zitiert nach: F. Hennenberg, Liederbuch, S. 385. 79 Weill, Kurt, o.A.; zitiert nach: M.J.T. Gilbert, Music, S. 65. 78 58 Das Epische Theater „Die epische Theaterform ist eine stufenartige Aneinanderreihung von Zuständen. Sie ist daher die ideale Form des musikalischen Theaters, denn nur Zustände können in geschlossener Form musiziert werden.“80 Dies sagte Kurt Weill über Bertolt Brechts Theorie eines Epischen Theaters. Dabei nennt er zugleich das wichtigste Merkmal des Epischen, das förmlich nach einer musikalischen Komponente verlangt und sich auch auf diese überträgt: die Verarbeitung verschiedener (kontrastierender) Ebenen miteinander. Brechts Theorie des Epischen Theaters entstand, wie die Idee der epischen Oper, als Gegenpol zur einer verschwommenen und veralteten Theaterpraxis, die wohlerzogene Leute im Frack beherbergte und durch festliche Atmosphäre große, überschwängliche Gefühle vorheucheln wollte. Brecht wollte neue populäre, moderne, sachliche, einfache, prägnante und aktuelle Ausdrucksformen, die verwendbar für jedermann sein sollten. Um mit all diesen verschiedenen Ansätzen gleichzeitig agieren zu können, trennte Brecht, entgegen der Wagnerschen Auffassung eines Gesamtkunstwerkes, die einzelnen Bühnenelemente voneinander. Dadurch erzielt er eine Verselbstständigung von Sprache, Musik und Bild und überwindet somit den alten Primatkampf zwischen Wort, Ton und Darstellung. Neu und entgegen des Dramas eines Aristoteles gerichtet werden die einzelnen Elemente ohne künstlichen Rahmen (sei es Ort, Zeit, etc.) aneinander gereiht, miteinander verwoben und erzählen und erzielen dadurch verschiedene Zustände. Im Unterschied zu Erwin Piscator (bei dem Brecht in die Lehre ging), der nach Brechts Worten das Erfassen neuer Stoffe ermöglicht hatte, nutzt Brecht die „alten“ Formen, um neue Stoffe durch das Drama erst distanziert erfassbar zu machen. Darum verwendete Brecht bevorzugt historische Themen (z.B. das Leben Eduards des Zweiten, 1924) und Historisierungen, um die Unveränderbarkeit der Welt und ihrer Gesellschaft zu zeigen. Während Brechts frühe Stücke eine sinnliche und exotische Welt schilderten, steht Mitte und vor allem Ende der 20er Jahre das Lehrhafte im Mittelpunkt. Jedoch darf auch weiterhin Emotion eine Rolle spielen: „Das Wesentliche am epischen Theater ist es vielleicht, dass es nicht so sehr an das Gefühl, sondern mehr an die Ratio des Zuschauers appelliert. Nicht miterleben soll der Zuschauer, sondern sich auseinandersetzen. Dabei wäre es ganz und gar unrichtig, diesem Theater das Gefühl absprechen zu wollen.“81 Um diesen Aspekt auch noch in den geforderten Komplex aus Lyrik, Musik und Graphik einzuarbeiten, wurde ein größerer Theaterapparat benötigt, was sich in erster Linie auf die Bühnentechnik auswirkte. Die Elektrifizierungswelle der damaligen Zeit ermöglichte dem Theater neue formelle Mittel wie z.B. eine Drehbühne und Filmprojektionen. Brecht war so begeistert von der Technik und der Maschinerie, dass er wie sei Vorbild Piscator den Bühnenaufbau durch Projektionen von Ziffern, Statistiken, Bildern, Filmen u.a. als Hintergrund änderte und dadurch modernisierte und aktualisierte. Aktualisierung bedeutete 80 Weill, Kurt: „Ausgewählte Schriften“, David Drew (Hrsg.) Frankfurt am Main 1975, S. 57; zitiert nach: A. Dümling, Gegen Verführung, S. 161. 81 Brecht, Bertolt: „Betrachtung über die Schwierigkeiten des epischen Theaters“, in: Frankfurter Zeitung, Literaturblatt, 27. November 1927; zitiert nach: J. Willett, Theater, S. 156. 59 auch, dass Kulisse nicht mehr nur der szenischen Untermalung diente, sondern als eigenständiges Spannungselement die Szene mitgestaltete. Im Unterschied zu Piscator, der hauptsächlich seine Neuerung des veralteten Theaterapparats durch neue technische Bühnenbildformen erzielte, setzte Brecht zusätzlich auf eine veränderte Grundeinstellung der Schauspieler in Bezug auf die darzustellende Figur: „Es *künstlerisches Temperament] tobt sich meist in überlauten oder künstlich verhaltenem Sprechen aus und überdeckt die Leidenschaft der Stückfigur durch die Leidenschaft des Schauspielers. Echte menschliche Töne hört man dann selten, und man hat den Eindruck, es gehe im Leben zu wie auf dem Theater, statt des Eindrucks, es gehe im Theater zu wie im Leben.“82 Wichtigster Bestandteil der neuen Theaterform aber war die Musik. Brecht brach damit die rein auf sprachliche Äußerungen angelegten Konventionen des Dramas auf und erleichterte die dramatische Form durch musikalische Ergänzungen: „Jedoch wurde durch die Einführung der Musik immerhin mit der damaligen dramatischen Konvention gebrochen: das Drama wurde an Gewicht leichter, sozusagen eleganter; die Darbietungen der Theater gewannen artistischen Charakter. Die Enge, Dumpfheit und Zähflüssigkeit der impressionistischen und die manische Einseitigkeit der expressionistischen Dramen wurde schon einfach dadurch durch die Musik angegriffen, dass sie Abwechslung hineinbrachte.“83 Dass diese Musik ebenfalls eine Neuschöpfung darstellt, die aus ihrem Selbstzweck heraus die Handlung kommentiert statt illustriert, und sich damit gegen die romantische musiktheatralische Handhabung stellte, demonstriert Brecht dadurch, dass er sein kompositorisches Werk wie ein „Schüttelreim“ als „Misuk“ bezeichnete. Hanns Eisler definierte dieses nach Vernunft strebende musikalische neue Wortgebilde so: „Sie ist vor allem nicht dekadent und formalistisch, sondern im höchsten Grade volkstümlich. Sie erinnert am ehesten an den Gesang arbeitender Frauen in Hinterhöfen an den Sonntagnachmittagen. [...] Ich hoffe, Brecht richtig zu interpretieren, wenn ich ferner feststelle, dass Misuk eine Kunstart sein will, die das vermeidet, was zum Beispiel bei Sinfoniekonzerten und Opern oft eintritt: Gefühlsverwirrung. Denn Brecht war nie bereit, sein Gehirn an der Gaderobe abzugeben. Er hielt für eine der besten Unterhaltungen die Anwendung von Vernunft.“ 82 Brecht, Bertolt: „Kontrolle des Bühnentemperaments“, in: Theaterarbeit, Dresden 1952, S. 385; zitiert nach: J. Willett, Theater, S. 153. 83 B. Brecht, GW, Bd.15, S. 472. 60 Der V-Effekt am Beispiel der Dreigroschenoper „Die Dreigroschenoper“ ist ein Musterbeispiel Epischen Musiktheaters. Sie stellt verschiedenste musikalische und sprachliche Ebenen gegenüber und kombiniert sie sinnwidrig: „Hier wird mit Schmiss und Unschuldmiene gesungen, zart, fast träumerisch, wo angebracht, und anderswo mit plärrender Aufgekratztheit, jedenfalls stets Gefühlen hingegeben, welche zugleich durch das Umfeld, in dem sie stehen, höchst fragwürdig erscheinen.“84 Wichtigstes Stilmittel und „formaler Trick“ des Epischen Theaters ist der Verfremdungseffekt, V-Effekt genannt. Dessen entlarvende Wirkung besteht darin, dass er Standardformen aufgreift und sie durch Hinzufügen oder Wegnehmen einer eigenen, aber meist fremden Komponente parodistisch verändert. Dazu zählt z.B. das Verwenden mehrere zeitlich und räumlich unabhängiger Ebenen. Mit einem parodistischen Anklang an Wagners Schrift „Über die Verwendung von Musik im Drama“ (1879) verfasste Brecht 1935 seine entwickelte musikalische Verfremdungswirkung unter dem Titel „Über die Verwendung von Musik für ein episches Theater“ zusammen: „Die epische Theaterform ist eine stufenartige Aneinanderreihung von Zuständen. Sie ist daher die ideale Form des musikalischen Theaters, denn nur Zustände können in geschlossener Form musiziert werden, und eine Aneinanderreihung von Zuständen ergibt die gesteigerte Form des musikalischen Theaters: die Oper.“85 Wichtigste Neuschöpfung in Bezug auf ein Musiktheater ist die sich ergänzende Eigenständigkeit von Musik und Wort, ausgehend vom darstellerischen Handeln: „So seien all die Schwesterkünste der Schauspielkunst hier geladen, nicht um ein ‚Gesamtkunstwerk’ herauszustellen, in dem sich alle aufgeben und verlieren, sondern sie sollen, zusammen mit der Schauspielkunst, die gemeinsame Aufgabe in ihrer verschiedenen Weise fördern, und ihr Verkehr miteinander besteht darin, dass sie sich gegenseitig verfremden.“86 Die Sprache wird nüchtern, scharf, schlagzeilenartig und prägnant (im Moritatenstil) zum „Gegen-die-Musik-sprechen“, d.h. unabhängig von Melodie und Rhythmus eingesetzt. Brecht gibt drei Ebenen des „gesprochenen“ Wortes im Theater vor, die stets strikt zu trennen sind: - Nüchternes Reden (z.B. Der Barbara-Song) Ein „dramatischer“ Sachverhalt wird mit einem (emotional) reduzierten Sprachstil vorgetragen. Er kann z.B. durch Umgangssprache, dialektale Färbung und falsche Grammatik unterstützt werden. Anglizismen mit ihrer exotischen Färbung werden eher dem nüchternen Reden zugeordnet, da es sich um einfache englische Ausdrucksformen handelt, die zum Teil auch fehlerhafte Grammatik aufweisen. 84 F. Hennenberg, Liederbuch, S. 386. Weill, Kurt: „Ausgewählte Schriften“, David Drew (Hrsg.), S. 57; zitiert nach: A. Dümling:, Gegen Verführung, S. 161. 86 Brecht, Bertolt: „Kleines Organon für Theater“, in: B. Brecht, GW, Bd.16, S. 698f. 85 61 - Gehobenes Reden (z.B. Morgenchoral des Peachum) Kann z.B. durch eine trockene, umständliche Amtssprache erzeugt werden. Auch Anklänge an die gewaltige Sinnlichkeit der Lutherischen Bibelsprache können dazuzählen. - Singen (z.B. Der Kanonen-Song) Das Singen stellt sowohl durch den anderen Stimmgebrauch eine neue Ebene dar, kann aber durch den Textinhalt auf die beiden anderen Ebenen verweisen. Der Gesang stellt aber keinesfalls eine Beschreibung von Gefühlen dar. Die gesangliche Ebene kann durch einen volkstümlichen Aufbau in Strophe und Refrain verdeutlicht werden. Diese unterteilten Vortragsweisen werden nun gleichberechtigt, wechselweise miteinander kombiniert, so dass es keinen einheitlichen Sprachstil gibt und damit das reine Sprechen im Drama und das reine Singen in der Oper verfremdet. Die einzelnen Umbrüche der sprachlichen Äußerungen sollen vom Schauspieler sich selbst und dem Publikum bewusst gemacht werden. In seinen „Anmerkungen zur Dreigroschenoper“ schrieb Brecht über die drei sprachlichen Ebenen: „Nichts ist abscheulicher, als wenn der Schauspieler sich den Anschein gibt, als merke er nicht, dass er eben den Boden der nüchternen Rede verlassen hat und bereits singe. Die drei Ebenen: nüchternes Reden, gehobenes Reden und Singen, müssen stets voneinander getrennt bleiben, und keinesfalls bedeutet das gehobene Reden eine Steigerung des nüchternen Redens und das Singen eine solche des gehobenen Redens. Keinesfalls also stellt sich, wo Worte infolge des Übermaßes der Gefühle fehlen, der Gesang ein.“87 Brecht baute auch gerne Zitate aus berühmten Werken in seine Libretti mit ein; z.B. den Ausspruch „beneidenswert, wer frei davon“, der unter anderem den ständig wiederkehrenden Refrain des Salomonsong bildet und der der Textpassage „Wohl dem, der frei von Schuld und Fehle“ aus Schillers Ballade „Die Kraniche des Ibykus“ entlehnt ist. Sowohl die drei sprachlichen Ebenen als auch die beibehaltene Reimform der Liedtexte verhindern, dass Bühnenfigur und Schauspieler miteinander verschmelzen. Um dem Zuschauer diese Trennung auch optisch zu verdeutlichen, nimmt der Schauspieler zum Vortrag der Lieder einen Stellungswechsel vor, der die Einheitlichkeit des Bühnenraumes durchbricht. Damit begibt er sich durch die konkrete Raumzuordnung von Sprechen und Singen auf eine andere Mitteilungsebene. Der Darsteller tritt quasi für einige Zeit mit dem Lied aus dem Stück heraus und unterbricht dadurch den Handlungsverlauf. Zusätzlich zur Unterbrechung der Handlung kann auch eine direkte Ansprache, auf das Publikum bezogen, erfolgen, so dass der Zuschauer regelrecht zum aktiven Mitdenken gezwungen wird; z.B. „Ihr saht den weisen Salomo“ (Salomonsong) oder „Meine Herrn, heut sehn Sie mich Gläser abwaschen“ (Seeräuberjenny). Die Dreigroschenoper hat zudem die Besonderheit, dass eine Art erläuternder Prolog an den Anfang gestellt werden kann, der dem Publikum mit direkter Ansprache genau sagt, wie die Oper und ihr Titel zu verstehen sind. Verkündet wird das ganze durch einen kommentierenden Autor, der selbst als eine Art Bettler auftritt: 87 Brecht, Bertolt: „Anmerkungen zur Dreigroschenoper“; in: B. Brecht, GW, Bd.17, S. 996f. 62 „Sie werden eine Oper für Bettler hören. Weil diese Oper so prunkvoll gedacht war, wie nur Bettler sie erträumen, und weil sie doch so billig sein sollte, dass Bettler sie bezahlen können, heißt sie: Die Dreigroschenoper.“88 Durch die Brechung der getrennten Bezugsebene zwischen Schauspieler und Zuschauer, die zu einer Einbindung des Publikums in das Geschehen führt, wird auch gleichzeitig der Zuschauer an einem Einfühlungsprozess gehindert, der allerdings laut Brecht nicht mit Emotionslosigkeit verwechselt werden darf. „Eine Gestaltung, die auf Einfühlung mehr oder weniger verzichtet, braucht keineswegs eine „gefühllose“ Gestaltung zu sein. [...] Die Beschreibung des V-Effekts wirkt bei weitem unnatürlicher als die Ausführung desselben.“89 Andererseits setzten aber auch Brecht und Weill gerade solche gefühlvolle Mitsingmelodien ein, um durch die Überbetonung zu entlarven. Bestes Beispiel dafür ist Der Kanonen-Song. Seine Kriegsromantik, die den Kampf als nostalgisches Abenteuer darstellt und im Foxtrott eine eingehende und schmissige Rhythmik gefunden hat, wurde (neben „Die Moritat vom Mackie Messer“) zu dem Mitsingstück aus dieser Oper. Bei der Opernpremiere 1928 musste dieses Lied aufgrund der nicht enden wollenden Begeisterung des Publikums nochmals wiederholt werden. Der „Kanonen-Song“ ist aber auch Beispiel dafür, dass eine „Überkulinarisierung“ der Oper vom Zuschauer nicht immer erkannt wird. Ein geistig blindes Mitsingen wie es speziell bei diesem Lied und der Moritat der Fall war, entsprach keinesfalls der denunzierenden Aussage Brechts. Um dem Zuschauer den Sinn der Liedtexte demonstrativ deutlich und nicht durch Betonung des Gefühlsinhaltes zu vermitteln, ist der Gesang in rezitativischer Weise und nicht in der Tradition des „Bell Canto“ gehalten. Es wurden Moritatenelemente mit Anklängen an Arien der englischen Hofoper (vgl. G.F. Händel und H. Purcell, die schon in der Originalen „Beggar’s Opera“ von 1729 Pepusch populären Balladen aus England, Schottland und Irland gegenüberstanden) kombiniert. Diese Mischung von hoher mit niederer Kunst, von Moritat (z.B. Die Moritat vom Mackie Messer) und „Opera Seria“ (z.B. III. Dreigroschenfinale mit seinem erzwungenen Happy End) führt durch ihre gesellschaftliche Gegenüberstellung zu einer Kunstkritik durch Parodie. Brecht setzt äußerlich einen opernhaften Rahmen, während die moralischen Wertvorstellungen einer ernsten Musik inhaltlich verkehrt werden. In diesem Verfahren sieht Brecht auch die Verknüpfung zum Hintergrund The Beggar’s Opera: „Wie vor zweihundert Jahren haben wir eine Gesellschaftsordnung, in der so ziemlich alle Schichten der Bevölkerung [...] moralische Grundsätze berücksichtigen, indem sie nicht in Moral, sondern natürlich von Moral leben. Formal stellt Die Dreigroschenoper den Urtypus einer Oper dar: Sie enthält die Elemente der Oper und die Elemente des Dramas.“90 88 Kurt Weill: Die Dreigroschenoper, Historische Aufnahme von 1930 mit Kurt Gerron als Mackie Messer. © Membran Music Ltd., o.J. 89 Brecht, Bertolt: „Schriften zum Theater“, Frankfurt am Main 1963/64, S. 114; zitiert nach: J. Willett, Theater, S. 164. 90 Brecht, Bertolt: „Über Die Dreigroschneoper“, in: B. Brecht, GW, Bd.17, S. 989. 63 Die Opern von Brecht und Weill wurden darüber hinaus von Schauspielern und nicht von Sängern aufgeführt, um eben dem weichen kulinarischen Stil einen harten sprecherischen entgegenzustellen. „Ich konnte keine Note lesen *...+ gerade deswegen wurde ich gewählt.“ so Lotte Lenya im Rückblick auf ihre Rolle der Jenny in „Die Dreigroschenoper“. „Dieses Zurückgehen auf eine primitive Opernform brachte eine weitgehende Vereinfachung der musikalischen Sprache mit sich. Es galt, eine Musik zu schreiben, die von Schauspielern, also von musikalischen Laien gesungen werden kann. Aber was zunächst eine Beschränkung schien, erwies sich im Laufe der Arbeit als eine ungeheuere Bereicherung. Erst die Durchführung einer fassbaren, sinnfälligen Melodik ermöglichte das, was in der Dreigroschenoper gelungen ist, die Schaffung einer neuen Genres des musikalischen Theaters.“91 Die Zitate zeigen auch, dass Brecht und Weill eine unprofessionelle Musikhandhabung in Bezug auf den Gesang erzielen wollten und die klanglich eher an kabarettistische Darstellungsformen des Sprechgesangs erinnern sollte. Der Schauspieler selbst verwendete für seine gesangliche Darstellung keine Requisiten. Im Laufe der Zeit wurde er aber durch Demonstrationshilfen wie Projektionen und Bildmontagen unterstützt. Eine Demonstrationshilfe ist zum Beispiel die Vorankündigungen zu den einzelnen Liedern. Wie im Prolog zu „Die Dreigroschenoper“ so berichtet auch hier der Vorspann schon einmal vorweg, um was es in dem Lied gehen wird und wie die Szenerie zu verstehen ist. Dies geschieht ebenfalls in einer sehr „nüchternen“ Form, z.B. „Durch ein kleines Lied deutet Polly ihren Eltern ihre Verheiratung mit dem Räuber Macheath an.“ Ein Lichtwechsel im wahrsten Sinne des Wortes soll nicht desillusionieren, indem er alles in einem unbekannten Licht zeigt, sondern dem Publikum einen kritischen und distanzierten Blick auf vermeidliche Selbstverständlichkeiten ermöglichen. Die Musik steht auch selbst als wichtigstes Mittel zur Verfremdung für formale und inhaltliche Diskrepanz. Musik soll nach Brechts Auffassung den gestischen Akzent zum gedanklichen Ausdruck des Textes bilden. Sie stiftet Widersprüche (zwischen den Realitätsebenen, z.B. Zeit und Raum), regt zum kritischen Nachdenken an (durch Ansprechen des Zuschauers, z.B. durch die Verwendung bereits bekannter Melodien) und intensiviert den Sinngehalt des Textes (durch ironische Überbetonungen von Banalitäten, z.B. durch eine simple und sich ständig wiederholende Harmoniefolge). Unterstütz wird das Ganze durch die Verwendung unterschiedlicher Musikstile. Neben der äußerst starken Rhythmik und Melodik des Jazz hat Brecht auch melodiöse volkstümliche, unterhaltungsmusikalische Elemente verwendet. Wichtig für den musikalischen Rahmen waren historische Musikformen wie z.B. der Choral (z.B. Morgenchoral) mit textlichem Gesangbuchanklang und sakraler Instrumentierung (mit Harmonium). Dazu zählten auch eingefügte Balladen von Franςois Villon und Rudyard Kipling. Holt man weit aus, so zitiert sich Brecht mit der Oper selbst, indem er auf bereits existierende, selbstkomponierte Lieder (wie „Der Barbara-Song“, „Seeräuberjenny“ und „Der Kanonen-Song“) zurückgreift. In „Trommeln in der Nacht“ verwendete Brecht noch als parodierenden Zitatstil Originalaufnahmen, die mit einem Grammophon während der Bühnenhandlung abgespielt wurden. Darunter waren der Choral „Ich bete an die Macht der Liebe“, das „Ave Maria“ von Bach/Gounod und die Strophe „Deutschland, Deutschland über alles“. Der Kontrast entstand hierbei nicht nur durch die 91 Weill, Kurt: „Über die Dreigroschenoper“, in: Ausgewählte Schriften, Frankfurt am Amin 1975, S. 55f.; zitiert nach: M.J.T.Gilbert, Music, S. 71. 64 musikalische Unterbrechung der Handlung, sondern durch die Abwertung des sakralen durch den populistischen Klangkörper Grammophon und vor allem durch die kontrastierende Gegenüberstellung von Kirche und Staat durch das jeweilige repräsentative Liedgut. Wenn man die musikalische Form betrachtet, mit der Brecht in früheren Theaterstücken gearbeitet hat – Liedern, Märschen etc. – steht nun die Gattung des Songs im Mittelpunkt. Der Song bei Brecht ist eine Mischung aus Moritat, Rollenlied, Volkslied und speziell dem Chanson. Im Unterschied zum Lied ist er humoristisch und als Parodie gedacht. Er hat einen Adressaten, eventuell einen sozial-politischen Kontext und benutzt keine Requisiten. Als äußerliches Merkmal gilt eine gestische Vortragsweise, die sowohl stimmliche wie mimische Anforderungen stellt. Dies sind teilweise Kriterien, die Brecht bereits beim Vortrag seiner Lieder forderte. Das bedeutet, der Song ist im Wesentlichen Brechts überarbeitete Liedform, die integriert in ein Stück auf die Bühne gestellt wird. Wie dem Chanson so ist auch dem Song zuweilen eigen, dass er zielgerichtet für eine bestimmte Person geschrieben wurde. Bestes Beispiel dafür ist Die Moritat vom Mackie Messer, die der Hauptdarsteller als Auftrittslied einforderte. Für manche Lieder wählte Brecht spezielle Tonarten, die dem Stimmumfang z.B. von Lotte Lenya entsprachen. Der Song erhält eine eigene Inszenierung auf der Bühne. Der Titel wird durch Projektionen, oder eine heruntergelassene Tafel vom Schnürboden (wie in Die Dreigroschenoper), sichtbar gemacht. Wichtig dabei ist auch immer ein stimmungsvoller Lichtwechsel. Die Regieanweisungen zu den einzelnen Songs haben stets die gleiche Gestalt: „Songbeleuchtung: goldenes Licht. Die Orgel wird illuminiert. An einer Stange kommen von oben drei Lampen herunter und auf den Tafeln steht: *....+“92 Bei den Beleuchtungswechseln bevorzugte Brecht auch gerne provokanter Weise grellweißes Licht. Der Song an sich hat mehrere Ansatzpunkte um verfremdend zu wirken: - Die Besetzung Statt der sinfonischen Orchesterbesetzung stellt Brecht eine kleine Jazzband von acht Musikern (die LewisRuth-Band spielte die Premiere von Die Dreigroschenoper) auf die Bühne. In Sachen Rollenbesetzung bildet später Der Ozeanflug ein Beispiel, denn Brecht lässt die Person des Lindbergh in der Figur der Flieger von allen gemeinsam sprechen bzw. singen. Verfremdend wirkt auch, wenn in Trommeln in der Nacht ein Grammophon bekannte Hymnen spielt und damit eine neue Form der Live-Musik entsteht. - Die Form Es entsteht ein gesteigertes Interesse an melodischen Musikverläufen, die dadurch auch den Text betonen und gerade durch das kulinarische entlarven. Unschuldige Melodien kontrastieren zu ernsten Themen wie z.B. Heirat und Verführung in „Der Barbara-Song“, Ausbeutung in „Die Zuhälterballade“ und Tod in „Der KanonenSong“. - Die Harmonik Die Harmonik der Liedbegleitung sollte einprägsam sein, um schnell eine Vorstellung vom Songverlauf zu bekommen. Eine einfache Harmonik entzieht nicht dem Text und seiner Aussage die Aufmerksamkeit. Harte Wechsel der Tongeschlechter können ebenfalls Kontraste erzeugen 92 Brecht, Bertolt: „Die Dreigroschenoper“; in: B. Brecht, GW, Bd.2, S. 464. 65 - Der Rhythmus Der Rhythmus wird zunehmend jazzige, dadurch schlagkräftiger und unterstützt somit den Sprechgesang (z.B. das Shimmy-Tempo in „Die Ballade vom angenehmen Leben“). Weill setzt kontrastierend zu den langen Melodiebögen harte rhythmische Linien vor allem in den Bässen ein (z.B. die Tangobegleitung mit tiefen Bässen in „Die Zuhälterballade“). Die Bandbesetzung mit Schlagzeug verstärkt die pulsierende rhythmische Wirkung der Musik. - Die Parodie Die Nachahmung und Übertreibung von Banalitäten und Klischees wirkt enthüllend. Brecht kombiniert z.B. synkopischen Jazzrhythmus mit der geraden Viertelbewegung des Harmoniums in „Die Moritat vom Mackie Messer“. Parodistisch wirkt auch, wenn die veraltete Volksgattung Ballade auf die moderne Volklore, den Jazz übertragen wird (z.B. „Die Ballade vom angenehmen Leben“ als Shimmy). Die größte Parodie in „Die Dreigroschenoper“ ist das willkürliche Happy End durch die Verkündigung des reitenden Boten, damit das Stück auf keinen Fall traurig enden darf. Durch diese Darstellungsweise der Songs werden die Brüche zwischen den einzelnen Ebenen sichtbar und stellen die Musik als eigenständigen Teil des Stückes dar. Um aber die Musik als Bestandteil des Theaters zu zeigen, wir das Orchester auf der Bühne positioniert, damit jeder es sehen kann. In der Dreigroschenoper erhielt es seinen Platz im Bühnenprospekt, der wie eine große Jahrmarktorgel gestaltet war. Als Abkehr zur Oper sangen somit die Schauspieler mit dem Rücken zum Orchester, bzw. der Jazzband. Wenn das Orchester nun spielte, begannen die Lichter am Orgelprospekt zu blinken. „Die Dreigroschenoper ist nicht nur die nüchternste Verspottung der zwanziger Jahre, sondern auch das gefühlvollste und innigste Werk jener Zeit.“93 93 Singermann, Boris: „Brechts ‚Dreigroschenoper’. Zur Ästhetik der Montage, in: Brecht-Jahrbuch 1976, Suhrkamp Verlag (Hrsg.), Frankfurt am Main 1976, S. 68; zitiert nach: F. Hennenberg, Liederbuch, S. 386. 66 Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR Das RSO Stuttgart in Aktion (© SWR) Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR (kurz RSO) ist ein Rundfunk-Orchester. Das heißt, alle seine Konzerte werden mit Mikrofonen aufgenommen, um live oder zu einem späteren Zeitpunkt im Radio gesendet zu werden. Ab und zu spielt das Orchester auch ohne Publikum, um neue CDs aufzunehmen. Viele dieser CDs wurden mit Preisen ausgezeichnet. Das RSO gehört damit zu den besten Orchestern Deutschlands. Gegründet wurde das RSO vor über 60 Jahren. Heute besteht das Orchester aus 102 Musikern, die aus 20 verschiedenen Ländern kommen und zwischen 23 und 64 Jahre alt sind. Um im RSO aufgenommen zu werden, mussten die Musiker zuerst an einer Musikhochschule studieren und dann ein sogenanntes Probespiel gewinnen. Das Probespiel ist so etwas wie ein Casting. Die Orchestermitglieder werden zur Jury und wählen unter den zahlreichen Kandidaten den Besten aus, der dann den Job beim RSO bekommt. Geleitet wird das Orchester meist von seinem französischen Chefdirigenten Stéphane Denève. Aber auch andere berühmte Dirigenten aus aller Welt sind das Jahr über zu Gast beim RSO. Die Werke, die das RSO bei Konzerten spielt, können schon mehrere hundert Jahre alt sein oder aber sie entstehen erst zum Konzerttermin und werden dann vom Orchester uraufgeführt. Das RSO repräsentiert somit unsere ganze Musiktradition vom 18. Jahrhundert bis heute. Das Jahr über gibt das RSO ca. 80 Konzerte; auf Tourneen im Ausland wie Amerika, China oder Japan, bei Gastkonzerten im europäischen In- und Ausland, im Sendegebiet des SWR. Davon finden natürlich viele in Stuttgart statt. Neben ihrer Konzerttätigkeit pflegen die RSO-Profis auch den persönlichen Kontakt zu ihrem jungen Publikum. Darum unterstutzen sie mit viel Engagement das Jugendprogramm SWR Young CLASSIX. 67 Der Dirigent Leo Siberski Leo Siberski begann seine Musikkarriere 1990 als einer der jüngsten Mitglieder aller Zeiten des Bayreuther Festspielorchesters und als Solo-Trompeter der Staatskapelle Berlin (1992-1998). An der „Hanns-Eisler“-Hochschule für Musik Berlin studierte er Dirigat bei Prof. Rolf Reuter. In Berlin dirigierte Leo Siberski das Orchester der Oper, das Sibelius-Orchester, das Kammerphilharmonie-Orchester Berlin und das Orchester der Jungen Philharmonie Brandenburg. Leo Siberski interessiert sich aber auch für Multimedia- und Crossover-Konzerte und gründete das Ensemble Colours of Music und das Metropolis Filmorchester. Das Sonderkonzert des Philharmonischen Orchesters Kiel mit Klaus Doldinger & Passport im November 2011 wurde in der Presse hoch gelobt. Leo Siberski assistierte namenhaften Dirigenten, wie Daniel Barenboim (Staatsoper Berlin 2003), Kent Nagano (Staatsoper Berlin 2003, Los Angeles Opera 2004), Vladimir Jurowski (Glyndebourne 2003-2005), und Fabio Luisi (Staatsoper Berlin 2003, Semperoper 2004, MDR 2005). Die Oper in Mainz, Gera, Plauen-Zwickau, Görlitz, Cottbus sowie das Schlosspark-Theater Berlin gehören zu Stationen seiner Karriere als Operndirigent. 2007 dirigierte er in Dresden „Die Zauberflöte“ und „Hamlet“ an der Deutschen Oper am Rhein. Die Erstaufführung der Oper „Der Sturm“ am Theater Bielefeld war unter seiner Leitung so erfolgreich, dass er für vier Spielzeiten zum stellvertretenden GMD und 1. Kapellmeister berufen wurde. Leo Siberski gastierte bereits bei den Bremer Philharmonikern, der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken und Kaiserslautern, dem Münchner Rundfunkorchester, dem MDR Sinfonieorchester, den Düsseldorfer Sinfonikern, der Württembergischen Philharmonie Reutlingen, der Jenaer Philharmonie und dem Sinfonieorchester Wuppertal. Von der Staatsoper Hannover und dem Tiroler Landestheater Innsbruck wurde er 2010 eingeladen, die Premiere von G. Puccinis Oper „Manon Lescaut“ zu leiten, welche einen großen Erfolg feierte. Die Stelle des GMD und des 1. Kapellmeisters am Theater Kiel hat Leo Siberski seit der Spielzeit 2011/2012 inne. Die Wiederaufnahme der „Zauberflöte“ sowie die Premiere der Oper „I Lombardi alla prima crociata“ von G. Verdi erhielten in der Presse durchweg sehr gute Kritiken. 68