rela tions - Hrvatsko Društvo Pisaca
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RELA TIONS Inhalt 1 RELATIONS Literarisches Magazin Zeitschrift der Kroatischen Schriftstellervereinigung 1-2/2011 Einführung Herausgeber DOSSIER: ZDRAVKO ZIMA Kroatische Schriftstellervereinigung ..................................................................................................................................................................................................... Zdravko Zima: Essays Venedig als Atlantis Redaktion [Chefredakteur] Roman Simić Bodrožić [Redakteurin] Jadranka Pintarić Lektur / Korrektur Marijana Miličević Hrvić ............................................................................................................................................................................ Die Sonne ging zweimal unter Professor des Leidens Tel.: (+385 1) 48 76 463 Fax: (+385 1) 48 70 186 www.hdpisaca.org [email protected] 10 .......................................................................................................................................................................... 13 Das Leben mit einem Kadaver ......................................................................................................................................... 17 Metropole und Nekropole .......................................................................................................................................................... 20 Das Laster des Schreibens .......................................................................................................................................................... 23 .................................................................................................................................................................................. 26 Die rote Jungfrau Doppelleben ............................................................................................................................................................... 29 ................................................................................................................................................................................................... 32 Freud und Krleža oder das Leben mit dem Torso ................................................................................. 35 .................................................................................................... 39 .............................................................................................................................................. 43 ............................................................................................................................................................................................ 46 Der Essay als Roman, der Roman als Essay Zdravko Zima: Kolumnen Ein gewisser Herr Baudelaire Van Gogh lebt Preis 15 € Der Hohepriester aus Montreal Umschlag Auf den Wellen der Ewigkeit „Crtaona“ Meister Radovan Prepress Wie die Bohnenranke im Märchen Krešo Turčinović Gedruckt in Kroatien bei „Profil“, Zagreb ISSN 1334-6768 Die Zeitschrift wird vom Kultusministerium der Republik Kroatien und vom städtischen Fond der Stadt Zagreb finanziell unterstützt. Relation 1_2011.indd 1 7 .......................................................................................................................................... Der Jäger im Labyrinth Redaktionsadresse Kroatische Schriftstellervereinigung Basaričekova 24 5 ........................................................................................................................................ 49 ................................................................................................................................................ 52 ..................................................................................................................................................................................... 56 [Historische Hintergründe im Roman Einübung des Lebens] Das Leben als Marathon ............................................................................ 59 ............................................................................................................................................................ 66 Mysterium des Todes in Desnicas Prosawerk Babaja war eine Insel ................................................................................................. 71 ..................................................................................................................................................................... 76 Doktor Sonne aus Agram .......................................................................................................................................................... Ein Bariton für die Ewigkeit Neue Töne 79 ............................................................................................................................................... 82 ........................................................................................................................................................................................................ 85 Zdravko Zima: Tagebücher Die Geschichte von Gabriel [Nachtschwarze Agenda] ............................................................................ 88 30.4.2011. 17:52:55 2 RELA Inhalt TIONS Zdravko Zima: Feuilletons Noch ist es Nacht, August ......................................................................................................................................................................................................................................................... 100 Ein Traum namens Gimignano ........................................................................................................................................................................................................................................ 104 Der Gondoliere auf der Moldau ...................................................................................................................................................................................................................................... 106 Ich habe Esterházy besiegt ......................................................................................................................................................................................................................................................... 108 Ein Requiem für Komiža .......................................................................................................................................................................................................................................................... 110 ........................................................................................................................................................................................................................................................................... 112 Edita Majićs Fühler Der Löwe in der Falle Das Theorem der Liebe .................................................................................................................................................................................................................................................................... 114 ................................................................................................................................................................................................................................................................. 116 Zdravko Zima: Kritiken Die Orthographie der Insel ..................................................................................................................................................................................................................................................... Der Traum von Havels Mutter ......................................................................................................................................................................................................................................... 121 ...................................................................................................................................................................................................................................... 124 Der als Bettler verkleidete Prinz Pessoa oder Die Suche nach sich selbst Der Bote des unreinen Gewissens .................................................................................................................................................................................................................... 127 ................................................................................................................................................................................................................................... 130 Kroaten in den Augen eines Ungarn Jeder ist seine eigene Insel 119 ......................................................................................................................................................................................................................... 133 .......................................................................................................................................................................................................................................................... 137 Der große Schamane und der kleine Staubwischer .............................................................................................................................................................................. 140 Berührungen, Berührungen ............................................................................................................................................................................................................. 145 ESSAY Andrea Zlatar 1960er, 1970er, 1980er Nenad Popović Schattenwelt [Auszug] ............................................................................................................................................................................................................................ 158 Igor Duda Der gefundene Wohlstand Alltag und Konsumkultur in Kroatien der 1970er und 1980er Jahre .................................................................................................. 168 PROSA Spiegelverkehrte Liebhaber [Jadranka Pintarić] ............................................................................................................................................................... 185 Mirjana Dugandžija Ein paar Tage im August ................................................................................................................................................................................................................... 186 Drago Glamuzina Drei [Romanauszug] ................................................................................................................................................................................................................................. 198 Relation 1_2011.indd 2 30.4.2011. 17:52:56 RELA TIONS 3 Inhalt POESIE Damir Šodan Was ist in Wirklichkeit „wirklichkeitsbezogene“ Poesie? ....................................................................................................................................... 215 Dalibor Cvitan: Das gespreizte Foto [224]; Der chinesische Pavillon [224] • Danijel Dragojević: Im Wartesaal des Bahnhofs [226]; In den Park gehen [226] • Arsen Dedić: Ein literarisches Abendessen [228]; Eine Liste unliebsamer Ereignisse, Begriffe, Personen und Dinge, die mit Musik zu tun haben [228] • Boris Maruna: The New Left [230]; Das Ende des 2. Weltkriegs in Westwood [231] • Jozefina Dautbegović: Flüchtlingslied [234]; Liebe in Sarajevo [235] • Mile Stojić: Der Weg über Kreševo [236] • Vojo Šindolić: Feedback [237] • Branko Čegec: Sexualitäts- und Schlammlandschaften [238] • Miroslav Mićanović: job (die kroatische poesie der neunziger) [239] • Delimir Rešicki: Ansteckung [240] • Miloš Đurđević: Seekrank [241] • Krešimir Bagić: Der Markt in Dubrava [242]; Der Hof meiner Mutter [243] • Boris Dežulović: Meine Heimat [245] • Predrag Lucić: Simonides, König von Pentapolis [246] • Miroslav Kirin: Es ist früh am Morgen, als eine nackte Frau auf dem Küchenboden kniet und betet [248] • Irena Matijašević: Der Schornsteinfeger [249] • Miljenko Jergović: Ein Mensch singt nach dem Krieg [251] • Simo Mraović: *** [252] • Damir Radić: März 1944, japanisches Lager australischer Gefangener [253] • Drago Glamuzina: Frösche [254] • Tomica Bajsić: Kardinal Kuharić am Telefon 9827 [255] • Tomislav Čadež: Unterwegs nach Perjasica [257] • Robert Perišić: Die Rückkehr des Drachens [258] • Ivica Prtenjača: Donauwellen [259] • Tvrtko Vuković: Kartographie [260] • Ervin Jahić: Gebet [261] • Slađana Bukovac: Die Tage, an denen wir Tabak ernteten [262] • Tatjana Gromača: Am wichtigsten ist es, Ruhe zu bewahren [264] • Krešimir Pintarić: Was Danijel Dragojević sagte [266] • Evelina Rudan: Ich backe Brot [268] • Tomislav Zajec: das lied von žana [269] • Dorta Jagić: Weibliche Schreibe [270] • Olja Savičević Ivančević: *** [271]; *** [271] • Bojan Radašinović: *** [272] • Bojan Žižović: Der Freund aus Sarajevo [273]; Poetisches Treffen in Bijelo Polje [274] • Saška Rojc: Das kleine Mädchen, das sie befummeln [275] • Igor Štiks: Die Anlegestelle [276] • Vlado Bulić: 009 [279] • Antonija Novaković: pontius pilatus geht in die billa und kauft [280] • Ivana Simić Bodrožić: Hotel „Dunav“ [281]; Zimmer [282] • Marko Pogačar: Every woman adores a fascist (an die verschlafenen Hausfrauen) [283] Višnja Arambašić Fotografien [Seite: 16, 38, 45, 48, 51, 55, 58, 75, 81, 87, 99, 103, 118, 136, 144, 157, 184, 197, 214, 225, 241, 244, 250, 252, 256, 261, 265, 275, 281] Relation 1_2011.indd 3 30.4.2011. 17:52:56 Relation 1_2011.indd 4 30.4.2011. 17:52:56 RELA TIONS 5 Einführung Sehr geehrter Leser, vor dir liegt eine Doppelausgabe der Zeitschrift Relations, die wir – zum größten Teil und völlig zu Recht – dem kroatischen Essay widmen. Zdravko Zima ist einer unserer geachtetsten und vielseitigsten Essayisten und wir haben versucht, die ganze Bandbreite seiner Interessen und Einsichten, die Geschicklichkeit und Schärfe seiner Feder mit einer Auswahl von Texten vorzustellen: Essays, Literaturkritiken, Rezensionen, Feuilltons, Tagebucheinträge... Neben Zimas Texten haben wir auch Auszüge aus den ausgezeichneten neuen Werken von Andreja Zlatar Wörterbuch des Körpers, Nenad Popović Eine Welt im Schatten und Igor Duda Gefundener Wohlstand. Und während Zlatar eine Reihe von Begriffen, die mit dem Körper zu tun haben, anspricht und erläutert (Berührung, Anziehungskraft, Abneigung, Alter, Krankheit, Ver- Relation 1_2011.indd 5 gewaltigung...) sind die Texte von Popović und Duda ebenfalls in gewisser Weise Wörterbücher – solche, die uns mit unseren, jedoch vergangenen, Welten und mit Begriffen/ Gegenständen/Realitäten, aus denen sie bestanden, bekannt machen – von der Schattenwelt der jugoslawischen „Gastarbajter“ aus den sechziger Jahren bis zu jener, in der wir in Kroatien gelebt haben, was wir uns in den siebziger und achtziger jahren des vergangenen Jahrhunderts gewünscht (und gekauft) haben. Im Prosablock Spiegelverkehrte Liebhaber stellen wir zwei intrigante Romane vor, die – einer aus der weiblichen, der andere aus der männlichen Perspektive – offen von Ehebruch (und Liebe), Lust (und Zärtlichkeit), einem Liebesdreieck (immer einem Dreieck), ehelicher Treue und Untreue (unter anderem) erzählen. Drei von Drago Glamuzina hat den Preis des T-Portals für den bes- ten Roman im Jahr 2008 erhalten und Ein paar Tage im August von Mirjana Dugandžija (2010) ausgezeichnete Kritiken und die Zuneigung der Leser. Deise Doppelausgabe der Zeitschrift Relations beenden wir mit einer Auswahl aus der Poesie-Anthologie, die der Dichter, Übersetzer und Kritiker Damir Šodan der kroatischen „wirklichkeitsbezogenen“ Poesie gewidmet hat – dem oftmals gelobten und ebenso oft abgelehnten Zweig der einheimischen Poesie, der in diesem Buch zum ersten Mal seine (gleich wie bedingte/schlaue/weiche) Definition, Genesis und vielleicht auch seinen Kanon bekommen hat. Fotografien in den Pausen, keineswegs Pausen: by Višnja Arambašić. Redaktion Aus dem Kroatischen übersetzt von Marijana Miličević Hrvić 30.4.2011. 17:52:56 RELA 6 TIONS ZDRAVKO ZIMA wurde 1948 in Malinska auf der Insel Krk geboren. An der Philosophischen Fakultät in Zagreb machte er sein Diplom im Studium der südslawischen Sprachen und Litertur (heutige Kroatistik) und absolvierte das Studium der Soziologie. Der Universitätsprofessor und Krleža-Experte Stanko Lasić, über dessen Studie „Konflikt an der literarischen Linken“ (1970) Zima seinen Debüttext veröffentlichte, formte ihn entscheidend. In dem Versuch in seiner Arbeit die Glaubwürdigkeit literarischer Tatsachen mit einer Mediengesetzen entsprechenden Einfachheit zu verbinden, legitimierte er sich auch als Nachfolger von Hergešić. Über diesen Aspekt seiner Arbeit äußerten sich der Germanist Dragutin Horvat und der Talianist Tonko Maroević. Eine Hommage an den Zagreber Begründer des Studiums der vergleichenden Literaturwissenschaften stellte sein Buch „Zvjezdana prašina“ dar, das den Untertitel „literarische Porträts“ in Anlehnung an Hergešić trägt. Seine Kritiken, Feuillletons, Essays und andere Arbeiten wurden in allen führenden kroatischen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht („Omladinski tjednik“, „Studentski list“, „Vjesnik“, „Slobodna Dalmacija“, „Forum“, „Quorum“, „Kolo“, „Republika“, „15 dana“). Er war Chefredakteur des Wochenmagazins „Danas“ und der Zeitschriften „Bridge“ (Zeitschrift zur Förderung der kroatischen Literatur im Ausland), „Lettre Internationale“ und „Cicero“. In den letzten zehn Jahren wirkt er als Kolumnist und Literaturkritiker der Tageszeitung „Novi list“ aus Rijeka. Seine Essays sind in mehreren Anthologien in Kroatisch und anderen Sprachen vertreten. Bis jetzt veröffentlichte er die Bücher Noćna strana uma (1990), Zvjezdana prašina (1992), Zagreb je kriv za sve (1993), Purgeri u purgatoriju (1995), Porok pisanja (2000), Zimsko ljetovanje (2001), Močvara (2002), Prikazi, prikaze (2003), Gondolijer na Vltavi (2004), Metak u petak (2005), Lovac u labirintu (2006), Život je tabloid (2007), Bordel u plamenu (2009). Eine Essaysammlung sowie ein Buch mit Tagebuchbeobachtungen sind in Vorbereitung. Für seine Arbeit erhielt er zahlreiche Auszeichnungen (Preis der Zeitschrift „Gratis“, „Julije Benešić“, „Kiklop“, „M. J. Zagorka“, „Goranova nagrada“). Relation 1_2011.indd 6 30.4.2011. 17:52:56 RELA TIONS 7 Venedig als Atlantis Zdravko Zima E benso wie es eine Seekrankheit gibt, die auf langen Reisen die Reisenden befällt, kann man sagen, dass es eine „Venedigkrankheit“ gibt. Sie ist keine Einbildung oder ist es in jenem Maße, in dem auch Venedig eine Einbildung ist. Emile Cioran fühlte sich in keiner Stadt besonders wohl – vielleicht weil er sich nicht in seiner eigenen Haut wohl fühlte – aber er kam zu dem Schluss, dass Venedig keine Realität sei und dass es sich um eine Stadt handle, die aus Unendlichkeit, Zweifel und Traum gewebt ist. In gleichem Ton schrieb Joseph Brodsky seine Prosa Das Wasserzeichen; er vermied Allgemeinplätze über einen der geheimnisvollsten Topoi der europäischen Zivilisation, vermeid es aber auch, in der Sommersaison Venedig zu besuchen, wenn die üblichen Vorstellungen über die Stadt durch Touristenanstürme vervielfacht werden. Ebenso wie der Gegenstand seiner Obsession eine Stadt ist, die zwischen Wirklichkeit und Einbildung schaukelt, die sich an die Realität wendet, um sie auf ihre Art zu demantieren, so entrückt auch seine Prosa der Eindeutigkeit aller Definitionen. Sie ist Tagebuch und Beichte, aber vor allen Dingen ein Rückblick in dem Sinne, in dem Venedig der Spiegel ist, den der Dichter vor sein Gesicht stellte. Als Kind des Nordens findet Brodsky in Venedig das so benötigte Gegengewicht, die Verwirklichung ehemaliger Illusionen, die durch die Grau- Relation 1_2011.indd 7 samkeit einer Gegend und eines Regimes vergrößert sind, aber ebenso findet er darin einen Reflex von St. Petersburg. Er ist Kenner und Neugieriger, der das gleiche Recht der Erfahrung aus Büchern und dem individuellen Gefühl zuspricht. Deshalb würden zu seiner Prosa, trotz aller Interventionen der Vernunft, als Motto Ryūnosukes Worte passen, auf die sich Brodsky ausdrücklich beruft: „Alles, was ich habe, sind Nerven.“ Im Wasser entdeckt der Schriftsteller die Metapher der Zeit, den Ausgangspunkt des Lebens, sogar einer gewissen Reinigung, trotz des Salto Mortale der Zivilisation und der Tatsache, dass das Wasser in Venedig gleichbedeutend mit einer Kloake wurde. Da vor uns das Buch eines eingeschworenen Individualisten liegt, der seine Neigungen nicht verbirgt, sondern sie sogar potenziert, wäre es nicht klug, mit seinen Thesen, Sympathien und Antipathien gegenüber Wagner, Tschaikowski, Thomas Mann oder Visconti zu streiten. Es ist nicht leicht, der Versuchung zu widerstehen, deshalb können wir trotz des schwer absprechbaren Charmes seiner venezianischen Reisenotizen wenigstens in einem nicht mit Brodsky übereinstimmen. Die Behauptung, dass man in Venedig schwer das Opfer eines Albtraumes werden kann (obwohl es eine Stadt am Meer ist!) ist fast die Folge einer touristischen Vision, eines wallfahrerischen Bedürfnisses nach Faszination und der Tatsache, dass ein Reisender, der nur das nötige Gepäck dabei hat, sein wirkliches Bündel zu Hause lässt. Die Behauptung des Autors steht im Gegensatz zu Manns Idee, die in seiner namhaften Novelle ausgedrückt ist, für die der russische Dichter und amerikanische Erzähler keine übertriebenen Lobesworte fand und die von den Thesen ausgeht, dass Venedig aus übernatürlicher Schönheit gewebt ist, dass die Stadt ihren Höhepunkt erreicht hat, ebenso wie unser Kontinent, und dass sie gerade deswegen zum Verfall verurteilt ist. Vielleicht entspringt die Faszination mit Venedig der Schönheit, die jenen Punkt der Vollständigkeit erreicht hat, der die Stadt zwecklos macht und gerade der Mangel an Zweckdienlichkeit ist die Erkenntnis zu der ein Schriftsteller gelangt, und jeder der das Bewusstsein von seiner Mission bewahrt, nachdem er jahrelang mit ein und derselben Arbeit beschäftigt ist. Die Lagunenstadt würde sicherlich nicht mit solch einer Kraft wirken, wenn sich ihr Besucher, während er diese Schönheit aufsaugt, nicht ihrer Baufälligkeit bewusst wäre. Venedig ist ein Mysterium und das Spiegelbild der verborgensten Sehnsüchte des Menschen. Deshalb ist es ein Prüfstein für jeden leidenschaftlichen Pilger, der seine Zerbrechlichkeit der Zerbrechlichkeit des menschlichen Schicksals gegenübersetzt. 30.4.2011. 17:52:57 8 So spazierte auch Brodsky, indem er durch diese Stadt ausschließlich während der Wintermonate spazierte, in sein Selbstportät. Das ist der Wendepunkt, an dem sonnenklar wird, dass der Neugierige, der, der befreit ist von touristischen Stereotypen, in andere Städte reist oder ins Ausland, um sich selbst und sein tief liegendes Innland zu entdecken. Sage mir, welche Städte du magst und ich zeichne dir dein Psychogramm! Brodsky ist ein Hyperboräer, ein Dichter einer zweifach-dreifach, jüdisch-russisch-amerikanischen Zugehörigkeit, geboren in LeningradSt. Petersburg, Universitätsprofessor mit einem amerikanischen Reisepass, der siebzehn Jahre hintereinander nach Venedig reist, um immer wieder aufs Neue fasziniert zu sein vom Wasser, der Adria und den Lagunen, die ihn, getränkt vom Grau und vom Geschmack der Unwirklichkeit, an seine Geburtsstadt erinnern. St. Petersburg ist scheinbar eine Stadt der Kälte, in dem gleichen Maße, in dem Venedig eine Stadt der Wärme ist; der Zauber des Wassers als erfrischende Substanz verbindet sie, die Brodsky mit einer Weltraumuhr identifiziert hat. Venedig, die Stadt an der Grenzscheide zweier Welten, der romanischen und slawischen, der des Apennin und des Balkan, mit der Adria als Bindegewebe ist der südliche Zwilling von St. Petersburg, der Stadt an der Neva, in russisch-finnischem Griff und baltischer Umrandung. Brodskys St. Petersburg, ebenso wie sein Venedig sind am wenigsten die Städte von den Werbetafeln, sondern so viel eher Oasen und Welten, die die Größe der Vergangenheit mit sich tragen, die bis zu dem Maße sedimentiert ist, in der Grenzen verwischt werden und die Zeitlosigkeit als einzige authentische Zeit beginnt. Man könnte sagen, um sich einer billigen Psychoanalyse zu bedienen, dass Venedig jene inspiriert, die ein Relation 1_2011.indd 8 RELA Dossier: Zdravko Zima unreines Gewissen haben, die sich nicht ihres Vorlebens entledigt haben und die in der abenddämmerlichen Verwandschaft mit seinen Veduten die eigenen Wunden lindern. So wie Andrei Bely im Roman St. Petersburg die Grenzen zwischen Poesie und Prosa relativisiert hat, so ist im Wasserzeichen, dem Werk eines prädestinierten Dichters, die prosische Faktur durch dichterischen Vortext verdünnt. Belys St. Petersburg ist die Verkörperung von geometrischer Harmonie und dem Aufstieg der Zivilisation, die die Wirbelwinde der Revolution und der kommenden Weltkriege auslöschen werden. St. Petersburg ist und ist nicht: Es hat den Anschein einer Illusion, schreibt Bely, denn es wird unter den historischen Stürmen, deren Duft in der Luft hängt, zusammenfallen. Venedig, an das sich ein amerikanischer St. Petersburger, Joseph Brodsky, wendet, ist ebenfalls aus spiegelnder Symmetrie gewebt, die solche Ausmaße besitzt, dass sie unwirklich erscheint. Es ist nicht ohne Bedeutung, dass Belys Roman 1914 entstand, in der Zeit der schweren europäischen Agonie und dass fast gleichzeitig, 1911, ein anderer Bote der Dekadenz, Thomas Mann, den Tod in Venedig schrieb. Manns Novelle trägt den Geist von Müdigkeit und Sterben in sich und antizipierte das Klima des Ersten Weltkrieges, so wie Brodskys venezianische Prosa während der Balkankrise veröffentlicht wurde, die, einigen Prognosen zufolge, die Einleitung in eine neue Katastrophe zu sein hatte. Obwohlt Manns und Brodskys Helden nach Venedig kommen, getragen von einer schwer zu stillenden Leidenschaft nach Reisen, obwohl Manns Prosa heute fast nicht lesbar ist, ohne dass man in ihr die Ankündigung eines großen europäischen Dramas erkennt, hat Brodsky keine besondere Meinung von dieser Novelle. Von ihr hielt auch Henry Mil- TIONS ler nicht übertrieben viel, doch es ist interessant, dass Brodsky im wässernen Spiegel Venedigs das Schicksal von Atlantis sieht, das Schicksal einer Welt, die so sehr mit ihrer Schönheit beschäftigt ist, dass sie früher oder später in ihr versinkt. Wir sind Venzianer der Definiton nach, behauptet der russisch-amerikanische Gedichteschreiber, denn in den Spiegelbildern der unterschiedlichen Gewässer, der adriatischen oder baltischen, die das gleiche sind wie die Zeit, identifizieren wir unsere Spiegelbilder, unsere Jugend und unser Alter, nach allem in einem Punkt zusammengeschmolzen. Brodsky war bis zu dem Maße in die Serenissima verliebt, dass er zum Schluss kam, dass man in dieser Stadt nicht auf natürliche Art sterben könne, also wäre es für einen baltischen Neuankömmling, wenn er ohne einen Pfennig darsteht, das beste, eine Browning zu kaufen und Selbstmord zu begehen. Außer tausender bekannter und weniger bekannter Venezianer starben in dieser Stadt Marin Držić, Richard Wagner und viele andere. Von Držić könnte man noch annehmen, dass er keines natürlichen Todes gestorben ist, aber Brodsky hatte offensichtlich nicht einmal von ihm gehört (ebenso wie im 19. Jahrhundert Nemčić nichts von Držić wusste, obwohl er in seinen Reisenotizen die Kirche erwähnt, in der der berühmte Bürger Dubrovniks beigesetzt liegt) und gegen Wagner war er allergisch genug, dass ihm sein Leben und sein Tod überhaupt irgendwas bedeuteten. Der russische Dichter und amerikanische Erzähler war so sehr von der venezianischen Schönheit eingenommen, dass es ihm scheint, dass dort auch die Krankheit ihr objektives Gewicht verliert. Trotz ihres Glanzes oder gerade wegen ihm, spiegelt sich im Sfumato dieser Stadt, in den Labyrinten ihrer Lagunen die Krankheit klarer als anderswo. Der erwähnte 30.4.2011. 17:52:57 RELA TIONS Antun Nemčić Gostovinski, ein niederer Adeliger und leidenschaftlicher Reisender, erkrankte ein paar Jahre nach seinem Aufenthalt in Venedig an Cholera und starb; in Manns berühmter Novelle, trotz Aschenbachs bösem Geschick, ist Venedig nicht nur das Asyl der „Schöngeistigen“ aus aller Herren Länder, sondern auch der Raum von Fäulnis und Brutstätte der Pest, auch Brodsky selbst, der sich selten von seinen Nitroglyzerintabletten trennte, musste einen seiner venezianischen Winterurlaube unterbrechen, um sein Herz zu retten und um, nach allem, seine fremdländische, aber ebenso persönliche und tief durchlebte Geschichte zu schreiben. Letzten Endes darf man nicht vergessen, dass Venedig, ebenso wie St. Petersburg, auf lockerem und sumpfigem Boden gebaut ist, dass Pestepidemien jahrhundertelang durch die Stadt wüteten und dass sich in ihr auch heute die Ufer der Verlorenen (Fondamenta degli Incurabili) befindet. Susan Sontag, Brodskys Kollegin und Newyorker Mitbürgerin, die wir ebenfalls in einem Bruchstück seines Buches finden, in Zusammenhang mit dem Treffen mit der Witwe von Ezra Pound, schrieb über die Krankheit, um sie zu detabuisieren und um, Oberflächlichkeit vermeidend, die Oberflächlichkeit gegenüber dem Leben und dem Tod zu vermeiden. Obwohl die Verknüpfung von Venedig und Krankheit immer etwas Romantisches und masochistisch Wünschenswertes in sich trug, liegt in den Grundlagen der christlichen und westeuropäischen Überzeugung, dass die Krankheit in gewisser Weise auch eine Strafe für begangene Sünden ist. So sehr es im jedem Einzelnen Prädispositionen für eine bestimmte Krankheit gibt, ebenso sehr trägt ein jeder sein Venedig in sich, sein Ideal und seine Träume. Die Pest ist in Venedig eine notorische Tatsache, Relation 1_2011.indd 9 Essays die mit dem individuellen Schicksal koinzidiert, also ist die Krankheit für Aschenbach, so behauptet auch Susan Sontag, nur eine Form seiner definitiven Degradation. Brodsky ist am wenigsten daran gelegen, den vorgeformten Erwartungen Genüge zu tun, obwohl sein Vorgehen an einen Lichtdruck erinnert, an Licht, dass sich dem Klischee entreißt, oder an einenen Wasserkamm, der die spiegelglatte Oberfläche des Wassers aufschreckt. Die Besessenheit des Schriftstellers von Venedig stammt aus seinen frühen Tagen, seit der Zeit, als sein nordischer Durst nach Wasser sein südliches Gegengewicht im Abbild von Goldonis Stadt fand. Und wahrlich spielte ein Bild, ein Foto aus dem Life, das den Markusplatz unter einer Schneedecke [!] zeigte, vielleicht die entscheidende Rolle im Erwecken seiner venezianischen Gelüste. Es fehlte nur noch diese Fotografie, damit sich Brodsky das eröffnet, was in ihm so hartnäckig keimte und darauf wartete, unter dem Wind der mediterranen Lanschaft aufzulodern. Brodsky geschah das, was geschehen musste, was heißen will, dass Fotografien und venezianische Souveniers sich an ihn hafteten wie eine Krankheit sich an einen zerbrechlichen oder leicht besiegbaren Körper haftet. Wenn wir wissen, dass sein Vater ein professioneller Fotograf war, dann erreicht seine Besessenheit von dieser Stadt – dem Zauber, der wie ein Bild zu sein scheint – und die Fähigkeit, seine eigene Sicht mit dem literarischen Objektiv zu fotografieren, ihren Höhepunkt. Jenen, in dem sein Bericht, auch wenn er nur auf der Ebene der typischsten venezianischen Plätze bleibt, gleichzeitig dokumentarisch und tief persönlich ist. Die Idee der Fotografie hat ihre natürliche Koppelung im Spiegel, in etwas, das Venedig im Überfluss besitzt, schon wegen der Tatsache, dass 9 es über das Wasser gebreitet ist wie die Henne über ihre Küken. Aus dem lateinischen Wort speculum – was Spiegel heißt – ist die Spekulation hergeleitet und sie war ursprünglich mit dem Erforschen der Sterne mittels Spiegeln verbunden. Jenseits des billigen Narzismus haben schon altgriechische Denker die Idee des Spiegels als Bildnis der Seele problematisiert. So wie das menschliche Antlitz zum Spiegel der Seele wird, so erfährt es eine Verwandlung, die dazu führt, dass jedes Individuum nicht nur für seine Handlungen sondern auch für sein Gesicht verantwortlich ist. Während wir Brodsky lesen, scheint es uns, dass wir sein Porträt nicht brauchen und dass wir ihn sehen, dass wir das Lächeln ahnen, das genau so traurig und transparent ist, wie traurig und transparent das Panorama Venedigs ist. Für Goethe war diese Stadt eine Republik der Biber, Nemčić nannte sie eine Art Kompass, für Matoš war Venedig der traurigste Ort und ein Synonym für Sterbestadt, Pasternak setzt sie mit einem Croissant gleich und Brodsky mit dem „größten Meisterwerk, das unsere Art hervorgebracht hat“. Vielleicht hat sich Brodsky am ehesten seinem kindlichen Gesicht genähert, als er konstatiert hat, dass er den Fehler begangen hat, nicht in Venedig geboren worden zu sein und dass er einen Beruf gewählt hat, der ihm keinen übermäßig hohen Status ermöglicht. Was am traurigsten ist, oder am komischsten, wenn er in Venedig geboren worden wäre, hätte er schwerlich je so ein kompaktes Buch geschrieben. Und wenn er eine andere Berufung gefunden hätte? Hätte er dann die Ausmaße der Stadt verstanden, die mindestens so zerbrechlich und gauklerhaft ist wie das menschliche Leben? Aus dem Kroatischen von Marijana Miličević Hrvić 30.4.2011. 17:52:57 RELA 10 TIONS Die Sonne ging zweimal unter Zdravko Zima T eilweise ist die Geschichte der kroatischen Literatur gleichzeitig die Geschichte der Literaturkritik und ihrer unerforschten Möglichkeiten. In einem Umfeld, das misstrauisch gegenüber Werteskalen ist, in dem Eitelkeiten den Raum der öffentlichen Leere ausfüllen, wurde diese Art der Tätigkeit gesetzlich an den Rand gedrängt. Dort, wo die Kritik als Fachsprache und als Form der herrschenden Konversation vernachlässigt ist, ist die Katastrophe der legitime Zustand, über den sich die einen mit Begeisterung äußern, die anderen mit Entrüstung, abhängig von ihrem individuellen Status. In letzter Konsequenz ist die Kritik ein Test der Demokratie, der gegenüber die balkanische Entität, vom Triglav bis zum Vardar, ihre angeborene Abneigung pflegt. Der schattige Ort der Allgemeinplätze, in dem alles gleichermaßen gut und gleichermaßen bedeutungslos ist, in dem Kitsch zum Absolutum erhoben wurde und in dem politische Schreiberlinge Kommissionen vorsitzen, die über das Zagreber Marko-Marulić-Denkmal arbitrieren, bietet sich als Rahmen an, in dem die Tätigkeit eines Kritikers ebenso geschätzt oder unterschätzt ist wie das älteste Gewerbe der Welt. Aber das ist ein separates und stets schmerzhaftes Thema, das 1 2 Vladimir Lunaček in gewisser Weise (1873-1927) provoziert. Über diesen Kritiker und Journalisten, der in Zagreb vor siebzig Jahren gestorben ist, wissen auch jene wenig, die von der Literatur leben, geschweige denn die, die sich beim Lesen auf Werbeslogans oder mechanische Zitate beschränken, die dazu dienen sollen, ihre intellektuelle Volljährigkeit zu beweisen. Was das angeht, ist Lunačeks Schicksal für die Berufung zum Kritiker bezeichnend, aber auch für ein Umfeld, das sich lieber in Heuchlerei spiegelt als in seinem unverfälschtem Bildnis. Als er starb, haben wahrscheinlich viele aufgeatmet und über Lunaček urteilte im Nachruf mit Sympathie und ausgesprochenen Reserven auch sein Busenfreund Julije Benešić. Matošs Lebensweg wurde ausschlaggebend von seinen Belgrader Jahren gezeichnet, während Lunaček, die unangefochtete Kritikerautorität in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, eine Art Bastard war: Sein Vater war Tscheche, seine Mutter Serbin und mit der deutschen Sprache kam er besser zurecht als mit der kroatischen. Das sind kulturelle Tatsachen, die unseren kulturlosen Landsmännern, die in ihrem Fanatismus bereit sind, den Königssohn Marko von Brlić in einen angeblichen Ritter zu verwandlen, ein Dorn im Auge sind. Biografische Pikanterien wären vielleicht gar nicht wichtig, wenn daraus nicht jene professionellen und journalistisch-literarischen hervogehen würden. Denn Lunačeks Größe als Kritiker in der Zeit des Untergangs der Donaumonarchie, in der Zeit illyrischer1 Rückfälle und der Stärkung Frank’schen Kroatentums steht in umgekehrtem Verhältnis zu seinen Kenntnissen der kroatischen Sprache. Obwohl er schlecht mit dem Werkzeug hantierte, mit dem er sein Ansehen aufgebaut hat, wurde er zur Legende und der höchsten Autorität, die bei vielen jeglichen Wunsch nach literarischem Wirken auslöschte. Als er über seinen Altersgenossen schrieb, lobte Matoš seinen Geist und Geschmack, war aber über seine Sprache schockiert. Wie es seine Art war, bemerkte Gustl2, dass Lunaček Französich mit einem Wörterbuch liest, aber dass er für kroatische Bücher ebenso ein Wörterbuch benötigt. Er lobte sein Stück Die Illyrer, das einen Tag vor der Uraufführung verboten wurde, und entdeckte darin geometrische Einfachheit und angemessene Dramatik. Nach dem Ersten Weltkrieg fanden Die Illyrer endlich ihren Weg auf die Bühne, aber nach dem Zusammenbruch der Franzjosephinischen Monarchie verlor das Illyrische Bewegung: kroatische nationale Bewegung, die die kulturelle, ethnische und politische Einheit aller Südslawen innerhalb der Habsburger Monarchie propagierte, sowie die Gleichstellung der Kroaten und der kroatischen Sprache innerhalb des Königreichs Ungarn verlangte. Kosename für Antun Gustav Matoš. Relation 1_2011.indd 10 30.4.2011. 17:52:57 RELA TIONS Werk an politischem Gewicht. Josip Horvat behauptet, dass nach der Zagreber Uraufführung das Parterre umsonst den Autor herbeizurufen versuchte, der sich zwischen der eigenen Theateraufführung und einem Gänsebraten ohne zu zögern für das letztere entschied. Vielleicht gab es darin etwas von einer Pose eines Bohemiens und heruntergekommenen Adeligen, der alles aufgeben konnte, aber nicht seinen Hedonismus und sein schwer zu bändigendes Temperament. Dass er die kroatischen Sprache nie so richtig beherrschte, ist nicht nur die Folge seiner tschechisch-serbischen Wurzeln, sondern auch seiner Einstellung zum Leben. Unterhaltung war ihm wichtiger als seine eigene Premiere, er ging lieber ins Kaffeehaus als in die Bücherei und mit Geld ging er um wie ein betrunkener Millionär. Lunačeks Temperament bestimmte seinen Weg als Kritiker, obwohl er in seinen Beurteilungen, die manchmal überzogen und daneben waren, nie die Grenze des guten Geschmacks übertrat. Benešić und Lunaček waren miteinander so verbunden wie zwei Finger einer Hand, doch auf die fast konventionelle Frage, ob der Verstorbene ein guter Mensch gewesen sei, antwortete Benešić in seinem Nachruf untypischerweise, aber ehrlich, mit einem Nein. Er besaß einen unwiderstehlichen Charme, trotz seines melancholischen Gesichts und der schnabelförmigen Nase, wegen seines Süßholzraspelns vergab man ihm Einiges, er war von Frauen besessen, schrieb ungern, konnte Deutsche nicht ausstehen, ebenso wie Tschechen und Slowenen, aber er war von einer zu großen Luzidität, als dass man zu dem Schluss kommen konnte, er wäre ein guter Mensch gewesen. Ein Paradox? Nur auf den ersten Blick für einen Kritiker, der repräsen3 Essays tativ für seine Schwächen war, der auf Deutsch dachte, auf Kroatisch schrieb und unvergleichlich überzeugender im lebhaften Konversieren war als im gedruckten Text. Zu jener Zeit, um die Jahrhundertwende, waren Schreibmaschinen noch eine Seltenheit und Lunaček ließ sich nie dazu herab, seine schwer zu entziffernde Handschrift zu lesen. Für seine Fehler gab er den Korrektoren die Schuld, aber seine Rettung war sein erstaunliches Gedächtnis und die Bereitschaft, auch über das zu schreiben, über das er nicht genügend Informationen besaß. Er begann in der Agramer Zeitung, der ältesten Zeitung in Zagreb, über einen kürzeren Zeitraum arbeitete er für das unionistische Tagesblatt Dnevni list, und endete als Furcht und Schrecken von Dežmans Zeitschrift Obzor. In unserem kollektiven Gedächtnis blieb er am meisten durch Valdecs Skulptur Cave criticum, als Kritiker mit Hundezähnen erhalten, in dessen Biss sich giftige und heilende Kräfte mischen. Obwohl er in der kroatischen Sprache hinkte, obwohl er mehr nach eigenen Gesetzten lebte, als nach den Gesetzen von Strebertum und krankhafter Ambition, ist er in vieler Weise das Vorbild eines Literaturkritikers geblieben. Er studierte in Wien, Prag und Zagreb, zunächst Medizin, danach Jura und war von einer zu großen Nonchalance um irgendetwas davon zu Ende zu bringen. Nach seinen Studienversuchen in der k. u. k. Hauptstadt, machte er sich auf nach Prag, wo Vladimir Vidrić studierte. Dort lernten die jungen Männer aus dem slawischen Süden Masaryk kennen und erneuerten den Geist des Illyrertums, während in Kroatien zur gleichen Zeit Josip Frank antiserbische Winde verbreitete. Obwohl er sich beim Studieren kein Bein aus- 11 gerissen hat, war Lunaček intelligent genug, um zu begreifen, dass bei den Restaurationsarbeiten an der Karlsbrücke im goldenen Prag seine Landsleute – Kroaten aus Lika – fast wie Sklaven eingespannt waren. Mit der gleichen röntgerischen Strenge zeichnete Stanko Lasić Wien auf, aus dessen Untergrund in aller Morgenfrühe schwer artikulierte Stimmen der kroatischen Sprache drangen. Am Ende versuchte sich Lunaček als Jurastudent. Er erwies sich als brilliant, aber das gab er auch auf wegen einer gewissen Mara Divković, in die er sich verliebt hatte und deren Vater eine Beziehung der beiden unterband. Besagte Mara lebte in Samobor, ebenso sie Vrazs Julijana Cantilly, so dass sich dieses idyllische Städtchen, in so vielen Liedern besungen, als sentimentale Wunde der kroatischen Literatur erwies. Lunaček schrieb zunächst Kunstkritiken, als Matoš immer mehr erkrankte, orientierte er sich auf Literatur und gegen Ende seines Lebens erboste er die Akteure des Zagreber Theaters. In der Silvesterausgabe von Obzor kommentierte er die wichtigsten Erscheinungen aus dem vergangenen Jahr, obwohl Benešić behauptete, dass er sie nicht gelesen hat, und erläuterte die Inszenierung von Grička vještica3, obwohl er sie nicht gesehen hatte. Was anderen unmöglich oder idiotisch erschien, verwandelte Lunaček in die Regel und wurde zum unangefochtenen Arbitrar in der eigenen Mitte. Außer seiner offensichtlichen Schwächen, was machte Lunaček eigentlich wirklich zu Lunaček? Seine Ausbildung war relativ umfangreich und oberflächlich, er war Antikleriker und gegenüber Politik pflegte er eine tiefe Gleichgültigkeit. Was die Politik angeht, entsprach er nicht den balkanischen Stereotypen, vor allem dadurch, dass ihm Servilität fremd Zu Deutsch: die Hexe von Grič; historischer Roman (und später auch Theaterstück) von Marija Jurić Zagorka, der ersten kroatischen professionellen Journalistin, die schwer unter der Geringschätzung ihrer männlichen Kollegen zu leiden hatte. Relation 1_2011.indd 11 30.4.2011. 17:52:57 12 war, dass er provinzielle Schulmeisterlichkeit nicht ausstehen konnte und dass er regelmäßig die jüngeren Generationen in Schutz nahm. In kroatisch-serbischen Konflikten sah er nie mehr als notorischen Primitivismus und sein Liberalismus ging Hand in Hand mit seinem Feminismus, seiner Bohemie und die Auflehnung gegen jegliches Spießertum. Welche Standpunkte diese apolitische Streithahn einnahm, erläutert vielleicht die Tatsache, dass er auf dem barocken Tisch schrieb, den der Redaktion seines Blattes Strossmayer geschenkt hatte. Da wir uns in einer Zeit befinden, in der auch über den heiteren Himmel politische Bauchredner entscheiden, erscheint Lunačeks Eigenständigkeit wie ein Museumsstück. Ebenso wie seine Verliebtheit in russische Literatur, insbesondere Dostojewski und Gontscharow, die nichts zu tun hatte mit bolschewistischen Umwälzungen und auf die irgendwelche ideologischen Wechsel keinen Einfluss haben konnten. Neben Matoš und Nehajev, mit all seinen Beschränkungen und Launen, bildete Lunaček Anfang des Jahrhunderts ein Kleeblatt von literarischen Richtern, deren Benotungen die Kraft eines Rechtsspruchs hatten. Beim Schreiben war er schlampig und zerstreut, den Kaffeehaustisch liebte er mehr als den in der Redaktion und einen Namen machte er sich vor allen Dingen dank Relation 1_2011.indd 12 RELA Dossier: Zdravko Zima seiner Intuition und irritanter Ehrlichkeit. Die letztere Eigenschaft sah man sowohl Anfang des letzten Jahrhunders als auch heute als Makel, mehr als volksgegnerische Verschwörung, weniger als Notwendigkeit und Imperativ für einen Kritiker. Atmen als Schreiben, wie Matoš sagte, Respiration und Deklination, diese Art von fanatischer Hingabe war Lunaček nicht eigen, denn Fanatismus jeglicher Art hatte mit seiner Lebensphilosophie nichts gemein. Aus Kontradiktionen bestehend, die sich dadurch erkennen lassen, dass der Teutonentum nicht ausstehen konnte, obwohl er deutsch aufgezogen wurde, dass er Frauen liebte, obowohl er zeitlebens alleine durchs Leben ging, gehört Lunaček zu jener seltenen Gattung von Kritikern, die ihren Status auf Gegensprüchen oder, was richtiger ist, auf eigenen Makeln aufbauten. Was für eine Abneigung er gegenüber dem Schreiben hatte, bezeugt Benešić, wenn er behauptet, dass in einem seiner Feuilletons die Sonne zweimal unterging. Er war eigentlich Mondsüchtig, Luna, nannten sie ihn, so dass seine Verfehlungen unschuldig erscheinen im Vergleich zu jenen, die die Sonne sehen, wo Sonnenfinsternis ist und die Wiesen an Stellen planetarischer Wüsten erkennen. Nichts war ihm heilig, außer dem Theater, in dessen Ritualen er Rituale des Alltags entdeckte und in dessen Gemächer TIONS pompös entrat, wie ein Gesalbter. Büchern gegenüber benahm er sich, als ob sie Allgemeingut wären: Wenn er sie auslieh, brachte er sie nicht zurück und wenn er zum Dieb wurde, spürte er deswegen nicht übertriebene Gewissensbisse. Er reiste wenig, außer wenn wir sein blättern in Büchern – das ohnehin zweifelhaft war – nicht als die größte aller Reisen betrachten. Nach seinen Studententagen in Wien und Prag ließ er sich definitiv in Zagreb nieder. Einmal besuchte er Belgrad, mit Benešić bereiste er Ilok und Vukovar und bekam Schwindelanfälle auf einem Flussboot und das Meer sah er zum ersten Mal in Crikvenica, als Fünfzigjähriger. Als er sein Ende nahen fühlte, wünschte er sich, dass Krleža ihn besuchen möge. Ein Autor ging fort, der andere breitete seine Flügel aus, bereit, mit seinem Flug den gesamten Horizont zu überschatten. Der erste kam in seinen Kinderjahren nach Zagreb, der zweite war gebürtiger Zagreber. Aber keiner war Agramer aufgrund seiner dienerischen Unterwürfigkeit und dirigierter Heimatliebe, was sie in dem Punkt einander nahe bringt, in dem Leidenschaft und Freiheit immer einen gemeinsamen Nenner haben. Aus dem Kroatischen von Marijana Miličević Hrvić 30.4.2011. 17:52:57 RELA TIONS 13 Professor des Leidens Zdravko Zima E insamkeit, Armut und Tod bilden die Triade, die am besten zum Leben und zum Werk von Antun Branko Šimić (1898-1925) passt. Hundert Jahre nach seiner Geburt bieten einen Abstand, der groß genug ist, damit wir wiederholt die Ausmaße eines Opuses, der längst als klassisch gekennzeichnet wurde, hinterfragen. Wodurch ist Šimić eine außergewöhnliche Erscheinung in der neueren kroatischen Lyrik? Nicht nur durch sein kurzes und leidvolles Leben, durch den Tod, mit dem jede Faser seines Wesens durchzogen war oder durch den Glauben, dass in einer Welt zweifelhafter Werte nur ästhetische Erfüllung Trost spenden könne. An geißelnden und geißlerischen Schicksalen hat es in der kroatischen Literatur nie gemangelt; gleich kurz lebten Kamov, Donadini und Sudeta und auf die Kunst schworen sie alle, unabhängig von den Gaben, die sie auf ihren Altar zu legen in der Lage waren. Außer in Lyrik versuchte sich Šimić in Kritik, Polemik und Übersetzung, er rief mehrere Zeitschriften ins Leben und blieb dabei bis heute fast gleich modern, wie er es in der Ära seiner literarischen Anfänge war. Vom Franziskanergymnasium in Široki brijeg, über Mostar und Vinkovci führte sein Weg ihn nach Zagreb, wo er seine schulische 1 2 3 Ausbildung unterbrach und sich dem Schreiben mit jener Sorte von Passioniertheit widmete, die keinen Widerspruch duldet. In der kroatischen Poesie war er und blieb ein Schrei, vielleicht wörtlich mit dem gleichnamigen Gemälde von Munch vergleichbar: Denn Pessimismus, exaltierter Erotismus und Zerfall, charakteristisch für diesen Vorreiter der expressionistischen Malerei, sind entscheidende Bestandteile von Šimićs lyrischem Ausdruck. Im Jahr 1917 gründete er die Zeitschrift Vijavica1, 1919 var er Herausgeber des Magazins Juriš 2 und 1924 rief er die Zeitschrift Književnik 3 ins Leben. Diese Literatureditionen wären an und für sich vielleicht nicht mehr als museale Tatsachen, wenn sie nicht den glaubwürdigen Stempel ihres Begründers trügen. Die Namen der ersten zwei Zeitschriften explizieren auf ihre Weise das globale Chaos, das mit dem Ersten Weltkrieg den europäischen Kontinent in Ketten legte und das auch die Künstler nicht umgehen konnte. Zu jener Zeit, die nicht weniger wandelträchtig als die heutige ist, praktizierte man die Ideen des Expressionismus auf verschiedene Arten. Einerseits führte dies zu einem kämpferisch-revolutionärem Taumel, der Idee der Brüderlichkeit, des Internationalismus und zwischenmenschlichen Egalitarismus; andererseits, im geistigen Umfeld, wandten sich Expressionisten an ferne Planeten und die Weiten des Alls. Schon damals erwies sich die Erdhalbkugel als zu eng! Der Wiener Dichter und Kraus’ Schüler Albert Ehrenstein besang den Mond, jedoch nicht als das Objekt romantischer Visionen, sondern als etwas, das er verschlucken möchte; der serbische Modernist Stanislav Vinaver meldete sich mit der EssaySammlung Der Blitzableiter des Weltalls und in Šimićs Lyrik tauchen Sterne als eins der typischsten und meist gebrauchten Requisiten auf. In jenen Jahren, als eine Welt starb und eine andere erst ihre Gebrechen entdeckte, brach der junge Šimić ganz klar mit seinen Vorgängern und nationalen Vorbildern. Nach Matošs und Wiesners Lyrik wirkte Šimić mit seiner verheerenden und gänzlich reduzierten Stimme wie eine Bombe. So wie die expressionistische Bewegung den klassischen Schönheitskult infrage stellte, für die Freiheit plädierte und mechanische Lebensformen ablehnte, die sich auf Krieg und Tod, extremes Bereichern und extremes Verarmen reduzieren, so stimmte der kroatische Dichter aus Drinovci seine maximalistischen künstlerischen Ansprüche auf den sozialen Deutsch: Schneesturm, Sturm. Deutsch: Ansturm. Deutsch: Schriftsteller, Literat. Relation 1_2011.indd 13 30.4.2011. 17:52:57 14 Aufruhr ab. Kaum jemand korrespondierte damals auf diese Art mit den neuesten ästhetischen Imperativen, kaum jemand drückte ein solches Mitgefühl gegenüber den Erniedrigten und Entrechteten aus, wovon seine Gedichte zeugen (Der Blick des Armen, Frauen vor den Ämtern, Arme Menschen). In Zagreb ließ er sich während des Ersten Weltkrieges nieder, aber es fiel ihm nicht im Traum ein, den Errungenschaften der Kroatischen jungen Lyrik zu folgen, der zu jener Zeit unabkömmlichen poetischen Matrize. Getragen vom planetarischen Chaos, auch von der Vorahnung der eigenen Krankheit, konnte er sich nicht in den Schmäh aus der Zagreber Oberstadt einleben, sondern in etwas, das sich dem ausgesprochen entgegensetzte. Es war Kunst, die symbolisch vom bereits erwähnten Schrei eingefasst war, in einer Welt, die ihre eigenen Widersprüche meistens mit einem Strom vergossenen Blutes substituierte. In einem programmatischen Text kommt Šimić zum Schluss, dass er vielleicht nicht weiß, dafür aber spürt, was Kunst ist. Für das, was er wollte, boten sich ihm eher im Ausland als im Agramer Umfeld Vorbilder. Außerdem, sein Juriš wurde so nach der namhaften Avantgardezeitschrift Der Sturm betitelt und nach dem Lektüre von Kandinsky und Worringer übernahm er die wichtigsten Errungenschaften des deutschen Expressionismus. Es ist alles in der Expression, ruft Šimić gemeinsam mit seinen europäischen Lesern, wandelt durch die Weltraumlandschaft und sein blutiges Inneres mit jener Sorte von Hartnäckigkeit, die vielleicht nurm mit religiösem Fanatismus vergleichbar ist. Darin lag auch das Problem. Liebe ist mit Religion identifiziert, Leidenschaften sind in den Dekor der welträumlichen Panerotik eingetaucht, aber Gott wurde mit Nietzsches Pro- Relation 1_2011.indd 14 RELA Dossier: Zdravko Zima phezeiung, der Zügellosigkeit der Technik und der Agressivität der Ideologien immer entfernter und ungreifbarer. Das, was sich am Anfang erahnen ließ, was historische Stürme und individuelle Krankheit unterstützten, bestätigte sich am Ende: dass das Leben nicht viel Sinn hat. Auch als er das Unglück anderer konstatierte, als er sich über die soziale Erniedrigung entrüstete oder sich ins Netz der Tanatophobie verwickelte, stieß Šimić mit dem Absurd zusammen. Mit jener Art von Unglück, das so anfassbar und schwer ist, dass man es nur in schwerelosem Zustand ertragen kann. Deshalb wandte er sich zum Himmel, sang über den Weltraum und astrale Fernen, zeigte das Bedürfnis, sich über seinen zerbrechlichen Körper zu erheben. Im Raum von Armut und Tod, dort, wo Einsamkeit und Angst weilen, sind die Sterne die erwählte Ferne und Form des Blinzelns, die den Dichter mit der Ewigkeit verbrüdert. Kaštelan nannte ihn einen Meteoren, Ristić wunderte sich über seine Fähigkeit den Tod auf sein eigenes Maß zu reduzieren, Tenžera schrieb über die Dimensionen des Zweifels als eins der typischen Zeichen von Šimićs Modernität. So sehr niemand, also auch kein Dichter, vor den großen existentiellen Dilemmas fliehen kann, so sehr nistete sich der Tod bei Šimić ein, wie in einem Drama: Er ist die Hauptfigur und Deus ex Machina, Rahmen und Inhalt, Prolegomenon und erwartetes Finale. Er bemühte sich um Klarheit als einen der Grundsteine der Poetik und machte seine zerstörerische Prädestination dem Aufruhr gegen den Tod, in dem das menschliche Wesen definitiv degradiert ist, gleich. Šimić war so streng zu sich selbst, dass er bis zu dem Maße seine Strophen schliff, das jeder Vers wie eine Art Epitaph stehen könnte. „Ich besinge mich, der ich jeden Tag unzählige Male sterbe“, sagt er in ei- TIONS nem schon kanonisierten Vers aus dem Band Verwandlungen, an anderer Stelle sieht er das menschliche Geschick als ewige Zerstörung und im Gedicht Der Körper und wir erkennt sich der lyrische Protagonist in seiner Leiche wieder. In nichts hinterfragt das menschliche Wesen so tiefgreifend das Geheimnis der eigenen Individualität wie im Spiegel des Todes. In einigen Fällen ist dieser Spiegel oberflächig, in anderen vertieft, in Šimićs Fall ist er auf beiden Seiten ausgewölbt. Ein neues Verständnis vom Tod, wenigstens was die westliche Zivilisation angeht, begann mit dem Mittelalter. Der Tod wurde zum Verstoß und in der Zeit der allgemeinen Technikfaszination stieß man ihn auf ein Fließband, auf dem nichts dem Zufall überlassen ist. Nicht einmal der zufällige Tod. In fernöstlichen Makabristiken wird die Todesstunde als privilegierter Punkt behandelt, in dem der Sinn des Menschen zusammenläuft. Dort, wo die Ewigkeit aus Fetzen der Vergänglichkeit zusammengeschneidert wird, wo der Tod nur eine Sprungfeder auf dem Rädchen der Weltraumuhr ist, scheint der Šimić’sche Aufruhr gegenstandslos. Im Gegensatz zu solchen Ansichten ist das Leiden des Dichters bis zu einem gewissen Maße durch den Glauben an die perpetuierende Kraft des künstlerischen Aktes ausgelöscht. In diesem Falle war es gewiss so: Šimić stellte sich zu Lebzeiten nur mit dem Gedichtband Verwandlungen vor und sein Erscheinungsjahr (1920) ist eins der wichtigsten Daten in der Geschichte unserer Lyrik. Das Buch wurde in einer Auflage von 500 Stück gedruckt, die Titelseite entwarf Sava Šumanović, und die 48 Gedichte, die ihren Weg zwischen die Umschlagdeckel fanden, fesseln einen heute noch mit ihrer Kompaktheit. Dem Leid ist der Traum von der Verwandlung gegenübergesetzt, von der 30.4.2011. 17:52:57 RELA TIONS Verschmelzung mit einer Reinheit, die in den Höhen der ewig flackernden Sterne fassbar ist. Der schon zitierte Kandinsky hat über die weiße Farbe geschrieben, oder NichtFarbe, die einen Zustand absoluter Stille hervorruft. Sie kann Seligkeit und Tod bedeuten, den Zustand vor jedem Anfang und nach jedem Ende. Wie sehr Šimić den Überlegungen des großen russischen Avantgardisten nahe stand, zeigen folgende Verse: „Meine Seele ist ein finsterer nackter See/in einem kalten weißen Tag/Über dem Wasser fliegen keine weißen Möwen/Unter dem Himmel rauschen keine blauen Wolken/ Oh, wie steht alles still/steifes scharfes Weiß!“ Da Weiß einigen Theorien zufolge keine Farbe ist, da man es nicht variieren kann, wird es als Grenzwert betrachtet. Es suggeriert gleichzeitig Licht und Fall, Metamorphose und Blendung, jungfräuliche Reinheit und Todesstunde. Wie ein Professor des Leidens führt uns Šimić in die Prosektur ein, in der statt Toter und ehemals Lebender nur endloses Weiß herrscht. Das ist vielleich ein Körper, der in seinem Hemd zappelt, der in sich den Samen der Lasterhaftigkeit trägt und der zum Ende verurteilt ist. Wenn es richtig ist, dass Gott nicht gern in denen weilt, die von ihrem Körper dirigiert werden, stellt sich die Frage, wie der Dichter das dritte Auge befreit hat, das ihm das Licht des Alls jenseits des leidvollen weltlichen Ganges enthüllt. Denn jede Notwendigkeit kann physisch und metaphysisch sein. Wie oft hat es sich gezeigt, dass ein Einzelner sein Leben herabgewürdigt hat, dass er es in eine Formel verwandelt hat, in eine streng festgelegte Ordnung, nur Relation 1_2011.indd 15 Essays damit er unerreichbar hoch hinauffliegt! Šimić siechte aus Liebe dahin, nach der vor ihm auch Rimbaud suchte. Die schwer zu entwirrende Zweiheit, Šimićs Hin-und-Hergerissenheit zwischen Pneumatischem und Traumatischem erforschte bei Rimbaud Yves Bonnefoy. Der große französiche Dichter besaß eine majestätische Sanftheit, aber er war gleichermaßen gebrandmarkt von unwiderruflichem Hass, der vielleicht als Pose hätte verstanden werden können, wenn er nicht in ihn selbst gedrungen wäre und ihn gemürbt hätte. Dieses kontradiktäre Verhältnis zwischen Weichem und Hartem, Feinfühligem und Herbem ist beim kroatischen Gedichteschreiber bemerkbar. Niemand in unserer neueren Literatur verhielt sich gegenüber Worten mit solch einem Asketismus, niemand vor ihm entzauberte bis zu dem Maße den Journalismus, hinter dem Söldlinge von Banken und billigem Sensationalismus stehen. Während sich ein Zeitungsautor immer in gewisser Weise der Öffentlichkeit unterwirft, meint Šimić, dass ein Schriftsteller gegen das Publikum denken muss, denn durch den Aufstand gegen die Mehrheit rebelliert er gegen Stereotypen und den verknöcherten Geist einer Zeit. Der krankhaft sensible Dichter, der in jeder Kleinigkeit Zeichen von Zerfall sah, der auch die rote Frucht des Granatapfels mit der Granate gleichsetzte, und behauptete, dass sich ein Wort vom Symbol für Leben in ein Symbol des Todes gewandelt hat, pflegte dem Schreiben gegenüber eine fast mörderische Strenge. Während seine Kollegen postmatoš’sche Laudationen verfassten, lehnte Šimić Kanons ab und trug Aufstand und 15 Protest wie sein festlichstes Gewand. Verwandt war darin mit ihm nur Krleža, von dem ihn – auch das ist ein Paradox, ein kroatischer oder literarischer – Lichtjahre trennten. Niemand begrüßte wie Šimić die Anarchie, fand in ihr ein Synonym für das Leben und schauderte über das, was die anständige Mehrheit als Maß nimmt. Niemand hat so laut gegen die zweifelhaften Anforderungen des Publikums aufgeheult und gegen die Taugenichtse, die die öffenliche Szene überschwemmt hatten. Er glaubte, vielleicht naiv, dass es gut sei, dass Schriftsteller miserabel honoriert werden, weil sich so weniger Dilettanten in ihre Reihen einschleichen würden. Wenn er Matoš in der Dichtkunst nicht folgte, so folgte er ihm in der Kritik. Die Reinheit war das Ideal, dem er alles unterwarf: sein Leben und seine Zeitgenossen, die er ohne Mitgefühl und einen Hauch von Gefälligkeit beurteilte. Er war hart genug, um sich auf jeden zu stürzen, aber auch persönlich genug, dass seine Kritik trotz Allem ein entsprechendes Gewicht behalten konnte. Hundert Jahre nach der Geburt des Dichters, an der Schwelle zum neuen Jahrtausend, besteht die Reinheit als Möglichkeit! Rimbaud blieb groß, weil er alles verwarf, was ihm seine Zeit als Wert angeboten hatte. Schließlich identifizierte Bonnefoy in ihm ein Grab, das Grab beigesetzter Freuden und eines Lebens, das wegen seiner Ansprüche des Gleichgewichts und des elementaren Glücks beraubt war. Etwas Anderes dürfte sich kaum für Šimić schlussfolgern lassen. Aus dem Kroatischen von Marijana Miličević Hrvić 30.4.2011. 17:52:57 RELA TIONS Foto: © Višnja Arambašić 16 Relation 1_2011.indd 16 30.4.2011. 17:52:57 RELA TIONS 17 Das Leben mit einem Kadaver Zdravko Zima I n einer Reihe von Apostelbriefen an namhafte Damen aus der kroatischen Kulturgeschichte, sowohl wirklichen und als auch fiktiven, wandte sich Pavao Pavličić auch an Madona Markantunova. Die betagte Kontesse, die Hauptheldin von Novaks Roman Gold, Weihrauch und Myrrhe ist unserer Zeit wahrscheinlich nahe, aber doch entfernt genug, um als eine Art Ponton zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen dem, was war und dem, was ist, dienen zu können. Pavličić schrieb an Madona, nicht nur weil es sich um eine der berühmtesten Frauenfiguren der neueren kroatischen Prosa handelt, oder aus Gründen der Courtoasie und streng protokollarischen, obwohl man auch solche Motive nicht außer Acht lassen sollte, wenn Briefe geschickt werden. Hinter der Form verbirgt sich der Inhalt: In der Gestalt von Madona sah der Absender die Verkörperung der Geschichte, eine ununterbrochene Kette, vielleicht einem Familienbaum ähnlich, an den wir gebunden sind, wie Blätter an Wurzeln und Adern und in dem wir einander Erlösung oder schwer zu ertragende Last sind. Als fruchtbarster kroatischer Romanschreiber, wendet sich Pavličić an Madona, weil er sich ihres Statuses in der rezenten Prosa bewusst ist, aber er wendet sich auch um seiner selbst willen an sie. Indem er sich in einer fast vergessenen Form wie dem Brief versucht, stellt er sich die Frage nach den Gründen Relation 1_2011.indd 17 des Schreibens und nach dem Roman, als demjenigen, der unsere literarische Identität ausschlaggebend bestimmt. Wenn er erklärt, dass Madona eine Gestalt ist, die die Vergangenheit symbolisiert, aber gleichzeitig die Verkörperung der Geschichte ist, die nie stirbt, ist er auf den Spuren unserer blutigsten Dilemmas. Pavličić ist dann im Fokus der Geschichte, mit der, so scheint es, jeder unserer Gedanken über den Roman beginnt und endet. Ein Zagreber Simenon und ordentlicher Professor an der Philosophischen Fakultät untermauert einerseits Eliots Thesen aus dem Essay über Tradition und individuelles Talent, während er andererseits die Geschichte als erstklassige nationale Faszination entblöst, in einer Zeit, in der große Völker Ideen über das definitive Ende der Geschichte servieren. So spiegeln sich in einem Brief an eine Kontesse, unverwüstbar wie ein hundertjähriger Olivenbaum und ermattet wie Methusalem, unsere schwer zu heilenden Taumatas. Um uns aus der Falle der Geschichte zu befreien, müssen wir sie zunächst ausleben; dann wird Madona nicht mehr das Zeichen oder die Inkarnation eines kollektiven Zustandes sein, sondern eine alt gewordene Matrone, was Pavličić allem Anschein nach möchte. Dass Pavličićs Brief an die richtige Adresse gesendet wurde, ist nicht schwer zu beweisen, denn Madona bei Novak ist das gleiche wie Godot bei Backett. Seit 1968 die erste Ausgabe erschienen ist, erreichte Gold, Weihrauch und Myrrhe den Status des meistgelesenen und meistübersetzten kroatischen Romans. Eine andere Frage ist, inwiefern die verhältnismäßig bescheidene nationale Produktion dem Pate stand, und wie verdienstvoll Novaks Kunstfertigkeit ist. Von 1968 bis heute, im Zeitraum von 30 Jahren wurde Gold, Weihrauch und Myrrhe in neun Ausgeben gedruckt. Im Jahr 1971 drehte Babaja den gleichnamigen Film, drei Jahre später brachte Violić im Zagreber Theater ITD das gleichnamige Stück auf die Bühne, und der Roman wurde ins Ungarische, Slowenische, Polnische, Englische und Deutsche übersetzt. All das genügte, um in der neu ins Leben gerufenen Edition von Matica Hrvatska, mit der man plant, die wichtigsten Romantitel aus der nationalen Produktion zu präsentieren, Gold, Weihrauch und Myrrhe als erstes zu drucken. Mit den Aquarellen von Matko Trebotić und für diese Gelegenheit verfassten Beiträgen von Jelena Hekman und Tonko Maroević, wurde eine Ausgabe vorbereitet, die als eine Art Klassiker angeboten wird, aber auch als Stoff, den man zu jeder Zeit zum Neulesen aufschlägt. Als er sich an einer Stelle in die Typologie des Romans einlässt, behauptet Solar, dass der Roman so viele Vorbilder hat, dass man zu dem Schluss kommen könnte, er hätte gar keine Vorbilder. Diesen Gedanken paraphra- 30.4.2011. 17:52:57 18 sierend nähern wir uns in gewissem Maße dem Geheimnis von Novaks Roman: Denn beim Lesen von Gold, Weihrauch und Myrrhe entdecken wir Ironie und Selbstironie, eine hochkodifizierte kroatische Sprache und italienische Ausdrücke, einen kauderwelschen Geist und das Bedürfnis zu Parodieren, jedoch werden wir schwer die Lehrer des Autors erkennen. Trotz seiner Verwurzelung in der Heimat, trotz seines fast mythischen Bandes mit der mediterranen Landschaft und der insularen Sensibilität könnte man vielleicht sagen, dass Novak sein eigener Vorgänger und gewissenhafter Fortsetzer ist. Oder, um sich auf einen der fabelhaftesten Monologe seines Haupthelden zu berufen: Er selbst war sein großer Vorfahre, nun ist er seine kanonisierte Nachkommenschaft! Dass dem so ist, beweist eine redaktionelle Notiz, in der es heißt, dass der Autor die neueste Version des Romas bearbeitet hat und den Liebhabern seines Opuses ist bekannt, dass Novak eine Neuversion seiner Novelle Badessa madre Antonia geschrieben hat. Auch wenn es sich nicht um eine Erzählung gehandelt hätte, die schon in die diversesten Anthologien Einzug gefunden hatte, war dieser Einschnitt unerwartet und undenkbar bis zu jenem Maße, in dem jeder Kanon als in Zement gegossene Tatsachen angesehen wird. Von ganz anderer Art sind Interventionen in das Gewebe des Romans, die ihm nichts genommen haben und die den Roman drei Jahrzehnte nach der Ersterscheinung der Neugierde der Leser wieder offenbaren. In dem zitierten Brief an Madona behauptet Pavličić ausdrücklich, dass jeder kroatische Roman in seinem Wesen ein historischer ist. Diese Konstatierung bringt uns zurück zur Geschichte als der Grundrichtlinie des Romans und zu dem Bewusstsein, dass sich ihre Grenzen nur schwer oder gar nicht überspringen lassen. Relation 1_2011.indd 18 RELA Dossier: Zdravko Zima Aber ein Schriftsteller wendet sich an die Geschichte anders als ein wissenschaftlicher Forscher. Der erste ist in der Sphäre der Legende und palimsestierter Zwei – oder Dreifaltigkeit, der zweite greift nach Fakten, um sie in seine hermetisch geschlossenen Schubladen zu stecken. Der erste wird von moralischen Imperativen und seinem aufgebrachten Bewusstsein getragen, der zweite sucht im Flechtwerk der blutigen und unglaublichsten Geschehnisse immer nach passenden Gesetzbarkeiten. Die Geschichte ist das Bild einer existentiellen Begrenzung, von dessen Margine aus sich der Blick auf die Freiheit erstreckt. Wenn sie nicht die Lehrerin des Lebens ist, ist die Historie die Projektion und der Rahmen der mythischen Unübersichtlichkeit, im Gegensatz zum Zeitgenössischen, das sich auf den engen Spalt zwischen dem, was verschwunden ist und dem, was eventuell verschwinden wird, beläuft. So wie sich die geschichtliche Vorgegebenheit nicht mit der eines Romanschriftstellers identifizieren kann, so wäre es auch illusorisch, den kritischen Aspekt von Novaks Roman nur an die Zeit, in der er geschrieben wurde, zu binden, obwohl genau diese Zeit seine schriftstellerische Fruchtbarkeit bewirkt hat. Wenn das harmonische Bild der Welt zerrüttet wird, verdreht sich der Mythos in Mystifikation, die Idee in Ideologie und irrationele Lynchjustiz. Novaks Protagonist Mali stöhnt unter der Last des roten Kollektivismus, während aus seinem Inneren die Pulsierungen des katholischen und selbstbestrafenden Bewusstseins ertönen. Zwischen Stern und Kreuz, zwischen Insel und Festland, an der Grenze zweier Welten und zweier schwer versöhnlicher Religionen tickt sein Schicksalschronometer. Indem er sich der Welt widersetzt, ihren Parolen und Stereotypen, wird er in letzter Linie seine traurige Hilf- TIONS losigkeit bestätigen. Der Konflikt seiner Bestrebungen und der bestehenden Normen führt zu einer Gespaltenheit mit allen Traumatas und Missverständnissen, die so ein Zustand mit sich bringt. Als er sich von der Wahl sieht, zwischen dem geschichlichen Pragmatismus und der eigenen Überzeugungen, zwischen der geheuchelten Wahrheit und dem Wunsch nach Reinigung, entschied sich Novaks Held für das zweite. Auch der Roman Gold, Weihrauch und Myrrhe, trotz seines exkrementalen Kalenders, trotz der Tatsache, dass er innerhalb von achtzehn Tagen stattfindet, so lange wie der Abstand zwischen dem einen und dem anderen Stuhlgang von Madona dauert, ist vor allen Dingen von dem Bedürfnis nach Reinigung geleitet. So wurde zwischen menschlichen Fäkalien und dem Unrat, welcher den Menschen umgibt, ein Gleichzeichen gesetzt, auf eine Weise, die in der neueren kroatischen Literatur noch nie da gewesen ist. In ihren wichtigen Etappen beläuft sich die Geschichte auf Kriege, große und kleine Revolutionen, große und kleine Diktatoren. Aber für einen Schriftsteller ist sie am wenigsten attraktiv, wenn sie nicht auf die Ebene existentieller Unruhen, verkörpert in einem Individuum und seinen tiefsten Forderungen, begrenzt wird. Novaks Held enschloss sich in einer solchen Zeit für eine freiwillige Isolation. Nicht nur das, wenn Madona ein lebender Kadaver ist, der sich auf rektale Pulsierungen beläuft, verwandelte Mali seine Zeit in Vegetieren und Samariterwerke als Form der Sühne. Madona ist ein medizinisches Phänomen oder eine Mumie, die sich aus einer anderen Welt meldet, während Novaks Isolationist ein lebender Toter ist, der an der Gegenwart stirbt. Sie währen fort im Schatten erwarteter Zyklen, zwischen Sakralem und Profanen, impregniert durch die Ironie von Madonas Kurator, der sei- 30.4.2011. 17:52:57 RELA TIONS nen Invalidenstatus mit der Invalidität einer Zeit gleichgesetzt hat. Und obwohl er am wenigsten von der Geschichte und ihrer Mystifikationen lebt, in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit schient Novaks Protagonisten die Vergangenheit als einzige Realität. Und diese Realität ist in Madona verkörpert, um die er sich kümmert und in der er, nach allem, den Sinn der eigenen Opferung entdeckt. Umgeben von einer Welt, in die er nie einwilligen konnte, zwischen der einen und der anderen Scheiße, der dort oben, in der Metropole, und der hier, auf der Insel, wählte Novaks Held lieber das Einsiedlertum. Mit Madona als seinem Kreuz, mit der hundertjährigen Matrone, in deren Antworten sich Senilität und Luzidität mischen und in deren verbalen Ausfällen er sein eigenes Echo sucht. Selten sind die Romane in der kroatischen Literatur, die so viele lebensbringende Säfte haben und die bis zu dem Maße vom Tod getragen werden. Selten sind die Romane, die so fest gefügt und kohärent sind, dessen Fabel trocken wie ein Stockfisch ist, und die einen nichtsdestotroz mit ihrer Offenheit und verschiedenen Inerpretationsmöglichkeiten fesseln. Es gibt wenige Bücher, in denen Nachttöpfe, Rektalstöße, Fäkalien und Kanalisationsrohre erwähnt werden, die aber mit dem Geruch rechnen: nicht als Sinn, sondern als Form der Erkenntnis. Schlussendlich, es gibt wenige Bücher, in denen sich der Standardwortschatz mit idiomatischen Füllwörtern vermischt, in de- Relation 1_2011.indd 19 Essays nen italienische, lateinische und lokale Ausdrücke Hand in Hand gehen und die als Muster der kroatischen Sprache geboten werden. Wenn sich ein Roman mehr im Entgegesetzen dem, was ihm vorausgegangen ist, entwickelt, als im mehanischen Folgen, kann Novaks Beispiel dafür als Bestätigung dienen. Wenn es richtig ist, dass die Zeit in der (post)modernen Prosa zeitlos ist, weil sie eine ebensolche Erkentnis sucht, dann identifiziert sie sich letztendlich mit der Ewigkeit und Ewigkeit ist das letzte Wort in diesem konfessionellen Roman. Gold, Weihrauch und Myrrhe hat einen Zeitablauf, der gleichzeitig fest gefügt und zyklisch unbegrenzt ist. In achtzehn Tagen, wie viele zwischen der einen und der anderen Defäkation von Madona vergehen müssen, zwischen der vorweihnachtlichen Stimmung und dem Dreikönigstag, schließt sich der Kreis der alltäglichen Rituale. Madonas Nervereien, Mali und seine Draga, die stotternde Erminija und der Doktor, der von dem Krempel auf dem Dachboden mehr angezogen ist als von der hundertjährigen Kranken. Obwohl die Anspielungen auf ein Regime klar genug sind, legt sich Novak nie auf die Art einer doktrinalen Orientierung fest. Sein Held hat sich von allen Illusionen befreit, die die Möglichkeiten eines menschlichen Wesens übersteigen und sich lediglich als Stahlpanzer anbieten. Indem er seine Geschichte auf einer Insel ansiedelte, stellte Novak die Kehrseite einer ideologisierten Welt 19 dar, schob die einzelne Geste und die Geduld des Einzelnen in den Vordergrund, auch wenn sie nur durch eine verwelkte Madona hervorgerufen wurde. Als er über die Abnutzung des literarischen Textes schrieb, erklärte Dorfles, dass seine Dauerhaftigkeit von einer ganzen Reihe unterschiedlicher Umstände abhängt. In einem Umfeld, das zu Zerschlissenheit und Vergänglichkeit eine tiefe Affinität hegt, umging diese Abnutzung ein so anspruchsvoller Roman wie Gold, Weihrauch und Myrrhe. Obwohl wir in der Ära des Postmodernismus und Populismus leben, in der keinem etwas am Warten und Vegetieren liegt, wurde Novaks Roman über das Vegetieren auf die höchste Stufe gehoben. Seine Prosa bringt uns zu einem russischen Mystiker zurück, der zu dem Schluss gekommen ist, dass der Mensch ein Organismus ist, und die Gesellschaft sein Organ und nicht umgekehrt, wie viele heute noch meinen. Die individuelle Befreiung, laut des Mystikers Nikolai Berdjajew, wird nicht möglich sein, bis sich das menschliche Wesen von der Sklaverei der Geschichte befreit. Solange das nicht geschieht, wird das Schicksal des historischen Romans das selbe sein, wie das Schicksal der kroatischen Literatur. Das dem so ist, kündigt dieser Roman über das Leben mit einem Kadaver an. Denn nur Einfaltspinsel denken, dass eine so bizzare Geschichte einer anderen, längst abgeschlossenen Zeit, gehört. Aus dem Kroatischen von Marijana Miličević Hrvić 30.4.2011. 17:52:57 RELA 20 TIONS Metropole und Nekropole Zdravko Zima I m Jahr 1985 erhielt Italo Calvino die Einladung, in den Vereinigten Staaten einen Vorlesezyklus nach eigener Wahl abzuhalten. Der namhafte Erzähler und Theoretiker beschloss, über die Eigenschaften zu referieren, die die Literatur an der Wende zweier Jahrtausende als gewisse Axiomatik fördern sollte. Die Lezioni americane sind einzeln nach genau diesen Eigenschaften benannt worden, über die Calvino Vorlesungen gehalten hat: Leichtigkeit, Schnelligkeit, Exaktheit, Sichtbarkeit und Vielfältigkeit. Da er in genau dem Jahr verstorben ist, ist die sechste Vorlesung, über die Festigkeit, nur ein Projekt geblieben. Und so erscheint nach allem auch Calvinos Nachlass, wie ein Schloss, dem einige Fenster oder eine schützende Balustrade fehlen. Inwiefern dem der unvorherssehbare Tod Pate gestanden hat, und inwiefern der Autor selbst, ist eine andere Frage. Wie dem auch sei, mit dem Ende des Jahrtausends stellte sich Calvino bei verscheidenen Gelegenheiten die Frage nach der Zukunft der Literatur. In den gerade erwähnten Vorlesungen betonte er, dass er seinen Optimismus auf der Überzeugung aufbaue, dass es einige Erfahrungen und Tatsachen gäbe, die sich nur mithilfe von Worten vermitteln lassen. Mit dem Ende einer Epoche, mit dem Jahr, das die Menschheit wie ein Fatum erwartet, mehren sich diverse Propheten und Chiromanten, obwohl Relation 1_2011.indd 20 es von der Ankündigung eines neuen Geistes in der Literatur auch anderswo keine Spur gibt. Alles erscheint wie ein Sich-im-Kreis-Drehen, in dem die Regeln bekannt sind und die Varianten längst ausprobiert. Mit der Literatur im Bewusstsein, die Tradition und Avantgarde, Regularität und Irregularität miteinschließt, baute auch Calvino sein Opus auf. Im italienischen Umfeld verband man ihn mit Pavese und Vittorini, als Vorgänger und eine Art Mentoren, aber im Sinne der Generationszugehörigkeit und Ideologie könnte man auch Pasolini hizufügen. Schon in seiner Anfängerzeit hat ihn Pavese das Eichhörnchen der Feder genannt und diese Attribution wäre vielleicht nicht mehr als ein geistvoller Einfall, wenn sie Calvino nicht in den Jahren seiner Arbeit ständig bestätigt hätte. Heute können wir sagen, dass Calvino der totale Schriftsteller ist, dem Fragmentarität eigen ist: Zunächst war die Fragmentarität Teil eines geplanten Projekts, das sich in Notwendigkeit verwandelte. Was heißen will, dass der Schriftsteller Unvollendetheit fingiert hat und dass dann der Tod diese Unvollendetheit finalisiert hat. In Calvino paarten sich Fantasie und Intellekt, Sensibilität und konstruktivistische Strenge. Durch verschiedene Umstände wurde er auf Kuba geboren, aber lebte schon seit frühester Kindheit in Italien. Seine Frau war Argentinierin, Signora Chichita Esther und sein Liebling, der Argentinier J. L. Borges. Biographische Daten sind in keinem Fall außer Acht zu lassen, denn dieser kubanische Italiener trug in sich die Unübersichtlichkeit der Welten, die nicht an räumliche und zeitliche Grenzen haftete und die er in seiner Literatur konsequent vertrat. Selbstverständlich war Borges sein Liebling in dem Maße, in welchem er, wie der namhafte Argentinier, die Idee des unendlichen Buches annahm, das man von vorne und von hinten liest, wie eine Enzyklopedie oder ein ideales Wörterbuch. Calvino ist der geborene Dialektiker, der auf Schritt und Tritt Zweiheit als Spiel der Gegensätze und ein Annähern an Fülle ahnt. Oder wie der Epheser Heraklit erklärte: „Es ist immer dasselbe, Lebendes wie Totes, Waches wie Schlafendes, Junges wie Altes.“ Diese Einheit der Gegensätze ist das Grundprinzip von Calvinos Literatur und seiner Weltanschauung. Er ist gleichzeitig Mystiker und nüchterner Konstruktivist, ein Schriftsteller der rezente wissenschaftliche Errungenschaften angenommen hat, der aber Zeit seines Lebens leidenschaftlich nach seinem Märchen suchte. Nach dem Zweiten Weltkrieg widerstand er den Kanons neorealistischer Prosa, danach beschäftigte er sich mit Science fiction und in den siebziger Jahren nahm er die Errungenschaften des Strukturalismus und der Semiotik an. Kritiker stellten fest, dass sein bestes Buch Wenn ein Reisender in ei- 30.4.2011. 17:52:57 RELA TIONS ner Winternacht, ein Roman über den Roman, aus zehn Kapiteln besteht, in denen man immer von vorne anfängt. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes ein offenes Werk, in dem der Inhalt mit der Struktur gleichgesetzt ist und die Struktur mit dem Inhalt. Vor dem Leser liegt ein Antibuch und ein Antiroman, der sich dem Ende widersetzt – oder dem Tod – auf die Art, dass sein Schöpfer, wie Sisyphos, immer wieder an den Ausgangspunkt zurückgeht, seinen Stein immer wieder aufs Neue bewegt. Das Geheimnis der Initiation, von dem Calvino besessen ist, lässt sich mit dem Geheimnis der Geburt als elementaren Geheimnis des Lebens vergleichen. Oder wie Sloterdijk räsoniert: Ich weiß, was Beginnen ist, wenn ich nicht darüber nachdenke, aber wenn ich nachdenke, weiß ich es nicht! Während das Publikum gemeinsam mit der Kritik den Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht bejubelte, hielt Calvino das meiste von seinen Unsichtbaren Städten (Le città invisibili), einem poetischen Reisebreviar, den Tatjana Peruško ins Kroatische übersetzte und der Zagreber Verlag Ceres veröffentlichte. Wenn man in seinen Büchern blättert, gewinnt man den Eindruck, dass der Mensch sein Leben lang etwas Verborgenes einzufangen sucht oder etwas, dass ihm im Moment, in welchem er sich dem nähert, fatalerweise aus den Händen gleitet. Calvino ist eigentlich ein Manierist und Makabrist, der die Welt als Schein akzeptiert. In dieser Hinsicht und hinsichtlich seines Ideals der dichten Prosa, die Märchen mit mathematischer Genauigkeit paart, ist er wieder Borges nahe. Für uns Kroaten, die wir immer wieder aufs Neue unseren Platz unter der Sonne suchen, auch unter der Fittiche des stiefmütterlichen Europas, ist in gewisser Weise die Tatsache interessant, dass Calvino den Anstoß für seine Prosa im Nachlass von Marco Polo gefun- Relation 1_2011.indd 21 Essays den hat. Während unsere Landsleute behaupten, dass der legendäre Abenteurer und Reiseliterat von der Insel Korčula stammt, sieht ihn Calvino als gebürtigen Venezianer. Nicht um ihn irgendwem wegzunehmen, sondern um zu zeigen, dass nur jemand, der einer so spinnwebartigen Stadt, einer Schein-Stadt, entsprossen ist, eine so majestätische Fantasie besitzen kann. Um die Eigenschaften von fernen Städten zu begreifen, muss ich bei mir selbst und bei Venedig anfangen, erklärt an einer Stelle Marco Polo im Gespräch mit Kublai-Khan. Der venezianische Abenteurer gelangte bei seinen Irrfahrten bis nach China und anderen fernöstlichen Ländern. Dort lernte er Kublai-Khan kennen und blieb etwa zwanzig Jahre lang in seinem Dienst. Nach dem Zusammenstoß der Genueser und venezianischen Armada landete er im Kerker. Dort erzählte er seine Erlebnisse seinem Freund Rustichello (denken Sie an Šoljan!), der sie in einem in französicher Sprache geschriebenem Werk aufzeichnete; später wurde das Buch unter dem Titel Il Milione bekannt. Polos Reisebericht diente als Vorlage für Landkarten und Reisen und war auch Calvino für seine Unsichtbaren Städte von Nutzen. Denn Literatur ist nichts Anderes als eine Reise! Imaginäre Dialoge zwischen dem mongolischen Herrscher und des großen Reisenden übernehmen in Calvinos Visur die Funktion eines Prologs und Epilogs. Sie sind die Einleitung in Polos fantasmagorischen Atlas, in dem die aleatorische Macht seines Schöpfers mit lyrischem Beben verbunden und zu den höchsten Höhen erhoben ist. Wenn die Grundaufgabe der Literatur das Verwerfen abgenutzter Matrizen ist oder die Inventarisierung, die so vorgenommen wurde, dass das Alte das Neue zu sein scheint, dann ist Calvino auf dem Thron. In seinem 21 venezianischen Buch hat Brodsky die Liebe als Verbindung zwischen Spiegelbild und seinem Gegenstand bestimmt. Obwohl die Liebe eher alles Andere ist, als Definitionen unterworfen, verbirgt sich in Brodskys Worten das Geheimnis von Calvinos poetisch-prosischen Rebus. Seine Städte sind Tatsache und Schein, gekennzeichnet vom Verlangen als der Voraussetzung jeder Reise und jedes Abenteuers: dem eingebildeten, von dem der allmächtige Khan beflügelt wird oder dem wirklichen, mit dem Marco Polo infiziert ist. Die Stadt verschmilzt mit dem Verlangen, das Verlangen mit der Frau. Deswegen sind die Städte aus Calvinos Atlas alle mitsamt weiblichen Geschlechts: Isadora, Dorotea, Anastasia, Tamara, Zora, Fedora. Jede Stadt ist eine Frau, jede Frau ein Mandala, Kreis und Ichheit, Weltraum und seine individuelle Zusammenfassung. Auf diese Art verstanden bringen uns Calvinos Unsichtbare Städte einerseits zurück in die Vergangenheit, während sie andererseits in die Zukunft hasten. Und noch weiter, dorthin, wo es keine Grenzen gibt, wo der Raum relativisiert ist und Leben und Tod mit dem Netz des Scheins bedeckt sind. Die Literatur als Kaleidoskop oder ein holographisches Paradigma betrachtend identifizierte Calvino in der Stadt die Welt, ihre Kreuzwege und unverborgenen Zeichen, so wie die Welt an und für sich geräumig genug ist, dass er in ihr und ihren Städten seine Fantasie befreit. Im Fragment enthüllt sich das Ganze, im Ganzen das Fragment, das in seiner Subordinarität wiederum auf die Totalität hindeutet. Vielleicht ist dies ein Kreis, ein Spiel von Licht und Schatten, Trick und Tarock, das Systematisierung bedeutet, obwohl es sich in letzter Linie jedem strengen Versuch der Systematisierung widersetzt. Seine schönste Stadt setzte Calvino allem Anschein nach einem perfekten Text gleich, der sich, wie ei- 30.4.2011. 17:52:57 22 ne Sator-Formel, von links und von rechts lesen lässt. So wie sich in einer idealen Stadt alle Wege gabeln und in einem Punkt zusammenlaufen. Für den italienischen Schriftsteller, ebenso wie für seinen mittelalterlichen Vorgänger, ist die Stadt ein filigraner Plan, Spiegel und Symmetrie, in der der Neugierige sein Gesicht erahnt, das, was ihm gehörte und das, was ihm in einer anderen Welt oder Leben eventuell gehören wird. Calvino trug die Exotik in den Genen, in seiner kubanischen Geburt, so wie sie Baudelaire tief in seinem Inneren spürte. Im Gegensatz dazu entdeckte ein Nordländer, Walter Benjamin, sein Asyl in San Gimignano, einem italienischen Städtchen, in dem die Straßen und Plätze wie Haushofe erscheinen und in dem ein fast perfektes Gleichgewicht zwischen äußerer und innerer Landschaft hergestellt ist. Metropole und Nekropole, Wirklichkeit und Projektion sind nur Teile von ein und demselben: Es genügt nur eine Handbewegung oder das Verschieben eines Vorhanges und die Welt nimmt, wie in einem Theater, andere Konturen an. Calvino ist am glaubwürdigsten, wenn er von der Stadt berichtet, die in ihrem Quadrat beinhaltet ist oder von der Handfläche, die nichts anderes als ein Quadrat ist. Jede Kraft sucht ihre Gegenkraft, jedes Gesicht reflektiert die Kehrseite. Zwei Hände existieren füreinander, wie zwei Augen oder zwei Relation 1_2011.indd 22 RELA Dossier: Zdravko Zima Städte, von denen Kublai-Khan die erste sieht und die zweite Marco Polo. Calvinos Städte können so oder so heißen, können Schatten oder Siena – wo er gestorben ist – heißen, aber sie entspringen der Ur-Anordnung, in der die Fantasie in keinem Augenblick dem Intellekt untergeordnet ist. Der italienische Autor suchte seine Sonnenstadt, sein Heliopolis, obwohl er ein literarischer Mondsüchtiger war und obwohl er wusste, dass alle heldenhaften und kriminogenen Gesten auf ihre Art im Zusammenhang mit der Mondumlaufbahn stehen. Deshalb ist seine Welt am glaubwürdigsten, wenn sie ein Trug ist, deshalb ist sie mit einer Frau, die er genießt, deren Opfer oder demütiger Untertan er jedoch ist, gleichgesetzt. Trotz der Borges’schen Generation sind in der kroatischen Literatur Schriftsteller selten, deren Poetik mit Calvinos zu vergleichen wäre. Vielleicht ist ihm Milko Kelemen am nähesten, Komponist und Dirigent, der seit Jahren in Stuttgart lebt, der ein leidenschaftlicher Reisender ist (wie Marco Polo!) und der eins seiner Bücher Labyrinthe nannte. In seiner Basis ist das Labyrinth mit einem Mandala vergleichbar oder einer Stadt, deren Zeichen Calvino mit fast asketischer Strenge registrierte. Das Labyrinth ist nicht nur ein Quadrat, aus dem der mythische Minotaurus lauert; es führt uns wie eine Muschel ins innere Ich, zum Verborgenen, TIONS das, weil es verborgen ist, nicht weniger existent ist, als das, was außen und leicht tastbar ist. Die letzte Stadt in Calvinos Universum heißt Berenike. Die Legende enthüllt Berenike als Frau des letzten ägyptischen Königs Ptolemaios III., die ihr Haar als Zeichen der Dankbarkeit dafür, dass ihr Mann aus dem Krieg zurückgekteht war, opferte. Im Roman des französischen Nationalisten Maurice Barres ist Berenike ein ätherisches Mädel und das Symbol der französischen Seele und gegen Ende der achtziger Jahre fand sie sich auch im Roman des kroatischen Erzählers und Goliarden Nedjeljko Fabrio wieder. Calvinos Reisender ist sich dessen bewusst, dass Formen manchmal klarer aus der Ferne zu erkennen sind und dass Kublai-Khan, als Verkörperung des Statischen und der Macht, vielleicht besser sieht als er, der sie aus nächster Nähe erkundet hat. Man darf die Tatsache nicht außer Acht lassen, dass der mongolische Herrscher und der venezianische Abenteurer in Augenblicken der Entspannung Schach gespielt haben. In nichts lässt sich so wie in diesem indischen Spiel der Zusammenstoß von Licht und Schatten, Kreation und Rekreation, Himmlischem und Irdischen erkennen. Jener Zwieheit, die der Rhytmus der Welt ist und die Calvino so hartnäckig in seinen Büchern verfolgt hat. Aus dem Kroatischen von Marijana Miličević Hrvić 30.4.2011. 17:52:57 RELA TIONS 23 Das Laster des Schreibens Zdravko Zima D er Herbst ist die Zeit der Geschenke der Natur und der literarischen Preise: So ist es auch dieses Jahr, Anfang Oktober wurde der Name des neuen Nobelpreislaureaten José Saramago auf der größten Buchmesse in Frankfurt dem Volke mitgeteilt. Mit Saramagos Opus wurde auch sein Portugal geehrt, ein Land, das seit Jahrhunderten im Schatten seines iberischen Nachbarn liegt und dessen kollonialer Glanz der fernen Vergangenheit gehört. Obwohl er auf einer anderen Halbinsel praktisch unbekannt ist, verdankt der portugiesische Schriftsteller seinen Status vor allem den Romanen Das Todesjahr des Ricardo Reis und Evangelium nach Jesus Christus. Im ersten Roman evozierte er den Lebensweg seines berühmten Vorgängers Fernando Pessoa, der zweite fand sich wegen der Bibelinterpretation des Autors im Visier der offiziellen Kirche, so dass sich anlässlich des Nobelpreises auch der vatikanische L’Osservatore Romano mit reservierten Worten meldete. Aber nicht nur die römischen Prälaten waren unzufrieden mit der Wahl der schwedischen Akademie. Die Tatsache, dass Saramago deklarierter Kommunist ist, rief auch in unserem Land Zweifel hervor, genauer gesagt, in den Medien, von denen man meint, dass sie den Standpunkten der offiziellen Kreise am nächsten stehen. Was noch symptomatischer ist, den internationalen Friedensnobelpreis, der ebenso auf der Frank- Relation 1_2011.indd 23 furter Messe bekannt gemacht wird, erhielt Martin Walser, der ebenfalls Linker und Mitglied der namhaften Gruppe 47 ist. Letztes Jahr bekamen die erwähnten zwei Preise der italienische Dramatiker Dario Fo und Yaser Kemal, der große Kämpfer für die kurdische Autonomie in der Türkei. Dass ihre politischen Standpunke Lichtjahre entfernt sind von den Winden, die in kleinen balkanischen Herrschaftsgebieten wehen, ist überflüssig zu erklären. So dienten die rezenten literarischen Anerkennungen, in Verbindung mit den übrigen Vorgängen auf dem alten Kontinent, den Sprechern des offiziellen Kroatien für noch ein tragikomisches Lamento über das Gespenst des Kommunismus, das wieder einmal durch Europa spukt. Wenn es sich um mit Weihwasser besprengte Schriftsteller mit umgekehrtem, radikal rechten und radikal konservativen Vorzeichen handlen würde, gäbe se allem Anschein nach keine Missverständnisse. Aber darin liegt ja auch das Problem; dem zivilisierten Europa kann es heute nur schwerlich passieren, dass es irgendein Extrem, und insbesondere eins, das nahe verwandt ist mit Protonationalismus, Xenophobie und ethnischem Exklusivismus, honoriert. Deshalb darf man das Klagegeschrei über die neuen Laueraten nicht anders verstehen als das Klagegeschrei jener, die das heutige Kroatien in jedem Segment seiner Existenz der Welt entreißen wollen und ebenso der Weltliteratur, hinter der wir, um ehrlich zu sein, meist erfolglos hinterhergetrabt sind. In einem pauperisierten Land mit 4, 5 Millionen Einwohnern ist die Literatur fast liquidiert im Namen des Marktes, das Ende des 20. Jahrhunderts wie warm Wasser entdeckt wurde. Und in solch einer Situation ist, welch Wunder, der Meistverkaufte wieder ein dubioser Linker und Castros Freund – Gabriel García Márquez. Nach dem dokumentaristischen Roman Nachricht von der Entführung, in dem es sich um die Verbindung von Drogenmafia und der etablierten Politik handelt, stellte sich der kolumbianische Nobelpreisträger unserem Publikum mit dem Erzählband Zwölf Geschichten aus der Fremde vor, der im Zagreber Verlag Ceres (Redaktion Milana Vuković Runjić, Übersetzung von Tamara Horvat Kanjera) veröffentlicht wurde. Über annonyme Schriftsteller zu berichten ist nicht leicht, denn solche interessieren kaum jemanden. Mit den anderen, den berühmten, ist es noch schwieriger, denn man gewinnt den Eindruck, einen falschen selbstverständlich, dass man über sie ohnehin schon alles weiß. Wenn nicht bei irgendetwas anderem, half Márquez die literarische Popularität, sein Bankkonto zu füllen. In allem anderen blieb er auf dem Boden und sich dessen tief bewusst, dass das Leben, ebenso wie die Lite- 30.4.2011. 17:52:57 24 ratur, ein schwer zu greifendes Mysterium ist. Oder Geschenk, vor dem der Mensch mit offenen Augen steht und mit dem er immer wieder aufs Neue spielt oder ringt. Auf jeden Fall ist die Tatsache kurios, dass ein so rassiger Erzähler, dem Explikationen und teoretisches Geschwafel fremd sind, es für nötig befand, für Zwölf Geschichten aus der Fremde einen besonderen Prolog vorzubereiten. Er ist wie eine Indiskretion, denn er führt den Leser, der dem fertigen Werk gegenübersteht, in das Innere der Meisterwerkststatt. Die Tür seines Arbeitskabinetts weit aufreißend öffnete Márquez auch sein Innerstes, zeigte sein Verlangen, seine Obsessionen und Ängste, all das, was ein Leben ausmacht und ein exemplarisches künstlerisches Schicksal. Literarische Westentaschenexperten werden verblüfft sein, wenn sie begreifen, dass ein im Umfang bescheidenes Buch von zwölf Erzählungen, in einem Zeitraum von etwa zwanzig Jahren entstanden ist. In der Zeit der großen Hast, während man die Tage zählt, die die Menschheit vom Jahr 2000 trennen, ist ein Schriftsteller, der den Puls seiner Novellen immer wieder misst, als ob sie Lebewesen wären, sie ergänzt und frisiert, einem Museumsstück gleich. Márquez stellt sich die Frage nach dem Geheimnis des Erzählens, nach dem, was ihm vorangeht und was es nach allem abschließt und findet keine definitive Antwort. Für die Endversion einer Prosa ist der Instinkt ausschlaggebend oder jene Form der Intuition, die einer Köchin genügt, um zu wissen, wann einer Suppe nichts mehr hinzuzufügen oder zu nehmen ist. So denkt Márquez, wenn er den Schleier seiner Kunst lüftet und erklärt, dass seine Geschichten, bevor sie zwischen die Buchdeckel gelangten, in Rohform in Zeitungschroniken oder als Drehbuch, Fernsehserie oder ein für einen bestimmten Anlass gegebenes Interview existierten. Der Relation 1_2011.indd 24 RELA Dossier: Zdravko Zima Schriftsteller bediente sich der Wirklichkeit, benutze ihre Zutaten, als ob sie duftende Gewürze wären, mixte Poesie und Grauen, Heiligkeit und Trivialität und schuf ein Prosaamalgam, das den Leser, auch dann, wenn er sich auf erprobtem Boden glaubt, aus der üblichen Bahn wirft. In diesem ganzen schriftstellerisch-kulinarischem Kreuzworträtsel spielte eine besondere Rolle ein Schulheft, in das Márquez all das registrierte, was ihm wichtig erschien und was als Vorlage für eine künftige Geschichte hätte dienen können. Im Heft hinterlegte er vierundsechzig Themen, von denen er dachte, dass sie sich in einen Roman schmelzen ließen. Von der Idee des Romans kanalisierte ihn die schriftstellerische Alchemie zu einem Erzählband, der eine Einigkeit des Inhalts und des kreativen Vorganges besitzt. Wie eine Geschichte über Geschichten dünkt Márquez’ Episode über das Heft, das wie ein Phantom verschwand; als ob es von der Hand eines konkurrierenden Erzählers geführt worden wäre! Einem Schriftsteller kann schwerlich etwas Schlimmeres passieren, als der Verlust des Gedächtnisses, das auf den Seiten eines gewöhnlichen Heftes zusammengefasst war. Doch das Leid mit dem Gedächtnis ist letzten Endes gleichgesetzt mit dem schriftstellerischen Leid. Mit dem Bedürfnis des Autors aus einem Panzer zu kriechen, sich des unnötigen Balastes zu entledigen und sich auf das Wesentliche zu belaufen. Auf der Suche nach seinem Handgedächtnis, suchte Márquez eigentlich nach Reinigung, nach dem, was ihn von den abgedroschenen Ketten befreien und ihn auf den Wegen des magischen Realismus führen wird, dort, wo Grausamkeit und Sentiment zusammenstoßen und wo sich die Wirklichkeit in ihrer Vergänglichkeit mit dem Traum gleichsetzt. Der Wunsch, das zu fixieren, was als Einigkeit der Gegensätze bestimmt TIONS ist, führte ihn zu Dichte und Reinheit. Der Vorfall mit dem Heft ist in all dem nichts anderes als ein Einfall. Dass Márquez mit vierundsechzig Themen angefangen hat, danach auf dreißig und achtzehn kam und dann einen Band mit zwölf Erzählungen veröffentlichte, folgte aus der Gesetzlichkeit der Geschichte und nicht aus dem, was ein mysteriöses oder wie auch immer verloren gegangenes Heft verursachen könnte. Hinter dem, was Márquez’ Leben und seine Geschichten einrahmt, verbirgt sich das Schlüsselwort – Reisen. Er brauchte das Heft als eine Art Safe, in dem er auf seinen Reisen und unzähligen Kontakten kleine Kleinode aufbewahren kann, das, was vielleicht nicht mehr ist als eine Polizeiinformation, ein Fingerabdruck oder eine vergessene Reliquie, aber was sich in einem Augenblick in das Schwungrad einer Geschichte verwandeln kann. Obwohl er mit tiefen Banden an Kolumbien gebunden ist, sein mythisches Macondo, und Mexiko, in dem er seine zweite Heimat fand, finden alle Erzählungen in westeuropäischen Ländern und Städten statt, in denen Márquez kein Tourist ist, sondern ein Pilger, mit einem solchen Ausmaß an Hingabe und Leidenschaftlichkeit, die nur Schriftstellern eigen ist. In seinem Rückspiegel zeigen sich Genf, Rom, Arezzo, Neapel, Sizilien, Barcelona, Madrid, Wien, trotzdem sind die Protagonisten mit ihrer Herkunft und ihrem Schicksal untrennbar mit dem lateinamerikanischen Heimatland verschmolzen. Sie sind von Lateinamerika besessen, aber sie möchten sich davon, wie von einer obsessiven Frau, ebenso entreißen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Held der einleitenden Geschichte, der seines Amtes enthobene Präsident eines hispanoamerikanischen Staates, der in Genf ärztlich behandelt wird und an den Tod denkt, obwohl er auf dem Grund seiner Seele davon 30.4.2011. 17:52:58 RELA TIONS träumt, in seine Heimat zurückzukehren und sich an die Spitze der Reformbewegung zu setzen. In Augenblicken der Resignation kommt der Ex-Presidente zum Schluss, dass sein Kontinent in einer sonderbaren Verbindung aus europäischem Auswanderergesindel und einheimischer Bevölkerung geboren wurde. In so einem Prozess konnte nur ein Mischmasch entstehen, behauptet der demoralisierte Politiker, obwohl der Glanz von Márquez’ Literatur (und nicht nur seiner) aus der Fähigkeit, eigene Mythen zu rekreieren, hervorgeht, aber auch aus dem Erheben außerhalb der Grenzen des gegebenen Raumes und der Zeit. Durch eine Welt lavierend, in der sich Wirklichkeit und Schein, Autobiographie und Autosuggestion berühren, schloss Márquez in seine Novellen viele berühmte Zeitgenossen mit ein, mit denen er in direktem oder intellektualem Kontakt war. Aime Césaire, ein frankophoner Dichter aus Martinique, Pius XII., Johannes Paul I. alias Albino Luciani, dessen Pontifikat 33 Tage dauerte, Cesare Zavattini, der legendäre Drehbuchautor, Cineast und Márquez’ filmischer Lehrer, Generalissimus Francisco Franco, David Ojstralt, Gerardo Diego (der Schöpfer des glänzenden Sonnets Insomnio), Yasunari Kawabata, Pablo Neruda und J. L. Borges, tragen auf ihre Art zur Glaubwürdigkeit dieser sonderlichen Novellen bei. Wir haben gesagt, dass die Reise der Schlüssel für das Verständnis von Márquez’ Buch ist. Der Mensch reist zu Lebzeiten zwischen zwei unbekannten Ufern, Márquez reist zwischen zwei Kontinenten oder zwei Ufern, seine Helden jedoch irren in imaginären Kor- Relation 1_2011.indd 25 Essays ridoren umher und in einem Raum, der sonst ohne Reisepass unzugänglich ist. An der Seite des Schriftstellers war regelmäßig auch seine beschwerliche Last. Die Geschichten reisten hin und zurück, aus Lateinamerika nach Europa und umgekehrt, aus dem verborgenen Tresor wurden sie ans Licht zurückgebracht, in den Abfalleimer geworfen, rekreiert oder definitiv vergessen. Nach allem besuchte Márquez wieder die zitierten europäischen Punkte, um sich selbst die Authentizität der belletrisierten Erinnerungen zu beweisen. Und er hat sich selbstverständlich geirrt! Das Reisen bringt uns letzlich dem Titelsyntagma zurück: Denn der Pilger irrt in der Welt umher, der physischen oder der anderen, vor allem deshalb, damit er sich und seine verborgenen Möglichkeiten erprobt. Wenn er kein Touristendummkopf ist, reist der Wallfahrer nicht wegen oberflächlicher Sensationen, sondern um in einer anderen Umgebung zum Sinn zu gelangen. Auf diese Art verstanden ist die Reise das Ideal, das Initiationsritual, dem sich Márquez gemeinsam mit seinen Helden restlos hingibt. Und dass es gerade zwölf Pilger gibt, erinnert an die (Un)vollendetheit der Welt, die mit einer Geschichte, deren Fäden wir nie ganz entwirren werden, identifiziert ist. Das Jahr hat zwölf Monate, Jesus hatte zwölf Jünger, an der Tafelrunde nahmen zwölf stattliche Ritter Platz, und so hält auch Márquez, so präzise wie abergläubisch, seine Fantasie im zwölften Kreis an. Der zwangsgeräumte Präsident, sich seiner Missratenheit bewusst, der traurige Kolumbianer Margarito Duarte, der durch Rom mit seiner Heiligen irrt und am En- 25 de selbst zum Heiligen wird, Frau Frida, die Träume vermietet, die alternde Prostituierte Maria dos Prazeres, die sich auf das Jenseits vorbereitet und ihrem Hund beibringt, über dem offenen Grab zu heulen, siebzehn Engländer, vereint im Spiegel der Uniformität und tödlicher Austern, ein Pfarrer aus Jugoslawien, der schmutzige Fingernägel hat und nach Zwiebeln stinkt, eine Muräne mit menschlichen Augen, bilden den Planeten von Márquez, der sich vor dem Leser wie ein Märchen und makaberes Bild dreht. Die Frau, die durch Zufall in einem Irrenhaus war, aus dem es keinen Ausweg mehr gibt und die junge Nena Daconte, Tenor-Saxofonistin, die sich an einem Rosendorn stach und in dem Moment ums Leben kam, als sie erst leben wollte, bilden die Gipfel der Poetik in der Subtilität und Grauen triumphieren und in der Schönheit in ihrer Gestalt regelmäßig eine blutige Kehrseite reflektiert. Wenn man die Zeit eines Schriftstellers festlegen wollte, dann wäre es die Morgendämmerung, das Grenzstadium, in dem, sich Lichter und Schatten, Liebe und das Nichts vermischen. Das ist jener schwer zu bestimmende Raum, in dem, laut Márquez, die Zeit schwankt, aber in dem sich ein Schriftsteller wie ein Fisch im Wasser fühlt. In einer Geschichte kommt Frau Lázara zum Schluss, dass das Erobern ein Laster ist. Ein Laster ist allem Anschein nach auch das Schreiben, mit dem Márquez Territorium erobert und in dem Dominanz einzig erwünscht ist. Aus dem Kroatischen von Marijana Miličević Hrvić 30.4.2011. 17:52:58 RELA 26 TIONS Die rote Jungfrau Zdravko Zima N achdem er erfahren hatte, dass er den Nobelpreis bekommen hat, eilte Albert Camus in die August-Comet-Straße Nummer drei in Paris, um in dem Zimmer Zuflucht zu finden, in dem einst Simone Weil gelebt hatte. Vor seiner Abreise nach Stockholm huldigte der französische Romanautor und Essayist so einer Frau, ohne die er nicht gewesen wäre, was er war, und die seine intellektuelle Entwicklung auf entscheidende Weise beeinflusst hatte. Als er 1957 diese große Anerkennung der schwedischen Akademie entgegennahm, wusste Camus, dass genauso gut auch Simone Weil, die, wenn sie noch am Leben gewesen wäre, damals knapp 48 Jahre zählen würde, diesen Preis hätte bekommen können. Etwa zwanzig Jahre nach Camus befand sich auch Czelsaw Milosz im Kreise der Unsterblichen, die mit dem Nobelpreis gekrönt wurden. In seiner zeremoniellen Festrede berief sich der große litauisch-polnisch-amerikanische Dichter auf zwei seiner Mentoren – für das Leben wie auch für den Intellekt. Der erste ist Simone Weil, der zweite ist der Pariser Eremit Oscar Milosz. Man müsste diese Einzelheiten aus der Festrede des Milosz vielleicht nicht erwähnen, wenn das Schicksal seines Onkels nicht so viele Gemeinsamkeiten mit Simone aufweisen würde. Seine Person und sein Werk sind von einer seltenen Erhabenheit und Edelmut getragen, die Offenheit gegenüber allem ausstrahlten. Relation 1_2011.indd 26 Oscar war der Nachkomme eines reichen litauischen Adeligen, Simone wuchs in einer wohlhabenden bürgerlichen Familie auf (beide waren Juden), doch sie trugen eine fast eingeimpfte Solidarität mit sich, die mit keinerlei politischen oder karrieristischen Durchbrüchen gerechnet hätte. Die Erinnerung an die beiden Nobelpreisträger ist auf ihre Weise ein notwendiges Vorwort für Simone Weil. Denn ihre Popularität und ihre Rezeption entsprechen doch nicht den Dimensionen ihres gedanklichen Unterfangens, einem der größten und radikalsten aus der zivilisatorischen Schatzkiste des europäischen 20. Jahrhunderts. Die französische Autorin hat zwar ihr Publikum und ihre Anhänger, aber ihre Zugänglichkeit ist keine, die bei einem Zeugnis über sie nicht der Berufung auf andere bedarf. In erster Linie auf Camus und Milosz, nicht wegen der Preise, sondern wegen der geistigen Nähe und des Bedürfnisses nach Freiheit, worin sie sich als Simones vollblütige Wahlbrüder erwiesen haben. Schon ein oberflächlicher Einblick in das Erbe der Madmoiselle Weil, nach Pascal „denkendes Schilfrohr“ genannt, enthüllt eine Autorin, die bewährten Kanons ausgewichen ist. Trotz der Tatsache, dass sie in ihrem kurzen Leben ein gewaltiges Opus geschaffen hat, wird ihr Name in Standardhandbüchern vermieden oder nur mit ein paar spärlichen Stichwörtern bekleidet. In den ersten Veröffentlichungen des Lexikographischen Instituts Miroslav Krleža findet man unter dem Stichwort „Weil“ nur den estnischen Kliniker Adolf als Entdecker der ansteckenden Gelbsucht. Ebenso symptomatisch wird in der Modernen katholischen Enzyklopedie von Michael Glazier und Monika K. Hellwig, die in Kroatien im Jahre 1998 erschien, über diese bewundernswerte Frau, der Celestin Bouglé den Spitznamen „rote Jungfrau“ gab, kein Sterbenswort verloren. Für rigide Marxisten war sie zu liberal, für verstockte Klerikalisten übertrieben linksorientiert und unversöhnlich. Sie gehörte nie einer Partei oder einer Kirche an, auch wenn sie in ihrem sozialen Engagement und ihrer geistigen Reinigung eine Konsequenz gezeigt hat, die schwer vergleichbar ist und die letztendlich sie selbst in einen Kanon verwandelt hat (wogegen sie natürlich selbst laut protestieren würde). Ein paar Zeilen widmete ihr das Lexikon der Philosophen, das vom Zagreber Verlag Naprijed im ehemaligen Jugoslawien in drei Ausgaben veröffentlicht wurde. Und da zu dieser Zeit Marxismus dasselbe war wie Katechismus, kann gegen das nachlässige Portrait von Danko Grlić nichts weiter eingewendet werden. Ausführlichere Daten gibt erst Marie-Madeleine Davy in der zweibändigen Enzyklopedie der Mystiker, die derselbe Zagreber Verlag, Naprijed, 1990 druckte. 30.4.2011. 17:52:58 RELA TIONS Unter Simones Werken heben wir Das Unglück und die Gottesliebe hervor, eine spezifische geistige Autobiographie, die auch in Zagreb veröffentlicht wurde, Die übernatürliche Erkenntnis (die kroatische Promotion dieser Handschrift in der Übersetzung von Mirjana Dobrović wird noch erwartet), Brief an einen Ordensbruder, ein Brief an den Dominikanerpater Couturier, Vorchristliche Schau, Arbeiterschicksal, Bände, Unterdrückung und Freiheit. Dieses letzte Buch ist eine provokative Sammlung von Abhandlungen, die eine umfangreiche Studie unter dem Titel Gedanken über die Ursachen von Unterdrückung und Freiheit enthält, und die die Autorin selbst zu ihrer wichtigsten theoretischen Arbeit erklärt hat. Wenn das der zentrale Titel aus ihrer ersten Phase ist, in der sie sich zumeist mit sozialen Fragen beschäftigte, dann ist Die Einwurzelung der Haupttitel der zweiten, bedingt die spirituelle Phase genannt. Außerdem müssen auch Londoner Schriften und letzte Briefe und Ungeordnete Gedanken über die Liebe zu Gott und Gottes Liebe erwähnt werden. Simone schrieb auch Verse, die bei uns unbekannt sind, und ihr Drama Venedigs Rettung blieb unvollendet. In Kroatien wurde sie mit einer Auswahl an Schriften aus dem Werk Unterdrückung und Freiheit, die 1979 in der Übersetzung von Mirjana Dobrović veröffentlicht wurden, am getreuesten vorgestellt. Geboren wurde sie am 3. Februar 1909 in Paris und gestorben ist sie am 24. August 1943 in London. In diese 34 Jahre drängte sich ein Leben, das mit seiner Umfänglichkeit und Strenge, vor allem sich selbst gegenüber, immer wieder aufs Neue erobert. Nach Cioran könnten wir schlussfolgern, dass ein Individuum, das sich selbstständig macht, dass sich auflehnt und niemandem dienen will, eigentlich krank ist und Krankheit ist nichts anderes als die Relation 1_2011.indd 27 Essays Auflehnung gegen einen bestehenden Organismus. So hat auch das zarte Fräulein Simone seine tiefgehende Abtrünnigkeit mit dem Körper bezahlt, mit seinem Hungern und der zu dieser Zeit unvermeidbaren Tuberkulose. Als sie in einem Londoner Sanatorium ihre Augen schloss, stellten die Ärzte fest, dass ihr Tod in bedeutendem Maße durch Hunger, Selbstfolter und Selbstbestrafung hervorgerufen worden war, womit sie demonstriert hatte, wie wichtig der Opferanteil in allem ist. Letztendlich behauptete auch ihr Bruder, der Mathematiker André Weil, dass Simone mit ihrem Nachlass nur in einer dialektischen Offenheit verständlich ist. Ihre Schriften setzen ihr Leben fort, ebenso wie ihre Texte auch eine Zusammenfassung ihrer Existenz und ihres physischen Körpers sind. Heute, in einer Zeit, in der die Astrologie im Aufschwung ist, in der sie in Sensationsblättern genauso vertreten ist wie in intellektuellen Polemiken, sollte man darauf hinweisen, dass Simone im Zeichen des Wassermanns geboren wurde. Die New-Age-Bewegung, die versucht hat, die Ideen einer desintegrierten Welt zu vereinen, hat einen Wechsel von der Herrschaft der Fische zu einer neuen Epoche des Wassermanns angekündigt (wovon auch im schon kanonisierten Musical Hair gesungen wird). Das erste Zeitalter prägten Leiden, Ängste, Fanatismus und allerlei Unglück, während das zweite Zeitalter, geführt vom Aquarius, von Weisheit und endloser Glückseligkeit erfüllt sein soll. Wir nehmen nun an einer Zeit teil, in der die große Mutation stattfindet und in der die utopische Herrschaft des Aquarius beginnt, die etwa zweitausend Jahre dauern wird, genau so lange wie die Diktatur der Fische gedauert hat. In der kommenden Ära werden die Erweiterung des menschlichen Bewusstseins und die Erneu- 27 erung geistiger Fähigkeiten vorgesehen und in diesem Prozess spielt der Aquarius, der im Bündel der Simone Weil fixiert ist, eine entscheidende Rolle. Menschliche Solidarität, Zusammenarbeit und der Verzicht auf materielle Güter werden in einer solchen Welt einen besonderen Wert haben. Denn der Aquarius ist ein Wesen der Avantgarde und des inneren Abenteuers, an denen Simone in vollem Maße teilgenommen hat. Ihre philosophischen und essayistischen Werke wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in der Espoir-Edition von Gallimard gedruckt, die damals Albert Camus unterzeichnete. Sie stand immer außerhalb aller Parteien und formeller, weltlicher oder sakraler Rahmen, was auf ihre Weise ihr Schicksal kanalisierte. In der ersten Phase, die bis 1935 dauerte, war sie von sozialen Fragen besessen. Von 1938 bis zu ihrem Tod war sie durchdrungen von Religion und Mystik, auch wenn das nicht bedeutet, dass sie das soziale und politische Drama vergessen hatte, das Europa zu dieser Zeit, besonders mit Hitlers Kriegszügen, erschütterte. Wer ist also Simone? Eine Philosophieprofessorin, die Professorenmanieren nicht akzeptierte, Lehrerin und Arbeiterin, die sich selbst durch ihre Opferungen auf die Probe stellte, Streikende und Revolutionärin, Marxistin und Bestreiterin des Marxismus, Teilnehmerin am Spanischen Bürgerkrieg und Pazifistin, eine Christin, die ihre Faszination für Christus nicht institutionalisieren wollte, Missionarin und Mystikerin, Mitglied der französischen Widerstandsbewegung, das von Algerien bis Italien, von den Vereinigten Staaten bis nach England irrte und in London starb. Ganz gemäß ihrer eindrucksvollen Bezeugung über die Liebe zu Gott, in der sie verkündete, dass ihre Heimat überall und nirgendwo sei, und in der sie das Universum als die einzige diesseitige Heimat definierte! Mit unbe- 30.4.2011. 17:52:58 28 stechlichem Scharfblick, der Wärme und Kälte, Nähe und Ferne verlauten lässt, behauptete sie, sich auf dieser Welt wie eine Fremde zu fühlen, vertrieben wie Odysseus, den die Argonauten, während er ruhte, an eine unbekannte Küste versetzten. Ihre intellektuelle Entwicklung wurde auf entscheidende Weise vom französischen Philosophen und Pädagogen Emile-Auguste Chartier beeinflusst, der in französischen Kreisen unter dem Pseudonym Alain bekannter ist. Alain stärkte in seinen Schülern das kritische Denken und das Bedürfnis nach Verantwortung. Seiner Überzeugung nach liberal und antiklerikal eingestellt, wurde er sowohl von rechts als auch von links angegriffen und als Schöpfer kurzer Essays beeinflusste er Simone in hohem Maße. Ihr geistiger Weg führte zu Alain, von Alain zu Marx, und danach zu Christus und mondialer Mystik. Während ihres Studiums an der Ecole Normale Supérieur lernte sie ihre Namensschwester Simone de Beauvoir kennen. Die junge Revolutionärin sah in der zukünftigen Gefährtin von Sartre eine Kleinbürgerin, diese wiederum wunderte sich über Simones Kleidung und beneidete sie um ihr Herz, in das das ganze Universum hineinpasste. Während ihrer Jahre als Lehrerin näherte sie sich den arbeitslosen Arbeitern, nahm an Streiks teil und pflegte Umgang mit Anarchisten. Auch wenn sie körperlich nicht widerstandsfähig war, akzeptierte sie die schwersten Arbeiten, und bei Renault versuchte sie sich als Fräserin. Sie empfand Grauen für Stalinismus und Sympathie für Trotzki, den sie als 24-Jährige in Paris interviewte. 1936 schloss sie sich der republikanischen Armee Spaniens Relation 1_2011.indd 28 RELA Dossier: Zdravko Zima an, musste aber zwei Monate später nach Frankreich zurückkehren. Wegen ihrer ruinierten Gesundheit brachten sie ihre Eltern nach Italien. Und dort kam es zur Bekehrung: In Assisi, in der romanischen Kapelle Santa Maria degli Angeli, in der auch der heilige Franziskus gebetet hatte, verspürte Simone den unwiderstehlichen Drang niederzuknien. Eine feurige Atheistin begann sich in eine Gläubige zu verwandeln, die später mit derselben Entschlossenheit für Christus sprechen würde, wie sie die Würde der Arbeiter und Streikenden verteidigt hatte. Eine so ausgeprägte Bipolarität, ein fast sprunghafter Übergang von einer Art praktischen Engagements in eine geistige Oase ist aus dem Lebenslauf von Emanuel Swedenborg bekannt. Dieser Schwede befasste sich zunächst mit technischen und naturwissenschaftlichen Forschungen und dann hatte er eine Vision. Manche hielten sie für ein Trugbild, andere für einen Anfall von Wahnsinn. Tatsache bleibt, dass ein Militäringenieur und enger Mitarbeiter Karls XII. behauptete, dass ihm Jesus erschienen sei und ihm die Mission der Erneuerung der Kirche anvertraut habe. Vom königlichen Senator und technischen Experten verwandelte sich Swendenborg über Nacht in einen Visionär, der sich damit beschäftigt zu beweisen, dass der Mensch in seinem Kern zu allererst Geist ist. Borges schlussfolgerte, dass uns der schwedische Theosoph dabei hilft, uns mittels Gerechtigkeit, Tugend und Intelligenz zu retten und aller Wahrscheinlichkeit nach hätte dem auch Simone zugestimmt. Was fast kurios ist, ist, dass sich Swendenborgs mystische Bekehrung in derselben Stadt zutrug, in der viele TIONS Jahre später die französische Rebellin sterben würde. Niemand hat sein Denken in dem Maße dargelegt, dass er gleichzeitig auch seinen Körper, seinen Traum und sein intimstes Beben damit ausgesetzt hat. Der Mut, den Simone bewiesen hat, führt eigentlich auf die andere Seite: Dorthin, wo es keine Grenzen gibt und wo der menschliche Verstand, verbunden mit dem unaufschiebbaren Instinkt, die Möglichkeit zur Identifikation im Augenblick und in der Ewigkeit bietet. Selten sind jene, die mit einer solch durchdringenden Schärfe über die Freiheit geschrieben, noch seltener jene, die erklärt haben, dass der menschliche Geist anpassungsfähig ist und dass er in dieser Anpassungsfähigkeit zu den größten Erniedrigungen bereit ist. Neben Simone äußerte sich darüber im 16. Jahrhundert am radikalsten Etienne de la Boétie. Niemand dementierte so überzeugend politische Parteien, die nichts anderes sind als Maschinen der Vernebelung und der Entfachung von Leidenschaften, und die deshalb abgeschafft werden sollten. Mit neuen Stammes- und Marktidolen steigt das Bedürfnis nach dem, was die französische Mystikerin vertrat: Heiligkeit in jedem Ding und in jedem Segment des Alltags. Immer am Rande, machte Simone darauf aufmerksam, dass es zwei gleichermaßen schicksalhafte und extreme Möglichkeiten gibt. Die Welt zu Nutzen des Egos vernichten oder das Ego zu Nutzen der Welt vernichten. Simone verstand es zu wählen, weil sie die Zeichen verstand, denen wir so klar entgegeneilen. Aus dem Kroatischen von Sandra Breznički Ucović 30.4.2011. 17:52:58 RELA TIONS 29 Der Jäger im Labyrinth Zdravko Zima E ins der Paradoxe unserer nationalen Geschichte ist in der Tatsache sichtbar, dass wir über unsere nächsten Nachbarn weiniger wissen, als über jene, von denen uns ozeanische Weiten trennen. Beweise dafür lassen sich leicht finden: Mit Ungarn verband uns seit Anfang des 12. Jahrhunderts die Pacta conventa, die erst mit dem Ende des Ersten Weltkrieges aufgelöst wurde und doch sind die Ungarn ein Volk, von dem wir im Durchschnitt wenig oder fast nichts wissen. Dieser Ignoranz stand in gewisser Weise das Gefühl von Bedrohung seitens einer monarchischen Macht Pate, aber auch eine Sprache, die zur ugro-finnischen Sprachfamilie gehört und die mit der slawischen Idiomatik nichts gemein hat. Aber diese Argumente, so unanfechtbar sie auch sind, genügen nicht, um eine so gründliche Abwesenheit des Interesses für unsere nächsten nördlichen Nachbarn zu erklären. Unabhängig von individuellen Sympathien oder historischem Ressentiment sollte man Krležas Fall rekapitulieren. In der Donaumonarchie geboren war Krleža des Ungarischen fast so mächtig wie seiner Muttersprache. Zu einer Zeit, als die Türken das christliche Europa bedrohten, blieb den Kroaten nichts Anderes übrig, als Schutz zu suchen. Falls sich die Helfer als Feinde herausstellten, dann musste man sich, gemeinsam mit Krleža, Goethes Weisheit anschließen: „Wer die Feinde will verstehen, muss in Feindes Lande gehen“. Relation 1_2011.indd 29 Ungarische Schüler waren Pannonius, Gaj, Kukuljević und Krleža und heute ist dieses Land für Kroaten eine Zweigstelle des Eintagstourismus, bestehend aus Plattensee und SalamiSchmuggel. Indem wir uns die Frage über Ungarn stellen, stellen wir uns eigentlich die Frage über uns selbst. Wie spiegeln wir uns in den Völkern, die uns nahe und gleichzeitig endlos weit entfernt sind? In einer katastrophischen Schrift kam István Bibó zu dem Schluss, dass kleine Nationen und Staaten östlich von Deutschland das größte Hindernis für den Frieden auf dem Planeten sein werden, weil sie einen Raum von Anarchie, Unsicherheit und dauerhafter Unzufriedenheit bilden. Vor etwa fünfzig Jahren, als diese Schrift veröffentlicht wurde, wirkte Bibós Voraussage nicht annähernd so suggestiv wie heute. Ebenso wusste kaum jemand vor einem halben Jahrhundert in Europa, in Kroatien noch weniger, dass in unserer unmittelbarsten Nachbarschaft Béla Hamvas (1897-1968) lebt und schriebt. Wenn Krleža von ihm gewusst hätte, hätte er ihn wahrscheinlich schickaniert, so wie es Lukács getan hat, einer der führenden ungarischen Autoritäten jener Zeit, dem nicht einmal die Tatsache, dass er auf Deutsch schrieb, helfen konnte, sich vor so vielen Irrtürmern zu retten. In einigen Segmenten lässt sich Béla Hamvas diesem oder jenem Autor gleichsetzen, obwohl er im Ganzen unvergleichlich ist und sich auf keine Kanons ableiten lässt. Er wandte sich an Gott, war aber kein Theologe; er schrieb über Wein und seine Reize, obwohl er kein Enologe war. Ein Erzähler und Essayist, der enge literarische Rahmen übersteigt, ein Philosoph, der der Weisheit ihre tiefgehende Würde wiedergibt, ein Übersetzer und Anfertiger von Studien über Henoks Apokalypse, das Ägyptische Totenbuch, sufische Mystiker, das Zen, Konfuzius, die Kabbala, die Veden und so manches mehr. Er erzählt und predigt gleichzeitig, wenn er auch kein klassischer Belletrist, geschweige denn ein verstockter Moralist ist. Hamvas ist kein Schriftsteller sondern ein literarischer Polyp, kein Philosoph sondern ein Polyhistor, der das elementare menschliche Wissen zusammengefasst hat und es in sein Buch und in sein authentischstes Leben verwandelte. Ein Denker der universellen Erudition, den man sich auch in glücklicheren Tagen nur schwer vorstellen konnte und den in Zukunft eventuell sein geklonter Doppelgänger mit einer ausreichenden Anzahl von Chips und diabolischen Megabytes erreichen wird. Jetzt an der großen Jahrtausendwende, auf die wir mit der gleichen Menge an Neugier und an Bangen warten, tauchen Fragen wie von selbst auf. Wie ist es möglich, dass in unserer nächsten Nähe einer der glänzensten Köpfe des 20. Jahrhunderts gelebt hat und dass wir bis vor etwa zehn Jahren überhaupt keine Ahnung von ihm hatten? Wie kommt es, dass so 30.4.2011. 17:52:58 30 ein Geist einer prononcierten Provinz Europas entsprungen ist, die nicht einmal ihre wichtigsten Repräsentanten, wie Cioran einer ist, nicht mit Begeisterung beurteilen? Obwohl er zu Lebzeiten verfolgt und verheimlicht wurde, obwohl nicht einmal den Ungarn bewusst war, was für ein Brocken in ihrer eigenen Mitte auftaucht, durchbricht Hamvas’ Gedanken jegliche Barrieren. Wir haben einst Krležas Tiraden über Petöfy gelesen, über die Revolution 1848 und die ungarische Landschaft, die vor ihm niemand mit solch einer lyrischen Kraft geschildert hat. Wir haben Ady gelesen, in Kišs Übersetzung, und dort endete die Geschichte mit Ungarn, exotisch und ungreifbar, wie seine Sprache ungreifbar ist. Und dann erschien Béla Hamvas. Die ersten Assoziationen wiesen auf seinen Namensvetter Béla Bartók hin, nicht nur weil Bartók sein Zeitgenosse war oder weil Hamvas, außer dass er ein Diplom von der Philosophischen Fakulät hatte, sehr wohl in die Geheimnisse der Musik eingeweiht war. Obwohl er in seinem Land nie verhätschelt wurde, fühlte sich Hamvas nur einmal, in seiner Jugend, versucht, zu emigrieren. Als kleiner Junge reiste er mit seinem Vater nach Paris und München. Mehrmals besuchte er Dalmatien und Korčula, worüber er schriftliche Berichte hinterließ. Trotz seines unverhüllten Wunsches erreichte er Griechenland nie, aber er reiste in Texten und Büchern weiter und weitreichender als all jene, die im Reisen nichts als eine rein physische Tatsache finden. Als der Nazismus in Ungarn, wo er sowieso nicht übermäßig viel Beifall erntete, immer stärker wurde, wanderte Bartók in die Vereinigten Staaten aus. Im Jahr 1945 starb er in New York in Not und Elend. Etwa zwanzig Jahre später verschied sein Landsmann und Musikgefährte Béla Hamvas. Er behauptete, dass er diese Welt im Relation 1_2011.indd 30 RELA Dossier: Zdravko Zima Stadium der maximalen Wachheit verlassen möchte oder mit offenen Augen, wie der berühmteste Held von Marguerite Yourcenar, der römische Imperator Hadrian, erklärte. Der kroatische Dichter Danijel Dragojević, der auf der selben Insel auf die Welt kam, auf der Hamvas seine griechische Nostalgie schürte und seinen „Griechen“ trank, hat geschrieben, dass in Bulgarien oder einem anderen Randstaat keine großen Entdeckungen möglich seien. Denn an der Entdeckung nimmt nicht nur der Einzelne teil, so genial er auch sein mag, sondern auch sein Umfeld mit seiner Vergangenheit, Gegenwart und dem erreichten Zustand des kollektiven Bewusstseins. In solchen Ländern, für die Bulgarien nur als mögliche Figur steht, ist die Dunkelheit viel zu tastbar, als dass sich das Licht um einen Menschen schlingen und ihn vollkommen befreien könnte. Auf ähnliche Weise wie Dragojević beurteilten auch Ionesco, Cioran, Konstantinović und viele andere die Staaten an der Päripherie des europäischen Südostens, die nur für kurze Zeit aus ihrem hundertjährigen Schlaf erwachen. Hamvas bestätigt nur, dass keine Regel ohne ihre Ausnahme ist. In diesen vermummten Zonen der Dunkelheit schuf er Licht, zeigte sich aber auch selbst als Fackel, die in alle Richtungen strahlt. Sogar noch dorthin, wohin mit ihrem Blick nur die Mutigsten und Geduldigsten reichen. Hamvas akzeptierte sein ungarisches Schicksal ohne Gequängel, verstand, dass er einen Raum und eine Zeit bewohnt, dem der liebe Gott gute Nacht gesagt hat, und verwandelte die Wachheit in einen der Grundbegriffe seiner Philosophie. In seiner Fähigkeit, am anwesendsten zu sein, wenn er am entferntesten zu sein scheint, ist ihm Edvard Kocbek nahe, der seine Träumereien einer besonderen Art der Wachheit gleichsetz- TIONS te. Es ist eine fast kuriose Tatsache, dass Hamvas die Idee der Wachheit, wie er selbst behauptete, in seinem schlafwandlerischen Volk entdeckte. Trotzdem, die Wachheit ist keine mechanische Eigenschaft, etwas, was sich von selbst versteht, sondern eine Offenheit gegenüber allen Möglichkeiten, die man mit mühseligem Graben im eigenen Inneren erreicht. Nur so war es möglich, dass sich in einer verachteten europäischen Einöde ein Mann aufrichtet, der die Kabbala liest, weit in die Prähistorie zurückgeht, die Upanishaden erläutert, dem Schuhmacher Böhme folgt und dort weitermacht, wo Nietzsche in seinem Wahnsinn definitiv stehen geblieben ist. Nur so ist es möglich, eine scheinbar unglaubliche Tatsache zu verstehen: dass in einem halben Jahr, vom Sommer 1943 bis Februar 1944 sein vielleicht wertvollstes Werk Scientia Sacra, dass die wichtigsten zivilisatorischen Wissen oder Überlieferungen synthetisiert und in dem die Wachheit einer der Schlüsselbegriffe ist (siehe das Kapitel über den Tod von Sokrates), entstanden ist. Wie die Veden, heilige indische Bücher, die Hamvas’ Lieblingsleküre darstellten, schließlich erklären, wenn sich ein Mensch von dieser Welt verabscheidet, was kann die Seele mitnehmen außer der Wachheit? Wir wissen, dass Bartók, decouragiert von seinem Schicksal und dem aufsteigenden Faschismus, Ungarn verlassen hat, ebenso wie es viele andere Künstler und Intelektuelle verlassen haben. Trotz allen Versuchungen blieb Hamvas zu Hause. Er lebte scheinbar außerhalb seines Raumes und seiner Zeit, jedoch am tiefsten in allem und in sich selbst! Er ist nicht in Ungarn geblieben, weil er einen Märtyrer spielen wollte, sondern weil er wusste, dass die größten Grenzen im einzelnen Bewusstsein sind und dass sie niemand auf Kosten eines anderen überschreiten kann. Der Mensch ist 30.4.2011. 17:52:58 RELA TIONS und ist nicht; ebenso dachte Hamvas, dass es keine Päripherie und kein Zentrum gibt und dass jeder, wenn er dazu in der Lage ist, sich zum zentralen Punkt macht. Gegen Ende der achziger Jahre erhielten wir erste Informationen über den Kontinenten genannt Béla Hamvas mittels der Belgrader Zeitschrift Pismo. Mit dem neuen Kroatien tauchte auch ein neuer Verleger auf, der Zagreber Ceres, der sich als exklusiver Hamas-Herausgeber in kroatischer Sprache vorstellte. Zunächst mit der Philosophie des Weins, parallel in Ungarisch und Kroatisch gedruckt, dann mit dem allumfassenden Buch Scientia Sacra, in dem Hamvas mit der Zahl sechs spielt. Scientia Sacra besteht aus sechs Bänden, jeder Band ist in sechs Kapitel aufgeteilt und diese in ebenso viele Unterkapitel. Der neueste Hamvas in der Version des Verlagshauses Ceres heißt Jasmin und Olive. Er besteht aus dreizehn Essays, die Jadranka Damjanov, Ivan Ladislav Galeta und Stjepan Filaković übersetzt haben und die von einem ausführlichen Kommentar von Hamvas’ Lebensgefährtin Katalin Kemény und einem Nachwort von Žarko Paić begleitet sind. Es ist überflüssig, Details aus Hamvas’ Lebenslauf anzuführen, sowohl wegen ihrer (scheinbaren) Banalität, als auch wegen Hamvas’ Überzeugung, dass ein Mensch sich von der egoistischen Trunkenheit befreien und sich dem Wesentlichen widmen soll. Nichtsdestotrotz, sein Vater war evangelischer Pastor, seine Mutter Katholikin mit künstlerischen Neigungen. Die Schule mochte er nicht und am liebsten präludierte er am Klavier und komponierte. Schopenhauer war seine abiturientische Leidenschaft, mit Böhme war er dauerhaft beschäftigt, weil er mit ihm die bildhafte Ausdrucksweise, den optimistischen Eifer und die Idee vom Weltprozess, der mit der Geburt der Frau gleichgesetzt Relation 1_2011.indd 31 Essays ist, teilte. Die Abneigung gegenüber jeglicher Art der Bestechlichkeit zahlte er so, dass er Gemüse züchtete, es am Markt verkaufte und an der Baustelle einer Energieanlage in der Nähe des Flusses Tisa schuftete. Er schreib, wann immer er Zeit dafür hatte, las immer und übersetzte. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zerstörte eine Bombe sein Zuhause mit der Bibliothek und einer reisigen Anzahl von Handschriften, die für immer verloren gegangen sind. Aber Hamvas konnte nicht verloren gehen. Es bestätigte sich, was er im Buch Scientia Sacra konstatierte, das übrigens nur durch Zufall gerettet wurde: dass es keine Tat gibt, auch nicht die kleinste, die nicht ein für allemal geschehen ist und die nicht in der Welt widerhallt, so den Kreis schließend, den man schwer anders nennen kann als ein kosmisches Wunder. Er verneinte den Atheismus, aber ebenso den falschen Moralismus, er war kein Liebhaber von Technik und bewies ständig, dass das Böse die wichtigste Aufgabe ist, mit der man sich auseinanderzusetzen hat. In Anbetracht der Ausmaße von Hamvas’ Erudition könnte man den Eindruck gewinnen, dass es sich um einem stummen Weisen handelt, der das Leben als Kabinettskasteiung sieht und die Sonne nur genießt, wenn er sie auf einem Bild sieht. Aber Hamvas ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, der den Wein fast so ehrt wie Gott, die Frau außerhalb der männlichen Ausschließlichkeit beurteilt, mit seltener Subtilität weibliche Duftzonen kommentiert und über Griessuppe schreibt, einem Gericht, dass jeglicher Spannung, die der moderne Menschen fast wie ein Medikament braucht, enthoben ist. Es ist wahr, dass er nicht aus Ungarn herausgekommen ist, aber er ist dafür, wie seine Lebensgefährtin anführt, aus dem Schicksal herausgekommen. Das bedeutet, dass er zu dem Punkt gelangt ist, an dem alle 31 primitiven Konflikte aufhören, wo sich die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart verlieren, während man die Welt mit jener Art von Bescheidenheit oder Überheblichkeit beurteilt, die sich am genauesten mit Nietzsches Ausdruck die fröhliche Wissenschaft bestimmen lässt. Gott, Kinder und Tiere duzt man und mit so einer Art Familiarität berichtet der ungarische Weise über die delikatesten Fragen. In Europa hat er keinen Lehrer gefunden, der nicht zu seinem Schüler geworden ist, er schrieb über Trismegistos und das elyptische Sein, wandte sich aber mit der gleichen Überlegenheit etwas so gewöhnlichem wie dem Barbarismus der Arbeit oder dem Pflücken von Kirschen zu. Für Hamvas ist Gott die einzige Realität, die Erlösung das einzige Werk. Er tauchte tief, in die vormetaphysische Zeit der Harmonie aller Lebewesen und erklärte, dass er in der Ära der Apokalypse und des Antichrist am schwersten das Verneinen des Körpers erträgt. Er war ein unermesslicher Schmied des neuen-alten Wissens, der sich an den reinsten Quellen tränkte und der, über Wein schreibend, die ideale Balance zwischen Weisheit und Eifer oder zwischen Gesammeltheit und befreitem Genuss schuf. Hamvas ist eine Lektüre für den alltäglichen Gebrauch und eine Philosophie, die zu leben ist. Er ist Suchender und Gläubiger, der größte von ihnen, wenn er den Anschein eines Abtrünnigen weckt. Mehr als alles andere ist Hamvas ein Jäger im Labyrinth, der alle Hindernisse kennt, der aber auf Erfahrung und seinen gottgegebenen Instinkt vertraut. Letztendlich, der Ungar mit den tausend Gesichtern gelangte zur höchsten Instanz, weil er, indem er einen Ausgang aus verschlungenen Wegen suchte, den Weg auch für andere trassiert hat. Aus dem Kroatischen von Marijana Miličević Hrvić 30.4.2011. 17:52:58 RELA 32 TIONS Doppelleben Zdravko Zima I n der Kritikliteratur, die nach seinem Tode und nach der Veröffentlichung seines Nachlasses anfing, wie eine Flutwelle zu wachsen, nannte man Franz Kafka den Schriftsteller des Paradoxes. Aber das Paradox ist nicht nur eine Denkart, die das Markenzeichen einer Literatur und eines Lebens wurde, das sich in verschiedene Richtungen gabelte: hin zu der deutschen Sprache, der jüdisch-christlichen Tradition und der Topographie der franzjosephinischen Monarchie, in der Prag die drittgrößte Stadt war. Ihrer Schönheit nach und noch vielem anderen wahrscheinlich die erste! Ein Paradox ist allem Anschein nach auch der Umstand, dass Kafka dank eines Sakrilegs im Erbe der westeuropäischen Literatur als einer ihrer größten Namen verblieb. Denn es gibt kein größeres Vergehen als die Nichtbefolgung des letzten Willens eines Verstorbenen. Genau das hat Max Brod getan. Entgegen Kafkas testamentarischer Forderung veröffentlichte er drei seiner Romane, Tagebücher und Briefe, schrieb Vorworte und Monographien, in denen er die mysteriöse Figur und das Werk seines früh verblichenen Kollegen und Pariser Compagnons enträtselte. Ein Paradox ist vielleicht auch das, dass Brod heute hauptsächlich dafür bekannt ist, dass er Kafka reinkarniert hat, ebenso wie es eine Tatsache ist, dass über die etwa zwanzig Romane von Brod längst der Schleier des Vergessens gefallen ist. Relation 1_2011.indd 32 Vom Paradox nähern wir uns dem Raum von Irrealität und Irrtum, in dem nur das möglich ist, was fantastisch ist, während alles andere ungreifbar wie ein Schatten ist. Wie jeder Schriftsteller hatte Kafka seine Vorbilder und Favoriten. Unter ihnen nahm Heinrich von Kleist eine priviligierte Stelle ein, der zwischen einer Offiziers- und einer Schriftstellerkarriere wankte und der in einem Augenblick aufgehört hat, an die rationale Struktur der Welt zu glauben. Die Tatsache, dass er sieben Dramen und sieben Novellen (die berühmteste davon ist jene über Michael Kohlhaas) geschrieben hat, ist fast symptomatisch, auch dass er meist über die Frage von Irrtum und Irrung im menschlichen Leben fabulierte. Man könnte kaum etwas anderes für Kafka feststellen oder seine Helden Gregor Samsa, Karl Rossman, Josef K. und andere. Ein anderer Jude und deutscher Schriftsteller, Franz Werfel, ebenfalls in Prag geboren, war trotzdem im Unrecht, als er behauptete, dass die Probleme beim Verständnis von Kafka schon ein paar hundert Kilometer außerhalb von Prag beginnen. Heute kann man sich einen Schriftsteller schwer vorstellen, dem so wenig an seiner Karriere gelegen ist und der zur Metapher einer Welt, die einer Falle oder einem verwunschenen Labyrinth gleichgesetzt ist, wurde. Werfels These über die Literatur, die sich auf die Grenzen der Zeit und des Raumes reduzieren lässt, hat in diesem Fall nicht funktioniert, denn Kafkas Helden sind der Kraft monströser Mechanismen und irrationaler Vorfälle untergeordnet. Die Grenzen von Raum und Zeit sind in so einer Welt nicht physisch greifbar oder mit gewöhlicher Erfahrung messbar. Kafka ist ein Schriftsteller, der an der Grenze unterschiedlicher Welten lebt, der habsburgerischen, tschechischen und jüdisch-christlichen, an der Grenze zweier Jahrhunderte und an seiner individuellen Grenze. Aus der Zurückgezogenheit, fast konspirativ zu später Nachtstunde, schaffend wandte er sich an seine Tiefe, fiksierte jene geheimnisvollen Triebe und mechanischen Kräfte, die auf diese oder jene Weise menschliche Bahnen dirigieren. Ein Paradox liegt wieder darin, dass er weder für das Publikum schrieb, noch aus purer Berechnung, aber nichtsdestotrotz wurde er zum Objekt des Interesses von Kabinettforschern, geduldigen Hagiographen, aber auch dem weitesten Kreis von Lesern, die bereit sind, ihren literarischen Champion einer Ikone gleichzusetzen. Als ich Ende Mai ins goldene Prag fuhr, dachte ich an meine Freundin, die Malerin Silva und an den Satz, mit dem sie erklärte, dass Kafka ein glückliches Ende hatte. Er verschied am 3. Juni 1924 im österreichischen Sanatorium Kierling. Einen Monat vor seinem 41. Geburtstag starb er an Tuberkulose, einer Krankheit, die zu jener Zeit als schlimmste Seuche 30.4.2011. 17:52:58 RELA TIONS wütete. Man behauptete, dass die Tuberkulose in gewisser Weise das Geschick gefühlstiefer und esoterischer Wesen war und Susan Sontag kam zum Schluss, dass sie die Krankheit der Leidenschaft sei. Bezogen auf den berühmten Prager ist es interessant, dass die Tuberkulose Extreme charakterisieren. Bleichheit wechselt sich mit Anfällen von Röte ab, Lebendigkeit mit Mattheit und außer unvorhersehbarer Zeiträume der Euphorie ist den Erkrankten ein verstärkter sexueller Appetit eigen. Kafka ist wahrlich kein Schriftsteller, der das Publikum mit seiner sexuellen Fantasie magnetisierte. Wenn wir dazu noch sein Judentum und die rigide Vaterfigur hinzufügen, in dem er nichts anderes sah als die unsympathische Autorität, entfernen wir uns noch mehr von der These, dass schwindsüchtige und sexuelle Leidenschaften im umgekehrten Verhältnis zueinander stehen. Aber Kafka ist, wie so viele namhafte Autoren, das Opfer der Oberflächlichkeit und billiger Stereotypen. Vielleicht hat sie niemand so überzeugend demantiert wie Kundera. Im Essay Der kastrierende Schatten des hl. Leonhart kommentierte er Brods Roman Zauberreich der Liebe. Er war weniger interessiert an Brods Roman per se, sondern mehr an Kafka. Denn in der Figur des Leonhart ist Kafka dargestellt, jedoch als impotenter Puritaner, der seinen Glauben lebt und an sich die größtmöglichen Ansprüche stellt. Kundera war in gewisser Weise gezwungen Brod anzuschwärzen, um mit seiner Chiaroscuro-Technik Kafka umso mehr zu beleuchten. Im Schriftsteller, der aus edlen Absichten Kafkas letzten Willen übergangen hat, hat er nicht mehr entdeckt als einen sentimentalen Graphomanen und einen Freund, der kein Gespür für die neue Kunst hatte. Dank der Kafkalogie, die der altmodische Herr Brod lanciert hat, ist Kaf- Relation 1_2011.indd 33 Essays ka von seinen großen Zeitgenossen isoliert geblieben, wie zum Beispiel Strawinski, Bartók, Musil, Joyce, Picasso und viele andere. Jenseits aller möglichen Thesen über eine heiligenähnliche Sterilität betont Kundera, dass Kafka als erster das komische und groteske Gesicht der Sexualität dargestellt hat. Und im dritten Kapitel des Schlosses koitieren K. und Frieda in Bierlachen, kaum eine Stunde nachdem sie sich kennen gelernt haben. Außer dass er gezeigt hat, dass Sexualität zweigleisig ist, gleichzeitig anziehend und abstoßend oder sogar degoutant, bringt Kafka in viele Szenen Elemente des Poetischen und des magischen Realismus ein. Zu guter Letzt erwähnt Kundera, dass Márquez ihm bei einer Gelegenheit anvertraut hat, dass gerade Kafka ihm geholfen habe, zu begreifen, dass man auf eine andere Art schreiben kann. Aber weswegen dürfte man behaupten, dass Kafka ein glückliches Ende hatte? Sicherlich nicht wegen der Tuberkulose, sondern weil seine drei Schwestern (Gabriele, Valerie und Ottilie) im Konzentrationslager geendet sind. Im KZ Ravensbrück starb ebenfalls Milena Jesenská, in die sich Kafka 1920 verliebte und an die er seine legendären Briefe schrieb. Um Brods Bild aus seinem Roman zu entgegenen, sollte man vielleicht etwas zu den sentimentalen Beziehungen Kafkas sagen. Im Jahr 1912 lernte er Felice Bauer kennen. Zwei Jahre später haben sie sich verlobt, aber die Verlobung wurde bald danach gelöst. Im Jahr 1917 folgte die zweite Verlobung mit der selben Dame und mit dem selben, vernichtenden Ausgang. Danach kam Julie Wohryzek an die Reihe. Die Verlobung fand 1919 statt, wurde aber ebenfalls gelöst, nachdem Milena Jesenská Kafka erobert hatte. Im Jahr 1923 lernte er Dora Dymant kennen, eine zwanzigjährige Jüdin aus Galizien, die ihn bis zu seiner Todesstunde begleitete. 33 Kafka gehörte zum Prager Kreis jüdischer Autoren, den Max Brod, Felix Weltsch, Franz Werfel, Oskar Baum und Ludwig Winder bildeten. Es ist ihm nie in den Sinn gekommen, politisch engagiert zu sein, aber mit der Zeit stellte er sich als Schriftsteller heraus, der eine Welt der totalitären Hoffnungslosigkeit ankündigte, mit menschlichen Individuen, die auf hilflose Marionetten reduziert sind. Er ist der Prediger des Unfriedens, der das Leben als elementares Versehen betrachtet und der der Hoffnung keinen Raum lässt. Alles, was er geschrieben hat, ist passiert: in der Bahn von Gregor, der zu einem Insekt missformt ist, im Vater, der seinem Sohn das Blut saugt, im Mann, der schuldig ist ohne Schuld, in der Angst, die den Planeten überflutet hat und die er in seinen Romanen so virtuos benannt hat. Benjamin erinnert daran, dass Kafka Robert Walser mochte, einen Erzähler, deren Figuren im Halbdunkel schwimmen. So sind auch seine Helden, wie Gandharvas, undefinierte Wesen in fest-gasförmigem Zustand. Kafkas nie ganz erklärbares Geheimnis generiert sich zum großen Teil aus seiner Beziehung zum Vater. Im Jahr 1919 schrieb er den Brief an den Vater, eine Art autobiographisches Resümee und intime Abrechnung mit dem elterlichen Willen, in dem er Repression und das Bedürfnis nach Domination identifizierte. An einer Stelle behauptet er direkt, dass der Vater für ihn ein Rätsel darstelle, das alle Tyrannen mit sich tragen. Selbstverständlich konnte es zwischen Hermanns Händlergeist und Franzens dichterischer Unangepasstheit keine Harmonie geben. Es drängt sich der fast ultimative Vergleich mit Kamov auf, Kafkas Zeitgenossen und Rebellen, ebenfalls in einer Händlerfamilie geboren. Der Schriftsteller aus Rijeka wählte sein Pseudonym nach dem biblischen Ham, dem jüngsten Sohn Noahs, der den Vater ob sei- 30.4.2011. 17:52:58 34 ner Nacktheit auslachte, so das ursprüngliche Bedürfnis nach Freiheit ausdrückend. Auf der anderen Seite wirft Kafkas Vater die Decke von seinem Körper ab. Als ob er fürchtet, dass sein Sohn ihn auf diese Weise ersticken oder seine Macht neutralisieren könne. Indem er diese Last abwirft, wirft der Vater jede Art von Verantwortung von sich ab. Mit der Welt der Väter, wie auch mit der Welt der Bürokraten, verbindet Kafka Dumpfheit und Schmutz. Zwischen autoritären Eltern und autoritären Beamten scheint es keinen Unterschied zu geben: darauf wies in seiner Rezension schon Benjamin hin. Nach dem Jurastudium und der Anstellung bei einer Versicherungsgesellschaft führte Kafka ein Doppelleben. Tagsüber ging er der Arbeit nach, für die er bezahlt wurde und des Nachts büßte er für seine Kreativität und das instinktive Bedürfnis zu schreiben. Seinen bürgerlichen Beruf und den Doktortitel in Rechtswissenschaften trennte er streng von seiner künstlerischen Berufung, die er für sich behielt und den Kreis seiner intimen Freunde. Kafkas Doppelheit oder Doppelgleisigkeit ist auf ihre Weise in Buñuels Schönen des Tages weitergeführt, die in den späten sechziger Jahren entstanden ist. Denn der französisch-mexikanische Cineast bediente sich, ebenso wie der Prager Schriftsteller, einer gebrochenen Struktur und bietet die Geschichte über eine Frau, die als feinste Dame der Gesellschaft lebt, sich gleichzeitig als Schlampe verkauft. Aber diese Doppelheit bedeutet nicht unbedingt eine Art des oberflächlichen Moralisierens. Buñuels Koffer mit doppeltem oder dreifachem Boden kann man auf verschiedene Weisen verstehen; als nackte Wahrheit, als Form der Fantasmagorien der Heldin, aber auch als der Sprung des Regisseurs in den Ozean des Unbe- Relation 1_2011.indd 34 RELA Dossier: Zdravko Zima wussten, in dem konventionelle Regeln nicht gelten. Etwas Ähnliches geschieht in Kafkas Prosawerken. Die Lehrerin und die Schüler, die das Klassenzimmer betreten und in ihm verschlafene Liebhaber finden, stellen eine solche Szene dar, in der der Autor Welten miteinander verflicht, Warm und Kalt mixt, Anständigkeit und Vergehen und zu dem Punkt gelangt, in dem sich das Phantom der Freiheit entlarvt. Die Frage nach Kafkas Exemplarität ist immer in gewissem Maße eine Frage des Umfelds. In den Jahren seine Reifung war Prag alles andere als eine Provinz. Im Jahr 1898 fand dort die erste wichtige Ausstellung des „Jugendstils“ statt. In Prag wirkte die Gruppe „Osma“, deren Mitglieder die Maler Bohumil Kubišta, Otakar Kubín, Friedrich Feigl und Willy Nowak waren. Man darf auch nicht vergessen, dass Hašek Kafkas Altersgenosse war und dass in Prag Rilke und Kisch geboren wurden, obwohl sie ihr Leben, jeder aus eigenen Gründen, in wesentlich geringerem Maße an Prag gebunden haben. Als Kafka gestorben ist, war die glorreiche Doppelmonarchie schon längst vergangen. Der Prager Franz wurde als Untertan Seiner „kaiserlichen und königlichen“ Majestät geboren und starb als Bürger von Masaryks Tschechoslowakei. Doch er war für viel weitreichendere Unterfangen vorherbestimmt, um die Welt aus einer ideologisch-anghängerischen Perspektive zu hinterfragen. Kafka ist ein Schriftsteller, der an der Tür steht und man weiß nie, ob er kommt oder geht. Mit einem Teil seines Wesens schreitet er auf dem Straßenpflaster, mit dem anderen taucht er in den Raum des Geheimnisses ein, dort, wo die Möglichkeit neuer Erkenntnisse von der Kraft der Selbstrealisierung abhängt. Er war von eshatologischen und esoterischen Fragen besessen und von seiner Begegnung mit Rudolf Steiner, TIONS der im kroatischen Teil der ehemaligen k. u. k. Monarchie geboren wurde, hinterblieb in seinem Tagebuch nur eine karge Notitz. Kafkas Spuren in Prag bieten sich auf Schritt und Tritt an. Im strengsten Zentrum, in der Nähe der Nikolauskirche, wo einst sein Geburtshaus stand und in der Goldenen Gasse, wo er eine Zeit lang lebte und schrieb, im Kaffeehaus, das Milenas Namen trägt, an der Ecke von Mikulaška und Altstädter Ring, wo der Roman Das Schloss entstand. Und dann, der jüdische Friedhof Olšany. Eines heißen und swülen Nachmittags war ich dort, nach einigen erfolglosen Versuchen. Lebt er nicht vielleicht noch in der Erde, fragte sich im Gedicht Gräber der italienische Bürger Splits Ugo Foscolo. Vor seinem Obelisken stieß ich mit einem jungen Mann zusammen, der eine Kappe trug (die Juden sagen Kipa) und mich als ungebetenen Gast behandelte. Jenes Unbehagen und Schuld, mit denen Kafkas Romane gewürzt sind, schmeckte ich wieder einmal am Grab des Dichters. Trotzdem, am 3. Juni, an Kafkas 75. Todestag flackerte auf seiner letzten Ruhestätte in Olšany eine Kerze aus Kroatien. Ich weiß nicht, wie lange sie gebrannt hat, denn ich hatte nicht vor, die Kälte des Friedhofs mit einem heißen Fanatiker zu teilen, der den Raum des Obeliskes als sein unenteigenbares Lehen betrachtete. Ist das wieder das Paradox, ein Geflecht von Zufällen oder ein kafkaeskes, schwarzhumoriges Spiel? Bachelard schrieb, dass sich in der Flamme verdichtete Zeit befindet. In der Flamme lebt, und verschwindet mit ihr, der scheinbar schreckliche jedoch eigentlich schreckhafte Salamander. Ist nicht seine nächtliche Natur, vereint mit der reinigenden Kraft des Feuers die genaueste Verkörperung Franz Kafkas? Aus dem Kroatischen von Marijana Miličević Hrvić 30.4.2011. 17:52:58 RELA TIONS 35 Freud und Krleža oder das Leben mit dem Torso Zdravko Zima D ie Geschichte der Habsburgermonarchie zwischen 1848 und 1918 hat Hermann Broch mit der Syntagma „heitere Apokalypse“ bezeichnet. Dieser Neologismus könnte als ein Witzwort oder als contradictio in adjecto verstanden werden, wenn sie nicht den Geist der Franzjosephinischen Welt beinhalten würde, die sich mit ihrem Apogee, dem unglaublichen wissenschaftlichen und künstlerischen Schwung, dem definitiven Zerfall nähert. Auch heute, im neuen Fin de siècle, stellen wir uns erneut die Frage, was für eine fruchttragende Spannung in einem so begrenzten Zeitraum und auf einem relativ beschränkten Raum eine solche intellektuell-künstlerische Blüte ermöglichte. Freud, Brentano, Rank, Adler, Wittgenstein, Mahler, Schönberg, Wolf, Musil, Kraus, Roth, Altenberg, Loos, Klimt, die Juden und die Deutschen, die Katholiken und die Konvertiten, die Linken und die Rechten, die Kosmopoliten und die Befürworter der Rassenreinheit, wie es der zur Jahrhundertwende in Wien lebende H.S. Chamberlain, Sohn eines englischen Admirals und Propagandist der teutonischen Überlegenheit einer war. Der ungefähr 70 Jahre lange Zeitraum der „heiteren Apokalypse“ ist außergewöhnlich nicht nur wegen seiner kreativen Reichweite und des Bewusstseins seiner Prota- Relation 1_2011.indd 35 gonisten, dass sie, am Höhepunkt stehend, den nahenden Niedergang ankündigen. Nichts ist so betörend wie das monarchistische Wien, getragen von der Biedermeiertradition, dem Walzertakt und der reinigenden Operette, nichts war so transparent wie das Bewusstsein der Wiener Meister, von Kraus bis Zweig, dass ein Reich und eine Welt ihrem unausweichlichen Ende entgegensehen. Am Ende des zweiten Jahrtausends bringt uns dieses agonale Bewusstsein mit einer gravitationsähnlichen Kraft, in der das geschichtliche Maß dem Maß der Krise und der zyklischen Wiederholung des ewig Gleichen entspricht, zu Wien zurück. So sehr wir mit Wien verbrüdert wurden, nicht nur wegen unserer Zugehörigkeit dem Franzjosephinischen Reich, so sehr waren wir dieser Welt entfremdet. William M. Johnston erklärt, dass uns von dieser Welt am meisten die enzyklopädische Breite des Wissens entfernt. Freud, Wittgenstein und Schönberg waren so allseitig gebildet, dass man sie heute, in der Zeit der Oberflächlichkeit und allgemeinen Fachidiotismus, für komische Amateuere halten würde. In unserer sozial-kulturellen Umgebung würde diese Art Vergleich nur Krleža bestehen können. Geboren in einer Epoche, in der Kroatien ein Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie war, ist Krleža ihr Kind und ihr legitimer Fortsetzer, trotz der Tatsache, dass er das ganze Leben lang dieser Welt und ihren Traditionen entschlossen den Stinkefinger zeigte. Da er die psychoanalytischen Ansätze und alles akzeptierte, was einer der größten Wiener jener Zeit, Sigmund Freud, hinterließ, wäre die richtigste Bezeichnung für den von Krleža beschritten Weg: Vatertötung. So tappen wir in die Falle der Liebe und des Hasses, die das Leben des psychoanalytischen Papstes als auch des kroatischen literarischen Patriarchen restlos geprägt hatte. Freuds Verhältnis zur damaligen Medizin und der österreichischen Hauptstadt war äußerst widersprüchlich. Er wurde 1856 in Freiberg geboren, einer Kleinstadt im nordöstlichen Mähren und in Wien lebte er seit seinem vierten Lebensjahr. Zwar war Freud überzeugt, dass Wien nichts mehr als eine gelungen dekorierte Provinz ist, doch allen seinen Frustrationen zum Trotz hätte er nie daran gedacht, diese Stadt zu verlassen. Wien hatte seine Nachteile, war aber gleichzeitig Errinnerungsbastion und Pflanzstätte der Neuigkeiten, sowie ein fruchtbarer Boden für die Entfaltung seiner wissenschaftlichen Ambitionen. Freud sparte nicht mit giftigen Bemerkungen auf Kosten von Wien, obwohl der Erste Weltkrieg, der den 30.4.2011. 17:52:58 36 Glanz der Österreichisch-Ungarischen Monarchie löschte, durch seine Geschehnisse, das Trauma und den Todesgeschmack betonte, von dem sein ganzes Werk durchdrungen ist. Übrigens genauso wie jenes von Krleža. Ende 1918 konnte Freud nur zur Schlussfolgerung kommen, dass die Österreichisch-Ungarische Monarchie tot ist, dass er aber trotzdem Wien nicht verlassen will. „Ich werde mit dem Torso leben und es mir als Ganzes vorstellen“, hat er niedergeschrieben. So ein Derivat von Wien war für Krleža Zagreb, nur mit dem Unterschied, dass der kroatische Schriftsteller die von Josip Broz Tito geschaffene Gemeinschaft des südslawischen Vielvölkerstaates akzeptierte und sie an die Stelle seiner tief unterdrückten k.u.k. Faszinationen treten ließ. Sigmunds Vater Jakob war Wollhändler und 1860 ist der kleine Sigmund mit der Familie nach Wien umgezogen. Dort lebte er bis zum Juni 1938. Sein Medizinstudium dauerte mehr als acht Jahre, nicht wegen seiner Faulheit, sondern wegen seiner zahlereichen Interessen und des Wunsches, parallel als Assistent in dem physiologischen Laboratorium von Ernst Brücke zu arbeiten, einem vielseitigen Psychologen und seinem Lieblingslehrer. Von Brücke überredet, widmete sich der zukünftige Physiologe der allgemeinmedizinischen Praxis, wobei er besonderes Interesse für Neurologie und Neuropathologie pflegte. Mit der Frau Martha Bernay hatte er sechs Kinder. Die Ehe von Siegmund und seiner Frau Martha war eines der seltenen Beispiele einer glücklich legalisierten Beziehung, die dem Wiener psychoanalytischen Propheten den so benötigten Zufluchtort gewährte. Vorerst wohnten sie in Sühnhaus und von 1891 bis 1938 in der Berggasse, in der Straße in der auch Wilhelm Reich seinen Wohnort hatte. 1923 erkrankte Freud an Gaumenkrebs und musste Relation 1_2011.indd 36 RELA Dossier: Zdravko Zima 33 Operationen unter Lokalanästhesie durchmachen. Als Hitlers „Anschluss“ kam, ließ sich der 82-jährige Freud zur Emigration nach England überreden, ein Land, für das er schon immer offene Sympathien hegte. Ein Jahr später starb er in London. Er starb weit weg von der Stadt, die er gleichzeitig liebte und verachtete und der er viel mehr zu verdanken hatte, als er das sich eingestanden hätte. Das Abenteuer der Selbstanalyse, in die sich der Wiener Seelenarzt einließ, ist bei Krleža zum Abenteuer des Selbstschreibens geworden. Dort wo Freud talking cure vertrat, wählte Krleža writing cure, oder das Schreiben als Atmen. Nur so sind die Ausmaße dieses mehrstimmigen Opus zu verstehen, das allmählich zum Gespräch mit der ganzen Epoche wird, zum Gespräch, das eher ein Monolog ist und sehr selten ein Dialog. Worin bestehen die Ähnlichkeiten und worin die Unterschiede? Indem Freud die psychoanalytische Pyramide aufbaut, legitimiert er sich selbst, während Krleža, auch wenn er sich in seine Tagebuchobservationen einlässt, am meisten über die anderen schreibt. Der eine deckt auf, der andere verbirgt; der erste erforscht den Ödipus-Komplex, der zweite ist von Lenin fasziniert, in dessen revolutionären Gestalt er seine Komplexe und seine Revolte gegen den Vater einfließen lässt. Freud hat sich sehr früh als kämpferischer Atheist ausgegeben, obwohl er sich nie von seinem Judentum losgesagt hatte. Krleža war antiklerikal eingestellt und sehr kritisch der institutionellen Kirche gegenüber, obwohl hinter seinen bombastischen Ausfällen sein latenter Katholizismus zu spüren ist. Dass es dem so ist, zeigt seine ständige Beschäftigung mit den Protagonisten der nationalen Geschichte, wie mit dem Dominikaner Juraj Križanić und dem Bischof Strossmayer, aber auch sein ganzer literarischer Nachlass. Von der Legende, einer alttestamentarischen Phan- TIONS tasie in drei Bildern, von Michelangelo, Adam und Eva, von Golghata bis zum Zyklus über die Glembajs, befasst sich Krleža mehr oder weniger mit dem Phänomen des Jenseits und des Transzendenten. Das was auch Schorske bei Kokoschka und Schönberg feststellte – dass sie nämlich zwei antibürgerliche Bürger sind – könnte aus vielerlei Gründen auch Krleža betreffen, der sein ganzes Leben lang auf einem schmalen Grat wanderte: zwischen den sozialistischen Illusionen und dem notorischen Egozentrismus, zwischen der Spiritualität und der Geschichte, und letzten Endes, zwischen der Rationalität und dem Bedürfnis, das eigene Gewissen zu schützen, oder im Grunde genommen, dem Bedürfnis der Erlösung (was nicht anders als eine verborgene Religiosität ist). Krležas Protagonist in der Novelle Hodorlahomor der Große träumt seit seiner Kindheit von Paris, während Freud von Rom besessen ist. Das Verhältnis zur ewigen Stadt ist wiederum zweideutig und mindestens gegensätzlich. Denn Rom ist eine der Wiegen der klassischen Zivilisation, in die Freud bis über beide Ohren verliebt ist, aber gleichzeitig ist Rom Sitz des Papstes und der römisch-katholischen Kirche, die bei dem psychoanalytischen Papst keine besondere Begeisterung wecken. In Anbetracht seiner Zuneigungen wird in den psychoanalytischen Erforschungen Freuds das Hauptaugenmerk auf den mythischen Ödipus gelegt. Jeder Mensch lebt in bestimmtem Maße den Ödipus-Komplex, weil in ihm ein glimmender Wunsch vorhanden ist, den eigenen Vater zu töten, seine erste Autorität loszuwerden und mit der eigenen Mutter zu schlafen. So wiederholt sich immer wieder Ödipus’ Schicksal, es wiederholt sich die Geschichte als ein endloser mit Tränen und Toten als Karyatiden gepflasterter Saal. Der Tod von Siegmund Freuds Vater im Jahre 1896 geschieht 30.4.2011. 17:52:58 RELA TIONS in der Zeit, wo die Positionen des liberalen Judentums in Wien schwach und die rechten Kräfte stark werden. Es ist die Zeit der Dreyfus-Affäre und die Zeit von Émile Zola, der für Siegmund Freud ein politischer Held war. In seiner Studie über Wien führt Schorske die fast unglaubliche Angabe über den siebzehnjährigen Freud an, der stolz ablehnte, den Hut vor dem Kaiser zu lüften. Wie würde man so eine Geste in Kroatien verstehen, in der das Hand-aufs-HerzLegen, während die Nationalhymne gespielt wird, zur Pflicht geworden ist? Aber Freud ekelte sich vor dem Verhalten seines Vaters, der sich den antisemitischen Beleidigungen nicht entgegensetzen wollte. Seine Leidenschaft für die Politik hat er deshalb durch wissenschaftliche Errungenschaften aufgewogen: so machte er sich von der Trivialität los und überwand den väterlichen Schatten. Freuds Vater träumte davon, dass sein Sohn es bis zum Ministerlehnsessel bringen wird, aber Sigmund hat das wissenschaftliche Kabinett und das psychiatrische Sofa gewählt. Der Sieg der Wissenschaft über die Politik stellte die Vatertötung dar; der Aufstand gegen die feste Ordnung ist in der Zone des Unbewussten und in der zerstörenden Kraft der Psychoanalyse. Wissenschaft hat wenigstens für kurze Zeit über die Geschichte triumphiert, der Sohn über den opportunistischen Vater. Durch diese Vaterverneinung wird auch die Verneinung der obersten Autorität vorgetäuscht, genauso wie der Königsmord in der Französischen Revolution die Gottestötung fingierte und an die Stelle der ehemaligen TriadeGehorsamkeit, Hierarchie und Patriarch – die Dreifaltigkeit der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf den Thron erhoben wurde. Freuds intime Umlaufbahn und seine wissenschaftlichen Erforschungen zeugen davon, dass in der Grundlage jeder Existenz der Konflikt zwischen Relation 1_2011.indd 37 Essays dem Vater und dem Sohn ist. Wie wurde dieser Konflikt bei Krleža gelöst? In seiner ausführlichen Chronologie wird von Lasić eindeutig behauptet, dass der Vater der heikelste Punkt von Krležas Biographie ist. Krležas biologischer Vater war ein städtischer Oberwachposten bzw. Polizist, aber über seine Familie hat der Schriftsteller, der ansonsten nicht gerade zurückhalten war, praktisch keine Zeugnisse gelassen. Der Weg des umstrittensten kroatischen Literaten der neueren Zeit, seine konvulsiven Revolten und sein ständiges Bedürfnis nach Selbstbehauptung werden vielleicht verständlicher, wenn wir von den Erforschungen Lasić’s ausgehen. Von der Tatsache, dass dieser Vater keinen festen Anhaltspunkt hatte, dass er sehr früh aus seiner Heimat in Zagorje in die Welt von all den Traumata getrieben wurde, die er dann in seinen Sohn hineinprojizierte und dass er auf dem Zagreber Hauptmarkt als der niedrigste Vertreter des Regimes von Khuen Hedervary seinen Dienst verrichtete. Krleža hatte das Bedürfnis, sich mit dem Vater zu identifizieren, aber dem überempfindlichen und intelligenten Jungen war das nicht möglich. Im Nebel der eigenen Widersprüche und der geschichtlichen Wirrnisse, die durch die Balkankriege, Zusammenbruch der Habsburgermonarchie, Vereinigung der südslawischen Völker, den Unabhängigen Staat Kroatien und Jugoslawien von Josip Broz geprägt wurde, gedieh ein literarisches Talent. Auf einer Seite die Häresie der Bogumilen, Križanić, Supilo und Vladimir Iljič, auf der anderen Seite die literarischen Autoritäten wie Kranjčević, Matoš, Kraus und viele andere, deren Fackel er weiter Brennen ließ, aber deren Wichtigkeit er nur selten auch sich selbst eingestanden hatte. Im Jahre 1900, als Krleža die erste Klasse der Grundschule abschloss und dem Domherr Volović ministrierte, 37 hat Freud seine vielleicht wichtigste Studie Die Traumbedeutung veröffentlicht. In demselben Jahr starben Nietzsche und Wilde. Der erste als Philosoph der globalen Geschichte, die nicht mehr die Stimme einer Gottheit ist, der zweite als Anführer vom Ästhetizismus und Amoralismus, die sich gleichermaßen in der Kunst als auch im privaten Leben merken lassen. In diesem Jahr hat Thomas Mann Die Buddenbrooks zu Ende geschrieben, die Chronik einer Patrizierfamilie, die durch ihre Verbrüderung mit den geistigen Werten ihren Niedergang beeinflusste und die Dämmerung des bürgerlichen Europas ankündigte. Desselben Europas, das das Attentat von Sarajevo erschüttern, der Erste Weltkrieg zerstören und der Thriumphalismus des Dritten Reiches der allgemeinen Orientierungslosigkeit ausliefern wird. In der Traumdeutung erklärte Freud, dass der Traum nichts anders als die Sublimation des Wunsches ist. Im Zweiten Weltkrieg, in der Angst vor den extremen Linken und Rechten, wurde Krleža oft in der Nacht wach und schrieb seine Träume nieder. Mit den öffentlichen Träumen oder Idealen hat er schon längst gebrochen: im Ludoviceum in Pest, als mit dem Ersten Balkankrieg vor seinen Augen Serbien als Leitstern aufgegangen ist. Während des Zweiten Balkankrieges hat Krleža dem Tode ins Auge gesehen und sich durch puren Zufall gerettet. In diesem Augenblick war er gleichzeitig jung und alt. Er war kaum 20, hat aber erbittert alle Brücken hinter sich abgebrochen. Er hat das Studium und die Offizierlaufbahn aufgegeben, enttäuscht durch die Erkenntnis, dass er seine Ideale dort hegte, wo die anderen ihre Eroberungsappetite anfachten. Außerhalb der Arztpraxis hat Freud Blumen, Pilze und Tarot gemocht, ein Kartenspiel, dass genauso Esoteriker als auch die Astrologen und Kabalisten anzieht und dessen größ- 30.4.2011. 17:52:58 38 RELA Dossier: Zdravko Zima bar war. In der Kirche, genauso wie beim Militär, hat Freud die künstlich geschaffenen Massen erkannt, die sich nur mit größerem oder kleinerem Zwang erhalten können. Den Verdienst für die Erneuerung der katholischen Werte hat man nach Freud mehr der Syphilis als jedem Kathechismus zu verdanken, die am Anfang des Jahrhunderts das Enthaltsamkeitsgebot aufzwängte. Krleža hat von der Religion und ihren Vorkämpfern grundsätzlich das abgestoßen, was ihm selber nicht erspart blieb – fanatischer Geist. Es scheint ein Paradox zu sein, aber seine Literatur war, trotz allem, tief mit eschatologischen Fragen durchwoben. Anscheinend fand der junge Krleža das Gegengewicht in der linken Utopie und in der Gott gewordenen Mumie Lenins, während Freud seine Ideen über das Jenseits mit seiner Leidenschaft für Archäologie verkleidete, in eine Art Balsamierung der Vergangenheit, der seine ganze Epoche gewidmet war. Mit dem Zerfall der ÖsterreichischUngarischen Monarchie war Freud auf den Torso verurteilt, den er sich als die Ganze vorstellte. Über Krleža könnte man kaum was anderes sagen. Auch seine Ideale sind wie Seifenblasen geplatzt und hinterließen nur das Groteske, zu dem er verurteilt oder zurückgeführt wurde, sogar auf dem Friedhof Mirogoj, als er statt mit dichterischer Würde mit einer militärischen Ehrensalve begraben wurde. Tausendundein Tod, wie das der Titel seiner bekannten Novelle besagt oder millionundein Traum, den Freud festhielt. Vielleicht ist das Leben nur ein Traum, nur ein Zwillingsbruder des Todes. Mit dem neuen Fin de siècle, mit den Freud’schen Projektionen und den Lektionen von Krleža, nimmt so eine Schlussfolgerung den Platz ein, in dem von dem Zauber des Möglichen keine Spur mehr übrig bleibt. Aus dem Kroatischen von Helen Sinković Foto: © Višnja Arambašić te Bedeutung darin ist, dass es allen Ordnungsversuchen entweicht. Der private Krleža ist am liebsten auf dem Zagreber Hügel Cmrok spazieren gegangen und genoss die französische Küche und angenehme Gesprächsrunden im Palace-Hotel. Auf jeden Fall ist symptomatisch, dass weder der Wiener Papst noch der Zyniker vom Hügel Gvozd keine besonders gute Meinung über das Frauengeschlecht hatten. In den Werken von Krleža war das schwächere Geschlecht zu nicht mehr als Frivolität und Hysterie fähig und in Freud’schen Visionen sind die Frauen auf die kastrierten Männer zurückgeführt, wobei ihre Unzufriedenheit dem Penisneid entstammt. Was das Verhältnis zum Glauben angeht, behaupten gute Kenner von Freuds Leben, dass er trotz seines Antiklerikalismus äußerst religiös war. Rom liebte er viel mehr als die Katholische Kirche, während sein Verhältnis zum Judentum gespalten und mit eindeutigen Formeln schwer erklär- TIONS Relation 1_2011.indd 38 30.4.2011. 17:52:58 RELA TIONS 39 Der Essay als Roman, der Roman als Essay Zdravko Zima S ich über den Essay und den Roman zu äußern, ist vielleicht nichts anders als sich über das Ähnliche zu äußern. Schon die oberflächliche Einsicht in die Vergangenheit suggeriert, dass sich die Theoretiker über die Bestimmung und Deutung dieser zwei Genres nicht einig geworden sind. Es ist eine Binsenwahrheit, dass die Bezeichnung Essay von Michael de Montaigne stammt, den sein Buch (seine Bücher) mit dem gleichen Titel bekannt machte und dass er nach all dem feststellte, das philosophische Unwissen oder docta ignorantia sei Endzweck aller intellektuellen Forschungen. Obwohl der französische Philosoph als Gründer der essayistischen Schrift betrachtet wird, er selbst entdeckte essayistische Spuren in den Werken der altgriechischen und römischen Autoren. Viele Titel aus der europäischen geistigen Schatzkammer tragen in sich Bezeichnung Essay (Lockes Versuch über den menschlichen Verstand, Voltaires Versuch über die Sitten und den Geist der Nation, Popes Versuch über die Kritik), doch in der europäischen Literatur der neueren Epoche, besonders mit Mann, Huxley, Gide und anderen, ist das Essaysieren eine Art Strukturierung des Romanstoffes. Das, was für den Essay charakteristisch ist, ist gewissermaßen im Roman zu erkennen. Anfangs war Relation 1_2011.indd 39 der Roman an die konkreten Geschehnisse, geschichtlichen Daten und Volksbräuche gebunden, was praktisch bedeutete, dass die Autoren solcher Bücher am meisten auf der Handlung insistierten. Im 20. Jahrhundert wurde die Vielfältigkeit der Erscheinungsformen dieser komplexesten und amorphesten literarischen Gattung zusätzlich durch die Möglichkeit des Romans bereichert, zum Bild der unsichtbaren Geschehnisse im Inneren der Hauptgestallten zu werden. Krleža hat einmal geschlussfolgert, dass sich die Gestalten in der Prosa von F. M. Dostojewski des essayistischen Diskurses bedienen und solcher Typ des Prosatextes wurde später Roman-Essay (franz. romanessai) genannt. Innere menschliche Gespaltenheit hat die Schriftsteller seit jeher beschäftigt; ähnliche Problematik hat zur Zeit der intensiven Erforschungen Freuds auch Huxley in seinem vielleicht bekanntesten Roman Kontrapunkt des Lebens literarisch aufgearbeitet. Dieser Roman aktualisiert die Möglichkeit der Gleichgewichtsschaffung zwischen Vernunft und Leidenschaft, zwischen dem inteligiblen und sensiblen Pol eines Einzelnen. Den ersten hat Huxley in der autobiographischen Gestalt von Philip Quarles verkörpert, und den zweiten, durch Emotionen und Sinnesimpulse geprägt, stellt Mark Rampion dar, für dessen Gestalt der Autor die Idee in der Person des eigenen Freundes, D. H. Lawrence, fand. Die Frage des Verhältnisses zwischen den beiden Extremformen des menschlichen Verhaltens impliziert in gewisser Hinsicht die Frage des Verhältnisses zwischen dem streng analytischen und amorphen Textmodell. Dieser Zwiespalt, die mögliche Überwindung dieser zwei Extreme und Erreichung einer entsprechenden Balance zwischen dem strukturellen und erzählerischen Textsegment, stellt für jeden echten Romanschreiber eine Herausforderung dar. Trotz der erwähnten Debatten, die sich letzten Endes auf die Gründe des Verstandes und Herzens zurückführen lassen, hat das für die rezente Literatur Wesentliche schon in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts John Barth auf den Punkt gebracht. Indem er Borges apostrophierte, hat Barth eigentlich nur wiederholt, dass kein Schriftsteller mehr Recht hat, sich auf die Originalität zu berufen. Denn alle Schriftsteller sind mehr oder weniger geschickte Meister des Palimpsestes, fleißige Kratzer, wortwörtliche oder mittelbare Übersetzer und Transplantatoren der vorhandenen Archetypen. Deswegen neigte Borges zu kürzeren Formen und Notizen, so dass ihm der Roman in seinem Kanon und Voluminosität 30.4.2011. 17:52:58 40 fremd war und auch so geblieben ist. Aus dieser Borges-Barthischen Position spross der Roman-Essay von Peter Esterházy Das Buch Hrabals empor. Ohne Rücksicht auf die mögliche Genrediversifikation ist vielleicht die wichtigste Tatsache, dass Esterházy mit seinem Roman, der nicht zufällig DAS BUCH genannt wurde, also, mit dem Archetyp, die Ähnlichkeit (re)produziert. Der Bedarf nach Ähnlichkeit ist mehr als irgendwo anders in den Naturprozessen auffallend. Doch während die Ähnlichkeit für die Natur ein Selbstschutzmodell ist, ist sie für den Schriftsteller das Selbsterkennungsmodell. Wenn wir feststellen, dass Das Buch Hrabals allen Klischees entweicht, wenn ihre Grundhandlung karg und auf die üblichen Muster nicht zurückführbar ist, dann sind wir der These nahe, dass wir mit dem essayisierten Roman oder mit dem romanhaften Essay zu tun haben, in dem der Autor, sich in der Gestalt und dem Werk von Bohumil Hrabar widerspiegelnd, sein genauso groteskes wie gutmütiges und narzisstisches Selbstbildnis malt. In der üblichen Literaturkritik wird hervorgehoben, dass diese Prosa dem großen tschechischen Erzähler gewidmet ist, aber gleichzeitig auch eine Widmung dem Blues, dem Saxophon und dem Familienleben ist, in dem der Pater familias auch der Schriftsteller sein kann, aber in dem die warm-kalten Zyklen genauso wie auch die Jahreszeitenzyklen gewiss sind. Damit die Auseinandersetzung mit dem Lieblingsschriftsteller nicht zu auffällig wird, damit die beiden Schriftsteller nicht unter vier Augen sprechen, damit sie nicht wie zwei Widder auf einem Balken stehen, hat der Autor in die Handlungsmitte Anna gestellt, Mutter von drei Kindern, die in Mußestunden Blues singt, ihren Mann mit der Gulaschsuppe und Kaldaunen füttert und an seinen literarischen Exhibitionen vielleicht mehr Relation 1_2011.indd 40 RELA Dossier: Zdravko Zima als er selbst leidet. All dies und noch vielerlei mehr verband Esterházy mit den Jahren, in denen der Kommunismus schon die ersten Zeichen der Müdigkeit zeigte, was seinen giftigen Worten und Observationen an der Grenze der Selbstbemitleidung eine zusätzliche orgiastische Note gab. Indem er über das tschechische Vorbild schreibt, schrieb der ungarische Erzähler über sich und indem er über sich schrieb, schrieb er über (seine) Frau und viele andere Frauen, all dies mit dem Echo des schon erstarrten Kommunismus übertönend – der am Anfang des dritten Jahrtausends uns als eine museale Tatsache erscheint. Was die Gotteswerdung der Frau angeht, die keine Berührungspunkte mit dem militanten Feminismus hat, was die sprachlichen und vielerlei andere Gierigkeiten angeht, die feinschmekerischen und anderen Rabelaischen und renaissancemäßigen Genüsse, ist Esterházy in diesem Segment, sowohl Hrabal, als auch Günter Grass ähnlich; besonders dem, was der deutsche Nobelpreisträger im Roman Der Butt zeigte. Ironie und Selbstironie, das Funkelnde und der Beichtton, der Witz und die Laszivität, Intellektualismus und Intertextualität, Sinnlichkeit und Orchestrierung aller möglichen Sinne, Holismus und Hermaphroditismus (verkörpert in der Doppelgeschlechtnatur des Saxophons und in der kindischen Wortspielerei: six, sax, sex), Roman als Enzyklopädie und Roman als Essay, das sind die Elemente, in denen Esterházy viele Berührungspunkte mit dem deutschen Schriftsteller kaschubischer Herkunft zeigt. Esterházy entstammt einer aristokratischen Familie und seine genealogischen Wurzeln gehen Jahrhunderte zurück. Im Dienst seiner Vorfahren war in höchsteigener Person Joseph Haydn und hinter allen diesen Vorfahren glänzt die Grandezza der ehemaligen Monarchie, wobei sich diese und ähnliche Einzelheiten in einer TIONS Art produktiven Skepsis niedergeschlagen haben, ausgedrückt in der Feststellung, dass es Pech ist, als Ungar geboren zu werden. Jenseits aller billigen Exaltationen wendet sich Erzähler in seiner Not an Hrabal und behauptet in seiner Manier, dass sie sich wie zwei Eier unterscheiden. Und vom Malheur und nationaler Identität hat in unseren lokalen Verhältnissen, bzw. in der Zeit der Nationalen Staates Kroatiens, schon Slavko Kvaternik bezeugt, als er erklärte, dass Kroate zu sein keine Schande, jedoch ein Pech ist. Da wir mit Ungarn seit der Pacta Conventa bis zum Ersten Weltkrieg in der politischen Konkubinat waren, dürfte uns diese Form von der Esterházyschen Persiflage und Beharrlichkeit nicht allzu fremd sein. Es gibt eine Reihe von Anhaltspunkten für die Behauptung, dass der Roman von Esterházy als Essay verstanden werden kann. Sie werden vom Schriftsteller selbst angeboten, der gleich am Anfang entdeckt, dass für ihn und seine Frau Hrabal eine Lebensform geworden ist. Sie hätten sich mit seinen Zitaten beworfen, das Verhalten seiner Helden nachgeahmt und so weiter. Der alte Spruch lautet similis similem appetit (der Ähnliche sucht den Ähnlichen), was dann bedeutet, dass es leicht anzunehmen ist, warum Esterházy gerade mit Hrabal seine Batterien geladen und seinen Appetit gereizt hatte. Inwieweit der ungarische Autor durch Literatur geprägt ist, und zwar nicht durch die Literatur als ein leeres Stichwort, sonder durch die Literatur als etwas Fundamentales und Unumgängliches, wird an der Stelle gezeigt, wo der Autor eingesteht, dass er sich zwischen dem Leben und der Literatur für die Literatur entschieden hatte, in der Überzeugung, dass es die einzige richtige Wahl ist! Es ist schwer, sich über die Tatsache hinwegsetzten, dass der Autor Mathematik und naturwissenschaftliche Studien abschloss, beson- 30.4.2011. 17:52:58 RELA TIONS ders deswegen, weil seine Neigung zur Arithmetik und zum Zahlenspiel auf jedem Schritt erkennbar ist. Wenn er sich auf die Korrespondenz zwischen Russell und Frege beruft, erwähnt er den Brief vom 16. Juni 1902. Dieses faktische Datum diente ihm als Zahlensymmetrie, die sich in der vorhandenen Bibilographie und in der eigenen Biographie widerspiegelt. Dasselbe Datum, 16. Juni, hat Joyce als den Tag genommen, an dem sich die Handlung in seinem Ulysses abspielt, an demselben Tag ist Anna geboren und an demselben verhängnisvollen Tag musste die Familie des Schriftstellers auf den Bauernhof eines Großbauern umziehen. Zynisches Gespött, das Äquilibrieren von Worten, linguistisch-stilistische Wortspiele, das Verstecken hinter den „Grundgesetzen der Arithmetik“ und der Frau, sind vielleicht im Dienst einer Art Mimikry; Aufdecken, das zugleich Verstecken und im Dienste eines öffentlichen Selbstentwurfes ist. Ähnlichkeitsherstellung, um die sich der ungarische Erzähler bemüht, sich dabei an sein tschechisches Vorbild wendend, ist in der Löschung der Genregrenzen zu sehen, in der Verbindung der dokumentarischen und fiktionalen Elemente, sowie in der Panoptikalität und Anekdotalität, zu der Esterházy, ebenso wie Hrabal, neigt. Nach dem Vorbild von Karla Gutzkow, kann man Das Buch Hrabals als Roman des Nebeneinander definieren oder, mit anderen Worten, als Roman des Parallelismus. In diesem Roman vermittelt eine Frau im virtuellen Dialog zwischen zwei Schriftstellern, und diese Vermittlung ist voller Anspielungen auf die Bücher und verführerische Wohlgerüche aus der klassischen tschechischen und ungarischen Küche, aber auch voller Erinnerungen an ein ähnliches mitteleuropäisches Schicksal, das wir letzen Endes als „die Sache“ erahnen. Und was der Autor unter der Sache meinte, kann man sich leicht denken. Relation 1_2011.indd 41 Essays So viele Male wurde das Schreiben mit dem Vorgang Palimpsestes gleichgestellt, und eine ähnliche Parabel aktualisiert auch Esterházy auf den Seiten dieses Buches. Frau Anna bemerkt nämlich, dass das Verb hrabal schnorren heißt, was zur Schlussfolgerung führt, dass Esterházy nichts anderes als ein Schnorrer ist; in der Umgangssprache bedeutet es, dass er auf die Kosten des anderen profitiert und in der Literatur bedeutet es, dass er jemand ist, der das schon vorhandene Erbe einsaugt und es durch geschicktes Transponieren oder Essayisieren in die eigene Prosa einbaut. Damit aber diese Art der literarischen Annäherung überhaupt möglich ist, ist eine reizende Frau notwendig, die als Schiedsrichterin zwischen zwei Männern wie zwischen zwei aufgeplusterten Hähnen steht. Einer ist ihr Mann, den sie nur dem Anschein nach streng behandelt und der zweite ist Hrabal, den sie anmacht, manchmal Bohumil und manchmal Bohus nennt und in den besonders intimen Augenblicken sogar Bohoušek. So wie Anna ihre Schwangerschaft Mühe bereitet, so dass sie einmal schwört, sie wird abtreiben und ein anderes Mal wiederum, sie würde das Baby auf die Welt bringen, so erlebt Esterházy mit Hilfe der Hrabal’schen Matrize das eigene Schreiben als Majeutik und immer dieselben Geburtswehen. Die Frau, die mit Hrabal durch die Briefe kommuniziert, wird der Versuchung nicht widerstehen und den eigenen Mann bloßstellen, der Hrabal in den langen Nächten „das tschechische Wildschwein, den Spross von Schwejk, Knödelfresser und ein Bierfass“ schimpfte. Das bedeutet nur, dass jede Liebe auch ein Feuer ist und dass derjenige, der uns nahe ist, manchmal Lichtjahre entfernt ist. In den Abschlussszenen greift der Autor nach kumulativen Effekten, indem er den Raum und Zeit mischt und indem er das Bild des Turms von Ulm herbeiruft, der in sich die Kraft 41 der Integration trägt, die letzten Endes in der Saxophonhöhle von Charlie Parker Bird verborgen ist. Esterházy ist Schriftsteller, der ein Gehör für Physik und Metaphysik hat, für Mathematik und psychedelische Fantasieausgüsse, und für sein Vorgehen spricht das Register der zitierten Namen Bände. Im Buch Hrabals haben sich folgende Persönlichkeiten nebeneinander eingefunden: Barthes, Joyce, Marina Cvetaeva, Dylan Thomas, Goethe und Schiller (als dualistischer Reflex nach dem Modell Hänsel und Gretel), Endre Ady, Attila József, Sándor Petöfi, Hölderlin, Kafka, Philip Roth, Rilke, Céline, Theodor Fontane, Thomas Mann, Tolstoj, Dostojewski, Julio Cortázar, I. B. Singer, Lotman, Zenon, Platon, Plotin, Thomas von Aquin, Giordano Bruno, Nietzsche, Swedenborg, „der tapfere Mann aus Kopenhagen“ (eindeutig Kierkegaard), Russell, Frege, Adorno, Hegel, Lukács, Wittgenstein, G. T. Fechner, Euklid, Newton, K. F. Gauss, Einstein, Heisenberg, Christian Huygens (hat den Begriff der mathematischen Hoffnung eingeführt), János Bólyai, Gödel, Tiepolo, Salvador Dalí, Bruno Ganz (Lieblingsschauspieler von Thomas Bernhard), Oriana Fallaci, István Szabó, Miklós Jancsó, Bach, Haydn, Mozart, Glenn Gould, Charlie Parker Bird, Sonny Rollins (auch andere Meister des Saxophons), Sonny Boy Williamson, Ray C. Sartorius, Bessie Smith, Roy Orbison, The Beatles, Jethro Tull, Paul Anka, Karel Gott, Rosa Luxemburg, Staljin, De Gaulle, László Rajk. Und ein kroatische Serbe – Nikola Tesla. Abschließend soll man Kundera und seiner Behauptung zustimmen, dass der Geist des Romans der Geist der Komplexität ist, der in diesem Fall durch die Ähnlichkeitsvortäuschung erhalten bleibt. Damit alle Unklarheiten aus dem Weg geräumt werden, muss man erwähnen, dass das Geheimnis der Meisterwerkstätte die Frau des Schriftstel- 30.4.2011. 17:52:59 42 RELA Dossier: Zdravko Zima man; diejenigen die weit voneinander entfernt sind, aber zueinander gehören, begegnen sich in diesem Roman. Alles ist eins.“ Ein Verwandter von Esterházy, vielleicht Queneau, würde das mit einem Wort ausdrücken: Egal! Roman oder Essay. Oder beides, auf die Art und Weise, auf die in dem Lob an Hrabal auch die eigene Macht zum Ausdruck kommt. Aus dem Kroatischen von Helen Sinković Foto: © Boris Cvjetanović lers herausgeplaudert hatte. Während sie angenehm mit der „lieben Mutter“, eigentlich Schwiegermutter, plaudert, wird sie wortwörtlich zu folgender Feststellung kommen: „Alles fließt in mich hinein. In mir ist alles was ist und nicht ist. Ich bin wie ein Ro- TIONS Zdravko Zima, Jugendporträt Relation 1_2011.indd 42 30.4.2011. 17:52:59 RELA TIONS 43 Ein gewisser Herr Baudelaire Zdravko Zima I n der jüngeren Vergangenheit der europäischen Lyrik findet man kaum ein Buch, das, seine Tentakel ausbreitend und Vorgänge vorwegnehmend, die außerhalb der strengen lyrischen Vorgaben lagen, die Geistesgeschichte derart revolutioniert hat wie Baudelaires Die Blumen des Bösen. Nach dieser Gedichtsammlung ist nichts mehr, wie es einmal war: So wie sich die abendländische Geschichte in die Zeit vor und nach dem Erscheinen Jesu Christi teilt, so wie der Zweite Weltkrieg einen Einschnitt im 20. Jahrhundert bildet, so erwiesen sich für die Förderung und Anerkennung der modernen Kunst, nicht nur in der Lyrik, Baudelaires bittere und giftige, nie jedoch welkende Blumen als revolutionär und sind es bis heute auch geblieben. Rimbaud hatte ihn zum wahren Gott erklärt, die Surrealisten erkannten in ihm ihren großen Vorläufer, und wegen seiner magischen Dichtkunst, die in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu seiner kaum spürbaren Eitelkeit steht, verglich Benjamin ihn mit Dante. Zu Beginn des dritten Jahrtausends, da das Grauen zu etwas Alltäglichem geworden ist, in einer Welt, in der allseits mit Körper und Teufel manipuliert wird (reduziert auf die Phänomene Prostitution und Militarisierung), mutet er wie ein Prophet und Hexenmeister an, der weit voraus in die Zukunft blicken konnte. Die Paraphrasierung des alten Spruches „Charles Baude- Relation 1_2011.indd 43 laire, das sind wir alle“ gilt nur in dem Maße, in dem dieser Magier zu Papier brachte, was die meisten anderen in ihrer bürgerlichen Feigheit nicht einmal zu denken wagten. Die Krise der abendländischen Zivilisation, die zu seiner Zeit nur die Wenigsten erahnten, diagnostizierte Baudelaire mit einer Wucht, die den Rahmen einer Gedichtsammlung sprengt; umso weniger verwundert die Tatsache, dass die über ihn geschriebene Literatur die Dimensionen seines wenig umfangreichen Werkes bei Weitem übertrifft. Die epochale Bedeutung von Die Blumen des Bösen (dessen serbischen Titel Đuro Šušnjić in einem Buch als Cvetovi tla – Die Blumen des Bodens transkribierte) stellt seit jeher einen Kulturtruismus ersten Ranges dar. Hugo Friedrich behauptet, dass dieses Werk, zumindest im Hinblick auf seine architektonische Perfektion, das strengste Buch der europäischen Dichtkunst sei, das sich denselben Rang mit Patrarcas Canzoniere und Guilléns Cántico teile. Außer dem Wunsch, die eigenen Erfahrungen in einer systematischen Struktur zusammenzufassen, hat der Verfasser auch sorgfältig dem Kanon der zahlenmäßigen Perfektion Rechnung getragen. Die Blumen des Bösen besteht aus einhundert, in fünf Kapiteln angeordneten Gedichten, wobei das kompositorische und numerische Gleichgewicht auf die mittelalterliche Vorliebe für Symbolik zurückgeht, welche in der Formperfektion die kosmische Vollkommenheit reflektiert sehen wollte. Wie aber erging es dem Züchter der Blumen, zu seiner Zeit, in seiner Heimatstadt Paris? Die erste Ausgabe von Die Blumen des Bösen erschien vor 150 Jahren, genauer: am 25. Juni 1857. An diesem Tag wurde Baudelaires Herbarium, vervielfältigt in 1300 Exemplaren, in die Pariser Buchhandlungen geweht. Nur zehn Tage nach ihrem Erscheinen wurde die Sammlung von Gustav Bourdin, dem Literaturkritiker von „Le Figaro“, verrissen: „Zuweilen kommt Zweifel an der Gemütsverfassung Charles Baudelaires auf. Größtenteils werden monoton und bewusst dieselben Worte, dieselben Gedanken wiederholt. Hier verbinden sich das Abstoßende und das Scheußliche...“ Und der Rezensent von „Le Journal de Bruxelles“ hält fest: „Der Verfasser der ‚Blumen des Bösen‘ ist ein gewisser Herr Baudelaire. Er gilt als eine Größe in verschiedenen Zirkeln, die die Widerwärtigkeiten ihres bohèmehaften Journalistentums zum Besten geben. Man macht sich kein Bild vom Potpourri des Schändlichen und der Sudeleien in dieser Sammlung. Von einer ehrbaren Feder können diese nicht einmal zitiert werden.“ Etwas mehr als dreißig Jahre später schlug der Dichter und Kritiker Jules Lemaître in seinem Buch Les Contemporains den letzten Sargnagel ein: 30.4.2011. 17:52:59 44 „Ich öffne zwei kleine Sammlungen Baudelaire’scher Gedanken, ‚Fusées‘ und ‚Mon cśur mis à nu‘. Es erübrigt sich zu sagen, dass diese mehr als jämmerlich sind. Sie sind die infantilste Darlegung der Ansichten eines Menschen.“ Der Witz dabei ist, dass Lemaître im Recht war, zumindest was bestimmte Angaben betrifft. Das Kindische im Falle Baudelaires stellt nämlich den ursprünglichen, von Raum und Zeit befreiten Kern dar, in dem sein Genie in Verbindung mit kritischer Imagination Schwindel erregende und schwer zumutbare Höhen erreichte. Wie dem auch sei, die Abrechnung mit dem Dichter und seiner Sammlung ging weit über den Rahmen literarischer Kreise hinaus. Der Druck der öffentlichen Meinung war so stark, dass Baudelaire seinen Verleger Auguste Poulet-Malassis in einem Brief von einer Beschlagnahmung seiner Schriften benachrichtigte und ihm suggerierte, die übrigen Exemplare zu verstecken. Knapp zwei Monate nach dem Erscheinen saßen der Dichter und sein Buch auf der Anklagebank. Der Ankläger war Ernest Pinard, jener Inquisitor, der im selben Jahr (1857) bereits über Flaubert und dessen Madame Bovary hergefallen war und in seiner Kastrationswut den Roman völlig verunstaltet hatte. Wegen Verstoßes gegen die öffentliche Moral mussten der Autor und sein Verleger ein Bußgeld von 300 beziehungsweise 200 Francs zahlen, sechs Gedichte wurden verboten („Lethe“, „Der Schmuck“, „Lesbos“, „Verfemte Frauen“, „An jene, die zu fröhlich ist“, „Die Verwandlungen des Vampirs“) – doch die Welt drehte sich weiter. Heute ist es ein Leichtes, Baudelaire Beifall zu spenden, doch im 19. Jahrhundert waren sich nur wenige seiner revolutionären Kraft bewusst und erkannten, wie etwa Hugo, in seinen Reimen ein „neues Erschauern“. Ungeachtet sämtlicher Neuheiten war Baudelaire, sei- Relation 1_2011.indd 44 RELA Dossier: Zdravko Zima nem dichterischen Habitus nach, ein Klassizist, ungeachtet des Gestus eines Dandys und trotz seiner geckenhaften Handschuhe benahm er sich stets wie ein Nonkonformist. Kaum ein Detail zeugt so beredt von Baudelaire wie seine Handschuhe! Man wäre geneigt zu glauben, dass er sie der Mode wegen trug, obwohl dieser Manier jene verfluchte Ambiguität innewohnte, die ihm zeitlebens anhaftete und ihm schwer zu schaffen machte; er war berauscht vom Leben und zugleich auf der Flucht vor ihm, der Gegenpol seines Egozentrismus lag im Bedürfnis nach Selbstkasteiung, während die nahezu synchronisierte Zuwendung zu Gott einerseits und Satan andererseits zur Flamme wurde, die das Feuer seiner Dichtkunst zusätzlich entfachte und ungeahnte Höhepunkte erreichen ließ. Handschuhe sind eine Reliquie des klassiszistischen Savoir-vivre, aber auch Ausdruck des Ekels vor der überall wie Unkraut hervorsprießenden Banalität. Zuerst eine sanfte Berührung, dann eine Ohrfeige, Loben und Schimpfen, bezauberndes Stigma der Schöheit und entzaubernde Macht des Nichts – in diesem Rahmen entfaltete sich und gedieh ein durch persönliches Martyrium und dichterischen Zündstoff erhöhtes Leben. In der katholischen Liturgie sind Handschuhe nichts anderes als ein Symbol der Unschuld und göttlicher Reinheit. Dass Baudelaire weitaus öfter als Haschisch rauchender Wüstling bezeichnet wurde, der regelmäßig in Bordellen verkehre, ist lediglich das umgekehrte Bild eines Rebellen, der sich auf der falschen Seite des Lebens wähnte, das Bild eines Abtrünnigen, der mit religiös impostiertem Sadismus und rachedurstiger Hysterie sein brennendes Bedürfnis nach Heiligkeit befriedigte. Wenn Mario Praz erläutert, dass primitive und raffinierte Menschentypen in ihrer Grausamkeit identisch seien, Erstere wegen ihres Instinkts, TIONS Letztere wegen ihrer zerebralen Häresie, dann trifft er den Kern dessen, was auch Baudelaire kennzeichnete, diesen sensiblen und traumatisierten Dichter, der seine Auflehnung gegen den Stiefvater in einen Aufstand gegen die ganze Welt verwandelte. Durch eine Laune des Schicksals fand Baudelaire seine letzte Ruhestätte auf dem Friedhof Montparnasse, in derselben Gruft, in der der zweite Ehemann seiner Mutter, General Jacques Aupick, beigesetzt worden war, den er aus dem tiefsten Grund seiner aufgebrachten und wunden Seele hasste. Die in ihm gärende Revoltiertheit, die er nicht gegen seine Mutter richten konnte, richtete er gegen die Welt und gegen sich selbst. Wie Hamlet und so viele andere Unglückliche, die ihren Elternkomplex in ein bestimmtes Verhaltensmodell umsetzten und ihre Rachegelüste gegen jemand oder etwas anderes richteten. Für Matoš war Baudelaire der Bruder Fausts, František Xaver Šalda erkannte in Baudelaires Sprache die Funktionen von Aussage und Herausforderung, und Jean-Paul Sartre erklärte seine Luzidität als Ausdruck des Bedürfnisses nach Kompensierung. Das größte Gewicht hat vielleicht die Schlussfolgerung Valérys, Baudelaire habe eine Sprache in der Sprache erschaffen und die Poesie an das Wesentliche zurückgeführt, als einer der ersten französischen Dichter, die sich für die Musik begeisterten (Baudelaire hatte auch eine Studie über Wagner verfasst). Baudelaire war derart fanatisch, dass er lieber an Altem herumfeilte, statt nach Neuem zu suchen, zumal wenn Ersteres nicht den geltenden, an Perfektion grenzenden Kriterien genügte. Fasziniert vom Kult des Schönen, hatte sich dieser gefallene Engel der Kultivierung von Extremen verschrieben in der Überzeugung, das Kokettieren mit dem Satanischen sei eine notwendige Voraussetzung, um dermaleinst den Himmel zu be- 30.4.2011. 17:52:59 RELA TIONS sowohl Henker als auch Opfer, oder wenn er den Dämon, der ihm wie ein Schatten folgt, apostrophiert, zeichnet Baudelaire sein glaubwürdigstes Selbstporträt. Dieser Parisius, der seine sexuelle Gier im Untergrund befriedigte, dieser Dichter, der eine schwarze und eine weiße Venus hatte – Jeanne Duval und Apollonie Sabatier – stellte mit seinen explizit an George Sand adressierten Beleidigungen eine tief verwurzelte Misogynie unter Beweis. Schon früh begriff 45 er, dass uns die Technik dermaßen amerikanisieren würde, dass dies einem geistigen Rückschritt gleichkäme. Er verzweifelte über der alles nivellierenden Demokratie und drang mit seinen Tentakeln bis zum Wesen der Existenz vor. Kann man noch mehr verlangen? Aus dem Kroatischen übersetzt von Silvia Sladić Foto: © Višnja Arambašić rühren. Niemand vor ihm hatte so beharrlich und dichterisch so beeindruckend die Aufdeckung der Freiheit im Bösen und die des Bösen in der Freiheit betrieben, stets im Bewusstsein, dass es auf dem von ihm gewählten Weg keine billigen Kompromisse gab. Wenn er den Albatros besingt, der in der grenzenlosen Freiheit des Himmels viel schöner ist als auf dem Schiffsdeck (da seine riesigen Flügel ihn beim Gehen behindern!); wenn er behauptet, er sei Kolumnen Relation 1_2011.indd 45 30.4.2011. 17:52:59 RELA 46 TIONS Van Gogh lebt Zdravko Zima I m Spätfrühling 1990 trieb ich mich mit einer Gruppe von Freunden in Paris herum, doch in meine Begeisterung für die Schönheit der Stadt, ihre Cafés und Frauen mischte sich mein schlechtes Gewissen. Während die französische Metropole die ganze Palette ihrer unvorstellbaren Möglichkeiten vor mir ausbreitete (Lutetia non urbs, sed orbis!), während sich die Maidüfte mit den Dämpfen von Alkohol und Benzin vermischten, drang aus dem Südosten Europas der Gestank von Schießpulver heran. In dieser kurzen und intensiven Zeit, in der ich mich für meine Provinzialität an den Vorzügen dieser Stadt schadlos hielt, für die aber selbst ein Jahr, ja ein ganzes Leben nicht ausreicht, wanderten meine Gedanken nach Hause zurück. Die südslawischen Brudervölker wetzten ihre Messer und kramten aus Verstecken rostige Keulen hervor, und während sich auf dem Balkan erneut ein Gemetzel zusammenbraute, lebte es sich im Herzen Europas unvergleichlich schöner und bequemer. Trotz unseres Appetits war Paris mit all seinen Versuchungen für uns nicht zu bewältigen, während zur gleichen Zeit in Amsterdam zum 100. Todestag Vincent van Goghs eine große Retrospektive seiner Werke stattfand. Doch angesichts des Umstands, dass für einen siebentägigen Kurztrip die in Paris sich bietenden Möglichkeiten ohnehin bestürzend eingeschränkt waren, beließen wir es bei dem Wunsch, in Relation 1_2011.indd 46 die Niederlande zu fahren, und blieben, wo wir waren. Ich vertröstete mich damit, dass es schon schwer genug war, an Eintrittskarten heranzukommen, und was mir damals nicht gelang, habe ich 18 Jahre später, an einem Novembernachmittag in Wien, nachgeholt. Ich bin mir nicht sicher, ob es möglich ist, einmal Versäumtes überhaupt nachzuholen und so zu kompensieren, doch Tatsache ist nun einmal, dass in der österreichischen Hauptstadt und einstigen Hauptstadt Kroatiens eine Retrospektive der Malkunst Van Goghs stattfand. Ich glaube, der arme Vincent, wäre er am Leben, hätte sich nicht einmal eine Eintrittskarte leisten können (10,50 Euro). Unterdessen schlängelten sich vor der Albertina die Wartenden in so großer Zahl, dass man hätte glauben wollen, Seine Apostolische Majestät, unser allergnädigster Kaiser und Herr, Franz Joseph I., König von Ungarn und Träger zweier weiterer Dutzend Erbtitel, wäre wiederauferstanden; indes ging dieser Rummel auf eine ganz gewöhnliche Ausstellung zurück. In ihren Sälen beherbergt die Albertina eine der weltgrößten Grafiksammlungen mit 65000 Zeichnungen und über einer Million druckgrafischer Blätter. Hier werden Gemälde von Meistern wie Leonardo da Vinci, Michelangelo, Raffael, Rubens, Rembrandt, Dürer, Kokoschka, Klimt, Schiele und anderen aufbewahrt. Doch in diesem Moment strömte alles wegen Van Gogh in die Albertina! Während ich in der Warteschlange nervös von einem Bein aufs andere trat und meine Blicke immer wieder zum Café Mozart und Hotel Sacher wandern ließ, drängte sich mir erneut die Frage auf, warum solche Künstler erst nachträglich ihre wohlverdiente Anerkennung erfahren. Van Gogh musste leiden wie Jesus auf Golgatha, seine Mitmenschen mieden ihn, Connaisseure reagierten mit Befremden auf seine Gemälde, doch heute fühlt man sich privilegiert, wenn man ein paar Minuten vor seinen Werken verweilen darf. Zu Lebzeiten gelang es ihm, nur ein einziges Bild zu verkaufen („Der rote Weinberg“ wurde für 400 Francs von Anna Bloch aus Brüssel erworben); hundert Jahre nach seinem Tod erzielte sein „Porträt des Doktors Gachet“ auf einer Auktion des New Yorker Christie’s einen Verkaufspreis von 82,5 Millionen Dollar – und die Ausstellung in der Albertina ist auf drei Milliarden Euro versichert. Als ich endlich vor den Gemälden stand, wurde mir schwindelig. Ich weiß nicht, welchen Anteil daran der unglaublich große Strom der Neugierigen hatte, die mir wie fanatische, ihrem Idol huldigende Glaubensanhänger vorkamen, und wie viel der Ausdruckskraft seiner Kunst selbst zu schulden war. In Begleitung meines Freundes Vjeran trat ich an eine Zeichnung heran, die in der Manier japanischer Strenge komponiert, 30.4.2011. 17:52:59 RELA TIONS aber von einer poetisch vibrierenden Atmosphäre geprägt war; mir schien es, als bewegten sich die Teichrosen, als sei dies eine Pictura obscura, die jenseits der Wand von einem zuständigen Kerberos, einem Wächter manipuliert würde, der an den Zuaven Milliet erinnerte, jenen Unterleutnant, den Van Gogh mehrmals porträtierte und dessen Bildnis in verschiedenen Varianten in der Albertina ausgestellt ist. Ob beim Malen von Blumen oder der Uniform dieses exotischen Soldaten, Van Gogh bediente sich eines explosiven Rottons als Ausdruck einer ebenso starken, explosiven Leidenschaft. Gebannt blieb ich vor den Bildern stehen, so wie ein Alkoholiker vor einer großen und schwer zu bewältigenden Menge ungeleerter Flaschen gebannt innehält. Wie ist das möglich? Wenn es stimmt, dass alle Dinge beseelt sind, wie die Animisten es behaupten, dann sind in diesen 140 Arbeiten (51 Ölgemälde plus 89 Zeichnungen und Aquarelle) nur allzu viele Spuren der Seele Van Goghs enthalten. Van Gogh ist ein Maler von solcher Expressivität, dass selbst seine Natures mortes lebendig erscheinen! Seine Naturverzauberung ist so stark, seine Liebe für die Erde, den Himmel und die Bäume so groß, dass der Eindruck entsteht, als liebkoste er sie und schaffe so eine pikturale Arithmetik, bei der die Präzision des Gestus im Widerspruch zum Ungestüm der Imagination steht. Geschichten, denen zufolge Van Gogh nachts unter freiem Himmel mit an der Hutkrempe befestigten Kerzen malte, hatte ich stets für rein erfundenen Blödsinn oder mystifizierende Darstellungen von Kunsthistorikern gehalten, aber nach dem Rundgang durch die Albertina, der in manchen Augenblicken an eine spiritistische Seance erinnerte, waren alle meine Zweifel verflogen. Mit Urteilen über Van Gogh tut man sich schwer; nicht nur wegen seines Ruhms, der post- Relation 1_2011.indd 47 Kolumnen hum weit über die Grenzen seines Metiers hinaus gewachsen ist, nicht nur weil ich selbst kein Kunsthistoriker bin, sondern weil sein Śuvre mit den schulüblichen Phrasen über sein Genie und seine Beispielhaftigkeit nicht zu erfassen ist. Wenn es irgend etwas gibt, das den Menschen in seinem Herzen und in seiner Seele berühren kann, dann sind das die antiken Dramen, Shakespeare, Beethoven – und Van Gogh! Die Begegnung des Kunstinteressierten mit der Gesamtheit der ausgestellten Werke (die meisten wurden aus Amsterdam herbeigeschafft, aber auch aus anderen europäischen und amerikanischen Museen) ist in jedem Einzelfall eine Begegnung mit dem Erhabensten und Reinsten. Größere oder geringere Oszillationen gibt es nicht, und die Gefühlsspannung, die Van Gogh wie ein Kreuz mit sich herumtrug, ist förmlich im gesamten Raum zu spüren. Trotz des Andrangs der Massen, die sich wie ein Strom in die Albertina ergossen, trotz der Kustodin, die im Minirock vor einem Selbstbildnis des Künstlers (er schuf insgesamt 39), auswendig herunterleierte, was sich der Maestro dachte, als er in jener pointillistischen Manier den Hintergrund dekorierte, war mein Eindruck perfekt. Weder Kindergetrappel noch sämtliche Sicherheitsvorkehrungen vermochten die Diversion zu verhindern: Van Gogh bohrte von innen. Eine neuerliche Erschütterung bereitete mir „Der Sämann“, mit dem er seinen Respekt für Millet bekundete. Ein wahres Wunder! Erschütterung deshalb, weil Van Gogh, fasziniert vom Land, von der Scholle, diese Faszination durch die am Horizont aufsteigende Sonne verstärkt und eine Atmosphäre schafft, in der sich die Morgenstimmung mit den gedämpften Tönen seiner Gemütsverfassung verbindet. Die Scholle ist die Mutter, die unser Leben erst ermöglichende Mater(ie), die uns nährt 47 und unsere Schritte trägt. Doch sie verlangt ebenso, zu ihr zurückzukehren und ihr für immer anzugehören – niemand hat das auf so ergreifende und klare Weise zum Ausdruck gebracht wie Van Gogh. Dazu in der Lage war nur ein Mensch, der eine tief verwurzelte Traurigkeit in sich trug und der Farben unbeirrbar und ohne Zögern einsetzte, wie Artaud in seiner brillanten Studie festhielt. Das Bedürfnis, die Erde urbar zu machen und in ihren Furchen Samen auszusäen, ist dem Geschlechtsakt vergleichbar, Abernten bedeutet Gebären, das Einbringen der Früchte Stillen, und die Pflugschar ist ein Phallussymbol. Diese Fülle ist von tektonischer Kraft, quasi ein Ersatz für die schmerzliche Schönheit der Welt; sie ist auf den Bildern des unglückseligen Holländers, der Pastor werden wollte und dessen Kontakte zu Frauen stets mit einem Fiasko endeten, deutlich erkennbar. Blättert man in den Romanen von F. S. Fitzgerald, in denen die Welt wesentlich anders ist als das, wonach Van Gogh strebte, wird man vielleicht zu der Überzeugung gelangen, dass nach Ansicht des Schriftstellers Reichtum und Schönheit letztendlich unversöhnbar sind. Belege dafür liefert uns unsere unmittelbare Umgebung, die Magie des allmächtigen Mammons, der die Schönheit korrumpiert, verseucht, zu Kitsch und zur Leere einer Lebensauffassung nach dem Motto „Lasst mich in Ruhe“ degradiert. Die Bewegung der Banalität hat solche Ausmaße angenommen, dass wir morgen nicht mehr erkennen werden, was Banalität überhaupt ist! Im Gegensatz dazu war Van Goghs Lebensalltag von stetem Mangel gekennzeichnet; er war zu Hunger und Unverständnis verdammt, was durch seine reizbare Empfindlichkeit, gepaart mit seelischer Verstörung und Ausbrüchen aggressiven Verhaltens, potenziert wurde. Seinen Mitmenschen 30.4.2011. 17:52:59 48 RELA Dossier: Zdravko Zima zeugung durch, früher oder später einmal aus der Anonymität herauszutreten. Vielleicht würde das nicht für ihn selbst gelten, aber für seine Bilder allemal. Ähnliches war auch Stendhal widerfahren, dessen Religiosität von der seiner Zeitgenossen abwich. Dieser heute namhafte Schriftsteller hatte sich damit abgefunden, für einen engen Leserkreis zu schreiben, aber er war überzeugt, dass in hundert Jahren seine Leserschaft weitaus größer und er selbst ein gefeierter Autor sein würde. Außer dem Briefwechsel zwischen den Brüdern Vincent und Theo sind auch die Zeugnisse von Theos Frau sehr aufschlussreich. Johanna van GoghBonger behauptete, Vincent habe zwei Seiten, eine begabte, liebevolle und eine selbstsüchtige, grobe. Der Pfarrer Pietersen wiederum schrieb in einem Brief an Vincents Eltern, der junge Mann erwecke den Eindruck, in seinem eigenen Licht zu stehen. Vielleicht erfüllte mich deshalb beim Verlassen des Museums das Gefühl, etwas Vertrautes und doch unvorstellbar Fernes berührt zu haben. Mit der ihm eigenen Resolutheit beharrte Artaud auf der Ansicht, dass Van Gogh-Ausstellungen immer und überall ein historisches Ereignis seien. Nach mehr als sechzig Jahren ist diese Aussage gleichermaßen zutreffend wie in der Zeit, als Artaud sie erstmals niederschrieb. Aus dem Kroatischen übersetzt von Silvia Sladić Foto: © Višnja Arambašić und besonders seinem Bruder Theo gegenüber versicherte er, dass man sein Schicksal klaglos erdulden müsse und dass einzig dies zweckmäßig sei („Savoir souffrir sans se plaindre, ça c’est la seule chose pratique...“). Interessant ist in diesem Zusammenhang die Van Gogh-Biografie in Romanform von Irving Stone, in der Van Gogh während seines Aufenthalts in Den Haag den Maler Weissenbruch um Hilfe angeht. Dieser hat keinerlei Finanznöte, beantwortet Van Goghs Bitten jedoch abweisend mit der Erklärung, dass Hunger und Leiden die Schaffenskraft entfachten. Wenn auch sein Leben aus immerwährenden Erniedrigungen bestand, scheint in einem Brief Van Goghs an seinen Bruder Theo doch die Über- TIONS Relation 1_2011.indd 48 30.4.2011. 17:52:59 RELA TIONS 49 Der Hohepriester aus Montreal Zdravko Zima M eine Mittelmeernostalgie, die ich in einsamen Herbststunden mit istrischem Mistelschnaps und allen möglichen Versionen dalmatinischen A-capella-Gesangs bekämpfe, fällt diesmal mit der großen Europatournee von Leonard Cohen zusammen. Der kanadische Dichter und Liedermacher streift schon seit ein paar Monaten auf dem Alten Kontinent umher, und seine Riesentournee, die erste nach fünfzehnjähriger Abstinenz, umfasst mehr als dreißig europäische Städte und Metropolen. Sein Itinerar verzeichnet Prag, Warschau, Berlin, Stockholm und so weiter, selbst Bukarest, Brighton und Cardiff fehlen nicht, doch von Destinationen auf dem Balkan keine Spur. Daher blieb mir nichts anderes übrig, als mich auf den Weg zu machen. Kurios ist auch der Umstand, dass Cohen den Winter nicht mag; er erklärt stets, dass er dem Mittelmeerraum angehöre und dass seine Vorfahren einen Fehler gemacht hätten, als sie nach Kanada auswanderten, wo er geboren wurde und sich zu dem Menschen entwickelte, der er heute ist. Im Übrigen, wenn ich nichts über diesen genialen Künstler wüsste, wenn ich nur nach seinem Äußeren, seinem Bekleidungsstil und seinen Bühnenauftritten zu urteilen hätte, könnte ich schwören, einen gebürtigen Europäer vor mir zu haben und nicht einen Kanadier oder Amerikaner. In Wien trat er an zwei Abenden hintereinander auf und lös- Relation 1_2011.indd 49 te einen Zustand kollektiver Ekstase aus. Nach Aussagen meiner ragusäischen Freundin waren aus dem Publikum die Zurufe Happy Birthday, Happy Birthday! zu hören. Der Maestro aus Kanada wurde 1934 im Zeichen der Jungfrau geboren, und obwohl die Wiener Konzerte kurz nach seinem Geburtstag stattfanden, bewiesen seine Pilger nicht nur, dass sie ihn lieben, sondern über jedes Detail seiner Biografie Bescheid wissen. Im Herzen der einstigen franzjosephinischen Monarchie konzertierte er am 24. und 25. September, und im Pariser Olympia wird er dreimal auftreten (am 24., 25. und 26. November). Angesichts all der angeführten Städte und Daten, all der Konzertsäle, Arenen und Sportstadien fiel es wahrlich nicht leicht stillzuhalten. Am letzten Tag des Oktoberfests, am 5. Oktober, fuhr ich nach München. Trotz des erstklassigen Biers, das hier in Litermaßkrügen ausgeschenkt wird, trotz all der betrunken umhertaumelnden, lederbehosten Deutschen und ihrer erhitzten Kunigunden mit den ausladenden Dekolletés sparte ich meine Kräfte für Cohen. Bis zum morgigen Konzert in der Olympiahalle hatte ich ausreichend Zeit, die Personalakte der drittgrößten Stadt Deutschlands einzusehen: Marienplatz, Hofbräuhaus, Englischer Garten, Alte und Neue Pinakothek, Frauenkirche. Die Glockentürme der Kirche sind aus jedem Winkel der Stadt zu erken- nen, die Pinakothek hat just an dem Tag geschlossen, da ich in München herumtigere, das Hofbräuhaus ist das bekannteste Bierlokal, und selbst wenn man wollte, wäre der Marienplatz nur schwer zu umgehen. Der Englische Garten ist größer als der Central Park in New York, und Nudisten oder Exhibitionisten stellen selbst an diesem windigen Oktobernachmittag wacker ihre Genitalien zur Schau. Obwohl sein Name besagt, dass es sich um eine Parkanlage im englischen Stil handelt, zählen der Chinesische Turm und das Japanische Teehaus zu seinen Hauptattraktionen. Immer wieder trotte ich zum Marienplatz zurück, der nach der Mariensäule in seiner Mitte so benannt wurde. Auch Cohen hat einen Bezug zur Jungfrau, sowohl wegen seines Sternkreiszeichens als auch wegen seiner rituellen Anrufung der Heiligkeit, ebenso aber hinsichtlich der mitreißenden Interpretation seiner der Liebe gewidmeten Lieder, die fast ausnahmslos den Inhalt seiner Konzerte bestimmen. Nur selten mute ich mir ein Megaspektakel in einem Stadion zu, zumal im Ausland, doch für Cohen würde ich auch mehr als eine 600-Kilometer-Anreise auf mich nehmen. Ich habe alle möglichen Interpreten und Musikensembles gehört, von klassischen bis hin zu trendigen und New Wave-Bands, aber ich erinnere mich nicht, dass mir je jemand den Eindruck vermittelt hätte, statt einem weltlichen und 30.4.2011. 17:52:59 50 kommerziellen Konzert einer Gebetsveranstaltung beizuwohnen. Cohen ist dies gelungen, ohne jegliche Anmaßung und, was ebenso wichtig ist, ohne in irgendeiner Weise die Gesetzmäßigkeiten zu gefährden, die eine Musik- und Bühnenveranstaltung immerhin voraussetzt. Trotz seines Alters und der langen Konzertabstinenz wusste ich, dass sich der Abend in der Olmypiahalle alles andere als mittelmäßig gestalten würde. Der Abend ist weder gut noch sehr gut geworden – die Wahrheit ist: Cohen hat einfach sich selbst übertroffen! Ich näherte mich der Konzerthalle, ohne auf den BMW-Hauptsitz in Form eines Vierzylinders zu achten oder das Stadion mit seiner hügeligen Zeltdachkonstruktion, in dem Luca Toni & Co. ihre Fußballakrobatik demonstrieren. Um 20.10 Uhr erschien auf der Bühne eine neunköpfige Band, angeführt von dem Hohepriester aus Montreal. Mir ist bewusst, dass so mancher Leser bei dem Wort Hohepriester aufhorchen wird, denn Cohen hat in seinem Leben viele Frauen geliebt (ohne jemals zu heiraten) und viele Flaschen geleert (ohne jemals Alkoholiker gewesen zu sein). Ich bezeichne ihn nicht als Hohepriester, weil er seinerzeit in ein Zen-Kloster im kalifornischen Mount Baldy eintrat und dort mehrere Jahre verbrachte. In seiner Zeit als Asyl beanspruchender Mönch veränderte er nicht nur sein Aussehen, sondern auch seinen Namen (er hieß damals Jikan). Seine tief verwurzelte Individualität, die nicht mit Narzissmus gleichzusetzen ist, sondern einen Schritt hin zur Universalität oder zum Verschmelzen des Individuellen mit dem Ganzen darstellt, erfuhr nach der Erfahrung des Mönchsdaseins eine noch stärkere und glaubwürdigere Artikulierung. Ein Priester ist, wer ohne Tricks die Aufmerksamkeit einer großen Menschenmange fesseln kann, und ich wüsste nicht, wer darin ehrlicher und Relation 1_2011.indd 50 RELA Dossier: Zdravko Zima authentischer wäre als Monsignore Cohen, dessen Schicksal allerdings in anderen Bahnen als denen eines Geistlichen verlief. Auf die Bühne der Olympiahalle trat also ein Mann, der statt eines Priestergewandes einen dunklen Anzug trug und statt eines Weihrauchfasses diskret seinen Hut hin und her schwenkte und auf diese Weise seine Dankbarkeit zum Ausdruck brachte, die sich im weiteren Verlauf des Abends zu tiefer Demut steigerte. Vor langer Zeit, in seinem Roman Beautiful Losers, gelangte Cohen zu der Überzeugung, dass es die Sehnsucht sei, die die Welt verändere. Dieser Satz fiel mir in dem Augenblick ein, als er auf der Bühne erschien und im selben Moment das gesamte Publikum für sich gewann. Weder die unübersehbaren Spuren des Alters, weder das ergraute, asketisch gestutzte Haar, weder die Stimme noch seine verlangsamten Bewegungen minderten das Feuer, das er in einem Ritual zu bündeln vermochte, mit dem er das Publikum ganze drei Stunden in einen magnetischen Bann zog. Jedes Konzert hat seine Steigerungsphasen und seine weniger interessanten Teile. In diesem Fall jedoch waren nur Steigerungsphasen zu verzeichnen. Während des 180-minütigen Auftritts, der nur von einer kürzeren Pause unterbrochen wurde, sorgte Cohen für anhaltende Hochspannung und brachte einen Zauber hervor, der mit Ekstase in ihrer reinsten Form verglichen werden kann. Und dies dank einem diskreten Humor, den er mitunter gegen sich selbst richtet, dank Spiritualität und Sexappeal, dank Versen, die den Zuhörer durch ihre Einfachheit verzaubern und in ihrer musikalisch-szenischen Totalität einen übernatürlichen Glanz annehmen. Egal, um welche Stilrichtung es sich handelt, zeigt Musik doch stets, dass das Leben nichts anderes ist als eine Form des Gebens und Nehmens. TIONS Diese Tatsache offenbart sich auch in dem Verhältnis zwischen Cohen und seinem Publikum, wobei jeder Seite eine bestimmte Rolle zukommt. Das Prinzip verbundener Gefäße oder wechselseitiger Kommunikation, ohne die überhaupt eine Bühnenveranstaltung undenkbar wäre, ist auch auf anderen Ebenen sichtbar. So hat Cohen die Ballade „Chelsea Hotel #2“ Janis Joplin gewidmet, und viele andere Musikstars, so etwa Nick Cave, haben sich mit Coverversionen revanchiert. Natürlich war „Chelsea Hotel #2“ einer der Höhepunkte meiner Münchner Promenade, neben „Waiting For The Miracle“, „The Future“, „Closing Time“, „Dance Me To The End Of Love“, „Democracy“, „Everybody Knows“, „If It Be Your Will“, „I’m Your Man“, „Suzanne“, „So Long, Marianne“, „Take This Waltz“, „In My Secret Life“ und anderen Titeln. Der Dichter und Liedermacher, der sich nie selbstzufrieden zurückgelehnt hat, hat in seinem achten Lebensjahrzehnt Bluffern und Blendern jedweder Couleur, die ihm, dem großen Magier der Bühne, nicht das Wasser reichen können, eine Lektion erteilt. Auch dass der gute alte Leo mitunter in die Hocke ging und so den Eindruck erweckte, als kniete er, gehört zu seinem Modus vivendi: Damit ergänzt er den ohnehin intimen Bezug zum Publikum und offenbart seine Demut, mit der er sich dem Anderen nähert. Was auf der russischen Literaturund Gesangsszene Okudschawa und Wyssozki waren, was Brel im französischen Chanson verkörperte, das wird im Dichter- und Rockerplanetarium der anglisierten Megakulturszene durch Cohen repräsentiert. All das, was an jenem Abend in München zu sehen und zu hören war, erinnerte mich an idiotische Werbeslogans der Art „drei zum Preis von zwei“. Die Karte fürs Konzert hat 100 Euro gekostet, doch dafür erlebte der Besucher einen Bühnenschamanen und 30.4.2011. 17:52:59 RELA TIONS Soldo (Saxofon, Klarinette, Mundharmonika), Bob Metzger (Gitarre), Neil Larsen (Keyboard), Roscoe Beck (Bassgitarre), Rafael Gayol (Schlagzeug) und drei Background-Sängerinnen. Das Finale bildete Cohens bereits legendäres „Hallelujah“, mit dem er die Liebe zu Gott der Liebe zum Leben gleichsetzt. Auf die Frage, ob er an Gott glaube, antwortete er einst in einem zwischen Tür und An- 51 gel gegebenen Interview mit einem bündigen „Ich muss“. Vielleicht ist auch das der Grund, warum ich Cohen lieben MUSS, diesen Veteranen und Vigilanten, der den schwersten aller möglichen Kämpfe gewonnen hat: den Kampf mit der Zeit. Aus dem Kroatischen übersetzt von Silvia Sladić Foto: © Višnja Arambašić Charmeur, dessen Auftritt doppelt so lang oder zumindest doppelt so gut war wie die üblichen Standardveranstaltungen. Dabei dürfen die Mitglieder der ihn begleitenden Band nicht übergangen werden – allesamt perfekte Sekundanten, die dem Publikum die ganze Bandbreite ihres außerordentlichen musikalischen Könnens unter Beweis stellten. Das sind Javier Mas (Gitarre, Bandura), Dino Kolumnen Relation 1_2011.indd 51 30.4.2011. 17:52:59 RELA 52 TIONS Auf den Wellen der Ewigkeit Zdravko Zima V or 20 Jahren starb Danilo Kiš. Im Beisein von über zehntausend Verehrern wurde er in dem gesellschaftlichen Größen vorbehaltenen Hauptgang des Belgrader Neuen Friedhofs beigesetzt; die Begräbnisfeierlichkeiten leitete der orthodoxe Bischof Amfilohije Radović. Alles stand im Widerspruch zum Schicksal eines der größten Schriftsteller, die im 20. Jahrhundert der Balkan hervorgebracht hatte: die Bestattung in Belgrad, wo er die längste Zeit seines Lebens heimisch gewesen war, ohne allerdings je mit dieser Stadt oder ihrer balkanischen Kleinkrämerei zu intimisieren; der orthodoxe Pomp, der seinem Rebellentum und seinem genetisch und kulturell vorgezeichneten Judentum nicht minder widersprach als seiner instinktiven Auflehnung gegen jegliche deklamatorische und bloße Zurschaustellung von Religiosität. Auch der nach allen Seiten sich ausbreitende Weihrauchduft und das wunderbar sonnige Wetter – alles stand im Gegensatz zu den Stationen seines Lebens und der Ausprägung seines geistigen und literarisch-kritischen Engagements. Im Verlauf seiner kurzen wie zerrissenen Existenz lehnte sich Kiš gegen Manipulationen aller Art auf (diese offenbarten sich am radikalsten in den zeitgenössischen Modalitäten 1 des Faschismus und des Stalinismus), er beanspruchte bewusst die Position eines außerhalb sämtlicher Klans und Gleichgesinntenzirkel stehenden Literaten, der sich nur vor sich selbst und seinem Gewissen zu verantworten hatte, und als er starb, schien es fast, als wären alle seine Anstrengungen eine Sisyphos-Arbeit gewesen. Oder wie Camus gesagt hätte: Der Mut, mit dem er sämtliche Mystifizierungen niederriss, und die unternommenen Anstrengungen, um den Gipfel zu erlangen, reichten aus, um sein Herz zu befriedigen. Kiš ließ am Fuße des Hangs viele Kollegen, viele wahre und falsche Freunde hinter sich und gelangte nach oben, musste sein unstetes Wanderleben jedoch mit dem allerhöchsten Preis bezahlen. In diesem Preis enthalten waren die Grabrede eines nationalistisch eifernden orthodoxen Bischofs sowie ein an die trauernde Familie adressiertes Beileidstelegramm von Slobodan Milošević. Im Übrigen zeigte Kiš in seiner Novelle „Begräbnisfeierlichkeiten“, erschienen in seiner Enzyklopädie der Toten (1983), geradezu demonstrativ, wie sich eine Beerdigung zur Farce wandelt und der Verstorbene wird, was er nie war. Mit all ihren mehr oder weniger ruhmvollen, anonymen oder beliebig anders gearteten Einzelschicksalen enthüllt sich die Geschichte als Farce. Dieser Mann, der einer ethnisch gemischten Familie entstammte und dessen Vater, ein ungarischer Jude, nicht aus Ausschwitz zurückkehrte; dieser Schriftsteller, der Maler oder Bildhauer hatte werden wollen und der sich nach dem Skandal wegen seines Buches Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch in Paris niederließ und sein Leben an verschiedenen Adressen gleichzeitig verbrachte; dieser Inidividualist und Oppositionelle, der mit ästhetischen und ideologischen Dogmen aufräumte, fand seine letzte Ruhestätte in Belgrad, einer Stadt, die er liebte, obwohl er sich nie ganz mit ihr identifizierte. Die Paradoxe eines menschlichen und literarischen Schicksals erschöpfen sich nicht in offenkundigen Details, die sich zum Zeitpunkt des Begräbnisses manifestieren. Der großserbische Wahn, der Kiš als Plagiator proskribierte, der das Missverständnis seiner Ethik zu einem angeblichen Missverständnis zwischen dem Autor und der ihn umgebenden Kultur und Gesellschaft ummünzte und ihn so vor seiner Zeit in den Tod trieb; dieser Wahn nahm gewissermaßen das Memorandum1 vorweg und ebnete jenen Geistern oder Dämonen den Weg, die auf den Trümmern des jugoslawischen Memorandum zur Lage der serbischen Nation in Jugoslawien, bekannt als SANU-Memorandum, das 1986 von Mitgliedern der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste (SANU) ausgearbeitet wurde. Die Denkschrift beeinflusste nachhaltig das Wiederaufleben des Nationalismus in Serbien. (Diese und folgende Anmerkungen stammen von der Übersetzerin.) Relation 1_2011.indd 52 30.4.2011. 17:52:59 RELA TIONS Staates noch einmal ihren Danse macabre vollführen sollten. Nationalismus passte so gar nicht zu Kišs Haltung; als aber ein französischer Kritiker, der seinen Wortschatz und seinen Stil bewunderte, riet, er solle auf Französisch schreiben, sprach Kiš sich entschieden dagegen aus und erklärte, er habe das Serbische mit der Muttermilch aufgesogen und könne nicht aus seiner durch Abstammung und Erziehung erworbenen Matrix heraustreten. Mit dieser Haltung stellte er auch seine Ästhetik unter Beweis und gab zu verstehen, dass ein Schriftsteller nicht nur mit Worten schreibt, sondern auch mit Ethos und Mythos, mit der Gesamtheit der eigenen Identität, in der der Umgang mit Sprache zwar wichtig ist, aber doch nur einen das Ganze abrundenden Posten darstellt. Zwanzig Jahre nach seinem Tod hat Kiš in Serbien den Status eines Propheten, den selbst diejenigen verherrlichen, die ihn vormals in den Schmutz zogen; allerdings ist die Zahl der Autoren, die sich als seine Jünger oder geistigen Nachfolger bezeichnen könnten, gleich geblieben. Um die Wahrheit zu sagen: Kiš hätte aufgrund seiner Herkunft und Bildung nie ein Nationalist sein können, obwohl das nicht heißt, dass er das Modell kommunistisch indoktrinierter Intellektueller, die in ganz Jugoslawien verbreitet waren, übernommen hätte. Jenseits sozrealistischer Stereotypen befürwortete er die literarische Methodologie der russischen Formalisten, der französischen Strukturalisten und des amerikanischen New Criticism. In einem Land, das sich von seinen Atavismen und Regionalismen nährte, vielleicht noch nicht so direkt und militant, wie dies heute der Fall ist, war diese Sorte Individualist und Okzidentalist zumindest der allgemeinen Verachtung preisgegeben. Kiš wusste das nur allzu gut, doch sich selbst und die Konsequenzen seiner Relation 1_2011.indd 53 Kolumnen Poetik und Ethik konnte er nicht verraten. Trotz seiner Obsession mit jüdischen Themen wollte er sich nicht als Autor einer Minderheit deklarieren, da er glaubte, dass ihn dies einmal mehr exkommunizieren oder auf eine zu schmale Optik reduzieren würde. Über Juden schrieb er so, dass ihr Schicksal als universales, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern immer wiederkehrendes Los verstanden werden konnte. Vor vielen Jahren war er sich aus eigener Position des Problems der Sektenzugehörigkeit bewusst geworden und erklärte, viele Bücher würden aus Gründen gelobt, die mit Literatur gar nichts zu tun hätten. Im heutigen Sprachgebrauch hieße das: Bücher werden gelobt, weil sie von Frauen, Homosexuellen oder Mitgliedern irgendeiner deprivierten Branche geschrieben werden, was ihnen im Vorhinein affirmative Qualifikationen vonseiten bestimmter Kreise zusichert. Geistreich, wie er war, gab Kiš an, dass viele Autoren sich zunächst gemäß der Logik ihrer Volkszugehörigkeit legitimierten (als kroatische, serbische usw. Autoren) und erst dann gemäß ihrer schriftstellerischen Berufung. Er selbst deklarierte sich als jugoslawischer Schriftsteller, obwohl er nie vor dem kommunistischen Regime katzbuckelte und praktisch aus Jugoslawien emigriert war. Als er starb, verfasste Borislav Pekić einen der ergreifendsten Nachrufe, den ich je gehört habe. In jenen Tagen kam es mir vor, als hätte der weise und feinfühlige Pekić, während er am offenen Grab seines Freundes stand, mit seinen Anschuldigungen übertrieben. Heute glaube ich das nicht mehr. So wie Artaud einst geschrieben hatte, Van Gogh sei von der Gesellschaft in den Selbstmord getrieben worden, so verwies auch Pekić die einstige Hauptstadt und den jugoslawischen Staat auf die Anklagebank. Auf einer Gedenkversammlung in 53 der Akademie am 12. April 1990 in Belgrad qualifizierte er Kišs Tod als Mord. „Sein Vater ist ermordet worden. Das ist eine Tatsache. Warum also hätte der Sohn verdient, anders behandelt zu werden? Seine Rasse ist ermordet worden. Auch das ist eine Tatsache. Warum also hätte es einem ihrer Mitglieder besser ergehen sollen? Menschen aus seinem Umkreis sind, wiederum Tatsache, ermordet worden. Warum also hätte er diesem Schicksal entgehen sollen?“ Der Verfasser dieser traurigen und anklagenden Zeilen starb selbst nach kurzer Zeit, ebenso die Serbische Akademie der Wissenschaften und Künste, die sich, statt sich mit Traditionspflege zu beschäftigen, der Kriegstreiberei zuwandte. Und so verließ Kiš gerade in dem Moment unsere Welt, als alle die von ihm belletrisierten Übel, die er auf unterschiedliche Weise bekämpfte, erneut aus Pandoras Büchse entwichen. Im Allgemeinen wie im Besonderen enthüllt sich Kišs Opus als eine Suche nach dem Vater – dem wirklichen, der als ungarischer Jude in der Hölle von Auschwitz umkam, und dem in der eigenen Vorstellung erschaffenen, mit dem der Schriftsteller verschmolz und den er zum festen Bestandteil seiner Werke machte. In der psychoanalytischen Tradition ist die Vaterfigur ein Symbol der Dominanz, eine autoritäre, inhibierende und kastrierende Gestalt. In der Form der Obrigkeit und als Verkörperung von Institutionen hat der Vater eine Doppelfunktion, die eher negativ als positiv ist. Eine Ausnahme bildet Shakespeares Hamlet, in erster Linie deshalb, weil in der Tragödie der Vater als Geist erscheint, der von seinem Sohn die Aufklärung seiner Ermordung fordert. Ein anderes Verhältnis zum Vater hatte wiederum Kafka, der als Schriftsteller viele Parallelen zu Kiš aufweist (Zugehörigkeit zum Judentum, Individuum in einem totalitären Staatswesen, Ver- 30.4.2011. 17:53:00 54 brennen von Manuskripten). Der berühmte Erzähler aus Prag hatte einen Brief an seinen Vater geschrieben, ihm diesen jedoch nie überreicht; erst nach dem Tode des Autors wurde der Brief, neben anderen Manuskripten, veröffentlicht. Es genügt, einen Satz zu zitieren, um zu zeigen, wie Kafka über seinen Vater dachte: „Für mich bekamst du das Rätselhafte, das alle Tyrannen haben, deren Recht auf ihrer Person, nicht auf dem Denken begründet ist.“ Ein besseres Verhältnis zu seinem Vater hatte auch Krleža nicht, obwohl die Gründe für seine Distanzierung wesentlich anders lagen als bei Kafka. Krleža war als Diversant und Anfechter aller Normen in die Literatur eingetreten und etablierte sich allmählich als Patriarch (Padre), der einerseits Bewunderung und andererseits Ablehnung hervorrief. Obwohl er zeit seines Lebens Tagebuch führte und Memoiren schrieb, liegen über seine Eltern nur spärliche Informationen vor. Dies gilt vor allem für den Vater, der ebenfalls Miroslav hieß, fast einhundert Jahre lebte und als städtischer Polizeiwachtmeister gearbeitet hatte. Und während Krleža in seinen Schriften mit inniger Zärtlichkeit seiner Mutter gedachte, existiert sein Vater darin so gut wie nicht. In einer patriarchalisch eingerichteten Welt war es wenig förderlich, wenn man die eigene Mutter bewunderte, doch mit dem Vater wollte und konnte er sich nicht identifizieren. Und so wurde der Samen des Unverstehens ausgesät, aus dem alle späteren Konflikte, jede Auflehnung und jede temperamentvolle Streitrede Krležas hervorgehen sollten, angetrieben von der unterschwelligen Energie des niemals hergestellten Verhältnisses zwischen Vater und Sohn. Vielleicht besteht das Paradox darin, dass dieser Schriftsteller, der trotz seines biologischen Vaters niemals einen richtigen Vater hatte, selbst zum Va2 RELA Dossier: Zdravko Zima ter der neueren kroatischen Literatur geworden ist. Und Kiš? Im Unterschied zu Kafka und Krleža kam Kiš erst gar nicht dazu, sich von seinem Vater zu distanzieren, weil dieser mit fünf Schwestern nach Auschwitz deportiert worden war. Von etwa 80000 Juden, die bis zum Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet Jugoslawiens lebten, wurden 65000 ermordet. In der Vojvodina überlebten kaum 10 Prozent der jüdischen Bevölkerung die nazistischen Pogrome; allein diese Information deutet an, was für traumatischen Erlebnissen Danilo Kiš seit seinen frühesten Kindheitstagen ausgesetzt war. Als 1939 in Ungarn antijüdische Gesetze verabschiedet wurden, ließ Kišs Familie den Jungen orthodox taufen. Vor dem Hintergrund solcher Kindheitserlebnisse und des väterlichen Schicksals begann sich das Knäuel der literarischen Obsessionen Kišs selbst zu entwirren, und Tod und Leiden wurden zum Mittelpunkt seines künstlerischen Schaffens. So wie Hamlet dem Geist seines vergifteten Vaters folgte, so verfolgte auch Kiš die Schritte seines Vaters, getrieben von dem unbezwingbaren Bedürfnis, ihn zu reinkarnieren und mittels seines meisterhaften literarischen Könnens dem Vergessen zu entreißen. Ein Dokument der Gemeinde Kerkabarabás vom 8. September 1947 hält fest, dass „Kiss (Kohn) Ede wegen seines israelitischen Glaubens nach Deutschland deportiert und dort hingerichtet wurde“; etwas mehr als 40 Jahre später pflanzte Kiš im Friedenswald nahe Jerusalem einen Baum zum Gedenken an seinen ermordeten Vater. Zwischen diesen Zeitpunkten summierte sich eine Commedia erudita, die mit ihrer Kraft weit hinausreicht über die Dimensionen privater Schicksale und einer Literatur von provinzhaftem Zuschnitt, wie es die serbische und alle anderen Literaturen auf dem Balkan nun einmal sind. TIONS Seinen Vater, einen Eisenbahnbeamten und „prächtigen Saufkumpan“, hob Kiš über dessen streng abgezirkelte Lebenszeit hinaus und universalisierte ihn, baute ein spirituelles Verhältnis zu einem Toten auf, der kein anständiges Grab hatte, den er jedoch in seiner Vorstellungskraft zu neuem Leben erweckte und dem er einen imposanten literarischen Kenotaph schuf. Den Satz „Ich habe schöner und reicher gelebt als ihr, dank meinem Leiden und meinem Wahn“ legt Kiš seinem Vater in den Mund; darin ist jene Art von Konvertierbarkeit, ja Konversion enthalten, der man in Kišs Opus auf Schritt und Tritt begegnet. Passion und Ewiges Judentum, Leidenschaft und Not, Anfang und Ende bilden einen Kreislauf, ein diabolisches Archiv, zu dessen Lektüre man auf jeder beliebigen Seite ansetzen kann und das in der magischen Szene mit Rubins Vase (im Roman Sanduhr) zwei Profile reflektiert: Vater und Sohn, die sich einander nähern und zugleich voneinander distanzieren, je nach Sichtweise. Sein Erzeuger und Alter ego, der vom Sohn in der Retorte der eigenen Retrovision hervorgebrachte Vater, wird definiert über das Element des Wassers als Symbols der Reinigung und das des Feuers, dem eine zugleich zerstörende und erneuernde Macht zugesprochen wird. Wie sehr dies zutrifft, beweist Kišs Essay „Lob den Flammen“ aus dem Jahre 1957. Der junge Autor fordert stürmisch und kompromisslos das Verbrennen minderwertiger Manuskripte und sehnt jene Art Klimax herbei, bei der Zerstörung die Voraussetzung neuen Werdens ist. Mehr noch, er befürwortet selbstmöderische Instinkte, die Freiheit der Grausamkeit und die Grausamkeit der Freiheit, was ihn letztendlich mit Artaud und Šejka verbindet, dem legendären Maler und Mittelpunkt der Mediala2, der auch dann mit Systematik vorging, 1953 gegründete Künstlergruppe aus Belgrad. Relation 1_2011.indd 54 30.4.2011. 17:53:00 RELA TIONS mit der ihm eigenen Kompromisslosigkeit gewissermaßen herbeiruft, schafft Kiš ein Opus, das in vielen Segmenten wie erzählte Geschichte und wesentliches Selbstzeugnis daherkommt. Wie eine Chronik, deren Niederschrift in einer längst vergessenen Zeit eingestellt wurde und die, aus der Position ihrer Altersverstaubtheit, einen schmalen Randbereich des menschlichen Bewusstseins erhellt, wie ein Leuchtturm im Dunkel der endgültigen Apokalypse. Da Kiš sich von der Umgebung durch seinen Bildungsgrad, seinen Mut und ja, seine aristokratische Haltung deutlich abhob, waren Konflikte aller Art vorprogrammiert. So erklärte er, sich auf Baudelaire berufend, dass einzig der Schmerz ihn adle (Je sais que la douleur est la noblesse unique). Im 55 Roman Garten, Asche evoziert er den Klang des Jagdhorns, dessen Schönheit an Grabmusik denken lässt, wie sie in den Sinfonien Mahlers immer wieder aufklingt. Auch in Sanduhr suggeriert der Autor, dass die Zeit eine Illusion sei und das Leben ein Traum. In dem Romanfragment, auf das bereits angespielt wurde, sagt der Protagonist, sein toter Körper werde wie eine Arche Noah sein und der Tod wie „ein langes Dahintreiben auf den Wellen der Ewigkeit“. Ist dies nicht tatsächlich auch eingetreten, und hat Kiš dies nicht immer auch angestrebt, im vollen Umfang seines Bewusstseins als Autor? Aus dem Kroatischen übersetzt von Silvia Sladić Foto: © Višnja Arambašić wenn er die Welt als Müllhaufen3 identifizierte. Immer wieder ereignen sich Dinge nach demselben Grundmuster, wie in der Geschichte über Eduard Sam, Kenner der Handlesekunst, der „seinen eigenen Machenschaften zum Opfer fällt“; wie in der Geschichte über die kleine Berta, die in einem Spiegel die Ermordung des Vaters und zweier Schwestern sieht; wie letztendlich in der Erzählung Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch, in der der Revolutionär Boris Dawidowitsch auf seine Art, nach 600 Jahren, das Schicksal des jüdischen Arztes Baruch David Neumann nachzeichnet. Während er dem Tod entgegengeht, dem bereits faktischen Tod des Vaters wie auch seinem eigenen, der erst kommen wird und den er Kolumnen 3 So der Titel eines berühmten Gemäldes von Šejka. Relation 1_2011.indd 55 30.4.2011. 17:53:00 RELA 56 TIONS Meister Radovan Zdravko Zima K amov starb in Barcelona, Fran Mažuranić in Berlin, Wiesner1 in Rom und Radovan Ivšić (1921-2009) in Paris. In einem Zeitbogen von hundert Jahren, in vier europäischen Großstädten, wurden die Schicksale von vier kroatischen Schriftstellern bestimmt, die sich nicht in ihrer Heimat niederlassen konnten oder es auch nicht wollten. Mehr noch, im Falle von Fran Mažuranić und Ivšić kann man sagen, dass sie sich nicht einmal in ihrer Muttersprache niederlassen wollten. Das Schicksal des Apatriden und Schriftstellers mit doppelter, kroatisch-französischer Staatsbürgerschaft, die Zerrissenheit zwischen Ost und West, wie Ivšić sie empfand, konnte am besten jemand erklären, wer ihm ähnlich war. In seinem Gedicht „Kolo“2, in dem er auf das Motiv des auf dem Balkan getanzten Volksreigens zurückgreift, resümiert Joseph Brodsky: „Beschmutzt wird das Gebäude / der großen Republik. / Moral durch Wahlen, / darum geht’s. / Beweint die Abgeschlachteten. / Betet für die, die hingeduckt / in einem Versteck aus Beton / ihrem Verrat entgegensehen.“3 Auch wenn er die längste Zeit seines Lebens im Ausland verbrachte, hegte Ivšić niemals jene pathologisch-sentimentale Heimatliebe, wie sie fast allen Emig1 2 3 ranten eigen ist. Er hat Kroatien, genauer: Jugoslawien verlassen, weil er sich nicht als Schriftsteller verwirklichen konnte, der Freiheit als die erste und letzte Instanz seines Wesens und Wirkens auffasste. Dass diese Gründe auch nach dem Niedergang des Kommunismus bestanden, zeugt nicht so sehr von Ivšić als von dem Land, das er aber liebte und das er immer wieder besuchte, allerdings ohne die Radikalität und unbestechliche Schärfe seiner Ansichten aufzugeben. Der junge Ivšić hatte Mathematik und Physik studiert, und das Gespür für Präzision, messbar an kaum bemerkbaren sprachlichen Finessen, pflegte und bewahrte er sich als seine stärksten Trümpfe. Nach eigenen Angaben war es eine Theatervorstellung, die seinen Schicksalslauf bestimmt hatte. Nach seinem vollendeten 17. Lebensjahr besuchte er im antiken Theater der Stadt Orange in der Nähe von Avignon eine Sophokles-Aufführung, deren Intensität ihn in ihren Bann zog. Zu dieser Zeit las er bereits Rimbaud, Lautréamont und Breton, und in der durch die Sommervorstellung eines antiken Dramentextes hervorgebrachten Magie fand er, wonach er suchte: das Zusammenspiel von Einssein und Vielsein, in denen der „Werdegang der Gefühle“ verkündet wird. Poesie und Theater sind die wichtigsten Komponenten seines literarischen Schaffens, finalisiert in der Idee des poetischen Theaters, dessen Höhepunkt König Gordogan darstellt: Theaterkunst der verbalen Aggression, in dem Ludismus und Surrealismus, Groteske und Märchen, elisabethanische Tradition und japanisches Nō-Theater eine eigentümliche Verbindung eingehen. Lange Zeit ein Stein des Anstoßes, ist und bleibt „König Gordogan“ das Wahrzeichen von Ivšićs Opus. Das Drama vom König, der alles vor sich niederreißt und tötet, entstand 1943, wurde aber erst 1956 im französischen Radiosender Chaîne nationale uraufgeführt. Danach wurde es von Michel Bouquet auf dem Theaterfestival von Avignon vorgelesen; die erste Theateraufführung fand 1969 vor der Schlossruine La Coste des Marquis de Sade statt. Im Januar 1979 wurde es als Oper inszeniert, zu der Henri Barraud die Musik komponiert hatte. Diese Angaben sind kein Selbstzweck, sondern spiegeln das Schicksal eines Schriftstellers, der im eigenen Land jahrelang verschwiegen wurde und erst nach seinem Erfolg in Frankreich eine einigermaßen befriedigende Rezeption Janko Polić Kamov (1886-1910), avantgardistischer Dichter und Erzähler; Fran Mažuranić (1859-1928) und Ljubo Wiesner (1885-1951), ebenfalls im Exil lebende Autoren. (Diese und folgende Anmerkungen stammen von der Übersetzerin.) „Reigen“. „... Soiled turns the fabric / of the great republic. / Ethics by a ballot / is what it’s all about. / Mourn the slaughtered. / Pray for those squatted / In some concrete lair / facing betrayal.“ – Joseph Brodsky, „Kolo“, Erstveröffentlichung in: New York Review of Books, 13.7.1995. Relation 1_2011.indd 56 30.4.2011. 17:53:00 RELA TIONS in der Heimat erfuhr. In kroatischer Übersetzung wurde König Gordogan erstmals 1979 auf den Brettern des Teatar ITD in Zagreb, unter der Spielleitung von Vlado Habunek, aufgeführt. Sein allererstes Buch, das Poem Narziss, war in der Zeit des Pavelić-Regimes verboten und beschlagnahmt worden, obwohl es im Selbstverlag und in einer Auflage von kaum mehr als hundert Exemplaren erschienen war. Die Konflikte mit den Behörden setzten sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg fort; wegen Sonnenstadt („Sunčani grad“) und Feldwebel Pobjednik („Vodnik Pobjednik“) wurde Ivšić vorübergehend auf Eis gelegt. 1948 wurde er zum ersten Direktor des Zagreber Puppentheaters bestimmt, verlor seinen Posten jedoch schnell wieder. In den frühen Nachkriegsjahren arbeitete er intensiv an Übersetzungen aus dem Französischen und Russischen (Molière, Marivaux, Rousseau, Anouilh, Ionesco, Čechov). In meiner Bibliothek verwahre ich ein seltenes Exemplar Sartre’scher Dramen (Tote ohne Begräbnis und Die respektvolle Dirne), die 1951 in der Redaktion und Übersetzung von Radovan Ivšić erschienen. Dies waren die ersten Sartre-Übersetzungen im damaligen Jugoslawien, doch die Bedeutung dieses Unterfangens, in dem intellektuelle Neugier und Zivilcourage den Ausschlag gaben, können jüngere Generationen vielleicht nicht ganz nachvollziehen. Will man Ivšić charakterisieren, so scheinen seine Augen, sein scharfer und stechender Blick, mit dem er alles um sich herum durchdrang, im Vordergrund zu stehen, als habe er in das tiefste Innere seines Gegenübers vorstoßen und ihn von der Unwiderlegbarkeit seiner Standpunkte überzeugen wollen. Das menschliche Auge hat eine integrierende Wirkung, da es in sich Lebendigkeit, Begierde und das Feuer der Leidenschaft bündelt, die Ivšić wie ein Schamane um sich Relation 1_2011.indd 57 Kolumnen herum versprühte. Wie Samson demonstrierte er mit langen Haaren seine Kraft, und die unverwechselbare gelbe Krawatte war Zeichen seiner Jugendlichkeit und Langlebigkeit, die ihm die Schicksalsgöttinnen großzügig gewährten. Das Schicksal wollte es auch, dass er dasselbe Alter wie Krleža erreichte, jener Schriftsteller, in dem er unsere kollektive Katastrophe und das krasse Gegenteil zu Matoš erkannte, dessen viel zu frühes Ableben wir nie kompensiert hätten. In Krleža sah Ivšić einen Autor, der jugendlicher Begeisterung abgeschworen hatte und in vielerlei Hinsicht an Aragon, Ristić, Dedinac und andere erinnerte, die ihre surrealistischen Ideale über Bord geworfen hatten. Als er sein surrealistisches Credo mit an Fanatismus grenzender Heftigkeit proklamierte, dienten ihm Lautréamont, Rimbaud und Mallarmé als Vorbilder, ebenso aber de Sade, Jarry und Artaud, die den Radikalismus zum Imperativ erhoben hatten, da ihrer Ansicht nach die absolute Revolte einen Schritt von der absoluten Freiheit entfernt war. Für Ivšić bestand Poesie nicht nur in Worten, die man auf einem weißen Blatt Papier niederschrieb. Poesie ist eine Denk- und Lebensweise, die man nicht aus ideologischer Rücksichtnahme oder irgendwelchen anderen Gründen aufgibt. Sie ist das Synonym der Freiheit, und insofern ist sie unweigerlich im Konflikt mit allen Formen der Obrigkeit. Ivšić legte dar, dass Freiheit unteilbar sei, und es wäre kaum vorstellbar, dass jemand am Vormittag das Leben eines Kleinbürgers und politischen Trittbrettfahrers führe, am Nachmittag und Abend wiederum das eines Rebellen und Surrealisten. Durch diesen Extremismus seiner Forderungen unterschied er sich von vielen Kollegen, und seine Abreise nach Paris Ende 1954 erwies sich nur mehr als logische Konsequenz. Dort schloss er sich dem Kreis von 57 André Breton, Benjamin Péret, Jean Benoît, Toyen und Annie Le Brun an, welche Letztere seine Muse und Lebensgefährtin wurde. Ivšićs Flucht aus Zagreb scheint gleichzeitig eine Flucht vor seinem Vater Stjepan gewesen zu sein, dessen Schicksal sich zu einem großen Teil in ihm wiederholte und das er in gewisser Weise geerbt hatte. Stjepan Ivšić war ein namhafter Sprachwissenschaftler und ordentlicher Professor für Komparative Grammatik slawischer Sprachen an der Philosophischen Fakultät. In der Zeit des „Unabhängigen Staates Kroatien“ hatte er sich der Einführung einer etymologischen Rechtschreibung des Kroatischen widersetzt, sodass er auf Verfügung Ante Pavelićs seines Amtes als Rektor der Zagreber Universität enthoben wurde. Nach dem Krieg wurde er aus Zagreb verbannt und war Opfer von Schikanierungen aller Art, um bis an sein Lebensende eine Persona non grata zu bleiben. In Paris fand Ivšić junior in Breton einen zweiten Vater und Poesiepatron. Für ihn war der Surrealismus nicht nur ein künstlerisches Projekt, sondern eine sämtliche Vorurteile ablehnende Weltanschauung. Schließlich aber ereilte ihn das Schicksal aller unversöhnlichen Fanatiker, die sich so lange mit Resolutheit gegen das Dogma zur Wehr setzen, bis sich ihr Rebellentum selbst in ein Dogma umkehrt. Er berief sich gern auf Picassos Spruch „Wenn ich kein Rot habe, nehme ich Blau“. Und danach handelnd begann er – der Farben des Kroatischen beraubt – im kosmopolitischen Umfeld der französischen Metropole auf Französisch zu schreiben. Zur Repatriierung Ivšićs trug am meisten Zvonimir Mrkonjić bei, der dem Poem Narziss den Rang eines „Meisterwerks der kroatischen modernistischen Poesie“ attestierte, in dem auf konsequenteste Weise die Errungenschaften der surrealistischen Poetik materialisiert seien. Au- 30.4.2011. 17:53:00 58 RELA Dossier: Zdravko Zima Dichters ist, denn Zweisprachigkeit und die Möglichkeit, in eine fremde Haut zu schlüpfen, seien das legitime Recht jedes Einzelnen. Zumal das des Dichters. Mehr als ein halbes Jahrhundert zwischen zwei Kulturen, zwei Sprachen und an zwei Adressen lebend, in der Krežmina-Straße in Zagreb und in der Rue de Mazagran in Paris, hat Ivšić seinen Lebenskreis vollbracht. Es entbehrt nicht einer gewissen Symbolik und makaberpathetischer Züge, dass er am ersten Weihnachtsfeiertag verstarb und an Silvester beerdigt wurde. Meine letzte Unterhaltung mit Ivšić fand am 21. Juni 2009 in Zagreb statt, als wir eine Performance besuchten, bei der eine niederländische Künstlergruppe das Publikum mit Hilfe von Digitalkameras nach Auschwitz versetzte und anhand von Nachbildungen in Miniaturgröße das Grauen des Konzentrationslagers wiederauferstehen ließ. Im 13. Jahrhundert hatte Meister Radovan4 in der Lunette über dem Eingang der Kathedrale von Trogir seinen Namen und das Entstehungsjahr dieses wichtigsten Teils des Kirchenportals verewigt. Viele Jahrhunderte später sollte die Brücke zwischen der kroatischen und der französischen Kultur den Namen seines literarischen Namensvetters tragen. Ruhe sanft, Meister Radovan! Aus dem Kroatischen übersetzt von Silvia Sladić Foto: © Višnja Arambašić ßer bibliophilen Ausgaben, in denen Ivšićs Verse in Kohabitation mit Werken ausgewiesener bildender Künstler (Miró, Toyen) gedruckt wurden, liegen seine auf Französisch verfassten gesammelten Werke in drei Bänden (Poèmes, Théâtre, Cascades) vor. So manches hatte er mit seiner existenzialen Entscheidung demonstriert: dass Freiheit die Aufkündigung des Gehorsams bedeutet, dass Mediokritäten stets zu Verbündeten eines jeden totalitären Regimes werden, dass Freiheit nicht nur das Verhältnis zur Ideologie meint, sondern auch das Verhältnis zur Sprache; und er demonstrierte, was nicht minder bedeutsam ist, dass die Muttersprache nicht der letzte Zufluchtsort des TIONS 4 Radovan, dalmatinischer Bildhauer und Architekt des Hochmittelalters. Relation 1_2011.indd 58 30.4.2011. 17:53:00 RELA TIONS 59 Wie die Bohnenranke im Märchen [Historische Hintergründe im Roman Einübung des Lebens] Zdravko Zima W ie stark in der Menschheitsgeschichte das Bewusstsein von der magischen Kraft des Wortes verankert ist, veranschaulicht die Tatsache, dass Alexander der Große auf seinen Feldzügen stets die Ilias in einer kleinen Truhe mit sich führte. So ist es in dem Buch Walden von Henry David Thoreau, dem berühmten amerikanischen Schriftsteller und Vorläufer des Anarchismus, nachzulesen, und es besteht keinerlei Grund, die Richtigkeit dieser Aussage anzuzweifeln. Selbst wenn der makedonische Gottkönig (dem es gelang, seine eigenen Träume zu übertreffen!) im Feldlager keine Muße gefunden hätte, sich mit Homers Hexametern zu beschäftigen, ist doch unbestritten, dass das von ihm gegründete Alexandria die Stadt der Bücher war und blieb und bis in vorchristliche Zeit als multikulturelles Gemeinwesen funktionierte. Nach bisheriger Quellenlage war es ein Weiser aus Athen, ein Sammler der Fabeln Äsops und Kritiker Homers, der dem Nachfolger Alexanders, Ptolemaios I., vorgeschlagen hatte, eine Bibliothek zu gründen, die den Ruhm der Stadt über alle räumliche und zeitliche Grenzen hinweg in die Welt tragen würde. Diese Anregung erwies 1 sich als ebenso weitsichtig wie nachhaltig. Obwohl die Bibliothek erstmals im Jahr 47 v.Chr. ausbrannte und 391 n.Chr. vollständig zerstört wurde, ist die Erinnerung an sie bis in unsere Tage wach geblieben, in denen sie, bereichert um eine computergestützte Dimension, erneuert wurde und wie ein Kosmodrom für Zeitreisende den Wissbegierigen sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft entsenden kann. Wie wichtig das Medium Buch ist, illustriert ein weiteres Detail aus der Zeit vor Gutenberg. Der persische Großwesir Abdul Kassem Ismael (10. Jh.) wollte sich auf seinen Reisen nicht von seiner gewaltigen, über 100000 Schriftrollen umfassenden Bibliothek trennen, die auf 400 Kamelen transportiert wurde. Was war der Grund, dass große Feldherren und Machthaber sich so verhielten? Allem Anschein nach handelte es sich in diesen und ähnlichen Fällen weniger um reinen Enthusiasmus als vielmehr um die Überzeugung, dass in diesen Schriften die gesamte vergangene und gegenwärtige Geschichte verzeichnet sei. Geschichte – was für ein abgenutztes und kompromittiertes Wort! Wirft man auch nur einen oberflächlichen Blick auf die Ge- schichte der kroatischen Literatur, erkennt man, dass ihre Akteure aus den verschiedensten Epochen, von Reformation und Aufklärung über Illyrismus bis hin zu Realismus und der jüngeren Vergangenheit, die Sprachkunst als Ancilla theologiae betrachteten oder, mit anderen Worten, als Medium, das zuallernächst nationale und soziale und erst dann ästhetische Aufgaben im engeren Sinne zu erfüllen hatte. Man denke nur an die Zeit des zum Kanon erhobenen Realismus, als Adam Smith mit seinen Theorien die Überzeugung untermauerte, dass der Mensch wie eine Biene fleißig zu sein habe und nur so ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sein könne. In welchem Maße die Literatur der herrschenden Ideologie inhärent war, zeigt sich am Beispiel der zu Šenoas1 Zeiten erscheinenden Zeitschrift „Vienac“, die als Forum zur Erhellung wichtigster Fragen des kulturellen und politischen Lebens diente – was sich im Übrigen bis heute nicht geändert hat und in der seit 1993 erscheinenden Nachfolgepublikation „Vijenac“ weitergeführt wird. Lehrreich ist in diesem Sinne ein Text, den 1995 Pavao Pavličić in Handkuss („Rukoljub“) veröffentlichte. In die- August Šenoa (1838-81), Schriftsteller, Wegbereiter der modernen kroatischen Prosa; ab 1874 Hauptredakteur von „Vienac“ (1869-1903). (Diese und folgende Anmerkungen stammen von der Übersetzerin.) Relation 1_2011.indd 59 30.4.2011. 17:53:00 60 sem Buch wendet sich der Verfasser in Briefform an bekannte kroatische Autorinnen wie auch an fiktive Protagonistinnen, so etwa an Madona Markantunova aus Slobodan Novaks Roman Gold, Weihrauch und Myrrhe („Mirisi, zlato i tamjan“2). Formalitäten und konventionelle Komplimente, die für diese Art (anachronistischer) Korrespondenz selbstverständlich sind, wollen wir beiseite lassen. Pavličić wendet sich an die Heldin eines der besten Romane, die je in kroatischer Sprache geschrieben wurden. Er setzt unterschiedliche Epochen und Existenzen in Bezug zueinander und lässt die Komtesse als edle Dame, aber auch als „Personifizierung unserer Geschichte“ auftreten. Während die Kritiker Novaks Prosawerk als die Abrechnung einer Generation mit ihren eigenen Irrtümern definierten und sie als moralistische Lektüre etikettierten, wurde sie von dem genannten Briefeschreiber als historischer Roman bestimmt. Im Unterschied zur Geschichtsauffassung Friedrich Nietzsches, der drei grundlegende Ansatzmöglichkeiten hervorhob (monumentaler, antiquierender und kritischer Ansatz), vertritt Pavličić die Ansicht, dass es drei Typen des historischen Romans gebe (apologischer, didaktischer und allegorischer Typ). Schwer zu sagen, welcher dieser drei Romantypen den kritischen Zugang gemäß der Nomenklatur Nietzsches impliziert, doch Ausschlag gebend für unsere Untersuchung ist Pavličićs radikale und völlig überraschende Schlussfolgerung, dass alle kroatischen Romane im Grunde historische Romane seien. Dies sei nun einmal so und werde sich so bald auch nicht ändern, nicht weil es jemandem so gefiele, sondern schlicht und einfach deshalb, weil die 2 3 4 RELA Dossier: Zdravko Zima kroatische Geschichte noch nicht abgeschlossen sei. Natürlich steht Pavličićs Behauptung im Widerspruch zur bekannten und mittlerweile überwundenen These Fukuyamas vom Ende der Geschichte; dass sie obendrein von der Idee der Postmoderne und des Posthistoire abweicht, hat weniger mit dem Briefeschreiber selbst zu tun als mit dem Problem der kroatischen Geschichte und dem ihr angemessenen Romanparadigma. Über diese Entfremdung von der Geschichte, um nicht zu sagen: Verurteilung zur Geschichte, ferner über die Notwendigkeit des Erzählens äußert sich explizit auch Nedjeljko Fabrio in seinem ersten Roman Einübung des Lebens („Vježbanje života“3, 1985). Um das Selbstbewusstsein Fabrios als Romanautors in seinem ganzen Umfang deutlich zu machen, soll daran erinnert werden, dass er selbst, auf eine Wortprägung von Viktor Car Emin4 zurückgreifend, sein Werk als Chronisterion bezeichnete und sich selbst auf diesem Wege als Schriftsteller auswies, der ein Geschichtsbewusstsein besitzt sowie ein Bewusstsein von der literarischen Vergangenheit, an die er mit seinem Schaffen anknüpft. Der Begriff Chronisterion ist ein Kofferwort und vereint die aus dem Altgriechischen stammenden Wörter Chronik (Jahrbuch), Historie (historisches Geschehen, Erzählung) und Hysterie (Wahn, von hystera = Gebärmutter); es funktioniert in letzter Instanz als Draperie, mit denen der Autor seine Visionen umhüllt. Fabrio hat die formelle Ähnlichkeit von Historie und Hysterie nicht aus reinem Manierismus oder aus Vorliebe für effektvolle Wortspiele aufgegriffen. Das Bewusstsein von der Geschichte in ihrem einerseits TIONS gebärmutterhaften und andererseits makabren Charakter offenbart sich nicht nur in der Dichotomie LebenTod, vermittelt und poetisch akzentuiert in der Episode, in der ein Leben erlischt, während neues entsteht (Fanica stirbt, nachdem sie ihren Sohn Fumulo zur Welt gebracht hat). Von diesem Bewusstsein ist der Roman Einübung des Lebens mehr oder weniger explizit und nahezu restlos geprägt, wie sich anhand unterschiedlicher Stellen belegen lässt: „Während die Bora mit ungestümen Böen und Getöse die Hänge hinabstürzte, verbrachte Jožić die Nacht im Schein eines Talglichts, dessen Docht gegen Morgen mit flackernder Flamme im eigenen zerschmolzenen Talg ersoff: Wie oft hat sich im Laufe seiner Geschichte, will heißen dieses Irrenhauses, der kroatische Mann schon gefragt, ob seine Regierung in Zagreb überhaupt ans Wohl der Heimat denkt?“ Und wie der Docht des Talglichts im eigenen Wachs ersäuft, könnte man, in Anlehnung an das vom Autor gewählte Bild, schließen, dass der Enthusiasmus von Fabrios Helden – und nicht nur seiner Helden – mit ihren eigenen Irrtümern untergeht, in deren Hintergrund man stets den Schatten der allzeit Großen und Gefräßigen Geschichte erahnt. Mit Blick auf die vorgegebenen Koordinaten empfiehlt es sich, auf Krleža zurückzugreifen, der wie selten ein kroatischer Schriftsteller von der Geschichte fasziniert war. In seinen essayistischen und anderen Texten verwendet er meistens das Wort „Historie“, doch so begeistert er auch von historischer Quellenlektüre war, stand er dem Versuch, die Historie zu einer exakten Wissenschaft zu machen, doch skeptisch gegenüber. Daher schließt Drago Roksandić zu Übers. von Tihomir Glowatzky. Wieser Verlag (übers. v. Klaus D. Olof, 2008). Viktor Car Emin (1870-1963), istrischer Schriftsteller, der sich in seinen Werken mit der Geschichte der kroatischen Bevölkerung Istriens beschäftigte. Relation 1_2011.indd 60 30.4.2011. 17:53:00 RELA TIONS Recht, dass Krleža als Geschichtskenner kaum seinesgleichen finde, und vertritt die Ansicht, das umfangreiche und heterogene Opus des Schriftstellers sei am treffendsten als Historik zu bezeichnen. Trotz seines kontinuierlichen Interesses für Geschichte und ungeachtet der Tatsache, dass er sich zu seinen Ansichten von Kant, Schopenhauer, Nietzsche, Marx und anderen anregen ließ, ist Krležas Opus im Einzelnen wie insgesamt eine ausdrückliche Absage an jegliche doktrinäre Historiografie. Fabrio entwickelte sich zu einem Schriftsteller von mediterraner Sensibilität, was sich in sehr unterschiedlichen Texten offenbart, sei es in Schriften, in denen er systematisch die kroatisch-italienischen Beziehungen thematisiert, oder aber in Übersetzungen italienischer Klassiker, von Goldoni und Pirandello bis Moravia, Chiara und vielen anderen; dennoch steht er, gemäß den Merkmalen seiner Texte, Krleža sehr nahe. Diese Beurteilung bezieht sich in erster Linie auf das manieristische Bedürfnis nach einem von Rhetorik überladenen und prunkhaften Stil, den Curtius als Schwulststil bezeichnete; auf das heroische Pathos seiner Protagonisten, den gezierten Duktus, den Fabrio selbst in der Novelle Fiumaner Elegie („Riječka elegija“) (eine Einleitung zu Einübung des Lebens) als „meine Scriptura cursiva“ bezeichnete, sowie auf die Auffassung der Geschichte als Moloch und alles verschlingendes Ungetüm, das immer neue Opfer fordere. Krleža verwendete für Historie Ausdrücke wie „Annalen der Dummheit“, „Tagebuch nutzlosen Umherirrens“, „blutiger Albtraum“, „Konstante der Armut, des Todes und der Wollust“, oder er schrieb, sie sei „jedenfalls eher eine Hure denn eine Lehrmeisterin“. Die aussagekräftigsten Informationen über Krležas diesbezügliche Auffassung liefert der Text Einige Worte über den kleinbürgerlichen Historis- Relation 1_2011.indd 61 Kolumnen mus im Allgemeinen, der erstmals in Književna republika erschien (1926) und später seinem Essayband Zehn blutige Jahre („Deset krvavih godina“) beigefügt wurde. Zitat: „Alle europäischen Völker haben ihre Lügen und ihre hochtrabenden, debilisierenden und einschläfernden Phrasen, ihre historischen Fanfaronaden und Schandflecke, doch keines kommt so kümmerlich und so armselig daher, geradezu nackt und barfüßig, ausgestattet mit seiner Fatamorgana, wie unser lokalpatriotisches Kroatenvolk. Unbekannt, verachtet und verspottet, Barbaren für den Westen und Deutsche für den orthodoxen Osten, rennen die Kroaten ihrem Blauen Vogel der Freiheit hinterher, stets in krankhafter Begeisterung für Illusion und Lüge, zerrissen von poetischer Inspiration zur Verwirklichung ihrer Ideale, immer gleichbleibend hartnäckig im Missverhältnis zur Wirklichkeit.“ Obwohl vor mehr als achtzig Jahren niedergeschrieben, sind diese Worte bis auf den heutigen Tag gültig geblieben. So skrupulös Fabrio in seinen Objektionen auch vorgeht – diese Skrupulosität und Zurückhaltung war mit der oben erwähnten Scriptura cursiva gemeint – so unterscheidet sich seine in Romanen und anderen Texten elaborierte Vision der Geschichte im Grunde nicht von der Miroslav Krležas. Diese Auffassung ergänzt Viktor Žmegač durch Ausführungen, die er in seiner Studie „Der historische Roman heute“ (Republika, 1-2/1991) vorgelegt hat. Unser bekannter Germanist und Kroatist merkt an, dass die Tendenzen in der kroatischen Literatur typisch seien für so genannte marginale Literaturen, in denen sich die Bevorzugung des Romans als besonderer literarischer Gattung mit dem Modell des historischen Romans decke. Daraus ergebe sich geradezu unvermeidlich die logische Folgerung, dass der historische Ro- 61 man, wenn auch auf kroatische Gegebenheiten reduziert, eine Verlängerung der Geschichtsphilosophie mit anderen Mitteln darstelle. Der postmodernen Spiritualität und der Idee des Posthistoire zum Trotz seien die kroatischen Schriftsteller dem traditionellen Paradigma des historischen Romans treu geblieben, wie Žmegač zu Recht konstatiert. Daraus ergebe sich ein Moralismus (also kein Ludismus) und eine Akzeptanz des „Pathos transhistorischer Werte“, was gleichermaßen bei Fabrio und anderen Autoren unserer Nationalliteratur zu erkennen sei, die sich dem historischen Roman verschrieben hätten. Was für Krleža Zagreb und Blitwien seien (Blitwien steht synonym für Irrenhaus, während Fabrio den Begriff Irrenhaus mehrmals als Synonym für Geschichte verwendet), was Lübeck für Thomas Mann, Dublin für Joyce, Danzig für Grass, Triest für Svevo und Saba seien, das sei Rijeka für Fabrio: sein Theatrum mundi, identifiziert als „gelobte Stadt“, dann als „gesonderte Gubernie“ oder Corpus separatum, auf das zu verschiedenen Zeiten alle möglichen Statthalter und Gouverneure Besitzansprüche erhoben. Die italienische Kultur und die italienische Oper, die er in der Kindheit kennen lernte, bereicherten seinen mit seismografischer Empfindlichkeit ausgestatteten Geist um die Vision des Nationalen und den Imperativ des Planetarischen, lange bevor diese Begriffe in den Morast der ideologischen Konjunktur getreten wurden, zerschlissen von übermäßigem Gebrauch und pervertierten Bedeutungen. Fabrio ist ein Autor fernab von allen Standards, da er die Fähigkeit besitzt, sein Nationalbewusstsein zu artikulieren, zu sublimieren und mit artistischen Mitteln zu retuschieren, ohne dabei die Dimension des Planetarischen außer Acht zu lassen. Als unerlässliches Korrektiv wirkte in seinem Fall der Einfluss der itali- 30.4.2011. 17:53:00 62 enischen Kultur, den er in sich integrierte wie die Atemluft, ohne zuzulassen, dass in dieser verführerischen Atmosphäre zweier paralleler Kultureinflüsse eine Seite die Oberhand gewann. Rijeka erwies sich als optimales Umfeld, als Raum einer geschichtlichen Kohabitation, bei der auf keiner Seite das Gefühl aufkam, der minderwertige Mitbewohner zu sein. Italienische Lebenskultur und italienische Literatur waren für Fabrio das Maß für zumutbaren Eurozentrismus, ein Fenster zur Welt, das ihn jedoch nie der Überzeugung entfremdete, dass er als Schriftsteller und Forschender von dem Schicksal geprägt war, eigene Ansatzpunkte zu entwickeln und eigene Wege zu gehen. Rijeka war ein Schritt hinaus in die Welt, aber auch eine Welt für sich, die unzählige Möglichkeiten bot. Rijeka als Corpus separatum, als Mittelpunkt und Peripherie, die ihre Offenheit dem Meer zu verdanken hat, auf deren Gebiet, wie bei einem Karnevalsumzug, kroatische, italienische, deutsch-österreichische, ungarische und wer weiß was noch für Einflüsse zusammenstießen. Wenn auch nicht (offiziell) Fabrios Heimatstadt, war Rijeka freilich ein die Persönlichkeit des Autors formendes Element, dessen Genius loci auf den Seiten seiner Romane sowie anderer belletristischer und essayistischer Texte am besten in Erscheinung tritt. Anfang 1972 entschloss sich Fabrio zu einer Art Exil und tauschte die Stadt seiner Kindheit und Jugend gegen Zagreb ein. Bekanntlicherweise war dieser Schritt eher auf soziale Umstände zurückzuführen als auf den Wunsch des Autors, die Sonne des Südens um jeden Preis gegen die Herbstnebel Zagrebs einzutauschen. So sehr damals diese Entscheidung schmerzhaft gewesen sein mag, so produktiv erwies sie sich auf lange Sicht – für Fabrio 5 RELA Dossier: Zdravko Zima und die kroatische Literatur gleichermaßen. Ist nämlich der Abstand die Seele des Schönen, wie Simone Weil schrieb, dann benötigte Fabrio den Abstand von Rijeka, um jene Dimension der Stadt zu erkennen und in Literatur umzusetzen, die durch Nähe stets zunichte gemacht wird. Wie hätte Fabrio im Übrigen verlieren können, was er mit der Muttermilch aufgesogen hatte und was er, angetrieben von der ihm eigenen Neugier, als sein spirituelles Schicksal und literarisches Zehrgeld mit sich trug? Karl-Markus Gauß zeichnete in einem seiner Texte den Lebensweg Theo Waldingers nach, eines Österreichers, der mit 35 Jahren von den Nazis des Landes vertrieben worden war. Waldinger verbrachte ungefähr ein halbes Jahrhundert in den Vereinigten Staaten, doch als er in den späten 80er-Jahren in seine Heimat zurückkehrte, frappierte er mit seiner wienerischen Aussprache seine Wiener Mitbürger, die das Idiom ihrer Heimatstadt in seiner ursprünglichen Form verlernt hatten. Dieser Mann, der nicht freiwillig aus Österreich weggegangen war, sondern um sein nacktes Leben zu retten, hatte es fertiggebracht, sich inmitten des Ozeans der englischen Sprache die Mundart der Wiener Metropole zu bewahren, eine Sprache, die durch jahrzehntelange Sedimentierung auf der Grundlage der kosmopolitisch durchgemischten franzjosephinischen Monarchie gewachsen war. Gauß schreibt: „Seitdem ich diesem zweifellos österreichisch geprägten, zugleich aber auch wahrhaftigen Weltbürger Theo Waldinger begegnet bin, erfüllt es mich mit tiefer Verachtung, wenn ich sehe, wie die weltlichen Kleinbürger meiner Generation darum bemüht sind, ihre Herkunft zu verleugnen, als würde sie diese zu ewiger Provinzialität verdammen.“ Über Fabrio ließe sich TIONS kaum viel anderes sagen. Bei all seiner unveränderlichen Weltoffenheit hat er doch nicht Kozala und Mlaka5 vergessen, nicht die Sprache und nicht die Möwen, „die in Scharen aus dem nahen Hafen herbeiflogen“, wie er im Finale seines bekanntesten und sicherlich emblematischen Romans Einübung des Lebens schreibt. Wären Romane nur von in ihren Heimatstädten lebenden Autoren geschrieben worden, hätte die Weltliteratur wenig Nennenswertes vorzuweisen. Weder ist Thomas Manns Doktor Faustus in Lübeck entstanden, noch hat Günter Grass Die Blechtrommel in Danzig geschrieben, jener Stadt, die in den Jahren der literarischen Initiation des Autors gar nicht mehr zu Deutschland, sondern zu Polen gehörte. Trotz ideologischer Daumenschrauben und dem kaum zweihundert Kilometer betragenden Fluchtweg konnte Fabrio auch in Zagreb seinen Obsessionen nicht entgehen. Dies belegen seine sorgfältigen Recherchen in Archiven, Bibliotheken und anderen Einrichtungen, als er nach Informationen über den großen Exodus der Italiener aus dem kroatischen Küstenland und von den Inseln sowie insbesondere aus Rijeka und Istrien im Zeitraum zwischen 1945 und 1956 suchte. Ohne diesen Exodus als Hintergrund ist der Roman Einübung des Lebens praktisch undenkbar, doch allen Warnungen zum Trotz, dass es nicht opportun sei, in einem solch delikaten Thema herumzustochern, gab Fabrio sein Vorhaben nicht auf, sondern veröffentlichte später viele ausgegrabene Details in seinem Essay „D’Annunzio, Mussolini, Lenjin, Krleža, Rijeka“. Die schon erwähnte These von Drago Roksandić, wonach Krleža ein Geschichtskenner und sein Opus Historik sei, ist in diesem Aspekt auch auf Fabrio anwendbar. Natürlich sollen damit der Romanschriftsteller Kozala und Mlaka: Stadtviertel in Rijeka. Relation 1_2011.indd 62 30.4.2011. 17:53:00 RELA TIONS und der Historiker nicht auf eine Stufe gestellt werden, ebenso wenig wissenschaftliche Fachliteratur und Belletristik. Fabrio ist insofern ein Geschichtskenner, als er historische Tatsachen als Baumaterial für seine Romane verwendete, mit hartnäckigem Fleiß viele unbekannte oder gar vertuschte Details aus unserer Nationalgeschichte aufdeckte und somit jene oftmals aufgestellte Behauptung bestätigte, dass die Wirklichkeit fantastischer ist als jede Literatur. Einzig Fabrio konnte es sich dank seiner Skrupulosität leisten, ungenauen Improvisationen über die Episode D’Annunzios in Rijeka Paroli zu bieten, einzig Fabrio widersprach den Auslegungen von Miroslav Krleža, Tin Ujević und Bratlojub Klaić6, die das Patronat des größenwahnsinnigen italienischen Schriftstellers durch die Brille der Ideologie betrachteten. Aber wie langweilig und fantasielos ist doktrinäre Historie und Wissenschaft im Vergleich zur „Hintergrundgeschichte“, die Fabrio aufzeichnete! In dem oben erwähnten Essay erwähnt Fabrio, dass Arturo Toscanini, einer der größten Dirigenten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, 1915 von der New Yorker Metropolitan nach Mailand zurückkehrte; am 20. November 1920 traf er mit dem erneuerten Orchester der Scala in Rijeka ein, wo er von Comandante D’Annunzio mit einer albernen Parade empfangen wurde. Mit der ihm eigenen Sorgfalt versäumte es Fabrio nicht zu erwähnen, dass das berühmte Orchester anderntags im Stadttheater konzertierte, ebenso wenig fehlt die Auskunft, dass zur gleichen Zeit eine Lokalberühmtheit, der Fiumaner Ivan Matetić Ronjgov, im Stadtviertel Kantrida zu den Klängen der 6 7 8 Kolumnen Sopela tanzte. Sofern Geschichte die ewige Wiederkehr des Gleichen bedeutet, könnte man an Mstislaw Rostropowitsch erinnern, der nach dem Berliner Mauerfall am Checkpoint Charlie Cello spielte, oder auch an Alexis Weissenberg, der in der Zeit des kroatischen Unabhängigkeitskrieges ohne große Erklärungen ein lange vorher angekündigtes Konzert in Zagreb absagte. Wenn die Geschichte ebenso ungreifbar ist wie die Zeit, stellt sich jedes Mal erneut die Frage, wie diese Kategorien von dem Schriftsteller in seinen Texten behandelt werden sollen. Vielleicht tut man in dieser Situation gut daran, sich an T. S. Eliot zu wenden, der im ersten seiner Vier Quartette festhält: „...Nur durch Form, Anordnung / Können Worte oder Musik / Ruhe erlangen, so wie eine chinesische Vase / Unaufhörlich sich bewegt in ihrer Unbeweglichkeit. [...] Oder sagen wir, das Ende geht dem Anfang voraus, / Und Ende und Anfang waren immer schon da / Vor dem Anfang und nach dem Ende. / Und alles ist allzeit jetzt. Worte spannen sich, / Splittern und bersten zuweilen unter der Last...“7 Diese Zeitsynchronie, auf die T. S. Eliot in seinen Versen verweist, ist bei vielen weiteren Autoren zu erkennen. Marcel Proust ist der erste moderne Schriftsteller, der die Zeit und die Erinnerung nicht nur zum Beweggrund, sondern auch zum zentralen Motiv seines Schaffens erhob; ein bekannter Roman Aldous Huxleys trägt den Titel Zeit muss enden; bei Günter Grass endet die Zeit damit, dass Oskar Matzerath an seinem dritten Geburtstag zu wachsen aufhört. Mag uns mitunter Fabrios Geschichtsverständnis, gemessen an den Distinkti- 63 onen Nietzsches, auch monumental erscheinen, eher moralisierend denn verspielt, eher von Sensibilität denn von Intelligibilität geprägt, so sind in seinem Opus doch auch Anhaltspunkte für andere Interpretationen zu erkennen. Dies beweist etwa die Erzählung Frottola über Dubrovnik („Frottola o Dubrovniku“) aus dem Jahre 1976, die erstmals in der Erzählsammlung Das Maul des Löwen („Lavlja usta“, 1978) erschien. Der Titel suggeriert bereits eine Verbindung zur Musik, die im Subtext zahlreicher literarischer Projekte Fabrios existiert, doch darüber hinaus ist die genannte Erzählung gerade durch die darin präsentierte Geschichtsauffassung exemplarisch. Keineswegs zufällig hat Fabrio Dubrovnik als den Handlungsort für seine Erzählung ausgewählt, gehört doch diese Stadt, die in der Vergangenheit phasenweise als Republik existierte, zu den nationalen Mythen Kroatiens. Die Geschichte Dubrovniks, dem unter vielen anderen Marin Držić8 entsprang, wird auf den Kopf gestellt. So wie Manieristen – Maler wie Schriftsteller – mit Verzerrungen spielen, so verzerrt auch Fabrio das allgemein bekannte Bild der Stadt und ihrer Vergangenheit. Statt an die Zeit zu erinnern, als gegen Beginn des 7. Jahrhunderts n.Chr. Awaren und Slawen das antike Epidaurum (heute Cavtat) zerstörten, und statt zu schildern, wie sich die Flüchtlinge auf einer Felseninsel (altgr. laus, woraus sich Rausa, dann die romanische Bezeichnung Ragusium entwickelte) ansiedelten, bedient sich Fabrio der Inversion. Die Geschichte Dubrovniks beginnt bei ihm nicht mit der Siedlungsgründung auf einer Felseninsel, sondern im 20. Jahrhundert, Bratoljub Klaić (1909-83), Sprachwissenschaftler und Lexikograf. „...Only by the form, the pattern, / Can words or music reach / The stillness, as a Chinese jar still / Moves perpetually in its stillness. [...] Or say that the end precedes the beginning, / And the end and the beginning were always there / Before the beginning and after the end. / And all is always now. Words strain, / Crack and sometimes break, under the burden...“ – T. S. Eliot, Four Quartets, 1. Burnt Norton (1945). Übers. v. S.S. Marin Držić (1508-67), Dichter und Komödienschreiber, der sich der kroatischen Volkssprache bediente. Relation 1_2011.indd 63 30.4.2011. 17:53:00 64 als die Stadt ein wichtiger Mittelpunkt mit einer hochentwickelten Hotellerie und regem kulturellen Leben ist. Nachdem Dubrovnik aufgehört hat, ein Teil des jugoslawischen Staates zu sein, fällt es an Österreich-Ungarn, später marschieren Napoleons Truppen ein und unterwerfen die Stadt; Atomenergie wird durch elektrischen Strom abgelöst, dieser wiederum durch Wasserdampf. Die alten Griechen deuteten einst die Zeit als Okeanos, den die Erde und das All umfließenden Weltstrom; in Anlehnung daran, d.h. an die Idee des Kreisens zeigte Fabrio, dass der Anfang sich auch am Ende befinden kann. So wie im alten Rom während der Saturnalien die gesellschaftlichen Rollen umgekehrt wurden und die Herren ihre Sklaven bedienten, so suggeriert dieser kroatische Erzähler mit seiner originellen Intervention, dass die Zeit eine menschliche Fiktion und die Geschichte im Grunde eine Art Farce sei – wenn nicht gar eine Frottola! Die genannte Erzählung will aber keineswegs ein vermeintliches Bedürfnis Fabrios nach Exhibitionismus befriedigen. Fabrio hegt nach wie vor Respekt für Historisches und prüft jedes Detail seiner erfundenen, belletristischen Texte in Quellen nach; diese Novelle jedoch dokumentiert eine neue Einstellung zur Geschichte, die ebenso erfunden, eine Projektion oder ein a posteriori entworfenes Bild ist, das maßgeblich von auferlegten Ideologemen beeinflusst wird. In seinem bekanntesten Roman beschreibt H. G. Wells eine Maschine, mit deren Hilfe Zeitebenen manipuliert werden können und man aus der Gegenwart in Vergangenheit und Zukunft gelangen kann; Joyce war zeit seines Lebens auf der Suche nach dem ‚sid‘ (altirisches Wort für Jenseits), für das die Gesetzmäßigkeiten von Raum und Zeit nicht gelten – während Fabrio 9 RELA Dossier: Zdravko Zima die Zeit mit Geschichte identifizierte, Geschichte mit einer Farce, einer Posse und letztlich mit Wahnsinn, den er durch den Tod enden lässt. Im Roman Einübung des Lebens wird das so erklärt: „Lucian, gehe durch die Stadt, bis du zum Opfer wirst: Dann wirst du, der du bis dahin unbeachtet unter den Sternen wandeltest, deine Naivität auf dem Gitterrost der Geschichte einbüßen. Mit der Erzählung über dich, Lucian, und deine zärtliche, geradezu kindliche Liebe hätte ich sofort beginnen können, aber ich habe den längeren, viel längeren Weg vorgezogen, weil ich fand, dass ich als Erzähler die Pflicht habe, alles zu schildern, was ich über die Blutsbande der Familie weiß, mit der du dich zufällig verknüpfen wirst. Das wird man mir übelnehmen, ich weiß: Die Menschen sind es gewohnt, im Stehen zu essen, hundert Dinge gleichzeitig zu verrichten, sich mit halben Sätzen zu verständigen. Noch mehr wird es sie verärgern, dass ich auf die Geschichte zurückgreife. Ah, wie ist doch die Erzählung ohne sie unterhaltsam und das Erzählen leicht und unverbindlich! Aber nicht ich habe die Geschichte herbeigerufen, nicht ich habe sie erfunden! Sie hat sich doch selbst wie eine vertrocknete Klette, aufdringlich und mich bis aufs Blut zerkratzend, an meine Erzählung geheftet! Wann immer ich mit einer Erzählung anfing, wuchs daraus schnell, wie jene Bohnenranke im Märchen, das Gestrüpp und Unkraut der Geschichte hervor: Nutzlosigkeit, Wahnsinn, Tod. Ist Geschichte denn etwas anderes? Sollte ich das alles selbst erfunden haben?“9 Wenn er auch historische Fakten nicht umgeht, ist Fabrio in seinen Romanen auf die Erforschung von sich wiederholenden Existenz- und Verhaltensmustern konzentriert, in denen die Zeit stillzustehen scheint TIONS und in denen das, was man Historie nennt, in ewige, dem Leser vertraute Gegenwart verwandelt wird. Im Unterschied zum Historiker, den ausschließlich Tatsachen interessieren, bedient sich der Schriftsteller der Fakten im Sinne von Verbrauchsmaterial; im Unterschied zum Ersteren, der die (materielle) Realität erforscht, hinterfragt der Autor die Existenz des Menschen und dessen Aussichten, sich im gegebenen geschichtlichen Augenblick als freies Wesen zu verwirklichen. Insofern ist die Zeit für den Schriftsteller ein unveränderliches Ganzes, die stets gleichbleibende Gegenwart, die eine schmale und kaum vorstellbare Grenzlinie zwischen Erinnerung und Idealzustand impliziert, zwischen einer Welt, die es nicht mehr gibt, und einer solchen, die es immer geben wird! Mag der Erzähler auch mit der Kategorie der Erinnerung rechnen, erweist sich diese doch als unverlässlicher Verbündeter, da ihre Wirkung nach mindestens zwei Seiten hin ausstrahlt. Wie nämlich bereits Kundera irgendwo festgestellt hat, sind wir von der Vergangenheit durch zwei Kräfte getrennt, die blitzschnell und synchronisiert auftreten: Erstere ist das alles auslöschende Vergessen, die zweite ist die Erinnerung, die funktioniert, indem sie Erlebtes in unserem Bewusstsein verwandelt. Da die traditionellen humanistischen Disziplinen beträchtlich in ihren Grundfesten erschüttert oder in neue Paradigmen eingebunden wurden, haben selbst kleine Schulkinder den Glauben an die hehre Geschichte als die Lehrmeisterin des Lebens verloren. Die noch bis gestern als unantastbar geltenden epistemologischen Interpretationen der Positivisten werden durch die These entkräftet, dass die Historie ein literarisches Konstrukt und historische Quellen im Grunde intertextuell seien. Dies besagt in Milutin Nehajev (1880-1931), Autor der kroatischen Moderne. Relation 1_2011.indd 64 30.4.2011. 17:53:00 RELA TIONS der Folge zumindest zweierlei: (1) Tatsachen an sich sind nicht länger ausreichend, und (2) Tatsachen implizieren, so authentisch sie auch wirken mögen, immer auch die Last der Interpretation. Geht man von der These aus, dass historische Quellen apokryph sind oder, im modernen Sprachgebrauch, intertextuell, dann bedeutet das, dass sie Schauplatz von Permutationen sind und teilhaben am Spiel des gegenseitigen Austauschens, das Romanautoren nicht vermeiden können, ebenso wenig Historiker, ihre entfernten, mitunter aber auch nahen Verwandten. Anregend ist es, an dieser Stelle wieder auf Nietzsche zurückzugreifen, der seine Leser aus der Tiefe des 19. Jahrhunderts geradezu beschwörte, nicht an Historiografie zu glauben, sofern diese nicht aus den Köpfen erlesenster Geister hervorgegangen sei! So wie es schwierig ist, Ursprünglichkeit zu bestimmen, so ist Schreiben als Modell intellektuellen Selbst-Bewusstseins stets vom Dis- Relation 1_2011.indd 65 Kolumnen kurs eines anderen geprägt. Für eine neue Einstellung zur Geschichte waren die Werke von Michel Foucault, Roland Barthes und Jacques Derrida Ausschlag gebend, denn diese Autoren widmeten dem Bezug zwischen Freiheit und den bestehenden Machtzentren besondere Aufmerksamkeit. Da die Wirklichkeit von der Sprache gestaltet und transformiert wird (nicht nur die Sprache von der Wirklichkeit), gelangte Hayden White zu der Überzeugung, dass die gesamte Historie eine verbale Fiktion sei. Oder wie wir in Bezug auf Fabrio bereits gesagt haben: Sein Opus ist sowohl Historie als auch Erzählung, ist eine Einübung des Lebens, die vom Pathos nationaler Impostierung zu einer Reihe von Ereignissen überleitet, in denen der Autor, wie einst Walter Benjamin, einzig und allein eine Katastrophe sieht. Baudrillard wiederum negiert das traditionelle Zeitverständnis, das auf der Idee des Endes beruht, und somit negiert er gleichfalls die Idee vom En- 65 de der Geschichte. Im Anschluss an Baudrillard könnten wir sagen, dass nicht nur die Geschichte eine Fiktion ist: Auch die Idee vom Ende der Geschichte ist nichts anderes als eine Fiktion! Es erweist sich, dass Fabrio mit seinen Chronisteria und Prosalabyrinthen als Erbe eines Entwicklungszweigs des historischen Romans auftritt, dem seinerzeit Nehajev21 den Weg geebnet hatte, aber auch als Befolger der geradezu eschatologischen Idee Benjamins, der zufolge „nur der geretteten Menschheit ihre Vergangenheit ganz gehört“. Was bedeutet dies für Fabrios Einübung des Lebens? Dass sich die belletristische und historiografische Wahrheit im Roman zu einer neuen Wirklichkeit verbinden, die in genau dem Maße real ist, als sie der Natur des Romans innewohnt – nicht mehr und nicht weniger. Aus dem Kroatischen übersetzt von Silvia Sladić 30.4.2011. 17:53:00 RELA 66 TIONS Das Leben als Marathon Zdravko Zima G eht man von der Richtigkeit der geradezu abgedroschenen psychoanalytischen Annahme aus, dass die Gründe für das Vorgehen eines Menschen in der Kindheit oder einem weit zurückliegenden früheren Leben zu suchen seien, dann steht ebenso fest, dass Autobiografische Aufzeichnungen („Autobiografski zapisi“, 2000) von Stanko Lasić1 ohne die Kenntnis seiner früheren Arbeiten nicht leicht zu verstehen ist. In diesem Falle bezieht sich das vor allem auf die Studie Konflikte innerhalb der Literarischen Linken („Sukob na književnoj ljevici“, 1970) und die Monografie Krleža, eine Chronologie des Lebens und Schaffens („Krleža, kronologija života i rada“,1982). Im Hinblick auf die Art und Weise, in der Lasić die Frage des Verhältnisses von Kunst und Revolution problematisiert; im Hinblick auf die nachdrückliche Erläuterung von Fakten und die intellektuelle Kompromisslosigkeit, die damals wie heute beispiellos ist, stellt sein Buch Konflikte innerhalb der literarischen Linken einen Meilenstein nicht nur in der Literatur- oder Kulturgeschichte, sondern auch in der politischen Geschichte Kroatiens dar. In jener Zeit, als staatlich protegierte Schriftsteller sich wie unberührbare Heilige 1 in bequemen Sesseln breitmachten, stellte Lasić in den Mittelpunkt seiner Reflexionen den Künstler, der zwar die Freiheit habe, sich einer Ideologie oder einem schöpferischen Abenteuer zu verschreiben, der sich letztendlich aber als Verräter ausweise. Mit seinen hellsichtigen und schonungslosen Analysen griff Lasić in das Wespennest petrifizierter Ideologie, schlug aber auch, was ebenso wichtig ist, die Schleier der Täuschung und Selbsttäuschung auseinander, hinter denen die Künstler ihre privilegierte Stellung oder das, was in der abendländischen Geschichte zumeist als Hofnarrenstatus bezeichnet wurde, zu schützen bemüht waren. Niemand vor Lasić hat je so unmittelbar nachgewiesen, zumindest nicht hierzulande, dass Kunst den Privilegierten vorbehalten ist und dass das Dilemma Shakespeare oder die Wurst für das besitzlose Individuum ein fiktives Dilemma darstellt. Niemand vor ihm hat in so überlegener Weise das totalitäre Bewusstsein der herrschenden Ideokratie denunziert, ohne dabei den Sündenfall des Künstlers zu verschweigen, der sich mit Brotkrumen von der Tafel des Herrschers zufrieden gibt und damit gleichermaßen die Enteigneten als auch seine eigene Kunst verrät, die er ansonsten so vollmundig beschwört. Den ersten Teil seines Buches, in dem er wesentliche Etappen der Konfliktaustragung nicht nur innerhalb der literarischen Linken elaboriert, schließt Lasić mit folgenden Worten ab: „Und wieder haben wir alles, was auch Europa hat. In zweitrangiger Qualität.“ Ich zitiere diese Schlussfolgerung nicht nur, weil sie mich vor fast vier Jahrzehnten wie ein Blitz traf, sondern weil sie trotz der Zeit und den historischen Erschütterungen, die seitdem vergangen sind, heute ebenso zutreffend ist wie damals. Die Tempierung und Rigorosität, die auch die anderen Analysen von Lasić auszeichnen, gehörten mit zu den Gründen, warum ich über Konflikte innerhalb der literarischen Linken noch als Student meine erste Buchbesprechung verfasste, die am 17. März 1971 in Omladinski tjednik erschien (welch ein Zufall, just am Todestag von Matoš). Die Art und Weise, in der Lasić über die Antinomien der Kunst und der Revolution reflektierte, ist für seine übrigen Arbeiten, insbesondere die über Krleža, paradigmatisch. Die Mühen, von denen die Veröffentlichung der Monografie Krleža, eine Chronologie des Lebens und Schaffens begleitet war und die heute so gut Stanko Lasić (1927), Literaturwissenschaftler und Kulturkritiker; lehrte von 1953 bis 1976 an der Abteilung für neuere kroatische Literatur der Philosophischen Fakultät in Zagreb, danach arbeitete er als Lektor und Literaturprofessor an verschiedenen Universitäten in Frankreich und den Niederlanden. Seine Forschungsarbeiten widmen sich vor allem dem Opus von Miroslav Krleža. (Diese und folgende Anmerkungen stammen von der Übersetzerin.) Relation 1_2011.indd 66 30.4.2011. 17:53:00 RELA TIONS wie vergessen sind, sind symptomatisch für die Zeit, in der ideologische Unberührbarkeit auch Schriftsteller mit einbezog, die ebenso unberührbar waren. Das Buch ist wichtig, weil es einerseits naiv wäre zu glauben, dass solche Praktiken hinter uns liegen, andererseits hat Lasić darin dargelegt, dass die Dimensionen eines Schriftstellers daran gemessen werden, wie viel Strenge in der Beurteilung sein Werk ertragen kann. Im Unterschied zu Autoren, die zu jeder Art von Konzession bereit sind und jegliche Eingriffe vonseiten des Redakteurs bereitwillig hinnehmen, mag es sich auch um Eingriffe handeln, die weniger mit dem Geschriebenen zu tun haben, umso mehr aber mit dem Bedürfnis zu zensurieren, hat Lasić in seinen Manuskripten keine einzige Zeile ändern lassen. Ein Vierteljahrhundert später erweist sich dies als gleichermaßen produktiv für den Forscher und sein erforschtes „Opfer“. Trotz der Fülle an Fachliteratur über Krleža war Lasić der Erste, der in seiner Studie die Bedeutung des Jahres 1945 hervorhob. Bereits in der Zeit der Balkankriege und des Ersten Weltkriegs hatte Krleža begriffen, dass Freiheit unteilbar ist; nach der Niederlage des Faschismus jedoch hatte er keine ebenbürtigen Gesprächspartner mehr, nicht nur wegen seiner geistigen Überlegenheit, sondern weil er immer offensichtlicher ins Monologisieren verfiel, wie es beatifizierten Größen eigen ist. Lasić unterbrach mit seinem Buch die „krankhafte Einstimmigkeit“, mit der ein lebender Schriftsteller zum Monument erhoben wurde, vor dem man auf die Knie fiel und geradezu religiöse Lobreden aussprach. Lasić bewies klar und deutlich, dass es zwischen dem Schriftsteller und dem Machthaber kein idyllisches Vehältnis geben kann; nicht dass der Schriftsteller auf ewig eingekerkert sein müsste, doch ist der Maßstab Relation 1_2011.indd 67 Kolumnen des Ersteren das Absolute, der des Machthabers das Relative, und Literatur ist in ihrer Substanzialität die Negation jeglicher Herrschaftsform. Krleža hatte, gemäß den Worten seines authentischsten und konsequentesten Kritikers, das Unglück, nach 1945 ausschließlich apologetisch beurteilt zu werden, womit die eine oder andere Eitelkeit vielleicht befriedigt war, doch langfristig hat man Krleža wie auch der kroatischen Literatur insgesamt damit großen Schaden zugefügt. Dem aufmerksameren Leser der Autobiografischen Aufzeichnungen wird kaum entgehen, dass Lasić mit derselben Strenge, die er bei der sorgfältigen Zergliederung von Krležas Texten anwandte, gegen sich selbst vorging. Obwohl er ausführlich seinen eigenen Lebensweg rekapitulierte, sich dabei an seine Eltern, seine Familie und Freunde, seine Geburtsstadt Karlovac, den Stadtteil Gaza und so weiter erinnerte, ist das Besondere an Lasićs Autobiografie, dass der Verfasser in diesem Prozess des Enthüllens bemüht ist, zu sich selbst vorzudringen. Wenn es stimmt, dass das Panorama Europas schon seit zweitausend Jahren von Heiden beherrscht wird, die sich in christliche Kutten vermummt über den Kontinent ergießen; dass der Archtetypus des einmaligen und androgynen Christus in der Tiefe der menschlichen Seele verborgen liegt wie eine auf dem Meeresgrund ruhende wertvolle Perle, dann lassen sich daraus bestimmte Schlüsse über Lasić ableiten. Zumindest hinsichtlich seines Ehrgeizes, in den späten Jahren seiner bürgerlichen Existenz, als seine äußerst untypische Karriere als Universitätsprofessor hinter ihm lag, zu seinem eigenen Archetypus vorzudringen. Im häuslichen Umfeld dieses Literaturhistorikers und Krležianers, der Hegels Opus zu seinem Gebetbuch erhoben hat und der mit den Klassikern der Literatur wie mit seinen allernächsten Angehöri- 67 gen kommuniziert, gewinnt man den Eindruck, eine intellektuelle Neugier verkörpert zu sehen, die das Leben als Marathon auffasst. Am verblüffendsten dabei ist, dass Lasić sich im Tempo des Sprinters auf diesen Marathon eingelassen hat! Seine Introspektion vor den Augen der Öffentlichkeit ausführend, erklärt Lasić, dass er in verschiedenen Lebensetappen von verschiedenen Imperativen vorangetrieben worden sei, doch habe im Hintergrund stets das Bedürfnis nach Freiheit gestanden. Dieses Bedürfnis hat er mit der Formel eines in Hegels Hermeneutik begründeten ontologischen Strukturalismus auf den Punkt gebracht. Jede Autobiografie evoziert letztendlich die Bekenntnisse (lat. Confessiones) des Augustinus, die um das Jahr 400 entstanden und für dieses Genre paradigmatisch sind. Manch einer wird sagen, dass sich der Lebensweg des römischen Theologen und Heiligen und der des Literaturhistorikers und -theoretikers aus Zagreb in vielerlei Hinsicht unterscheiden oder schwer miteinander zu vergleichen sind, doch das ist nur ein oberflächlicher Eindruck. Im zweiten Buch seiner Bekenntnisse beschreibt Augustinus seine von Leidenschaften und Sünden beherrschte Jugend; Lasić wiederum identifiziert die Zeit seines jugendlichen Heranreifens mit „fundamentalistischem Fanatismus“ oder „kommunistischer Religiosität“ und erläutert, dies seien Zeiten von größter und kaum vorstellbarer Intensität gewesen, die nachhaltig die Weichen seines Lebensweges gestellt hätten. So wie Augustinus sich in seiner Jugend schwer mit Sünden belud, so lavierte Lasić in der Zeit der kommunistischen Explosion auf der schmalen Grenzlinie zwischen Gerechtigkeit und Verbrechen. Dass Letzteres nicht eintrat, konnte er der Vorsehung oder seiner Mutter verdanken, die befürchtete, ihr Sohn würde wegen seines unzähmbaren 30.4.2011. 17:53:00 68 Temperaments eines Tages am Galgen enden. Der Theologe aus Rom wiederum war in der Jugend einer manichäischen Sekte beigetreten und später zum katholischen Glauben übergegangen; wer sich ein bisschen in Lasićs Schriften auskennt, wird darin dieselbe, fast manichäische Aufspaltung in Gut und Böse erkennen, jene Aufteilung oder Dichotomie, die sich aus dem dringenden Bedürfnis nach Totalität herleitet. Die These, dass Augustinus mit der Entschlossenheit seines Glaubenswechsels des Leser zur Häresie verleite, ist mutatis mutandis auch auf Lasić anwendbar. Eine weitere, auf den ersten Blick nebensächliche Koinzidenz ist ebenfalls sehr interessant: Sowohl der Konvertit aus Rom als auch der Krležianer aus Zagreb erwähnen die Mutter mit größter Zärtlichkeit. Im neunten Buch seiner Bekenntnisse beschreibt Augustinus die Trauer, die ihn nach dem Tod der Mutter Monica befallen habe; Lasić demonstriert in den Autobiografischen Aufzeichnungen seine notorische Offenheit, ja Kritik, die er gegen nahe und entfernte Verwandte gleichermaßen richtet, gegen geringere und größere geistige Autoritäten, gegen alle und gegen sich selbst, nicht aber gegen seine Mutter Nada, die er mit einem fast übernatürlichen Nimbus von Verständnisinnigkeit und bedingungsloser Solidarität umgibt. Pasolini, dem seine Landsleute einst vorwarfen, vom Glauben abgefallen zu sein, bestätigte dies und fügte hinzu, dass er aus tiefer Sehnsucht nach dem Glauben ungläubig geworden sei. Zweifellos würde auch Lasić diesen Satz unterschreiben; sein italienischer Gegenpart, der zwischen Kommunismus und (A-)Theismus hin- und herschwankte und dabei nach Transhumanisierung strebte, war zeit seines unglückseligen Lebens seiner Mutter Susanna widerspruchslos ergeben. Von der Tiefe dieses Verhältnisses zeugt gewisser- Relation 1_2011.indd 68 RELA Dossier: Zdravko Zima maßen auch der Umstand, dass im Film „Das 1. Evangelium – Matthäus“ die Rolle der Muttergottes von Pasolinis Mutter selbst gespielt wird; Lasić wiederum bringt im Kapitel „Ideen und Krieg“ unverhohlen seine große Bewunderung für diesen Film zum Ausdruck. Nach Confessiones von Augustinus ist das nächste große Werk dieser Art Rousseaus Autobiografie Die Bekenntnisse („Les Confessions“, 1782 und 1789), obwohl in unserer Zeit dieses Genre immer weniger als eigenständige literarische Gattung betrachtet wird. Bestimmte Literaturwissenschaftler neigen dazu, autobiografische Texte und Memoiren demselben Rang zuzuordnen, doch – mag es auch wie ein Witz klingen – einig ist man sich lediglich darin, dass selten jemand in irgendeiner Hinsicht die Meinung eines anderen teilt. In Anlehnung an Wilhelm Dilthey könnte man sagen, dass die Autobiografie darin besteht, historisches Geschehen in persönliche Geschichte und persönliche Bekenntnisse umzukanalisieren, sie führt zur Enthüllung der eigenen Person, um eo ipso den anderen zu enthüllen; diese Definition dürfte, ungeachtet ihrer Eingeschränktheit, den Bestrebungen Lasićs mit großer Wahrscheinlichkeit am nächsten stehen und überwiegend mit ihnen übereinstimmen. Kehren wir zu der bereits apostrophierten These zurück, der zufolge Lasić die Strenge, mit der er Krležas Texte analysiserte, auch dann walten ließ, wenn er mit sich selbst ins Gericht ging. Inwiefern ist das richtig? In den ersten Kapiteln seines Buches beschreibt Lasić verschiedene Mitglieder seiner Familie und konzentriert sich besonders auf seinen Onkel Ivo, der in vielerlei Hinsicht sein krasses Gegenstück war. Der Onkel war die Faulheit in Person, eine Mischung aus Stoizismus und Epikureismus, ein Mensch, dem jegliche Autorität zuwider, jeg- TIONS liche Obrigkeit verhasst war. Demgegenüber hegte unser (Auto-)Biograf den Kult der Arbeit fast bis zum Paroxismus, war nie immun gegen ideologische und ähnliche Herausforderungen und wurde in jungen Jahren, wie er freimütig bekannte, „fanatisches Mitglied der Kommunistischen Partei“. Jedes bona fide geäußerte Bekenntnis hat stets eine zweifache Wirkung. Einerseits ergänzt es das Bild desjenigen, der seine Geschichte rückstandslos rekapituliert, andererseits mindert es die Last eingestandener Sünden (sofern die Mitgliedschaft in einer Partei als Sünde betrachtet werden kann). Mit der Erfahrung des 20. Jahrhunderts kann der Leser in einigen Positionen des Autors Spuren des Sartre’schen Existenzialismus sowie der einst herrschenden Forderung nach engagierter Literatur erkennen, doch Lasićs Curriculum zeigt ganz klar, dass er seit seiner frühen Jugend mit einem tief verwurzelten sozialen Instinkt ausgestattet war. Dies mag ihn das eine oder andere Mal an den Rand des Abgrunds gebracht haben, in Situationen, die heute schwer vorstellbar sind, andererseits aber vermittelte ihm die Solidarität mit den Unterdrückten eine tragische Erlebnisfähigkeit, mit der Intellektuelle in ihren Elfenbeintürmen beileibe nicht immer rechnen können. Die Dichotomie seines Bewusstseins, als Konsequenz seiner eigenen Veranlagung, aber auch seines intellektuellens Reifens und des Bedürfnisses nach stetigem Wachstum, erlebte in der kommunistischen Frühphase ihren Höhepunkt. Dem Kommunismus fühlte er sich durch seinen sozialen Instinkt und seine Solidarität mit den Unterdrückten fest verbunden, geriet dann jedoch in eine Sackgasse, als er einsah, dass er sich gerade durch die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei immer offenkundiger von den erträumten Idealen entfernte. Zu dieser Erkenntnis gelangte er 30.4.2011. 17:53:00 RELA TIONS 1947, lange vor der Resolution des Informbüros2 und dem traumatischen Bruch mit Stalin; der Partei kehrte er nach Karađorđevo3 endgültig den Rücken, verbrannte seine Notizen und sicherte sich ab, wie ein Inquisitor, der, wenn nicht schon den Urheber, so doch sein Werk vernichtet. Wie sehr Lasić in seiner absoluten Leidenschaftlichkeit Pasolini nahesteht, enthüllt ein auf den ersten Blick unwichtiges Detail aus dem Kapitel „Moral und Politik“. Der Verfasser erinnert sich an die Zeit, als er unwiderruflich aus der Kommunistischen Partei austrat und ihm klar wurde, dass dies den Abschied von seiner bisherigen Welt bedeutete; ihm war ebenso bewusst, dass ihm das Schicksal des Überall- und Nirgendwoseins beschieden und er ein Pendler war, „geradeso wie ein Zug, ständig abfahrend, ständig ankommend“. Er ruft sich die unzähligen Reisen zwischen Zagreb und Paris in Erinnerung und konstatiert jenseits aller intellektuellen Pose, dass er gerade während dieser langen Bahnfahrten seinen dünkelhaften Stolz ablegte und nicht länger glaubte, Arbeitern aus der Herzegowina oder dem Kosovo, die im reichen Europa ihren Unterhalt verdienten, überlegen zu sein. In diesem Punkt erinnert Lasić sehr stark an Pasolini, zumal beide das Bedürfnis nach Reinheit hatten und mit ihren Interpretationen des (Ur-)Kommunismus bzw. des (Ur-) Christentums im eigenen Land weniger Berührungspunkte fanden als in Lateinamerika, als mit der Befreiungstheologie und den neuen ekklesiologischen Ansätzen, die seit Jahrzehnten auf diesem Kontinent umgesetzt werden. Wenn er seine Haltung und Schritte als Mitglied der kommunistischen 2 3 Kolumnen Bewegung analysiert, kommt Lasić freimütig zu dem Schluss, dass er sich schwerer Vergehen schuldig gemacht habe, obwohl er sich in jenen Momenten wie ein Gerechter vorgekommen sei. Dies sei aber der Fluch totalitärer Pragmatik, die infolge ihrer Totalität allen Schmutz mit einem goldenen Nimbus umgebe. Der fatale Charakter fanatischen Verhaltens offenbare sich in der unerschütterlichen Überzeugung des Handelnden, im gegebenen geschichtlichen Augenblick nicht nur das Richtige zu tun, sondern eine mit nichts zu entgeltende Mission höheren Ranges zu erfüllen. Auch Lasić scheut sich nicht einzugestehen, dass er sein Gewissen engelhaft rein glaubte, als er verschiedentlich ideologisch dirigierte Schritte unternahm, die etwa den Ausschluss wahllos betroffener Klassenkameraden aus dem Gymnasium zur Folge hatten. Er gesteht ohne Umschweife, dass er sich 1948 für Tito entschied, obwohl ihm damals schon klar gewesen sei, dass der Titoismus nur die jugoslawische Spielart des Stalinismus war. Es bedarf keiner übertriebenen Weitsichtigkeit, um zu erkennen, dass die lautstärksten Angriffe auf Lasićs ehemaligen Totalitarismus aus der Ecke eifriger Proselyten kommen, die weit davon entfernt sind, ihren eigenen Totalitarismus rezenteren Ursprungs aufzugeben, und denen am meisten zu verdanken ist, dass die (kroatische) Geschichte im Allgemeinen wie im Besonderen so unwiderstehlich an die Bewegungen eines Hamster im Laufrad erinnert. Wenn Lasić behauptet, in jungen Jahren ein Russe gewesen zu sein, so spielt er auf die Unbeugsamkeit seiner Überzeugungen an, die ihn päpstlicher als der Papst sein ließen; und wenn er schreibt, dass er 69 sicherlich in Schwierigkeiten geraten wäre, hätte er sich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in Moskau aufgehalten, so ist damit die Tragweite eines totalitären und verabsolutierenden Bewusstseins gemeint, das für den Menschen einerseits die größte Herausforderung darstellen, andererseits aber auch größte Gefahren für ihn bergen kann. Um das (Selbst-) Porträt Lasićs so gut wie möglich zu vervollständigen, wollen wir eine Episode aus dem Jahr 1956 erwähnen, als er sich mit seinem Kollegen und Freund Jure Kaštelan in Paris aufhielt. Michel Aubin hatte versprochen, ihnen die Stadt zu zeigen, und während Kaštelan die Sacré-Cœur und das Museum für zeitgenössische Kunst als Prioritäten anführte, bestand Lasić darauf, die Cour des Adieux in Fontainebleau und Meissoniers Gemälde „Napoleons Frankreichfeldzug 1814“ im Louvre zu sehen. Lasićs Auswahl hatte aber nicht nur mit Vorliebe für Historisches zu tun; lakonisch gibt der Autor zu verstehen, dass ihm selbst heute Napoleon nicht gleichgültig sei, und beruft sich auf den oft zitierten Cioran, der sagte, die Anziehungskraft eines Geistes liege in der Diskrepanz zwischen seinen Standpunkten und seinen Neigungen verborgen. Unterm Strich letztendlich darf man die These Lasićs nicht außer Acht lassen, dass er vom nationalistischen Rausch verschont geblieben sei, weil er sich dem mythischen Bewusstsein verweigert habe. Dies habe er sehr früh begriffen, bereits nach dem Attentat auf König Alexander I. in Marseille, als er die Bestie Volk und Nation erkannte und als Siebenjähriger diese Gefahr zu fürchten begann wie der Teufel das Weihwasser. Canettis Geständnis aus dem ersten Teil sei- Informbüro: Informationsbüro der Kommunistischen und Arbeiterparteien [Frankreichs, Italiens, Polens, der UdSSR, Ungarns und Jugoslawiens], gegründet 1947 mit Sitz in Belgrad. 1948 folgte der Ausschluss der jugoslawischen KP und der dauerhafte Bruch Titos mit Stalin. Sitzung des Exekutivausschusses des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens am 30. November und 1. Dezember 1971: Gewaltsame Beendung des Kroatischen Frühlings mit Rücktritten und Inhaftierungen vormals angesehener Parteimitglieder, die die Forderungen der kroatischen Nationalbewegung unterstützt hatten. Relation 1_2011.indd 69 30.4.2011. 17:53:00 70 ner Autobiografie Die gerettete Zunge (1977), er wäre um ein Haar in der Kindheit zum Mörder geworden, wird auch von Lasić explizit angeführt mit der selbstverständlichen Voraussetzung, dass jeder ein Universum für sich ist und sich trotzdem, im verschlungenen Gefüge seiner Besonderheiten und existenzialen Unvorhersehbarkeit, stets im anderen wiedererkennt. Es ist schwer vorstellbar, dass ein so offener und kompromissloser Geist, der auf seiner Suche nach dem Absoluten einen weiten Bogen vom Griff nach den Sternen hinunter in seichten Morast beschrieben hat; der selbst vor Monumenten wie Krleža nicht zurückschreckte und letztlich erbarmungslos mit sich selbst abrechnete, den Blick von den heutigen Ereignissen in Kroatien abwenden könnte. Auf den letzten Seiten seiner Autobiografie findet der Leser eine Reihe rhetorischer Fragen, die jeder auf seine Weise verstehen wird, die aber auch zeigen, dass es mit Lasićs intellektuellem Habitus unvereinbar ist, sich mit den gegenwärtigen Zuständen abzufinden, mögen sie auch in das Argument der Eigenstaatlichkeit gehüllt sein. Wäre es anders, würde Lasić nicht nur Kroatien preisgeben, sondern auch sich selbst und all das, was er in den langen Jahren als Universitätsprofessor und Autor geschaffen und wofür er sich eingesetzt hat. An der Schwelle zum industriellen Kapitalismus und militanten Klerikalismus hatte Nietzsche gejubelt: Gott ist tot! und somit den Zerfall aller Werte diagnostiziert; zu Beginn des 20. Jahrhunderts erklärte Julien Benda, die Intellektuellen hätten die universalen Ideale verraten, als sie sich dem Sirenenruf der Nation untergeordnet und die Moral des Universalismus als „unpraktisch“ verworfen hätten; Anfang des 21. Jahrhunderts Relation 1_2011.indd 70 RELA Dossier: Zdravko Zima legitimiert ein kroatischer Literaturwissenschaftler seinen Krležianismus als Auflehnung gegen die Mystifizierung von Staat und Volk, die auf phänomenologischer Ebene stets mehr oder minder starke faschistische Ausprägungen annimmt. Unwillkürlich muss man da an Cioran denken, Zeitgenosse Lasićs und ebenfalls ein Einzelgänger, der sich vom Balkan nach Paris gerettet hatte und der zu dem Schluss gekommen war, dass er sein deshalb Land liebe, weil es seine Erwartungen nicht erfüllt habe! Eine solche oder ähnliche Konstatation wird auch durch Lasićs Schicksal bestätigt, doch darüber hinaus weisen die Biografien des französischen Philosophen und des kroatischen Wissenschaftlers weitere verblüffende Ähnlichkeiten auf; dies umso mehr als Cioran in seiner frühen Jugend, als er noch in Bukarest lebte, ein glühender Nationalist war. Dies ist in seinem Buch Schimbarea la faţă a României (Die Verklärung Rumäniens) aus dem Jahr 1937 nachzulesen, auf das Pierre-Yves Boissau seinen Versuch stützte, alle reifen Leistungen Ciorans aus der Zeit seiner französischen Phase abzuleugnen. Neue Illusionen sind an die Stelle alter gerückt, die Klasse wurde von der Nation verdrängt, die Vorfälle in Ahmići, Pakračka Poljana, Gospić und andere düstere Kapitel unserer jüngeren Geschichte sind ausreichend erhellt und resümiert worden, um davon ausgehen zu können, dass Lasić eine Aufnahme in die Kroatische Akademie der Wissenschaften und Künste ausschlüge, welbst wenn sie ihm angeboten würde. Lasić glaubt nicht an Staaten, gleich welches Vorzeichen sie tragen. Ebenso wenig lässt er sich von ausgerollten roten Teppichen oder sinnentleertem protokollarischen Zeremoniell beeindrucken, die mit den in- TIONS tellektuellen Pflichten und der asketischen Strenge des Forschers wenig gemein haben. Chauchards These vom Menschen als einem bewussten und rationalen Wesen, das seine Freiheit nicht als Fatalität auffasst, sondern als ständige und niemals zu vernachlässigende Pflicht, hat kaum jemand in der jüngeren kroatischen Literaturgeschichte so ernst genommen wie Lasić. Seine Autobiografie hat Seltenheitswert, da sie als Selbstzeugnis Auskunft gibt über Ideale, aber auch Irrtümer, Kompromisse und Niederlagen, die der Verfasser mit einer schonungslosen Offenheit beschreibt, die in der Geschichte der kroatischen Publizistik kaum ihresgleichen hat. An einer Stelle hält Lasić fest, ihm sei die Rolle eines schwarzen Engels zugefallen zu einer Zeit, in der er an der Richtigkeit seiner Schritte nicht gezweifelt habe, und deswegen habe er ein reines Gewissen gehabt. Schuldgefühle habe er früher dank seinem zelotischen Eifer abgewehrt; die paradoxe Wirkung der autobiografischen Wiederaufbereitung ermögliche ihm nun, diese Reinheit mittels seiner Bekenntnisse gewissermaßen wiederzuerlangen. Die in seinem Projekt Krleža erbrachte Leistung gilt also auch für die Autobiografischen Aufzeichnungen Lasićs, in denen der Autor zugleich sich selbst näherkommt und wieder von sich entfernt. Mit Paul de Mans Worten: Dies beweist einmal mehr, dass die Literatur dazu verurteilt ist oder aber das Privileg hat, die strengste, aber auch die unzuverlässigste Sprache zu bleiben, die den Menschen beschreibt oder ihn (wandelnd) formt. Aus dem Kroatischen übersetzt von Silvia Sladić 30.4.2011. 17:53:00 RELA TIONS 71 Mysterium des Todes in Desnicas Prosawerk Zdravko Zima D ie Einstellung des Menschen zum Tod ist jeweils zeitgebunden. Nach Darstellung Huizingas waren im Mittelalter die Stände an ihrer jeweiligen Tracht zu erkennen, und man darf annehmen, dass die Unterschiede zwischen Freude und Schmerz, Glück und Trauer offener zutage traten als heute. Im Frühmittelalter empfand man den Tod als etwas Vertrautes und Selbstverständliches. Der Einzelne fügte sich diesem Naturgesetz und belastete sich damit noch nicht in der Art, wie sie später zur gesellschaftlichen Konvention werden sollte. Der französische Historiker Philippe Ariès reaktualisierte den Fall des Pariser Bischofs Agilbert, der 680 in einer Kapelle beigesetzt wurde, welche er in der Nähe des Klosters von Jouarre hatte erbauen lassen. Der Deckel des Sarkophags mit den sterblichen Überresten des Bischofs zeigt den am Ende der Zeiten wiederkehrenden Christus. Die Auserwählten erwarten stehend und mit zum Himmel gereckten Armen ihren Herrn, der das Buch des Lebens in den Händen hält. Das Sarkophagrelief entspricht der Eschatologie der urchristlichen Vorstellung: Gott richtet weder, noch urteilt er, während die Verstorbenen, entschlummert wie die Sieben Schläfer von Ephesus, ruhen, bis sie im himmlischen Jerusalem beziehungs- Relation 1_2011.indd 71 weise im Paradies wiedererwachen. Noch musste niemand für seine Sünden bezahlen, ebenso wenig wurde man belohnt für im Diesseits vollbrachte gute Taten. Ab dem 12. Jahrhundert änderten sich allerdings die Aussichten. Auf den Bogenfeldern romanischer Kirchenportale dominierte zwar weiterhin die Gestalt Christi, doch traten vermehrt neue ikonografische Elemente hinzu, angeregt durch das Matthäus-Evangelium, das Motiv der Wiederauferstehung und die Notwendigkeit, die Gerechten von den zu ewigen Qualen Verdammten zu trennen. Nach dem 16. Jahrhundert verbinden sich diese gespenstischen Jenseitsdarstellungen immer mehr mit erotischen Szenen, Thanatos und Eros rücken einander näher und dokumentieren auf geradezu genüssliche Weise die Ankündigung von Leiden, Qualen und Tod – Szenen, die auch dem Menschen des dritten Jahrtausends keineswegs fremd sind. Man erinnere sich nur an die Skulptur der hl. Theresa von Lorenzo Bernini: Wenn der größte Meister der barocken Bildhauerkunst die mystische Verbindung der spanischen Heiligen zum Allmächtigen in Materie bannt, identifiziert er bewusst oder unbewusst den Zustand der Agonie und der Wollust. Die Schauerliteratur derselben Epoche führt einen jungen Mönch und ein junges, später durch ihn getötetes Mädchen zusammen und verweist zumindest indirekt auf die Möglichkeit, den Akt des Sterbens wie auch den Geschlechtsakt als Vergehen zu deuten. Im Übrigen offenbaren auch die Werke des Marquis de Sade in ihrem Paroxysmus, dass Sexualität und Tod ostentative Formen von Überschreitung oder Vernichtung sind, die in ihrer Totalität keine Grenzen haben. Viele Details und rituelle Praktiken erinnern uns heute an Zeiten, in denen der Tod geradezu feierlich erwartet wurde; in den Büchern Lamartines, der Schwestern Brontë und Mark Twains hatte der Tod eine romantische Aura. Danach war die Ars moriendi erneut Veränderungen unterworfen. Jahrhundertelang waren die Toten im Einflussbereich der Kirche gewesen, der man den Vorwurf machte, sie kümmere sich lediglich um die Seele, nicht aber um den Leib des Verstorbenen. Die Angst vor Seuchen durch überfüllte Leichenhöfe trug zur Entwicklung eines Totenkults und zum Anlegen von Begräbnisplätzen bei, mit denen der Mensch seine Anwesenheit im Jenseits markierte. Eine der schönsten Dichtungen über Grabmäler stammt vom Beginn des 19. Jahrhunderts aus der Feder des italienischen Dichters Ugo Foscolo (Dei sepolcri), der einen Teil 30.4.2011. 17:53:00 72 seiner Kindheit in Split verbrachte. Danach trat Stille ein, die vor allem im 20. Jahrhundert immer schwerer auf den letzten Augenblicken des irdischen Menschenlebens lastete und so verriet, dass der Tod als unberechenbare und geheimnisvolle Macht erlebt wurde. Aus dem häuslichen und intimen Umfeld wurde er in die Krankenhäuser verbannt; er ist allgegenwärtig, aber unverständlicher und unbezwingbarer denn je. Sterben war nie eine leichte Angelegenheit, kein Zweifel, aber in Zeiten immer dürftigerer oder rein äußerlicher Religiosität, die in der mechanischen Nachahmung tradierter Rituale besteht, stellt der in Agonie befindliche Mensch ein wirr faselndes Häufchen Elend dar, das kaum jemanden interessiert. Welchen Stellenwert hat vor diesem Hintergrund das Erbe Vladan Desnicas, der wie selten ein Autor der kroatischen Literatur derart seine Besessenheit mit dem Tod belletrisiert hat? Gemäß der Allgegenwärtigkeit dieses Gefühls, gemäß der unablässigen und geradezu obsessiven Auseinandersetzung mit der Todesangst, die im Spruch Memento mori auf den Punkt gebracht wurde, steht Desnica auf gleicher Höhe mit Sudeta und A. B. Šimić,1 wenn auch diese Autoren ihre makabren Vorahnungen in Versen äußerten. Desnicas ästhetische Positionen wurden größtenteils von Benedetto Croce beeinflusst, zumal hinsichtlich der Auffassung, dass die Intuition eine Form der Erkenntnis sei; mit dem berühmten Ästhetiker und dessen Adepten Lionello Venturi verbindet ihn innigstes Einverständnis (im Übrigen übersetzte er Texte beider Autoren ins Kroatische). Seine Makabristik könnte man aber ebenso gut und aus vielerlei Gründen mit Unamuno und dessen Werk Das tragische Lebensgefühl in Verbindung 1 RELA Dossier: Zdravko Zima bringen. Alle Sätze des Philosophen aus Salamanca über das menschliche Wesen, das sich nicht vorstellen kann, nicht zu existieren, das sich selbst nicht als nicht-existente Entität denken kann; sämtliche Beobachtungen über die Stunde des Todes, über Theismus und Atheismus oder den eitlen Wunsch nach Unsterblichkeit sind in irgendeiner Weise auf den Seiten von Desnicas Prosawerk enthalten. Unamuno vertrat die Ansicht, dass der Tod eine Sphinx sei, der man direkt ins Antlitz blicken müsse, um die verhexende Wirkung ihres Blickes zu neutralisieren. Auf dieselbe Weise verfuhr Desnica in seinen Schriften, genauer: Er war ein Künstler, der dem Tod unverhohlen ins Gesicht blickte, der ihn Tag und Nacht um sich herum ahnte, der ihn selbst dann im Nacken sitzen spürte, wenn er ihm auch nur für einen Augenblick den Rücken kehrte. Am einfachsten wäre es zu sagen, dass der Schriftsteller Desnica seinen Tod, seinen Exitus lebte, der, wie jedes menschliche Ableben, identisch ist mit dem Ende der Welt. Der Tod als Leitmotiv offenbart sich in vielen seiner Werke, am ausgeprägtesten jedoch in seinem Roman Der Frühling des Ivan Galeb („Proljeća Ivana Galeba“, 1957) und in dem unvollendet gebliebenen, posthum erschienenen Roman Die Entdeckung des Athanatikums („Pronalazak Athanatika“, 1957). Obwohl er in unterschiedlichen literarischen Gattungen hervortrat, etwa als Erzähler, Dichter, Essayist, Verfasser von Dramen, Theaterkritiken, Feuilletons und dem Drehbuch für Belans „Konzert“, besteht kein Zweifel darüber, dass Der Frühling des Ivan Galeb die Krönung seines Opus darstellt. Nicht nur weil er mehr als zwanzig Jahre an dem Buch schrieb, sondern weil dieser Roman Themen widerspiegelt, die TIONS den Autor am meisten beschäftigten: vornehmlich die eigene Kindheit, die Idee des Schönen, Religion, die Romankunst sowie die bereits apostrophierte Todesobsession. In seinen Betrachtungen über Desnicas Schaffen und insbesondere den Roman Der Frühling des Ivan Galeb unterstreicht Krešimir Nemec, dass dieser Roman in seiner Grundstruktur ein Monolog des Protagonisten sei, der verschiedene Themen in Opposition zueinander reflektiere. Die vorherrschenden Kontrastpaare sind Frühling und Tod, Licht und Dunkel, Freud und Leid, Endlichkeit und Unendlichkeit. Das Prinzip der Polarität und das gegenseitige dialektische Ineinandergreifen von Unterschieden ist tief in der Denkweise des Autors verankert, mithin auch in seinem literarischen Alter Ego Ivan Galeb. Trotz seiner kritischen Einstellung zu den Religionen, zumal ihrer Institutionalisierung, präsentiert sich der Romanheld als Befürworter des Mazdaismus, des Glaubens der alten Iranier, in dem die Welt in unablässiger Konfrontation von Gut und Böse erlebt wird. Eine entsprechende Schlussfolgerung bietet sich schon im zweiten Romankapitel an. Ivan Galeb, der im Krankenhaus liegt, rekapituliert seine Lebensgeschichte und wendet sich in der ich-Form an den Leser: „Ich kann sagen, dass ich meine Kindheit auf diesem Flur verbracht habe, in dem sich ein ewiger Kampf zwischen Ahriman und Ahura Mazda abspielte. Daraus ist mir vielleicht auch fürs ganze Leben diese ewige Aufgespaltenheit zurückgeblieben, diese grundlegende Aufteilung aller Dinge im Leben und in der Welt in einen Bereich des Lichts und einen Bereich des Dunkels. Daher auch meine Unfähigkeit, das Gute, das Schöne, Freude, Harmonie begrifflich zu fassen, ohne sie mir Đuro Sudeta (1903-27) und Antun Branko Šimić (1898-1925), frühvollendete Autoren, die v.a. als Dichter hervortraten. (Diese und folgende Anmerkungen stammen von der Übersetzerin.) Relation 1_2011.indd 72 30.4.2011. 17:53:00 RELA TIONS vergegenwärtigen zu müssen, sondern einzig und allein als Offenbarungen des Lichts; und umgekehrt, alles Traurige und Abstoßende, alles Tote und Kalte als vom Dunkel überschattet. Demnach können auch unsere Gedanken sonnig oder überschattet sein.“ Oder weiter unten im selben Kapitel: „Ich denke sogar, dass das Leben auf diesem Wechselspiel beruht, dass dieser Wechsel von Lichtflecken und Schatten die Hebungen und Senkungen unseres Lebensatems, die Systole und Diastole unseres lebendigen Herzens ausmacht. Und werfe ich einen Blick zurück auf mein Leben, so erscheint es mir wie eine schimmernde und unruhige Fläche, bestehend aus kleinen Flecken von Licht und Dunkel.“ An vielen Stellen nimmt der Schriftsteller Bezug zur Kindheit und zu kindlichen Fantasien, selbst wenn er über den Tod reflektiert, und erweist sich als dualistischer Denker oder „Dichter mit projektiver Fantasie“, eine Eigenschaft, die auch Bachelard zugeschrieben wurde. Gerade dieser französische Philosoph hat einige seiner anregendsten Seiten der Einsamkeit in der Kindheit gewidmet, welche im Menschen tiefste und nachhaltigste Spuren hinterlasse; gerade Bachelard berief sich auf den Kindheitskern, der in der Seele funktioniere wie das Herz im Körper. Dieser Kern stehe außerhalb des historischen Geschehens, sei aber sehr wohl wirksam. Desnicas Roman ist in seiner Struktur ein glückliches Zusammenwirken zwischen der kindlichen Vorstellungskraft und den weisen Reflexionen des Romanhelden, der, ans Krankenhausbett gefesselt, sein Leben rekapituliert. Der bereits erwähnte, auch für Desnica so charakteristische Grundsatz des Gegenüberstellens ist auch in dem Romantitel Sommerferien im Winter („Zimsko ljetovanje“) zu erkennen. Während sich hinter diesem Oxymoron eine untypische Ge- Relation 1_2011.indd 73 Kolumnen schichte über die typische und schwer zu überwindende Dichotomie DorfStadt verbirgt, beruht Der Frühling des Ivan Galeb auf einer Ästhetik der Digressivität und ist wie ein Mosaik angelegt, in dem jedes Steinchen als gesonderter Essay, aber auch als Bestandteil des gesamten Mosaiks funktioniert. Und hat schließlich nicht auch die große Mystikerin und Revolutionärin Simone Weil gezeigt, dass der Mensch Bestandteil eines Ganzen ist und dieses Ganze nachahmen muss, und hat sie nicht an sich selbst demonstriert und erläutert, dass alles, was geringer als der Kosmos ist, zum Leiden verurteilt ist? Sind Desnica und Galeb nicht ein Zwillingspaar, das immer schon denselben Weg der Reinheit und des Leidens beschreitet, den auch die französische Philosophin auf so epochale Weise geprägt hat? Auf dieselbe Weise, in der Calderóns Protagonist Segismundo das Leben als Traum erlebt, betrachtet auch Desnicas Galeb das Leben als Traum oder als Vorzimmer des Todes. Im 18. Kapitel tritt Galeb dem Gefühl des Nichts mit dem Wunsch entgegen, an einem sonnigen Tag zu sterben. Dieser Wunsch steht einerseits in Bezug zu seiner Kindheit, andererseits in Bezug zu den Religionen des Orients, die das Grauen des Todes gewissermaßen besänftigt haben, sodass er weniger gespenstisch wirkt als in den Kulturen des christlichen Abendlandes. Und so wie jeden Morgen die Sonne aufgeht und ein neuer Tag anbricht, setzt sich in Galebs Bewusstsein ein einziger und immer wiederkehrender Gedanke fest: „Der Tod. Ewig kreisender Gedanke. Kamerad der Kindheit. Die tägliche Nahrung meiner Tage und meiner Nächte. Das verborgene Samenkorn des Bewusstseins in unserem Vergessen. Das einzige immer und ewig Gegenwärtige in uns.“ Im selben, 19. Kapitel setzt Desnicas Protagonist seine Reflexionen fort 73 und übernimmt denselben Wortlaut, dieselbe Geste der Auflehnung, die A. B. Šimić in seinen Versen bekundete: „Den Tod muss man hassen. Den Tod muss man anfechten, fortwährend, mit allen Mitteln, auf jedem Schritt. Alle Kräfte des Menschen müssen mobilisiert werden in diesem Hass auf den Tod. Denn im Leben scheint es um nichts anderes zu gehen als ums Sterben. [...] Er ist das alles durchwirkende und erfüllende Pneuma. All unsere Gedanken entsprießen ihm auf unsichtbare Weise, wie üppige Tropengewächse dem sumpfigen Grund. Als wäre er das Wichtigste, das Gravierendste in uns. [...] Der Tod gibt den Dingen eine Widmung. Er verleiht ihnen das Merkmal des Realen, den Ernst des Wahrhaftigen. Er gibt jedem Ding seine Würde vor dem Angesicht des Lebens. Es gibt nichtige, bedeutungslose Leben. Bedeutungslose Tode aber gibt es nicht. Jeder Tod ist ein allgemeines Ereignis, ein Ereignis, das jeden angeht. Ein kleiner Kataklysmus. Ein kleines schwarzes Loch ohne Boden im Körper des Kosmos. [...] Einzig der Tod ist real. Er ist das Einzige, das sich in unserem Leben wirklich ereignet.“ Der Gedanke des Todes korrespondiert mit der monologischen Struktur des Romans, seinem autoanalytischen Charakter, seiner Digressivität, die die Zeit stillstehen lässt oder am stets vertrauten Gefühl festmacht, dass das Ende nahe ist. Deswegen hat der Roman keine Handlung im klassischen Wortsinn, und deswegen lässt Desnica durch seinen Protagonisten die eigene Auffassung von der Romankunst übermitteln. Im 25. Kapitel sagt Galeb: „Würde ich Bücher schreiben, passierte in diesen Büchern rein gar nichts. Ich würde erzählen und erzählen, was immer mir einfiele, würde dem Leser anvertrauen, Zeile um Zeile, was meine Gedanken und meine Seele bewegte. Ich würde mit ihm plaudern. Wenn 30.4.2011. 17:53:01 74 Poesie überhaupt existiert, dann ist Poesie das, worauf wir in unseren Gedanken und unserer Sensibilität stoßen, während wir in der Ödnis umherirren. [...] Für meinen Geschmack liegt der Hauptmangel der neueren Literatur gerade darin – dass sie nicht intellektuell genug ist. Der Mensch hat sich nämlich, wie gemeinhin anerkannt, im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende enorm weiterentwickelt, hat sich zerebralisiert. Und während er in grauer Vorzeit vornehmlich mit Feuersteinäxten Rentiere erlegte, ist er heute vornehmlich mit Denken beschäftigt; er bohrt, forscht, analysiert. Wenn es früher also galt, den Menschen darzustellen, wurde er vornehmlich als Rentierjäger gezeigt, und gilt es, den Menschen heute darzustellen, hieße das vornehmlich zu zeigen, was und wie er denkt.“ Den intellektualistischen Romantypus, für den Desnica in den auf sich selbst bezogenen Passagen in Der Frühling des Ivan Galeb eintritt, hat der Autor auf den Seiten seines letzten und unvollendeten Romans Die Entdeckung des Athanatikums, der posthum in seinen Gesammelten Werken (1975) erschien, verwirklicht. Außer Novellen und Gedichten, die er in seinen Ivan Galeb-Roman inkorporierte, lieferte er im 49. Kapitel gewissermaßen eine Zusammenfassung des Romanfragments Pronalazak Athanatika. Wovon handelt dieses Prosawerk, das mit seinem Titel an Science-FictionLiteratur denken lässt? Der Text ist in der heute nahezu vergessenen Dialogform geschrieben, die aus den Vorträgen des Sokrates hervorging und die von Platon und seinen Nachfolgern perfektioniert wurde. Während Platons Dialoge (Das Festmahl, Phaidon, Phaidros, Protagoras, Der Staat) philosophische Inhalte in literarischer Form vermitteln, werden im Falle Desnicas literarische Ideen in philosophische Argumentati- Relation 1_2011.indd 74 RELA Dossier: Zdravko Zima on gehüllt. Markiert der Zweifel die grundlegende Ausgangsposition jedes Philosophen, so ist Desnica nicht nur Schriftsteller, sondern auch Philosoph. Das lateinische Verb „dubitare“ (zweifeln) und das Substantiv Duell haben in „duo“ (= zwei) dieselbe Wurzel. Die Ziffer Zwei versinnbildlicht Gegensätze, wie sie bei Desnica in unterschiedlicher Form eingesetzt werden; in seinem Romanfragment hat der Autor das Bedürfnis, die Wirklichkeit als permanentes Ineinanderwirken gegensätzlicher Kräfte darzustellen, in Dialogform umkanalisiert. Und ist denn schließlich nicht der Dialog ein verbales Kräftemessen, bei dem die Akteure, mit der Präzision von Edelsteinschleifern, ihre Zweifel gegenüberstellen? Der die Protagonisten Desnicas quälende Zweifel, der Zweifel als Existenzmodell und Perpetuierung ultimativer Fragen, macht ein Duell in irgendeiner Form erforderlich und spielt sich in Die Entdeckung des Athanatikums im Rahmen eines scheinbar lockeren Gesprächs zweier Bekannter ab. Pascal schrieb einst, die Agonie Christi werde bis ans Ende dieser Welt fortdauern. Er forderte, dass man nicht schlafen, sondern wach bleiben und träumen solle, so wie es auch der große slowenische Dichter Edvard Kocbek postulierte: Agonie ist nicht nur die Vorahnung des Endes; Agonie ist Kampf, ewiges Ringen, bei dem der Mensch sich mit einem Widersacher oder mit sich selbst auseinandersetzt; dieser Kampf ist in seinem apodiktischen Charakter vergleichbar mit der Endlichkeit des Daseins und der Unendlichkeit des Todes. Diesem Kampf haben sich die Protagonisten Desnicas restlos verschrieben. Die Todesobsession als das Alpha und Omega in Desnicas Werken erfährt im Roman Die Entdeckung des Athanatikums ihren Höhepunkt. An einem verregneten Nachmittag, jenseits eines streng abgegrenzten räum- TIONS lichen und zeitlichen Rahmens, sitzen zwei Bekannte plaudernd in einem Café. Der eine wird der Zahnlose genannt, sein Opponent ist namenlos; Ersterer erzählt von seinem über achthundert Seiten umfassenden literarischen Projekt, während der andere ihn mit seinen Bemerkungen provoziert, das eigene Vorhaben möglichst genau zu erläutern. Die Besonderheit dieses (unvollendeten) Romans liegt in der Vision eines Athanatikums, eines Medikaments gegen die Sterblichkeit, das zunächst überall für Euphorie sorgt, später aber vernichtet wird, da es zu allen möglichen Formen des Missbrauchs gekommen war. Auf etwas mehr als fünzig Seiten dieses auf dem Dialogprinzip aufgebauten Prosatextes stellt ein „paranoider Schwätzer“ seinen Romanentwurf vor und erzählt von einem Mittel, das die vor langer Zeit ausgelöste Ungleichheit der Menschen potenziert hat. Zum Vertrieb des magischen Elixiers wurde nämlich eine staatliche Einrichtung ins Leben gerufen, das so genannte „Institut zur Todesenthebung“, wodurch es letztendlich aber zu Betrügereien aller Art und zu Aufständen unter der Bevölkerung kam. Desnica verfolgte offenbar die Absicht, den Leser mittels seiner literarischen Gestalt mit der schwerstmöglichen Aporie zu konfrontieren: Einerseits ist das Leben wegen seiner Endlichkeit zwar absurd, doch ebenso absurd oder noch absurder wäre es, wenn es unendlich wäre. Das Paradox liegt nun aber darin, dass einerseits der Mensch seit je nach Unsterblichkeit strebt und andererseits die rezente medizinische Forschung mit Klonerfolgen und der Möglichkeit, der menschlichen Evolution eine neue Richtung zu geben, die in Desnicas Romanen zum Ausdruck gebrachten Annahmen gewissermaßen bestätigt. In den besten Kapiteln seiner Prosa hat Desnica eine neue Vision des Styx vorgelegt, des Totenflusses, auf 30.4.2011. 17:53:01 RELA TIONS Zweifel, dass diese Musik und dieses Leiden auf den Seiten der Romankunst Desnicas ihre glänzende Umsetzung erfahren haben. Borges hat an vielen Stellen über den „einzigartigen Geschmack des Todes“ geschrieben – ein Geschmack, der in seiner kaum definierbaren Erfassbarkeit tiefste existenziale Mysterien erschließe. Sich an seinen Freund Maurice Abramovicz erinnernd, der in seiner frühen Jugend verstarb, schreibt der berühmte argentinische Erzähler: „In dieser Nacht, unweit des Gipfels von Saint Pierre, beteuern uns die munteren und frohen Klänge einer griechischen Musik, dass der Tod 75 unwahrscheinlicher ist als das Leben und dass demzufolge die Seele fortdauert, nachdem ihr Leib schon vermodert ist. Das heißt, María Kodama, Isabelle Monet und ich sind nicht zu dritt, wie irrtümlich angenommen. Wir sind zu viert, denn auch du bist mit uns, Maurice.“ In unserem Fall lese man anstelle von Maurice Abramovicz den Namen Vladan Desnica. Aus dem Kroatischen übersetzt von Silvia Sladić Foto: © Višnja Arambašić dem Charon mit seiner Barke lautlos hin- und herfährt. Was unser großer Schriftsteller in seinen Werken realisierte, hat Gustav Mahler im Bereich der Musik geleistet. Adorno schrieb, dass Mahlers Sinfonismus der Romankunst sehr nahestehe, was an sich vielleicht unbedeutend wäre, hätte der junge Desnica nicht zwischen Musik und Literatur geschwankt und wäre sein Ivan Galeb nicht Violinist gewesen. Geht man davon aus, dass die Musik einem seelig machenden Betäubungsmittel gleichkommt und dass im Leiden die einzig wahre Biografie des Menschen besteht, dann steht außer Kolumnen Relation 1_2011.indd 75 30.4.2011. 17:53:01 RELA 76 TIONS Babaja war eine Insel Zdravko Zima N ach dem Mittagessen im „Purger“ in der Petrinjska-Straße machte ich mich auf den Weg nach Hause. Draußen war es Nacht, was sowohl meiner Gewohnheit zu schulden war, in den späten Nachmittagsstunden zu Mittag zu essen, als auch der Tatsache, dass sich in den Wintermonaten der Schleier der Dunkelheit sehr früh über Zagreb legt. Ich ging durch die Boškovićeva-Straße und musste an Babaja denken. Das hatte nichts mit Telepathie oder übersinnlicher Wahrnehmung zu tun, denn immerhin hatte Babaja jahrzehntelang gerade hier gewohnt, im Gebäude mit der Hausnummer 2, in dem heute die japanische Botschaft untergebracht ist. Er wohnte im ersten Stock, in einer klassischen Bürgerwohnung von etwas mehr als hundert Quadratmetern, in der er eine gewisse Unordentlichkeit und Nonchalance pflegte, wie sie für Künstler und Junggesellen selbstverständlich ist. Ich machte vor dem Gebäude Halt und starrte auf die mit unverständlichen Hieroglyphen bedruckte Inschrifttafel und ging davon aus, dass mein verdächtiges Verhalten vom stets aufmerksamen Auge der Überwachungskamera registriert wurde. Völlig untypisch für die Hauptstadt aller Kroaten, ist die Fassade ordentlich verputzt und getüncht, die Fensterkreuze und -rahmen sind auf Hochglanz gebracht, was einmal mehr beweist, dass es sich hier nicht um irgendein belie- Relation 1_2011.indd 76 biges Gebäude handelt. Überdies, wie um jeglichen Irrtum auszuschließen, bauscht sich an seiner Vorderseite, die zu einem Teil auf den Strossmayer-Platz hinausgeht, die japanische Flagge. Im Grunde liegt nichts Ungewöhnliches darin, dass ich eine Straße in der Stadt entlanggegangen bin, in der ich fast mein ganzes Leben verbracht habe. Ungewöhnlich ist, dass ich mich am 14. Januar in der Boškovićeva-Straße beim Haus Nummer 2 wiederfand, ausgerechnet an dem Tag, als der Gentleman und großartige Filmregisseur Ante Babaja (1927-2010) seine Reise in die andere Welt antrat. In jenem Moment wusste ich allerdings nicht, dass er uns verlassen hatte. Ich konnte es auch gar nicht wissen, denn Babaja befasste sich nicht nur mit der Regie von Filmen, sondern führte ebenso pedantisch und selbstgenügsam Regie, wenn es ums eigene Sterben ging. Dass er gestorben und bereits im engsten Familienkreis beigesetzt worden war, erfuhr ich zwei Tage später in der LisinskiKonzerthalle, wenige Minuten vor dem Übertragungsbeginn von „Carmen“ aus der New Yorker Metropolitan. Auf der Leinwand verfolgte ich die lettische Mezzosopranistin Elina Garanča, unschlüssig, ob ich ihre Stimme oder ihre Erscheinung schöner fand, und den Augenblick erwartend, in dem der vor Liebe und Eifersucht rasende Don José sie erdolchen würde. Ein Wunderwerk der Kunst, das Opernfantasten beider Hemisphären, dank dem Mirakel der virtuellen Realität, zum wer weiß wievielten Male an einer gleichermaßen alten wie neuen Liebesgeschichte teilnehmen lässt. Liebe, Tod und Musik – ist dies nicht die Triade, die auch Babajas Schicksal so grundlegend und kompromisslos geprägt hat? An der bereits erwähnten Adresse in der Boškovićeva-Straße war ich mehrmals zu Gast gewesen. Der Anlass waren bestimmte russische Werke, unter anderem Tolstojs Kreutzersonate. Mein letzter Besuch in Babajs Wohnung liegt lange zurück, etwa 1992 oder 1993. In dieser Zeit filmte er Das Steintor („Kamenita vrata“), das er selbst als sein filmisches Testament bezeichnete. Kompromisslos, wie er war, jeglichen Zugeständnissen abgeneigt, zumal künstlerischen, von ideologischen ganz zu schweigen, konnten seine Filme nicht auch nur annähernd die Rezeption erfahren, die sie verdient hätten. Gewiss, es gab Connaisseure, die verstanden, um welches Format es sich bei diesem stets schweigsamen und in sich versunkenen Autor Babaja handelte, doch die Kunde davon drang nicht über diesen Kreis hinaus bzw. nicht über exklusive und auf niedrige Auflagen beschränkte Filmzeitschriften. Für das so genannte breite Publikum, das mit Popcorn und Coca-Cola die Kinosäle stürmt, war er eine Terra incognita oder besten- 30.4.2011. 17:53:01 RELA TIONS falls ein Langweiler, dessen Ästhetizismus und ödem Pessismismus man am besten aus dem Weg ging. Insofern war „Kamenita vrata“ kein besseres Schicksal beschieden als seinen anderen Filmen. Soweit ich mich erinnere, wurde der Film im JadranKino, das heute, ebenso wie Babaja, verschwunden ist, höchstens zwei, drei Tage lang gezeigt. In jener Zeit plauderten wir oft zusammen, während ich ihn auf seinen Routinespaziergängen begleitete, die stets dieselbe Runde beschrieben, von seiner Wohnung über den ZrinjevacPark zum Jelačić-Platz, von dort zur Gundulićeva- und Masarykova-Straße hin zum Marschall-Tito-Platz. Wann werde ich Ihren Film sehen?, fragte ich ihn mit Anspielung auf Das Steintor, wohl wissend, dass ihm die Filmverleiher nie gewogen waren. Kommen Sie zu mir, antwortete er. Und so sah ich die Video-Version von Das Steintor und staunte gleichermaßen über den Film und die Kommentare, die er auf Rechnung seiner eigenen Regie mitunter von sich gab, als handelte es sich um das Werk eines anderen. Ich bin kein Filmkritiker, erhebe auch nicht den Anspruch, einer zu sein, aber Babaja war ein Regisseur von außerordentlichem Format und ein wahrer Meister seines Fachs, sodass ich auch seine Irrtümer liebte und all die Stellen, an denen er, wie er selber eingestand, auf andere Lösungen hätte zurückgreifen können. Nicht selten hört man die Phrase, dass dieser kroatische Bresson einer der größten Cineasten in der Geschichte unserer Kinematografie sei. Für mich ist er nicht nur einer der größten, sondern der absolut größte Könner, zumindest in diesem Teil der Welt. Mit dieser Behauptung möchte ich niemanden unterschätzen, sondern hervorheben, dass er die tragische Schönheit der Welt und den Sinn oder Un-Sinn der menschlichen Existenz mit poetischer Geste festzuhalten verstand, dabei dem fil- Relation 1_2011.indd 77 Kolumnen mischen Metier treu blieb und jene Kraft freisetzte, die das Wunder jeder authentischen Kunst ausmacht. Babaja – das sind wir alle in Dingen, in denen wir keine Ausreden suchen, in denen wir unangepasst oder naiv sind, reduziert auf das Maß einer Spinne, die sich den Anschein eines Urhebers gibt, jedoch kaum sichtbar und auf ewig in ihrem eigenen Netz gefangen ist! Ich erinnere mich gut an den Nachmittag, als Maestro Babaja die exklusive Vorführung von Das Steintor für mich veranstaltete. Ich fand so gut wie nichts zu bemängeln, nicht weil es unangebracht gewesen wäre; dabei krankte Babaja keineswegs an pathologischer Eitelkeit, sondern vermochte durchaus dem anderen zuzuhören, selbst wenn ihm eine bestimmte Sichtweise nicht zusagte. Dieser filmische Essay über die agonalen Stimmungen des Arztes Boras, die ebenso kämpferisch bezüglich der vergötterten Frau als auch in Bezug auf ihn selbst sind, hatte mich vollends perplex gemacht. Nur Babaja konnte auf den Gedanken kommen, die Hauptrolle einem Theaterregisseur zu geben – Ivica Kunčević, der sich als Volltreffer herausstellte. Dank den brillanten Aufnahmen des Kameramanns Goran Trbuljak, der die Winkel und Gassen der Zagreber Oberstadt auf besondere Weise wiederentdeckte, glaubte ich einen Film zu sehen, der in einem Land mit einer hochkultivierten künstlerischen Produktion entstanden war und nicht in Kroatien, in dem es Filmschaffenden nicht nur an Geld, sondern auch an Einfallsreichtum mangelt. Ich erinnere mich nicht, je einen kroatischen Film gesehen zu haben, in dem die Musik nicht bloß eine Klangkulisse war, sondern tatsächlich mitspielte; die Art und Weise, in der ein Satz aus Mahlers 3. Sinfonie (sehr langsam, misterioso) und Mozarts wunderschöne Motette „Ave verum corpus“ verwendet wurden, gaben die 77 Symmetrie in der Architektur der Regie wieder, in der nichts dem Zufall überlassen war. Ich teilte mit Babaja eine unverhohlene Sympathie für Hustons Verfilmung der Joyce-Novelle „Die Toten“, die sich ebenfalls als ein Testament des Regisseurs erwies. In diesem Film kommt der Musik, wie auch dem Gesamtwerk von Joyce, eine besondere Bedeutung zu. Daher halte ich es für angebracht, einen Satz aus „Die Toten“ anzuführen, den die Hauptfigur Gabriel Conroy ausspricht und den Babaja ruhigen Gewissens unterschreiben würde: „Man fühlt, dass man einer Musik lauscht, die von innerer Zerrissenheit geprägt ist.“ Im Gegensatz zu seinem Kollegen und Intimus Zvonimir Berković, der sein Gegenüber durch Esprit und ansteckende Redseligkeit in seinen Bann schlug, war Babaja schweigsam und in sich gekehrt, geradeso wie die Gestalten, die er auf der Filmleinwand verewigte. Trotz aller ihrer Unterschiede betrachtete ich die beiden als Dioskuren, als ein Gegensatzpaar, das sich ergänzte und equilibrierte in einer Art von Reziprozität, ohne die weder das Leben noch die Kunst irgendeinen Sinn hätten. Während ich diese Zeilen niederschreibe, im Bewusstsein, dass wir mit dem Verlust von Individuen aus unserem näheren und weiteren Umfeld auch ein Stück unseres Selbst verlieren, frage ich mich, ob Babaja an das Bestehen von Sinn geglaubt hatte. Ich bin mir da nicht so sicher, auch wenn scheinbar das Gefühl der Hoffnungslosigkeit jener mürbe Nährboden war, der seine exemplarische Ästhetik hervorgebracht hat. Für seinen künstlerischen Werdegang waren seine Arbeit als Assistent bei Jacques Becker in Paris und sein freundschaftlicher Umgang mit Branko Belan von Ausschlag gebender Wichtigkeit gewesen. Da er kein Draufgänger war und niemanden hofierte, blieben viele seiner Projekte unverwirklicht. Am bedau- 30.4.2011. 17:53:01 78 erlichsten ist, dass er sein Filmvorhaben über Slava Raškaj1 aufgegeben hatte, denn in der Darstellung von Szenen der Stille und mystischer Vorahnungen, in denen nicht gesprochen wird, die aber umso mehr preisgeben, konnte ihm niemand das Wasser reichen. Er war ein Perfektionist und Elitist, wovon auch die Riege der von ihm auserwählten Mitarbeiter zeugt: Drago Gervais, Vjekoslav Kaleb, Jure Kaštelan, Zvonimir Berković, Boško Violić, Slobodan Novak, Vladan Desnica, Tomislav Ladan. Im musikalischen Teil assistierten ihm Ivo Malec und Miljen- 1 RELA Dossier: Zdravko Zima ko Prohaska, überwiegend jedoch Anđelko Klobučar. Ich weiß nicht, wie oft ich Verlorene Heimat (Izgubljeni zavičaj) gesehen habe und warum ich diesen Film so liebe: wegen der Raffinesse in der Regieführung oder wegen des existenzialistischen Hintergrunds in der literarischen Vorlage Novaks. Obwohl Babaja in Imotski zur Welt kam, war sein Innerstes zutiefst von der Mentalität seiner insularischen Vorfahren bestimmt. Als ich schon geglaubt hatte, nichts könnte mich mehr überraschen, durfte ich in reifen Jahren mein heimatliches Krk wiederentdecken – dank Baba- TIONS ja, der auf Novak und dessen Insel Rab zurückgegriffen hatte, dabei aber von seiner Heimatinsel Vis träumte, während er auf Cres filmte. Auch Babaja war eine Insel im wahrsten, essenziellen Sinne dieses Wortes. Im Archipel der kroatischen Filmkunst wandelte er sich, in der Stunde seines Scheidens, zum Fanal. Requiem aeternam, lieber Babaja! Aus dem Kroatischen übersetzt von Silvia Sladić Slava Raškaj (1877-1906), Malerin, von Geburt taubstumm; hatte sich das Malen selbst beigebracht. Relation 1_2011.indd 78 30.4.2011. 17:53:01 RELA TIONS 79 Doktor Sonne aus Agram Zdravko Zima E s war Montag, der 15. Juni, Sankt-Veits-Tag und Namenstag eines meiner Söhne. Trotz der Hitze, ja Schwüle, kramte ich den feierlichen Anzug aus dem Schrank, den ich meist zu Konzerten trage. An diesem Montag jedoch war kein Konzert angesagt, wenn auch klar war, dass das Ereignis, dem ich beizuwohnen mich anschickte, nicht ohne musikalische Kulisse ablaufen würde. Während ich nach Schuhen und einem passenden Hemd suchte, wanderten meine Gedanken nach Mirogoj, wo man sich zu einem letzten Lebewohl für Zvonimir Berković treffen wollte. Vor vielen Jahren, als sich der Zerfalls Jugoslawiens bereits abzeichnete, drehte Zoran Tadić den Film Der Mann, der Beerdigungen liebte („Čovjek koji je volio sprovode“), zu dem Dubravko Jelačić Bužimski, mein langjähriger Freund und trefflicher Literat, das Drehbuch geschrieben hatte. Trotz meiner Sympathien für Filme dieses Genres, in dem sich Reales und Fantastisches, Horror und Poesie miteinander vermischen, gehöre ich selbst nicht zu den Menschen mit einer Vorliebe für Beerdigungen. Doch hatte und habe ich immer noch eine Vorliebe für Berković, sodass die Teilnahme an der MirogojProzession nicht nur eine Frage des Anstands und gesitteten Verhaltens war. Ich verstand dies als minimale Pflicht gegenüber einem Cineasten, Universitätsprofessor und Schriftsteller, der in der Kultur unseres Vol- Relation 1_2011.indd 79 kes eine breite und leuchtende Spur hinterlassen hat. Mit Urteilen über Verstorbene tut man sich nicht leicht, und die lateinische Floskel De mortuis nihil nisi bene scheint in seinem Fall überflüssig. Denn über Berković kann man nur Gutes sagen. In Zagreb, das in Zeiten der Transition und Rück-/Entführung staatseigener Betriebe in Privatunternehmen so tief gefallen war, dass es tiefer nicht mehr ging, in einem Staat, in der die Moral im Tausch gegen geringfügige Profite und große Kredite preisgegeben wurde, wirkte Berković mit seiner intellektuellen Unbestechlichkeit, stets bereit, sich über jede Form von Dummheit lustig zu machen, ohne dabei sich selbst auszusparen, wie ein Fanal. Wie der letzte Mohikaner eines zivilisierten und bürgerlich postulierten Kroatiens, das mehr Heimat denn Staat sein will und das über den Idolen seine vor langer Zeit vorgezeichneten Ideale nicht vergessen hat. In Kroatien leben, aber so, dass du gleichzeitig bei dir selbst und in der Welt zu Hause bist. Das hieß, mit Berk im selben Land zu leben! Im totalitären Staat, gleich welchen ideologischen Vorzeichens, zählt der Einzelne nicht. Aber er ist gefährlich. Das galt auch für Berk, obgleich ich keinen liebenswürdigeren und subtileren Landsmann kannte und obgleich ihn, mochte er sich auch über finsterste Wahrheiten verbreiten, ein Charme auszeichnete, wie er nur wei- sen Männern eigen ist. Wollte man präzisieren, welchen Platz er auf der Skala seiner Berufe tatsächlich einnahm, müsste man zu ebendiesem Schluss kommen: Er war ein Weiser. Doch weder gemäß der Logik seiner absolvierten Studien noch gemäß der Strahlkraft seiner gesellschaftlichen Stellung, sondern dank seinem Vermögen, alles auf das rechte Maß zu reduzieren. Angesichts der tagtäglichen Schwierigkeiten und Herausforderungen, die sich in den Jahren, als das neue Kroatien im Entstehen begriffen war, wie eine Flutwelle ausbreiteten, bewies Berković eine geistige Überlegenheit, die den Ernst jüngster Fragestellungen in ein Verhältnis zur Ewigkeit setzte. Deswegen eignete er sich vielleicht auch nicht zum Politiker, obwohl er zu den wenigen Landsleuten gehörte, denen ich die Berechtigung dazu zugestehen würde. Er konnte kein Idol der Massen werden, da er die Tiefe seiner Gedanken stets mit Zweifeln konfrontierte und auf jeden abgeschlossenen Satz ein konditionales „aber“ folgen ließ. Berk wusste nur zu gut, dass große Leidenschaft ohne ebensolche Geistesgröße von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Daher wirkte er korrigierend bei allen kollektiven Rauschzuständen, daher strahlte er, gesegnet mit einem Verstand, in dem Luzidität sich glücklich mit Verspieltheit paarte, eine Art fatalistischer Nonchalance aus, wie sie 30.4.2011. 17:53:01 80 nur einem ganz außergewöhnlichen Geist eigen ist. Einem jener Mutigen, die die Beschränktheit einer geschichtlich und räumlich abgezirkelten Position an der Dimension eigener Unterfangen messen. Jene Glosse von Gotovac1, Kroatentum sei ein Unglück und komme nie allein, wurde im vollen Umfang ihres fatamorganischen Fluchs selten so anschaulich wie im Falle Berkovićs. Er war konsequent genug, postulierte Standpunkte mit sich selbst zu identifizieren, und nüchtern genug, Scharlatane zu entlarven, die sich in allernächster Nähe befanden. So bedeutend er auch für die Geschichte der kroatischen Kinematografie war (Rondo, Rückkehr zum Umfallort, Rätselhafte Liebesbriefe, Contessa Dora)2, so sehr er auch sein Talent als Feuilletonist und Schriftsteller unter Beweis stellte (Der Glöckner der Kathedrale des Geistes, Doppelporträts, Briefe aus Dilettantien, Vladko Maček, drei Gespräche)3, lässt Berković sich doch erst in der Gesamtheit seines öffentlichen und privaten Wesens verstehen. Und dieses Wesen, abgesehen von Filmen und Büchern, abgesehen von seiner Professur an der Akademie, abgesehen von Drehbüchern, Konzertkritiken und was weiß ich nicht noch allem, war er selbst in der Gesamtheit seiner kreativen und verbal-hedonistischen Möglichkeiten. In seiner Autobiografie unter dem Titel Das Augenspiel belletrisierte einst Elias Canetti seine Begegnungen mit Hermann Broch, Franz Werfel, Karl Kraus, Alban Berg, Oskar Kokoschka, Alma & Anna Mahler sowie anderen Protagonisten der zu Grabe getragenen Habsburgermonarchie. Doch eine besondere Rolle bei der Persönlichkeitsentfaltung des jungen Canetti hatte der anonyme Doktor Sonne. Niemand sei 1 2 3 RELA Dossier: Zdravko Zima weiter von Barbarei entfernt als er, erklärte Canetti und folgerte, dass alles, worüber der Doktor berichtete, interessanter und fesselnder werde, als würde es von einem besonderen Licht beleuchtet. Doktor Sonnes Prognosen waren düster, obgleich er am allerglücklichsten war, wenn sich seine Vorhersagen als unzutreffend erwiesen. So war auch Berk. Nachdem ich ihn kennen gelernt hatte, konnte mir niemand mehr ein Vorbild sein. Jener Satz, mit dem Canetti sein Verhältnis zu Doktor Sonne erklärte, definiert wesentlich auch mein Verhältnis zu Doktor Berković. Um mich eines Wortspiels zu bedienen, könnte ich schließen, dass er geradezu dieselbe Sonne verkörperte, die in den Jahren der Initiation Canettis der erwähnte Meister Sonne inkarnierte. Seit meiner lang zurückliegenden Mittelschulzeit habe ich stets in Zagreb gelebt, habe Krleža, Marinković, Vera Horvat Pintarić, Lasić, die wichtigsten Akteure der um die Literaturzeitschriften „Krugovi“ und „Razlog“ versammelten Generation, kennen gelernt. Mir kommt es vor, als hätte ich Zagreb als mein Heimatnest verinnerlicht, und diese Tatsache fasziniert und blockiert mich gleichermaßen. Meine (Groß-)Stadt als meine provinzialische (Ei-)Zelle. In einer Art Ausweichmanöver vor lokaler Marginalität, aber auch vor einer Haltung, der die Stadt lediglich als schillernde Kulisse diente, fand sich selten jemand so gut zurecht wie Berk. Er war der Doktor Sonne aus Agram, der, um das Paradox geschichtlicher Reversibilität vollkommen zu machen, in Belgrad geboren war und an dessen Integrität sich nur solche heranwagen konnten, die ihm in Habitus und Offenheit ähnlich waren. Es gab nur wenige Intel- TIONS lektuelle in unserer Hauptstadt, die dermaßen der Tradition verpflichtet waren, ohne sich jedoch damit aufzuplustern wie bunt gefiederte Pfauen. Berk. Ist er jetzt auch in unermesslicher Ferne, auf einer Reise ohne Wiederkehr, stelle ich ihn mir wie einen Brahmanen und leisen Flüsterer vor, der immer irgendwo in der Nähe ist. In den Jahren, als Kroatien sich aus der jugoslawischen Umarmung zu winden mühte wie eine sich häutende Schlange; in Zeiten, in denen sich die Geschichte zu einem Augenblick, einem Schuss verdichtete, zum einmal oder tausendmal inszenierten Tod; in Momenten explosiver Begeisterung, die ebenso pfeilschnell in Apathie und Düsternis umschlagen konnte – da war Berk unsere Rettung. Uns retteten seine Fähigkeit zu relativieren, was gut erschien, und sein Talent zu verschönern, was schrecklich und irreparabel anmutete. Ich weiß nicht, wer uns in Zukunft retten wird; denn die Asse sind ausgespielt, und mit den auf dem Tisch verbliebenen Karten können weder Nobodys noch Schwindler, die sich wie Seegras vermehrt haben, mehr bluffen. Im Unterschied zu den meisten seiner Landsleute richtete Berk seine Kritik gleichermaßen gegen andere und sich selbst. Er war ein Causeur und Schöngeist, auf seiner Suche nach Perfektionismus extrem hartnäckig und berief sich auf den Helden aus Bernhards Roman, der seine Karriere als Konzertpianist wegwirft, nachdem er Glenn Gould hat spielen hören. Sein Lebensweg lässt sich vielleicht am besten mit zwei Substantiven zusammenfassen: Poesie und Politik, oder anders: Reine Musik und dreckiger Alltag. Ich erinnere mich an seine vor Urzeiten geschriebene Kritik, in der Vlado Gotovac (1930-2000), Dichter, Philosoph, Essayist. „Rondo“, „Putovanje na mjesto nesreće“, „Ljubavna pisma s predumišljajem“, „Kontesa Dora“: Filmtitel. „Zvonar katedrale duha“, „Dvojni portreti“, „Pisma iz Diletantije“, „Vladko Maček, tri razgovora“. Relation 1_2011.indd 80 30.4.2011. 17:53:01 RELA TIONS ben stets zwischen Extremen bewegte: zwischen dem Grundsatz balkanischer Unabänderlichkeit einerseits und der vom künstlerischen Schaffen dirigierten Freiheit andererseits, zwischen dem Erlaubten und dem in den Tiefen des gespaltenen Wesens Geahnten. Und wenn er dem Spiel der tschechischen Cembalistin Zuzana Růžičková lauschte, konnte er ihre auf dem Arm tätowierte Lagernummer aus Auschwitz nicht vergessen, und wenn er Mačeks4 letzte Tage in Kroatien dramatisierte, wollte er nicht auf die von der Violine gespielten Takte des Danse macabre von Saint-Saëns verzichten. Bei seiner 81 Beerdigung wurde Mozart gespielt. Es musste geschehen, dass Berk ins Jenseits aufbrach, ehe wir begreifen konnten, dass es in Zagreb noch zivilisierte Menschen gibt, die sich auf dem Friedhof Mirogoj einfanden, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Borges ist in einem seiner Texte zu dem Schluss gekommen, dass man dem Tod begegnen solle, als ginge man auf ein Fest. Gerade so schritt unser unvergleichlicher Berk seinem eigenen (paradiesischen) Ende entgegen. Aus dem Kroatischen übersetzt von Silvia Sladić Foto: © Višnja Arambašić er sich über die Dubrovniker Inszenierung von Monteverdis Oper „Die Krönung der Poppea“ auslässt. Darin erläutert Berk in dem ihm eigenen Stil, dass diese Musik betäubend sei. Der aus der römischen Geschichte übernommene Stoff des Librettos konzentriert sich auf Poppea, die Nero verführt, seine Ehe mit Ottavia zerstört und sich aller möglichen Winkelzüge bedient, um die Krone an sich zu reißen. Worin liegt der Schlüssel? Berk ist unsäglich erstaunt über die Diskrepanz zwischen dem blutdurchtränkten Libretto und der göttlich impostierten Musik, obgleich sich sein eigenes Le- Kolumnen 4 Vladko Maček (1879-1964), kroatischer Politiker, der 1945 in die Emigration ging. Relation 1_2011.indd 81 30.4.2011. 17:53:01 RELA 82 TIONS Ein Bariton für die Ewigkeit Zdravko Zima E s ist in den Spätnachmittagstunden, aus der Ecke des Wohnzimmers dringen die Takte bekannter Melodien: Nacheinander erklingen „Ribari“ von Oštrić, Badurinas „Da te mogu pismom zvati“, „Galeb i ja“ von Runjić, „Dalmatino povišću pritrujena“1 von Stipišić. Das Besondere an der Sache ist, dass alle diese Evergreens und everlasting A-capellaWeisen von dem Saxofonisten Igor Geržina, ehemals Student des Berklee College of Music in den Vereinigten Staaten, gespielt werden. Die herben Klänge des Saxofons bilden den idealen Kontrapunkt zur archaischen Gemäßigtheit und dem kaum unterdrückten anklagenden Ton des A-capella-Akkords, sodass der Hörer sich in einem Moment irgendwo in den Gewässern des Kornati-Archipels wähnt und im anderen in einem New Yorker Wolkenkratzer, wo er in Begleitung seines Schutzengels in Richtung Atlantik schaut. Die CD mit dem englischen Werbesticker „The Most Beautiful Croatian Songs Played on Saxophone“ hat mir meine liebe Freundin Irena geschenkt. Ein Freund ist, wer einen kennt, und Irena kennt meinen Background, weiß, dass sich hinter meiner Fassade, hinter meinen kroatisch-tschechischen, kroatisch-ungarischen, pannonischinsularischen und was weiß ich noch für welchen unerforschten Wurzeln 1 eine tiefe Liebe für den Mediterran verbirgt. Deshalb wollte sie mir mit den Instrumentalversionen dieser Lieder eine Freude machen – Lieder, denen man am Kaminfeuer lauscht oder in einem dalmatinischen Gässchen, ebenso aber auf dem Prokuratien-Platz in Split oder irgendwo sonst, es muss nicht die Adriaküste sein. Die Geschichte mit dem Saxofon und Dalmatien verdankt ihre traurige Aktualität dem Tod von Vice Vukov, einem der bedeutendsten und angesehensten Söhne Dalmatiens der jüngeren Zeit. Nach 34 Monaten, die er, im Koma liegend, in einer Spezialklinik in der Zagreber Rockefellerova-Straße verbrachte, ist er von uns gegangen. Die Floskel, über Verstorbene nur wohlwollend zu sprechen, können wir uns sparen, denn selbst der boshafteste Mensch könnte in Vices Biografie wohl kaum einen Makel entdecken. Dieser großartige Sänger aus Šibenik ist zur Legende geworden, sein Lebensweg und seine künstlerische Laufbahn weisen ihn als Stimme aus anderen, fast vergessenen Zeiten aus, in denen würdevolles und dezentes Auftreten, wurzelnd in klar formulierten und verbindlichen Moralansprüchen, nicht nur hohler Schein waren. Vice wurde 1936 geboren, dem Jahr, das die Welt dank der Olympischen Spiele in Ber- lin in Erinnerung behalten sollte, als Jesse Owens Hitler zum Überschäumen brachte und vier Goldmedaillen gewann. Wenn auch in vielerlei Hinsicht ein typischer Spross seiner dalmatinischen Heimat und seines Volkes, kann er doch kaum als typischer Dalmatiner und exemplarischer Kroate bezeichnet werden. Während seine Mitschüler fischen gingen und sich mit Geplapper die Zeit vertrieben, pflegte Vice die Zeit in stiller Einkehr mit sich selbst zu verbringen; während seine Altersgenossen Fußball spielten, war er mit seinem Teleskop beschäftigt und blickte zu den Sternen. Außer Lichtquellen und Zeichen der Ewigkeit sind Sterne auch Symbole des Spirituellen, und Vices Lebenslauf erinnert eher an die Biografie eines Forschers als an die Laufbahn eines Superstars und Unterhaltungskünstlers, der jungen Backfischen den Kopf verdreht oder einem begeisterten Publikum Autogramme verteilt. Er war ein Künstler von ureigenster Finesse, ein Sänger, der niemals aus dem Takt geriet, weder musikalisch noch im Sinne höflichen und angemessenen Verhaltens. Vice ist jetzt an einem anderen Ort, in den Gärten Elysions, was er in jeder Hinsicht verdient hat. Und so traurig der Anlass auch ist, erinnere ich mich doch auch daran, dass ich „Die Fischer“, „Könnte ich dich mit meinem Gesang zurückrufen“, „Die Möwe und ich“, „Dalmatien, unter der Bürde deiner Geschichte“ – bekannte Liedertitel. (Diese und folgende Anmerkungen stammen von der Übersetzerin.) Relation 1_2011.indd 82 30.4.2011. 17:53:01 RELA TIONS mich einmal sehr über ihn geärgert habe. Zwar ist dieser Ärger eher figurativ und dient der Charakterisierung der Künstlerpersönlichkeit Vice Vukov, der in der jüngeren Geschichte seines Volkes eine imposante Spur und kaum zu ersetzende Leere hinterlassen hat. Der Grund war ein Auftritt vor vielen Jahren, bei dem Vice gekränkt mit dem Singen aufhörte, weil die Zuhörer plötzlich Lust zu tanzen bekommen hatten! Dies mag vielleicht unglaublich erscheinen, aber man darf nicht vergessen, dass Vice stets erwartete, mit dem Anstand behandelt zu werden, den er auch seinen Mitmenschen entgegenbrachte. Dass die Leute zu seinen Auftritten tanzten, erschien ihm abgeschmackt, ja erniedrigend, und ihn als den führenden Sänger unserer Schlagerszene zu definieren, klingt auch heute noch beleidigend in den Ohren jener, die in seinem hellen Bariton glänzende Interpretationen italienischer Opern und Kanzonen erahnten. Wenn auch die Trennung von Elite- und Massenkultur ihre einstige Gültigkeit eingebüßt hat, war Vice doch der König der kroatischen Musikszene, der alles, was er berührte, zu Gold machte und jedes Lied, jede Geste mit einer tief verankerten Noblesse veredelte. Anders als viele seiner Sängerkollegen, die kaum einen Schraubenschlüssel von einem Notenschlüssel zu unterscheiden vermochten, verfügte Vice über einen ausnehmend hohen Bildungsgrad, und in seinem engeren Familienkreis war die Musik nicht nur eine Leidenschaft, sondern eine Lebenseinstellung. Seine Frau Diana spielt Klavier, sein Sohn Emil hat die Zagreber Musikakademie absolviert, und Tochter Ivana hat sich nach ihrem Gesangsdebüt mit dem Lied „Majci“ dem Jazz zugewandt. 2 3 Kolumnen An der Philosophischen Fakultät in Zagreb schloss Vice das Studium der Philosophie und der Italianistik ab. Sein Ruhm als Bühnenstar und die Lobeshymnen der Kritiker, die ihn seit dem Erstlingserfolg „Mirno teku rijeke“2 des Komponisten Biro ständig begleiteten, konnten ihn nicht daran hindern, sich unablässig um die Steigerung seines Könnens zu bemühen. Nachdem er 1971 auf Eis gelegt worden war und ihm jegliche künstlerische Tätigkeit sowie öffentliche Auftritte untersagt waren, reiste er nach Paris und studierte am Institut des Hautes Études internationales. Während seine Gesinnungsgenossen aus der Zeit des Kroatischen Frühlings an ihrem Status politischer Opfer laborierten und darauf warteten, ihren antizipierenden Patriotismus in bare Münze zu verwandeln, also stets darauf beharrten, ihre Verdienste am Niederknüppeln der roten Gespenster hervorzukehren, meisterte Vice die größte Herausforderung, nämlich sich selbst. Statt sein Märtyrertum zu zelebrieren, Sinekuren zu beanspruchen und sich eitel auf die Schultern klopfen zu lassen, zügelte er sein Ego, da ihm sehr wohl bewusst war, dass die Freiheit nicht per Dekret kommen kann und dass, wer nur eine Titularzukunft besitzt, seine eigene Gegenwart und Vergangenheit zur Farce macht. Darin stand er Vlado Gotovac nahe, der vor Langem schon zu der Überzeugung gelangt war, dass die Identifizierung als Kroate ein Unglück heraufbeschwöre, das nicht alleine komme. Aus alledem kann man leicht schließen, dass er sich im tiefsten Grunde seiner Seele und seines Herzens als Kroate fühlte, sein Mäntelchen jedoch nicht nach dem Wind drehte. In einer Zeit, in der sämtliche Kriterien kopfstehen, braucht es auch 83 nicht zu verwundern, dass „Slobodna Dalmacija“ unerhört respektlos über seinen Tod berichtete: Statt das Logo mit schwarzem Flor zu unterlegen, statt den Tag zu einem Trauertag für die gesamte Region zu erklären, prangten auf der Titelseite der Spliter Tageszeitung ein Riesenporträt des einsitzenden Generals Mirko Norac und als kapitale Information die Ankündigung seiner Hochzeit, während die Nachricht vom Tode Vice Vukovs mit bloßem Auge kaum erkennbar war. Und so wiederholt sich in Kroatien auf pompöse Weise die Geschichte, degradiert zu einer Balkanhistorie, in der Soldaten und Inhaftierte auf legitime Weise den besten Sängern und Dichtern den Rang ablaufen! „Tvoja zemlja“, „Zvona moga grada“, „Pismo ćali“, „Šesnaest lavandera“, „Suza za zagorske brege“, „Dobro mi došel, prijatel“3. Insgesamt vierhundert Kompositionen, die ins Kollektivgedächtnis eingegangen sind; ein Leben und zwei Karrieren – eine Künstler- und eine verspätete Politikerlaufbahn, die unter keine Stereotypen einzuordnen sind und uns zum wer weiß wievielten Male beweisen, dass eine schöpferische Berufung die Bereitschaft impliziert, die Leiden und Risiken individueller Entscheidungen zu akzeptieren. Vice – ein Dalmatiner, der zeigte, wie man in kajkavischer Mundart verfasste Lieder vorträgt; ein Kroate, der demonstrierte, wie man Patriot sein kann, ohne mit dem Impetus des eigenen Nationalgefühls anderen oder anders Denkenden zu schaden. Als ich vor einigen Tagen mein Handy nach der Nummer von Velimir Visković durchstöberte, fiel mein Blick auf einen weiteren Träger von Doppelinitialen: Vice Vukov, 091/7222 804. Wie viele Tage sind seit dem 17. November 2005 vergan- „Ruhig fließen die Wasser“. Liedertitel, die Vice Vukov berühmt gemacht haben: „Dein Land“, „Die Glocken meiner Stadt“, „Brief an den Vater“, „Die sechzehn Wäscherinnen“, „Eine Träne für die Zagorje-Berge“, „Sei mir willkommen, mein Freund“. Relation 1_2011.indd 83 30.4.2011. 17:53:01 84 RELA Dossier: Zdravko Zima Detail. Wenn er als parteiloser Parlamentsabgeordneter am Rednerpult stand, herrschte in den Bankreihen ungewöhnliche Stille. Es war, als ob sich all jene, die Kroatien an ihrem eigenen Namen festmachen, unangenehm berührt fühlten, da sie begriffen, dass dieser Mann sie mit der Integrität seines Charakters bei Weitem überflügelte. Addio, guter alter Vice. Ich bin mir nicht sicher, ob ein Lebewohl überhaupt angebracht ist, denn das Beste, das du hattest, hast du ohnehin im Diesseits zurückgelassen. Gestirne und Winde werden von nun an auch deine Stimme weitertragen und dafür sorgen, dass Kroatien bleibt, wie es in den Träumen seiner besten Söhne immer war und immer sein wird. Aus dem Kroatischen übersetzt von Silvia Sladić Foto: © Boris Cvjetanović gen, als er unglücklich stürzte und nach einer Operation ins Wachkoma hinüberglitt. Allen unheilvollen Prognosen zum Trotz blieb die Nummer in meinem Handy ungelöscht. Wie die Nummern anderer verstorbener Bekannter und begrabener Freunde, darunter Don Branko Sbutega, Boris Maruna, Dražen Vrdoljak. Requiem aeternam dona eis Domine. Was für ein Mensch Vice war, enthüllt ein auf den ersten Blick unwichtiges TIONS Zdravko Zima im Kaffeehaus Relation 1_2011.indd 84 30.4.2011. 17:53:01 RELA TIONS 85 Neue Töne Zdravko Zima E s kam, was ich nie für möglich gehalten hätte: In mehr denn gesetztem Alter verspürte ich den Wunsch, der Amtseinführung eines kroatischen Staatspräsidenten beizuwohnen. Als ich am Donnerstag1 in die Oberstadt eilte, verschwendete ich keinen Gedanken an die Wettervorhersage, selbst an die Krawatte nicht, die ich zu Hause gelassen hatte. Vielleicht bin ich auf meine alten Tage kindisch geworden, vielleicht habe ich mich durch die spärlichen Anzeichen eines kaum erst sich anbahnenden Frühlings verführen lassen, doch während ich mit Mani Gotovac und Dražen Lalić die Radićeva-Straße hochging, hatte ich das Gefühl, als sollten wir dort, im Epizentrum AltZagrebs, einem Geburtstag, einer Taufe oder einer Hochzeit beiwohnen, einem Fest jedenfalls, das uns in unserem tiefsten Inneren berühren würde – statt bloß einer politischen Zeremonie, die außer wehenden Fahnen und protokollarischem Pomp nichts anderes zu bieten hat. Die feierliche Stimmung wurde unterstrichen von einem Ambiente, das in jedem Kroaten, ungeachtet seiner weltanschaulichen Orientierung, nostalgisch-historische Gefühle weckt. Auf dem Markusplatz, wo wir, uns nach allen Seiten umschauend, Bekannte treffen und grüßen, wurde in früheren Zeiten immer Markt abgehal1 2 ten, und Haus Nummer 10 trägt an seiner Ecke die schnurrbärtige Büste von Matija Gubec. Die Amtseinführung des neuen Staatspräsidenten findet vor der Markuskirche statt, in der seinerzeit die kroatischen Bane ihren Amtseid ablegten und die durch künstlerische Eingriffe von Ivan Meštrović, Jozo Kljaković und der Prager Bildhauerfamilie der Parler bereichert wurde. In dieser Kirche hatte der Vater des großen A. G. Matoš als Organist gewirkt, hier hatte Monsignore Svetozar Ritig seines Amtes als Gemeindepfarrer gewaltet, auch die Handlung eines Dramoletts von Berković spielt sich zu einem Teil gerade vor Kljakovićs Fresken ab. Alles hier atmet Geschichte. Hinter meinem Rücken ist das Alte Rathaus, in dem Livadićs patriotisch-musikalischer Weckruf „Još Hrvatska nij’ propala“2, nach einem Gedicht von Gaj, zum ersten Mal gesungen wurde; auch wurden hier das erste kroatisch verfasste Theaterstück („Juran und Sofija“) und die erste kroatische Oper Liebe und Arglist („Ljubav i zloba“) aufgeführt. Etwas weiter unten, in der Ćirilometodska-Straße, befindet sich das Haus, in dem Ljudevit Gaj gewohnt hat und in dem heute Räumlichkeiten der Rechtswissenschaftlichen Fakultät untergebracht sind, jener Hochschuleinrichtung, mit der die persönliche und professionelle Biografie Ivo Josipovićs eng verbunden ist. Dann endlich wird unter den feierlichen Klängen eines Marsches von Anđelko Klobučar, vorgetragen vom Blasorchester des Kroatischen Militärs, der neue militärische Oberbefehlshaber und neue Staatspräsident empfangen. Es folgt die Hymne, woraufhin die Vorsitzende des Verfassungsgerichts Jasna Omejec abschnittweise den Vereidigungstext vorliest, den Josipović wie ein artiges und wohlerzogenes Schulkind nachspricht. Wenige Minuten nach der Eidesleistung hören wir seine Antrittsrede. Obwohl ich die Hauptakzente voraussetzen kann, verfolge ich aufmerksam jedes Wort und flüstere nebenbei mit Vjeran Zuppa, mit dem ich während der Wahlkampagne mächtig in Josipovićs Horn geblasen habe. An seiner Haltung scheint sich nichts geändert zu haben, und doch ist etwas anders. Neben den bekannten Argumenten von der bitter benötigten Gerechtigkeit und Solidarität, mit denen er sich den Weg ins Präsidialamt ebnete, fehlt in Josipovićs Rede jeglicher Triumphalismus, vor allem aber hört man keine Ressentiments, mit denen die politischen Sieger in diesem Teil der Welt so oft manipulierten – zu kurzfristigem persönlichen Nutzen, aber langfristigem 18. Februar 2010, Tag der Amtseinführung Ivo Josipovićs. (Diese und folgende Anmerkungen stammen von der Übersetzerin.) „Noch ist Kroatien nicht am Grunde“: Patriotisches Lied des Dichters Ljudevit Gaj, vertont 1833 von Ferdo Livadić. Relation 1_2011.indd 85 30.4.2011. 17:53:01 86 kollektiven Schaden. Es gilt, den Refrain einer Melodie so oft zu wiederholen, bis man ihn gelernt hat, und so hat der neue Dirigent des ViereinhalbMillionen-Orchesters wiederholt, was viele hören, aber nicht wirklich wahrnehmen. Oder sich schwer merken können. Dass die Produktionsrate in Kroatien unter Vorkriegsniveau liegt, ist schockierend genug, um all jene zu ernüchtern, die in ihrem trinkseligen Patriotismus geglaubt hatten, dass mit der Gründung eines eigenständigen Staates alle Probleme wie weggepustet wären. Selten war eine Antrittsrede dermaßen beherrscht von den Ideen der Rechtschaffenheit, des Vertrauens und der allerhöchsten zivilisatorischen Werte. Trotzdem trat Josipović nicht als Sprachrohr des Zagreber Domkapitels auf. Im Gegenteil! Indem er die Bedeutung von Kultur, Kreativität, Wissen und neuen Technologien betonte, verwies es darauf, was im fortschrittlichen Westen schon längst als Kanon gilt. Selbst bei diesem feierlichen Anlass konnte er nicht die Tatsache umgehen, dass für die aktuelle Krise nicht nur objektive Umstände verantwortlich sind, sondern auch mangelnde volkswirtschaftliche Visionen. Auf seine Weise, juristisch exakt und musikalisch elegant, suggerierte Josipović, dass Korruption und Verbrechen sich nicht lohnen. Klingt schön. Doch hat sich das Gaunertum so breitgemacht und dermaßen mit moralischer Verkommenheit verkuppelt, dass viele Mitbürger glauben, das Kürzel k. u. k. (kaiserlich und königlich), mit dem einst die Verbundenheit Kroatiens mit der Habsburgermonarchie bezeichnet wurde, meine ein autochthones kroatisches Erzeugnis und stehe für „Korruption und Kriminalität“. Ich weiß nicht, wie gut die Leute bei der Antrittsrede zugehört haben oder vielmehr dachten, sie sei eher formaler Natur denn vorausweisend und verbindlich. Indem Josipović aber beton- Relation 1_2011.indd 86 RELA Dossier: Zdravko Zima te, dass er nicht herrschen, sondern dienen werde, und daraus folgerte, dass er das Staatswesen als Dienstleistungsservice für seine Bürger betrachte und nicht als der Eitelkeitspflege vorbehaltenen Betonturm, zog er einen Trennstrich zu den rigiden Herrschaftsformen, die in diesem Teil der Welt eine allzu lange und peinvolle Tradition hatten. Sollte sich auch nur ein Bruchstück dessen verwirklichen, was der soeben vereidigte Staatspräsident angekündigt hat, wird Kroatien den Balkan hinter sich lassen. Natürlich wird das Land in geografischer Hinsicht bleiben, wo es ist, aber es wird sich von negativen Stereotypen befreien, die sich um Illegitimität, Vetternwirtschaft, Inkompetenz und Unverantwortlichkeit drehen und seit jeher mit diesem geografischen Raum in Verbindung gebracht werden. Allen möglichen Beanstandungen zum Trotz, die sich auf Timing, Szenografie oder das Outfit der Präsidentenfamilie bezogen, waren noch nie so viele Künstler und Intellektuelle auf einer Zeremonie dieser Art versammelt, was an sich schon bemerkenswert ist. Auf der verhältnismäßig geringen Fläche des Markusplatzes hatten sich so Ida Gamulin, Sandra Bagarić, Alfi Kabiljo, Urša Raukar, Niko Gamulin, Predrag Matvejević, Branko Caratan, Mladen Martić, Željko Vukmirica und andere eingefunden. Es ist nicht meine Absicht, mit dieser Aufzählung irgendjemanden, den ich ausgelassen habe, zu kränken, noch aber möchte ich suggerieren, dass die Anwesenheit anderer oder anonymer Bürger weniger wichtig gewesen wäre. Zumal wenn man Josipovićs Vision Glauben schenken möchte, der zufolge alle Bürger am politischen Geschehen teilhaben und er lediglich eine herausragendere, dafür aber mit mehr Verantwortung und Risiko verbundene Stellung einnehme. Vergleicht man die Führung eines Staates mit TIONS der Leitung eines Orchesters, so begreift man, dass Josipović als Dirigent vor einer äußerst anspruchsvollen Aufgabe steht. Für seine Oper „Lohengrin“ hatte einst Richard Wagner ein Orchester mit 106 Musikern vorgesehen. Darunter waren 16 erste Geigen, 16 zweite Geigen, 12 Bratschen, 12 Celli, 8 Kontrabasse, 8 Hörner, 6 Harfen, 4 Querflöten, 3 Fagotte und so weiter. Interessanterweise wurde die Uraufführung des „Lohengrin“ von Franz Liszt in Goethes Weimar dirigiert. Unser Weimar ist Zagreb, und unser Franz Liszt heißt jetzt Ivo Josipović. Seine Amtszeit wird länger als Wagners Oper dauern, und neben der Meisterschaft des Dirigenten ist für die Aufführung des kroatischen „Lohengrin“ die Teilnahme aller Geigen und Bratschen erforderlich, sowohl der auf der Bühne befindlichen als auch der unsichtbaren – all jener also, die ihr Instrument angesetzt haben und bereit sind, nach Josipovićs Auftaktzeichen mit dem Musizieren zu beginnen. Es wäre ein Vergehen, an dieser Stelle einen überaus wertvollen und respektierten Menschen unerwähnt zu lassen, den ich im Gedränge auf dem Markusplatz ebenfalls getroffen habe. Das ist Peter Kuzmič, Slowene aus dem Gebiet jenseits der Murr, der in Zagreb die Schule besuchte, im Ausland, größtenteils in Harvard, studierte und in Osijek die Evangelisch-Theologische Fakultät begründete, deren langjähriger Rektor und ordentlicher Professor er ist. Kuzmič ist ein großer Patriot und Kosmopolit, Intellektueller und Pfingstler, der, außer Slowenien, zwei weitere Heimaten hat: Kroatien und die Vereinigten Staaten. Kein Wunder also, dass solch ein Mann, in dessen Radikalismus und Universalismus sich sein Weltbürgertum spiegelt, Josipović begrüßen möchte. Was noch? Die Beleidigungen, die es von Seiten der versammelten Bürger auf Ivo Sanader herabhagelte, wirk- 30.4.2011. 17:53:01 RELA TIONS Statt Bürger zu befragen und Interviews mit Leuten zu machen, die über Josipović etwas zu sagen hätten, erwiesen sich die Fernsehjournalisten zum wer weiß wievielten Male als gewöhnliche Kriecher. Am meisten mit Ruhm bekleckert hat sich an diesem Tag Vladimir Šeks3, als er tönte, Josipovićs Präsidentschaftsmandat werde hoffentlich die Grenzen des Verfassungsrahmens nicht überschreiten. Mit dem ganzen Umfang ihrer Leere offenbart diese Aussage einen Mangel an elementarem Anstand und Höflichkeit, die in einem solchen Augenblick von einem hohen Würdenträger immerhin zu erwarten sind. Im Hinblick auf seinen 87 protokollarischen Rang und die Tatsache, dass er selbst jede Menge auf dem Kerbholz hat, ist Šeks der Allerletzte, der sich eine Kritik am neuen Staatspräsidenten leisten könnte. Er selbst war nie auch nur annähernd so populär wie Josipović, und das schmerzt wohl am meisten. Die Zeremonie klang mit dem „Dankeslied“ von Franjo Dugan aus, mit dem der Komponist der Ernte, dem Wein und den Früchten des Lebens huldigt. Ein großes Dankeschön an Josipović, da er Gespür dafür bewiesen hat, was die Bürger hören wollten und zu hören verdient haben. Vivat! Aus dem Kroatischen übersetzt von Silvia Sladić Foto: © Višnja Arambašić ten wie ein Schock. Nicht weil dieser nicht zu verantworten hätte, was er sich als Premierminister zu Schulden hat kommen lassen, sondern weil er in Rekordzeit den Weg vom vergöttlichten Führer zur hohlen Attrappe zurückgelegt hat. So etwas ist nur in Ländern ohne demokratische Tradition möglich. In Ländern, in denen jene Mechanismen des Rechtsstaates nicht funktionieren, die die politischen Machtträger kontrollieren, ehe sie, herabgezogen von ihrer eigenen Schwerkraft, aus gottgegebener Höhe in den Schlamm hinabsinken. Daher sind Begeisterung und Enttäuschung in solchen Ländern gleichermaßen extrem und fatal. Kolumnen 3 Derzeitig stellvertretender Vorsitzender des kroatischen Parlaments. Relation 1_2011.indd 87 30.4.2011. 17:53:01 RELA 88 TIONS Die Geschichte von Gabriel [Nachtschwarze Agenda] Zdravko Zima Dienstag/Mittwoch, 13/14. Januar 2009 E s ist Nacht. Schnee hat sich über die Stadt und Utrine1 gelegt (wenn Utrine überhaupt eine Stadt ist) und je weniger ich ihn mag, nicht wegen der weißen Farbe, sondern wegen der technischen Ausfälle und der Beschwerlichkeiten in der alltäglichen Kommunikation (offensichtliche Zeichen des Alterns!), so sehr tröste ich mich, dass er das Schlechte und das, was unsere Schicksale anders macht, als wir es uns einbilden, bedeckt und in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt. Weiß ist absolut, ein Zeichen für die Morgendämmerung und jungfräuliche Reinheit, aber auch ein Zeichen des Todes. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass in manchen Kulturen Trauer nicht mit schwarzer sondern weißer Kleidung ausgedrückt wird. Mein Nachname2 sollte ein Synonym für eine Jahreszeit sein, selbst wenn ich ihn nie so verstanden habe und manchmal billigen Witzen von Menschen ausgesetzt bin, denen, wenn sie mich kennen lernen, nichts Geistreicheres einfällt als: Ist Ihnen kalt, Herr Zima? Danke der Nachfrage, mir ist nicht kalt, vor al1 2 lem weil ich am Mittelmeer geboren bin, sodass ich nach der Logik meiner regionalen Zugehörigkeit oder eines versteckten Impetus immer schon den Sommer bevorzugt habe. Wenn ich meinen Namen nannte, musste ich früher oft die Frage beantworten, ob ich mit Vera Zima verwandt sei. Das bin ich nicht. Außer dass wir beide mütterlicherseits aus dem mediterranen Raum stammen (sie aus Ploče, ich von der Insel Krk), väterlicherseits reichen unsere Wurzeln nach Slawonien, in die Tschechische Republik und so weiter. Ich habe Peter Zima gelesen, den Theoretiker der Frankfurter Schule, der im Buch „Textsoziologie“ unseren berühmten Germanisten Viktor Žmegač zitiert. Anfang des Jahres hat das staatliche Fernsehen die amerikanische Serie „Californication“ auszustrahlen begonnen, was wörtlich mit „Kalifornikacija“ übersetzt wurde, obwohl es sich um kalifornisches Ficken handelt. Im Zentrum des Geschehens ist Hank Moody, ein literarisches Talent, der Probleme mit dem Schreiben hat und noch mehr mit jungen Mädchen, denen er erbarmungslos hinterher jagt. Ich bin kein Puritaner, doch ich kann nicht behaupten, dass mich eine solche Serie besonders an- zieht. Aber sieh da; eine der Schauspielerinnen, die eifrig ihre komparativen Vorzüge herzeigt, heißt Madeline Zima. Madeleine erinnert an die Sünderin Magdalena, aber auch an Madeleine, das mystifizierte Gebäck aus Prousts Roman. Ist auch egal, ich sitze in der Tinte. Jetzt werde ich wieder auf die Frage antworten müssen, ob ich mit der sich freudig entblößenden Madeleine verwandt bin. Bin ich nicht. Was nicht heißen soll, dass ich in Amerika keine Verwandten und Schwippschwager hätte. Ich habe Verwandte, die nicht weniger attraktiv sind als die zitierte Zima aus der kalifornischen Lifestyle-Serie. Es ist schon Mittwoch, wir befinden uns in der 56. Minute des neuen Tages, in den Nachbarhäusern sieht man das Licht nur in zwei Fenstern. Die Kroaten sind ein arbeitsames Völkchen, und nach allen Feiertagen, den katholischen und orthodoxen Weihnachten, nach den Neujahrsbesäufnissen, dem Dreikönigsfest und dem gesegneten Sonntag, bleibt einem nichts anderes übrig, als sich unter der Bettdecke zu verkriechen. So wenig man von sich selbst, so wenig kann man von seinen Angewohnheiten davonlaufen. Seit Jahren Neubausiedlung in Zagreb. Zima bedeutet im Kroatischen „Winter“ und „kalt“. Relation 1_2011.indd 88 30.4.2011. 17:53:02 RELA TIONS versuche ich mich dazu zu zwingen, am Tag zu schreiben, aber vergeblich. Ich gehe um drei schlafen, stehe gegen neun auf und dann tu ich so, als machte ich Gymnastik. Ich gehe auf den Markt, kaufe, was ich brauche und nicht brauche, trinke den obligatorischen Nescafé Classic und bis ich alle Details aufeinander abgestimmt, den Morgenmantel umgeworfen (wenn mir kalt ist!) und die Rollläden hochgezogen (wenn mir Licht fehlt!), bis ich mir tausend Einzelheiten ausgedacht habe, um den Beginn hinauszuzögern, ist fast Mittag. Ich lese oder schreibe und am Abend gerate ich in Panik: Ich lebe in Zagreb, doch mir scheint, ich bin in Klausur, in einem Karmeliterkloster und dramatisiere den Eindruck, dass es mich in der Stadt, die Öffentlichkeit voraussetzt, überhaupt nicht gibt. Ich bin nicht mehr in dem Alter, in dem man jeden Tag auf der Straße sein muss, in den Cafés, in denen wir uns früher pflichtgemäß getroffen und über alle möglichen Themen debattiert haben. Aber ich habe ein Bedürfnis nach der Stadt, und wahrscheinlich auch nach lebenden Wesen. Am liebsten gehe ich am frühen Abend aus, wenn die Läden noch geöffnet sind und wenn Zagreb Lebendigkeit verheißt, eine Art Dynamik, die einer Fast-Millionenstadt angemessen ist. In späteren Stunden verwandelt sie sich in eine Leere, die ideal für Polizisten ist, die vor den Verbrechen und notorischer Gewalt die Augen verschließen, dafür aber umso bemühter sind, wenn jemand keinen Ausweis mit sich führt oder wenn man mit den vorderen Reifen den Parkstreifen um drei Zentimeter überschritten hat. Deshalb ist mir die Nacht am liebsten, wenn alles tot ist und nur das lebt, was wir mit unserem Willen wieder erschaffen. Auch mein erstes, vor langer Zeit veröffentlichtes Buch heißt „Die Nachtseite des Verstandes“. Warum? Weil ich es nachts geschrieben habe, aber Relation 1_2011.indd 89 Tagebücher auch weil ich zeigen wollte, dass ich für eine andere Wirklichkeit plädiere; eine chthonische und nächtliche, die in der Brandbreite ihrer Möglichkeiten unvergleichlich ergiebiger ist als eine Tageswirklichkeit. Auch jetzt ist Nacht und ich stehe am Fenster und betrachte das winterliche Weiß. Ich fühle mich wie Gabriel, der Held aus Joyces Novelle „Die Toten“, der für den „Daily Express“ Literaturkritiken schrieb und der nach dem Jahresball im Haus der alten und verblühten Fräulein Morkan (Kate & Julia!) und nach dem Geheimnis, das ihm seine geliebte Gretta preisgibt, nach dem Sinn der eigenen Existenz fragt. Selbstverständlich liegt der Sinn in der Liebe und nach langjähriger, bürgerlich gebotener Ehe stellte Herr Gabriel fest, dass Gretta in ihrer frühen Jugend, bevor sich die beiden überhaupt gekannt haben, ein unglaubliches Tristan-und-Isolde-Abenteuer mit Michael Furey erlebt hatte. Dieser Michael, Joyces Tristan, war von unglaublich zarter Natur und pflegte Gretta unter dem Fenster „Das Mädchen aus Aughrim“ vorzusingen. Die Liebe zwischen ihnen war so, wie sie eben bei jungen und hoffnungsvollen Menschen sein konnte; rein wie Schnee und absolut wie Gott. Es war eine Liebe, in der nichts und doch alles geschah. Michael starb im siebzehnten Lebensjahr, Gretta heiratete später Gabriel, in ihrem Innersten, im tiefsten Herzen, auch wenn sie es vergaß, glomm jedoch die Liebe zum sinnlos gestorbenen Michael/ Tristan. Das Problem ist nicht, dass Gretta (wenn auch nicht Margarete, in Goethes Faust das Symbol für ein junges naives Mädchen) den feinsinnigen und kränklichen Michael liebte. Das Problem ist, dass Gabriel seiner Ehefrau nichts vorzuwerfen hat; sie hat ihn nicht betrogen, also konnte er ihr nicht vorhalten, dass sie eine Ehebrecherin ist. Doch jeder Mann ist eitel. Gabriel ist so eitel und intelligent, dass ihm niemand die 89 grausame Wahrheit erklären muss, dass er sein Leben Gretta gewidmet hatte, dass er sie behütet und geliebt hat, aber dass sie ihn nicht annähernd so geliebt hat wie den Jüngling, über dessen Grab längst Gras gewachsen war und der sie mit seinen Liedern verführt hat. Nach alldem füllten sich Gabriels Augen mit Tränen. Es waren keine Tränen eines Verzweifelten oder Schwächlings, sondern Tränen, die über die Unbegreiflichkeit der Liebe vergossen wurden, mit solcher Kraft und solchem Ausmaß, dass sie zerstörten. In der EpiphanieSzene, am Ende der Erzählung steht Michael am Fenster und betrachtet den Schnee. „Und während er lauschte, wie die Flocken durch das Weltall flogen“, schreibt Joyce, „verlor seine Seele langsam das Bewusstsein, und der Schnee legte sich leicht auf alle Opfer und Tote, leicht, als käme ihre letzte Stunde.“ Es ist merkwürdig zu sagen, dass ich mich mit Gabriel identifiziere – auch wenn ich seine in Irland ausgesprochenen Worte als Ersatz für Kroatien verstand – aber Bücher werden wohl deshalb geschrieben, damit wir uns mit jemandem identifizieren oder damit wir uns von jemandem distanzieren. Als ihm Fräulein Ivors scheinbar naiv vorwirft, dass er für englische und nicht irische Zeitungen schreibt, als sie ihn fragt, wie sehr ihm an seiner Muttersprache gelegen sei, als sie ihn rügt, weil er in Frankreich und Belgien Urlaub macht statt in seiner Heimat, bleibt Gabriel nichts anderes übrig als mehrmals zu wiederholen, dass er von seinem Land genug habe. Und dann, beim Tanzen, flüstert Fräulein Ivors ihrem Partner etwas giftig ins Ohr: Brite! So als ob jemand in Kroatien in Ermangelung von aussagekräftigeren Argumenten seinem Gegenüber vorwerfe, er sei Jugoslawe. Doch ich fühle wie Gabriel, nicht wie der biblische Erzengel, der Christi Geburt verkündete, noch weniger wie Peter Gabriel, der 30.4.2011. 17:53:02 90 im Tandem mit der verunsicherten Kate Bush „Don’t give up“ sang, auch nicht wie Gabriel Garcia Marquez, dessen Freunde und Bekannte (darunter Woody Allen und Gordana Tintor) Gabo nennen, sondern wie der Gabriel von Joyce. So wie er Anfang des 20. Jahrhunderts irgendwo am Fenster stand, so stehe ich am Anfang des 21. Jahrhunderts, einige Tage nach dem Dreikönigsfest [!] am Fenster und betrachte denselben Schnee und träume dieselben Qualen, die Joyces Held im Kern seines Wesens austrug. Ein Held, der so lebendig war, dass er begriff, dass er tot war, ein Literaturkritiker, der seine Heimat so sehr liebte, dass sie ihm auf die Nerven ging, ein Ehemann, der seine Frau so sehr liebte, dass er sich dieser Wahrheit nicht stellen konnte, wie er sich mit äußerster Anstrengung mit ihrem lange verstorbenen Michael auseinandersetzte. Also, Schnee, nächtliches Schreiben und Joyce als virtueller Gesprächspartner, an den ich mich zu verschiedenen Anlässen wende und den ich bei vielen Gelegenheiten treffe, in Zagreb, in Gesprächen mit meinen Freunden und Trauzeugen Aleksandar Široki, der jetzt in London mit Nataša und Ivan Ladislav Galeta (Autor experimenteller Filme, Konzeptkünstler, Übersetzer von Béla Hamvas, Professor an der Kunstakademie) spazieren geht und anderen, in Pula, Triest und Dublin, Joyces Heimatstadt, die ich vor vielen Jahren besucht habe. Und Galeta ist es, der Hamvasas „Ungarischen Hyperion“ ins Kroatische übertragen hat, in dem dieser Titan und Altersgenosse des altgriechischen Hyperion erklärt, dass die Zeit kommt, in der man die Vergangenheit vergisst und in der das Schreiben wie ein Anachronismus behandelt wird. Vielleicht denke ich mir deshalb diese Zeilen aus, wegen der Vergangenheit, die schneller als der Schnee schmilzt und wegen des Schreibens, das von Relation 1_2011.indd 90 RELA Dossier: Zdravko Zima elektronischen SMS-Nachrichten ersetzt wird, die die Welt in ein Reich von halb gebildeten Wesen, Mutanten und Aufschneider verwandeln, je weiter sie in die Untiefen ihres rachitischen (bösen) Geistes gesunken sind, desto glücklicher. Die Stunden verfliegen und ich weiß nicht mehr, ob es Nacht oder Tag ist. Das ist jenes DAZWISCHEN, eine Stunde vor der Dämmerung, in der die Welt neu geboren wird, die Zeit, mit der Nietzsche am besten zurechtkam. Es ist schon Mittwoch, und vor einigen Stunden, genauer, in den letzten Minuten des Dienstags, bin ich von der Konzerthalle Vatroslav Lisinski zurückgekehrt. Das ist der Ort, den ich am häufigsten aufsuche und an dem ich mich besser fühle als irgendwo sonst. Vorigen Abend wurde ein Sonder-Konzert anlässlich des 55jährigen Jubiläums der Zagreber Solisten gegeben. Der Andrang war so groß, dass ich das Gefühl hatte, zu einem Konzert eines weltbekannten Ensembles zu gehen, obwohl sich die Zagreber Solisten sehr wohl einer großartigen Geschichte rühmen können. Man muss dazu sagen, dass diese Geschichte in erster Linie mit den Jahren verbunden ist, in denen die Solisten von ihrem Begründer, dem großen Cellisten Antonio Janigro (1954-1968) geleitet wurden. Das fünfundfünfzigste Jubiläum ist eher widerspenstig als rund, aber wenn man einen Anlass für einen Neubeginn sucht, der dem Ensemble den alten Ruhm wiederbringt, dann darf man schließlich nicht Haare spalten. Ganz Kroatien schien sich auf dem Konzert versammelt zu haben. Zwei Reihen vor mir sah ich Präsident Stjepan Mesić in Gesellschaft des Zagreber Bürgermeisters und nur einige Stühle weiter, was für ein Zufall, hat es sich Ivo Josipović bequem gemacht, Komponist und Professor an der Juristischen Fakultät, der seit kurzem als Anwärter für Mesićs Nachfolge in der Villa „Zagorje“ auf TIONS dem Pantovčak agiert. Ich saß neben Nedjeljko Fabrio, mit dem ich außer der Küsten-Heimat und literarischen Interessen eine Leidenschaft für klassische Musik teile. Auf dem Repertoire waren Werke von Corelli, Kelemen, Haydn, Golijov, Piazzolla und Martinú. Am Ende kamen alle ehemaligen Mitglieder auf die Bühne, um zusammen mit den jetzigen Solisten Bachs 3. Brandenburgische Konzert zu spielen. Die Atmosphäre war festlich, die Ausführung korrekt (als Solist trat der britische Cellist Matthew Barley auf ), auch wenn ich nicht sicher bin, wann das Ensemble jemals wieder so gut sein wird, wie es seinerzeit mit Janigro war. Vielleicht klingt es zynisch, vielleicht banal, aber diese Möglichkeit schien mir so aussichtsreich wie die Chancen, dass Dinamo in naher Zukunft in die Champions Leauge kommt. Am Ende wandte sich der künstlerische Leiter Borivoj Martinić-Jerčić an das Publikum. Er bedankte sich zuerst bei den Sponsoren (ich befürchtete schon, er würde die Zagreber Brauerei und Gavrilović-Salami erwähnen), und dann kamen die Phrasen über Solisten an die Reihe, die schon Ebbe und Flut hinter sich haben, die „Weltmeere“ überflogen (mein Gott, als gäbe es auch provinzielle, mit dem bloßen Auge kaum erkennbare Ozeane) und es bis zu ihrem 5 plus 5 Jubiläum gebracht hätten. Ich glaube nicht, dass ein Konzertmeister ein erstrangiger Redner sein muss, aber wenn seine Vorstellungskraft gerade für eine gelegentliche Rede reicht, dann kann man kaum glauben, dass über den Solisten die Aureole von Janigro aufscheinen wird. Nach dem Konzert traf ich Predrag (Matvejević) und seine Frau Mira, die endgültig aus Rom zurückgekehrt sind, und dann stieß ich mit der Architektin Hilda Auf-Franić an, die meinen Text über Mirko Kovač erwähnte, den ich anlässlich seines 70. Geburtstages geschrieben habe. 30.4.2011. 17:53:02 RELA TIONS Da war natürlich noch Tonko Ninić, langjähriger Leiter der Zagreber Solisten, mit denen er zweieinhalbtausend Konzerte gehalten hat und dessen außerordentliche charmante Frau Lavica, Biologieingenieurin (mit dem Mädchennamen Žajdela). Tonko erzählte, er lese das Buch „Violine“ von Dalibor Cikojević, Dozent an der Musikakademie in Zagreb. Es ist ein Roman, in dem eine Violine die Hauptrolle spielt und Cikojević ist Mitglied des Bläserquartetts Sebastian (in dem er Klavier spielt!). Der große Magier Zvonimir Berković, in Gesellschaft seiner Dubravka rezensierte ein Konzert und Momente später stellte er eine unfehlbare Diagnose des Zustands Kroatiens. Alfi Kabiljo ist regelmäßiger Gast aller wichtigen Konzerte und heute Abend konnte er es sich nicht verkneifen mir von der Oper „Casanova in Istrien“ zu berichten. Er ist dabei, sie zu Ende zu schreiben und sie wird Anfang Oktober im Theater Ivan pl. Zajec in Rijeka uraufgeführt. Der Feierlichkeit im Lisinski wohnte auch Damir Janigro bei, Sohn des bekannten Künstlers, der extra zu diesem Anlass aus Kanada angereist war und der auf vielfältige Weise an Zagreb gebunden blieb. Ich lausche den Erzählungen über die ehemaligen Gastauftritte der Zagreber Solisten in Lateinamerika. Die Tournee war anstrengend gewesen, Janigro erkrankte und obwohl er einen Monat im Krankenhaus verbrachte, verlangte er, dass das Honorar ihm allein ausgezahlt würde. Daran zerbrach die Liebe zwischen den Solisten und dem Maestro und so unangetastet die Größe Janigros sein mag, so groß sein Verdienst für den musikalischen Höhenflug der Zagreber, so sehr zeigt diese Episode, dass jeder aus Fleisch und Blut ist, und dass man sogar gegen jene, die Superlative verdienen, etwas einwenden kann. Gegen sie wohl mehr 3 Tagebücher als gegen solche, die es in ihrer Gewöhnlichkeit nicht weiter bringen als zum gewöhnlichen Tratsch! Es ist Mittag, ich sehe die elektronische Post durch. Auch wenn ich mir keine klassischen Episteln ausdenken (wie zu Zeiten von Hektorović, Vetranović und Nalješković!), und auch keine Marken kleben muss, nicht zur Post gehen und in der Schlange warten, auch wenn es mir die Technik erlaubt, auf wichtige Nachrichten sofort zu reagieren, im Pyjama, unrasiert und unordentlich, komme ich mit der Korrespondenz schwer zurecht. Manchmal weil ich keine Lust habe, auf jede Nachricht zu antworten, manchmal weil ich schlampig oder vergesslich oder faul bin. Der unermüdliche Hanibal Salvaro hat mir eine Einladung zu seiner Performance unter dem Titel „Dubrovački limun nade“3 (Dubrovniker Limonade) geschickt. Zuerst habe ich die Substantive „limun“ und „nada“ unbewusst zu Limonade verbunden, dann zu soap opera, Seifenoper und Trash. Unglaublich. Die zweite Assoziation führte mich zu Glihas Stillleben mit Feigen, das Saša Vereš in seiner Wohnung eifersüchtig wie seinen Augapfel hütet. Aber in diesem Fall handelt es sich nicht (nur) um Kunst. Ich betrachte das Foto, auf dem man einen Korb voller gerade gepflückten Zitronen sieht. Im Hintergrund Oliven und das offene Meer. Licht. Auch wenn ich am Mittelmeer geboren bin, vergesse ich an langen nebligen Wintertagen beinahe, dass es so etwas überhaupt gibt. Vielleicht ist es eine Form von Disziplin, vielleicht Flucht oder Selbstschutz, wer weiß, denn manchmal scheint das Bedürfnis, sein Leben in einer stinkigen Stadt zu verbringen pervers, während sich in Dubrovnik, der Stadt mit großem Anfangsbuchstaben (aber auch im Norden, eineinhalb Stunden Autofahrt von Zagreb) 91 andere Horizonte öffnen. Das Licht von Salvores Fotografie suggeriert zum wer weiß wievielten Male, warum gerade in diesem Teil der Welt die Zivilisation geboren wurde: hellenisch-heidnisch, jüdisch-christlich und islamisch-arabisch. Mediterran bedeutet Mittelmeerraum, für das, was in der Mitte der Welt ist, unabhängig von der Tatsache, dass die Globalisierung und die Postmoderne die Beziehung zu traditionellen geopolitischen Begriffen revolutioniert und die Grenzen der Selbstbestimmung in eine neue und schwer vorhersehbare Richtung gelenkt haben. Ich habe noch nie unter irgendwelchen Nationalismen gelitten, unter Regionalismen oder ähnlichen Fanatismen, doch während ich mir diese Zitronen ansehe, wiederhole ich in mir wie ein Mantra: Die Bande des Blutes sind stark. Ich starre auf die Computer-Fotografie und kann es nicht glauben. So sehr ich die Technik immer gehasst habe, meistens zu meinem eigenen Schaden, so sehr gerate ich bei einer Einladung oder einer digital übermittelten Illustration in synästhetische Trance. Ich rieche den Duft der Zitronen, ich will sie berühren, beinahe zerdrücken, so wie wir so viele Male in der Fantasie, und wohl auch in Wirklichkeit, Mädchenbrüste gestreichelt haben, in dem Glauben, dass wir auf diese Weise Sicherheit und erlangen würden, die wir von Kindesbeinen suchten bis zum letzten Atemzug. Bei alledem ist das Faszinierendste das Licht. Das Licht, das immer nach der Dunkelheit (post tenebras lux) kommt und das Camus’ Meursault in einen Mörder verwandelte. Die Zitronen, die die Sinne anregen und mich in einen primordialen Zustand zurückwerfen, als die Welt den natürlichen und erneuernden Zyklen gehorchte, wurden in Mandaljena, im Verwaltungsbezirk Dubrovnik ge- Nada heißt im Kroatischen „Hoffnung“, daher ist hier das Wortspiel mit der „Zitrone der Hoffnung“ möglich. Relation 1_2011.indd 91 30.4.2011. 17:53:02 92 pflückt. Dort, in einer Villa aus dem 19. Jahrhundert, hatte der tschechische Maler Jaroslav Čermak, der mit dem jungen Vlaho Bukovac befreundet war, mehrere Male seine Sommerferien verbracht. Viele Dubrovniker hatten enge Kontakte zu Prag: Auf Prager Bühnen hat Vojnović viele seiner Dramen aufgeführt, und Bukovac war Professor an der Kunstakademie in Prag und lebte dort bis zu seinem Tod. Unwillig trenne ich mich von der Zitrone aus Mandaljena! Selbst der Name des Ortes klingt nach der süßen Sünde, die Magdalena begangen hat, die Frau, die den Weg von der großen Sünderin bis zur ehrlichen Büßerin gegangen ist. Die Agenda über die Zitronen beende ich mit der vergeblichen Suche nach einem Buch. Es ist der Erzählband „Der Zitronentisch“ (The Lemon Table), von Julian Barnes, einer meiner britischen Favoriten. Vor zwei Wochen besuchte Barnes Zagreb. Es war an einem Samstag, und während alle nervös dem Unsinn im Fernsehen entgegenfieberten, bei dem der beste Schlager Europas gewählt wurde und bei dem Severina die kroatische Fahne verteidigte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich auf den Weg zur Buchpräsentation von Barnes’ Roman „Arthur and George“ zu machen. Ich erinnere ihn schon seit „Flauberts Papagei“, den vor langer Zeit Zlatko Crnković ins Kroatische übertragen hat. Barnes verbindet Tatsachen und Fantasie auf eine Weise, die mit heutigen Trends nicht zu messen ist. Vielleicht genügt es zu sagen, dass er kein Instant-Autor ist, auch kein Instant-Stern für den einmaligen Gebrauch. Eine halbe Stunde habe ich auf dem Markt verbracht, habe Brot (Slawonisches Brot, Schwarzbrot, so nennen es die Verkäuferinnen), Äpfel und eine Zeitung gekauft. Ich habe auch Champignons gekauft, die ich mit Zwiebeln gedünstet und Eiern zum Mittagessen zubereiten werde. Relation 1_2011.indd 92 RELA Dossier: Zdravko Zima Eine meiner gastronomischen Spezialitäten! Als ich zurückkomme, sehe ich auf dem Telefondisplay einige unbekannte Nummern. Ich rufe die Auskunft an. Guten Tag, können Sie mir sagen, wer der Besitzer der Nummer 2300337 in Zagreb ist? Nach einer kurzen Pause antwortet die freundliche Stimme am anderen Ende buchstabierend: D-U-R-I-E-U-X. Die Dame hatte mir Buchstabe für Buchstabe alles durchgegeben. Damit es kein Missverständnis gibt. Jedenfalls habe ich begriffen, wer mich angerufen hat, auch wenn ich sofort dachte, dass früher so etwas nicht möglich gewesen wäre. Ich behaupte nicht, dass die freundliche Dame, die das Geheimnis der unbekannten Nummer gelüftet hat, hätte wissen müssen, wer sich hinter dem Namen oder der Bezeichnung Durieux verbirgt, aber ein minimales Wissen, eine Intuition oder etwas anderes hätten ihr suggerieren müssen, dass man es nicht so liest. Vielleicht übertreibe ich. Ich werde deshalb ein Beispiel aus der Vergangenheit anführen. Obwohl, es wäre besser, wenn ich es überspringen würde, denn wenn immer sie hören, dass in Jugoslawien etwas eventuell besser war, dann bekommen die Zeloten der neuen nationalen Richtiggläubigkeit einen Ausschlag. Es ist lange her, Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts (und vergangenen Jahrtausends!). Ich war Student bei Jure Kaštelan, der einer der beliebtesten Professoren in der Geschichte der Philosophischen Fakultät war. Weniger aus dem Grund, weil er ein außerordentlicher, sogar Staatsdichter war (letztere Qualifikation konnte ihm in jener Zeit nur schaden), aber vielmehr wegen seiner Weisheit und Feinheit, die auf eine Weise im Widerspruch zum Status eines Kriegsveteranen standen, eines Befreiungskämpfers und Mitglieds höchster politischer Foren im kommunistischen Jugoslawien. Von der Hochmütigkeit TIONS und Arroganz, die für Typen mit diesem Pedigree typisch war, war bei Jure keine Spur. Außerdem nannten wir ihn alle bei seinem Vornamen, Jure, denn so war er. Er rief Respekt und Bewunderung hervor, und sie waren weder durch Macht noch durch gesellschaftlichen Status erzwungen, sondern durch ihn selbst. Heute würde man sagen, er hatte Charisma, und Jure hatte es in der Tat und trug es elegant und nonchalant, so wie er sein Cord-Sakko trug. Wir waren Erstsemester. Ich erinnere mich an die erste Begegnung mit Doktor Jure, ordentlicher Professor für Literaturtheorie, in Saal 3 der Zagreber Philosophischen Fakultät, in der Ivan-Lučić-Straße (damals Đure-Salaja-Straße). Jures Auftreten und sein Habitus standen im Gegensatz zu seiner Rolle eines Hochschulprofessors, von dem man immerhin Autorität und Willkür erwartete. Wenn er unterrichtete, sprach er klar und leise, mit Zäsuren, die von seiner Bescheidenheit und Introvertiertheit herrührten. Der echte Jure war das eine, und die Figur des Befreiungskämpfers Partisanendichters und Parteifunktionärs – womit er klarkommen musste – etwas ganz anderes. Wenn er den Saal betrat, nahm er die Kreide in die Hand. Einige Augenblicke später sah ich auf der Tafel Wörter und Pfeile. Es stand etwa geschrieben: Bibel – Dante – Cervantes – Shakespeare – Goethe – Dostojevski – Kafka. Es war ein Grafikon, das einigen Studenten die Kontinuität darstellen sollte, die die westeuropäische Literatur kennzeichnete. Ich sage nicht ihre Entwicklung, denn die Literatur operiert so wenig wie die Kunst allgemein mit der Kategorie Entwicklung. Jure lehrte leise, als sei er in einer Kirche und nicht in einem Universitätssaal, in dem ihm eine Masse junger und betrogener StudentInnen zuhörte. Einmal rief ein Zuhörer: Professor, lauter! Jure drehte sich um und entgegnete kalt- 30.4.2011. 17:53:02 RELA TIONS blütig, er werde seine Stimme schon erheben, wenn es etwas Wichtiges gäbe. Warum ich das schreibe? Einige Male besuchte ich Jure, als er noch im Holzhaus auf dem Iblerplatz lebte. Und dann zog er in die Ilica Nummer 12. Wenn er seine Wohnung gewechselt hat, dann wohl auch seine Telefonnummer. Das dachte ich zumindest, ohne zu wissen, dass er das Privileg hatte, als verdienter Bürger und Dichter par excellence seine Nummer zu behalten. Jedenfalls rief ich die Zentrale an und fragte nach seiner Nummer. Zuerst musste ich den Nachnamen sagen, erst dann den Vornamen, obwohl ich zuerst den Vornamen und dann den Nachnamen sagte. Kaštelan, aber nicht der, der das Kastell (castellum) oder eine Burg behütet, auch kein Baumeister, obwohl ein Dichter immer auch ein Baumeister ist oder eine Art Konstrukteur. Es kam zum Missverständnis, Kaštelan, fragte die Stimme wieder am anderen Ende der Leitung. Ich erinnere mich nicht, was ich geantwortet habe, es sah so aus, als werfe ich dem anonymen Telefonisten vor, dass er keine Ahnung habe, wessen Nummer ich suchte. Und dann ereignete sich ein Wunder, ein Lichtmoment, den ich noch heute erinnere. Der beleidigte Mann begann, Jures Verse zu zitieren! Ich war entzückt und wir trennten uns wie Freunde, auch wenn wir uns nie gesehen haben. Was Jure für Oton Gliha folgerte (noch ein Ausnahme-Künstler, den ich das Glück hatte kennen zu lernen), dass er „den eigenen Traum und Wirklichkeit aufschreibt“, kann man mit viel Grund auf ihn selbst anwenden. Ein Ereignis werde ich nie vergessen. Vielleicht klingt es ungewöhnlich, aber ich denke an die Beerdigung von Dobriša Cesarić. Jure und Dobriša waren enge Freunde und es verstand sich von selbst, dass 4 Tagebücher beim letzten Abschied auf dem Friedhof Mirogoj Jure die Grabrede sprechen würde. Ich muss hinzufügen, dass ich schon immer an Tadijanovićs Pedanterie (nicht nur an seinem unerhörten und hartnäckig aufrecht erhaltenen Narzissmus, der an Infantilität grenzte) verzweifelte, ich wunderte mich über sein Bedürfnis, jede Kleinigkeit zu registrieren und jedes Datum zu notieren, doch dann begriff ich, dass auch sie ihre Gründe hatte. Tadijas4 anthologischer Gegenpart Dobriša, dem gegenüber er gewisse Komplexe hatte, starb am 18. November 1980 und der Zufall wollte, dass an diesem Tag Jure Kaštelan geboren ist. Solche Kalenderzufälle, von denen ich einen erwähne, in Tadijas Nachlass in der Gajeva 2A, gibt es sicher in Hülle und Fülle. Ein Jahr neigte sich also dem Ende zu und ich machte mich auf den Weg zu Mirogoj. Der kalte Wind kam vom Sljeme und über dem offenen Grab seines Freundes stand Jure. Sein Stakkato und die Pausen, die sich zwischen den Wörtern häuften, schienen mir ausgeprägter als sonst. Ich erinnere mich nicht, ihn jemals so erschüttert gesehen zu haben. Und so inspiriert. Hab Acht, Charon, ermahnte er den Fährmann, der die Verstorbenen über den Styx schiffte, schon lange sind in deine Hände nicht solche Geschenke gelangt. Dann erfolgte der letzte Abschied von Dobriša, und als er den obligatorischen aber in der damaligen Zeit unerwarteten Satz aussprach – möge dir die kroatische Erde leicht sein – durchzuckte es mich. Nicht nur mich. Es war eine Begegnung mit der Ewigkeit, erschütternd und unvorhergesehen, scheinbar konventionell, aber keineswegs inszeniert. Ich will damit sagen, dass zu so etwas nur Jure Kaštelan in der Lage war. Ich idealisiere keine Zeit, aber damals konnte der Genosse Telefonist 93 Kaštelans Gedichte auswendig, und heute bricht sich die Dame bei der Telefonauskunft die Zunge beim Aussprechen des mysteriösen Durieux. Wer oder was ist das? Durieux ist ein Verlag aus Zagreb, den Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Nenad Popović gegründet hat. Ich werde nicht alle Titel aufzählen, die er veröffentlicht hat, wichtige und wertvolle, aber ich werde bei dieser Gelegenheit, in etwas so Intimem und Egozentrischem wie dem Tagebuch [!] erwähnen, dass er 1993 meine Feuilletonsammlung „Zagreb ist an allem schuld“ veröffentlichte. Doch Durieux ist und bleibt ein Rätsel. Nenad Popović nannte seinen Verlag so, um die Erinnerung an Tilla Durieux zu bewahren, eine der größten Schauspielerinnen des 20. Jahrhunderts. Das Schicksal führte sie von ihrem Geburtsort Wien nach Olmütz, Paris, Berlin, Moskau, New York und andere Städte, doch eine besondere Etappe auf ihrer Reise war ihr Aufenthalt in Zagreb, in dem sie zwei Jahrzehnte verbrachte (von 1933, als Hitler an die Macht kam, bis 1952 und 1955). Sie war (Anti-) Star und Blaustrumpf, eine Linke und Rebellin, in gewisser Weise mit Alma Mahler vergleichbar; wegen ihrer Wiener Wurzeln und fanatischer Hingabe an die Kunst, aber auch wegen berühmten Persönlichkeiten, die in beträchtlichem Maße ihre Wege bestimmten. Alma war mit Gustav Mahler, Walter Gropius und Franz Werfel verheiratet (für die Liebhaber ist hier kein Platz), Tilla schwor zunächst dem Maler Eugen Spiru Treue, heiratete dann den Kunsthändler Paul Cassirer, einen Verwandten des Philosophen Ernst Cassirer und beim dritten Mal versuchte sie ihr Glück mit dem Industriellen Ludwig Katzenellenbogen, der 1941 in den Fänge der Nazis geriet. In ihren Zagreber Jahren führte Spitzname des Dichters Dragutin Tadijanović. Relation 1_2011.indd 93 30.4.2011. 17:53:02 94 sie ein Hotel in Opatija, lehrte am Mozarteum in Salzburg und ließ sich auf allerlei Unternehmungen ein. In der Hauptstadt des NDH5 strickte sie Strümpfe und Mützen für die Partisanen, nach dem Krieg arbeitete sie als Schneiderin im Marionettentheater und zu Zeiten der Kriegsnot war sie sich nicht zu fein Kaninchen zu züchten. All das scheint wie ein Märchen, besonders wenn man weiß, dass sie mit Max Reinhardt und Erwin Piscator arbeitete und von Persönlichkeiten umgeben war wie Gerhart Hauptmann, Franz Wedekind, Else Lasker-Schüler, Ernst Toller, Peter Altenberg, Heinrich Mann, Anna Pavlova, Vaclav F. Nijinsky und andere. Zu dieser unglaublichen (Prima)Donna gibt es einiges zu sagen. Doch auch das genügt um zu begreifen, warum Popović seinen Verlag ausgerechnet Durieux genannt hat, und was die Ausspracheprobleme meiner Telefongesprächspartnerin verursacht hat. Am meisten erheiterte mich Nenad Popović, als er mir erzählte, welches Durcheinander sich ereignete, als ihn fragwürdige Partner anriefen, die Durieux mit Durex verwechselt hatten, der Fabrik für Kondome und andere Ballons. Wenn sich Nenad Popović einer solchen Gummikunst zugewandt hätte, wo wären seine Grenzen? In Zagreb pflegte man früher die kroatische und auch deutsche Sprache, und seine Bewohner irren heute durch die Stadt und suchen die Heinzel-Straße (wieder nach Vuk), ohne zu ahnen, dass Vjekoslav Heinzel Architekt war, gebürtiger Zagreber und langjähriger Bürgermeister, eine Art Milan Bandić. Gestern oder vorgestern sah ich die Serie „Ausgerechnet Alaska“. Zugunsten der Tatsache, dass dies eine der wenigen erträglichen Sendungen ist, mal davon abgesehen, dass es mitten in der Nacht gezeigt wird, 5 RELA Dossier: Zdravko Zima wenn nur Mondsüchtige und Polizisten wach sind, überspringen wir die Werbung, mit der die Redakteure das Publikum (bzw. Republik) alle zehn Minuten terrorisieren. In einer Situation, in der sich zwei Brüder, hilflos um ein Gentleman-Image ringend, wegen eines Mädchens streiten, erklärt letzterer, dass sie zu der und der Zeit studiert hätte, als Frau Michel Foucault lehrte. So entdeckte ich zu dieser nächtlichen Stunde, dass einer der einflussreichsten strukturalistischen Denker, Nietzsches Nachfolger, interdisziplinärer Forscher, der sich den Fragen der Linguistik, dem Wahnsinn, der Sexualität und Pönologie verschrieben, einfach sein Geschlecht geändert hat. Ich weiß nicht, warum ich davon ausgehe, dass eine Frau die Serie übersetzt hat, jedenfalls habe ich ein ideales Schlagwort für Feministinnen: die diplomierte Anglistin hat nicht nur Foucault nicht gelesen, sondern auch nichts von ihm gehört. Aber von den „Beatles“ hat sie gehört und dem Lied „Michelle“ und da Lennon und McCartney hauptsächlich auf das weibliche Geschlecht konzentriert waren, so ist auch Michel Foucault in einer nächtlichen Übersetzerglanzleistung ein Transvestit und Perverser geworden, der Probleme mit seiner Identität hat. Vollkommen in Einklang damit, worüber er geschrieben hat und im Geist der Zeit, die uns im Einzelnen und Ganzen bestimmt ist. Und schlussendlich, die neue First Lady der Vereinigten Staaten, der dieses Attribut auch offiziell in einigen Tagen zuteil wird, am 20. Januar, heißt genauso: Michelle (Obama). Und Michelle Pfeiffer; Verzeihung, wäre es etwa höflich, so eine Schönheit und Schauspielerin zu umgehen? Im Jahrhundert der Mutanten und des Klonens scheinen Komplikationen mit männlichen und weiblichen Genen oder männlichen und weiblichen TIONS Namen überflüssig. Der Ignoranz der neuen Übersetzer nach zu urteilen, die uns Durstige über das Wasser schiffen, scheint auch Rainer Maria Rilke nicht zu wissen, ob er ein Mann oder eine Frau ist. Oder beides. Deshalb hat er auch Verse geschrieben, die sich jenseits von Zeit bewegen und von Grenzen, die durch etwas so Gewöhnliches wie Geschlecht bestimmt sind. François-RENÉ de Chateaubriand, RENÉ de Obaldia, RENÉE Zellwegger, RENÉE Fleming, RENÉ Bakalović! Mir wird schlecht von den Accents und Doppelvokalen, aber ich werde genau sein; an erster Stelle ist der französische Schriftsteller, der Autor des Romans „René“, in dem er sich selbst porträtiert und seine Generation, dann der französische Dichter und Erzähler, bei uns durch die Boulevardstücke bekannt, die damals Vlasta Gotovac übersetzte, die erste Frau von Vlado Gotovac, dann die amerikanische Schauspielerin (Tochter eines Schweizers und einer norwegischen Lappin) sowie die gleichnamige Landsmännin, die berühmte Sopranistin, die den Zyklus direkter Opernübertragungen aus dem Metropolitan leitet, die wir nur im Lisinski in high definition ansehen können. Und schließlich unser Landsmann, der durch Texte auf alle möglichen Arten bekannt wurde, vielleicht aber am meisten durch gastronomische und hedonistische Magenthemen. In diesen Tagen ist er von Worten zu Taten übergegangen, mit der Eröffnung eines Weinklubs, der statt einer Garantie seinen Namen trägt. Der Klub befindet sich mitten im Zentrum, in einer Lage, die obligatorisch ein sehr gutes, wenn nicht sogar ausgezeichnetes Lokal vermuten lässt. Ich hoffe inständig, dass sich die Garantie, das heißt Renés Name nicht als wertlose Buchstaben auf dem Papier zeigen. Nezavisna Država Hrvatska; Unabhängiger Kroatischer Staat, 1941 auf Initiative des Dritten Reiches gegründet. Relation 1_2011.indd 94 30.4.2011. 17:53:02 RELA TIONS Dienstag, 20. Januar Vor zwei Tagen, auf den Tag genau, ist meine Mutter gestorben. Ich bin kein Held aus Camus’ Roman, der nach dem Tod seiner Gebärerin ruhig ins Kino geht, aber ich bin auch keiner von jenen, die mit Gefühlen prahlen, sie servieren und wie ein Essen auf dem Tablett anbieten. Die Gefühllosigkeit, die in einem solchen Moment Meursault, der Held aus „Der Fremde“ ausdrückte, sollte den Geist der Zeit widerspiegeln (der Roman entstand während des Zweiten Weltkriegs), die Gleichgültigkeit gegenüber menschlichen Wesen und Institutionen sind aus der Überzeugung hervorgegangen, dass die Wirklichkeit nachhaltig von Lügen kontaminiert ist. Womit sie heute kontaminiert ist, würde ich nur zu gern herausfinden. Ich weiß nicht, wie sehr ich mich in den vergangenen Jahren verändert habe, seit meiner frühen Kindheit, Jugend bis zur Reife, mittleren Alter und im Alter, in dem mich schon die Panik ergreift. Ich weiß nicht, wie gut oder schlecht diese Änderungen waren, ich bin nicht sicher, ob ich überhaupt in etwas sicher bin. Ich weiß nur, dass die Veränderungen, die nach Mutters Weggehen eintraten, groß und quälend waren. Meine Mutter wusste, welche Rebellion ich in mir trug, das heißt vielmehr, welchen Hass gegenüber Institutionen, oder dem, was die Macht bestimmt. Deshalb hatte sie immer Sorge um mich, behandelte mich wie ein Kind und nervte mich mehr, als ich ertragen konnte. Jeder Mensch hat seine guten und schlechten Seiten. Das ist bei mir nicht anders. Ich hoffe, auch eine gute Seite zu haben, aber was ich behaupten kann, jedenfalls auf den Seiten eines Tagebuchs, ist, dass ich gegen jedwedes Gefühl der Beherrschung und Überwachung geimpft bin und dass mir alle balkanischen Machthaber gehörig auf 6 Tagebücher die Nerven gegangen sind. Jedenfalls diejenigen, die ich an der eigenen Haut erleben musste, und wenn man Matoš Glauben schenken darf (wem, wenn nicht ihm?), der unerbittlich gegen Wien und Österreich wetterte, dann war wohl auch die vor sich hin dösende Franz-JosephMonarchie ein Mythos. Ich erinnere mich an Stjepan Čuić, mit dem ich damals eng befreundet war. Stipe hatte Probleme mit der kommunistischen Regierung (ich auch, danke der Nachfrage), sodass er eines seiner Bücher buchstäblich der Regierung widmete. Es war ein geistreicher Einfall, umso mehr als seine erste Frau Vlasta6 (Gracin) hieß. Unabhängig von den Frauen könnte Stipe seine Widmung wiederholen, denn die aktuelle Regierung/Vlasta ist ihm näher ans Herz gewachsen als die damalige. Aber lassen wir das. Mit der Regierung hatte ich immer so meine Probleme, und meine Mutter gehörte eigentlich auch zur Regierung. Sie war „Má vlast“, oder meine Heimat, wie Smetana seinen bekannten Zyklus von sechs Symphonieliedern nannte. Außerdem suggeriert das Synonym, das eigentlich keines ist, diese Regierung, die in Tschechisch das eine, im Kroatischen etwas ganz Anderes bedeutet, aber doch wieder verdammt ähnlich ist, dass es sich um eine schwer lösbare Aporie handelt. Die Mutter ist das, woran ich mich immer annähern wollte, vor dem ich aber auf irgendeine Weise, getragen vom Bedürfnis nach Freiheit, geflohen bin. Ich erinnere mich an den Tag, an dem meine Mutter starb. Es war ein Sonntag, der schlimmste Tag der Woche (Stanislav Šimić hat das Gedicht „Untaten des Sonntags“ geschrieben). Ich fuhr mit dem Taxi zum Krankenhaus in der ZajčevaStraße, als mein Handy klingelte. Wo bist du, fragte mein Bruder Željko. In ein paar Minuten bin ich im Kran- 95 kenhaus, antwortete ich. Du musst nicht kommen, sagte er, rücksichtsvoll, um abzumildern, was sich seit Jahren anbahnte, wofür wir aber dennoch nicht bereit genug waren. Ich kann dies und jenes tun, ich kann Gleichgültigkeit vorspielen oder wer weiß was, aber die Wahrheit ist, dass mit Mutters Weggang ein großer Teil meiner Welt begraben wurde. Meine Mutter war die Verbindung zwischen mir und der Insel Krk, zwischen mir und Amerika (wo ich Verwandte habe), sie war die Verbindung zwischen mir und einer Welt, die schon lange verschwunden ist, die sie aber in ihrer Erinnerung bewahrte, so wie sie fürsorglich die Möbel und ihre Porzellanfiguren polierte. Jean Chevalier & Alain Gheerbrandt behaupten, dass das Meer ein Symbol für den mütterlichen Körper sei, und ich weiß nicht, ob ich jemals jemanden oder etwas mehr geliebt habe als meine Mutter und das Adriatische Meer. Natürlich liebe ich meine Kinder, aber das ist etwas anderes. Die Mutter ist Schöpferin und Würgerin, wie das Meer, etwas Kostbares, das mit seiner Wärme erdrückt, sie verkörpert eine Summe von Möglichkeiten, vor denen wir fliehen und doch immer wieder zurückkehren. Seit es meine Mutter nicht mehr gibt, die liebe Draga, höre ich kaum noch oder gar nicht mehr das Requiem von Mozart. Ich höre auch nicht mehr das von Palestrina, Bruckner, Verdi, Dvořák und Fauré. Auch nicht Brahms’ Ein deutsches Requiem. Die Legenden von Mozarts Requiem und seinem Auftraggeber haben die Grenzen der klassischen Musik längst überschritten, und unter allen möglichen Versionen möchte ich die Ausführung der New Yorker Philharmonie unter der Leitung von Bruno Walter hervorheben, dem bekannten Wiener Dirigenten und Mahlers Schützling. Nach seiner Rückkehr aus Wien verriet mir der Vlast heißt im Kroatischen Regierung. Relation 1_2011.indd 95 30.4.2011. 17:53:02 96 musikbegeisterte Nedjeljko Fabrio (den ich privat Domenico nenne), dass das Orchester 1756, nach Mozarts Geburtsjahr benannt, in einer Saison ausschließlich sein Requiem aufführt. Dieses Wunder ereignet sich in der Karlskirche, schon mehr als vierzig Mal! Der Eintritt kostet 36 Euro. Kinder und Studenten zahlen nur 26 Euro. Das Orchester wurde in dem Jahr gegründet, in dem Österreich und die ganze Welt auf unterschiedliche Weise das 250. Jubiläum von Amadeus’ Geburt feierten. Seine Mitglieder spielen ausschließlich Musik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und durch intensives Üben und Spielen von historischen Instrumenten haben sie den unvergleichlichen Mozart-Klang erreicht. Während ich das schreibe, gehe ich zur Hi-Fi-Anlage. Ich will die Sopranistin Anna Netrebeko in der bekannten Arie „O mio babbino caro“ aus der Oper „Gianni Schicchi“ hören. Wie oft hat sie meine geliebte Draga gehört und gesungen! Es geht nicht nur um die Schönheit von Puccinis Arie; in der Zeit, in der meine Mutter sie gesungen hatte, glaubte ich, dass ich alle Bücher lesen, alle Städte sehen und die ganze Welt bereisen würde. Es war eine Zeit, in der das Leben zwar kurz schien, aber trotz allem glaubte ich, dass es für mich unendlich sein würde. Meine Mutter liegt jetzt auf Mirogoj, mit ihrem Mann und meinem Vater. Sie sind im jüdischen Teil des Friedhofs und wenn ich ihn besuche, sehe ich immer zuerst das Moses-Denkmal, der den Pentateuch in seinen Händen hält. In der Nähe ist die letzte Ruhestätte von Veselko Tenžera und Bert Goldstein und seinem Vater, der ein Freund meines Vaters war. Nach dem Besuch meiner Liebsten, widme ich mich gewöhnlich den kroatischen Schriftstellern. Krleža war in der Nähe, in einem Grab, das 7 RELA Dossier: Zdravko Zima nach seinem Entwurf Josip Vaništa und der Architekt Radovan Nikšić entworfen haben. In diesem Sammelbecken der Toten in Zagreb, das nach seiner Definition eine makabre Stadt ist (sie ist za-greb, oder, mit anderen Worten, za-grobom7), unter Dichtern und Literaten, besuche ich meistens die Gräber von Matoš und Lunaček. Die Gründe für diese Sympathien habe ich bei vielen Gelegenheiten erklärt, sodass es überflüssig ist, das zu tun, auch in diesen äußerst privaten nächtlichen/morgendlichen Agenden. Mittwoch, 21. Januar Barack Hussein Obama ist gestern offiziell Präsident der Vereinigten Staaten geworden, und nach einem doppelten Mandat ist George Walker Bush nach Texas zurückgekehrt. Die kroatischen Politiker haben in den letzten Jahren so sehr mit dem Schwanz gewedelt und auf jede Regung aus dem Weißen Haus geantwortet, dass man meinen könnte, er sei auch unser Präsident geworden. Auch die Grenzen sind nicht mehr das, was sie mal waren, die Verstrickungen um die Bucht von Piran sind Beweis genug. Ich bin kein Zyniker, besonders wenn es um den Mann geht, der ein anderes Amerika symbolisiert (in jedem Fall ein anderes als das von Bush), und dessen Erscheinung epochal ist, unabhängig davon, was in der Zukunft geschehen wird und was aus vielen Gründen undankbar ist oder unmöglich vorherzusehen. Alle fragen sich, was wird Obama tun? Dabei ist das, was er getan hat, schon genug. Er hat gezeigt, dass es außer dem Fünfdollar- und Öl-Ranger noch ein anderes Amerika gibt, nicht nur ein weißes sondern auch negrides, hispanisches, transasiatisches und so weiter. Das heißt, wir leben in einer polyzentrischen Welt, die ein TIONS ebenso polyzentrisches Denken voraussetzt. Wer verkörpert sie besser als Obama, Sohn eines Kenianers und einer Amerikanerin, geboren in Hawaii, lebte in Indonesien und in den Armenvierteln von Chicago und wurde Senatsmitglied im Staat Illinois. Alles andere ist Geschichte. Wie kann ein durchschnittlicher Kroate mit durchschnittlicher Bildung und durchschnittlicher Menge eingeimpften Nationalismus begreifen, was sich im mächtigsten Staat der Welt ereignet? Aber lassen wir die Vereinigten Staaten. Obama hat Indonesien kennen gelernt, das mit 240 Millionen Einwohnern das viertgrößte Land der Erde ist (nach China, Indien und den Vereinigten Staaten). Dieser Inselstaat, zwischen dem Indischen und Stillen Ozean, zwischen Australien und dem Südchinesischen Meer, umfasst mehr als 17 Tausend Inseln. Worin besteht die Ähnlichkeit zwischen einem durchschnittlichen Yankee und einem durchschnittlichen Kroaten? Weder der eine noch der andere kann Indonesien auf der Karte finden. Wenn wir glauben, dass Quantität in einer bestimmten Phase in Qualität übergeht (was eines der Gesetze der Dialektik ist), wenn die Pythagoräer mit ihrer Zahlenlehre und der Rückführung der Wirklichkeit auf das quantitative Substrat nicht Unrecht hatten, dann muss man begreifen, dass sich die Welt aus der panamerikanischen Perspektive bedeutend anders darstellt als der balkanischen, auf die nationale Enklave begrenzte Perspektive. Selbst wenn ich rein gar nichts über Obama wüsste, hätte die Tatsache, dass ihn bei seinem Rennen um die Nominierung bei den Demokraten Bob Dylan und Bruce Springsteen unterstützen, genügt um zu begreifen, um welche Persönlichkeit es sich handelt. Die gestrige Amtseinführung war in vielem unvergleichlich Wörtlich: nach, jenseits des Grabes. Relation 1_2011.indd 96 30.4.2011. 17:53:02 RELA TIONS mit jedem Ereignis dieser Art. Eine solche Begeisterung konnte nur ein Politiker wecken, der Amerika zu seinen liberalen Ursprüngen führen will. Man muss nicht zusätzlich erwähnen, dass jeder positive Schritt in den Vereinigten Staaten einen positiven Schritt in der ganzen Welt bedeutet. Ich gebe nichts auf äußere Effekte, ich bin kein Anhänger von Massenversammlungen, doch das, was in Washington geschehen ist, entzieht sich den üblichen Qualifikationen und insbesondere den Disqualifikationen, die meistens mit der Psychologie der Massen verbunden sind. Hat nicht schon Gustave le Bon erklärt, dass die Methoden der Inquisition die Methoden aller sind, die wahrhaft glauben, hat er nicht explizit geschrieben, dass das Dogma des allgemeinen Wahlrechts dieselbe Macht hat, die einst die christlichen Dogmen hatten? Es ist ein abgelutschter Truismus, dass die Massen den Herrn instinktiv identifizieren, so wie Schafe ihren Hirten erkennen. Auch wenn ich nie Politiker favorisiert habe, möchte ich glauben, dass Obama jemand anderes ist. Wenn es keine Zufälle gibt, wenn es kein Zufall ist, dass ein Marmeladenbrot immer auf die beschmierte Seite fällt, dann ist die Tatsache, dass den Vereinigten Staaten genau zu diesem Zeitpunkt Obama geschehen ist, nicht ohne Bedeutung. Wenn seine Landsleute wenigstens einen Teil der Begeisterung bewahren, die sie am Dienstag zeigten, wenn ein Tausendstel der Atmosphäre, die über dem weißen Gebäude des Kongresses herrschte (auf dessen Westseite die Zeremonie der Amtseinführung gehalten wurde) in den Alltag hinübergerettet wird, dann wird Amerika eine bessere Richtung einschlagen. Und mit ihm die ganze Welt. So help me God ! Aber es ist schwer in rosa Farben auszumalen, was sein könnte, denn nach dem kurzen Streifzug in Washington folgt die Rückkehr in die kroatische Relation 1_2011.indd 97 Tagebücher Reality-Show. Die Zurückhaltung, mit der das offizielle Zagreb Obamas Machtantritt in den Vereinigten Staaten verfolgte, grenzt an Unhöflichkeit, wenn nicht an Primitivität, die in unseren Breitengraden erstaunliche Wurzeln hat. Ein uneingeweihter naiver Mensch könnte vielleicht denken, dass der Präsident von Serbien oder einer ähnlichen balkanischen Enklave inthronisiert und nicht der Chef einer globalen Supermacht in sein Amt eingeführt wurde. Man muss kein Spezialist für amerikanische Politik sein, um zu begreifen, dass Obamas Erscheinen aus vielen Gründen exemplarisch ist. Doch alles wäre anders, wenn ein Republikaner ins Weiße Haus eingezogen wäre. Dann hätte man in Zagreb gefeiert und alles wunderbar gefunden. Da beginnt und endet die Diskussion über das heutige Kroatien, ihren Politikern und dem herrschenden Verständnis von Demokratie, das nicht weiter reicht als das Bild eines ideologisch zementierten und einseitigen Staates. Samstag, 24. Januar Ich sitze im Großen Lisinski-Saal und warte auf die Satelliten-Übertragung aus dem New Yorker Metropolitan in high definition Technologie. Auf dem Programm ist Glucks Oper „Orpheus und Eurydike“. Die Geschichte ist seit Ovids „Metamorphosen“ bekannt. Eurydike wurde von einer giftigen Schlange getötet. Orpheus beweint den Verlust der geliebten Frau, und seine Liebe berührt Amor so sehr, dass er ihm erlaubt, in den Hades hinabzusteigen. Bei der Rückkehr aus der Unterwelt vergisst Orpheus Amors Ermahnung, dreht sich um, und Eurydike stirbt zum zweiten Mal. Orpheus singt die bekannte Arie „Che farò senza Euridice?“, die Götter sind wieder berührt und das Happy End ist sicher. Der Dirigent ist James Levine, Regisseur Mark Morris und in den Hauptrollen tra- 97 ten die Sopranistin Danielle de Niese (Eurydike) und die Mezzosopranistin Stephanie Blythe (Orpheus) auf. Bei der Uraufführung 1762 in Wien stand Gluck einer der besten Kastraten jener Zeit zur Verfügung, der Alt Gaetano Guadagni, für den Händel Arien im „Messias“ und „Samson“ schrieb. Ich war noch nie technikverliebt. Auch heute nicht, doch dank der virtuellen Welt tröste ich mich, dass ich in New York bin. Sonntag, 25. Januar Zu später Nachtstunde sehe ich einen amerikanischen Film „Smoke“. Nach der Vorlage von Paul Auster im Jahr 1995 von Wayne Wang. Ich weiß nicht, warum ich ihn mir wieder ansehe; aus Bequemlichkeit, die das Fernsehen ermöglicht oder weil der Film so gut ist, dass man ihn mehrere Male sehen kann. Die Handlung ist zum großen Teil auf ein Zigarettengeschäft in Brooklyn konzentriert, in dem der Besitzer Auggie (Harvey Keitel) mit seinen Kunden kommuniziert. Der Film ist als eine Kette von Geschichten strukturiert, und am meisten hat mich der Teil mit dem Schriftsteller Paul Benjamin (William Hurt) fasziniert. Paul ist in großer Verzweiflung, weil seine Frau gestorben ist. Einmal rettet ihn vor einem heraneilenden Lastwagen der junge Rashid. Paul erzählt Rashid zwei Geschichten, realistisch und fast fantastisch, und zeigt dabei, wie sehr ein Schriftsteller mit seinen Helden lebt und von der Suche nach einer Fabel besessen ist. Die erste bezieht sich auf einen Amerikaner, der beim Skifahren auf einem Berg verunglückte. Zwanzig Jahre später fuhr auf demselben Berg sein Sohn Ski und erkannte im Eis sein totes Antlitz. Er sah eigentlich seinen hibernisierten Vater, den Vater, der jünger als der eigene Sohn geworden war. Die zweite Geschichte spielte 1942 in Leningrad, zur Zeit der deutschen Okkupation, als in dieser Stadt etwa ei- 30.4.2011. 17:53:02 98 ne halbe Million Menschen starben. Die Bewohner Leningrads waren gefangen und ihrer Grundbedürfnisse beraubt. Dort lebte in dieser Zeit der bekannte Literaturkritiker und Linguist Mihail Bahtin. Er war leidenschaftlicher Raucher, und als er keine Zigaretten mehr hatte, stellte er sie her, indem er Tabak in die Manuskriptblätter seines neuen unveröffentlichten Buches drehte. Diese unglaubliche Episode scheint unvollständig ohne die Erinnerung and die Takte von Schostakowitschs Siebte Symphonie, der bekannten Leningrader. Der Film endete um zwei Uhr nachts. Natürlich die einzige Zeit, zu der man das staatliche Fernsehen sehen und ertragen kann. Mittwoch, 28. Januar Heute ist der 75. Geburtstag von Danijel Dragojević. Wenn er ein Sänger wäre, wie sein Landsmann, der Korčulaner Oliver, wäre ganz Kroatien auf den Beinen. Aber so regt sich nicht einmal das literarische Kroatien, obwohl daran die offiziellen Institutionen weder schuld noch verdient sind. Danijel mag keine Publizität, er will keinen Pomp, sodass in diesem Fall jeder beharrliche Versuch zum Scheitern verurteilt ist. Es ist nicht gut, wenn man ihn ignoriert, aber auch nicht, wenn man ihn nicht ignoriert. Das steht in der Beschreibung, was seine Person ausmacht, was neben dem Reiz seines Werks zu Dragojevićs Ruhm beigetragen hat, ein Ruhm, der in Zagreb mit den Jahren Ausmaße einer Legende angenommen hat. Vor mehr als dreißig Jahren lernte ich in einer Passage, die einerseits die Illica mit der Bogović-Straße, auf der anderen die Gajeva-Straße mit der Petrićeva-Straße (einstmals MarinkovićevaStraße) verbindet, viele Zugehörige der Krug-und Razlog-Generation kennen. Es ergab sich, dass Danijel 8 RELA Dossier: Zdravko Zima Dragojević nirgendwohin gehörte, außer sich selbst, mit dem, was er träumte und womit er ins Staunen versetzte, seine Befürworter manchmal auch vor den Kopf stieß. Er ging seinen Weg mit der Hartnäckigkeit eines Einsiedlers und dem Mut eines Außenseiters, konnte von literarischen Moden und noch weniger von Ideologien verführt werden oder von anderen Gruppierungen. Und Außenseiter sind in diesem Land alle, die die Integrität ihres Werks mit moralischer Integrität schützen. Dragojevićs Bücher haben einen besonderen Platz in meiner Bibliothek und wenn ich „Prirodopis“ (Naturgeschichte) und „Rasuti teret“ (Streugut mit seiner Signatur) in die Hand nehme, habe ich den Eindruck, dass sie nach so vielen Jahren nichts verloren haben. Die Gedichte „O ribama“ (Über die Fische), „Cipele“ (Schuhe), „Čovjek je dužan“ (Der Mensch schuldet), der Text „Otkriće“ (Entdeckung), in dem er über ferne Länder schreibt, in denen „das Licht nicht so leicht zum Kopf des Einzelnen durchdringen kann“, die Glosse über den Baum, die Eidechse Lucumoneo und was nicht alles, bleiben Zeichen einer Empfindlichkeit, die in der elementaren Energie der Sprache die Schönheit ihrer Offenbarung sucht. In unserer dichterischen und sonstigen Umgebung ist Dragojević eine abweichende Erscheinung. Deshalb ist auch sein Geburtstag oder Jubiläum so vergangen. Von der Norm abweichend. Zur Zufriedenheit jener, die ihr Vergessen jemandem anderen zuschreiben konnten als dem Gefeierten. Auf den heutigen Tag vor 20 Jahren ist Josip Sever gestorben. Dieser unglaubliche Verseschmied, einer der letzten authentischen Bohème, hat seine Berufung mit dem Grubenhandwerk vereint, er grub in den Urworten der Sprache, verband die TIONS ferne Vergangenheit mit der Postavangarde, den schamanischen Glauben in eine Sprache und postutopische Gravität. Einige Theoretiker neigen dazu, den Autor und dessen Privatleben streng voneinander zu trennen. Doch nur Sever konnte in Blinjski Kut geboren werden. In einem Ort, der mit seinem Namen Nähe und Ferne beschwört, Provinzialität und ökumenische Exotik, so sehr in seinen dichterischen Duktus eingeimpft. Die Dichtung verstand Sever als Musik, sodass ein entscheidender Moment im Verständnis seines Werks im öffentlichen Vortragen bestand (wie im Fall von Anka Žagar). Auch wenn er durch seinen Nachnamen8 und ästhetische Anstrengung hyperboreische Gefilde vermuten lässt, verbrannte Sever in der Hitze seines Temperaments und lexikalischen Explosion, bereit, die Welt zu verändern, indem er sie noch einmal umbenannte. Er war der einzige Diktator, den wir liebten und der einzige Anarchist, der für diesen Status ausreichend Glaubwürdigkeit besaß. Sein Gedicht „Zeichen des Krieges“ zitiere ich ganz: „Wildes Blut/ schärft meisterhaft Auszeichnungen/ im winterlichen Finnland/ das Pfeifen des Windes/ bis weit nach Afrika/ bis zu den Chephren/ dem ewigen Stab / Erbe der Wandervögel/ meißelt das Abbild/ finnischer Seen/ im Schatten / binärer Dünen/ auf der Schlangenbrust/ auf dem Jaguar des Rudiments/ auf dem Gefieder des Sperbers/ in großen Höhen/ in der dreisten Anziehung des Textes.“ Das war Sever. Dreiste Anziehung des Textes, worin ihm viele folgen und dabei zuviel Dickköpfigkeit und zu wenig Einfallsreichtum zeigen. Ein Brief aus Split ist gekommen, unterzeichnet von Nikola Visković. Das erwähne ich aus zwei Gründen; wegen des Namens des Absenders aber auch wegen der Tatsache, dass Sever bedeutet Norden. Relation 1_2011.indd 98 30.4.2011. 17:53:02 RELA TIONS Split, Schriftsteller, Zoologe, Botaniker, Gründer der Grünen Aktion und in den letzten Jahren befasste er sich systematisch mit der Erforschung erotischer Elemente in der Literatur und anderen Künsten. Die meisten Artikel sind der Rechtsproblematik gewidmet. Doch wenn ich behaupte, er sei Zoologe, denke ich an sein Buch „Životinja i čovjek“ (Das Tier und der Mensch; an erster Stelle das Tier), wenn ich behaupte, er sei Botaniker oder Dendrologe, dann spiele ich an sein Buch „Stablo 99 i čovjek“ (Der Baum und der Mensch; an erster Stelle der Baum) an. Einige Eigenschaften von Visković schätze ich besonders; seine fanatische Hingabe an die Arbeit und Kompetenz verbunden mit Ethik. Wenn man das richtig aufwerten würde und es mehr solche Menschen gäbe, wäre Kroatien nicht das, was es ist. Das Schlusslicht Europas. Aus dem Kroatischen übersetzt von Blažena Radaš Foto: © Višnja Arambašić Episteln, von Hand geschrieben, mit Tinte sogar, heute ausnehmend selten sind. Professor Visković meldet sich sporadisch und die Briefe, die ich bekomme, sind ein Bild seines Charakters. Das Bild eines Intellektuellen, der sich vollkommen seinem Fach widmet, auch wenn das in seinem Fall nicht leicht zu bestimmen ist. Er ging in Santiago de Chile, Zagreb, Straßburg, Helsinki und Rom zur Schule, ist Spezialist für Rechtstheorie, langjähriger Professor der Juristischen Fakultät Tagebücher Relation 1_2011.indd 99 30.4.2011. 17:53:02 RELA 100 TIONS Noch ist es Nacht, August Zdravko Zima E ndlich haben wir Frieden. Mit diesen Worten wandte sich an seinen Gesprächspartner ein älterer Herr, nachdem er sich am zentralen Zeitungsstand am Jelačić-Platz, als würde er von überreifen Reben Weintrauben pflücken, mit einer großen Menge frischer Zeitungen eingedeckt hatte. Etwas war mir dabei nicht klar. Ein Mensch von rentnerischer Statur, der mit dem Blick eines unschuldigen Neugeborenen dem journalistischen Karma entgegeneilt. Nicht nur, dass ich mich diesem Anblick gewundert hätte, weil Rentner hierzulande zu Bettlern gemacht wurden, was ihren Alltag zusätzlich interessant macht, vielmehr fragte ich mich, während ich diesen gut erhaltnen Siebzigjährigen betrachtete, wo er denn seine Erfahrungen verloren hätte. Dem Aussehen nach hätte man meinen können, er sei in Versailles zur Welt gekommen, am Anfang des Jahrhunderts, als dort das erste Jugoslawien geschaffen wurde, seinen Gesten zufolge hätte es leicht möglich sein können, dass er sein Leben als Tierarzt verbracht hatte, der sich zu jeder Zeit und in jedem Regime in seiner esopischen Profession zusammenkauern konnte. Der Glückliche. Ich beneidete ihn, nicht seiner Jahre, sondern des Enthusiasmus wegen, mit dem er die Zeitungen an sich drückte, als habe er sich der schönsten aller Frauen bemächtigt und nicht bloß die Möglichkeit honoriert, mit schmutzigen Fingern nach Hause zu kommen. Relation 1_2011.indd 100 Und der Glückspilz machte sich zusammen mit seinem Freund oder Bekannten auf den Weg irgendwohin, während ich ihnen nachblickte, als würden Marsmenschen über dem Platz schleichen und nicht zwei aus keinerlei Grund besonders interessante Männer (Kroaten, allem Anschein nach). Das beschriebene Tandem, in dem der Herr mit dem Bündel frischer papierner Essensreste immerhin der wichtigere war, ging weiter in Richtung Stadtcafé, oder vielleicht noch weiter, zum neueröffneter Restaurant Jana, auf dessen Terrasse man glaubt, man sei am Meer. Es ist Sommer, der Abend dämmert, und es gibt wohl nichts gescheiteres, als diesen in Gesellschaft eines treuen Freundes in der Nähe der Zagreber Kathedrale zu genießen. Es ist August, in der Stadt spürt man die Leere, in diesem Fall urlaubsbedingt. Würden wir doch statt unserem „kolovoz“ doch zum geheiligten August zurückkehren! Aber das hat keinen Sinn! Latein ist sowieso tot, während wir erst neulich begonnen haben, zu leben. Einerseits symbolisiert August den unberührbaren Kaiser und Pantokrator, andererseits den lustigen Clown, sodass es durchaus passieren könnte, das jemand darin eine böse Anspielung erkennt. So gebe ich mich lieber meiner Fantasie hin. Am schlimmste aber ist, dass ich nach wie vor an jenen fröhlichen Tierarzt denke, der hier um die Ecke irgendwo sitzt, je- nen riesigen Haufen Papier durchblättert und lauthals die Schlagzeilen kommentiert. Ja, sieh mal einer an, was die hier schreiben! Freiheit, die aus den Händen gleitet wie Bier, das über den Rand unserer Gläser rinnt. Ein Skandal jagt den anderen, aber die Hälfte davon ist frei erdacht oder einfach übertrieben, aber die Journalisten müssen ja auch von etwas leben. Diebstähle, sinnloses Hin und Her, hier und da eine geisterhafte Fabrik, Mufflonfarmen oder Jachten mit prunkvollen Wohnzimmern und Theken aus echtem Mahagoni. Damit man etwas zu trinken zur Hand hat, während man die Adria umsegelt und eine liebliche Nixe unter dem Arm hält. So sitzen also unsere Siebzigjährigen, prosten einander mit lauwarmem Bier zu und demonstrieren durch ihr Beispiel, wie sehr sich jene im Unrecht befinden, die viel Lärm um ihre mickrigen Renten machen. Den Alten geht es nicht schlecht, den Jungen sogar noch besser. Du trinkst zwei-drei Krüge leer, wirfst einen Blick auf die rundliche Kellnerin und schon sieht das Leben schöner aus. Ich hab sie langsam satt, diese Kroaten, ihr dauerndes Meckern und Opponieren. Niemals sind sie zufrieden. Jahrhunderte lang jammerten sie um ihren Staat und jetzt, wo sie ihn haben, meinen sie, es gäbe dort nicht genug Bürgerrechte. Gibt man ihnen Freiheit, behaupten sie, sie lebten in Anarchie oder aber sie stürzen 30.4.2011. 17:53:02 RELA TIONS sich auf die Gesetze, die sie selbst verabschiedet und den europäischen Standards angepasst haben. Seinem Vokabular und der Leidenschaft zufolge, mit der er die Zeitungen an sich gepresst hatte, könnte mein unbekannter Siebzigjähriger ungefähr so räsonieren. Schließlich zahlte er die Rechnung, grüßte seinen Kumpel und trottete nach Hause. Gegen Mitternacht legte er sich ins Bett und schloss zufrieden die Augen. Mücken plagen ihn nicht, Barbiturate braucht er ebenfalls keine. Endlich haben wir Frieden. Ich hoffe, dass der lebhafte Veterinär – oder besser gesagt Veteran – ruhig schläft, was logisch anzunehmen ist, wenn ich nur daran denke, wie wohlgemut er durch Zagreb schritt, glücklich mit sich selber und dem Bouquet aus Papier, das ihn wie einen August dastehen ließ, der ganz Kroatien in der Hand hält. Es ist nacht, der Himmel ist heiter und du schläfst, August. Vielleicht ist es auch unzutreffend, dass ich dich so intim anrede, als würde ich dich seit jeher kennen und wir hätten zusammen unsere Ziegen gehütet, aber ich tue das nur deshalb, um zu zeigen, dass sich mein beiläufiges Portrait mehr von Gutmütigkeit leiten ließ, als vom heutzutage dermaßen verbreiteten Zynismus. Es ist schwer, jemanden in ein Paar Pinselstrichen zu portraitieren, ja es ist sogar gefährlich. Denn, um ein menschliches Wesen darstellen zu können, musst du seine Eingeweide betreten, seine Seele, und dabei wissen wir nur allzu gut, wie es Faust ergangen war, und allen anderen Seelensuchern, die mit diesen gespielt hatten, wie kleine Jungen mit ihren Murmeln. Mein einstiger Freund oder bekannter hat eine Novelle geschrieben, die von einem Maler handelt, der seinen Lieblingsdichter so teuflisch gut portraitiert hatte, dass dieser schließlich verschwand. Dieser Maler, ich glaube, er nannte sich Luka, hatte mit seinem Pinsel einen Schreiberling Relation 1_2011.indd 101 Feuilletons weggewischt, als würde er Staub von seiner Staffelei wischen. Ich habe weder eine derartige Macht, noch ähnliche Ambitionen. Und überhaupt, wer braucht schon Mystifizierungen? Seit seiner ersten Anfänge ist das Portrait an den Kult der Verblichenen gebunden, und wir leben in einer Zeit der Agonie, die wiederum ein neues Morgengrauen ankündigen sollte. Ich weiß nicht, was das für ein Albtraum sein soll, wie es möglich ist, die Vergangenheit durch Gegenwart zu ersetzen, dass sich das Alte als das Neue zeigt, aber während ich dich ansehe, August, während ich im Kopf jenen Film abspiele und mir vorstelle, wie du durch die Stadt paradiert bist, scheint es mir, nichts sei verloren. Wir sind schon soweit, dass Dreikäsehochs ihren Lehrern Lektionen erteilen, während Kinder mit erhobenem Zeigefinger jenen drohen, die sie zur Welt gebracht haben. Niemand nimmt auf niemanden Rücksicht. Wir brauchen Ordnung, aber keine Autorität. Du schläfst, August, ich aber stehe auf meinem Balkon und lausche der nächtlichen Stille. Ich würde daraus keinerlei Schlüsse ziehen, vor allem nicht zu meinem eigenen Vorteil. Mein Wachen ist vielleicht nichts anderes, als eine Frage des Biorhythmus, eine Variante der modernen Morbidität und der Bedürfnisses, mich an andere Stimmen zu wenden, als jene es sind, die der Tag uns unterschiebt. Baudelaire, seines Zeichens ein großer Nachtliebhaber, war zum Schluss gekommen, die Menschen würden die Herrschaft vergöttern. Das ist alles. Ich würde mich niemals mit einem Dichter streiten, den Benjamin mit Dante verglichen hatte, ist es aber so, wie Baudelaire behauptet, dann verliert sich all unsere Mühe im Nebel, jenem kosmischen, zu dem wir früher oder später ja sowieso verurteilt sein werden. Wir entblößen unsere Herzen, ärgern uns und spielen Ungläubige, die Messe aber ist schon 101 vorbei und war überdies im Vorhinein regiert. Für jede eventuelle Wiederholung. Du schläfst ruhig und hast dich vielleicht nicht nur in ein Laken gehüllt, sondern auch in einen therapeutischen Traum: ich beneide dich darum, August. Du weißt, was ein Staat ist und weißt genauso gut, dass dieser, um bestehen zu können, der Herrschaft nicht entbehren kann. Das war auch Thomas von Aquino klar, der uns weismachte, die Anforderungen der Herrschers hätten die Kraft von Gesetzen. Aber der berühmte Dominikaner behauptete ebenfalls, Christen müssten sich keiner Herrschaft beugen, die nicht gerecht sei, es sei denn, sie wollen einem Skandal oder einer potentiellen Gefahr aus dem Weg gehen. In dieser Augustnacht würde ich der Strenge des scholastischen Doktors gerne dem Unernst Jaroslav Hašeks gegenüberstellen. Nicht nur des Sentiments wegen, sondern auch, weil Hašek in der Dämmerung des 20. Jahrhunderts, bevor die giftigen Blüten des Kommunismus und des Faschismus zu blühen begannen, begriffen hatte, was für eine Schweinerei sich hinter politischen Phrasen und jener pompösen Geschichte verbirgt, die er nicht anders hatte bezeichnen können, als lausig. Auch Havel wäre in seiner heutigen Ausgabe nicht möglich gewesen, wäre ihm Schwejks Vater nicht zuvorgekommen, mit dem sich die große Schule der Entmystifizierung und Antipolitik angekündigt hatte. Uns aber, August, fehlen nicht nur Schriftsteller, sehen wir mal von den künstlichen und hohlköpfigen ab, denn die gibt es ja zuhauf. Es fehlen uns Hašeks, die es verstehen würden, unserer eigenen Dummheit und Zurückgebliebenheit ins Gesicht zu lachen. Statt sich in jene, die ihr Gewerbe beherrschen und jene, die es nicht tun, zu teilen, legitimieren sich die Schriftsteller in Kroatien am Ende des 20. Jahrhunderts als staatsbildend. Alle Hässlich- 30.4.2011. 17:53:02 102 keit dieses Attributs wird sichtbar, wenn man versucht, es in eine andere Sprache zu übersetzen. Sie ist dermaßen hirnverbrannt und retrograd, dass sie in ihrem kläglichen Humor bestenfalls zum Objekt des Spotts eines zukünftigen, hoffentlich kroatischen Hašeks werden könnte. Deshalb wundere ich mich ja auch über den gutmütigen August, der schläft, obwohl das sein Monat ist und auch ein Neumond steht als Schmuckstück am Himmel. Ihm genügt es, Schlagzeilen zu sehen, die Frieden im balkanischen Areal ankündigen, und schon ist er selig. August scheinen keine allzu großen Sorgen zu plagen und deshalb konnte er wohl, trotz seines Alters, mit jenen Zeitungen bewaffnet durch die Stadt paradieren, als würde er zu einer Hochzeit gehen. Die Sprache hat sich jedoch abermals untergeschoben, um ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen. Was hätte ein schlafender Optimist über einen Staat zu sagen, dessen sozialer Instinkt, oder die Sorge um die menschliche Würde, damit endet, dass Sorge zugunsten von Fürsorge aufgehoben wird. Niemand kümmert sich mehr um etwas. Wortwörtlich. Von den Wörtern kommen wir allmählich zu den Taten und noch einer weiteren Teilung. So ist heute der Aufschwung all jener bemerkbar, die die territoriale Begrenztheit ihres Staates glücklich mit ihrer eigenen Begrenztheit gleichgesetzt haben. Ihnen gegenüber melden sich jene zu Wort, die niemandes Territorium mystifizieren, ja nicht einmal das eigene, und die das periphere des Landes nicht mit dem kroatischen provinziellen Geist verwechseln möchten. Über der balkanischen Einöde wird morgen der Frieden aufleuchten und es bestehen gute Aussichten, dass die Qualität dieses Wortes, trotz seiner Winzigkeit, so viele Appetite befriedigen könnte. Wir werden Frieden schließen mit dem Feind, den wir Relation 1_2011.indd 102 RELA Dossier: Zdravko Zima nur allzu oft mit einem ganzen Volk gleichgesetzt haben, und Masken auflegen, für die uns auch die größten Meister der Heuchelei beneiden dürften. Jene albionischen, über die wir in unserer Heuchelei so oft empört haben. Aber, sollten wir zum gestrigen Aggressor nun die bestmöglichen Beziehungen knüpfen, sollten über Nacht überlebende Söhne und ermutigte Töchter in beiden Richtungen zu laufen beginnen, sollte die nachbarschaftliche Rivalität in Schwarzhandel und anderen lokalen Disziplinen wieder aufleben, werden wir uns um einen gebührenden Feind schon zu sorgen wissen. Wir können durchaus ohne dies oder jenes auskommen, sind an alle möglichen Mängel gewöhnt, aber ein Mangel an Feinden – das auf keinen Fall. Noch dauert die Nacht, August, und ich sitze in der Küche und warte auf jenen magischen Augenblick, wenn sich an den Rändern der Stadt die ersten Zeichen Frau Auroras zeigen. Du weißt, dass die Morgenröte eine Freundin der Musen ist, aber davon ist jetzt nicht die Rede. In deiner Zeit, ich weiß nicht, wie sie war, aber nach deinem Aussehen zu schließen, wird sie wohl reich und erfüllt gewesen sein, hast du bestimmt einige Konstanten erkennen können, von denen sich dieser Boden nur schwer oder gar nicht trennen kann. Mit meiner Erfahrung, die sich mit der deinigen nicht messen kann, scheint es wir, dass wir mit unser VorwärtsRückwärts-Philosophie, einer, wie Krebse sie anwenden, und die hierzulande ja so eine lange Tradition hat, den Feind am schwersten loswerden können. Wahrscheinlich wegen unserer eigenen Komplexe oder unseres Portraits im Negativ. Der Feind ist unser Leitmotiv und unsere geistige Nahrung, und im Moment der allgemeinen Aussöhnung, die deinen sprichwörtlichen Elan zusätzlich gesteigert hat, werden wir uns schon zu helfen wissen, um nicht ohne die- TIONS ses lebensspendende Fragment auskommen zu müssen. Wenn die Türken, Venezianer, Schwaben und weiß Gott wer noch schon nicht mehr da sind, finden wir im eigenen Hof bestimmt Grund genug, um zu hassen. Hass, welch schweres Wort im Morgengrauen, wo ich mich doch unvergleichbar schöneren Themen hingeben müsste. Es tut mir leid, dass ich aus meiner Behausung jenseits der Save beinahe telepathisch und schamanisch deinen Schlaf störe. Es tut mir leid, dass ich das zugeben muss – sowohl vor mir selbst, als auch vor anderen – aber nach allem, was vorgefallen ist, werde ich den Eindruck nicht los, wir seien unerreichbare Champions, wenn es darum geht, Nebel zu verkaufen und Feinde zu vervielfältigen. Am Feind arbeiten wir nicht deshalb, weil wir dächten, er sei allzu wichtig, sondern weil wir auf diese Weise unsere eigene Wichtigkeit vergrößern können. Gehst du die Straße entlang, kennst niemanden und bist für niemanden interessant, dann wird es das beste sein, den erstbesten Passanten anzurempeln. Du kennst doch diese Methoden, August, obwohl ich deine Manieren kein Bisschen anzweifle. Und so rempelst du dem Menschen also an, ihm fällt die Brille herunter, gleich eilen noch zwei-drei andere herbei und vielleicht auch ein Polizist. Wer behauptet, der Alltag sei langweilig, der ist blöd, oder wurde von Gott durch Mangel an Erfindungsgeist gestraft. Feind, wie bekannt das doch klingt. Hat er sich versteckt, hab geduld, gibt es ihn nicht, erfinde ihn. Und fühlst du dich vor ihm etwas ohnmächtig, nähere dich ihm und umarme ihn, als würdest du ihn mögen, wie Marinković das in einer seiner klassischen Novellen ballettisiert hatte. Es ist Morgen, die Welt wird neugeboren, und würden wir in Šops oder Holans Zeit leben, würde man jetzt das Krähen eines Hahnes vernehmen. Ich weiß, 30.4.2011. 17:53:02 RELA TIONS Es ist vielleicht eigenartig, dass ich neben meinen Freunden und Altersgenossen gerade einen älteren Menschen als Mitspieler gewählt habe, den ich noch dazu nicht einmal kenne. Außer, wenn man unter Kennen die Tatsache verstehen würde, dass ich dich am Platz gesehen habe, wo du, wie einst Ive Mihovilović, ein Bündel frischer Zeigungen auf die Schulter gepackt hattest. Jene, die uns nahe stehen, sind uns manchmal so fern. Du, den ich so verschwörerisch anspreche und dem ich mich einen Namen zu verpassen getraut habe, wirktest auf mich wie ein Verwandter, obwohl ich weder an Patriarchalität leide, noch deinen er- 103 quickenden Optimismus teile. Ich habe keine Illusionen, bin weder Illusionist noch Clown, aber jetzt, wo ich mich fürs Bett vorbereite, fällt mir einer unserer berühmten, stets mürrischen Schriftsteller ein, der das Syntagma „illusionistisches Kroatentum“ erfunden hatte. Du weißt, wer es ist, und es scheint mir, ich hätte dem jetzt nichts mehr hinzuzufügen. Ich begebe mich in meine Tagesnacht, wenn du nichts dagegen hast. Guten Morgen, August, und lass dir den Kaffee munden! Aus dem Kroatischen übersetzt von Boris Perić Foto: © Višnja Arambašić dass das, worüber ich nachdenke, mit der Poesie eines Sommermorgens nicht in Einklang steht, ja nicht einmal mit dir, August, der du schon bald mit einem Vergnügen, dass ich mir nur vorstellen kann, deinen ersten Kaffe schlürfen wirst. Alles ist auf den Kopf gestellt und sollte jemand jemandem einen Vortrag halten oder eine entsprechende Dosis Zynismus einspritzen, wärst du auf jeden Fall vor mir an der Reihe. Ich hoffe zumindest, du zweifelst meine Absichten nicht an und weißt, dass ich mich von keinem verdeckten Beweggrund habe leiten lassen, es sei denn, ich würde die Anforderungen meiner Schlaflosigkeit dazu zählen. Feuilletons Relation 1_2011.indd 103 30.4.2011. 17:53:02 RELA 104 TIONS Ein Traum namens Gimignano Zdravko Zima Ü ber das Reisen schreibend, war Baudelaire vor langer Zeit zum Schluss gekommen, die Welt sei klein und würde stets dieselben Dramen in sich bergen. Seit damals hat sich die Welt vielleicht nicht wesentlich verändert, außer, dass sie kleiner und gesichtsloser geworden ist, als sie es in der Vision des französischen Dichters bereits gewesen ist. Zu Baudelaires Zeiten ahnte man noch nichts von einem Telefon, während es heutzutage genügt, einen Internetanschluss zu haben, einen Helm für virtuelle Realität auf den Kopf zu setzen und zu Hause zu hocken, in der Hoffnung, es sei möglich, sich zu jedem bleibeigen Zeitpunkt in jeder beliebigen Ecke des Erdballs zu finden. Aber reisen ist nicht nur eine Frage der Technik. Es wird nicht nur einer Stadt oder Landes wegen gereist, von dem man jahrelang geträumt hat: man reist ebenfalls wegen dem alltäglichen Bedürfnis nach Veränderung und dem Wunsch, dass man das, was man in sich trägt und was einen plagt, im Meer einer neuen Sprache und einer anderen Landschaft desinfiziert. Aus alldem ist leicht festzustellen, dass das Reisen einen Schritt auf das Neue zu darstellt, gleichzeitig aber auch das eigene Innere aufdeckt. Vielleicht legitimiert sich der Einzelne nirgends so deutlich wie auf Reisen oder in einer Situation die sich in vielerlei Hinsicht von den Schablonen des Alltags unterscheidet. Wer lustig und verrückt ist, wird auf Reisen ebenso sein, wer mürrisch ist, Relation 1_2011.indd 104 dem Springt sein Charakter im entscheidenden Moment aus dem Gesicht, wie ein Pickel. Die kroatischen Schriftsteller haben nie übertrieben viel gereist und es ist gewiss nicht leicht, festzustellen, in welchem Maße diese Tatsache durch deren materiellen Status bedingt war und in welchem durch den Geist eines Volkes, das geneigter ist, den eigenen Hof zu behüten, als nach neuen Horizonten zu suchen. Würde man unsere Literatur danach beurteilen, wie offen und wanderlustig ihre Protagonisten gewesen sind, würde man im Kreis der Auserwählten auf Česmički, Držić, Kamov und Matoš stoßen. Sie alle sind viel in Italien herumgereist: Česmički und Držić haben dort studiert (ersterer in Ferrara und Padua, letzterer in Siena), Kamov war viel zu temperamentvoll, um sich irgendwo im Ausland länger aufzuhalten, während Matoš sich Florenz einzuschmeicheln suchte und es zum Grundsatz ernannte, obwohl er an anderer Stelle behauptete, Italien sei eine große Täuschung und nur Reklame. Selbst der durchschnittliche Meister der Sophistik wird Matoš mit Leichtigkeit bestätigen oder dementieren können. Reisen ist Täuschung, aber auch Strapaze. Globalisierung und Profithunger haben das Reisen zum Konfektionsprodukt von suspekter Qualität gemacht, sodass der Mensch von Zeit zu Zeit entsetzt feststellen muss, dass es in den großen Destinationen die- ser Welt so gut wie niemand anderen gibt, außer einer Schar nervöser Touristen, die auf ihre Kameratasten drücken oder dem Cicerone nachlaufen. Im in Brunelleschis Kuppel in der florentinischen Kirche Santa Maria del Fiore steigen zu können, muss der interessierte Besucher stundenlang in kilometerlangen Warteschlangen ausharren, dann Eintritt bezahlen, alle möglichen Kontrollen passieren und zum Schluss klaustrophobische Gänge emporklettern, die einem den Ausblick auf eine der wundersamsten Städte des Erdballs gewähren. Bei der ganzen Geschichte muss Gott selbst seine Finger im Spiel gehabt haben, aber die Jagd nach Geld, das Sirenengeheul der Krankenwagen und der Fluss der Touristen, der mythische Bilder vor Augen ruft (mit Tausenden von Gläubigen auf der Suche nach dem gelobten Land) haben den Effekt eines Vorhangs, der auf das Gesicht der schönen Frau Florenz niederfällt. Und wenn jemand noch dazu böse genug ist, um zu sagen, der David vor dem Palazzo Vecchio sei nur eine Kopie, der Espresso dafür aber viel zu teuer, wenn auch unvergleichbar schlechter als in vergangenen Jahren, schreit das Misstrauen zum Himmel. Während er in Zagreb ist, fragt sich der Mensch bestimmt, warum er nicht nach Florenz reist, sitzt er aber auf der Piazza della Signoria, fragt er sich, warum er nicht zu Hause geblieben ist. Träume sind ja offensichtlich 30.4.2011. 17:53:02 RELA TIONS dazu da, um unterstützt oder verworfen zu werden, wie ein Ballon, dem schon ein leiser Windhauch genügt, um aus unserem Blickfeld zu verschwinden. Und wo wie jener Pero Orlić aus Krležas Novelle jahrelang von Paris geträumt hatte, so träume ich von San Gimignano. Ich wusste, was Venedig ist und was Rom, aber mit San Gimignano hatte mich vor langer Zeit ein gebürtiger Berliner Jude angesteckt. Walter Benjamin. Obwohl aus dem Norden und seines Zeichens ein Ahasver, der in Hitlers Ära mit Mühe seinen Unterschlupf gesucht hatte, war er von Italien angetan und beschrieb in einem kurzen Aufsatz über Hugo von Hofmannsthal San Gimignano, das den Glanz der Stadt und die Seeligkeit des Landes in sich trägt. Viel Wasser ist unter dem Ponte Vecchio verflossen, viele Geschichten wurden beendet und viele begonnen, bis ich nicht in diesem toskanischen Wunder ankam, das etwa fünfzig Kilometer südliche von Florenz verborgen liegt. Dem Fremden schmeichelt sich San Gimignano bereitwillig ein. Auf einem Hügel gelegen hinterlässt es mit jenen Mauern und Türmen (14 an der Zahl) schon von weit her den Eindruck, die Mühe der Reise sei nicht vergebens gewesen. Aber, zwischen Walter Benjamins Stadt und jenem, was ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe, erstreckt sich eine Entfernung ungefähr wie zwischen Himmel und Erde. Daran ist nicht Benjamin schuld, der seinen Aufsatz vor dem Zeiten Weltkrieg geschrieben hatte, und nicht einmal ahnen konnte, was der Wahnsinn des Massentourismus alles mit sich bringen würde, oder aber, dass er selbst im mediterranen Raum sein Ende finden wird. Mit seiner Architektur und seinen Relation 1_2011.indd 105 Feuilletons Mauern, seinen Zypressen und Türmen, ruft San Gimignano mehr als alles andere jene Ruhe vor Augen, die ihm ohne jegliche Rücksicht aus den Eingeweiden gerissen wurde. Mehr Seeligkeit herrschte dort wahrscheinlich im Mittelalter, trotz den blutigen Schlachten zwischen Florenz und Siena, als jene Türme entstanden sind und als sich die Stadt, je nach Lage, mal zu den Welfen, mal zu den Waiblingern bekannte. Eine ganze Ewigkeit lang wartete ich auf die Vorstellung, die sich San Gimignano nennt, wahrscheinlich so, wie Vladimir und Estragon auf Godot warteten, bis schließlich ein Nieselregen, unterstützt von Schülerexkursionen, einen Traum wie einen Luftballon zum platzen brachte und dazu führte, dass ich mich nur mit Mühe durch die Porta San Giovanni, wie der zentrale Eingang in die Stadt heißt, hindurchquetschen konnte. Die Chronik der Konflikte zwischen den Welfen und den Waiblingern erinnert uns daran, dass die goldumrandete Geschichte mit Millionen von Leichen bezahlt worden ist, die Bürger von San Gimignano aber rühmen sich der Tatsache, dass Dante als Bote der vereinigten welfischen Städte der Toskana am 8. mai 1300 die Stadt besucht hatte. Die Hauptstraße, Via Franchigena, erinnert an den Stradun, obwohl sich keine Stadt, wie auch kein Mensch, zur Gänze auf eine andere zurückführen lässt. Es regnet beharrlich und der Pilger weiß an der Schwelle des dritten Millenniums nicht, wo er hinschauen sollte: auf die Regenschirme, die in den Händen der Ungeduldigen zu gefährlichen Schwertern werden, auf die Kinder, die von allen Seiten herbeiströmen, oder auf die zweibögigen Fenster, die Türme und Paläste, Log- 105 gien und Fresken, die enthüllen, was San Gimignano einst gewesen ist und wofür man heute in handfesten Euros zu zahlen hat. Trotz der Kirchen San Agostino und San Bartolo, trotz der Piazza della Cisterna und einem dermaßen bizarren Punkt, wie es das Museo della tortura ist (als wüsten wir nicht, wer die größte Bestie ist), ist es schwer, nicht auch einen Blick auf die Önotheken und sorgfältig aufgestellten Weinflaschen zu werfen, durch die sich eine feine, aber schwer verständliche Erotik hindurchzieht. In San Gimignano wird der traditionelle Vernaccia getrunken, eine von Gott gegebene Flüssigkeit, deren übermäßiger Genuss, so will es zumindest der strenge Meister Dante, Papst Martin IV in Fegefeuer gebracht hatte. Der König der Rotweine nennt sich Brunello di Motalicino, obwohl er seines Ranges, aber auch seines gesalzenen Preises wegen vielen im Hals stecken blieb. Zu Mittag wird Ribollita serviert, eine derbe Volkssuppe aus Brot, aber ausgezeichnet, wenn sie von einem Sachkundigen zubereitet wird. Danach werden Kaninchen empfohlen, Wildschwein und Tauben, in Wein gekochte und in Speck und Kraut gehüllt. Schließlich endeten der Reisehunger und das Dürsten nach Kunst im Magen. Ich bin nicht der Meinung, das sei schlecht, denn ich bezweifle, dass Asketentum und Fanatismus der Menschheit Glück gebracht haben. Das Glück liegt in den kleinen Dingen und kleinen Städten, wie es, zumindest in den Täuschungen des Weines, San Gimignano geblieben ist. Aus dem Kroatischen übersetzt von Boris Perić 30.4.2011. 17:53:02 RELA 106 TIONS Der Gondoliere auf der Moldau Zdravko Zima S tatt der erwarteten Ansichten malerischer Badeorte, dekoriert mit Luftmatratzen und halbnackten Schönheiten, verlief der Sommer 2002 im Zeichen von Unwettern, Fluten und überfluteten Sonnenschirmen, die nach den unaufhaltbaren Regengüssen an gefallene Krieger auf einem Schlachtfeld denken ließen. Trotz der menschlichen Hoffnung, Kriege würden in die Vergangenheit oder zur Fantasie von Filmregisseuren gehören, trotz der Tatsache, dass die südöstliche Ecke Europas in virtuellen Frieden eingetaucht ist, erinnerte dieser glimmende (Winter)Sommer mehr als alles andere an Krieg. Aber, im Gegensatz zu den herkömmlichen, in Geschichtsbüchern beschriebenen Kriegen, traute sich kaum jemand, sich das Szenario auch nur auszumalen, nach dem sich all das abgespielt hatte. Es kämpften nicht Menschen gegen Menschen, es schlug kein Volk auf sein Nachbarsvolk ein, nein, es war die Natur, die eine Offensive gestartet hatte. Und gegen wen sollte die Natur wohl Krieg führen, wenn nicht gegen jenen, der sie so seelenlos und so systematisch vernichtet? Die Folgen sind offensichtlich, die Verluste werden zusammengezählt, obwohl es nicht leicht fällt, anzunehmen, jemand würde oder wollte daraus die nötigen Schlüsse ziehen. Deshalb ist die Frage, ob Fluten Naturereignisse seine, die oft gestellt wurde, nachdem die Wassermassen Relation 1_2011.indd 106 große Teile des alten Kontinents verwüstet hatten, einfach lächerlich. Man wird sie doch nicht etwas geklont haben, um sie zu teuflischer Stunde den Völkern Zentraleuropas als neues Unglück unterzujubeln, obwohl sie sich noch nicht einmal vom Kommunismus erholt haben. Obwohl Meteorologen die enormen Regenfälle und die darauf folgenden Fluten den Bahnen der Zyklone, plötzlichen Konfrontationen kalter und warmer Luftmassen und der Bildung atmosphärischer Fronten zuschreiben, ist es schwer anzunehmen, der Mensch sei am ganzen Schlamassel völlig unschuldig. Wer die Bibel – jenes Buch, auf das sich am meisten jene beziehen, die es am wenigsten in der Hand gehalten haben – gelesen hat, wird bestimmt wissen, dass der Kampf zwischen dem himmlischen Heer und der Mächte des Übels durch Beschreibungen illustriert wurde, die in vielerlei Hinsicht an jene Szenen erinnern, die der Mensch in diesem katastrophischen August auskosten musste. Die apokalyptischen Schriften stützen sich in großem Maße auf die Philosophie der Zahlen (sieben Siegel, sieben Posaunen). Die Zahl sieben ist aber genauso kennzeichnend für den tschechischen Schriftsteller und Apatriden Kundera, der alles andere als dem Glauben verfallen zu sein scheint. In seinem letzten Roman erklärt Kundera, alle großen Daten in der Geschichte des 20. Jahrhunderts seien durch Kerben registriert worden, die sich am besten mit Einschlägen von Äxten vergleichen lassen. Sein Verhältnis zur Geschichte ist zutiefst widersprüchlich, getragen von organischem Ekel, aber auch der abermaligen Rückkehr zu gewissen Daten, ohne die weder er, noch seine Literatur funktionieren könnten. Die Geschichte seines Volkes, schreibt Kundera wörtlich, sei im vergangenen Jahrhundert von einer seltenen mathematischen Schönheit geschmückt gewesen, die aus dem dreifachen Repetieren der Zahl 20 hervorgegangen war. Wie ging das? 1918 bekamen die Tschechen ihren Staat, die sie bereits 1938 wieder verloren hatten. Dann kam der Kommunismus an die Reihe. 1948 wurde er aus Moskau importiert und diese Plage wurde 1968 scheinbar beseitigt, bevor die Russen ihr Land mit einer halben Million Soldaten überflutet hatten. Und schließlich das dritte Zahlenspiel: die Okkupationsherrschaft wurde 1969 eingeführt und im Herbst 1989 demontiert. Ich weiß nicht, inwiefern sich Kunderas Mathematik auf das neue Millennium anwenden lässt, da die Tschechen 2002 (zwar nicht wegen der Russen, aber wegen der Flut) die größte Evakuation ihrer Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg durchführen mussten. Zentraleuropa hat den Stalinismus überlebt, aber die Bilder aus dem Überfluteten Prag wirkten wie Phantasmagorien von einem längst verges- 30.4.2011. 17:53:02 RELA TIONS senen Planeten, dem sogar Gott den Rücken zugekehrt hat. Die Tschechen haben Hilfe beantragt, die Schäden werden in Milliarden gemessen und dem Appell für das goldene Prag hatte sich unter den Ersten der Sean Connery angeschlossen, der sich wegen Dreharbeiten dort eingefunden hatte. Im Curriculum dieses Schotten, der am meisten durch seine James-Bond-Rollen berühmt wurde, findet man die Angabe, er habe als junger Mann in einem Bad als Rettungsschwimmer gearbeitet. Jetzt könnte er sich als Gondoliere auf der Moldau behaupten, es ist aber viel wichtiger, dass Mister Connery, bekannt als Mann der Tat, auch dieses Mal der Vorstellung gerecht war, die ihn in allen Generation so populär gemacht hatte, unabhängig von Geschlecht, Bildung oder weiß Gott was für anderen Charakteristiken. Ich kann mich nicht erinnern, dass ein derartiger Appell aus Kroatien gekommen wäre, wenigstens als Zeichen, dass wir auch für fremdes Unglück Mitgefühl haben, und nicht nur für das eigene. Umso mehr, da uns vieles mit dem Volk verbindet, mit dem wir in der gleichen Monarchie gelebt haben, und da während des Stalinismus viele Kroaten die gotische Sankt-Veit-Kathedrale besucht hatten, und dass nicht nur wegen ihrer imposanten Schönheit, sondern, um auf einer ihrer Mauern ihr historisches Wappen erkennen zu können. Mitte der neunziger Jahre hätte wenig gefehlt, damit der Universitätsprofessor und Staatsmann T. G. Masaryk in Zagreb ohne seine Straße bleibt und Relation 1_2011.indd 107 Feuilletons von allen tschechischen Initiativen ist diese am meisten in Erinnerung geblieben. Diesen Sommer wurden die Böhmen hauptsächlich als außerordentlich bescheidene Touristen erwähnt, als Gäste, die selten die Geldbörse hervorziehen, obwohl wir ein für allemal begreifen müssten, dass nicht alles im schnellen Profit liegt und dass jeder soviel bekommt, wie viel er zu geben imstande ist. Das ist eine Regel des kosmischen Gleichgewichts, die früher oder später zum Vorschein kommt. Und wenn wir uns der Geschichte zuwenden, auf die wir uns sonst so gerne berufen, ist nicht ganz klar, wer wem mehr gegeben hat: die Kroaten den Tschechen, oder die Tschechen den Kroaten? Viele unserer Künstler und Intellektuellen haben in Prag studiert, darunter Lisinski, Šenoa, Lunaček, Vidrić, Bukovac, Šimatović, Grlić und viele andere. Tschechische Filme hatten wir uns wie unsere eigenen angesehen, in ihren Büchern fanden wir all das, was uns vor der eigenen Tür vorenthalten geblieben ist, denn wir glaubten, an allem, ja sogar an unserer literarischen Schlamperei, sei der Schatten des Großen Bruders schuld. Auch die ersten Fußbälle waren nicht aus London oder Berlin in den slawischen Süden gekommen, sondern aus Prag. Heute, wo so sehr auf der Authentizität der kroatischen Sprache bestanden wird, wird sich vielleicht ein kreativer Geist finden und sich ein kroatisches Synonym für den Fußballschuh – kopačka – ausdenken, denn dieses Wort ist tschechischen Ursprungs. Jeder hat sei- 107 ne eigenen Prioritäten, aber wenn die Wasserflut über das Carolinum, die Karlsbrücke oder die den Wenzelsplatz herfällt, dann ist nicht nur Prag in Gefahr. Die Welt ist in Gefahr! Das, was in der tschechischen Hauptstadt passiert ist, ist mit der Katastrophe gleichzusetzen, die 1966 Florenz heimgesucht hatte, als die toskanische Bellezza unter den Fluten des Arno zu ersticken drohte. An der Rettung dieser Stadt / dieser Welt hatte auch mein Bekannter Vjenceslav Vlahov teilgenommen, damals Student der italienischen und deutschen Sprache, der sich zufällig in Mailand eingefunden und sogleich den Freiwilligen angeschlossen hatte, die Florenz als etwas ansahen, was auch ihnen gehört. Es war die Zeit der Langhaarigen und der Flower Power, und die bigotten Italiener blieben sprachlos, als sie begriffen hatten, dass Capelloni im Sanieren ihrer Stadt die entscheidende Rolle spielen. Vlahov arbeitet sein langen am Cicerone, er hat so manchen erlebt, aber seine Erfahrungen aus dem Jahr 1966 hat er als etwas überaus schönes und wertvolles in Erinnerung behalten. Die ganze Welt hatte sich damals in Florenz versammelt und vor der Nationalbibliothek steht heute eine Gedenktafel für alle Menschen guten Willens und Engel des Schlammes (Angeli di fango), wie die Italiener sie damals liebevoll nannten. Und Prag? Ich glaube, die Engel sind schon dort, nicht nur der Prager wegen, sondern wegen uns allen. Aus dem Kroatischen übersetzt von Boris Perić 30.4.2011. 17:53:02 RELA 108 TIONS Ich habe Esterházy besiegt Zdravko Zima W ie aus Budapest nach Pula kommen, ohne das Gefühl, man würde zu Zeiten von Kaiserin Maria Theresia oder Kaiser Franz Josef leben? Auf diese Frage könnte Peter Esterházy am glaubwürdigsten Antwort geben. Als dieser berühmte Schriftsteller und Nachfahre der wahrscheinlich berühmtesten ungarischen Familie zugesagt hatte, zur Buchmesse nach Pula zu kommen, herrschte auf einmal Misstrauen. Beabsichtigt der Herr Graf tatsächlich zu kommen, und wenn ja, wie will er das anstellen? Es hat sich gezeigt, dass die Verbindungen zwischen den Hauptstädten Ungarns und Kroatien höchst unzuverlässig sind. Eine Luftlinie existiert nicht, sodass Esterházy auf Umwegen nach Pula kommen musste. Zuerst mit dem Flugzeug nach Venedig und dann mit dem Wagen, der von der Messedirektorin Magdalena Vodopija geschickt wurde, zu seiner istrischen literarischen Destination, an der das ungarische literarische Ass in den späten Nachtstunden doch noch glücklich ankam. Obwohl es auf Landkarten nicht leicht zu finden ist, erwies sich Kroatien abermals als zu groß für so eine banale Reise zwischen zwei aneinandergrenzenden Ländern, die Jahrhunderte lang unter derselben Krone existiert haben. An diesem Abend, einen Tag vor der Eröffnung der neunten Buchmesse, befand sich Pula im Zustand der Mobilisierung. Ein gutmeinender Gast- Relation 1_2011.indd 108 wirt musste auf seine Nachtruhe verzichten, denn es wäre nicht anständig gewesen, dass Esterházy mit leerem Magen zu Bett geht. Frau Magdalena kaute nervös auf ihren Fingernägeln herum, während sie zusammen mit seinen Zagreber Verlegern, dem Ehepaar Serdarević, seiner Übersetzerin Xenia Detoni und dem Autor dieser Zeilen auf den ungarischen Erzähler wartete. Das Hotel, in dem wir herumsaßen, als würden wir auf Godot warten, roch nach Frischem, neue, noch unverlegte Teppichböden hatten die Gänge blockiert, die Bar im Foyer war geschlossen. Aber wer hätte schon gedacht, dass sich in einer Stadt, in der der Sergierbogen, der Augustustempel oder Vespasians Athene stehen, und in der hundert Jahre zuvor James Joyce gelebt hatte, jemand um Mitternacht nach einer Mistelschnaps, einem Kräuterschnaps oder sonst einem fragwürdigen Elixier sehnen könnte. Aber gut. Die Uhren zeigten 0 Uhr 15 an, als Esterházy vor uns stand. Es folgten höfliche Begrüßungen, unter der fest verschlossenen Theke fand man eine Flasche Kräuterlikör und die ursprüngliche Reserviertheit verflüchtigte sich wie eine Seifenblase. Ich blickte in Esterházys von langem silbergrauem Haar und Zwickern, wie John Lennon sie trug, umrahmtes Gesicht und dachte nebenbei an all die literarischen Größen, mit denen ich in Kontakt gewesen bin. Einige von ihnen waren abweisend und arrogant, aber nur deshalb, weil sie es nicht vermochten, sich aus der Falle ihres festzementierten Narzissmus zu befreien. Eine derartige Vorstellung von einem kanonisierten und für die Ewigkeit bekränzten Schriftstellers hat mit Esterházy nichts zu tun. Wäre mir seine Physiognomie nicht im Vorhinein bekannt gewesen, hätte ich angenommen, jemand aus der einstigen Rockband Jethro Tull würde vor mir stehen, oder aber der wiedergeborene Benny Hill, der neuerdings Perücken trägt und die Gesellschaft von Blondinen genießt, trotz aller Witze über ihre Klugheit. Die drei Tage von Pula waren eigentlich drei Tage der kroatisch-ungarischen Beziehungen, die nach dem Ersten Weltkrieg ein jähes Ende gefunden hatten! Obwohl der Säbel des Ban Jelačić, dessen Denkmal am Zagreber Hauptplatz steht, nicht mehr auf Ungarn zeigt, scheint es, die Kroaten würden gerne die Gesellschaft von allen und jedem genießen, aber ihre eigenen Nachbarn seien dabei doch die letzten. Auch das Itinerar, das den ungarischen Gast über Venedig von Budapest nach Pula geführt hatte, schien jene hartnäckige Umwegigkeit in sich zu tragen, die seit jeher unseren nationalen Geist auszeichnet. Während ich mit Esterházy plauderte, sprach ich Namen an, die für uns beide anregend sein müssten. Im selben Kreis fanden sich Thomas Bernhard, Havel, Ferenc Fejtö, Bela Hamvas, Joy- 30.4.2011. 17:53:02 RELA TIONS ce, Krleža, Danilo Kiš... Obwohl er kein Doktor ist, neigt Esterházy zur Transplantierung fremder Texte und als er einmal nach dem legendären Hamvas gegriffen hatte, reagiert seine Witwe Katalin Kemény, als sei sie von einer Tarantel gestochen worden. Etwas ähnliches hat Esterházy auch Kiš angetan. Seine Novelle Es ist ehrenhaft, für das Vaterland zu sterben hatte er beinahe wortwörtlich abgeschrieben und mit seinem eigenen Namen unterzeichnet. Bei seinem ungarischen Freund meldete sich Kiš telefonisch einige Monate vor seinem Tod. In seiner Stimme klang etwas Ungeheueres mit, etwas, was signalisierte, er würde sich bereits auf der anderen Seite befinden, erinnerte sich Esterházy. Während wir uns über Kiš unterhielten, kamen wir auf viele bekannte und weniger bekannte Kleinigkeiten zu sprechen, auf Ungarn und Frankreich, Budapest und Paris. Irgendwann bemerkte ich, Kiš sei in Subotica zur Welt gekommen. Nein, das war Cetinje, erwiderte Esterházy. Ich sah ihn misstrauisch an und er reichte mir die Hand. Wollen wir wetten, aber um was? Um eine Flasche Champagner, rief mein ungarischer Opponent. Wir saßen im Restaurant Vela Nera, unmittelbar nach der Eröffnung der Buchmesse. Die Gäste waren schon von Trüffeln, Pasta und Meergräsern betört, von denen einem, wie auch vom Terran, schwindlig wird. Wer hätte sich in Relation 1_2011.indd 109 Feuilletons diesem Zustand mit der Frage abgeplagt, wo Kiš geboren wurde? Am Nachbarstisch saßen Antun Vujić, Željka Udovičić, Vanja Sutlić Junior und Duško Radić. Duško ist Direktor des Kroatischen Radios und er wurde sogleich neugierig. Er telefonierte mit seiner Tochter in Zagreb, diese sah in der Enzyklopädie nach und bestätigte, Kiš sei in Subotica geboren. Auf der Buchmesse von Pula habe ich jenen Roman vorgestellt, in dem der berühmte tschechische Erzähler Bohumil Hrabal Esterházy als Vorlage gedient hatte. Ich sprach über Manierismus, den Spiegeleffekt und dem Prinzip des Kreisens, von dem Schriftsteller abhängen, so wie jeder Mensch, ob er es nun zugeben will oder nicht, von seinen Vorfahren abhängt. Ein ungarischer Autor suchte sein Bild in einem älteren tschechischen Kollegen, der sich bei ihrem ersten Treffen überheblich benahm, sodass wenig fehlte, dass der ungarische Adelige seinem Idol den Laufpass gibt und revoltiert Prag verlässt. Bei Esterházy begeisterte mich nicht nur seine Bildung, gesteigert durch die Tatsache, dass er Mathematik studiert hatte und Huygens Begriff der mathematischen Hoffnung analysieren kann wie die Geschichte von Rotkäppchen, ganz zu schweigen von seinen Rock-and-Roll-Kenntnissen oder seiner sonderbaren Leidenschaft für das Saxofon und Charlie Parker, die nicht geringer ist, als seine Hingabe 109 zur klassischen Musik. Schließlich spielte am Hofe seiner Vorfahren Joseph Haydn höchstpersönlich und den Rahmen für seinen Roman Harmonia caelestis fand er in den 55 gleichnamigen Kantaten, die sein Vorfahre und Kämpfer gegen die Türken Pál Esterházy komponiert hatte. Ebenso wichtig ist, dass Esterházy einen subtilen Sinn für Humor besitzt, der niemals vorschnell zur Geltung kommt. Endgültig entwaffnet hat er mich aber, als er mir offenbarte, er würde Fußball lieben und sein Bruder sei ein Profispieler gewesen, obwohl die ungarische Fußballehre zusammen mit der Grandezza seiner Familie der Vergangenheit angehören. So wie sich ein Ungar in einem Tschechen erkannt hat, spiegele ich mich auch selber in meinem seligen Vater Jaroslav, der tschechischer Abstammung war und seiner Mutter Rozalija Potzi, die geborene Ungarin gewesen ist. In einem imaginären Vorleben spazierte Esterházy durch die Salons seiner glorreichen Ahnen, so wie viele längst verstorbene Vorgänger ihre Europäische Union bereits gelebt haben, bevor uns Javier Solana in sie gelockt hat. Das magische Kreisen der Schicksale wurde durch eine gewonnene Wette abgerundet. Kann es denn noch besser sein? Aus dem Kroatischen übersetzt von Boris Perić 30.4.2011. 17:53:02 RELA 110 TIONS Ein Requiem für Komiža Zdravko Zima E s ist nicht leicht, sich im Mediendschungel zurecht zu finden, in dem das Gesetz herrscht und in dem Dummheit so laut ertönt, dass alles andere überschattet wird. Wer seinen Blick nicht bis zur Perversion geschärft hat, wer kein Internet benutzt und nicht unter maritimer Nostalgie, oder, mit andern Worten, der Sehnsucht nach dem Süden leidet, der konnte nur schwer die Nachricht registrieren, die älteste Fischfabrik an der Adria sei geschlossen worden. „Neptun“ aus Komiža wird in die Rumpelkammer geschickt, wobei seine Totengräber vom in Kroatien so groß in Mode gekommenen Substantiv Bankrott Grabrauch gemacht und auf diese Weise ihr Mitleid für den Verblichenen demonstriert haben. Die Fabrik in Komiža wurde also für immer geschlossen, die Kroaten aber werden auch weiterhin mit Märchen von tausend und was weiß ich wie viel Inselchen und Inseln gefüttert, Märchen von Flauten, Seegängen und einer Küste, wie es sie nirgendwo anders auf dem Erdball gibt. Außerdem, als sei das Schließen wirtschaftlicher Giganten, aller möglicher Unternehmen, touristischer Komplexe und Schiffswerften nicht etwas worin wir bereits geübt sind und uns als gottgegebene Meister behaupten konnten. Die Kommunisten hatten sich einst Sandschlösser ausgedacht, die Patrioten zertreten sie heute mit gut eingeübten Tritten und stellen dadurch Relation 1_2011.indd 110 das so sehr benötigte Gleichgewicht auf. Das Gleichgewicht zwischen Bau und Zerstörung, Tag und Nacht, ist aber nicht nur ein gesellschaftliches, sondern auch ein natürliches Gesetz. Dass rund hundert Arbeiter in einem hübschen Städtchen ohne Arbeitsplatz geblieben sind, ist das kleinere Problem, denn Kroatien ist ohnehin ein Staat in dem die Arbeitslosigkeit zu einer der meistverbreiteten und lukrativsten Erfindungen geworden ist. Das Komischste oder Traurigste dabei ist, dass dem seligen Neptun niemand auch nur eine einzige Träne nachgeweint hat. Die meisten Angestellten arbeiten so lange, dass ihnen eine vorzeitige Pensionierung nicht als Todesstrafe erscheint, während eine Abfindung von tausend Kuna monatlich in Komiža mindestens das Dreifache wert ist, als in Zagreb. Dort am Meer, an der Küste von Vis, finden sich immer ein stück Käse, ein Paar getrocknete Feigen und etwas Wein, und wenn es auch ein Glas mehr sein sollte, ist das Leben sofort schöner als in amerikanischen Seifenopern. In Komiža braucht man kein Geld für Taxis und Straßenbahnkarten auszugeben und es ist auch nicht nötig, für Fisch mit reinem Gold zu bezahlen, wie es jene tun müssen, die in Zagreb Leben und sich am Marktplatz Dolac mit Fisch eindecken. Wer auf einer einsamen Insel lebt, braucht sich nicht mit Theaterbesuchen abzuplagen, ist den Versuchungen der Warenhäuser nicht ausgesetzt, in denen das ganze Jahr über Saisonausverkäufe wie Segel gespannt werden, und es stellt sich die Frage, wie viel sinn es überhaupt hat, einer Fabrik nachzuweinen, in deren Lagerhallen es so entsetzlich roch, dass es niemandem, der jemals ihre Schwelle übertreten hatte, mehr in den Sinn kommt, auch nur ein Fischchen in den Mund zu nehmen. Es ist wahr, jede Geschichte kann man so oder so erzählen, und es ist eine Frage der Finesse, ihr einen fröhlichen oder traurigen Schluss zu verleihen, aber das Schließen der Fabrik in Komiža ist nur ein weiteres Symptom des Dahinsterbens, ein Zeichen, dass man mit der Wiederbelebung der adriatischen Regionen auf glücklichere Zeiten warten muss, wenn nicht sogar aufs neue Millennium. Ich weiß nicht, was dem hinzuzufügen wäre, aber wenn es in Komiža keine Perspektive für eine neue Sardinenfabrik gibt, dann stellt sich genauso die Frage, was für Perspektiven dieser und alle anderen, ähnlichen Orte auf unseren Inseln und an der Küste überhaupt haben. Es mutet sich billig an, zu sagen, es handle sich um eine Perle, aber auf meinen Adriareisen von Umag bis Cavtat und von Brijuni bis Vis habe ich kaum einen schöneren und geheimnisvolleren Ort gesehen als Komiža. Wenn es dort keine Aussichten auf Fischfabrikation gab, bedeutet dass etwa, das in Kürze dort Gi- 30.4.2011. 17:53:03 RELA TIONS raffen, niederländische Tulpen oder profitable Opiate gezüchtet werden sollen? Wenn Tourismus der einzige Wirtschaftszweig ist, mit dem ernsthaft gerechnet wird, wenn wir zu nichts anderem imstande sind, als unsere Häuser mit Tafeln zu schmücken, auf denen „Zimmer frei“ geschrieben steht, dann scheinen jene im Recht zu sein, die behaupten, bei uns hätte sich eine servile Mentalität verankert, die unter den Bedingungen des neuen Kapitalismus nicht weiter gekommen ist, als zur Verbeugung des Kellners. Marinković hatte Die Hände geschrieben und wir sollen jetzt wie Papageien „Handkuss, meine Damen“ runterleiern. Und all das nur des erniedrigenden Trinkgelds wegen? So wie es den Serben nicht gelingen will, trotz aller Mythen und donnernder Beschwörungen, den Kosovo weder im demographischen, noch in irgendeinem anderen Sinne zu revitalisieren, schwärmen die Kroaten vom Adriatischen Meer und seinen paradiesischen Gärten und verwüsten sie von Tag zu Tag mehr. Dass in Komiža auf die Sardinenfabrik der Todeskranz niedergelegt wurde ist ungefähr genauso verständlich, wie wenn die Kubaner auf die Produktion von Zigarren verzichten würden, genauso logisch, wie wenn man in Brasilien auf die Ausnutzung von Kautschukbäumen vergessen würde und in Mazedonien auf den Handel mit scharfem Paprika. Wichtig Relation 1_2011.indd 111 Feuilletons ist nur, dass es nie langweilig wird. Wenn nicht gerade eine Sardinenfabrik stillgelegt wird, wird endlos darüber debattiert, wer von der Blauen Höhle auf Biševo profitieren darf. Wenn gerade niemand an Migräne leidet und das Meer um Vis herum ruhig ist, geht der Sturm in der Bucht von Piran los und lässt meinen, die kroatischen und slowenischen Fischer könnten ihre Fischerbote jeden Moment in Torpedobote umwandeln. Anfang 2001, irgendwie zur gleichen Zeit als in Komiža Neptun stillgelegt wurde, verstarb in Zagreb Ranko Marinković. Obwohl er seine Heimatinsel jahrzehntelang nicht besucht hatte – und als er ein Haus für den Sommerurlaub kaufen wollte, fand er den besten Standort auf der Insel Brač – atmete Marinković sein Leben lang als Dalmatiner und träumte in der Agramer Oberstadt von seinem Vis und seiner Issa. Er wurde in Vis, dem Städtchen seiner Mutter geboren, sein Vater war aus Komiža, während des Zweiten Weltkriegs war er im italienischen Lager Ferramonte interniert und danach im Sinai, in El Shatt, seine schriftstellerische Berufung drängte ihn, Zagreber zu werden und jetzt ruht er auf dem Friedhof von Komiža, nahe der St. Nikolaus-Kirche, mit herrlichem Ausblick auf das offene Meer und die Insel Biševo. Wenn er sehen könnte, was in seiner Heimat vor sich geht, worum seine Mitpatrioten streiten, 111 wie sehr gegen die Thunfischzucht gewettert wurde und wie nun Fabriken geschlossen werden, hätte er kilometerweise Stoff für seine Novelletten. Am wunderlichsten mag klingen, dass šjor Ranko im Sternzeichen der Fische zur Welt kam, die sich wieder mal als Stein des Anstoßes erwiesen haben. Denn auch Thunfische sind des Teufels Werk, dermaßen gehässig und gefräßig, dass sie sich hier und da an einem Badegast vergreifen könnten, und Badegäste sind in Rankos Heimat offensichtlich wichtiger als stinkende Fabriken. In den Dokumenten von Željko Mardešić, einem weisen Religionssoziologen, der seit Jahren unter dem Pseudonym Jakov Jukić veröffentlicht, steht, er sei in Komiža geboren, obwohl er seit Jahrzehnten in Split lebt. Genauso wie der Dichter Jakša Fiamengo und sein Kollege und Doktor der philologischen Wissenschaften Joško Božanić, der Gedichte in der Mundart von Komiža und erforscht ihre lokalen Facetten. Auf Vis fand Marschall Tito Unterschlupf und während des NDH-Staates war die Insel von Mussolinis Soldaten besetzt. Die Chancen, dass sich so etwas wiederholt, sind im Moment gleich null. Die Insel wird ab jetzt von sich selbst besetzt. Aus dem Kroatischen übersetzt von Boris Perić 30.4.2011. 17:53:03 RELA 112 TIONS Edita Majićs Fühler Zdravko Zima I n der Flut der Ereignisse, die von überallher auf und einstürmen, vermischen sich Wahrheit und Lüge wie der Wind und ein unerwarteter Regenschauer. Deshalb sorgte die Nachricht, Edita Majić wolle auf ihre Theaterkarriere verzichten und den Rest ihres Lebens im Karmeliterkloster verbringen, für Misstrauen und Verwirrung. Misstrauisch waren alle, die vor allem skeptisch sind, verwirrt ihre Freunde, Kollegen, aber auch jene, die in der Überzeugung leben, die fühlbare Wirklichkeit sei schöner und gewisser als alle anderen, letztendlich doch hypothetischen Welten. Obwohl ich zugeben muss, dass ich nur mit einem Auge fernsehe, während ich zum Zeitungslesen einen Ventilator oder zumindest einen bewusst ausgelösten Luftzug benötige, traf mich die Nachricht von der Schauspielerin, die die Theaterbretter durch eine der schwersten und anspruchvollsten Formen des Lebens in Klausur ersetzen will, wie der Blitz. Nicht, weil ich an ihrem Entschluss etwas auszusetzen hätte, sondern, weil dieser abermals die Frage nach den Gründen einer weltlichen Existenz aufwirft, die sich in Bankkonten, Bausparkrediten und Erfolgsillusionen kanalisiert, die in der Regel mit Sirenengeheul als Hintergrundmusik im Krankenhaus enden. Ein Leben, reduziert auf parlamentarisches Geschwätz, Titelseiten von Boulevardmagazinen und Einbildungen über die eigene Größe, die nicht Relation 1_2011.indd 112 weiterreicht, als bis Mala Mlaka oder Veliko Trgovišće, ist keinesfalls das, was einen von bloßer Eitelkeit befreiten Menschen erfüllen dürfte. An Edita Majić erinnere ich mich als Rebecca in der Vorstellung „Bitter Moon“, nach Bruckners Roman (und Polanskis Verfilmung), aber auch als Suzie Schwartz im Kabarett „Der schwarze Kater“ Je mehr man den Eindruck gewinnt, das Theater würde die letzten Jahre hindurch nichts besonders aufregendes bieten, desto weniger klopfe ich an seine Türen. Außer aus dem „Schwarzen Kater“, der nichts mit dem mystifizierten HSS-Führer zu tun hat, kenne ich Edita Majić als Person, die sich in Zagreb für die Unterbringung von Hunden eingesetzt hatte. In einer Welt in der Geschwindigkeit und Gefühlkälte zu Synonymen geworden sind, ist ein Herz für Tiere, denen bestenfalls die Einschläferung bevorsteht, identisch mit unverfälschtem Gefühl und jeder Geste, die über die dirigierte Gutmütigkeit diensthabender Bauchredner hinausgeht. Schließlich frage ich mich, warum uns die Nachricht vom riesigen und scheinbar plötzlichen Wandel im Leben einer Schauspielerin so in Staunen versetzt hat. Die Nachricht war doch nicht allein wegen Edita unglaublich, sondert wegen aller, die nicht den Mut zu etwas ähnlichem aufbringen können und glauben, Homogenität und ein Nationalstaat, in dem Egoismus und Idiotismus aufs Höchstmaß gebracht worden sind, sein ein kaum vorstellbares Ideal. Das Paradoxeste allerdings ist die Tatsache, dass dies Art Irrtum in großem Maße von der offiziellen Kirche unterstützt wird, aber das ist schon eine andere Geschichte. Obwohl uns die Erfahrung lehrt, nichts so zu nehmen, wie es sich anmutet, ist die Nachricht von Edita Majićs Eintritt in ein Karmeliterkloster als Tatsache aufzunehmen. Warum? Weil es Menschen gibt, denen man glaubt, und Menschen, denen man nicht glaubt, und weil der Entschluss der Schauspielerin aus Zagreb / Split das Resultat ihrer inneren Reife ist, und nicht etwas Pose oder Bedürfnis nach Exhibitionismus. Vor langer Zeit, als die PR noch nicht mit ihren Polypenkraken umhergriff, verzichtete Greta Garbo auf eine große Schauspielkarriere. Diese große Vedette nannte man die Sphinx von Schweden, weil sich hinter ihrem Gesicht Tausende von Geheimnissen verbargen, und während sie von verschiedensten Komplimenten überhäuft wurde, unter denen das wohl bekannteste „die göttliche Greta“ lautete, wandte sich unser Edita Gott zu. Der letzte Film, den die mysteriöse Garbo gedreht hatte, bevor sie ihren Produzenten, Regisseuren und allen möglichen Kavalieren den Rücken zuwandte, hieß „Die Frau mit den zwei Gesichtern“. Edita Majić zeigte hingegen anhand ihres eigenen 30.4.2011. 17:53:03 RELA TIONS Beispiels, dass sich in jeder menschlichen Kreatur mindestens zwei Gesichter verbergen: es stellt sich nur die Frage, mit welchem es einverstanden sein und welches sich im gegebenen Zeitpunkt als das Stärkere erweisen wird. Jeder geht seinem Schicksal entgegen, was aber Edita Majić regiert hat, könnte nur schwer in einem Theaterkopf zur Welt kommen. Ende März hatte sie zum letzten Mal die Bühne betreten, als billige Frau in der Vorstellung „Die Rückkehr des Flilip Latinovicz“, und schon in einem Monat wird sie die Rolle der Ordensschwester im Kloster des Heiligen Joseph in Avila übernehmen. Sich für einen solchen Schritt zu entscheiden, bedeutet eigentlich, eine Ehe mit Gott schließen und ihm restlos treu bleiben. Avila ist das Zentrum der spanischen Provinz Altkastilien. Mit dem Aussehen einer mittelalterlichen Festung, umgeben von Wällen und 86 Türmen, zieht sie zahlreiche Fremde und Reisende an. Die Stadt befindet sich unter UNESCO-Schutz, aber die künftige Schwester des Karmeliterordens wird seine Wonnen nicht genießen. Die Mitglieder des nach dem gleichnamigen Berg im nördlichen Palästina benannten Karmeliterordens, spielen heutzutage eine zweifache Rolle: als Eremiten und als Ordensmitglieder, die eine öffentliche Berufung haben. Edita Majić trat ersteren bei, was ein Schweigegelübde, äußerste Armut, den Verzicht auf alles Mate- Relation 1_2011.indd 113 Feuilletons rielle und lange Fastenzeiten einbezieht. Gotowski hatte seinerzeit erklärt, Schauspielen bedeute nicht Darstellen, sondern Sein (oder Existieren), Edita aber ging einen Schritt weiter, dorthin, wo sich Arbeit und Ordnung, Gebet und Frieden miteinander verbinden und wo sich der Agon mit dem Allerhöchsten identifiziert. Die geistige Ellipse der kroatische Schauspielerin, die ein Kapitel ihres Lebens beschlossen hat, führt uns zurück zu Teresa von Avila, der legendären Heiligen, der mit Johannes vom Kreuz die Reform des Karmeliterordens begonnen hatte. Teresa war eine der seltenen Frauen ihrer Zeit, die lesen und schreiben konnte, und ins Kloster gelangte sie nach einem Kokettieren, das seinen Dimensionen nach höchst fragwürdig gewesen sein dürfte, im 16. Jahrhundert aber empörend genug war, um ihre Laufbahn in eine unvorhersehbare Richtung zu wenden. Vielleicht war das Geschick des Heiligen Augustinus (dessen „Bekenntnisse“ Teresa aufs Tiefste berührt hatten) auch nicht anders, oder aber jenes des Ignatius von Loyola, der nach dem Fall von Pamplona einen Wandel durchgemacht und das Soldatendasein aufgegeben hatte, um als Pilger durch die Welt zu reisen und in Paris den Jesuitenorden zu gründen. Das menschliche Innere entdeckte Teresa als Schloss mit zahllosen Kammern, ihre Gebetslehre wurde von der Kirche als fundamental erklärt, und sie selbst erklärte, die geistige Fülle wür- 113 de nicht nach Ekstase gemessen werden, sondern nach Opferbereitschaf und Nächstenliebe. Durch mehrere Stufen führt das Gebet den Einzelnen zu Offenheit und Reinigung, die in Gott gipfeln. In der Kirche, die Frauen gegenüber Jahrhunderte lang reserviert gewesen ist, zerstörte Teresa so manches Vorurteil und wuchs zu einer Heiligen und Ordensführerin hervor, deren Werke auch außerhalb der streng begrenzten gläubigen Kreise gelesen werden. Es ist schwer anzunehmen, Himmel und Erde hätten sich jemals in jemandem dermaßen einander angenähert, wie im Schicksal dieser grandiosen Spanierin! Teresa von Avila bedeutet Ekstase, aber auch Unterwerfung, Mut, aber auch Folgsamkeit. Diesem Ziel geht Edita entgegen, eine unalltägliche Frau und entpflichtete Schauspielerin, deren Name noch eine große Karmeliterin in Erinnerung ruft – die geborene Jüdin und katholische Martyrerin Edith Stein. Der Dominikaner Johannes B. Brantschen behauptet, viele Zeitgenossen könnten Gott nicht begreifen, weil sie ihre Antennen nicht ausgefahren hätten. Mit dieser Art Fühler hat Edita keine Probleme. Deshalb ist ihr Weggehen so aufzunehmen, wie es ist. Als Suche nach Wahrheit, die mit dem eigenen Maße stets in Einklang ist; ohne Zweifel, auch mit dem Glauben. Aus dem Kroatischen übersetzt von Boris Perić 30.4.2011. 17:53:03 RELA 114 TIONS Der Löwe in der Falle Zdravko Zima A ls ich in Passau war, einem deutschen Städtchen an der Mündung von Ilz und Inn in die Donau, prägte sich von allem, was ich gesehen habe, ein altes Gasthaus am schärfsten in mein Gedächtnis ein. Aber nicht so sehr wegen dem Gasthaus selbst, das pittoresk und ausgeschmückt ist, wie es sich für Deutschland gehört, als wegen der Gedenktafel an der Vorderfront, die besagt, dass seinerzeit Wolfgang Amadeus Mozart an diesem Ort logiert hat. Das Salzburger Zauberkünstler hatte dort, soweit ich mich erinnere, auf der Durchreise nach Prag haltgemacht, und das war mehr als genug, damit sich die Bürger von Passau heute rühmen können, eines der größten Genies der Menschheit habe in ihrer Mitte ein Paar Stunden verbracht, um sich im Vorfeld neuer Herausforderungen geistig und körperlich auszuruhen. Jede Stadt und jeder Ort rühmen sich der Künstler, die durch die Autorität ihres Namens ihr Bild zusätzlich verschönert haben. Auch Pula, wo zwischen 1904 und 1905 James Joyce gelebt hat, ist dabei keine Ausnahme. Natürlich hat die Geschichte der größten Stadt am istrischen Ypsilon nicht vor 100 Jahren begonnen, als jener junge und unbekannte 22jährige durch ihre Straßen ging, der sich durch seine Sprache, sein Aussehen, sein Benehmen und alles andere deutlich von den Einheimischen unterschied. Mit seinen Sehenswür- Relation 1_2011.indd 114 digkeiten aus der Römerzeit, dem Sergierbogen, dem Augustustempel, der Arena und dem Herkulestor hatte Pula dem Fremden viel zu bieten. Aber, was ist diese Stadt, auf deren Plätzen die Spuren der Weltgeschichte einander ablösen wie jene der Jahreszeiten auf Laubbäumen, was konnte diese Stadt, in der sich der altrömische Kaiser Hadrian aufgehalten hatte (wovon Marguerite Yourcenar in ihrem berühmten Roman zeugt), einem Neuankömmling, wie Joyce es war, bedeuten? Dise Frage ist am besten mittelbar zu beantworten. Jene, die Literatur als beiläufige Unterhaltung verstehen, meinen, Joyce sei ein englischer Autor, obwohl er Ire war, genauso wie Jonathan Swift, Oscar Wilde, W. B. Yates, G. B. Shaw, Samuel Beckett und Sean O’Casey. Aber, über sein Schicksal nachdenkend, gewinnt man den Eindruck, Joyce sei nicht nur ein Irischer, sondern auch ein kroatischer Schriftsteller gewesen. Nicht nur deshalb, weil seine Werke dank der Übersetzungen von Ivan Goran Kovačić, Stanko Šimić, dem Tandem Slmanig-Šoljan, Zlatko Gorjan, Luko Paljetak und Ante Stamać, vor relativ langer Zeit bei uns eingebürgert haben, nicht, weil Joyce ein Paar Monate in Pula verbracht hat, sondern weil Kroatien und Irland so viele Berührungspunkte haben, dass man eine derartige Synonymie geradezu voraussetzen kann. Kroatien liegt am südöstlichen Rand Europas, Irland am westlichen, Kroatien ist das Antemurale Christianitatis, Irland das Ultima Thule, oder, mit anderen Worten, das Ende der Welt. Europa ist schon in Dunkelheit gehüllt, während die letzten Sonnenstrahlen über Irland verglühen, über seinen Küsten und Fjorden, und diesem Land die Aura von etwas anziehendem, aber zugleich auch abstoßendem und wundersamen verleihen. Die Völker, die in diesen beiden Ländern leben, sind einander durch ihr Gefühl der nationalen Selbstständigkeit ähnlich, aber auch durch das Sorge um das Erbe und das feine Gefühl für Unterschiede. Die Iren lieben die Engländer vielleicht genauso, wie die Kroaten die Serben lieben, erstere haben Geheimorganisationen, die sich Right Boys nennen, während sich der UstaschaSchlachtruf „Für die Heimat bereit“ einigermaßen mit dem Namen ihrer republikanischen Bewegung Sinn Fein messen kann, was da bedeuten soll: Wir alleine. So, wie es die Kroaten nicht mögen, dass ihre Nachbarn Ansprüche auf ihr Gebiet erheben, so sträuben sich die Iren, wenn der perfide Albion eine Art Protektorat über ihre Küsten beantragt. Und, was vielleicht am wichtigsten ist, Joyce fühlte sich in seiner Heimat Irland wie ein Löwe in der Falle und das Gefühl der Provinzialität, das ihn auf Schritt und Tritt plagte (und ihn in frühen Jahren ins Exil drängte) plagt genauso jeden zweiten Kroaten. 30.4.2011. 17:53:03 RELA TIONS Aus Irland fliehend, floh der junge James vor den Gespenstern der Nation und der heimatlichen Exaltiertheit, vor der kirchlichen, schulischen und elterlichen Autorität, vor allem, was sich seiner persönlichen und professionellen Emanzipierung in den Weg gestellt hatte. Vom subtilen Dubliner, der die Musik über alles liebte, sodass er sie auch in der Literatur suchte und mit den Wörtern spielte, als seien es Heraufund Herabsetzungen, kann nicht behauptet werden, er hätte die Engländer geliebt, die katholische Kirche nannte er eine italienische Leichenschluckerin, während er in seinen Volksgenossen nichts anderes sah, als eine Menge verstaubter Hinterteile. Auch im Hinblick auf potentielle Freundschaften hatte er keine anderen Einstellungen. Er behauptete, Freunde würden früher oder später Ihre Frau begehren, wenn nicht die Frau, dann eben die Tochter, Ihre Geldbörse und weiß Gott was alles noch. Ein derartiger Joyce, alles andere, nur kein fröhlicher Typ (joy bedeutet im Englischen Freude) hinterließ eine der brutalsten Definitionen seiner Heimat. Irland war für ihn eine alte Sau, die ihre eigenen Ferkel frisst, und diese Bestimmung inspirierte Danilo Kiš zum Titel einer Geschichte in seinem Buch Ein Grabmal für Boris Davidovič. Der Schriftsteller und Rebell, der so über seine eigene Relation 1_2011.indd 115 Feuilletons Heimat urteilte, konnte auch über Kroatien keine Illusionen haben. So wie Irland das Ultima Thule ist, war Pula für ihn das Ultima Pula, eine Station der Durchreise, eine Stadt, in der er sich eher aus Not, als aus übertriebenem Wunsch eingefunden hatte. Bestätigung darüber hinterließ er auch in seinen Briefen an seine Verlobte Nora Barnacle, ein Mädchen, das ihm zur Lebensgefährtin wurde und das auf verschiedene Weise in seiner Literatur wiederaufersteht. Wenn für jemanden die Feststellung zutrifft, er hätte sein Leben mit der Literatur gleichgesetzt, dann ist es gewiss Joyce. Schließlich wurde sein Ulysses längst als moderner Kontrapunkt zu Homers Odyssee bestimmt. Und so, wie dieses Jahr der 100ste Jahrestag seines Aufenthalts in Pula gefeiert wird, wird auch der 100ste Jahrestag des Bloomsday gefeiert, des Tages, an dem sich die Handlung des Ulysses abspielt. Den Tag, an dem er Fräulein Nora kennen gelernt hatte, den 16. Juni 1904, nahm der Autor als das Datum, innerhalb dessen er die Fabel seines Romans unterbringen würde, und verwandelte auf diese Weise seine Liebesappointment in einen der bekanntesten Tage der modernen Literatur. Gegen den Willen seines Vaters verließ Joyce Ende 1904 zusammen mit Nora Irland und reiste über Zürich nach Pula. 115 Seine Heimat und sein Dublin (auf irisch: Baile Atha Cliath) existierten seither nur in Büchern und Träumen. Aber vor der Heimat konnte er nicht fliehen, so wie er auch vor seinem eigenen Schatten nicht fliehen konnte. Das, was weit entfernt war, herrschte in seinem Herzen! Irland wurde zur Ithaka, der Insel, auf die er, im Unterschied zu seinem mythischen Vorgänger Odysseus, nie zurückgekehrt war. Dublin wurde zur Hauptfigur des Ulysses, eines Romans, der die Grundsätze der Freiheit und der Disziplin auf die Spitze getrieben hatte. Vielleicht bezieht sich der Gedanke aus Marunas Gedicht „Es war leichter, dich aus der Ferne zu lieben“ auf niemanden auf so blutige Weise, wie auf diesen berühmten Iren. Die Reise, die er ein für allemal angetreten hatte, wurde vom tiefen Bedürfnis nach Veränderung geleitet. Ich weiß nicht, wie sehr sich Joyce verändert hatte, aber, dass er durch seine Romane den Atlas der Weltliteratur verändert hat, dürfte wohl außer Zweifel stehen. Kolloquial könnte behauptet werden: Joyce, das sind wir alle. Wenn nicht in unseren Werken, dann in der Bereitschaft, an einem Schicksal teilzunehmen, das einzigartig ist, uns aber, gerade, weil es einzigartig ist, alle angeht. Aus dem Kroatischen übersetzt von Boris Perić 30.4.2011. 17:53:03 RELA 116 TIONS Das Theorem der Liebe Zdravko Zima W enn der Mensch in die andere Welt übergeht, scheint es, als würde sich in der Tiefe seines Fortganges eine neue Ordnung zeigen. Was wichtig schien, verliert sich im Nebel des Vergessens, was aber nebensächlich schien, gewinnt auf einmal an Gewicht. Ich weiß nicht, ob sich im Fall von Don Branko Sbutega auch so verhält, der in den Morgenstunden des 27. Aprils dahingeschieden ist, am gleichen Tag, wie auch die Selige Osanna von Cattaro, die im 16. Jahrhundert in Kotor gelebt hatte und noch zu Lebzeiten als Heilige behandelt wurde. Osanna wurde in Relezi geboren, in einer Familie orthodoxer Wurzeln, und ihr richtiger Name war Katarina Kosić. In ihrer frühen Jugend übersiedelte sie nach Kotor und trat den dominikanischen Drittordnerinnen bei. Gott zugewandt, verbrachte sie in ihrem freiwilligen Gefängnis und dem Praktizieren von Buße gute 50 Jahre, und obwohl Don Branko von seinem Charakter und seiner Erziehung her eher auf Kommunikation als auf Isolation angewiesen war, ist es möglich, in der Übereinstimmung des Datums jene Nähe zu erkennen, die den Pfarrer aus Dobrota und seine ferne Vorgängerin zum selben Kreis zählen lässt, zu einer Bruderschaft, die über die Gesetze von Raum und Zeit hinausgeht, was letztendlich bedeutet, dass sie auch die Gesetze der gewohnten, irdisch messbaren Existenzen überschreitet. Relation 1_2011.indd 116 Wie richtig ist die Behauptung, der Tod würde die eingebürgerten Vorstellungen ändern? Im Falle von Don Branko ändert er sie nicht, sondern verleiht ihnen eine neue, weitreichendere Dimension. So, wie Schriftsteller von Liebe zeugen, erst nachdem sie ihnen verlorengegangen ist, so werden die Ausmaße von Don Brankos Beispielhaftigkeit erst sichtbar, nachdem er endgültig von uns gegangen ist. Bei vielen Gelegenheiten wiederholte ich und wiederhole auch jetzt eine Anekdote, die ich von ihm selbst gehört und die er aufgeschrieben und publiziert hatte. Diese Tatsache provoziert andere Fragen: war Don Branko Priester und Schriftsteller oder Orakel und verbaler Zauberer, oder aber beides zugleich? Vielleicht ist das auch nicht wichtig, denn außerordentliche Personen, und das war er gewiss, über die gewohnten Vorstellungen und geradlinigen Schemen hinausgehen. Kehren wir lieber zur Geschichte zurück, die eine ist, weil sie von Don Branko erzählt wurde, wie nur er sie hatte erzählen können. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wann sich das zugetragen haben konnte, er muss aber noch jung gewesen sein und jung ist er ja für immer geblieben. Don Branko war zum ersten Mal in New York. Es war unglaublich kalt und er besuchte, den Kopf in Kollar und Schal eingezogen, bekannte Destinationen. Und dann, am Washington Square, traf er auf eine Farbige, die Drogen verkaufte. Er entschied sich für Meskalin, zahlte fünf Dollar und fragte, statt seines Weges zu gehen, die Frau, was er mit der Droge (die von den Indianern Peyotl genannt wird) machen solle. Die farbige Frau sah in verwundert an, nachdem sie endlich begriffen hatte, dass sie es mit einen Fremden und Neuling zu tun hat, dem so etwas gänzlich unbekannt war. Wenn du noch nie Drogen probiert hast, dann lass die Finger davon, sagte sie. Rette dich, sagte sie, reichte ihm sein Geld und nahm das Meskalin wieder an sich. Das ist das Wesentliche des Ereignisses und nun folgt die Poente. Ganz in seinem Stil, kam Don Branko zum Schluss, dass ihn nie zuvor jemand so klar geliebt hatte, wie diese Frau, mit der er sich nur drei Minuten unterhalten hatte und deren Namen er nicht einmal kannte. Nur er war zu derart fantastischen Pirouetten fähig, nur er konnte aus einem dermaßen banalen Ereignis, wie es der winterliche Vorfall am Washington Square gewesen ist, derart glänzende und weitreichende Schlüsse ziehen. Schlüsse über die Liebe, die sich, wie so viel anderes, dort enthüllt, wo wir sie am wenigsten erwarten und mit unseren dirigierten Gehirnen nicht einmal ahnen. Das war ein authentisches Erlebnis, das, zum Markenzeichen emporgehoben, Don Branko besser illustriert als alles andere und von dem mich, wann immer ich es nacherzähle, kalte Schauer überkommen. 30.4.2011. 17:53:03 RELA TIONS Die Geschichte vom winterlichen New York und der anonymen Drogendealerin verfolgte mich wie ein Schatten auch am 29. April, als wir Don Branko in seinem Kotor zu seiner letzten Ruhestätte begleiteten. Der Himmel hatte sich aufgetan, der Regen goss in Strömen, sodass es aussah, als würde, außer der Hände der Kondolierenden, jeder Teil jener Landschaft die Bahre des großen Verblichenen berühren. So wie die Boka, so klein sie auch sein mag, in ihrer Verschiedenheit und unvergleichbaren Schönheit ein Synonym für das Universum darstellt, so traf in der Kathedrale des Heiligen Tripun an diesem bewölkten Samstag die ganze Welt zusammen. Wenn ich das sage, meine ich nicht den Präsidenten und Premierminister des eine halbe Million Einwohner zählenden montenegrinischen Staates, ich meine nicht nur Filip Vujanović, Milo Đukanović und viele andere Minister, sondern Tausende bekannter und unbekannter Personen, die das Bedürfnis verspürt hatten, sich an diesem Tag in der Kathedrale einzufinden. Ich betrete oft sakrale Räumlichkeiten, aus Neugier, oder um die Ruhe zu spüren, die heutzutage so selten und wertvoll geworden ist, aber ich kann mich nicht entsinnen, jemals eine ähnliche Szene gesehen zu haben: im Inneren der Kathedrale hatten sich während der Gedächtnismesse katholische Priester, orthodoxe Popen und islamische Imame mit ihren weißen mit ihren weißen Tschalmas auf den Köpfen versammelt. So etwas konnte nur der unvergessliche Don Branko! Es war ein weiterer seiner Siege, wenn auch postum, eine Warnung an alle, die nicht weiter sehen können oder wollen, als bis zu ihrer Nasenspitze. Obwohl Don Branko gestorben ist, was als Tatsache nicht leicht zu begreifen ist, obwohl wir ihn gerade erst zur letzten Ruhestätte begleitet haben (auf dem Friedhof neben der Kirche des Heiligen Stasija in Dobrota), Relation 1_2011.indd 117 Feuilletons kann ich den Humor, als eine seiner unverkennbaren Tugenden, an dieser Stelle nicht umgehen. Immer, wenn wir uns trafen, sah ich zu, dass wir uns über Literatur unterhalten, weil mich seine Affinitäten interessierten und weil ich im Stillen hoffte, das sei ein Terrain, auf dem ich ihm wenigstens einigermaßen parieren könnte. Unser Geschmack waren nicht immer der gleiche, und seine Kunst, die Dinge zu relativieren und sophistisch zu verdrehen einfach erstaunlich. Wenn er bemerkte, dass mir ein Autor gefiel, half er mir, noch fester anzubeißen. Er pflegte, den Kopf zu senken und auf seine Weise hinzuzufügen: als Menschen von Moral sollten wir nicht glauben, dass uns alles, was uns gefällt, auch gefallen soll! So sprach er. Luzid und geistreich, mit einer Dosis eingeborener Eleganz, die keiner Zugabe bedurfte. Auch jene Replik über das Gefallen habe ich für immer im Gedächtnis behalten, obwohl sie beinahe in gleicher Form von Eliot formuliert wurde, der als Dichter, aber auch als katholischer Konvertit berühmt war. Den polnischen Primas Karol Wojtyla, beziehungsweise den römischen Pontifex Johannes Paul II, hatte Don Branko kennen gelernt, bevor er den päpstlichen Thron bestiegen hatte. Zur ökumenischen Idee, die auf der Messe in der Kathedrale von Kotor so glänzend verwirklicht wurde, hatte gerade Johannes Paul II einen wichtigen Beitrag geleistet. Während seines dritten Besuchs in Kroatien war er nicht zufällig in Đakovo und verbeugte sich nicht zufällig vor Strossmayers Schatten, obwohl sich die lokalen Größen, sowohl die kirchlichen, als auch die weltlichen, alle Mühe gegeben hatten, dass dieser Teil des Itinerars als päpstliche Laune verstanden wird. Faszinierend ist schließlich auch die Tatsache, dass der Pfarrer aus Kotor am 8. April geboren wurde, also, am gleichen Tag, an dem der Bischof aus Đakovo gestorben 117 war, was wiederum ein Beweis für das Zirkulieren ähnlicher, in das selbe Geflecht inkrustierter Schicksale sein könnte. Es mag vielleicht indiskret klingen, wenn ich unter Don Brankos zahlreichen Eigenschaften auch sein schauspielerisches Talent hervorhebe. Pan Wojtyla, der italienisch mit polnischem Akzent sprach, konnte er bis ins kleinste Detail nachahmen und wenn sein Gegenüber die Augen schloss, konnte er glauben, der erste vatikanische Priester sei vor ihm in aller Fülle auferstanden. Seinen geistigen Reichtum trug Don Branko als Wegzehrung und als feierlichsten Anzug, obwohl er bescheiden war und sich – selbst wenn er keinen Habit trug – regelmäßig schwarz kleidete. Jenes semantische Zusammenfallen von Geist und geistreich verkörperte kaum jemand so klar, wie der Priester aus der Boka Kotorska. Und geistreich zu sein, sei es auch in dieser Form, ist keine Frage des Talents oder der angehäuften Bildung, sondern des Extrakts einer Seele, die sich aus den klarsten Quellen getränkt hatte. An einer Stelle meinte er, er würde Wahrheit ausatmen, und da er sich erbarmungslos hingab, da er sein Pfarrhaus in eine Unterkunft verwandelt hatte, die jeder ohne Rücksicht auf ethnische, weltanschauliche, religiöse und andere Unterschiede betreten konnte, erlosch er auch so schnell. Das Licht, das er ausstrahlte, übertrug er auf seine Volksgenossen und alle, die sich ihm nähern wollten, und legitimierte sich dabei als Hirte, der in der Vertikale seiner Flamme bereitwillig und freigiebig mit der Welt kommunizierte. In der kleinen und großen Boka beendete ein kleiner und großer Priester seine irdische Laufbahn. Was während seiner Beisetzung in der Kathedrale des Heiligen Tripun zu sehen war, genügt, um zu glauben, seine Kraft erreiche uns auch von der anderen Seite. Aus dem Kroatischen übersetzt von Boris Perić 30.4.2011. 17:53:03 RELA TIONS Foto: © Višnja Arambašić 118 Relation 1_2011.indd 118 30.4.2011. 17:53:03 RELA TIONS 119 Die Orthographie der Insel Zdravko Zima I n seiner bereits kanonisierten Studie über moderne Lyrik macht Hugo Friedrich auf Goethes Gedicht Meeresstille aufmerksam, das von der furchterregenden, in der Weite des Wassers fixierten Kraft der Ferne zeugt. Diesem Gedicht, in dem das Meer gleichbedeutend mit Mysterium ist – eher ein furchtbares Geheimnis, als die Möglichkeit eines Abenteuers oder latenten Wohlgefühls – wird das Gedicht Glückliche Fahrt entgegengesetzt, das die Vision des rettenden Ufers übermittelt. Doch, war Anfang des 19. Jahrhunderts die Neugier des intellektuellen Europas auch auf Goethes Weimar gerichtet, so änderte sich rund hundert Jahre später mit dem neuen Geist auch die literarische Optik. An die Stelle von Goethes Neoklassizismus trat der moderne Nihilismus, angekündigt durch Nietzsche und vielleicht am besten in Eliots Gedicht Das wüste Land repräsentiert. Die Gedichte des Weimarer Genies haben letztendlich nichts mit den Versen von Andriana Škunca zu tun. Als geborener Kontinentaler liebte Goethe zwar den Mittelmeerraum, so wie Andriana Škunca, im kontinentalen Kroatien geboren, dauerhaft vom Meer und der Insel Pag fasziniert ist. Jene Entzweiung, definiert in Goethes oben erwähnten Gedichten, ist im Fall der kroatischen Lyrikerin eher die Regel als die Ausnahme. Auf gewisse weise wurde sie durch biographische Gegebenheiten angekündigt und in einer von Asketentum und dem Wechselspiel von Licht und Schatten durchdrungenen Lyrik Relation 1_2011.indd 119 materialisiert. Sich für diese Gelegenheit auf die Philosophie der Zahlen stützend, sollte darauf hingewiesen werden, dass die Zwei ein Symbol des Gegensatzes ist, der ewigen Zweiheit und gewissermaßen auch einer gewissen Drohung. Durch ihre private und lyrische Position zeigt sich Andriana Škunca als Einverleibung dieser Zweiheit: zwischen Zagreb und Pag, als, dem kontinentalen und dem maritimen Kroatien lebend, verwandelte sie Peripherie in Zentrum, während sie jenem, was im Bild der unzugänglichen Insel verdichtet ist, die Bedeutung eines geheiligten Zufluchtsortes verlieh. Zwischen Land und Meer hatte Andriana nicht gewählt, sondern wurde auserwählt! In biographischen Angaben wird angeführt, sie sei am 9. März 1944 geboren, während die astrologische Ikonographie ihr Zeichen durch zwei in entgegengesetzten Richtungen zeigende Fische repräsentiert. Einer dieser Fische schwimmt anscheinend gen Süden, der andere ist nach Norden gerichtet; der eine ist Blick, der andere Schein. Und wo weiter. Zu den Eigenschaften von Fischen / Menschen gehört eine tiefe Innenwelt und ein Psychismus, der seiner Gefügigkeit und seiner Unkontrollierbarkeit wegen dem Meer am ähnlichsten ist. Das sind Amphibien, die sich im Wasser und an Land gleichermaßen zurechtfinden, getragen von der Überzeugung, sie würden mit allen anderen Wesen die unübersehbare Vielzahl der Welt bilden. Sie sind ein teil der Flut, whitmansche Grashalme, die sich mit allen gleichsetzen, so wie sich der Wassertropfen mit dem Ozean vereint. Es wurde bereits mehrmals festgestellt, dass die Lyrik von Andriana Škunca durch Schatten als Rahmen und eine Art Substanz bestimmt wird. Aber, ohne Licht und weiße Fläche gäbe es auch keinen Schatten. Dieser weist auf die verborgene Natur der Wesen und Dinge hin, die Holan und Šop in ihrer Lyrik identifiziert haben, und die mit dem Tod in Absprache stehen. Das Licht steht in nächstmöglicher Verwandtschaft zur weißen Fläche, einer Farbe, die Anfang und Ende bestimmt, das Morgengrauen und die Abenddämmerung, und ohne die Andrianas Lyrik keine derart herbe Qualität haben würde. Schließlich veröffentlichte sie vor dreißig Jahren ihren ersten Lyrikband unter dem Titel Weiß bis zum Himmel. Auch wenn es sich um eine verschneite Landschaft oder ein religiöses Ritual handelt, trägt das Weiße eine Vision der Stille in sich. Denken wir an Andriana, muss hinzugefügt werden, dass das Weiße für sie gleichbedeutend ist mit worthafter Stille, da es als Stille realisiert wird, die einem Steinchen ähnelt, das, auf die stille Wasseroberfläche geworfen, um sich herum endlose Kreise verbreitet. In höherem oder geringerem Maße bezieht sich all das auf Andrianas Buch Lichtschrift von Novalja, die von der Matica hrvatska in Zagreb veröffentlicht wurde (graphischer Redakteur Luka Gusić). Außer der Tatsache, dass sich die Autorin erneut der delikaten Form des Prosagedichts zugewandt hat, ist der 30.4.2011. 17:53:03 120 Band Lichtschrift von Novalja allem zufolge ein Autorenwerk höchsten Ranges, weil er, außer aus Text, aus einer gleichberechtigten und komplementären Serie von Fotografien besteht, die ebenfalls von Andriana angefertigt wurden. Diese Fotografien sind keine nebenläufigen Verzierungen, sondern eine andere Weise, über dasselbe Auskunft zu geben: das Weiße des Gesteins, die Orthographie der Insel, die Synchronie von Licht und Schatten, die Nostalgie, die Einsamkeit, die Faszination durch das Meer, die laut Thomas Mann nichts anderes ist, als die Faszination durch den Tod. Gedichte über die Insel (Pag) schreibend, verwandelte Andriana auch die Insel selbst in ein Gedicht; sich der Zeit vermummter Großmütterchen, versenkter Barken, rostiger Anker und von Spinnweben und Schatten umgebener römischer Ziegel anpassend, identifizierte sie ihre Sprache mit Spinnweben und Schatten. Wer auf diese Weise seine Sehnsucht nach der Insel lebt, ein Spiel aus Schwarz und Weiß, das sich letztendlich mit den Zyklen von Leben und Tod gleichsetzt, der lebt seine „Nostalgie des Lichts“, die von Tin Ujević dermaßen glänzend gezähmt wurde. Während er dem kristallenen Würfel der Heiterkeit nachwanderte, wurde Tin, wie er es besungen hatte, von der Größe des Himmels zerdrückt. Dieser Philosophie des Wanderns und der kristallenen Reinheit hat sich Andriana genauso zielstrebig zugewandt. Was für Ujević die Insel Brač, für Novak Rab, für Kraljić Krk bedeutet, das ist für Andriana Pag: Zuflucht und Überzeugung, Anfang und Ende. Die Insel ist der Raum der Einsamkeit und der Erneuerung, die Insel ist Gesetz und Schutz, in dem das Leben, zurückgeführt auf oxymoronische Paare wie reiche Armut oder winterliche Sommerreise, erst zur vollen Geltung kommt. So abgedroschen es vielleicht klingen mag, sollte doch festgehalten werden, dass die mediterrane Landschaft, die Andri- Relation 1_2011.indd 120 RELA Dossier: Zdravko Zima ana in ihren poetischen Fotographien (Spiegeln!) enthüllt, der Widerschein einer inneren Landschaft ist, jener tiefen Hingabe an die andere Seite der Existenz, die sich am Ende in Schweigen verwandelt. Oder in Meeresstille, ein Weltbild, von allen Übeln gewaschen und in Elementarteilchen kanalisiert, den Duft des Zimmers, die Spur der Eidechse und Glühwürmchen, über denen sich stets der Geist der Verlassenheit ergießt. Škuncas Gedichte sind von den Fotografien nur schwer zu trennen, denn es handelt sich, trotz der verschiedenen Medien, um denselben Reduktionsvorgang und dieselbe Methode des Entblößung und asketischen Reinigung. Genauso schwer ist es, festzustellen, wann diese Gedichte aufgenommen wurden und zu welchem Zeitpunkt die Kamera ihre helldunkle Handschrift auf dem empfindlichen Negativ hinterlassen hat. Morgengrauen oder Abenddämmerung, vor oder nach der Flut, egal. Denn über allem zieht sich das „dünne Flachs der Wolken“ hin, von Frauenhand und Leiden gewoben, obwohl Kreativität und Leiden, sofern sie es wirklich sind, geschlechtliche Merkmale verwerfen, wie die Schlange ihr abgenutztes Hemd verwirft. So, wie sie in ihren lyrischen Montagen Behausungen von Schmetterlingen, versteinerte Schwämme, eine hölzerne Gebetbank, einen im Hügel [!] versunkenen Mast und längst gepflückte Feigen vermutet, registriert Škunca auf ihren Fotografien das, was dem bloßen Auge unsichtbar ist und belebt es als etwas schon beinahe Totes. Die Tiefenkraft der Insel in sich tragend, in Novalja lebend, setzte Andriana ihren ausgesonderten Punkt mit der Welt gleich. Während sich Pessoa mit einem schmutzigen Lisabonner Pier zufrieden gab, um mit seiner Hilfe mit Amerika und Afrika, der Vergangenheit und der Zukunft, zu kommunizieren, verwandelte Andriana ihr isoliertes Novalja in einen Ausgangsfunken. „Niemals habe ich Herden gehütet, aber, als ob ich sie TIONS gehütet hätte“, sang der geheimnisvolle Lusitanier, versteckt hinter einem seiner Heteronyme. In ihre Gedichte und Fotografien gehüllt, konnte diesen Vers ebenso gut Andriana autorisiert haben. Während sich die touristische Theologie gleich einer ansteckenden Krankheit im Mittelmeerraum ausbreitet, erquickt sich Andriana an morgenroten und abenddämmernden Bildern, die keine scharfen Ränder kennen und auf denen sie lebhaft mit dem Toten kommuniziert. Während das Schaf in der kolloquialen Sprache zum Synonym für Dummheit oder einer Metonymie für den auf Schlachten und Fressen reduzierten balkanischen Primitivismus geworden ist, ist es bei Andriana ein geheiligtes Wesen (Agnus Dei), in dessen Weiß sich die Unschuld einer längst vergessenen Welt verborgen hält. Um ins Mark von Andrianas Gedichten einzudringen, um ihre Bilder und (Re)Visionen lesen zu können, ist zunächst Geduld erforderlich. Und kosmische Offenheit, die zu genau der gleichen Poetik der Offenbarung und des kindlichen Wunders führt. Und das Wunder dauert an, in Lavendel und Rosmarin, im Schatten, der sich auf die Fensterläden gelegt hat, oder dem Spiegeln des Zimmers, unter dem Laren und Penaten hervorlugen. Als hätte sie sich mit Fran Mažuranić verbrüdert, der in den Meerestiefen Stein sein wollte, als hätte sie das Echo eines indischen Einsiedlers gehört, wendet sich Andriana nach allem an die großartige Leere. An die Leere, die Fülle und das Fragment, das Totalität ist. Ihre Ars scribendi trägt Genauigkeit und Flüssigkeit in sich, in ihrer Absolutheit einzig mit der Absolutheit des Meeres vergleichbar. Alles und alle entziehen sich uns, auch wir selbst, schrieb Marguerite Yourcenar. Dieser Art des sich Entziehens hat Andriana ein Buch gewidmet, das in seiner Ausgesondertheit nach ebenso ausgesonderten Lesern verlangt. Aus dem Kroatischen übersetzt von Boris Perić 30.4.2011. 17:53:03 RELA TIONS 121 Der Traum von Havels Mutter Zdravko Zima E in oberflächlicher Vergleich von Kroatien und Tschechien könnte leicht den Eindruck hinterlassen, die beiden Länder seine in vielerlei Hinsicht miteinander verwandt. Beide befinden sich in Europa, beide haben nach dem Fall der Berliner Mauer mit der lastenden Praxis des Kommunismus gebrochen, in beiden wurden die Sessel der Präsidenten von Intellektuellen bestiegen. Aber hinter dieser scheinbar konkreten Tatsache verbirgt sich etwas anderes. Mit dem Fall des kommunistischen Imperiums, das mit allen epochalen Umbrüchen identifiziert worden ist und in seinen Konsequenzen dem Zerfall des Römischen Reiches gleichzusetzen ist, begann sich das Rad der Geschichte wieder vorwärts zu drehen. Oder vielleicht doch rückwärts? Die Tschechen haben abermals ihre Zugehörigkeit zur europäischen und westlichen Familie bezeugt, die kommunistischen Staubschichten verschwanden rasch und ohne übertriebenen Pomp, während der einstige Dissident und Dramatiker Vaclav Havel in der königlichen Burg auf dem Hradschin durch den plebiszitären Willen des Volkes die Vollmachten des Präsidenten übernahm. Auch Kroatien begab sich auf einen ähnlichen Weg, obwohl es sich schon bald gezeigt hatte, dass zwischen den lautstarken Proklamationen und dem alltäglichen Verhalten ein unüberbrückbarer Abgrund klafft. Relation 1_2011.indd 121 Anfang der neunziger Jahre begannen auch die kroatischen Leader, so stark sie nur konnten Europa zuzuzwinkern, obwohl unsere Freier, nachdem sie Europa zehn Jahren lang den Hof machten, heute kaum besser dastehen als Serbien oder Albanien. Auch wir haben auf unsere eigene Art den Kommunismus beerdigt, obwohl wir, gemessen an der Menge unserer Toleranz und Dialogbereitschaft stark hinter der zivilisierten Welt zurückgeblieben sind. Ganz zu schweigen davon, dass wir den Bruch mit der kommunistischen Doktrin mit einer derartigen Verwüstung Kroatiens bezahlt haben, dass uns unsere Nachfahren in weiß Gott welcher Generation dafür noch verdammen werden. Ein besonderes Kapitel ist der Zerfall Jugoslawiens mit allen seinen Folgen, worin jegliche Vergleiche zwischen den Kroaten und Serben einerseits und den Tschechen und Slowaken andererseits aufhören. Und die Präsidenten? Havel ist Dramatiker gewesen und geblieben, Tuđman, hingegen, war und ist ein kroatisches Drama. Natürlich haben derartige Resultate einer historischen Inventur ihre objektiven Koordinaten. Tschechien konnte schweren Krankheiten, wie etwa Nationalismus und Fremdenhass, ausweichen, da es sich um das westlichst gelegene postkommunistische Land handelt und weil es über demokratische Traditionen verfügt, die es in kürzester Zeit in die westliche Umlaufbahn zurückgeführt haben. Es genügt, nur daran zu erinnern, dass deren ehemaliger Staatspräsident Eduard Beneš Professor für Soziologie an der Pariser Universität gewesen ist und dass während Hitlers Schreckensherrschaft Thomas Mann und seine Familie Reisepässe mit dem tschechoslowakischen Wappen bekommen haben. In einer Mitte, die über derartige Philosophen und Staatsmänner verfügte, wie T. G. Masaryk es war (der bei uns zwar als Antikroate angezweifelt wurde!), über kriegsgegnerische Autoritäten wie Jaroslav Hašek und Menschenrechtskämpfer wie Jan Patočka, folgt die Erscheinung eines Schriftstellers und Politikers von Havels Format sozusagen allgemeinen Gesetzmäßigkeiten. Um Havels Verhalten, sowie das, wofür er sich als Staatschef und einstiger Dissident einsetzt, zur Gänze verstehen zu können, ist es nötig, seine Herkunft in Betracht zu ziehen. Havel entstammt einer bourgeoisen Familie mit alten Prager Wurzeln. Sein Ur-Urgroßvater väterlicherseits war Müller in Prag (mit neuen Töchtern), sein Großvater hatte ein Diplom in Architektur und in dessen Fußstapfen trat auch sein Vater, der Barrandov gebaut und danach seine Memoiren in sechs Bänden veröffentlicht hatte. In Zeiten kommunistischer Gleichschaltung war ein solcher Havel schuldig ohne daran schuld zu sein. Es genügte, um seine Vorfahren zu wissen, um ihn auf Schritt und Tritt 30.4.2011. 17:53:03 122 schikanieren und seine an Hochschulen und Akademien gerichteten Ansuchen glatt ablehnen zu können. Trotzdem verhielt er sich nie als Revanchist. Im Gegenteil, noch während des Kommunismus erklärte er, ein offiziell Ausgestoßener, er sei in der Seele Sozialist, widersetze sich allem, was die individuelle Verantwortung zersetze, aber auch, dass die Welt wegen ihrem Abfall von Gott und der radikalen Atheisierung, in der unser wissenschaftliches Jahrhundert bis zum Hals versunken sein, im Begriff ist, seine menschlichen Dimensionen zu verlieren. Auf all dass ist hinzuweisen, damit es nicht aussehe, Havels Beispielhaftigkeit sei aus sich selbst hervorgegangen, wie in einem antiken Schauspiel in dem alle Wirrungen und Irrungen schließlich vom Deus ex machina gelöst werden. Über den aktuellen tschechischen Präsidenten und Dramatiker weiß man scheinbar alles, obwohl ihn die kroatischen Verleger erst jetzt dem hiesigen Publikum vorstellen. Nach der Interviewsammlung Fernverhör, die noch in der kommunistischen Ära erschienen war und vom Zagreber Verlag Irida veröffentlicht wurde, erhielten wir neulich das Buch Alles ist möglich (Matica hrvatska, Übersetzung Manja Hribar). Die Tatsache, dass Vlado Gotovac ein kurzes Vorwort für diese Ausgabe geschrieben hat, sollte allem Anschein nach die Ähnlichkeit der Lebenswege dieser beiden Männer andeuten. Aber, während Gotovac’ Inhaftierungen auf der Ebene eines Einzelfalles geblieben sind, wurde durch Havels Freilassung aus dem Knast die tschechische Nation befreit. Aber das ist schon eine andere Geschichte. Das Buch Alles ist möglich enthält rund 30 Texte und Reden, die von Havel zwischen 1990 und 1999 verfasst wurden. In Anbetracht der Zeit und den Anlässen ihres Entstehens, steht außer Zweifel, dass sie in vielerlei Hinsicht durch Havels staatsmänni- Relation 1_2011.indd 122 RELA Dossier: Zdravko Zima schen Status bestimmt sind. Bevor er sich diesen Monologen und protokollarischen Auftritten zuwendet, mit denen der tschechische Spitzenpolitiker im Laufe der vergangenen zehn Jahre die Erdkugel überspannt hatte – von Prag und Budapest bis Aachen, Paris und Oxford, von New York und Davos, bis Tokio, Hiroschima und Canberra – würde der geneigte Leser wohl nicht ohne weiteres annehmen, dass ein Staatspräsident, möge er auch Havel heißen, der Falle der Banalität ausweichen könnte, die sich in solchen Fällen von selbst stellt. Dem tschechischen Leader ist aber gerade das gelungen. Obwohl sich auf den Seiten dieses Buchs, das visuell meisterhaft von Luka Gusić gestaltet wurde, kein typischer Havel verbirgt, der dramatische Akte mit einer Dosis beckettscher Absurdität schreibt, ahnt man hinter jedem Refrain einen politischen Chorführer, der zu keinem Zeitpunkt auf seine geistigen Verpflichtungen vergisst. Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts wurde auf unserem Boden in zahllosen Varianten die These aufgestellt, das, was höheren Zielen diene, müsse sich mit den Anforderungen der Moral nicht in Absprache befinden. Welch ein Idiotismus, welch ein demagogischer Abweg, auf dem uns die Inspiratoren derartiger Tunnels in die Umarmung Europas führen wollen! Aber, dass es jetzt ja kein Missverständnis gibt. Wenn wir jenes unterstreichen, was gut ist, um auf jenes hinzuweisen, was sich der Zivilisation widersetzt, wenn wir uns gegen die balkanische Dunkelheit und deren Mystifizierungen sträuben, wollen wir auch Havel nicht als Mythos behandeln. Umso mehr, da ihn auch seine Landsleute nicht als wandelnde Ikone wahrnehmen, geschweige denn ihm wäre an etwas ähnlichem gelegen. Manche Werte werden vielleicht offensichtlicher sein, wenn wir sie mit jenem vergleichen, was diesen Werten ostentativ widerspricht: so TIONS kommt Havels Außerordentlichkeit, die gewiss den Rahmen des tschechischen Staates überschreitet, besonders gut zur Geltung, wenn man sie mit etwas ebenso außerordentlichem konfrontiert, zum Beispiel der balkanischen Einöde. Alle in diesem Buch enthaltenen Texte wurden für streng bestimmte Gelegenheiten geschrieben oder erdacht. Einmal ist es die Neujahrsansprache an die Nation, ein andermal die Grußrede anlässlich des Besuchs des römischen Pontifex Maximus, dann wiederum das Plädoyer von einer Tagung über das Phänomen des Hasses, oder aber die Dankrede anlässlich der Verleihung eines Preises oder Ehrendoktortitels einer internationalen Universität. Am wichtigsten ist, dass Havel in diesen beinahe schon theatralischen Situationen seiner Funktion als Staatsoberhaupt treu blieb, seine eigenen Ausgangspunkte aber ebenfalls nicht vernachlässigte. Seine Worte legitimieren ihn als notorischen Tschechen, der von nationalistischen Rückforderungen nicht belastet ist und auf Bohemismus und Ökumenismus auf die natürlichste Weise miteinander vereint. Havel ist ein Schriftsteller und Politiker, der sich seiner Wurzeln und heimatlicher Vorfahren bewusst ist, die Verantwortung für Tschechien jedoch mit der Verantwortung für die Welt synchronisiert. Aus dem Einzelnen heraus wendet er sich ans Ganze, vor dem planetaren Panorama verschließt er nicht die Augen für seine kaum sichtbaren Segmente. Moral ist Havels erste und letzte Instanz, der Anfang und das Ende, dei Bedingung, ohne die es nicht geht und ohne die jede Mission im Vorhinein zum Scheitern verurteilt ist. Ist es möglich, sich vorzustellen, dass das politische Oberhaupt eines zum größten Teil katholischen Landes neben Papst Johannes Paul II auch den tibetanischen Dalai Lama Apostrophiert oder Konzerte der Rockband Pink Floyd besucht? In manchen Ge- 30.4.2011. 17:53:03 RELA TIONS genden gehört so etwas ins Reich der Phantasmagorien, in Tschechien ist es normal. Oder, es ist normal, seit dort pan Vaclav Präsident ist, der von seinen Landsleuten liebevoll Vašek genannt wird (was sich wiederum auf Hašek reimt). Vielleicht wäre es ja opportun, Havels öffentliche Auftritte mit jenen seines kroatischen Pendants zu vergleichen, weil dann zumindest klar wäre, wer in der letzten Dekade die Böhmen angeführt hat und wer ihre südlichen – wenn man das noch sagen darf – slawischen Brüder. Auch als er in Jerusalem war, wo ihm von der Jüdischen Universität die Ehrendoktorwürde verliehen wurde, blieb Havel aufrichtig und ehrlich, in einem Maße, das beinahe mit seiner Präsidentenrolle kollidiert. Seinen Aufenthalt in dieser heiligen Stadt nutzte er, um zu erklären, wie viel er, als gebürtiger Prager und Autor Franz Kafka schuldet, in dessen Erbe er einen wesentlichen Teil seiner eigenen Erfahrungen identifizierte. In diesem Sinn sprach Havel von Schuldgefühl, von Existenz als Sünde, vom Bedürfnis nach Verteidigung, vom Gefühl der Nichtzugehörigkeit, von seinen Selbstzweifeln und dem Zweifel, er habe eine derartige Ehrung überhaupt verdient. Natürlich kann jeder Auftritt als Folge einer gut vorbereiteten Regie aufgefasst werden und das man im Hintergrund jeder großen Vorstellung stets ganz andere Masken vermutet. Aber schon bei der nächsten Gelegenheit zeigt Havel, dass er sich um kein Jota verändert hat, und wer seine Texte aus jener Zeit kennt, als er noch als Feind und Dissident galt, wird sich überzeugen, er sei alles andere als ein Chamäleon, der je nach Relation 1_2011.indd 123 Kritiken Bedarf seine Farbe und Grundorientierung ändert. So, wie die Welt 1978 verblüfft war, als ein Pole die Nachfolge Petri antrat, blieb sie auch verblüfft und mit Hoffnung erfüllt, als Havel die Räumlichkeiten des präsidialen Palastes auf dem Hradschin betrat. So, wie die Sterne zu bestimmten Zeiten am Himmel erscheinen und Veränderungen suggerieren, ahnen wir in der Erscheinung politischer Stars, die in der Regel selten sind, die Anzeichen von etwas neuem und scher erklärbarem. Havels Biographie ist so, wie sie ist, aber sein Eintritt in die Galaxie der glänzendsten politischen Vedetten währe wohl nie möglich gewesen, hätten sich zuvor nicht zwei Dinge vereint: die Außerordentlichkeit des historischen Moments und die Außerordentlichkeit des Individuums. Die Geschichte nimmt ihren Lauf, geht schweren und unvorsehbaren Schrittes, wobei jeder rasche Ruck eine Ausnahme bedeutet. Ein solcher Ruck ist in Havels häftlings-präsidentialer und anarchistisch-staatsmännischer Laufbahn enthalten. Wenn jedes von Havels Stücken durch das Gefühl von Absurdität gekennzeichnet ist, wenn jeder Vorstellung eine Katharsis voraussetzt, warum sollte es nicht auch vorkommen, dass die Feierlichkeit aus den Theateraulas zur Feierlichkeit des Alltags wird? Durch seinen Einsatz für den Ökumenismus, seine Kritik des Rationalismus und überheblichen Anthropozentrismus, seine Unfähigkeit zu hassen, seine Berufung auf die Einmaligkeit jedes Einzelnen und sein Hinweisen auf transzendente Quellen ist Havel dem Papst gleichzusetzen. Zugleich ist er aber auch der Re- 123 präsentant einer Welt, die eine derart zweifelhafte Aktivität, wie die Politik es ist, ihres teuflischen Wirkungskreises befreien möchte. Im Unterschied zu den Regionen des Balkans, in denen die Überzeugung herrscht, Politik sei Megalomanen und Taugenichtsen zugedacht, kommt der tschechische Leader zum Schluss, es handle sich um einen Beruf, der von Personen mit überaus ausgeprägtem moralischen Instinkt ausgeübt werden muss. Beim Weltwirtschaftsforum in Davos wies er darauf hin, dass der Kommunismus, wenn auch indirekt, dem Westen doch geholfen hatte, seine Kompaktheit zu bewahren und erinnerte zugleich an den Schmetterlingseffekt, der die tiefe Verbundenheit aller Wesen auf dem Erdball illustriert. Havel ist kein routinierter Staatsmann, sondern ein Politiker neuen Schlages, der sich für Multikulturalität und verschiedene Formen globaler Verantwortung einsetzt. Das bedeutet aber, der Politiker sei kein Nebelverkäufer und die Welt habe ohne Wahrung des Existenzwunders und der Menschenrechte keine Chance für die Zukunft. Als er von der Universität Harvard, der ältesten Institution dieser Art in den USA, die Ehredoktorwürde verliehen bekam, kam er nicht umhin, sich an seine Mutter zu erinnern, die in ihrer Liebe davon träumte, ihr Sohn würde gerade in Harvard sein Diplom machen. Es ist schön, was sich eine Mutter vorgestellt hatte. Aber ist genauso schön, eine Zeit zu spüren, in der eine derartige Persona grata, wie Havel es ist, Präsident sein kann. Aus dem Kroatischen übersetzt von Boris Perić 30.4.2011. 17:53:03 RELA 124 TIONS Der als Bettler verkleidete Prinz Zdravko Zima N eben Italo Calvino beschwören die Kritiker meistens J. L. Borges, Umberto Eco ist wie durch eine Nabelschnur an den Doctor Angelicus Thomas von Aquin gebunden, genauso wie Antonio Tabucchi an Fernando Pessoa. Die drei berühmten Schriftsteller, die die Ehre der italienischen Literatur in den letzten Jahrzehnten weit über die Grenzen ihres Landes hinausgetragen haben (Calvino zwar postum) haben Ankerplätze und geistige Kompasse, ohne die ihre Werke, einzeln oder als Ganzes, kaum denkbar sind. Diese Tatsache ist an sich weder streitig noch kompromittierend. Denn, wie das Leben eine biologische Kette ist, die in gleichem Maße aus unseren Vorfahren und Nachkommen besteht, so ist auch die Literatur in ihrer optimalen Ausgabe nichts anderes als eine imaginäre Kette, die an ihren äußersten Punkten von Homer und Joyce begrenzt ist. Durch Verschiebung der gewohnten Auffassung von Raum und Zeit gelangt diese bei der Ära des dritten Millenniums an: Von den drei zitierten italienischen Autoren und Tabucchi in Kroatien am wenigsten bekannt, obwohl das auf keinen Fall bedeuten soll, er sei weniger interessant als Calvino oder Eco. Tabucchi wurde 1943. in Pisa geboren und arbeitet schon seit Jahren als Professor für Lusitanistik an der Universität in Siena. Außer, dass er Experte für portugiesische Literatur ist, ist Tabucchi ein fanatischer Le- Relation 1_2011.indd 124 ser Fernando Pessoas, der er selbst übersetzt und auf italienisch veröffentlicht hat. Es genügt nicht, zu sagen, Pessoa sei sein intimer Favorit: Lusitanistik ist für Tabucchi Profession und Passion zugleich, Beruf und Leidenschaft, Obligation und Liebe, in der Pessoa, als intellektuellem Priester und Dichter mit mehreren Gesichtern ein privilegierter Platz zukommt. Tabucchi ist nicht nur ein eifriger Übersetzer aus dem Portugiesischen, sondern auch ein Autor von Novellen, Romanen und Theaterstücken. Seine bekanntesten Bücher sind: Kleine Missverständnisse ohne Bedeutung (1985), Die Flieger des Bruder Angelico (1987), Requiem (1992), Erklärt Pereira (1994), Platos Gastritis (1998) und Die Zigeuner und die Renaissance (1999). Seine definitive, beinahe schon liebende Widmung an das portugiesische Genie ist der Roman Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa (Gli ultimi tre giorni di Fernando Pessoa), in dem er belletristisch den durch übermäßigen Alkoholgenuss verursachten Tod des Dichters darstellt. Aufgrund des Romans, in dem sich der ungeheuere Pessoa mit sich selbst oder seinen Heteronymen unterhält, wurde im Mailänder Teatro Piccolo eine Theateraufführung inszeniert, bei der Giorgio Strehler Regie führte. 1996 veröffentlichte der Zagreber Verlag Durieux zwei Dramensammlungen Tabucchis unter dem Titel Die unverwirklichten Dialoge, natür- lich, abermals mit Pessoa als Protagonist (Übersetzung Tatjana Petruško), während der Zagreber Ceres-Verlag nun seine Reiseprosa Indisches Nachtstück (Notturno indiano, Übersetzung und Nachwort Mirko Sladek) vorstellt. Nicht einmal in Indien konnte Tabucchi ohne seine portugiesischen Obsessionen auskommen: im Gegenteil, gerade diese hatten ihn ja nach Osten geführt, jenem Abenteuer entgegen, das von allem anderen als von oberflächlichem Globetrottertum getragen wird. Die Figur, die diesen Seiten entspringt, gehört zu jener Art Sonderlingen, die es nach Reisen dürstet, wenn sie sich aber dazu entschließen, werden in ihnen Mechanismen der Selbstverteidigung und beinahe eingeborene Zweifel wach. Alles liegt im Übergießen und gegenseitigen Durchdringen, hinter dem Schönheit und Entsetzen, Wirklichkeit und Schein lauern. Bereits die Tatsache, dass im Titelsyntagma das Wort Nachtstück hervorgehoben wird, weist auf die Natur des Texts hin, in dem nächtliche und schattenhafte Zustände an die Erfahrungen der physischen Reise anschließen. Im Bewusstsein des durchschnittlich gebildeten Menschen ist Indien ein Land, das Landschaften mit Monsunregen vor Augen führt, albtraumhafte Städte, Magie, Swamis und heilige Flüsse. Aber obwohl Tabucchis Prosa gewissermaßen durch den Titel definiert ist, obwohl 30.4.2011. 17:53:03 RELA TIONS am Anfang ein Verzeichnis der Orte angeboten wird, in dem Bombay, Madras, Goa, Vasco da Gama, der Strand Calangutea und einige Hotels erwähnt werden, bleibt Indisches Nachtstück weit vom Reisebericht im konventionellen Sinne des Wortes entfernt. Das Verzeichnis der Orte, untergeschoben als eine Art Itinerar, ist eigentlich eine vom Autor gestellte Falle, die den Leser verführt und von Hauptweg abbringt. Die ganze Geschichte liegt darin, dass die Reise durch den neuen Raum und die neue Kultur in eine Reise ins eigene Innere kanalisiert wird. Indisches Nachtstück ist zum Teil ein Reisebericht, aber genauso auch ein Kurzroman, ein prosaischen Impromptu, ein Essay über die Seele und ein Soliloquium, das sich so ereignet hat, wie es sich auf einem mystischen Subkontinent zu ereignen hatte. Das Paradox liegt vielleicht darin, dass der Reisebericht und theoretischen und ähnlichen Handbüchern als nebenläufige, minderwertige Gattung behandelt wird, obwohl es sich um eine elementare Form handelt, die in der europäischen Kultur von Anfang an verankert ist. Die beste Bestätigung dafür ist die Odyssee. Außer der Odyssee genügt es, Titel zu nennen wie Die göttliche Komödie, Don Quijote, Gullivers Reisen oder Ulysses. Das Leben, wie immer es sein mag, ob es sich nun in nächster Nähe oder in der Ferne ereignet, ist im Grunde eine Reise. Was sollte dann Literatur sein? Während sterile Deutungen im Reisebericht einen eingrenzenden Faktor sehen (als sei der Reisebericht dasselbe wie ein Baedeker), radikalisierte Tabucchi den fragmentarischen Charakter seines Buchs und seiner Reise bis zum Äußersten. Obwohl Indisches Nachtstück schulisch gesprochen einen Ausläufer der Reiseliteratur darstellt, bleibt alles darin offen. So, wie es weder Anfang noch Ende gibt, und auch der Tod ist kein Ende, wenn der Mensch Relation 1_2011.indd 125 Kritiken gläubig, Spiritist oder Terrorist [!] ist, gibt es auch in Tabucchis Prosa weder Anfang noch Ende im gewohnten Sinne. Dieses als Albtraum fokussierte Umherirren und Indien beginnt, bevor es sich ereignet hat und dröhnt den letzten Seiten des Buches noch lange nach. Es ist auch schwer, zu erwarten, eine derartige Prosa könnte eine Fabel mit Hauptfiguren und gleichmäßig verteilten Statisten enthalten. Tabucchis Buch lesen bedeutet, sich auf ein Abenteuer einlassen, das weit von der marktwirtschaftlichen Einförmigkeit einer Welt entfernt ist, die mit Pommes Frites und Reisebüros gleichzusetzen wäre. Die Reise des erschöpften und genervten Intellektuellen zeigt letztendlich nur, dass die Welt eine Kugel ist. Denn, er indem er nach Osten aufgebrochen war, gelangte er nach Westen; nach Indien reisend bereiste er die Region Goa, die im fernen 16. Jahrhundert eine portugiesische Kolonie gewesen ist. Auch der Mann, nach dem er erfolglos suchte, war ein Portugiese – Xavier Janata Pinto. Die Spuren des mysteriösen Pinto sind kaum erkennbar, man weiß, dass er indische Vorfahren hatte, dass er Mitglied der Theosophischen Gesellschaft gewesen ist und dass er traurig wirkte, wenn er lächelte. Wer etwas über den Autor weiß, hätte schwören können, dass Tabucchi auch auf seiner asiatischen Pilgerfahrt für seinen Pessoa Platz finden wird. Auch umgekehrt: wer Pessoa gelesen hat, weiß, dass in seiner mit dem Pseudonym Alvaro de Campos unterschriebenen Dichtung aus Pompeji der Indische Ozean ausdrücklich erwähnt wird. Im sechsten Kapitel von Tabucchis Buch, im Gespräch, das in der Theosophischen Gesellschaft in Madras (sogar die genaue Anschrift ist angeführt) geführt wird, erwähnt der Gast seinem Gastgeber gegenüber Pessoa, im Hinblick auf dessen Gnostizismus und die Legende von der Brille, nach 125 der er in seiner Sterbestunde verlangt hatte. Durch Indien wandernd, zumindest durch jenes, in dem noch Zeichen portugiesischer kolonialer Anwesenheit erkennbar sind, erkundigt sich Tabucchis Held nach Xavier, findet aber nur sich selbst, seinen eigenen Schatten und alles, was mit ihm auf diesem entfernten Subkontinent angelangt ist. Vielleicht ist Xavier Godot, vielleicht auch jemand anders, aber nach seiner Ankunft in Bombay trifft der Reisende eine junge Frau, die ihn auf gewisse Spuren aufmerksam macht, geht dann ins Krankenhaus, tauscht Erfahrungen mit einem Dschainisten aus, empfängt eine unbekannte Frau zu einem nächtlichen Besuch und so fort. Obwohl sich Tabucchis Prosa in ihrem bescheidnen Umfang mit anderen Büchern nicht messen kann, übertrifft sie diese doch durch seine Kompaktheit und die Vielzahl an virtuellen Bedeutungen. In der indischen Welt, die zugleich eine offene und eine verschlossene ist, wird sich der neugierige Europäer mit einem Arzt unterhalten, der Ganesha heißt (wie der mythische Elefant) und der zugeben wird, er sei Atheist, obwohl Gottlosigkeit dort als größtes Verderben gilt. Auch lernt er einen Inder kennen, der nach Benares reist, die Stadt, in der er zu sterben gedenkt, und kommt zum Schluss, der Dschainismus sei eine sehr schöne, aber auch sehr dumme Religion. Diese Behauptung wäre vielleicht gar nicht so kurios, wäre sie nicht dem Kopf eines Menschen entsprungen, der selbst Dschainist ist. An einer Bushaltestelle lernt der Reisende oder Nomade einen Jungen kennen, der einen Affen auf dem Rücken trägt. Als er auf sie zutrat, begriff er, dass es sich um keinen Affen, sondern um eine Missgestalt handelt. Diese ungeheuere Kreatur war ein dschainistischer Prophet, der die heiligen Schriften kannte und Pilgern das Karma las. Die fröhlichste 30.4.2011. 17:53:03 126 Geschichte ist aber jene von Tommy, einem Briefträger aus Philadelphia, der eines Tages, von einem Wandbild angetan, auf dem das Meer dargestellt war, seine Briefträgertasche in den Wind schoss und nach Indien fuhr. Seither lebt er in Goa und schickt Ansichtskarten an Amerikaner, die er ihrer Briefe beraubt hatte. In seinen kurzen, beinahe somnambulen Treffen mit dem Taxifahrer, dem falschen Vizekönig und anderen Exzentrikern jeder erdenklichen Art, spiegelt sich eine Prosa, die in ihrer Unfertigkeit präzise ist, konsequent im Ausdehnen der Grenzen des Genres und größenwahnsinnig im Wunsch, alles, was sie bietet oder andeutet in minimalen Verrückungen zu verwirklichen. Die Ellipse ist Tabucchis stärkste Waffe, die Verfremdung das Verfahren, durch das er blufft und fasziniert. Wäre er ein Filmregisseur, würde man sagen, er würde die Technik des Short Cuts anwenden. Unter allen Cineasten kommt ihm allem Anschein nach Wim Wenders am nächsten. Dieser Deutsche verglich seine Weltanschauung und seine Ästhetik mit Reisen (Filme: Alice in den Städten, Der amerikanische Freund und Paris, Texas), bediente sich aber auch oft literarischer Vorlagen (Peter Handke, Dashiell Hammet, Patricia Highs- Relation 1_2011.indd 126 RELA Dossier: Zdravko Zima mith). Wenders’ Filme tragen das Gefühl der Ausgeklinktheit und der existenziellen Bedrückung in sich, das sich auch in Tabucchis Prosa erahnen lässt. Was ebenso interessant ist, Der Stand der Dinge wurde in Portugal gedreht, während der Held aus Lissabon Story, Herr Winter, ebenfalls nach seinem Freund sucht und Pessoa liest. An mehreren Stellen wird sich der italienische Suchende mit der indischen Welt identifizieren, in der die äußere Form des Menschen als Hemd erlebt wird, das die Seele bewohnt. Der Körper ist wie ein Kasten, in dem wir uns selbst tragen, schließt der Autor und enthüllt uns einen Zustand der Beklommenheit und Silhouetten, die stets mit dem Tod in Verbindung stehen. Die Idee des Nachtstücks weist auf den Mond hin, das Spiel von Licht und Schatten, die Zeit, die durch Imagination und (Re)Inkarnation hindurchgeht, eine Szene, die in Porto oder Goa geortet werden kann und die eine orgiastische Mischung aus Intellekt und Instinkt darstellt. In verschiedenen Gelegenheiten findet sich der Ankömmling aus Europa in weiblicher Gesellschaft. Bei typisch westlichen Autoren würden solche Treffen, die meist nachts stattfinden, mit dem gewohnten Sex oder zumindest einer derartigen Anspie- TIONS lung enden; in Tabucchis Buch enden sie in der Unvorhersehbarkeit und der Verbundenheit, die jedes Ereignis und jede Geste mit einem Netz aus Geheimnissen überziehen. Von der Energie des konkreten Reisens getragen, demonstrierte Tabucchi, dass auf verschiedene Weise gereist werden kann, sowohl als auch in allen möglichen Richtungen, und dass dabei nicht nur die Züge und Flugzeuge wichtig sind. Jemand flieht in weit entfernte Erdteile, um vor sich selbst zu fliehen, jemand, um sein authentisches Inneres zu durchleuchten. Bei einer Gelegenheit, im Bombayer Hotel Taj Mahal, bestellt Tabucchi (oder sein Doppelgänger) ein üppiges Abendessen, im Glauben, ein als Bettler verkleideter Prinz würde dasselbe tun. So, wie geistige Prinzen manchmal den Eindruck angeblicher Bettler hinterlassen, so, wie sich in der Kreatur, die an einer Bushaltestelle kauert, manchmal ein Prophet verbirgt, legitimierte sich auch Tabucchi mit seinen europäischen und lusitanischen Gewohnheiten als Hindu. Er vollzog dies mit der Kraft eines Schamanen und vollblutigen Nachfahren Pessoas. Aus dem Kroatischen übersetzt von Boris Perić 30.4.2011. 17:53:03 RELA TIONS 127 Pessoa oder Die Suche nach sich selbst Zdravko Zima U nvorhersehbar und schwer begehbar sind die literarischen Labyrinthe: Witold Gombrowicz unterzeichnete seinerzeit einen der heftigsten und eindrucksvollsten antilyrischen Steckbriefe, aber trotz seiner Autorität verdanken wir einige der wichtigsten Prosakapitel des 20. Jahrhunderts gerade den Dichtern. Ein Beweis dafür sind Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in denen Rilke einen neuen Weg des europäischen Romans trassiert hat, sowohl wegen des Verlassens der klassischen Naration, als auch wegen des geradezu röntgenhaft tiefen Eindringens ins Innere des Helden. Der zweite Beweis ist Das Buch der Unruhe von Fernando Pessoa, einem Dichter, der in seiner Heimat zeitlebens nicht allzu bekannt war, während seine Bekenntnisprosa beinahe ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod zum ersten Mal veröffentlich wurde. Dank des Verlagshauses Konzor aus Zagreb, sowie des übersetzerischen Elans von Mirko Tomasović und Tatjana Tarbuk ist das Werk dieses portugiesischen Modernisten heute im großen Umfang unserem Publikum zugänglich. Jahrzehnte lang wussten wir so gut wie gar nichts über die Portugiesen und ihre Literatur, außer, dass Camoes das Nationalepos Die Lusitanier gedichtet hat und dass ihr Komplex gegenüber des mächtigeren spanischen Nachbarvolks in vielerlei Hinsicht jener Rivalität und (Dis) Parität ähnelt, die zwischen einigen Relation 1_2011.indd 127 südslawischen Völkern herrschen. Dann haben wir allmählich Pessoa entdeckt, seine dichterische Besonderheit und Polyperspektivität, die sich mit den avantgardistischen Projekten, an denen im vorigen Jahrhundert ja kein Mangel herrschte, nur schwer vergleichen lässt. Nach der Entdeckung eines Dichters, ja eines Kontinents, erfolgte nicht weniger, als die Entdeckung seiner Prosa. Seine Tagebuchaufzeichnungen und Bekenntnisfragmente schrieb Pessoa von seiner frühesten Jugend bis zum Tod (1935) und wer zumindest einigermaßen sein Werk kennt, wird verstehen, dass seine Lyrik und seine Erzählungen als ein System verschiedener, zugleich aber auch miteinander verbundener Gefäße fortdauern. Das Paradox liegt wahrscheinlich darin, dass Pessoa ein Dichter mit unzähligen Heteronymen und Gesichtern war, doch als Ganzes betrachtet ist seine Hinterlassenschaft nichts anderes als ein grandioser Versuch, das eigene Werk zu entpessoisieren und zu entpersonalisieren. Sich von seinem äußeren zu seinem inneren Selbst wendend, war dieser Lusitanier mal Alberto Caeiro, mal Ricardo Reis oder Alvaro de Campos (in seinen Versen), dann wiederum Vicente Guedes, Bernardo Soares und so weiter (in seiner Prosa). Aber alles in allem ist in seiner Lyrik und seiner Prosa, seiner Heteronymie und seiner Heterophonie, die Bestrebung erkennbar, die eigene Biogra- phie in einen breiten Bogen anderer und andersartiger zu verwandeln, die in letzter Konsequenz zu einem verschmelzen. Es ist wahr, dass Pessoa 47 Jahre gelebt hat, obwohl man sich letztendlich fragen muss: wie lange und wen hat er wirklich gelebt? Heute, wenn das Interesse für einen Dichter mit dem immer größeren Interesse für die iberische und iberoamerikanische Literatur korrespondiert, wir die Behauptung, Pessoa sei seiner Zeit voraus gewesen, wie eine gewöhnliche Schulphrase klingen. Trotz dieser Gefahr muss wiederholt werden, dass Pessoa ein großer Dichter und eine großer Vorgänger ist. So sehr seine Heteronyme seinerzeit auch als eine Art Krankheit behandelt wurden, da sie eher für psychiatrisches tranchieren als für dichterische Erfüllung geeignet schienen, so sehr zeigen sie sich heutzutage als Pluralismus einer Mentalität, die gleich einem großen Fluss ihre Arme und ihr Delta hat. Und Pessoa wurde 1866 ja in einem Land geboren, in dem sich die Zivilisationen gabeln und in einer Stadt, Lissabon, in der der Tejo eine fantastische Mündung in den Atlantik bildet und mit diesem zusammenfließt. Es versteht sich, dass Pessoa durch seine Prädispositionen und alles weitere, was notwendig ist, um ein virtuelles Talent zur entfalten, bestimmt wurde. Aber genauso bestimmt wurde er durch seine Umgebung, die Stadt, die Landschaft, die ein Bild 30.4.2011. 17:53:03 128 von Peripherie und Zentripetalität, Verschlossenheit und Offenheit bot, gesteigert durch das Meer und die Erinnerung an die einst glorreiche nationale Geschichte. Auch alle Attribute, die am Anfang des dritten Millenniums den New Age legitimieren, vor allem Holismus, Androgynität, Mystizismus und Planetarität, trug der Lissabonner Dichter aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in seinem Bewusstsein. So, wie ein Polyp ein maritimer Wirbelloser ist, den man einen Vielbeiner nennen könnte, könnte man von Pessoa behaupten, er sei ein Vielköpfling gewesen. Während der Polyp mit seinen Tentakeln nach seiner Beute greift, gelangt der Dichter mit seinen Antennen in die entferntesten Welten und ändert dabei das eigene Bild mit jener art Nonchalance, die nur seltenen Individuen eigen ist. Pessoa bedeutet auf portugiesisch „die Person“, was schon beinahe ein onomastischer Ulk ist, da Pessoa in seinen lyrischen Körper verschiedene Persönlichkeiten transplantiert hatte und dies mit einer Übermacht tat, wie es sonst nur Schamanen zu tun vermögen. Von sich behauptete er, er sei eine Mischung aus Edelmann und Jude. Obwohl er in Lissabon geboren wurde, verbrachte er seine frühe Jugend in Südafrika, wo sein Stiefvater Konsul war. Er las unendlich viel und seine ersten literarischen Zeilen verfasste er nicht auf portugiesisch sondern auf englisch. Nach der Rückkehr in seine Geburtsstadt studierte er eine kürzere Zeit, obwohl er Autodidakt gewesen und geblieben ist. Seine Interessen reichten von klassischer Literatur und Philosophie bis hin zu Astrologie und Theosophie. Pessoas Feinheit und sein strenger schwarzer Anzug standen in krassem Widerspruch zu seiner bohemienhaften Natur, seiner Neigung, in allen möglichen Herbergen zu schlafen und sich bis zur Zerstörung zu betrinken. Er nannte sich einen Mon- Relation 1_2011.indd 128 RELA Dossier: Zdravko Zima archisten, obwohl in ihm die Merkmale eines Konservativen und eines Liberalen vereint waren. Er war ein Gnostiker, Freimaurer, Nationalist und Kosmopolit, der im Jahr seines Todes in einer autobiographischen Note erwähnte, wie wichtig es sei, gegen drei Gespenster anzukämpfen: Unwissenheit, Fanatismus und Tyrannei. Obwohl er von verschiedenen Heteronymen Gebrauch machte, rühmten sich die Verse, die er mit Alvaro de Campos unterzeichnete, der größten Beliebtheit. Dasselbe Prinzip der Karnevalisierung, dieses beinahe bachtinhaften Mischens von Stimmen und Namen, wandte er auch in seiner Prosa an. Kritiker und Forscher stritten jahrelang über das Entstehen von Das Buch der Unruhe (Livro do Desassossego) und betonten, es gäbe mehrere verschiedene Bücher, oder zumindest mehrere verschiedene Phasen ein und desselben Buches. Pessoa hinterließ mehrer Entwürfe dieses Buches, das er sein Leben lang projektierte, ohne es jemals beendet zu haben, und das allein durch seinen Tod finalisiert wurde, eines Buches, das er selbst ist, Pessoa per se und persona publica. Als fragmentarisches Werk gedacht, unterzeichnete er es zunächst mit seinem wirklichen Namen, als der Ton aber privater wurde, griff er zur Mimikry. Sein erster anderer Name war Vincente Guedes, dem nach 1929 Bernardo Soares folgte. In seinen Einzelheiten, aber auch im Ganzen, ist Das Buch der Unruhe ein typisches Palimpsest, in dem der Autor seine literarische, philosophischen und sonstigen Ansichten aufbewahrte, vom Tod und vom Leben gleichermaßen bezaubert, falls das letztendlich nicht ein und dasselbe ist. Es gab im 20. Jahrhundert nur wenige Titel, die so viele Diskussionen und Deutungen zur Folge hatten, wie es mit Das Buch der Unruhe der Fall gewesen ist. Es gab auch wenige Autoren, falls es sie überhaupt TIONS gegeben hat, die in der Vielfalt ihrer Namen und Identitäten mit Pessoa vergleichbar wären. So wie der Dichter mal dieses, mal jenes Gesicht zeigt, enthüllt sich Das Buch der Unruhe als Kaleidoskop, als Himmelszelt, das stets das Gleiche zu sein scheint, obwohl es jeden Tag anders und um die eine oder andere Galaxie reicher ist. Trotz aller verworrener Pfade, wurde Das Buch der Unruhe letztendlich ein eine Prä-Soares – (1913-1929) und eine Soares-Phase (1929-1935) geteilt. In den Manuskripten kamen auch andere Namen vor, aber als Soares auftauchte, war Guedes endgültig verschwunden. Bereits auf den ersten Seiten sind viele Parallelen zwischen dem apokryphen Autor und Pessoa zu erahnen. Soares wohnt auch weiterhin in der Douradores-Straße im Lisabonner Handelsviertel Baixa. Er arbeitet als Buchhalter, ist früh elternlos geblieben, schreibt in seiner Freizeit und kannte den Orpheus, die Zeitschrift der portugiesischen Modernisten, die leider nicht allzu lange erschien. Ein Vorteil von Das Buch der Unruhe ist, dass es von vorn nach hinten, aber auch umgekehrt gelesen werden kann, als eine Art Brevier, eine Sammlung von Gebeten, Aphorismen und anderen Funken, die jedes Mal eine andere Ansicht bieten. Wie auch immer, es ist eine Schrift, die bis aufs Äußerste von der Erfahrung des Traums und des multiplizierten Ichs durchdrungen ist. Trotzdem, der Traum, den SoaresPessoa befürwortet, ist der höchste Grad an Wachsein, die Vielfältigkeit erfolgt nicht aus Megalomanie, sondern aus dem Bedürfnis nach Fülle, dem sich der Zauberer aus Lissabon restlos hingab. Der Traum, auf den sich Pessoa beruft, hat mit Surrealismus nichts zu tun; der Traum öffnet die Tore tiefster Wahrheiten und suggeriert jene Art von Mystizismus und Kontemplation, die im goldenen Zeitalter der spanischen Literatur 30.4.2011. 17:53:03 RELA TIONS von Calderón evoziert wurde und die die Außenwelt eigentlich mit Trug gleichsetzt. Obwohl sich Das Buch der Unruhe als Variante eines radikalen Solipsismus anbietet, als Spiel, das außerhalb von sich selbst keinen Zweck hat und deshalb, so Paradox es klingen mag, einzig Zweckhaft ist. In vielen Fragment sind Referenzen auf die wirkliche Zeit zu erkennen, die die These von einem in schwer begehbare somnambule Keller eingeschlossenen Werk bestreiten. Faszinierend ist die Tatsache, dass ein Autor zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in einer Ära, in der noch die klassisch fabulierte Literatur vorherrschte, die Idee des Textes als Totalität dermaßen destruiert und entpersonalisiert hat. Jene Art Entpersonalisierung – und Umdrehung in das aufrichtigste Ich – die im 19. Jahrhundert von Baudelaire angekündigt wurde, akzeptierte Pessoa als Regel. Deshalb trennt er das Schreiben, trotz aller Berauschtheit, vom Herzen; deshalb konstatiert er beinahe programmatisch „ich bin zwei“, deshalb ist er jedermann und niemand zugleich, seine eigene Patience, ein Schlafwandler, der seine intime Buchhaltung führt, ein Sonderling, der in Gefühlen denkt und der in seinen Varianten vielleicht auf die Formel gens una simus zurückzuführen ist. Dieses Gefühl der Gemeinsamkeit hat, natürlich, eher kosmische, als nationale, ideologische oder ähnliche Konnotationen, und wurde am deutlichsten in dem berühmten und weltweit übersetzten Seefahrerlied fixiert, das mit dem Heteronym Alvaro de Campos unterschrieben wurde. In einem genauso bekannten Gedicht schrieb Campos: „Alles auf jede Weisen fühlen, alle Meinungen haben, sich selbst zu jedem Zeitpunkt widersprechend ehrlich sein, sich in der Freiheit des Geistes nicht selbst Relation 1_2011.indd 129 Kritiken schmeicheln und die Dinge wie Gott lieben“. Das Bedürfnis des Dichters nach dem Absoluten brachte eine ausdrückliche und beinahe nietzscheanische Kritik des institutionellen Christentums hervor, während sein Soares bereits am Anfang seiner Bekenntnisse erklärt, er sei zu einer Zeit geboren worden, in der die Jungen den glauben an Gott bereits verloren hatten. Möchte der Mensch ein integrales Wesen sein, dann muss sein Wissen über sich selbst und die Welt genauso sein; das ist die Voraussetzung, von der zahlreiche Gnostiker ausgegangen waren, die Pessoa und viele andere Autoren (Marguerite Yourcenar, Cioran) akzeptiert haben und die auch von der modernen Wissenschaft legitimiert wurde. Was bedeutet das? Einfach nur, dass alles, was besteht, nichts anderes ist als Bewusstsein und dass das die Verbindung mit der göttlichen Energie als Ganzem durch das Eindringen ins Selbst und das überwinden individueller Begrenztheit erreicht werden kann. Es gibt kaum einen Autor, bei dem diese Ambition dermaßen offensichtlich wäre, wie bei Pessoa. In einem Fragment setzt sich SoaresPessoa mit einem Reisenden gleich, der sich auf einmal in einer Stadt eingefunden hat, auf einer Brücke, über den Fluss gebeugt. Das ist ein typisches primordiales Bild, in dem der Traum fixiert wurde, das Vorher und das Nachher, ein Zustand, in dem die Brücke eine spürbare Verbindung zu Tod und Ewigkeit darstellt. Pessoa ist aber kein einfacher Reisender, sondern ein Wanderer, ein Pilger, der sich in einer Welt, in der er wohnt und der die Ewigkeit den ersehnten Unterschlupf bietet, als Vorübergehender empfindet. Es ist verständlich, das ein solches Individuum nach der Nacht griff und den Tag ignorierte, dass es ein Doppelleben führte, sich 129 tagsüber als Beamter verhielt, nachts aber als Suchender und Künstler. Das Buch der Unruhe bietet mehr als genug Bestätigung dafür. An einer Stelle stellt der Erzähler fest, er sei Tagsüber ein Nichts, an einer anderen identifiziert er Nacht mit Haus und Freiheit, an einer dritten ist Traum Sinn, Kreation und Rekreation. Trotz seiner Auflehnung gegen das kanonisiert aufgefasste Christentum ist Pessoas Held ein eigentümlicher Gläubiger, weil er die Dränge und niederen Imperative des Staates und der Gesellschaft aufgegeben hat. Nichts bestimmt letztendlich seinen Protagonisten so sehr, wie jener gnomische Satz, in dem dieser benahe widersprüchlich behauptet, seine Natürlichkeit sei eine künstliche! Darin liegt der wesentliche Grund von Pessoas Buch, das mit großem und kleinem Anfangsbuchstaben gedacht wurde: im Übergießen der äußeren und inneren Wirklichkeit, im Träumen, das den höchsten Grad an Konzentration bedeutet, in der Hellsicht, die physische Schmerzen zufügt und schließlich in der Sehnsucht, die endlos ist und aus der Einsamkeit hervorgeht. Sowohl aus der menschlichen, als auch aus jener der Sterne. Das Buch der Unruhe und das, was es in seiner Elliptizität beinhalten, könnte mit verschiednen Begriffen definiert werden, es scheint aber, der bestgeeignete sei das deutsche Wort Sehnsucht. In dieser iberisch-germanischen Sehnsucht ist alles enthalten. Das Denkbare und das Undenkbare, das Warme und das Kalte, dasjenige, was Portugal mit der Welt und Pessoas Sprache mit der Weltsprache gleichgesetzt hat. Aus dem Kroatischen übersetzt von Boris Perić 30.4.2011. 17:53:03 RELA 130 TIONS Der Bote des unreinen Gewissens Zdravko Zima W eder Zeit seines relativ kurzen Lebens, noch heute, gehörte Thomas Bernhard (1931-1989) zu jenem, was meistens unter der Formel der trendischen Literatur verstanden wird. Obwohl er Österreicher und österreichischer Autor war, fand er sich niemals mit den durch Sprache und Nation bestimmten Grenzen ab, obwohl er gelobt und gewürdigt wurde, lebte er am Rand, oder, besser gesagt, auf bewusst gewählter Distanz zu allem, was das gewaschene Bild von der großen, durch die Ehre der Habsburger bekränzten Kultur verkörperte. So paradox das auch Klingen mag, Thomas Bernhard ist ein Kanon, der allen Kanons entweicht, ein Begründer, der die bestehenden Fundamente stürzt, ein Zyniker sondergleichen und dazu noch ein Schöngeist ohne Sentiment, der die österreichische Literatur nach jener goldenen, durch den Ersten Weltkrieg beendeten Zeit, erneut zu ihren alpinen Gipfeln geführt hat. Diese Gipfel sind zwar sonnig und schneeweiß, während es um ihn herum nur wenig Licht, dafür aber viel Dunkel und Hoffnungslosigkeit gibt. Aber die Kraft, mit der er seine literarische Landschaft geformt hat, sein Stil, sein geistiger Reichtum, seine Wortspiele und seine von schwarzem Humor durchdrungene Dialektik, die nicht einmal vor den schwersten Herausforderungen halt macht, machten seinen Namen zu einem Symbol, zu etwas, das man liebt oder verwirft, restlos und ohne das Bedürfnis, Relation 1_2011.indd 130 sonderlich dazu Stellung zu nehmen. Als Mensch, der keine Kompromisse duldete und dessen prosaistisches und szenisches Werk Spuren offensichtlicher, rücksichtsloser und zutiefst narzisstischer Selbsttotemisierung in sich trägt, ist Bernhard ein Autor, den man mit verwandtschaftlicher Empathie akzeptiert oder genauso leidenschaftlich verwirft und ignoriert. Die Tatsache, dass er gestorben ist, hat den Staub und das kaum hörbare, dafür aber noch schlimmere mediokre Echo, dass sich über seinem Erbe zusammengezogen hat, nicht weggewischt. Zeitlebens schockierte er durch seine Streitbarkeit und seinen organischen Widerwillen gegenüber einem Österreich, das im Glanz der ehemaligen franzjosephinischen Monarchie fixiert ist, und auch heute ist sein Schatten genauso unpassend, weil es schwer fällt, ihn als vorbildlichen schulischen Autor darzustellen und einzuordnen. Aber die Art, wie er seinen Landesgenossen als Rache für alle Schikanen und Erniedrigungen Leid zugefügt hat, ist ohne Gleichen: Obwohl er als Theaterautor wohl am bekanntesten war, untersagte Thomas Bernhard testamentarisch die Aufführung seiner Stücke in Österreich. Das ist das Passepartout eines Schriftstellers, der alle möglichen Ideale verneint hatte und in der Literatur bis zum Äußersten gegangen war. Es wäre vielleicht am richtigsten, zu schließen, er sei eine Ausgeburt gewesen, einer, der die bestehenden Re- geln mit Verachtung straft, wofür seine Biographie genügend Argumente bietet. Geboren wurde er im niederländischen Heerlen, eine Zeitlang lebte er in Rotterdam, verbrachte aber den größten Teil seines Lebens in Salzburg, Wien und der österreichischen Provinz. Was die Provinz betrifft, so hatte er sie nicht nur nicht geliebt, sondern verachtet, konnte sich aus ihr aber nicht befreien. Bei vielen Gelegenheiten bezeichnete er sich als Großstadtmenschen, der seine Fantasie in der Atmosphäre von Kaffeehäusern und Konzerten belebt, seine physische Kondition und seine Lungenkrankheit (die ihn seit seiner Jugend plagte) drängten ihn zur Erholung in ländlichen Gegenden. Er liebte den Rhythmus der Stadt und war von der provinziellen Trostlosigkeit angewidert; sein Geist brauchte das eine, sein Körper aber das andere, und es war, wie in so vielen anderen Angelegenheiten, ein Ding der Unmöglichkeit, die ideale Lösung zu finden. Am Salzburger Mozarteum studierte er Gesang, Schauspielkunst und Regie. Zur gleichen Zeit schrieb er Verse in der Manier Trakls oder Rilkes und lebte als Gerichtsberichterstatter für lokale Blätter. Anlass für viele seiner Prosastücke fand er in gerichtlichen und kriminalistischen Berichten, deren Bizarrerie an das Fantastische grenzte. Letztendlich stellt sich die Frage, ob die exzentrischen Individuen und alle möglichen Gesetzbrecher Bernhards Fantasie kanalisiert haben oder aber, 30.4.2011. 17:53:03 RELA TIONS ob er nicht ein Autor war, der einer solchen Welt spontan entgegeneilte. Wie auch immer, Bernhard war ein Dramatiker und Erzähler, aus dem unaufhaltbar Gift und Skepsis spritzten. Wer Salzburg als säuberliche, in Mozarts musikalische Arithmetik eingehüllte Festspielstadt kennt, wird seine Texte als Endstation einer Welt erleben, die von Maniacs und prädestinierten finsteren Gestalten bevölkert ist, die ihren Dämonismus in ihren Genen trugen. Neben fünf Prosabänden, in denen er seine Kindheits- und Jugenderinnerungen beschreibt, zählen die Romane Korrektur (1975), Beton (1982), Wittgensteins Neffe (1982) und Der Untergeher zu seinen wichtigsten Werken. Unter den Theaterstücken sind Vor dem Ruhestand (1979), Heldenplatz (1988) und Minetti, ein Porträt des Künstlers als alter Mann (1977) zu nennen. Sein Stück Der Schein trügt (1983) wurde im gleichen Jahr in der Übersetzung von Dragutin Horvat im Teatar&TD aufgeführt, während der Zagreber Verlag Meandar 1998 eine Sammlung von Kurzgeschichten oder prosaischen Extemporationen unter dem Titel Der Stimmenimitator (1978) in der Übersetzung von Boris Perić herausgebracht hatte. Der Autor, der seiner Unruhe und seinen Depressionen durch häufiges Reisen beizukommen suchte, hegte auch den Gegenden des Balkan gegenüber Sympathien. Wenn nicht deshalb, weil diese einst von der Österreichungarischen Monarchie erfasst waren, dann allem Anschein nach deshalb, weil er bei seinen südlicheren Nachbarn jene Vitalität und Exotik fand, die wie der Handschuh zur Hand zu seiner Dekadenz und Defektivität passten. In Der Stimmenimitator werden namentlich Dubrovnik, Cavtat, Perast, Herceg-Novi, Belgrad und Trebinje genannt. Besonders intrigant ist die Erwähnung von Cavtat und dem dortigen wundersamen, auf einer Anhöhe gelege- Relation 1_2011.indd 131 Kritiken nen Friedhof, von dem sich ein Blick auf Dubrovnik erstreckt. Diese Aufzeichnung lehnt natürlich an Bernhards Todesbesessenheit an, geht aber auch aus all jenem hervor, was mit der Vorstellung vom Balkan als andersartigem, archetypischen Universum in Verbindung steht. Statt Račićs, nennte der Autor Njegošs Mausoleum, aber dieser Fehler würde eher einen eventuellen eingefleischten Nationalisten stören, als die Harmonie seiner fremdartigen, manchmal schockierenden, aber genauso exakten und stilistisch hervorragenden Prosastücke zu beeinträchtigen. Unter seinen wichtigsten Projekten kündigte der bereits erwähnte Meandar Verlag das Veröffentlichen von Bernhards gesammelten Werken an. Als erster Titel in dieser Serie wurde, in der Übersetzung von Truda Stamać und der Redaktion von Zvonko Maković, Bernhards vielleicht bekanntester Roman Wittgensteins Neffe, eine Freundschaft veröffentlich. Was kann über dieses Buch gesagt werden, in dem Bernhard, von Paul, seinem Freund und nahem Verwandten des berühmten Philosophen Ludwig Wittgenstein erzählend, zugleich ein unverschönertes und alles andere als typisches Selbstporträt gemalt hat? Von einer ihm verwandten Seele ausgehend, wie Emil M. Cioran es gewesen ist, könnte man zum Schluss kommen, ein Monster habe Wittgensteins Neffe autorisiert. Denn, nur Monster können sich den Luxus leisten, die Welt so zu sehen, wie sie ist, erklärt Cioran. Der Staat ernährt sich von Pomp, Fiktion und Mythomanie, die ihre Grundlage und ihre Conditio sine qua non sind. Bernhard ist alles andere, nur nicht das! Ein schonungsloser Bote der Verbitterung, ein Zerstörer, (Selbst)Mörder und Snob, dem es nicht im Traum einfallen würde, für das Publikum zu schreiben oder sich auf eine ihm angemessene Ebene herabzulassen. Bernhard schreibt für sich und sei- 131 nen kleinen Kreis, zu dem, neben dem bereits zitierten Cioran, Gombrowicz, Beckett, Kiš und ähnliche durch Nihilismus und Skepsis imprägnierte Gehirne gehören. Obwohl die modernen Literaturtheorien der Möglichkeit der Identifizierung von Autor und Werk gegenüber reserviert sind, fallen viele Einzelheiten aus Wittgensteins Neffe mit Tatsachen aus Bernhards Leben zusammen. Bereits in den ersten Sätzen erwähnt der Autor seien ersten, 1967 veröffentlichten Roman Verstörung, darauf seine Kortisontherapie, den faustdicken Tumor, der aus seinem Brustkorb entfernt wurde, sowie die ärztliche Prognose, aus der hervorgeht, er habe nur noch einige Monate, wenn nicht sogar Wochen zu leben. Jahrelang mit seiner schweren und terminalen Krankheit kämpfend, entwickelte Bernhard seinen Zynismus und seine Feinfühligkeit – nicht nur die physische und materielle, sondern auch die geistige und intuitive – bis zum Äußersten. Eine derartige, manchmal röntgenhafte Feinfühligkeit besitzen nicht selten kranke Personen, die sich durch ihr Leiden von anderen und allem, was diese routinierte, selbstverliebte Welt ausmacht distanziert haben. Auch seine unalltägliche Freundschaft, die auf den Seiten dieser Erzählung angesiedelt ist, wurde durch Krankheit verfestigt, da der Autor, bzw. sein Alter Ego, im Pavillon Herman lag und Paul Wittgenstein zweihundert Meter weiter im Pavillon Ludwig. Ersterer war Patient der Lungen-, letzterer der psychiatrischen Abteilung, der eine litt an einer schweren, ertastbaren Krankheit, der andere an etwas, das Bernhard, in Anlehnung an Artaud, der in den Doktoren der Psychiatrie hochpositionierte Idioten und Lustverbrecher erkannt hatte, zur Fiktion erklärte. Obwohl er, wie Plutarch einst, in seinem Buch parallele Biographien kreiert hatte, ist Wittgensteins Neffe im Wesentlichen vom Gefühl des Verfalls und des Todes bestimmt. 30.4.2011. 17:53:03 132 Der Patient, der im Krankenbett liegt, weiß, dass Feindseligkeit, Hartnäckigkeit und ähnliche Eigenschaften den Organismus schwächen, kann sich aber nicht helfen, obwohl sein Glaube, er würde das Krankenhaus lebend verlassen, auf ein Minimum reduziert ist. Wie sehr der Erzähler und sein Freund aus verschiedensten Gründen gelitten haben mögen, so sehr weisen sie in zahlreichen Einzelheiten eine Ähnlichkeit auf, wie sie nur unter Zwillingen zu finden ist. Denn so, wie Paul ein unglaubliches Maß an Wut gegenüber sich selbst und seiner Umgebung zu erreichen wusste, litt auch der Erzähler unter derselben Schwäche. Den Einen wie den Anderen trieben ihre Obsessionen direkt ins Krankenhaus und Bernhard wird in seinem Stil schlussfolgern, Paul sei verrückt gewesen, aber dennoch nicht verrückter als er selbst. Außer der Reisen, mit denen sie ihre Unruhe zu heilen versuchten, war die größte Leidenschaft der beiden Freunde die klassische Musik. Unzählige Male diskutierten sie über Wagner, Weber, Schönberg und Satie, Beethoven und Mozart lauschten sie ohne stundenlang ein Wort zu sagen, Paul konnte Karajan nicht ausstehen und verneinte apodiktisch dessen Größe, und die Oper war für ihn der Gipfel aller Künste. Mit Wittgensteins Neffen hatte den Erzähler Irina bekannt gemacht, eine Dame, die mit ihm die Liebe zur Musik teilte, und die so viele Ehen hinter sich hatte, dass diese sich, laut Bernhard, an den Fingern einer Hand nicht abzählen ließen. Was Paul für ein begeisterter Sonderling war, davon zeugt die Angabe, er sei trotz seiner schweren Krankheit imstande gewesen, eine sechs Stunden dauernde Aufführung des „Tristan“ durchzustehen und danach die Künstler, je nach Aufführung und seiner Verfassung, entweder auszupfeifen oder ihnen zu applaudieren. Pauls Pro und Kontra hatten nichts mit der Wirk- Relation 1_2011.indd 132 RELA Dossier: Zdravko Zima lichkeit zu tun, sondern mit seinen Launen und seinem Wahn; dessen ungeachtet schreibt Bernhard, er habe nie zuvor einen Menschen kennen gelernt, der dermaßen luzide und von derartiger gedanklicher Kraft gewesen wäre. Aber Paul verschleuderte erbarmungslos seinen geistigen und materiellen Reichtum. Er entstammte einer der drei wohlhabendsten Familien des Landes, deren Angehörige in erster Linie als Waffenfabrikanten bekannt geworden sind, und danach erst durch derartige Individuen, wie Ludwig und Paul es waren. Aber während die Ehre der Wittgensteins jemand anderem als willkommener Anlass gedient hätte, Lobgesänge auf die Österreicher zu dichten, steigerte dieser Umstand bei Bernhard nur den Wunsch, den Krug voller Unrat so rasch wie möglich über den Köpfen seiner Wiener Mitbürger und Volksgenossen auszuschütten. Noch Schopenhauer war zum Schluss gekommen, dass nur arme Tröpfe nach der Nation als letztem Mittel zur Stärkung des eigenen Stolzes greifen. Bei Bernhard, der von der Beklemmnis seiner Umgebung und dem Mythos von der Größe der einstigen K. u. K. Monarchie angewidert war, erhielten solche Überlegungen eine beinahe fulminante Erfüllung. Es wäre eine Illusion gewesen, zu erwarte, er würde für die Wiener und seine Landsleute ein sanfteres Wort finden. Zu einem der größten Skandale kam es daher, als er den Grillparzerpreis erhielt und nach allen Missverständnissen und Unannehmlichkeiten als Nestbeschmutzer beschuldigt wurde. Mit all dem, was dieser radikale Individualist, aber ebenso auch Autor, der durch die Natur seiner Berufung zur Öffentlichkeit verurteilt ist, befürwortet, kann der Leser einverstanden sein, muss es aber nicht. Bernhard ist ein Erzähler von filigranem und ökonomischem Ausdruck, ein Erist und Nihilist, der zu Paradoxen neigt und am glücklichsten zu sein TIONS scheint, wenn er seinen Handschuh umstülpt, um etwas zu beweisen, was sich der kanonisierten Logik und der gewohnten Ordnung der Dinge widersetzt. Es ist allgemein bekannt, dass sich die Sinne bei Kranken bis zum Äußersten schärfen, wobei Bernhard seine Feinfühligkeit in Richtung äußerlicher und innerlicher Wirklichkeit kanalisiert hat, zu jenem hin, was den Alltag ausmacht, aber auch seinen streng definierten literarischen Habitus. An seinen Prosastücken feilte er pedantisch herum, und ließ an keinem Komma oder diakritischen Zeichen Zweifel aufkommen. Der Roman Wittgensteins Neffe hat weder Kapitel noch abgesonderte Abschnitte. Auf ausdrücklichen Wunsch des Autors wurde er in ununterbrochener Abfolge gedruckt, ohne Abschnitte und typographische Zäsuren, und auf einer dermaßen kargen Visualisierung seiner Texte bestand ja auch Kafka. Alle Götter und Mythen verwerfend, legitimierte sich Bernhard als Autor, der seine Ausschließlichkeit veräußerlichte und verinnerlichte, indem er sie einerseits zum Skandal, andererseits zur stets aufs neue faszinierenden literarischen Vorlage machte. Auf jene, denen Bücher als Dekoration dienen, wird er wie ein Blitz aus heiterem Himmel wirken, bei anderen wird sein Verzicht auf Schlagerrhetorik Effekte eines Schocks, oder aber zutiefst reinigenden Tornados hervorrufen. Sich gegen Krankheit als Degradation auflehnend, zu der der Mensch eigentlich verurteilt ist, lehnte sich Bernhard gegen die Degradation als akzeptiertes und gesellschaftlich bedingtes Verhaltensmodell auf. Er war ein Bote des unreinen Gewissens: mutig genug, das zuzugeben und suggestiv genug, die Leser in der Überzeugung zu lassen, es ginge um ein Abenteuer, in das sie auch selbst ihre Finger gesteckt haben. Aus dem Kroatischen übersetzt von Boris Perić 30.4.2011. 17:53:04 RELA TIONS 133 Kroaten in den Augen eines Ungarn Zdravko Zima I n ehemaligen Zeiten hatte jeder Staat mit kommunistischem Vorzeichen mindestens einen offiziell beglaubigten Zhdanow, der Lektionen erteilte und aus seiner streng zementierten und ideologisch starrköpfigen Perspektive über das geistige Leben urteilte. Einer derartigen, in vielerlei Hinsicht unglorreichen Rolle hatte sich in Ungarn Lukács angenommen, der seine Standpunkte mit der Abbildtheorie in Einklang brachte, wobei einer der Höhepunkte seines vampirhaften Dogmatismus in seinem ungeheuren Lob für Stalins Elaborat über die Sprache fixiert war. Die Beschwörung dieser unglorreichen Episode ist wiederum durch ein Buch veranlasst: als Ferenc Fejtö sein Buch Voyage sentimental herausgegeben hatte, geizte Doktor Lukács nicht mit Einwänden herum und hielt dem Autor Frivolitäten und journalistische Oberflächlichkeit vor. Fejtö hatte dieses Buch vor dem Zweiten Weltkrieg geschrieben und nach so vielen Jahren und so vielen Kriegen wurde es beim Zagreber Verlag „Durieux“ und der Dubrovnik University Press aus Dubrovnik endlich auch in kroatischer Sprache herausgebracht (aus dem Ungarischen übersetzt von Xenia Detoni). Warum ist Voyage sentimental für uns wichtig? Deshalb, weil Fejtö ein Historiker uns Schriftsteller von Weltruf ist und weil er unsere Menschen und Gegenden beletrisiert, wie es der Relation 1_2011.indd 133 stets anregende Matoš sagen würde. Seit 1938 lebt er in Paris, aber als er nach Frankreich fortging, wechselte er nicht nur das Land, sondern auch die Sprache. Letztendlich kam er zum Schluss, er würde sich in der französischen Sprache besser zurechtfinden, als in der Sprache seiner ersten und echten Heimat. Weder als Autor, noch als Privatperson war Fejtö jemals auf Grenzen reduzierbar, und zwar nicht nur auf die staatlichen, sondern auch auf jene anderen, die in den Hirnen krankhafter Lokalpatrioten wuchern. Im 1988 geschriebenen Vorwort zur zweiten Auflage von Voyage sentimental wiederholte er jenen bekannten lyrischen Refrain von der Brust, in der zwei Seelen wohnen. Wenn nicht sogar mehrere! Im ehrwürdig hohen Alter erklärte dieser ungarisch-französische Autor und Reisende in der edelsten Bedeutung dieses Wortes, er habe nie gedacht, der Mensch solle sich auf eine einzige Identität begrenzen. Besonders anregend sind seine vitalen und intellektuellen Transversalen für eine Mitte, in der der Mythos von einem Land, einem Volk, einer Sprache und einem Glauben geradezu beängstigende Hartnäckigkeit aufweist. Voyage sentimental erregt durch den Namen seines Autors Aufmerksamkeit, sowohl aber auch durch die Tatsache, dass es zur Gänze Kroatien gewidmet ist. Der Grundgedanke des Buches entstand in relativ kurzer Zeit, zwischen Anfang Juni und An- fang August 1934, als Fejtö unser Land besucht hatte (vor allem Zagreb, Dubrovnik und Split). Natürlich hatte Fejtö keinen Baedeker für ungarische Müßiggänger schreiben wollen, denn es ist schwer anzunehmen, dass dieser nach 70 Jahren für jemanden von Interesse sein könnte. Aber gerade die Tatsache, dass seine Reisekleinigkeiten heute noch unsere Aufmerksamkeit beanspruchen, dass sie sich ohne Vorbehalt lesen lassen, erscheint als größtmögliches Kompliment und Beweis dafür, dass ihr Autor über die bloße Faktographie und Linearität eines grundlos unterschätzten und diskriminierten Genres hinausgegangen ist. In der Übersetzung dieses nach Sterne betitelten Buches lässt sich zweierlei identifizieren: das Bedürfnis, das Fejtö in unserer Kultur domestiziert wird und das Bedürfnis nach der Spiegelung in den Augen eines anderen. Wie jeder authentische Reiseschriftsteller, fasste Fejtö die Reise als Herausforderung auf, als eine Art Initiation, durch die er, neue Horizonte entdeckend, sein andersartiges und wiedergeborenes Inneres entdecken wird. Er ist kein neuer Fortis, der sich im adriatischen Hinterland Morlacken und Wilde erhoffte, und auch nicht Rebecca West, die im Titel ihres Buches Black Lamb & Grey Falcon (Schwarzes Schaf und grauer Falke), das 1941 und 1942 in zwei Teilen veröffentlicht wurde, balkanische Archetypen fixiert, reduziert 30.4.2011. 17:53:04 134 auf Opfer und Helden, Unschuldige und Ungreifbare, die stets dieselbe Geschichte von Blut und Gewalt wiederholen. Wichtig ist wahrscheinlich auch die Tatsache, dass Fejtö unmittelbar nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde seine kroatische Tournee antrat. Hinter Gittern hatte er beinahe ein Jahr verbracht, weil er die Arbeiterschaft sympathisierte und an der revolutionären Bewegung teilnahm. Die im Gefängnis verbrachte Zeit hatte ihn offensichtlich verändert (Zyniker würden sagen: klüger gemacht), sodass er in einem in Dubrovnik entstandenen Exkurs seiner Reisekleinigkeiten vermerkte, er sei Angehöriger der bürgerlichen Klasse, aber gleichzeitig auch Sozialist. Voyage sentimental ist ein Buch, dem die Zeit nicht genommen hat, was sie von den Menschen nimmt. Sie hat es weder seiner Frische, noch seiner Anregungskraft beraubt und schon gar nicht seiner so evidenten Freude am Reisen und Leidenschaft des Entdeckens, die jeder Pilger in sich trägt, der auf seiner Reise von allem anderen geleitet wird, nur nicht vom Wunsch, eine schulische Reisebeschreibung zu verfassen. Fejtö schreibt über Zagreb, seine Straßen und Menschen, schreibt über Dalmatien und die Dalmatiner, aber genauso auch über seine Familie, ihren ungarischen und kroatischen Zweig, kehrt in die Vergangenheit zurück, zu seiner Kindheit, erinnert sich, retouchiert und vertieft sich in ethische, politische und andere Zweifel, die einen gebildeten und ambitiösen jungen Mann schon plagen können. Schließlich sollte auch nicht außer Acht gelassen werden, dass sich seine Reise ein Jahr nach Hitlers Machtübernahme im Reichstag ereignete. Dass Hitler die Szene betreten hat, wurde trotz des sommerlichen Fluids und des unverbindlichen Reizes der Reise in den verschiedensten Gelegenheiten geahnt. Relation 1_2011.indd 134 RELA Dossier: Zdravko Zima Fejtö ist subtil genug, um niemals zu dozieren und zu moralisieren. Aber, was seine Standpunkte waren, was er dachte, als Hitler Reichskanzler wurde, wird am besten durch eine Episode aus Dubrovnik illustriert. Während eines Motorbootausflugs fand er sich in Gesellschaft einer hochgewachsenen, gutaussehenden Deutschen, die sich, eine Kokarde tragend, ihrer rassischen Zugehörigkeit offensichtlich bewusst war. Während der Fahrt hatte sich ein Delfin dem Boot genähert und die dabei entstandenen Wellen zwangen die junge Arierin, sich zu übergeben. Der ungarische Gast, in jeder Situation fein und distinguiert, bemerkte laut, eine derartige Schwäche sei einer Dame von germanischer Rasse nicht würdig! Gleich am Anfang erklärt Fejtö, er habe sich für Sternes Titel entschieden, denn er wollte dadurch seine ernsthaften Reflexionen mit der Leichtigkeit seines Ausdrucks versöhnen. Gerade darin liegen die grundlegenden Werte dieses Buches. Denn, alles hat den Anschein einer legeren Reise, auf der es sowohl Sentiment, als auch Gelassenheit und erotische Einbildungen in Bezug auf Zagreber Dienstmädchen und Dalmatinische Kellnerinnen gibt, sowohl aber auch delikate Überlegungen über Religion, Ideologie, Freiheit und so fort. Der Autor ist neugierig und gebildet, verhält sich aber nicht wie ein Streber oder Bücherwurm, der über seine Nasenspitze nicht hinaussieht. Seine Worte und Gedanken werden in Dubrovnik plötzlich mit Ausrufezeichen versehen. Mehr noch, von dieser Stadt fasziniert, kommt er beinahe emphatisch zum Schluss, wirkliche Schönheit sei unvergleichbar mehr Wert als alle papiernen Buchstaben. In Dubrovnik hat sein tief verwurzeltes Bedürfnis nach Welt seinen erogenen Punkt gefunden, wie auch seine Wohlerzogenheit und Zivilisiertheit in Zagreb auf ein ebenso entsprechendes Echo gestoßen sind. TIONS Allem Anschein nach waren es die Freundschaft mit Attila József und die Schule des Gefängnisses, die die Laufbahn des jungen Ungarn in größtem Maße kanalisiert haben. Nach den Tagen seiner Haft hatte er sich gewissermaßen zurückgezogen. Das bedeutet aber noch immer nicht, er habe kapituliert oder aufgegeben. Er war reifer geworden, durchdachter, bewusst, er sei, eher als für revolutionäre Aktionen, dazu geschaffen, Schriftsteller zu werden. Während er es sich in Dubrovnik gut gehen ließ, stellte er an einer Stelle wortwörtlich fest: „Es gilt, Leben und Glauben zu bewahren, man darf sie aber nicht allzu krampfhaft festhalten, weil sie einem gerade dann sehr leicht verloren gehen.“ Oder, einige Zeilen weiter, eine Seefahrerparabel: „Jetzt begreife ich schon langsam, die Kunst verbirgt sich darin, dass der Mensch seine Schiffsreise erledigt, ohne dabei Schiffbruch zu erleiden.“ Fejtös Familie war nach österreichisch-ungarischem Modell, bzw. jedem anderen, das Grenzen, außer jener des Geldes und anderer objektiver Umstände, außer Acht lässt, über die ganze Welt verstreut. Seine Mutter hatte das Konservatorium abgeschlossen, gab Klavierunterricht und assistierte im Modesalon der Großmutter. Sie heiratete einen draufgängerischen Rechnungsrat, der sie an sich riss, wie ein Jäger seine Beute. Sie lebten in Budapest, wie zwei Gefangene, die nicht viel gemeinsam hatten. Nach ihrer Scheidung ging seine Mutter nach Zagreb, wo sie ihr erstes Kind, Ferenc’ Schwester Nada, zur Welt brachte. Eine kurze Zeit lebte seine Mutter auch in Rijeka. Sie starb, als Ferenc noch in seinen Jugendjahren war (er wurde 1909 in Nagykanizsa geboren) und wurde auf dem Zagreber Friedhof Mirogoj bestattet. Seine Schwester Nada verbrachte ihr imposantes Leben in Zagreb, sein Neffe Ljerko, Violinist, gelangte nach 30.4.2011. 17:53:04 RELA TIONS Buenos Aires, sein anderer Neffe Mirko, Pianist und Dirigent, starb als Leiter der Musikakademie in Sarajewo, wobei vor allem die Tatsache, dass er ein „Marschlied der Partisanen Titos „ komponiert hatte, kurios klingen mag. Die Geschichte von Fejtö und seiner sich nach allen Seiten verzweigenden Familie ist wie die Geschichte der Buddenbrooks, und sollte für einen großen Roman reichen. Sein jüngerer Bruder lebte in Sombor, Tante Toni machte ihn auf Fehler beim Binden seiner Krawatte aufmerksam, seine andere Tange, Jenny („das Familienungeheuer“) sah mit einem Auge auf den Gast, mit dem anderen, jedoch, nach den Krümeln, die auf den Teppich fielen, Otto war sein Lieblingsonkel, obwohl sie jahrelang auf Kriegsfuß standen. Von nationalen Inhibitionen geleitet, suchte Otto zu beweisen, alle Ungarn sein Schufte, während der junge Ferenc ihm boshaft erwiderte, auch der größte kroatische Held, Nikola Šubić Zrinski, sei eigentlich ein Ungar namens Zríny Miklós gewesen. In diese Galerie pittoresker und schon beinahe theatralischer Gestalten passt auch die Bedienerin Barica, deren behaarte und schmutzige Beine den jungen Ferenc trotzdem oft seiner nächtlichen Ruhe beraubt hatten. Eine besondere Analyse würde Fejtös Agramophilie erfordern, die mit kaum zu vergleichen ist mit jenem, was sonst über unsere Hauptstadt geschrieben wurde, vor allem nicht mit der Skepsis, die aus Matošs und noch mehr Krležas Prosa hervorgeht. Diese Art Entzückung ist zum großen Teil durch Fejtös Biographie bedingt, die Tatsache, dass er sowohl hier, als auch dort lebte, mit einem Bein in Ungarn, mit dem anderen in Kroatien, beziehungsweise, wie er selbst bezeugt: „Dort (in Ungarn, Anm. Z.Z.) war ich in der Fremde, als habe man sich von mir losgesagt, ich hatte keine Mutter, es war kalt, Relation 1_2011.indd 135 Kritiken und du warst mir alles, Großvater, Großmutter, Feigen, Spiel und Sommer. Dort war für mich wirklich ein ‚Hundsort‘, bestehend, wie der Name schon sagt, aus grauen Häusern und Menschen, von denen es einigen gelang, mir näher zu kommen. Ach, sogar die Luft war dort anders, feucht, morastig, verpestet von Bakterien, an denen laut Überlieferung auch der weise Kaiser Marcus Aurelius gestorben ist.“ Obwohl Kroatien ein anderes Land ist, fühlt Fejtö sich hier zu Hause, sodass es nicht wunder sollte, dass er Zagreb zu seiner Geburtstadt erklärt. Gundulićeva-Straße 49 lautet die unvergessliche Adresse, an der einst seine Großeltern gewohnt hatten, während Jelačićs gezogener Säbel, drohend gen Ungarn gerichtet, keine negative Energie in ihm wachrief. Vielmehr spürte dieser ungarische Kroate in der Breite des Jelačić-Platzes und den Düften seines Fischmarkts einen Hauch des Meeres, ähnlich wie Mihalić, der in einem Gedicht, als er durch den Zrinjevac-Park spazierte, plötzlich zu glauben begann, er sei an der Küste. Zagreb ist eigentlich ein mythischer Ort, so wie Mekka für die Moslems, oder Jerusalem für die Juden. So bestätigt Fejtö jene alte Redensart, das Leben sei stets irgendwo anders! Thomas Bernhard, ein großer Autor und genauso großer Zyniker, behauptete, Wien würde ihn langweilen, sodass er von Zeit zu Zeit in andere europäische Metropolen reiste. Er reiste zum Beispiel nach Paris oder Rom, als er aber dort ankam, waren sie genauso langweilig wie Wien. Am besten fühlte er sich auf Reisen, als er sich zwischen den Endstationen befand, weder hier noch da, in jenem zauberhaften Intermezzo, in dem nichts mehr existiert, außer Fantasie und Erwartung. Obwohl es in Fejtös Agramophilie keine Spur von Verblendung gibt, ist dies in großem Maße durch sei- 135 ne vervielfältigte Biographie konditioniert, die Position eines Menschen, der in Zagreb wählen konnte, ob er Fremder oder Einheimischer sein wolle, oder aber beides zugleich. Natürlich hatte Fejtö die Redaktionen von „Novosti“; „Hrvatska revija“ oder „Književnik“ besucht, hatte sich über Maček informiert und war dem kroatischen Nationalismus auf den Grund gegangen. An einer Stelle bezeichnete er die Kroaten als die Iren Mitteleuropas, an einer anderen kam er zu Schluss, es handle sich um ein Volk, das alles äußerst ernst nimmt. Aber Fejtö war nicht nur ein sentimentaler Reisender und rationeller Forscher. Als echter Hedonist, vergaß er nicht, zu bemerkten, eine gute Küche würde die zwischenmenschlichen Beziehungen fördern, sodass er seine Vorliebe für Kuchen nicht verbarg, während ein guter Schweinebraten die allergrößte Entzückung in ihm wachrufen konnte, sodass er für ihn auch eine Art Hymne gedichtet hatte. Über Krleža hatte er festgestellt, was wir auch selbst wussten, es aber nicht konstatieren wollten oder durften. Ein Redakteur bei „Zagrebačke novosti“ hatte ihm gesagt, Krleža sei unser Remarque, er sei unmöglich in persönlichen Kontakten und würde die kroatische Literatur als seinen schlimmsten Feind behandeln. Nachdem er ihn besucht hatte, schrieb Fejtö vom boshaften Blitzen in seinen Augen, seiner Heftigkeit und seinem Temperament, von der Verachtung, die er seinem Schicksal gegenüber und der Mitte, aus der er entstammte, empfand, obwohl er keinen Augenblick lang daran zweifelte, einen literarischen Riesen vor sich zu haben. Im großen kroatischen Donnergott identifizierte Fejtö eine aufgeblasene und unsichere Figur, in deren Gesellschaft er sich trotz allem nicht angenehm fühlte. Nach Zagreb führte sein Itinerar ihn dem Meer zu. Aus Rijeka fuhr er mit dem Schiff „Ljubljana“ zuerst auf die Insel Rab, 30.4.2011. 17:53:04 136 RELA Dossier: Zdravko Zima schen Grippe dahingerafft wurden, baute Meštrović auf Wunsch der Familie das Mausoleum, das heute noch als Blüte auf jenem wunderschönen Friedhof von Cavtat steht. Die Tatsache, dass diese Geschichte dem Autor nicht bekannt war, vermindert keinesfalls den Wert seiner in vielerlei Hinsicht einzigartigen Prosa. Fejtö opferte Cavtat wegen eines Besuchs beim Künstler P.D., der in Mlini lebte. Hinter diesen Initialen verbirgt sich allem Anschein nach Petar Dobrović, mit dem sich Fejtö über Revolution und Weltordnung unterhielt. Interessanterweise wird in keiner Replik Pécs erwähnt: nicht nur wegen Fejtös ungarischer Indignität, sondern, weil Dobrović in Pécs, der Stadt, in der Krleža das Militärgymnasium absolviert hatte, geboren wurde. Aber Dobrović war dermaßen von Politik und seiner anti-magayaro- nistischen Einstellung besessen, dass er solche Kleinigkeiten gar nicht beachtete. Schließlich landete Fejtö in Split, wo er eine 14stündige, beschwerliche Zugfahrt nach Zagreb antrat. Die Stadt des Diokletian verließ dieser Ungar mit kroatischen Biorhythmus voller Emotionen, mit denen er seiner eigenen Behauptung zufolge eines Tages diese Welt verlassen werde. Solche zugleich einfachen und weisen Sätze sind nur Seltenen zueigen. So spät es auch sein mag, so pathetisch und anachronistisch das auch klingen mag, nach so vielen Jahren können wir Fejtö nur dankbar sein, dass er ein derart fantastisches und tief dokumentiertes Buch geschrieben hat. Aus dem Kroatischen übersetzt von Boris Perić Foto: © Višnja Arambašić dann nach Korčula, wo er nebenbei mit einer Tschechin namens Helene flirtete, in Split konnte er kurz Meštrovićs Grgur-Ninski-Denkmal bewundern, dann kam er nach Dubrovnik, Mlini, Kotor, Cetinje, dann abermals nach Dubrovnik, Korčula und Split, wo seine adriatische Route endete. Nebenbei erklärt Fejtö, er habe es nicht geschafft, nach Cavtat zu kommen, wo er ein Mausoleum besuchen wollte, das Meštrović für einen Bauern erbaut hatte. Es ist schwer zu glauben, ein Bauer hätte Geld genug für ein derart grandioses Bauwerk. Meštrović hatte dieses Monument für die Familie Račić gebaut, deren Tochter den Gründer des Jugoslawischen Lloyd und Freund von Frano Supilo, Božo Banac, geheiratet hatte. Nachdem Kapitän Ivo Račić, seine Kinder Marija und Edi, sowie seine italienische Verlobte von der Spani- TIONS Relation 1_2011.indd 136 30.4.2011. 17:53:04 RELA TIONS 137 Jeder ist seine eigene Insel Zdravko Zima E s ist gar nicht so lange her, seit die letzte Meldung über die Struktur des Bruttosozialprodukts in unserem Land publiziert wurde. Es hat sich gezeigt, dass sich unter allen Gespanschaften Zagreb an erster Stelle befindet. Und nicht nur das: Zagrebs Bruttosozialprodukt pro Einwohner ist dreimal höher als der kroatische Durchschnitt, bzw. sechs Mal höher, wenn der Rest des Landes ohne Hauptstadt gemessen wird. Was folgt daraus? Wären alle Gespanschaften auf der Ebene der Hauptstadt, wäre Kroatien, an seiner ökonomischen Effizienz gemessen, auf demselben Stand wie Spanien oder Greichenland, was allem Anschein nach mehr als nur Hirngespinste sind. Vielleicht ist dies eine etwas ungewöhnliche Einleitung in die Besprechung eines Buches, aber die zitierten Indikatoren ökonomischer Größen können als Wegweiser für jene längst trassierten Animositäten zwischen dem Norden und dem Süden, oder, besser gesagt, zwischen dem kontinentalen Teil unseres Landes und dessen Küste dienen. Natürlich hat die Geschichte von wohlhabenden Zagreb und seinem armen oder vernachlässigten Umfeld auch eine andere Seite, aber das ist nicht der Sinn dieses Artikels. Die ökonomische Übermacht der Hauptstadt setzt genauso seine geistige und kulturelle (Über)Macht voraus, sodass Zagreb für Kroatien dasselbe ist, wie Paris für Frankreich, na- Relation 1_2011.indd 137 türlich, nur in jenem Maße, in dem solche Vergleiche überhaupt möglich sind. Blicken wir einige Jahrzehnte zurück, sehen wir, dass viele Schriftsteller, seit der Generation der Zeitschriften „Krugovi“ und „Razlog“ bis hin zu den Borgesianern, aber auch den jüngeren und jüngsten Autoren, aus litoralen und insularen Gegenden stammen und nach Zagreb gekommen sind, um dort ihr literarisches Talent zu entfalten und zu definieren. Ich erwähne das deshalb, weil Renato Baretić einen anderen Kreis gezogen hat und weil es wahrscheinlich keinen Kritiker gibt, der die Tatsache nicht kommentiert hätte, dass sich dieser geborene Zagreber vor rund zehn Jahren in Split niedergelassen hat. Und während alle der Hauptstadt zustreben, was nicht nur hierzulande zu den nationalen Besonderheiten zählt, opferte Baretić die Vor- und Nachteile der Metropole zugunsten provinzialer Pros und Kontras und verwandelte sich in einen für alle Himmelsrichtungen offenen Spliter mit Zagreber Dialekt. Baretić wurde 1963 in Zagreb geboren, in Zagreb studierte er Phonetik und komparative Literaturwissenschaft, und seit 1983 ist er in allen möglichen Zeitungen und Zeitschriften anwesend. Bekannt wurde er zunächst als Fernsehkolumnist, Koautor der Serie „Neue Zeit“ und Zusammensteller von Fragen für Quizsendungen wie „Wer wird Millionär“ und ähnliche. Er schreibt auch Ge- dichte, seinen Lyrikband „Worte aus der Tasche“ veröffentlichte er 1998 bei Feral Tribune in Split, und jetzt stellt er seinen Debütroman Der achte Beauftragte (Redakteur: Kruno Lokotar, AGM, Zagreb, 2003) vor. Aufgrund zahlreicher Eigenschaften, sprachlichen Amalgamierens, des Gespürs für Dialoge, des beletrisierten Themas und so weiter, ist Der achte Beauftragte ein willkommenes Novum in der rezenten literarischen Produktion. Aber der Gegensatz Nord-Süd, wobei der Norden stets reicher und glänzender, der Süden dagegen ärmer und erniedrigter ist, ist weder in der Literatur noch im Alltag neu. Dass dem so ist, ist zumindest implizit aus den am Anfang zitierten Zahlen ersichtlich. Josip Kozarac, ansonsten diplomierter Agronom, veröffentlichte Ende des 19. Jahrhunderts sein Buch Die toten Kapitale, einen sogenannten Thesenroman, der das Land idealisiert und direkt für die Wiederbelebung der slawonischen Agrarflächen plädiert, aber auch für die moralische Restitution der dortigen Einwohner. Die kroatische Literatur ist in hohem Maße von der Unterscheidung StadtLand bestimmt, bzw. von jenem, was deren universelle und einheimischen oder streng heimatlichen Prämissen ausmacht. Auch heute ist sie genauso zerrissen zwischen jenen, die meinen, Kroatien müsse sich so rasch wie möglich in Europa integrieren, und jenen, die den Wohlstand im 30.4.2011. 17:53:04 138 hartnäckigen Beharren auf vernakularen Werten und nationalen Besonderheiten sehen. In dieser Hinsicht hat Baretić sein Ziel getroffen, viel wichtiger aber ist, dass er im Romancieren seiner Idee einen klaren und gut projizierten Weg einschlug. Mit den Worten eines Bergsteigers könnte man vielleicht behaupten, er habe einen Weg gewählt, der, wie jedes richtige Abenteuer, Ungewissheit in sich trug, auf dem sich aber nach jeder Etappe neue Horizonte und Lichtungen auftaten. Der Roman Der achte Beauftragte beginnt als politische Geschichte, geschürt durch die Gerüche, die alltäglich den Küchen des Parlaments und anderer Institutionen entfliehen, verwandelt sich aber schon bald in etwas anderes. Im Mittelpunkt des Geschehens steht Siniša Mesnjak, Vertrauensperson des Premierministers und Politiker am Beginn einer steilen Karriere, der eines Nachts in betrunkenem Zustand mit einer anonymen, aus Weißrussland importierten Blondine ertappt wurde. Es kam zum Eklat, sensationshungrige Journalisten setzten die Öffentlichkeit über alle Einzelheiten in Kenntnis und der Held des Romans wurde kurzerhand als Regierungsbeauftragter auf die Insel Trečić1 torpediert. Hier hätten die Laudatoren des neuen Kroatiens schon Grund genug, sich die Hände zu reiben. Denn, während in ehemaligen Regimes gefallene Politiker auf Goli otok landeten, um Steine zu klopfen und Salz ins Meer zu streuen, erhielt Siniša Mesnjak die Gelegenheit, in einer anderen Umgebung für Ordnung zu sorgen. Aber, auch auf der Insel Trečić (deren Namen nicht zufällig gewählt wurde) herrschen keine harmonischen Zustände, vor allem nicht solche, wie sie in idealisierten Visionen insularer Utopien meist vorausgesetzt werden. Am wenigsten rosig gestalten sich die Verhältnisse für den jungen Politiker, 1 RELA Dossier: Zdravko Zima der sich auf Trečić wie ein Fisch auf dem Trockenen fühlt und dem die Aufgabe zuteil wurde, längst festzementierte, durch Genetik, lokales Brauchtum und langwierige Zweifel fixierte Mentalitäten aufzuweichen. Die Insel Trečić ist eine gottverlassene Gegend, in der Siniša eintraf, um dort mindestens zwei Parteien zu gründen, Lokalwahlen zu organisieren und dadurch die legitime Regierungsgewalt der Republik Kroatien zu etablieren. Die Aufgabe scheint einfach und klar wie Kloßbrühe, doch zieht man in Betracht, dass Verschlossenheit und Reserviertheit zu jenen Eigenschaften gehören, ohne die man sich Inselbewohner schwer vorstellen kann, wird ersichtlich, dass es eine harte Nuss ist, an der Siniša sich festgebissen hat. Die Lage ist umso schlimmer, da vor ihm bereits sieben Beauftragte versucht hatten, die Insel in den Griff zu bekommen. Von äußerlichen Indizien ausgehend, assoziiert der Anfangsteil des Romans zahlreiche Affären, die unsere Hauptstadt heimgesucht hatten: von jener, als der verstorbene Präsident Tuđman mit den Schicksalen nominierter Bürgermeister gespielt und sie dabei umgestoßen hatte, wie fünf schwankende Kegel, bis zum Zirkus mit dem ehemaligen Bürgermeister, der in alkoholisiertem Zustand Fahrerflucht beging. Für einen Romanschriftsteller ist am wenigsten wichtig, wie sehr er sich an ein wirkliches Ereignis hält oder nicht hält. Alles, was wesentlich ist, ereignet sich ohnehin auf der Insel, und diese ist weit und verrückt genug, dass wir alles, was in Baretićs Fantasie passiert so gut wie restlos akzeptieren können. Es irren sich aber jene, die meinen, Trečić sei bloß das Substitut für eine Insel mit all ihren Eigenschaften, unter denen sich das Gefühl der Abgesondertheit und Verdummung an erster Stelle befinden. Trečić ist in letzter Konsequenz TIONS ein Substitut für Kroatien, ein Land, in dem jede Region einen eigenen Erdteil bildet, in dem jede Enklave stillschweigend über eigene Regeln, besondere Gewohnheiten und exklusive Bräuche verfügt, von denen man nur selten oder niemals ablässt. Siniša war nach Trečić gekommen um so etwas wie eine Lokalregierung zu etablieren, die Einwohner haben sich ihm aber widersetzt und zwar auf eine Weise, die er weder akzeptieren, noch verstehen konnte. Und schließlich, wenn er sie einmal verstehen wird, ist er eigentlich gekauft, in gewisser Hinsicht domestiziert und ihren Auffassungen unterworfen. Siniša machte einen Schritt auf die Einwohner von Trečić zu, diese aber auch in seiner Richtung. Und so kam es am Ende zum Gleichgewicht: nicht als fauler Kompromiss, sondern als Lebensmodell, in dem man gewinnt und verliert, etwas opfert, aber dafür auch etwas empfängt. Aber bis zu diesem Zeitpunkt, bis er auf Trečić nicht einigermaßen heimisch geworden war (was nicht bedeuten soll, er wollte dort auch bleiben), ging der Held durch waghalsige, manchmal unglaubliche, manchmal groteske, manchmal sogar traurig-komische Episoden hindurch. Sein Gefühl für die Insel und deren Schicksale verkörperte Baretić in größtem Maße in der Figur des Tonino, Sinišas lokalem Cicerone und Dolmetscher, der sich aus seinem Sekundanten und Helfer zu seinem besten Freund entwickelt. Die Insel ist eine Welt in Miniatur, ein geheiligter, aber genauso auch diabolischer Ort, überzogen von unlösbaren Rätseln. Dass dem so ist, bestätigt Novaks Die verlorene Heimat, ein klassischer Ableger kroatischer pastoraler Prosa (in dem die Opposition zwischen Festland und Insel ebenfalls errichtet worden ist). Bis zum Äußersten wurde die Idee der Beispielhaftigkeit der Insel in Zoran Erfundener Name. Relation 1_2011.indd 138 30.4.2011. 17:53:04 RELA TIONS Ferićs antipastoralem Roman Der Tod des Mädchens mit den Schwefelhölzern verschärft. In Baretićs Roman manifestiert sich die Besonderheit der Insel und ihrer Bewohner in der Unfähigkeit der sieben Beauftragten, eine derart banale Aktion, wie Lokalwahlen es sind, durchzusetzen. Das Problem liegt nicht nur in der Mundart, einer sonderbaren, manchmal scheußlichen, manchmal aber auch charmanten Mischung aus čakawischem Dialekt, mit spärlich eingestreutem Italienisch und Englisch in der australischen Subvariante dortiger, der Schrift und Sprache nur vermindert fähiger Emigranten. Das Problem liegt ebenso im Geist der Insulaner, die nur vom Meer umgeben lebten, die den größten Teil ihres Lebens in Australien schufteten, und allem, was sich aus Zagreb bot, im Vorhinein die Hörner zeigten. Bis der Held das nicht begriffen hat, passieren verschiedenste Missverständnisse, verrückte und fantastische, fröhliche und morbide, am Ende kommt es jedoch zur Inversion, zumindest insofern, dass auch Siniša zu glauben beginnt, weder die Metropole sei ein unablösbares Ideal, noch sei die Insel eine Baumschule für Narren und endemische Idioten. Aber, warum endeten die Aufträge so vieler staatlicher Beauftragter in einem Fiasko? Weil so gut wie alle Insulaner ihre Arbeitsjahre in Australien verbracht haben, woher sie erst im Altern nach Trečić zurückgekehrt waren, um dort von ihren Renten und Bonino Smerdelićs Donationen zu leben, der in Australien reich geworden war und seine Geburtsinsel in eine Art Bußeexpositur verwandelt hatte. Aber, dass Trečić die Welt im Kleinen ist, eine Insel an sich und ein Staat per se, daran braucht nicht gezweifelt zu werden. So, wie es in einem berühmten Werk der europäischen utopischen Literatur, in Campanellas Sonnenstaat (Civitas Solis), Gesetze gab, denen zufolge alles der Gemeinschaft Relation 1_2011.indd 139 Kritiken gehörte, sowohl die Häuser, als auch die Frauen und Kinder, hielten sich auch die Bewohner von Trečić ausnahmslos an Boninos transkontinentale Botschaften. Bonino war ihr Tito, ein Kapitalist mit sozialem Instinkt, ein Mann, der die italienische Maffia engagierte, die Insel regelmäßig mit Lebensmitteln und anderen wichtigen Dingen zu versorgen. Obwohl er am anderen Ende des Planeten lebte, hatte Bonino entscheidenden Einfluss auf alles, was sich auf der Insel ereignete, und so war es auch verständlich, dass die Bewohner von Trečić kein besonderes Interesse an einer neuen Regierungsgewalt hatten. Trečić ist eigentlich ein Bild von Gegensätzen; auf allen Häusern stehen solare Inverter, aber die Insel ist außer Reichweite aller mobiler Netze, in den Häusern gibt es kein Wasser, aber dafür trinken alle australisches Foster’s Bier. Barzi und sein Bruder unterhalten sich seit einem halben Jahrhundert nicht mehr, obwohl sie einander täglich sehen und so weiter. All das hat Baretić genial mit der fatalen Story von Tonkica und Bonino garniert, mit morbiden Exekutionen junger Lämmer, Muona, einer Aborigine-Frau, die wie eine schwarze Katze am Wegrand auftaucht, und einem verrückten, aus der Lika stammenden Leuchtturmwärter, der Mathematikprofessor ist, mit Mönchsrobben kommuniziert, Pupačićs maritime Lyrik vorträgt und an den Zimmerwänden seine unverständlichen Gleichungen niederschreibt. Ein zusätzliches Aroma erhält der Roman durch ein bosnisches Tandem, mit dem Beigeschmack von Schwarzhandel und Pornographie, sowie einen unerwarteten Liebesexkurs, der durch Boninos ebenso unerwarteten Tod enden wird. Als die Gefahr drohte, der Roman könnte ins tote Meer des Pathos absacken, bediente sich Baretić eines drastischen Schnitts und definierte eine Geschichte, in der, wie auch in der Wirklichkeit, das Reale das Fantasti- 139 sche ablöst, während die Freude vor der Trauer oder unermesslicher Verbitterung zurückweicht. Dass Kroatien, trotz seiner Winzigkeit, ein Land voller Besonderheiten ist, bezeugt die Tatsache, dass auf einem relativ geringen Raum nicht nur Flora und Fauna wechseln, sondern auch die Verhaltensregeln, ja sogar die (un)geschriebenen Gesetze. Wie richtig das ist, ist am Geschick von Barteićs Helden ablesbar, der im eigenen Vaterland einen Dolmetscher benötigte, um Missverständnisse überbrücken zu können, die nicht nur sprachlicher Natur waren. Baretić hat einen Roman geschrieben, der sich in der politischen Tonart eröffnet, ins Pastorale und Antipastorale übergeht, um am Ende genügend Manövrierraum für verschiedene Schlüsse und Interpretationen übrig zu lassen. Geistiger Reichtum, lebendige Dialoge und die sprachliche Bilderrätselhaftigkeit sind besondere Werte von Der achte Beauftragte, in dem es weder an erschreckenden Ahnungen, noch an Sentimentalisierungen fehlt, der aber zu keinem Zeitpunkt in Kitsch übergeht. Baretić ist gewiss nicht der erste von Kontinent stammende Autor, der eine Insel tiefgreifend Fotografiert hat, er ist aber einer der seltenen, die ihr eine Rhapsodie in Prosa geschenkt haben und dabei gleichzeitig tendenziell und modern, sensibel und intelligibel waren. Auch Baretić ist eine Insel im neuen Archipel der kroatischen Literatur des dritten Millenniums, mit der durchaus zu rechnen ist. Hätte sich eine Vertreterin des sanfteren Geschlechts diesen Roman ausgedacht, würde dieser sich, glaube ich, längst an der Spitze der Bestsellerlisten befinden. So wird sein Autor noch lange Zeit beweisen müssen, dass ihm sein ausgezeichnetes Erstlingswerk nicht zufällig passiert ist. Aus dem Kroatischen übersetzt von Boris Perić 30.4.2011. 17:53:04 RELA 140 TIONS Der große Schamane und der kleine Staubwischer Zdravko Zima S etzen wir Welt mit Buch gleich und Buch mit Offenbarung oder Bekanntmachung, dann befindet sich das Lesen im Fundament jeder menschlichen Tat. Die Welt, als Liber Mundi verstanden, ist kein Einfall, der nur Kabinettsmotten vorbehalten bleiben sollte; denn das Buch ist die Einverlebung des göttlichen Geheimnisses und im Neuen Testament wird es mit dem Lebensbaum identifiziert. Noch Luther hatte geglaubt, die Rettung jedes Einzelnen hänge von seiner Fähigkeit ab, das Wort Gottes zu lesen und zu verstehen, und wie wichtig das Lesen ist, signalisieren repressive Regime, die zusehen, dass ihre Untertanen in seliger Unwissenheit leben. Deshalb hatte Caligula die Verbrennung von Homers und Vergils Büchern angeordnet, deshalb konnten die Plantagenbesitzer in den USA jeden Sklaven erhängen lassen, der die Frechheit besaß, Buchstaben zu lernen, deshalb ließ Hitler Millionen von Büchern verbrennen, die in Kollision mit jenem waren, was seine rassistische Doktrin bot. Wie wichtig das Lesen ist, davon zeugt die Tatsache, dass die Verwüstung der Bibliothek von Alexandria, die erst zu Beginn des dritten Millenniums restauriert wurde, seinerzeit als Ende der Welt aufgefasst wurde. J. L. Borges, einer der größten Erzähler der Neuzeit, meinte, er sei eher Relation 1_2011.indd 140 Leser als Autor. Die Bücherregale in seinem Schlafzimmer enthielten Lyrikbände und eine der größten Sammlungen angelsächsischer und isländischer Literatur in Lateinamerika. Wörterbücher und Enzyklopädien häufte und durchblätterte er mit kaum vorstellbarer Leidenschaft, in einer besonderen Vitrine befanden sich Gedichte Enrique Banchs, Heinrich Heines, des Heiligen Johannes vom Kreuz und eine Vielzahl von Kommentaren über Dante. Im Schlafzimmer seiner Mutter, Frau Leonora, war die argentinische Literatur untergebracht, die die Familie mit sich nach Europa nahm, als sie es kurz vor dem Ersten Weltkrieg bereiste. Es ist interessant, dass in seiner Wohnung in Buenos Aires laut glaubwürdigen Zeugen keines seiner eigenen Bücher stand. Borges’ Ideal war ein Buch, das andere Bücher in sich subsumieren würde, alles, was jemals aufgeschrieben worden ist und alles, was in Zukunft geschrieben werden wird, er las ziellos, labte sich aus den verschiedensten Krügen, wie ein unersättlicher Trinker, suchte im Lesen Genuss und identifizierte die Wirklichkeit mit dem Buch. Welche Wichtigkeit er den Büchern zuschriebt, enthüllt uns die Tatsache, dass er von seinen literarischen Kollegen nicht als Freund, sondern als Leser sprach. Auch oberflächliche Ken- ner von Borges’ Werken berufen sich heute auf seine Behauptung: „Ich, der ich so viele Menschen war.“ Diese ist wichtig, weil sie die manieristische Natur seines Werks suggeriert und die Zeit verneint, ankündigend, dass sich der Sinn der menschlichen Existenz stets aufs neue im Labyrinth pedantisch angereihter Bücher verbirgt: Dort, wo laut Überlieferung der gefährliche Minotaurus lauert! Durch seine dialektische Auffassung von Literatur bewies der argentinische Schamane, dass der Leser derjenige ist, der den Stromkreis schließt, denn Literatur ist (ohne Konsumenten) tatsächlich nur ein toter Buchstabe auf dem Papier. Wenn es genauso viele Lesarten wie Leser gibt, könnte man letztendlich zum Schluss kommen, es gäbe genauso viele Borges’ wie jene, die seine Gedichte, Erzählungen und Essays in die Hand genommen haben. Borges wurde noch zu Lebzeiten zur Legende erhoben, den Nobelpreis erhielt er nie, wegen seines Konservativismus, der mit politischer Rückständigkeit so ganz und gar nichts zu tun hatte, und die Amerikaner waren die ersten, die begannen, ihn zu bewundern. 1961 kam er an die Universität von Austin, Texas, in Begleitung seiner Mutter. Es war sein erster Besuch in den Vereinigten Staaten. Dort blieb er sechs Monate lang und besuchte 30.4.2011. 17:53:04 RELA TIONS New Mexico, San Francisco, New York, New England und Washington. Ein gutes Echo hatte Borges auch in der kroatischen Literatur. Es ist einigermaßen paradox, dass sich die Autoren mit manieristischem Prädikat und fantastischer Legitimation etabliert hatten, bevor er in unserer Mitte formal konsekriert worden war; das wichtigste Dokument darüber hinterließ Branimir Donat in seinem Aufsatz Ein Astrolabium für die kroatischen Borgesianer. Der argentinische Erzähler und Übersetzer Alberto Manguel (geboren 1948 in Buenos Aires) hatte das Glück, Borges aus privilegierter Nähe kennen zu lernen. Obwohl in Argentinien geboren, lebte er in Italien, Frankreich, England und auf Tahiti. Seit 1988 lebt er in Toronto und besitzt einen kanadischen Reisepass. Es ist schwer zu sagen, in welchem Maße sein Schicksal, in dem sich Bildung und Enthusiasmus vereint haben, von seiner genetischen Neigung zum Lesen trassiert wurde, und wie viel diesem Umstand die Tatsache beigetragen hat, dass sein Vater Diplomat war und das er in frühen Jahren Borges kennen gelernt hatte. Manguels Bibliographie enthält die monumentale Geschichte des Lesens, Das Wörterbuch imaginärer Orte (geschrieben im Tandem mit Gianni Guadalupi), sowie die Romane Nachrichten aus einem fremden Land und Stevenson unter Palmen. Außerdem schreibt er Theatertexte und gibt Anthologien heraus. Einen besonderen Teil seiner Bibliographie machen seine übersetzerischen Arbeiten aus. Denn dieser Argentinier übersetzt aus dem Französischen ins Englische, aus dem Französischen ins Spanische, aus dem Deutschen ins Englische, aus dem Italienischen ins Englische, aus dem Spanischen ins Englische und aus dem Englischen ins Spanische. Er unterrichtete an verschiedenen Instituten und Universitäten, in Calgary, Urbin, Venedig, arbeitete als Relation 1_2011.indd 141 Kritiken Lektor, Literaturkritiker, Redakteur und Konsulent, und all das zu erwähnen war nötig, um einen Autor vorzustellen, der qualifiziert genug war, selbst Zeugnis über Borges abzulegen. Zwischen seinem sechszehnten und zwanzigsten Lebensjahr verbrachte Manguel viel Zeit in Gesellschaft des blinden Schriftstellers, las ihm Bücher vor und lauschte seinen faszinierenden Kommentaren. Davon zeugt auch die bereits apostrophierte Geschichte des Lesens, die vom Geist seines großen Mentors geleitet und in großem Maße inspiriert wurde. 2004 veröffentlichte er das Buch With Borges, das prompt auch in unserer Mitte gedruckt und vom Zagreber Prometej-Verlag veröffentlicht wurde (Redaktion: Neda Rudež, Übersetzung: Neda Rudež, Ante A. Ujević). In diesem Büchlein, für das der Diminutiv nicht Beleidigung, sondern Feststellung und Kompliment ist, versetzte sich Manguel in die Rolle des folgsamen Souffleurs, jenes, der Erinnerungen an Erinnerungen registriert, sich der Tatsache voll bewusst, dass sogar Krümel von Borges’ Tisch mit dem üppigsten Mahl zu vergleichen sind. In Eine Geschichte des Lesens erklärte Manguel auf verschiedene Arten seine Leidenschaft für die Literatur. Als er sechszehn Jahre alt war, betrat er das „Pygmalion“, eine der drei anglo-deutschen Buchhandlungen in Buenos Aires. Die Eigentümerin, Lily Lebach, eine deutsche Jüdin, die vor den Nazis aus Europa geflohen war, beauftragte ihren Zögling mit dem Entstauben der Bücher. Manguel gibt zu, hier und da mal ein Buch, das ihn anzog, gestohlen zu haben, und kommt zum Schluss, Fräulein Lebach habe darum gewusst und seine Vorgangsweise toleriert, solange sie der Meinung war, er habe eine gesellschaftlich akzeptable Grenze nicht überschritten. Eines Tages betrat Borges höchstpersönlich die Buchhandlung, gefolgt 141 von seiner damals beinahe neunzigjährigen Mutter. Obwohl er blind war, lehnte er den Blindenstab ab und strich mit den Fingern über die Rücken der Bücher, als würde er durch bloße Berührung die Titel erkennen können. Frau Leonora riet ihrem Sohn, statt des Englischen doch lieber Latein und Griechisch zu studieren, und als sie das „Pygmalion“ verließen, bot der große Borges dem kleinen Staubwischer an, ihm in seiner Freizeit als Vorleser zu assistieren. So begann ein unalltägliches Beisammensein, das vier Jahre lang dauerte, und viele Jahre später im erwähnten Büchlein rekapituliert und dokumentiert wurde. Manguels Zeugnis beginnt mit der Beschreibung der Wohnung in der Florida-Straße 994, wo der argentinische Literaturpapst mit seiner Mutter jahrelang wohnte. Der Autor merkt mit recht an, Borges sei einer der größten Autoren, aber auch der größten Leser der Welt gewesen. Besonders intrigant ist diese Tatsache ist in Anbetracht der Blindheit, die Homer, Milton und James Thunder getroffen hatte, von Borges aber gewissermaßen erwartet wurde. Seine Urgroßvater und seine Großmutter starben blind, sein Vater erblindete gegen Ende seines Lebens als Folge der Hemiplegie, an der er litt. Borges war von Büchern und Reisen fasziniert, aber wegen seines physischen Handykaps konnte er bereits in seinen vierziger Jahren weder lesen, noch die Städte sehen, die er besuchte, und von denen er so inspirierend berichtete. Eine Begegnung mit ihm ist wie eine Begegnung mit einem gigantischen Tintenfisch, der mit seinen Tentakeln alles betastet: die Vergangenheit und die Zukunft, Lyrik und Mathematik, Nord und Süd, Buenos Aires und Genf. Während ich im Atlas, einem der letzten Bücher, die Zeit seines Lebens gedruckt wurden und das er zusammen mit Mario Kodam geschrieben hatte, 30.4.2011. 17:53:04 142 schien mir, er würde in der Palette seiner Staatsangehörigkeiten auch einen kroatischen Pass verstecken, denn als er über Venedig schrieb, erwähnte er auch die adriatische Küste und die dalmatinischen Städte, erwähnte Ost und West, Zufall und Kausalität, und das alles mit einer derart apodiktischen Überzeugungskraft, wie sie nur bevorzugten Einzelnen vergönnt ist. Vielleicht war er deshalb mit Blindheit geschlagen, vielleicht verlangte es ihn deshalb nach Schein, nach jenem, was am Blick scheint und dermaßen blendend ist, dass man davor die Augen schließen muss. Trotz seiner unerschöpflichen Gelehrsamkeit und Vorstellungskraft, trotz der Tatsache, dass er verschiedene Jahrhunderte und Traditionen durchwanderte, wie der Gärtner seinen winzigen Garten durchwandert, pflegte Borges das Dasein eines Herren, dekoriert und pointiert von niemals erloschener Jugend. Er gab gerne vor, nicht blind zu sein, Manguel schreibt, seine Augen hätten stets melancholisch gewirkt, selbst, wenn er lachte, und von gelben Krawatten war er so gut wie besessen (wahrscheinlich deshalb, weil die gelbe Farbe Kraft, Jugend und göttliche Ausdauer symbolisiert). Sein Schlafzimmer war von spartanischem Aussehen: ein Bett aus eisen mit weißer Decke, auf der sein Kater Beppo manchmal zu liegen pflegte, ein Stuhl, niedrige Vitrinen und Dürers Gravur „Ritter, Tod und Teufel“, die er in seinen Sonetten feierte. Malerei und Musik zogen ihn nicht übertrieben stark an. Er begeisterte sich für Brahms, dem er Ein deutsches Requiem gewidmet hatte, eine seiner bekanntesten Erzählungen. Gedruckt in Das Aleph, neben Fiktionen seiner wohl bedeutendsten Sammlung narrativer Texte, erweckte diese Erzählung seinerzeit viele Zweifel. Einige Interpreten glaubten, der Autor würde darin den nationalsozialistischen KZ-Kommandanten Otto Relation 1_2011.indd 142 RELA Dossier: Zdravko Zima Dietrich zur Linde feiern, obwohl Borges, fernab jeglicher schwarzweißer Simplifikation, einen Nazi zu porträtieren versuchte, der ohne zu zögern für seine Überzeugungen stirbt. Heute ist klar, dass alle Beschuldigungen hinsichtlich seines Konservativismus gegenstandslos waren. Vor allem, wenn man weiß, dass er selbst ein Opfer Perons gewesen ist, und in Anbetracht seines literarischen Elitismus, der zwar durch die Überzeugung kontaminiert war, jeder Mensch würde gewissermaßen Schicksale repetieren, die sich bereits zugetragen haben, sollte es niemanden wundern, dass er die Politik zu armseligsten menschlichen Aktivität ernannt hatte. Das blinde Genie besuchend, kam Manguel mit Büchern von Stevenson, Chesterton, Kipling, Henry James, Wilde, Joyce, Lewis Carroll, Swedenborg, Schopenhauer und anderen seiner Lieblinge in Kontakt. In seinen Kommentaren vermischten sich verblüffende Hellsichtigkeit und uhrmacherische Präzision. Auch Borges’ Gedächtnis darf nicht außer Acht gelassen werden, das geradezu monströse Dimensionen aufwies: denn, seine Bibliothek war seine Autobiographie, in der er sich auskannte, wie ein Fisch im Wasser. Manguel behauptet, er hätte alles im Gedächtnis behalten und die Bücher, die er selbst geschrieben hatte, hätte er praktisch nicht gebraucht. Wegen eines solchen Gedächtnisses war jedes Lesen für ihn ein Wiederholen. Er erinnerte sich an Verse längst verstorbener Dichter, Romanfragmente, Einfälle, Rätsel, Verse in englischer, spanischer, deutscher und anderen Sprachen. Heines Gedichte konnte er auswendig, in frühester Jugend hatte er Baudelaires Die Blumen des Bösen auswendig gelernt und so weiter. Er liebte die deutsche Sprache, war aber von Heidegger entsetzt, weil dieser in einem „unverständlichen Dialekt“ schrieb. TIONS Viel Zeit in seiner Nähe verbringend, entdeckte Manguel, dass Borges zwar sentimental sein kann, aber auch grausam boshaft. Zu ersterem veranlassten ihn jemandes großartige Verse, zu letzterem provozierten ihn Dilettanten, die ihn mit ihren Texten belästigten. Beinahe jeder große Autor, der zumindest in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spanisch schrieb, zollte Borges Tribut. Aber man könnte ebenso eine imposante Bibliothek mit jenen Namen zusammenstellen, die Borges verworfen hatte. Darunter waren Goethe, Rabelais, Flaubert, Calderon, Stendhal, Maupassant, Boccaccio, Proust, Balzac, Thomas Mann, García Marquez, Lope de Vega, García Lorca, Pirandello und andere. Tiger faszinierten ihn von klein auf, eines seiner Bücher trägt den Titel Das Gold der Tiger, von seiner Faszination durch Spiegel und Labyrinthe ganz zu schweigen. Auf diese weist in seiner Komplementarität das Bild von Slobodana Matić-Kovač hin, das auf dem Umschlag der kroatischen Ausgabe von Manguels Erinnerungen abgebildet ist. Er stand Valéry nahe, der für eine Literatur ohne Datum, Namen und Nationalität plädierte, und das ist einer der Gründe, die seine Bücher, Gesten und das Universum, das er geschaffen hatte, über die grenzen des physischen Lebens hinausgedehnt haben. Sein Ende erwartete er ruhig, beinahe freudig. In einem Eintrag in Die Verschworenen erklärte er, in den Tod solle man eintreten, als ginge man zu einer Feier. Das letzte Buch, das ihm im Genfer Krankenhaus von einer Krankenschwester auf deutsch vorgelesen wurde, war Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdignen. Es ist ein Roman, gekennzeichnet von Mystik und Reisen, wovon sein irdisches Leben in großem Maße getragen wurde. Da er dasselbe Buch in seiner Kindheit ebenfalls in Genf bereits in den 30.4.2011. 17:53:04 RELA TIONS dass sich sein Buch bereits als Dokument aus erster Hand liest. Manguel hatte bereits in Eine Geschichte des Lesens behauptet, Borges sei, obwohl er passiver Zuhörer war, eigentlich Herr des Textes gewesen. Manguel war, wie er selbst schreibt, ein Fahrer, aber die Landschaft und den Raum, durch den sie fuhren, bestimmte der Beifahrer! Der große serbische Erzähler Danilo Kiš erklärte seinerzeit, die gesamte Geschich- 143 te der Literatur bestehe aus jener vor und jener nach Borges. Diese Erinnerungen sind nur ein kleines, aber dafür überaus wertvolles Steinchen in einem Mosaik, das bezeugt, Kišs Behauptung sei nicht übertrieben gewesen. Aus dem Kroatischen übersetzt von Boris Perić Foto: © Boris Cvjetanović Händen gehalten hatte, besteht kein Zweifel, dass sich der Kreis auf die bestmöglichste Weise geschlossen hatte. Manguel gibt ehrlich zu, er sei damals, als Sechzehnjähriger, des Privilegs nicht bewusst gewesen, dass sich ihm allein dadurch bot, dass er in der Nähe des Lehrers verweilen durfte. Aber der Autor, der viele Jahre später seine Erinnerungen an diese Zusammenkünfte evoziert hat, schreibt dermaßen kompetent und folgerichtig, Kritiken Zdravko Zima, Zagreb, Winter 2011 Relation 1_2011.indd 143 30.4.2011. 17:53:04 RELA TIONS Foto: © Višnja Arambašić 144 Relation 1_2011.indd 144 30.4.2011. 17:53:04 RELA TIONS Berührungen, Berührungen Andrea Zlatar Der Vorrang der Berührung D ie Berührung ist irgendwo hinterblieben, hat sich festgesetzt, wie eine Spur auf der Haut. Mehrere Spuren: eine Linie, über die die Fingerkuppe streift, die Wärme, die sie aus sich heraussaugen, übertragen, in die Haut eindrücken, in den Körper des anderen. Eine Berührung, wie eine Bleistiftspur, als ob jemand Sie – wie das Kinder tun oder auch die etwas Erwachseneren – mit einem Stift bekritzelt, eine Linie mit einem Filzstift, einem Kuli, vielleicht einer Feder, vielleicht mit Tinte gezeichnet hat. Nicht mit einem Graphitbleistift, das tut weh. Berührung und Spur, nicht wegzuwischen und nicht zu sehen. Wie die Spur einer Träne im Gesicht. Du weißt genau, wohin sie geht, wie sie verläuft, du verfolgst ihren Lauf, dann wischst du sie weg. Mit der Zeit verschwinden die Spuren, die Vertiefung, die ein anderer auf der Haut hinterlassen hat, verschwindet sofort. Wenigstens äußerlich, innerlich dauert sie, weil der Körper sich erinnert. Der Körper ist unser bester Gedächtnisbehälter, verlässlich gerade darum, weil wir es nicht schaffen, ihn bewusst zu kontrollieren. Wir vergessen, der Körper erinnert sich. Wir verdrängen, der Körper widersetzt sich. Wir fällen Entscheidungen, trotzdem entscheidet der Körper. Er sammelt Eindrücke in sich, 1 ANDREA ZLATAR wurde am 13. April 1961 in Zagreb geboren, wo sie auch ihre Schulausbildung und ihr Diplom für Vergleichende Literaturwissenschaften an der Philosophischen Fakultät machte. Dort erlangte sie 1988 auch den Magister- und 1992 den Doktortitel. Seit 1986 hat sie an der Philosopischen Fakultät in Zagreb als ordentliche Professorin einen Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaften inne, Allgemeine Geschichte der Weltliteratur. Parallel zu ihrer wissenschaftlichen Arbeit ist sie auch als Publizistin und Redakteurin tätig. Sie war Kulturredakteurin in Blatt „Studentski list“ und an dem Radiosender „Omladinski radio“, sowie Redakteurin der Zeitschriften „Gordogan“, „Vijenac“ und „Zarez“. Von 2001 bis 2005 war sie Mitglied des Stadtrats der Stadt Zagreb im Kultursektor. Im Verlagshaus Algoritam ist sie Redakteurin der AZ Bibliothek. Sie ist Mitglied der Kroatischen Schriftstellervereinigun und des kroatischen PEN. Bis heute hat sie neun Bücher veröffentlicht (5 aus dem Gebiet der Literaturgeschichte und –theorie, drei Essaysammlungen und einen Gedichtband), sowie mehrere Dutzend wissenschaftlicher und fachlicher Arbeiten in Kroatien und im Ausland. Sie hat an einer Großzahl von einheimischen und internationalen wissenschaftlichen Symposien teilgenommen. bindet sich an Räume, erinnert sich mit den Sinnen. Bis vor Kurzem habe ich gar nicht so richtig gewusst, dass es eine besondere Theorie über die Berührung gibt, genauer gesagt, die Theorie des Tastsinns. Das habe ich am Anfang des Buches Philosophie des Körpers von Mikhail Epstein1 entdeckt, das ich schon im Zug von Belgrad nach Zagreb gierig aufgeschlagen habe, nur wenige Stunden nach dem Kauf. Der griechischen Wurzel zufolge (vom Substantiv „haphe“ – berühren, betasten und dem Adjektiv „haptikós“ – was man meist als „zum Berühren geeignet“ übersetzt, im Lateinischen ist das „taktil“), weißt uns Epstein darauf hin, nennt sich diese Theorie, die Lehre vom Tastsinn, Haptik. Sowohl das Substantiv als auch das Adjektiv entstanden aus dem Verb berühren, befühlen, des weiteren ertasten und betasten (haptesthai) und führen uns in die Überlegung über den Tastsinn ein. Denjenigen, der aus einem rationalen Winkel gesehen, am primitivsten ist. Den Sinnen des Auges und des Ohres gehört die Vorrangstellung: Sie befinden sich im Mikhail Epstein: Philosophie des Körpers, Geopoetika, Belgrad 2009, S. 30 weiterführend. Relation 1_2011.indd 145 30.4.2011. 17:53:04 146 Andrea Zlatar: Berührungen, Berührungen Kopf, für den Menschen sind sie mit der Welt der Ideen und der Begriffe verknüpft. Wir hören, denken und sprechen Worte, das, was wir sehen, verwandeln wir sofort in ein zum Begriff gewordenen und begreifbaren Bild. Diese zwei Sinne und diese zwei „Sinnesmittel“, Sehen und Hören, sind Zeugen der Realität, vermittelbar, dienen im Raum der Argumentation und Beweisführung. Wir erachten sie als zuverlässige Zeugen, sogar wenn wir wissen, dass die menschlichen Sinne bei jenem Einzelnen nicht auf die gleiche Frequenz „geeicht“ sind. In moderner Zeit gibt es für solche Fälle Messinstrumente und Hilfsmittel, die unsere Seh- und Hörsinne schärfen, uns auf Standard und Norm bringen. Löschen unsere minus Kurzsichtigkeiten und unsere plus Weitsichtigkeiten, dazu dienen Gläser, Linsen und Brillen. Bringen uns in die intakte Welt des Hörsinns zurück, mit Hörgeräten, künstlichen Hörschnecken. Schwingungen und Frequenzen sind der Garant, dass wir rationelle Wesen sind, die die Welt wahrheitsgemäß erkennen. Dadurch übertragen sie uns die Information, dadurch ermöglichen sie uns die Kommunikation. Aber was ist mit der Haut, was ist mit dem Tastsinn, der sich über die ganze Oberfläche unseres Körpers erstreckt und tief in unserem Körper, in den inneren, so empfindlichen, mit Schleim überzogenen Räumen, in der Schleimhaut? Verfügt die Haut über Erkenntnis? Aristoteles würde sich fragen: „Ist der Tastsinn innen oder nicht, sondern ist das gerade das Fleisch?“2 Was für Informationen überträgt die Berührung? Wie kommunizieren wir mit unserem ganzen Körper, unserer Haut? Was passiert, wenn wir uns selbst berühren, wenn Sie sich mit dem Ellbogen auf ihr Knie stützen, was oder wer genau 2 3 fühlt in uns, können wir die Berührung, die die Handfläche sendet, und die Berührung, die die Handfläche empfängt, voneinander trennen? Und, am Ende dieser Reihe von Fragen, warum kann eine kurze, flüchtige und gänzlich oberflächliche Berührung, wie ein zufälliger Kuss, mehr bedeuten als tausende und tausende klar ausgesprochener und klar gehörter Worte? Und warum kann das, was wir nicht sehen, mehr bedeuten als das, was wir sehen? Die Lehre vom Tastsinn Wie bei jeder Theorie stand am Anfang Aristoteles. In seinem Buch Über die Seele erwähnt Aristoteles, dass der Mensch „bei anderen Sinnen hinter vielen Tieren zurückbleibt“, aber dass er sie, was die Berührung angeht, in vielerlei Hinsicht gerade im Grad der Empfindlichkeit dieses Sinnes überragt3. Und aus dieser Beobachtung heraus schließt – für uns heute ungewöhnlich, wenn nicht sogar widersprüchlich – Aristoteles, dass gerade deswegen der Mensch das vernünftigste Lebewesen ist. Die Haptik, oder später – die Haptologie, befasst sich RELA TIONS mit der Berührung und dem Berühren, der Haut als „Wahrnehmungsorgan“, taktilen Formen des menschlichen Wirkens und seines Selbstausdruckes. Nach Mikhail Epstein, dem zeitgenössischen russischen Philosophen, der als Grundlage seiner Philosophie des Körpers gerade die Haptik nimmt, setzt sie in ihrer Grundlage eine Interaktion des Menschen mit der Umwelt voraus, das menschliche Wirken, das durch die Haut als Tastorgan vermittelt wird. In zweieinhalbtausend Jahren, von Aristoteles bis heute, bewegte sich die menschliche Zivilisation in eine Richtung, die den Menschen von der Berührung als primären und allumfassenden Kontakt mit der Welt trennte. Die Übertragung von Informationen mittels Berührung wurde während der menschlichen Entwicklung immer weniger wichtig – sowohl im Sinne von Ontogenese als auch im Sinne von Phylogenese. Kleine Babys sterben ohne Berührung, die Zivilisation lehrt uns nicht nur, ohne sie zu überleben, sondern zwingt uns zu Unterdrückung und Verzicht. Repressive Gesellschaftsnormen weisen uns darauf hin, dass Berührungen in alltäglichen Situationen „unpassend und unangemessen“ sind. Unangebrachtes Benehmen, in letzter Linie unmoralisch. Stellen Sie sich vor, Sie hätten am Bankschalter den Wunsch, den Bankangestellten oder die -angestellte zu berühren? Sie müssten versuchen, Ihre Hand durch den winzigen Schlitz, der die Glas- oder Kunststofftrennwand von der horizontalen Fläche teilt, zu zwängen. Selbstverständlich, wenn Sie einen „persönlichen Banker“ haben, werden Sie ihm am Anfang und am Ende des Treffens die Hand schütteln. Aber Sie werden nicht versuchen, ihn – sogar wenn Sie ihn auch privat kennen – im Kontext eines Aristoteles: Über die Seele, Naprijed, Zagreb 1987. Vgl. Epstein, S. 46; ebenso: Aristoteles: Über die Seele, Naprijed, Zagreb 1987. Relation 1_2011.indd 146 30.4.2011. 17:53:04 RELA TIONS geschäftlichen Termins zu küssen. Ein großer Kredit ist Ihnen genehmigt worden? Sie können vor Freude Luftsprünge machen wollen, aber die Kodierung des Dankbarkeitszeichens verlangt die Grimasse eines breiten Lächelns, ein dankbares Kopfnicken und ein eventuelles Höflichkeitsgeschenk. Blumen und eine Pralinenschachtel, immer vor einer Umarmung und einem Kuss. Am Busbahnhof gibt es keinen Zentimeter Freiraum zwischen Abtrennung und Pult: Der Schalter ist so gebaut, dass es einen Klangverstärker gibt, mit dessen Hilfe Sie an der anderen Seite gehört werden, und in den Pult ist ein zweigeteiltes Tablett eingelassen. In einen Teil legen Sie das Geld oder die Kreditkarte, im zweiten erhalten Sie die erstandene Fahrkarte und die Quittung. Ja, ich weiß, Gründe der gesundheitlichen und diversen anderen Sicherheiten entscheiden über solche entwürfliche Entscheidungen in den Gebäuden öffentlicher Ämter. Nicht küssen, nicht berühren, Masken tragen und Hände waschen, das haben wir den ganzen Herbst lang gehört, belagert von der aggressiven pharmazeutisch-medizinischen Kampagne gegen die Schweinegrippe. Mit Grippe oder ohne, Westeuropa ist die Gesellschaft mit dem niedrigsten Berührungsindex zwischen den Menschen. Einige nationale Kulturen, wie etwa die französische, schreiben dennoch eine immense Menge gesellschaftlicher Küsse am Tag vor. Eine Untersuchung in den achtziger Jahren, auf die sich auch Epstein beruft, hat erwiesen, dass sich in einem Pariser Café die Menschen durchschnittlich – im Laufe einer Stunde – über hundert Mal berühren, während Sie gleichzeitig in einem britischen Pub stundenlag ohne die kleinste Berührung schmachten können. 4 Essay Die Entwicklung der Haptik oder der Lehre vom Tastsinn bewegte sich jedoch in den letzten Jahrzehnten in eine andere Richtung. In jenem Bereich, in dem es keine wirklichen Empfindungen und Sinne gibt, im Bereich der künstlichen Intelligenz und virtuellen Wirklichkeit, wurde der Tastsinn zum Schlüssel für zeitgenössische Forschungen. Was sagen uns eigentlich über die Entwicklung der Technologie und die Transformation unserer Sinne Erfindungen wie der Bildschirm, den man berührt und der die klassische Tastatur ersetzt, der neue iPad, der unlängst auf dem Markt erschienen ist und der gerade deshalb in den höchsten Tönen gelobt wird, weil er die Kommunikation und die Information mithilfe der „Berührung“ erledigt? Wir verbinden das, was ultimativ natürlich ist, den primären Sinn, aus dem sich alle anderen entwickelt haben, mit den besten Errungenschaften neuer Technologien der Informatik. Wir berühren den Bildschirm. Fühlen wir? Wir senden und empfangen Informationen, wir kommunizieren. Ob wir fühlen, ich wiederhole meine Frage. Ich bin nicht sicher, aber wir fühlen etwas auch in dieser Art der Berührung. Der Tastsinn ist die komplizierteste Aufgabe in der Erschaffung der vollständigen Illusion virtueller Empfindungen. Vielleicht ist das gar nicht so schwierig, wenn es sich um relativ messbare Empfindungen handelt: warm/kalt, hart/ weich, grob/glatt... Wieder Aristoteles, an gleicher Stelle, Über die Seele, 422b: „Es scheint, als ob jeder Sinn, nur der Sinn eines Paares von Gegensätzen ist, wie z. B. das Sehen von Weiß und Schwarz, das Hören von Hoch und Tief, das Schmecken von Bitter und Süß. Doch im Tastbaren gibt es viele Gegensätze: warm und kalt, trocken und feucht, 147 hart und weich und so weiter. [...] es ist unklar, was die gemeinsame Grundlage beim Tastsinn ist, wie es beim Gehör der Klang ist.“ Wenn es um die Berührung als Empfindung von sei es Behagen oder Unbehagen geht, ist nichts einfach. Insbesondere bei der Berührung des Behagens, die Sicherheit schafft oder der Berührung als Ort, an dem es zum Genuss, dem erotischen Genuss, kommt, da versagen alle Messinstrumente. Ich weiß eigentlich weder warum oder seit wann, aber ich schließe schon ziemlich lange jede meiner privaten Mails kurz mit: Umarmung, a. (Umarmung Komma a Punkt). Vielleicht gerade, weil in der Virtualität der elektronischen Kommunikation eigentlich jegliche Empfindung ausbleibt, vielleicht ersetze ich sie alle deshalb mit dem ursprünglichen: der Berührung. Der Berührung, die ausblieb, oder aber auch nicht. Die Berührung, die wir nicht wollen, Berührungsterror In Wortspielen sind, wenn es sich um die Berührung handelt, zwei semantische Felder ausgesprochen interessant. Das erste bezieht sich auf die Beziehung der Bedeutung der Adjektive „taktil“ und „taktisch4“ (Epstein 34). Trotz der gleichen Wurzel, aus dem lateinischen Verb tango, tangere – berühren, ertasten, bezieht sich „taktil“ auf Berührung und Kontakt, auf die direkte Kommunikation, die den Tastsinn voraussetzt. „Taktisch“ andererseits bezieht sich auf Distanz, die Trennung der Subjekte – von denen einer darauf achtet, den anderen nicht zu verletzen, am häufigsten im Raum der sozialen Kontakte, aus denen die Kommunikation mittels Berührung schon ausgelöscht wurde. „Taktisches“ Benehmen können wir mit dem Beispiel Aus dem angeführten Beispiel lässt sich ersehen, dass es sich in der deutschen Sprache um den Ausdruck taktvoll handeln soll, was jedoch dem gewünschen „Wortspiel“ der Autorin nicht entsprechen würde (Anm. d. Übersetzerin). Relation 1_2011.indd 147 30.4.2011. 17:53:05 148 Andrea Zlatar: Berührungen, Berührungen einer Situation belegen, in der Sie einen Arbeitskollegen treffen, von dem Sie wissen, dass er letzte Woche geschieden wurde, das aber nicht erwähnen, weil Sie nicht in „seine Privatsphäre“ eindringen möchten. Ob es besser wäre, ihn zu umarmen, begleitet von einer angemessenen Schimpftirade über den Sinn des Lebens, ist eine andere Frage. Taktvoll wäre es keineswegs. Weitere Bedeutungsumkreise – aber auch Nicht-Übereinstimmungen – ergeben sich aus der griechischen Wurzel im Verb „hapto“, das auch greifen bedeuten kann, aber nicht im Sinne einer Berührung, die wir als angenehm empfinden, sondern im Sinne von ergreifen, beziehungsweise festnehmen. Im Ausdruck „In Haft nehmen“ hallen gerade diese semantischen Beiklänge wider. Von allen Formen der Gewalt hat die physische Gewalt am Körper eine Vorrangstellung. Jemandem das Recht, über seinen eigenen Körper zu bestimmen, zu nehmen (einkerkern, festnehmen, einschließen), physisch den Körper eines anderen zu malträtieren (Tortur und Folter, medizinische Experimente, sexuelle Gewalt), jemandem das Leben nehmen – seinem Körper das Leben nehmen, all das sind Ausführungen ein und desselben Musters, der ungewollten Berührung eines anderen Körpers. Eine ungewollte Berührung kann auch in einer überfüllten Straßenbahn stattfinden, manchmal ist das so schwer zu ertragen, dass Sie an der nächsten Haltestelle aussteigen müssen. Bestrafung in der Familie und in Bildungsanstalten, sexuelle Belästigung sind Anfangsstufen dieses Weges. Aber der Körper behält alles in Erinnerung, reagiert auf alles, obwohl er in vielen Situationen keine Möglichkeit eines wirklichen physischen Widerstands hat. 5 Ethik und Erotik der Berührung Ich fürchte mich, sage ich, und drücke deine Hand. Ich habe Angst, sagst du, und erwiderst meinen Händedruck. Ich will dich, sage ich, und nähere mich. Du küsst mich. Ich erwidere den Kuss – nein, ich kann es nicht sagen. Ich kann nicht sagen, wer wer ist im Kuss, ebenso, wie ich nicht mehr weiß, wer wen bei der Hand hält, ich dich oder du mich. Wir sehen uns nicht an, wir sprechen nicht, ich glaube nicht, das wir irgendetwas hören. Wir fühlen alles: Vollständigkeit, Verschmelzung, Umschmelzung; die Haut zweier, die miteinander verschmolzen sind. Ich kann meine Augen schließen, ich kann meine Ohren stopfen, ich kann mir mit den Fingern die Nase zuhalten und durch den Mund atmen und so auch den Geruchsinn unterdrücken, aber ich kann nicht, auf keine Art kann ich, würde Epstein sagen, mir die Haut vom eigenen Leibe reißen. Mein Fleisch, meine Haut, mein Körper und ich, wir sind ein und dasselbe. Eine Stimme erklingt außerhalb von mir. Manchmal ist die Stimme nicht „Ich“. Die Berührung ist immer „Ich“. Wenn wir sprechen, unterscheide ich meine und deine Stimme, ich kann nicht deine Stimme sein. Wenn wir uns hören, hören wir die Unterschiede zwischen uns, wir hören einander. In allen Beziehungen der Erkenntnis und der Kommunikation benehmen wir uns wie zwei getrennte Subjekte, so oft (sowohl ungewollt als auch unbewusst) auch in hierarchiesierten Beziehungen von Subjekt und Objekt. Und ich weiß, dass ich nicht mit einer anderen Stimme sprechen kann und ich kann nicht mit anderen Augen sehen, als mit meinen eigenen, aber in der Berührung der Haut kann ich uns nicht trennen. Entferne ich oder nä- RELA TIONS here ich mich dann mir selbst? Gerade die Berührung, als ständige Wechselseitigkeit, als ständige Umkehr der Wahrnehmung und der Wirkung, schafft eine Möglichkeit der Nähe. Oder habe ich Levinas falsch verstanden?5 In Freundschafts- und Liebesbeziehungen, dort, wo das Taktile angebracht ist, dort, wo wir nicht müssen, oder noch klarer gesagt, wo wir nicht taktvoll sein dürfen. Dort, wo wir umarmen möchten. Dort, wo wir umarmen. Umarmung, a. Ablehnung Ablehnung, Ablehnung sollte das erste Wort dieses Textes sein. Warum zuerst Ablehnung? Weil sie das erste ist im französischen Wörterbuch des Körpers: abjet, abjection? Weil ich sie am meisten spüre? Weil sie notwendig ist, damit ich eine Distanz herstelle – eine Relation von Abscheu und Widerwillen – als Möglichkeit, um über den Körper zu schreiben? Weil sie der erste Reflexmechanismus der Sinne im Kontakt mit dem anderen ist – eine Art der Verteidigung, wörtlich der Selbstverteidigung, der Abkapselung. Das „Ich“ lehnt eigentlich jeden anderen und jedes andere ab. Jeder andere Körper, der nicht mein Körper ist, ist ein fremder Körper. Die Welt ist abstoßend. Das Ablehnen des anderen entsteht aufgrund von Sinn/Empfinden der Ablehnung gegenüber diesem Anderen: Er gefällt mir nicht, ich mag ihn nicht, ich will (ihn) nicht sehen, ich will nicht, dass er in der Nähe meines Körpers ist. Ablehnung, die zu Ekel wird – der Moment, wenn sich die Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen verwischt, wenn ich alles, aber auch alles, verabscheue, wenn mir alles widerwärtig ist, ich mich vor allem ekle. Wenn ich nicht in die Straßenbahn einsteigen kann, wenn ich meinen Blick nicht heben möchte, um nicht Epstein, 45: „Levinas spricht vom Berühren-Liebkosen, im Gegensatz zum Berühren-Ertasten. Der Unterschied ist bedingt. Gerade die Berührung als Umkehr der Wahrnehmung und Wirkung schafft die Möglichkeit zum Liebkosen.“ Relation 1_2011.indd 148 30.4.2011. 17:53:05 RELA TIONS einem fremden Blick zu begegnen. Die höchste Form der Ablehnung und des Abscheus: das Verabscheuen seiner selbst, der Punkt, in dem das Subjekt entdeckt, dass alle Objekte nur auf dem einleitenden Verlust ruhen, der sein eigenes Wesen auseinander nimmt (Kristeva 1989, 11). Darüber schreibt die allmächtige Kristeva in der Studie Pouvoir de l’horreur: essais sur l’abjection. Deutsche Übersetzung: Die Macht des Grauens. „Das innere Grauen“ von dem Kristeva spricht, beginnt, wenn die Grenze verletzt wird, die unseren Körper vor der Außenwelt schützt, wenn die Grenze innen/außen aufgehoben wird: „Als ob die Haut, diese zerbrechliche Hülle, nicht mehr die Integrität des ‚Eigenen‘ garantiert, sondern, abgezogen oder durchsichtig, unsichtbar oder gespannt dem Ausscheiden der Inhalte aus dem Körper nachgibt“ (daselbst, 65). Das, was der Körper ausscheidet, ist gleichzeitig das, was man verabscheut: Urin, Blut, Samen, Kot. Es handelt sich um einen kulturellen Abscheu, der sich in der einzelnen Erfahrung widerspiegelt, auf die Art, dass der Einzelne ihn vor allem als persönliches Erlebnis empfindet, und die Tatsache des kulturellen Erlernens der hygienischen sozialen Matrize lässt sich nur in der Distanz erkennen, im Kennenlernen des unterschiedlichen und anderen Verhältnisses.6 In einer Reihe von Studien, die die amerikanische Anthropologin Mary Douglas dem semantischen Feld von Reinem und Schmutzigen in verschiedenen Gesellschaften gewidmet hat, ist das Bewusstsein betont, dass Schmutz oder Verunreinigung als Problem auftauchen, d. h. dass die Gesellschaft sie als Gefahr sieht, in jenen Kulturen, in denen die „kosmische oder gesellschaftliche Struktur klar definiert“ ist. Dort, wo es 6 Essay eine Grenze zwischen Innen und Außen gibt, zwischen Reinem und Schmutzigen, dort gibt es eine klare Bipolarität von Gut und Böse, des sozial Nützlichen und des sozial Unannehmbaren. Warum, fragt sich Kristeva, stellt gerade der körperliche Abfall, und insbesondere die Monatsblutung und der Kot, eine ausgesprochene Gefahr für die symbolische Gesellschaftsordnung dar? Weder Tränen noch Samen, betont sie, stellen eine Gefahr dar, obwohl sie die Grenzen des Körpers übertreten, aber nicht die Kraft der Schändung haben (84). In der Analyse, die die patriarchalische Ordnung als wirkliche und symbolische Machtordnung identifiziert, gesteht die männliche Macht, „dass sie von der asymmetrischen, irrationalen, schlauen Kraft, die sie nicht kontrollieren kann, gefährdet ist“ (daselbst). Die Kraft der Gefahr, die die Monatsblutung darstellt, entspringt daraus, dass sie eine Gefahr ist, die von innen kommt, aus dem Inneren der gesellschaftlichen oder geschlechtlichen Identität (85), womit die Grundlage der gesellschaftlichen Beziehung zwischen den Geschlechtern gefährdet ist. Die Gefahr der Krankheit und Ansteckung, die mit Kot verbunden werden, werden auf die Monatsblutung übertragen und damit, in der westlichen Kultur vom biblischen Code, wird die archaische Angst vor der weiblichen Macht des Gebärens bestätigt. Anziehungskraft Eine Berührung, die du noch nicht kennst. Die du erwartest und nicht weißt, dass sie dich erwartet. Wenn sie dich plötzlich berührt, wenn sie sich an deine Schulter lehnt, gleitet diese Berührung (ehemals einer fremden, nun schon ein wenig deiner Hand) leicht mit den Fingern über deinen Nacken, dort wo das Haar 149 immer allmählich einen lockigen Abschluss in Form des Buchstabens „V“ bildet, weiche Locken, wenn das Haar hoch gesteckt ist, an diesem empfindlichen Teil des Halses, den man nicht sieht, wenn das Haar länger ist, und der zum Berühren treibt. Mit dem du, ohne dass du es weißt, den anderen einlädst. Also zuckst du. Wirst rot. Ich hätte dich nicht berührt, wenn ich gewusst hätte, dass du so reagierst, sagt er. Und das Unbehagen vergeht nicht. Und der Genuss beginnt. Ich war in einen Schal eingehüllt und wollte mich verstecken. Gleichzeitig wollte ich enthüllt werden, hervorgezogen aus der aus eigener Unsicherheit geflochtenen Puppe. In dieser Decke der Ängste, ständig von der Furcht durchzogen, dass wir, wenn wir diesen Schutzmantel ablegen, verwundet werden. Der Körper wird verwundet. Das Innere wird zum Äußeren. Sehnsucht, Begierde, Verlangen, Genuss, Leidenschaft, Bedürfnis. Es gibt keine regelmäßige Ordnung, es kann auch mit Ablehnung beginnen. Begierde ist schwer zu stillen, Genuss ist kurzlebig, hat die Sehnsucht überhaupt ihr reales Objekt? Das Verlangen hat es sicherlich: Jedes Mal, wenn wir nach etwas verlangen, versuchen wir auch, es zu erreichen. Automatische Alltagshandlungen, ich lange nach einem Glas Wasser, nach einem Keks aus der Dose, die neben mir steht, ich ziehe mir eine Jacke über, wenn mir kalt ist. Eine Reihe von intentionellen Handlungen, wenn wir wissen, was das Ziel ist: ergreifen, erlangen, erreichen. Ich rufe dich mit dem Handy an, wenn ich deine Stimme hören möchte, ständig die gleiche Frage: Wo bist du? Räumliche Gegenwart, Nähe, Verbundenheit. Das Wissen, dass dein Körper irgendwo da ist. Aber ich kann nicht viel mehr als das: ich kann dich nicht haben, sogar Über das Verständnis von Schmutzigem und Reinen, vgl. Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Algoritam, Zagreb 2004. Relation 1_2011.indd 149 30.4.2011. 17:53:05 150 Andrea Zlatar: Berührungen, Berührungen wenn ich dich haben möchte. Hier eröffnet sich der Raum des Spiels, der Unsicherheit und der Übergänge, der unklaren Grenzen, aber des klar verlangten Objekts: Du. Wenn sich das Genießen in jener Form verwirklichen würde, in der es das Verlangen will, schreibt Epstein in dem Kapitel über den Eros, könnte unsere Zivilisation explodieren und meint, ganz wie Bataille: aber es geht darum, dass das Verlangen im Genießen stirbt (175). Und erneuert sich in diesem Tod, füge ich hinzu: Die Erneuerbarkeit des Verlangens, seine Unersättlichkeit, ja sogar auch seine langweilige Wiederholbarkeit, markieren den Weg vom Verlangen zum Genuss und zurück zum Verlangen. Erotismus ist, solch einem Weg der Analyse folgend, jener Aspekt der Sexualität, der nicht an die Funktion der Reproduktion gebunden ist und entzieht sich damit der sozialen Ordnung. Deshalb stellt die Erotik in reinem Sinne einen Exzess dar, denn sie stellt nichts anderes dar und erfüllt keine andere Funktion. Sexueller Genuss, erotischer Genuss überwindet Hindernisse, die die Isoliertheit des Körpers von der Welt in den Weg stellt. In der Begegnung zweier Körper, in ihrer Verflechtung erlischt die Grenze zwischen Körper und Welt, zwischen zwei Körpern. Die Grenze ist nicht mehr wichtig. Aber dafür beginnt hier als Schlüsselorgan unsere Haut zu funktionieren, genauer gesagt, im erotischen Wortschatz – unser Fleisch – genannt. Fleisch, Fleischlichkeit. Mehr als Haut. Epstein fährt fort: „Sich verflechten bedeutet: sich gegenseitig umschlingen, einander umfassen, beziehungsweise gleichzeitig innen und außen sein“ (Epstein, 186). Darin liegt die Quelle des unendlich vervielfältigbaren Genießens. Umarmen und in sich das aufnehmen, worin du dich selbst befindest – gera7 de dieser Formulierung bedient sich Epstein als Finale seiner Analyse der erotischen Berührung. Es ist schwer, die ausgesprochen maskuline Perspektive, aus der Epstein das Kapitel über Erotik in seiner Philosophie des Körpers schriebt, nicht zu bemerken, eine Perspektive, die auf dem Paradigma des klassischen heterosexuellen Akts beruht. Eine Frage, die nicht nur linguistischer Natur ist und die so häufig in sprachlichen Konstruktionen gestellt wird: wer besitzt wen im Liebesakt. Für gewöhnlich heißt es, dass die Männer die Frauen besitzen – „er hat sie gehabt“ – obwohl im wörtlichen physischen Sinne, bemerkt Andrea Dworkin in der Studie Intercourse, die Frau im Geschlechtsakt den Mann besitzt.7 Trotzdem habe ich dich. Oder ist es egal, wer wen hat, Gleichgewicht in der Beziehung „ich bin in dir und du bist in mir“. Die Liebe als greifbares Absolut bestimmend weist uns Epstein wieder auf die Berührung hin: wir haben einander. Wenn ich mit meinem ganzen Körper nicht nur die Berührung des anderen spüre, sondern durch diese Berührung auch mich selbst spüre. Die Etymologie des Verbs sich verflechten, verbunden mit der Symbolik des Ringaustausches als gegenseitiges Beschenken von Verlobten-Liebenden, schafft ein Bild der erotischen Beziehung als ununterbrochene Reihe von gegenseitigem Ringaustausch. Obwohl ihm auch ein paar patriarchalischere Metaphern ausrutschen (Liebesumklammerung), sind die anderen verführerisch, wie die „Wellentheorie“ des Genießens, ebenso wie die semantische Analyse der Präposition „in“ und ihre gewisse Ontologisierung. Frau Haus „Femme-maison“, Frau Haus, ist ein Syntagma, das an den bildhauerischen Opus der französischen Künstlerin Lou- RELA TIONS ise Bourgeois gebunden ist. Ich stehe in der FNAC Buchhandlung, Rue de Rennes, eine ganze Tischhälfte mit Büchern und Monografien ist Louise Bourgeios gewidmet. Die „Frau Haus“, die ich zuerst sehe, ist ein Bild, auf dem Bild ist ein weiblicher Torso, sinnlich, mit klar geformten Brüsten und Vagina. An Stelle des Kopfes steht ein – Haus. Ein dreistöckiges, insgesamt zehn Fenster, symmetrisch aufgereiht mit Tür in der Mitte. Ein gewöhnliches Haus, aus irgendeiner Straße irgendeiner Stadt. Imaginär also. Das Bild entstand im Nachkriegszyklus, als der Autorin, wie sie selbst sagt, die Bedingungen – im physischen Sinne – fehlten, Skulpturen zu schaffen, also entstanden Bilder. „Ich hatte drei Kinder“, sagt Louise über diesen Zeitraum, „also habe ich Skizzen und Pläne für Skulpturen gemacht.“ So entstand die Serie „Frau Haus“, ich kann nicht widerstehen, ich kaufe ein Buch mit Essays und eine kleine Bildmonografie. Ich sehe es ja selbst, das Bild ist flächig, ich weiß, dass es zum Sehen mehr Raum verlangt, aber mit der Skulptur, mit dem Körper ist es anders: er verlangt Raum nach Vorne. Der Körper nimmt Raum ein, und wie, sogar wenn es nur in den Raum ragt, wie einige andere Skulpturen der Louise Bourgeois. Louise Bourgeois verließ Frankreich früh, wanderte nach Amerika aus. Trotzdem treffe ich in Paris auf Bücher über sie, vielleicht weil ich nicht in Amerika gewesen bin, vielleicht weil gerade diese Buchhandlung, dieser Raum und diese Zeit, Frühjahr 2008 danach verlangen, sie zu treffen. Ich bin für ein paar Tage nach Frankreich gefahren, geschäftlich. Intim bin ich ganz von zu Hause gegangen, ich wollte so richtig mal fortgehen, fort, alleine sein. Und dann treffe ich eine Skulptur aus weißem Marmor, eine liegende Frau, rundlich wie bei Rodin, sie liegt auf dem Rücken und hat statt eines Kopfes ein Haus. Ja, auch ich habe mein Dworkin, nach Epstein, S. 186. Relation 1_2011.indd 150 30.4.2011. 17:53:05 RELA TIONS Haus mit auf den Weg genommen, all seine Bewohner, es sind nicht viele, aber trotzdem, ein Sohn und ein Mann. Ich rufe abends an und frage, wie der Tag so war, ich rufe morgens an und frage, was sie machen und was sie essen werden, ich rufe gegen zwei, drei an, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Einmal, als ich am Morgen angerufen habe und ohne eine gute Ausrede zu haben (außer der eigenen Einsamkeit), fragte ich „wie geht’s, ist alles in Ordnung“, hat D. einfach gesagt, offensichtlich war ich anstrengend bis zum Umfallen, dass alles in Ordnung sei, denn was soll schon um zehn Uhr morgens passieren. Wahrscheinlich habe ich ihn auch geweckt. So reist mein Haus mit, auch wenn ich ihm explizit entsage, wenn ich von ihm davonlaufen möchte. *** Eines Abends, als meine Lieben alle mitsamt eingeschlafen waren, bin ich in den Keller unseres Hauses hinuntergegangen, dort ist auch eine kleine Garage, die wir schon mit Büchern, Papieren und Kleidung, die wir wahrscheinlich nie wieder benutzen werden, vollgestopft haben. Es war schon spät, gegen Mitternacht, und ich grauenvoll nervös, so nervös, dass man hinausgehen und einen Spaziergang machen muss, einfach sich selbst einatmen. Es hat geregnet, es war spät, ich war müde, ich konnte nicht spazieren gehen. Mein Viertel sieht schon bei Tag nicht besonders aus, aber des Nachts ist es vollkommen unattraktiv. Schlecht beleuchtet, unordentliche Hecken, schmutziger spätwinterlicher Asphalt. Ich ging in den Keller hinunter, obwohl es Februar war, war es nicht allzu kalt, ich habe zwei Bücher, einige CDs und einen CD-Player mitgenommen. Sentimentale Musik aus den Siebzigern, eine einfache Art, sich zu isolieren und einen gewissen inneren Frieden zu erreichen. Man könnte nicht gerade sagen, dass ich „von zu Hause weggegangen“ bin, denn ich habe nicht einmal jemandem Relation 1_2011.indd 151 Essay Bescheid gegeben, ich habe mein Handy mitgenommen, für den Fall, dass meine Lieben aufwachen und feststellen, dass ich nicht im Wohnzimmer in den Fernseher glotze. Es ist wahr, dass ich mich an jenem Abend über etwas geärgert habe, den ganzen Tag lang stauten sich Nervosität und Wut und Unzufriedenheit und Unruhe. Ich bin nicht von zu Hause weggegangen, ich habe mich nur in einen Raum zurückgezogen, in dem ich ganz alleine sein und ruhig atmen konnte. Leise habe ich die Tür zugemacht und schon im Treppenhaus habe ich mich beruhigt, machte einen Schritt in eine kleine, vorläufige autonome Zone. Die müssen sein, wenn wir sie brauchen. Manchmal können sie nicht nur im Kopf sein, wir brauchen sie physisch. Unten, in der Garage, setzte ich mich auf eine Schachtel mit Büchern und der große Koffer mir abgelegter Kleidung konnte als vorläufiger Sessel dienen. Ich habe auch ein altes Sakko hervorgezogen, ein braunes, ich erinnerte mich daran, wie ich es früher getragen habe, damit es mir, statt einer Decke, die Knie wärme. Und in diesem Moment begriff ich, was unsere Garage ist – unser Haus im Kleinen. Tatsache ist, dass sie nicht eingerichtet ist, sowohl Boden als auch Wände sind aus Beton, aber es gibt Licht, so eine Außenbeleuchtung, sogar einen Stromanschluss, wenn ich einen gebraucht hätte. Jetzt, da ich dies schreibe, unter den Bedingungen einer durchschnittlichen Wohnung in einem ungepflegten Neubau (das wäre die kürzeste Beschreibung unserer Wohnumstände), suche ich dieselbe CD, Françoise Hardy, Tous les garçons et les filles de mon âge... Ein hässliches Cover in trüben Rottönen. Ich saß in der Garage, es war so gegen ein Uhr morgens, vollkommene Ruhe. Ich las einen Roman, nichts Poetisches, nichts Pathetisches und dachte darüber nach, wie ein Raum zum Raum wird, in dem eine Person lebt. Wie sehr wir uns an diesen Raum festkleben. Ein Heim, das eins ist und wiederum nicht. Zufluchtsort und 151 Falle in einem. Ich begann sogar – so mit einem Auge – die Länge der Garage abzumessen, an eine Wand könnte man eine alte Matratze legen, sie mit einem dickeren Überzug abdecken; dann die andere Wand, für Regale und Bücher, Papiere in den Kisten, damit sie nicht voller Staub werden. Die Garage ist nicht feucht, das ist sicherlich ihr Vorteil. Das wäre ein ganz ordentliches Zimmer zum Alleinsein, etwa wie so ein „Panikraum“ aus den neuen amerikanischen Filmen. Die Wände würde ich gelb streichen, obwohl das idiotisch klingt, der Boden sollte grün sein. Damit es wie die Natur ist, ein grünes Feld und die Sonne. Klare Farben und saubere Kanten. Alles in allem war dort unten nicht länger als fünfundvierzig Minuten, höchstens eine Stunde. B. hat angerufen, ziemlich außer sich, gebe ich zu. Ich sagte, ja doch, ich komme. Ja, ich bin von zu Hause fortgegangen, ich erinnere mich, dass ich ein wenig grausam war. Aber ich hatte keine Schuldgefühle. Für mich dauerte diese Stunde viel länger, sie war ein Einschnitt in die Zeit, die so benötigte Veränderung, ein Bruch mit der Wirklichkeit. B. hat nicht gefragt, wo ich war, ich nehme an, er dachte, dass ich einen Spaziergang durch die Nachbarschaft gemacht habe, was ja, im engeren Sinne, auch die Wahrheit war. Am nächsten Tag war alles gleich. Das Buch über Louise Bourgeois stand weiterhin an einem sichtbaren Ort, gleich neben dem Laptop. So dass ich etwas daraus abschreiben könnte. Zum Beispiel den Satz über die Erinnerung: „Ich brauche deine Erinnerungen, sie sind meine Dokumente.“ Und einen anderen: „Es sind nicht nur unsere Erinnerungen, sondern auch unsere Räume untergebracht“, sie existieren im Raum, als ob „unsere Seele eine Art Aufenthalt“ ist. Und wenn wir uns an unsere „Häuser“ und unsere „Zimmer“ erinnern, lernen wir eigentlich uns in uns selbst aufzuhalten. Bilder des Hauses erstrecken sich 30.4.2011. 17:53:05 152 Andrea Zlatar: Berührungen, Berührungen in zwei Richtungen: sie sind in uns ebenso wie wir in ihnen sind. Diese Gedanken hatte sich Jean Frémon, als er über Louise Bourgeois schrieb, von Gaston Bachelard ausgeliehen. Er hat keinen Quellennachweis angegeben, aber es ist fast sicher, dass sie aus Bachelards Die Poetik des Raumes stammen. Also leihe ich sie von allen dreien, Bachelard, Frémon, Louise Bourgeois. Ebenso wie ihre Arbeit vom Anfang der Neunziger, ein paar Jahrzehnte früher entstanden, Die Orangenepisode, die an ein Kindheitstrauma anknüpft. Louises Vater pflegte nach dem Mittagessen zu zeigen, wie man in eine Orangenschale den weiblichen Körper einritzen kann, bestehend aus Kopf, Brüsten, Hüften, Beinen (das Schambein ergab sich von selbst). Nachdem der Vater sorgfältig die Schale von dem Fruchtfleisch geschält hatte, erschien in der Mitte des „Schalenkörpers“ ein weißer Faden, der den Penis darstellte. Auf diese Weise wurde der weibliche Körper zum männlichen. Die Arbeit von Louise Bourgeois Die Orangenepisode hat eine antropomorphe Form, es handelt sich um eine Orangenschale, die sorgfältig an eine weiß gestrichene Pappe genäht ist und der Körper stellt das Dilemma dar, das der Vater aufgestellt hatte: ist sie Louise oder Louison, wie er sie nannte. Denn Louise hat da unten nichts. Die autobiographische Unterlage der Arbeiten von Louise Bourgeois erschien relativ spät, sie fing an, darüber zu sprechen, als sie siebzig wurde. Noch bevor sie offen über ihre Traumata gesprochen hatte, ließen diese sich in den Arbeiten, die sie „ Die Zerstörung des Vaters“, „Er verschwand in vollkommener Stille“ und „Die Zelle“ (Hysteriebogen) nannte. Louises Zellen hatten ihre Namen, sie stellten verschiedene Arten des Leidens dar: das körperliche, psychische, mentale. Und in jeder setzen wir uns mit einer Angst auseinander. In einer der Installationen der Zellen sind ein weißes verwaschenes Kleid aufgehängt, ein weites Damenhemd, wie Relation 1_2011.indd 152 ein Nachthemd, ein Unterrock. Links ist ein Schrank, daneben ein Modell eines verkleinerten – doch großen – grauen Gebäudes. Lebt jemand in diesen Räumen? Wer lebt darin? Louises Erinnerungen, sie hält sich persönlich darin auf. *** In jener Nacht, unten in der Garage, schuf ich meine Zelle, einen Raum, in dem ich mich mit mir selbst auseinandersetzen kann, mit der Angst, mit der willentlich gewählten Einsamkeit. Mit dem inneren Trieb nach Einsamkeit. Ich habe vor, sie herzurichten. Die Garage. Wirklich. Mich nicht. Nichts zu kontrollieren, alles zu lassen. Nicht zu fixieren, nicht festzuhalten. Ich muss aus einem Raum in den anderen durchgehen können, ich muss woanders sein können, dort, wo ich gerade nicht bin. Unwirkliche Reisen, sie helfen mir, eine Bewegung zu erreichen. Wirkliche Reisen zwingen mich, ständig mein Haus mitzunehmen, in meinem Kopf, in meinem Körper, in Worten. Und immer zu viele Sachen, die ich von zu Hause mitnehme. Physische Last und die Unmöglichkeit Abstand zu schaffen. B., wenn er irgendwohin verreist, beziehungsweise, wenn er ankommt, muss sofort mit sich selbst den Raum markieren, in dem er sich aufhalten wird, auch wenn es nur für eine Nacht, ein paar Stunden, ist. Er muss zunächst einen passenden Platz für seine Armbanduhr finden, neben die Armbanduhr legt er seine Brieftasche und die Schlüssel. Die Brieftasche und die Schlüssel müssen zusammen sein, es geht gar nicht darum, dass er Angst hat, sie zu verlieren, zu verlegen. Die Uhr symbolisiert Zeit, die Brieftasche die persönliche Identität und den Besitz. Seinen mobilen Besitz, sagen wir das mal so. Der Schlüssel bewahrt seine Immobilie, er nimmt sein Haus mit. Ja, er nimmt auch sein Haus mit, wenn er irgendwohin verreist. Die Zeit ist jedoch trotzdem das Wichtigste. Die Uhr, mit der er die Zeit des Ver- RELA TIONS bleibens misst, die Zeit zwischen dem An- und dem Abreisepunkt, der sofort zur Rückkehr wird, ohne dass du dir dessen überhaupt bewusst bist. Als ich das erste Mal Barthes’ imaginäre Autobiographie gelesen habe, Über mich selbst, verblüffte mich die Tatsache, dass er in seinen beiden Räumen, dem städtischen und dem ländlichen, zwei absolut gleich eingerichtete Arbeitstische hatte, mit Gegenständen, die auf die gleiche Art aufgestellt waren. Und außerdem identisch. Das erschien mir damals, als ich es gelesen habe, ein wenig verrückt. Ich fragte mich, wozu er dass denn nötig hätte. Aber heute beneide ich ihn. Er musste sein Haus nicht mitnehmen. Es erwartete ihn immer dort, wohin er ankam. Die versäumte Verabredung Christine Angot lesen, ist, wie Zeit mit einer Freundin verbringen, der es nicht gut geht, sagt eine französische Kritikerin. Ihr zuzuhören, wie sie hartnäckig über alles spricht, was ihr widerfahren ist, in Details gehend, die wir vielleicht nicht hören möchten. Das Zuhören wird anstrengend, sie gibt nicht auf, zwanghaft das Sezieren ihres intimsten Lebens fortsetzend. Rendez-vous ist ein Roman über so eine obsessive Geschichte, in der sich das Geschehen der Liebe mit dem Schreiben über sie verflicht. So eine Prosa nennt die Literaturtheorie meist Autofiktion und ohne zu zögern können wir sagen, dass Christine Angot mit einer Reihe ihrer Romane eine der führenden Literaten der französischen autofiktionellen Prosa ist, wenigstens seit 1998, als sie einen Roman unter dem Titel Sujet Angot (Thema Angot) veröffentlichte. Obwohl Angot selbst dieses Etikett ablehnt, es bleibt Tatsache, dass ihre Romane – und Rendez-vous ist der dreizehnte in Folge – das Verbinden von fiktionellem und autobiographischem Erzählen auszeichnet, da sich die Heldin in den Schlusskapiteln als „Schriftstellerin Christine 30.4.2011. 17:53:05 RELA TIONS Angot“ enthüllt, die das Leben, das ihr widerfährt, durch Schreiben einzufangen, fast zu zähmen versucht, eine Liebesgeschichte, die sie nicht kontrollieren kann. Rendez-vous, oder wie wir in der Übersetzung Die Verabredung sagen könnten, ist eigentlich die Geschichte über eine versäumte Verabredung, über eine Reihe von Stelldicheins, denen es nicht gelingt, die Einheit eines Liebesverhältnisses zu schaffen. Es handelt sich um einen Roman, in dem, unter dem Fluss des schrittweisen Erzählens und minutiöser Beschreibungen, die tief liegende Nervosität des Körpers tickt, der ununterdrückbare Rhythmus der Sexualität und Sinne, die von Zeit zu Zeit, wie ein Vulkan an die Oberfläche des Textes ausbrechen. Den erzählerischen Auslöser im Roman stellt eine Verabredung mit einem Banker dar, einer Figur, die nur nach seiner sozialen Funktion benannt ist, und mit dem sie eine Reihe liebend-sexueller Sequenzen anfängt, in denen Christine Angot Schlüsselthemen von Liebesbeziehungen eröffnet, unter denen körperliche Abneigung und körperliche Anziehung dominieren. Das soziale Tabu, über den Inzest zu sprechen, verfolgt die Romankarriere Angots seit ihrem gleichnamigen Roman Inzest (L’Incest, 1999), im Roman Rendez-vous taucht es als sich wiederholendes Motiv auf, was die Möglichkeit einer „glücklichen Liebesbeziehung“ noch unsicherer macht. Doch Angot ist keine Autorin, die sich mit der Destruktion des Mythos über die glückliche Liebe befassen würde, ihr Erzählen ist weit über dem Niveau des Allgemeinen und ist immer auf das Private und Persönliche gerichtet. Deshalb ist Rendez-vous ein ausgesprochen komplexer Roman, einfach weil die menschliche Persönlichkeit, mit all ihren mentalen, körperlichen, Gefühls- und Sinneswahrnehmungen ausgesprochen kompliziert und empfindlich ist. Wir sind taktil und Relation 1_2011.indd 153 Essay reaktiv, würde Angot sagen: wir reagieren aufeinander. Deshalb, wenn der Körper ja sagt, sagt der Kopf nein, und wenn unser sozialisiertes und rationelles Ich ja sagt, weigert sich der Körper, sich zu beugen. „Intensiv, taktil, reaktiv, allumfassend“ – vier Schlüsselbegriffe des Romanendes. Die allumfassende Berührung nach der wir streben, ist der Ausgangs- und Endpunkt des Romans, als Verlangen am Anfang und als Ausbleiben am Ende. Das Schlüsselpaar körperlicher Empfindungen, Abneigung – Anziehung, taucht in der Beziehung der Heldin mit einem älteren Banker, der, dank der Tatsache, dass er als Ersatzvaterfigur funktionieren kann, direkt das Thema Inzest heraufbeschwört. Im Roman Rendez-vous entwickelt sich die Anziehungskraft aus anfänglicher Abneigung: die unausgewogene „Wippe“ der Anziehung und Abneigung rhythmisiert das Erzählen im ganzen Text. Wenn also im ersten Teil des Romans die Erzählerin die ist, die anzieht und Abneigung empfindet, im zweiten Teil, wenn den Platz der männlichen Figur der Schauspieler Éric einnimmt, spürt sie die Anziehung, wird aber nicht angenommen. Die Heldin des Romans Rendez-vous gibt ihr Verlangen nicht auf, aber das Verlangen nach einer wirklichen Liebesbeziehung ersetzt sie durch Schreiben darüber. Deshalb ist der Schlussteil des Romans zwanghaftes Erzählen und ein ebenso zwanghaftes Verlangen, Éric möge ihre Handschrift lesen, denn auf diese Weise, mittelbar, würde ihre Beziehung eine, obwohl nur als Ersatz, Form der Wirklichkeit bekommen. Es geht hier nicht um das Verlangen nach Besitz, Eifersucht, Possesivität, hier geht es um einen Versuch, durch Schreiben die Integrität seiner selbst zu erreichen, das im konkreten und wirklichen Leben in die Brüche gegangen ist. Rendez-vous ist ein Roman über 153 die Zerrissenheit der Persönlichkeit, da die Zivilisation, in der wir leben, zerrissen ist, ein Roman der Autoanalyse, ein Roman darüber, dass „die Dinge nicht so funktionieren“, wie wir das gerne hätten. Insbesondere, wenn dieses „Ding“ – Liebe ist: „Als ich geschrieben habe, habe ich zu mir selbst gesagt: Wer würde sagen, dass das nicht funktioniert. Es war so unglaublich, ich habe so sehr geglaubt, dass ich jemanden Einzigartigen kennen gelernt habe, dass es sich um die Begegnung meines Lebens handelt, und es hat nicht funktioniert. Es hat mich wahnsinnig gemacht, ich wusste nicht mehr ein und aus. [...] Nachdem wir das erste Hindernis aus dem Weg geräumt hatten, sind wir einfach stehen geblieben. Mit Leugnen in der Art ‚ichbin-nicht-verliebt-aber-ich-weißdass-du-mir-nicht-glaubst-wennich-dir-das-sage‘, gab es Momente, in denen mich Verzweiflung übermannte, in denen ich vollkommen die Hoffnung verlor, ich fühlte mich in diese Geschichte eingefangen, ich spürte, dass ich nicht entkommen kann. Wenn das Liebe ist...“ Un-Liebesgeschichte Vor ein paar Jahren, 2006, erhielt Joyce Carol Oates, eine amerikanische Schriftstellerin, geboren 1938, den Literaturpreis der Chicago Tribune für literarische Errungenschaften. In ihrem Fall bedeuteten die „literarischen Errungenschaften“ über hundert veröffentlichte Werke – Kurzgeschichten, Romane, Dramen, Essays, Kinder- und Jugendbücher, Poesie – über hundert veröffentlichte Werke in etwa vierzig Jahren Arbeit. Joyce Carol Oates lebt wirklich im Schreiben und vom Schreiben: Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet sie als anerkannte und angesehene Professorin für Kreatives Schreiben 30.4.2011. 17:53:05 154 Andrea Zlatar: Berührungen, Berührungen an der Universität in Princeton. Als die Kritik Erklärungen zur Verleihung des Literaturpreises abgab, hörte man Lobgesänge, als ob es sich um eine Aktivistin in Fragen des Weltfriedens oder der Menschenrechte handle: J. C. Oates ist eine Kämpferin für die Wahrheit. Sie ist eine Kämpferin für die Ehre – genauer gesagt, für den Rest der Ehre, der Rechtschaffenheit und der wahren Werte in der modernen Gesellschaft. J. C. Oates ist der Wirklichkeit zugewandt und setzt sich mit ihr auseinander, spricht wie eine Heldin aus einem ihrer Romane: Niemand wollte, dass ich weiß. Nur ich wollte wissen. Vergewaltigung ist so ein Thema: niemand will wissen, ich muss wissen. Im Roman Vergewaltigung: eine Liebesgeschichte ist die Suche nach Wahrheit die Grundlage der Handlung: Die Zeugin der Vergewaltigung ihrer Mutter ist zunächst die einzige, die die Wahrheit weiß. Die Mutter, das erste Opfer, erfährt die Wahrheit allmählich, als sie sich im Krankenhaus vom Angriff erholt; die lokalen Behörden, die Polizei und die Gerichte – einige wollen die Wahrheit erfahren, einige nicht. Und natürlich die Angreifer, eine achtköpfige Bande, sie wissen, was wirklich passiert ist, aber wollen nicht, dass es in der Öffentlichkeit bekannt wird. Und die Öffentlichkeit stellt die Gemeinde eines Provinzstädchens dar, verschlossen, voller Vorurteile und „mit nervösem Finger“, wenn es darum geht, die Schuld im Voraus auf jemanden zu wälzen. Das Opfer hat Schuld. Vergewaltigung: eine Liebesgeschichte ist ein Roman, der vom Titel an Paradoxe aufstellt. Im Roman offenbart sich Liebe durch Ängste, Unsicherheit, Schmerz – durch Formen ihres Unglücks, als Angst vor dem Verlust einer geliebten Person, als Unsicherheit, ob wir die Wahrheit ertragen können, als Schmerz bei der Erkenntnis, dass es nie wieder so wie früher sein wird. Dieses frü- Relation 1_2011.indd 154 her, die Zeit des glücklichen und unschuldigen Erwachsenwerdens, die Zeit des entspannten Lebens, ist zertreten und zu Fall gebracht worden mit Schlägen, mit denen Teena Maguire während der Vergewaltigung fast getötet worden wäre. Der Romanschreiber ist oftmals wie ein Historiker, sagt J. C. Oates, denn er sucht nach Wegen, dem, was vergangen ist, eine Stimme zu geben, sogar wenn es sich um die nächste Vergangenheit handelt, um die Zeit, in der wir leben und die durch Gewalt als Antwort auf alle Probleme gebrandmarkt ist. Denn Erinnerung ist, so die Autorin, ein moralischer Akt. „Ihr könnt wählen, euch zu erinnern. Ihr müsst es nicht.“ Die Romane von J. C. Oates sind in ihrer Erzählart anders, denn jede der Welten, die sie darstellt, sucht nach einer eigenen Struktur des Ausdrucks. Obwohl die Leser ihren oftmals herben und unmittelbaren Stil erkennen können, und insbesondere die zwanghafte Bindung an bestimmte soziale Themen, einzeln und im Besonderen, die Thematisierung der Position der Frau, hat für J. C. Oates jede Geschichte ihre ideale Form und es ist an ihr als Erzählerin, sie zu entdecken. Im Roman Vergewaltigung: eine Liebesgeschichte entscheidet die Autorin, die für Romane selten benutzte Form der zweiten Erzählperson zu benutzen: ein Teil der Geschichte ist direkt an die Figuren selbst gerichtet (Teena, der Polizeibeamte Dromoor) und am meisten an das Mädchen Bethel, Teenas Tochter, die Zeugin des Angriffs. An jene, deren Kindheit endete, als sie zwölf Jahre alt war. Mit der Berührung, die sie gesehen hatte und die ihre wurde. Um verletzt zu werden, muss man dich nicht einmal im wörtlichen, physischen Sinne berühren. Abneigung beginnt vor der Berührung, im Blick, Geruch, Urempfinden des anderen als in seiner Nähe ungewollten. RELA TIONS Das aufgeschobene Leben, Dystopie des Glücks Ich sitze am Tisch auf einer mit Klebsamen und Schilf umgebenen Terrasse, etwa fünfzehn Kilometer von Dubrovnik entfernt, lausche den Vögeln. Der Rechner stößt seine leisen Geräusche aus, von Zeit zu Zeit lautere – dann, wenn er sich vorübergehend ausschaltet, was eigentlich heißt, dass ich weniger denke, oder, überhaupt nicht schreibe. Diese Vögel, früh morgens, mitten am Tag, Punkt Mittag, etwas leiser. In der Nacht, wenn man sie beim zufälligen Aufwachen hört, als reinen Nachtlaut, durchdringend, ihr Gesang tritt in die Seele ein, unmittelbar, ohne irgendein Hindernis, ohne irgendeine Grenze zwischen mir und der Welt, zwischen der Nacht und mir, zwischen der Luft, dem Klang und dem, was der Körper sein sollte und, einen Moment lang, sein Gewicht verliert. Diese unendliche Einsamkeit und Kraft der Nacht. Man hat mir den Auftrag gegeben, über meine Illusionen zu schreiben. Über „große Illusionen“, wohl wie über „große Erwartungen“, darüber, was der Mensch erwartet, wenn er dreizehn, vierzehn, fünfzehn oder einige Jahre älter ist. Erinnere ich mich an irgendwas? Woran erinnere ich mich? Ich erinnere mich am meisten an ein Gefühl, das auch jetzt nicht vergeht, ich kann es mir herwünschen, es kann von selbst auftauchen, plötzlich, aber in besonderen Augenblicken. Ich weiß auch in welchen: Wenn man ins Meer geht und weit davonschwimmt, eintaucht und mit offenen Augen zur Oberfläche zurückkehrt. Ebenso: Wenn du dich am Gipfel eines sonnenbeschienenen Berges befindest, auf dem Schnee, in der Sonne, mit der Möglichkeit, langsam, alleine in die Eroberung des Raums aufzubrechen. Das ist das Gefühl: Das Gefühl vollkommener Freiheit, das Gefühl, dass du und alles um dich herum, diese so genannte Natur, das ihr das selbe seid, ohne Grenzen dazwischen und grenzenlos vereint. Dieses selbe Gefühl in einem Traum: Wir fliegen auf Ballons, 30.4.2011. 17:53:05 RELA TIONS zwei Freunde und ich, wir schweben über Feigen- und Kiefernhainen und Wiesen einer ungennanten nördlichen Insel, wir schweben in einem Gefühl des Glücks und dieses Gefühl sagt uns: wir sind anwesend, wir sind hier, wir sehen alles. Nichts zieht uns an den Grund, nicht einmal die Erde unter uns sieht schwer aus. Wir sind einfach. Da, das ist die größte Illusion, die ich als Kind empfunden habe – jemand, der an der Schwelle des so genannten ernsthaften Lebens steht. Die Illusion, dass die Welt mir gehört, dass alles machbar ist, dass die Welt und ich ein und dasselbe sind, ganz. Ich träume eigentlich nicht, dass ich fliege. Das war mein einziger Traum, so gegen fünfundzwanzig. Ich träume von Blödsinn, vom Alltag bestehend aus einer Mischung von Häusern, Treffen, Streitereien, Einkäufen, Verwandtschaft, selten etwas Schönes, etwas Überragendes, etwas, was Metaphysik ist, jenseits der Natur, jenseits der Schwere von Erde und Körper. Andersartige Tage, wie sehen die aus. Sie sind nicht von Luft gekennzeichnet, sie sind eher von Wasser gekennzeichnet. Flut, Regen, Tränen, Ertrinken. Die Angst, dass alles schon unreparierbar ist. Die Angst, dass das was ich jetzt spüre die einzige Wirklichkeit ist, die, die ich nicht von mir schieben kann, die abgeschlossene. Die Angst, dass ich Bedrücktheit gewählt habe, Scheu gewählt habe, Furchtsamkeit gewählt habe. Ich weiß nicht, wann das passiert ist, ich weiß nicht, wann die Angst Einzug erhalten hat, aber sie ist eingezogen und sie ist hier. Die Grenze ist aufgestellt, ich selbst bin die Grenze. Ich sehe Dinko an, er wird in ein paar Monaten vierzehn, wie er einfach in seinem Leben existiert, wie ihn das Existieren und das Leben überfluten, wie eingenommen er davon ist, sich nicht einmal bewusst ist, dass es etwas zwischen ihm und dem Leben gibt. 8 Essay Alles erscheint ihm natürlich, er spürt nicht einmal, dass es natürlich ist. Es gibt keinen Unterschied, keine Grenze zwischen ihm und dem Leben, ihm und seinem selbst. Für mich ist alles das Andere. Er wacht einfach ins Leben auf, er wacht in den Tag hinein auf, er hungert nach diesem Leben. Mir hingegen erscheint alles wie hinter einer Grenze: fern oder abstoßend oder wie in einem Nebelschleier. Ich bin mir selbst Grenze, bin mir selbst Gewicht, bin mir selbst Schwere. Alles ist immer außerhalb von mir. Lange schon, außer für einen Augenblick, ein Gefühl der Erfüllung, des Glücks, dessen, dass ich mir nahe bin, dass ich dem Leben nahe bin. Aber schon sehr, sehr lange nicht, dass ich das ganze Leben bin. Dass ich aus voller Lunge einatme und sage, das ist es. Einige Augenblicke der Gemeinsamkeit in der Berührung, das Gefühl der Ruhe und Macht im Schnee, das war immer, wie auch die ersten Streifzüge ins Meer, das ist es, woran sich der Körper erinnert. Aber der Körper, dieser Körper, erinnert sich an immer weniger, verlangt immer weniger. Und im Kopf Tränen. Die Augen rot. *** Das Leben ist woanders, das ist das Schlagwort meiner Generation. Nicht so sehr im Raum, im realen Raum, wir haben damit aufgehört, uns das Leben vorzustellen in London, Paris. Oder Lissabon. Im zeitlichen Sinne: Das Leben ist woanders, einmal woanders wird auch dieses Leben, das richtige und ausgefüllte, geschehen. In einer mit unserer parallelen Welt, die wir uns auch dann vorstellen, wenn wir denken, dass wir total in die Realität eingegraben sind. Es wird uns unser, dieses ersehnte, imaginäres Leben zustoßen, in dem Leben, das es nicht gibt und doch denken wir irgendwie trotzdem, es wird, es wird eines Tages. Aufgeschobenes Leben, das ist das richtige Wort. 155 Das ein anderes Mal passieren wird, irgendwo anders. Wir müssen nur noch dies und das machen, wir müssen die Betten machen, wir müssen das Arbeitspensum absolvieren, wir müssen mürrisch sein, wir müssen uns streiten und dann später unzufrieden sein. Und unglücklich. Oder nicht völlig, weil dieses „aufgeschobene Leben“ irgendwo auf uns wartet? Hinter der Ecke des gewohnten Wegs, hinter der Ecke des tödlichen Rituals des Alltags? Wie es der Zufall will, lebe ich mit einem Mann zusammen, der um einiges älter ist als ich. Ich weiß, dass niemand weiß, wie viel Zeit ihm in diesem Leben noch bleibt, aber gleichzeitig weiß ich ebenso, ganz real, dass wir keine Zeit für ein aufgeschobenes Leben haben. Dass unser Leben hier und jetzt ist, jeden Tag aufs Neue. Manche Tage sind utopisch, andere dystopisch. Vom Glück zum Hass und zurück. Utopie, räumliche Utopie, wird so leicht zu zeitlicher Utopie. Ein goldenes Zeitalter, das allem voranging, Das Paradies, das die Vergänglichkeit unserer einzelnen wirklichen Leben überwölbt. Das Fegefeuer, durch das man gehen muss, wie ein Vorzimmer oder ein großer Warteraum zu Dem Paradies. Andere und andersartige Räume, die wir selbst bauen: unsere Fantasie, ein Bett, das zu einem Schiff wird, ein Tisch zur Erdkugel. Das sind, würde Foucault sagen, heterotopische Räume, Gegenräume der Räume die gegenexistent sind. Heterotopische Räume sind, wie sie Foucault definiert, Arten lokalisierter Utopien: wir denken immer an Länder, die nicht ihren Platz haben, an Städte, die nicht ihren wirklichen Raum haben, diese Nicht-Orte entstanden in unseren Köpfen, manchmal aus unserer Angst, manchmal aus der Leere unserer Herzen8. Gegenräume, Räume, die den existierenden gegenübergesetzt sind, unterscheiden sich von klassischen Utopien dadurch, dass sie in Begriff und Bilder wurden aus Foucaults Vorlesungen „Heterotopien und Utopien“ übernommen, die an der France Culture im Dezember 1966 gehalten wurden. Relation 1_2011.indd 155 30.4.2011. 17:53:05 156 Andrea Zlatar: Berührungen, Berührungen unserem Alltag lokalisiert sind. Für ein kleines Kind wird so einen Gegenraum ein dunkler Keller oder Dachboden darstellen, manchmal auch das große Elternbett, dessen Decken sich leicht in Wellen eines gefährlichen Ozeans verwandeln können. Friedhöfe und Asyle, Gefängnisse und Krankenhäuser stellen ebenfalls Heterotopien dar, aber ebenso auch Theater, als durch Geschichte gekennzeichnete Heterotopien oder moderne Bibliotheken und Museen, Archive, die mit ihrer Tendenz, an einem Ort alles aus jeder Zeit anzuhäufen, mit ihrer Tendenz, durch eine andere Strukturierung geschichtlichen Raum und Zeit auszulöschen, stellen exemplarische Heterotopien des Zeitgenössischen dar. Denn die Kraft der Heterotopie liegt darin, dass sie die Wirklichkeit herausfordert, sich ihr widersetzt, sie auslöscht. Ich erwähne die Heterotopie immer: wenn ich über die Stadt schreibe, wenn ich über mich schreibe, wenn ich über uns schreibe. *** Irgendwie glaube ich an nichts mehr. Ich habe das, was ich sehe: den singen- Relation 1_2011.indd 156 den Vogel, die Hand, die mir ein Glas reicht, den Wasserkrug, das Handy, das glücklicherweise nicht klingelt, das zerknitterte Kleid, die Übelkeit vom Flug letzte Nacht, die Sehnsucht dich wiederzusehen. Das Haar, das morgen müde sein wird, die Augen, die ich nicht werde öffnen wollen. Wenn ich meine Augen fest schließe, wenn ich atme, zunächst langsam und seicht, dann immer leiser und tiefer, kann ich dieses Gefühl bekommen, dass die Welt und du und ich eins sind. Ich kann nachts atmen, ich kann in die Nacht atmen, der Stille lauschen, über die Einsamkeit, die Vollständigkeit garantiert, wachen. Dieser Raum, den es nirgendwo gibt, ich kann ihn in mir unterbringen, in uns. Auch jetzt hat ein Vogel gesungen. Ich sage „ein“, denn ich unterscheide ihre Stimmen nicht, ich kenne nur eine Amsel persönlich, eine große, mit einem noch größeren Schnabel, die uns letztes Jahr jede kurz vor dem Reifen stehende Feige angeknabbert und die wenigen gelben Trauben weggepickt hat. Ich glaube, sie macht schon ihre Runde im Gelände, kontrolliert es, das ist sicher. RELA TIONS Eines Morgens, denke ich, werden wir sie auf dem Boden unter der Feige finden, mit aufgedunsenem Bauch, auf dem Rücken, vielleicht glücklich, vielleicht tot. Ich weiß nicht, wie weit das Gedächtnis bei Vögeln reicht, es ist unterschiedlich bei unterschiedlichen Tierarten. Ich denke, dass menschliche Wesen etwa dreißig Prozent ihrer Gehirnfähigkeiten für das Gedächtnis nutzen. Wenn wir uns vollkommen erinnern würden, an alles – ich weiß nicht, ich würde gerne so ein Leben ausprobieren. Oder vielleicht doch, vielleicht glaube ich doch. Vielleicht glaube ich Foucault, der gesagt hat, dass unsere Heterotopien, dass unsere imaginären und aufgeschobenen Leben, in unseren Köpfen entstehen, aus Angst oder Leere in den Herzen. Aus der Leere im Herzen. Aus Angst. Aus dem Kroatischen von Marijana Miličević Hrvić 30.4.2011. 17:53:05 TIONS 157 Foto: © Višnja Arambašić RELA Relation 1_2011.indd 157 30.4.2011. 17:53:06 158 Schattenwelt [Auszug] Nenad Popović N ach spätestens zehn oder zwanzig Jahren wird der Gastarbeiter zu seinen Leuten zu Hause sagen: Aber ihr unternehmt ja auch nichts, um euer Leben zu verbessern; dort wo ich bin, arbeitet und strengt man sich viel mehr an. Die Gesellschaft in der Heimat wird gleichermaßen erwidern und spotten, da sieht man es ja, er ist schon ganz wie die Deutschen dort, er redet wie ein echter Švabo; er hat leicht reden, die dort werden alle zusammen einfach besser bezahlt für dieselbe Arbeit. Die Repliken sind absurd, denn da reden zwei Invaliden miteinander. Die eine wie die andere Seite greifen zu psychologischen Tricks. Sie können sich nicht eingestehen, dass das Leben tatsächlich weitergegangen ist, dass der Weggang eines Familienmitglieds oder eines Nachbarn aus der Straße aus Not erfolgt ist. Dass der Weggegangene zu einem Gutteil sozial gestorben ist. Durch seinen Weggang wurden Gefühle und Würde beschädigt, das Selbstwertgefühl aller Involvierten. Der Weggang als Gastarbeiter ist immer ein trauriges Ereignis. Plötzlich bleibt ein Platz leer, einfach so, ohne dass Tod, Krankheit oder etwas ähnliches mitgewirkt hätten. Einer verlässt die Szene, geht in die Garderobe, verschwindet durch den Hinterausgang. Die Gesamtheit der psychologischen Kompen- ... Relation 1_2011.indd 158 NENAD POPOVIĆ, geboren 1950, ist Verleger (Durieux, Zagreb) und Über- setzer aus dem Deutschen. Er schreibt auch Kritiken und Essays für Zeitungen und Zeitschriften in Kroatien, Bosnien und Herzegowina, im deutschsprachigen Raum und in Ungarn. 2008. erschien sein Buch über Gastarbeiter „Svijet u sjeni“ (Schattenwelt) im Verlag Pelago, Zagreb. Er leitet die Literaturzeitschrift Fantom slobode (Phantom der Freiheit). Im deutschsprachigen Raum hat er zwei Anthologien herausgegeben. Die Verteidigung der Zukuft, Folio, Wien ... (zusammen mit Freimut Duve); das Buch wurde mit dem Bruno-Kreisky Annerkennungspreis für das politische Buch ausgezeichent. Seine Anthologie Kein Gott in Susedgrad. Neue kroatische Prosa“ erschien im Schöffling Verlag, Frankfurt/M. 2008. sationen gegenüber den Gastarbeitern und dem Gastarbeitertum, die sich nach dem Weggang verstärken – Aggressivität, Verachtung, Hohn, Gefühle und Demonstrationen von Übermacht, „Mitleid“ usw. – hat ihren Ausgangspunkt im psychologischen Knoten des Aktes und des Augenblicks des Weggangs. Denn das hat alle betroffen, das war eine kollektive Niederlage, ein grausamer Blitz der Wahrheit. Und bei den Beteiligten das Bewusstwerden der eigenen Ohnmacht, ein trauriges Ereignis zu verhindern, den Weggang eines von ihnen. Der Umwelt, die der Gastarbeiter verlassen hat, bleibt nichts anderes übrig, als zu verschiedenen Mystikationen Zuflucht zu nehmen, bis hin zur populären Ethnopsychologie. Der Švabo spart und isst nichts – nicht wie wir, die wir ständig Schweinebraten essen und Gespritze trinken (in der mediterranen Version drehen wir junge Lämmer am Spieß und trinken schweren Rotwein, legen Fische auf den Grill), der Švabo ist nur am Arbeiten und denkt nur ans Geld, aber wir verstehen zu leben, wir sind begabte Bonvivants, die bei der Arbeit ihren Spaß haben, bzw. Supermänner – wenn es sein muss, drücken wir aufs Gas, und das, wozu sie acht Stunden brauchen, erledigen wir in zwei Stunden. Der Švabo ist dumm und unfähig, wir sind klug und fähig. Štef, der uns am Anfang gefehlt hat, ist, nun, mit einem Mal ein Idiot geworden. Ein Švabo, ach was, noch schlimmer, ein Jugošvabo. Guck dir den Mercedes an und die blöde 30.4.2011. 17:53:06 RELA TIONS Švabica, die er geheiratet hat. Was natürlich ein bewusster Selbstbetrug und eine Lüge ist. Weder haben sich Jozo und Štef verändert, noch wird in der Mehrheit der europäischen Länder „blutig“ malocht. Nämlich 43 Stunden wöchentlich, und in Frankreich 36, und wer Überstunden macht, kriegt das Doppelte. Aber von der Arbeit in der Schweiz oder in Deutschland muss man sagen, dass sie „blutig“ ist. Um nicht zu sagen, dass sie normal ist, denn das würde bedeuten, dass wir vor uns selbst zugeben, dass unsere Arbeit und unser Leben subnormal sind. Die Frage aller Fragen: Wer ist normal geblieben? Die, die weggegangen, oder die, die geblieben sind? Der Gastarbeiter ist jedenfalls kein dummer Švabo, noch ist der Kroate ein Supermann. Der Gastarbeiter ist nur fleißig und gleicht nur die verlorene Zeit und die schlechtere Startposition aus. Aber gerade anhand dieser Linearität und Eindeutigkeit wird er sich immer mehr von den Kollegen unterscheiden, mit denen er in Kroatien gearbeitet hat. Seine Landsleute, die jugoslawisch-kroatischen „Industriearbeiter“ von Bedekovčina bis Solin, haben sich zu dem entwickelt, was die Italiener semirurali nennen. Sie haben sich im Grunde de-industrialisiert, sie sind aus der modernen Zeit herausgefallen, oder in ihr nie angekommen. Während der Gastarbeiter Überstunden schiebt, gehen sie nach der Arbeit aufs Feld oder in den Weinberg, im Dezember wird bei ihnen geschlachtet, und hinterm Haus hält die Hausfrau ihre Hühner, im Sommer vermieten sie ihr Schlafzimmer. Semirurali und ihr südländischer Trost: Wir trinken unseren Wein, wir stellen einen Schnaps auf den Tisch, den wir selbst gebrannt haben! Das Huhn ist von zu Hause, die Würste habe ich gemacht, und auf dem Dachboden, auf dem Dachboden! – versteht sich, da hängt der Pršut, diesen Schinken habe ich habe Relation 1_2011.indd 159 1960er, 1970er, 1980er selbst gemacht, der Vater hat an die Schweine nur das Beste verfüttert. Während da oben alles ohne Geschmack ist, da scheint keine Sonne, da wächst nichts, dort ist Pršut kein Pršut, dort ist Käse kein Käse, dort gibt es nicht einmal Lämmer (geschweige denn eigenhändig geschlachtete und abgezogene), die müssen alles im Supermarkt kaufen, und die Sachen taugen nichts. Das sieht man daran, dass sie so billig sind. Arme, erniedrigte Milieus erzeugen gegenüber entwickelten und reichen eine spezielle Kompensationsbeziehung, in die sie dann auch ihre Gastarbeiter eingschlossen haben. Die Kompensierung besteht auch im in der Umkehrung des Machtverhältnisses. Die evident reicheren Italiener, Österreicher und Deutschen sind verachtete Gäste, denn sie zahlen im Restaurant (du streckst ihnen den Hummer mit Hühnerfleisch), die Nichtwisser trinken unseren schlechtesten Wein, braten in der Sonne, während wir ihnen nur die Kohle abnehmen und, versteht sich, ihre Töchter vögeln. Jeden Abend. Die evident ärmeren, aber kulturell höher stehenden Tschechen und Ungarn werden ebenfalls verachtet, aber wegen ihrer Unterversorgung: Sie schlagen ihr Zelt in meinem Olivenhain auf, bringen ihre Konserven mit, schlafen an der Straße, klauen Kartoffeln. Und auch diesmal vögeln wir die jungen Tschechinnen und Ungarinnen (dieses Mal von oben, so wie man einstens junge Zigeunerinnen gevögelt hat). Diese überwiegend rassistischen Kompensierungen sind stärker als die politischen Systeme und haben die innere Xenophobie gegenüber den Gastarbeitern vereint mit der klassischen in der kompensatorischen, aggressiven Idee von sich selbst und anderen vereint. Unserem naiven Maler zahlt der persische Schah-in-Schah Hunderttausende Dollar für ein Ölbild hinter Glas, wir haben im Zweiten 159 Weltkrieg die Deutschen, die Italiener und die Japaner besiegt, und gleich danach noch die UdSSR, unser Meer ist das schönste, unsere Flüsse zwischen Biokovo und Durmitor sind ein Wahnsinn für Rafting. Unser Stepinac, unser Mehmed-paša Sokolović, unser Ivan Meštrović. Die in Volk und Staat gehegten Minderwertigkeitskomplexe haben der Authentizität Jugoslawiens den faschistoiden Originaljargon gegeben – und die Reitpeitsche haben auch die Gastarbeiter um die Ohren geschlagen bekommen. Die Soft-Variante lautet: Auf der idyllischen Mole eines kleinen Ortes in Dalmatien sitzen zwei ältere Männer und angeln. Einer ist ein Rückkehrer, der Jahrzehnte in Amerika gearbeitet hat. Der andere hat sein ganzes Leben in dem Ort gelebt. Dialog: Der Rückkehrer erklärt, wie er sich sein ganzes Leben hat bei der Arbeit quälen müssen, er preist sich, dass er endlich zu Wohlstand und einer Rente gekommen ist und jetzt gelassen auf der Mole sitzen und angeln kann. Der andere gibt zurück: Und ich habe mich nicht von hier wegbewegt, und jetzt sitze ich genauso ruhig hier mit dir und angele. – Der Kult der asiatischen Passivität auf der dalmatinischen Mole mittels Verhöhnung des Arbeiters ist der Ausdruck eines kranken Bewusstseins bei den Menschen, denen fortschrittlichere oder glücklichere Zivilisationen zu nahe sind, an denen die eigene Armseligkeit und Zurückgebliebenheit allzu messbar sind. Der Einzelne, der die dünne Membrane bis zur Nachbarzelle durchbrochen hat, muss psychologisch niedergeknüppelt werden. Der Gastarbeiter muss dumm sein. Dumm auch in seinem Glück, dass er zurückgekehrt ist und wieder auf der heimischen Mole sitzt – zumindest belehrt ihn in diesem Sinne diese Volksanekdote: Was hast du das alles nötig gehabt. Du hast dein Leben verfehlt. 30.4.2011. 17:53:06 160 Nenad Popovi}: Schattenwelt Während die Wirklichkeit anders ist: Vera Kamenko war aus Jugoslawien suchte nach Arbeit, doch da war gar nichts drin außer im Westen, da suchten sie noch Fraun. Sie hatte ein Kind und der Mann war abgehaun. In Westdeutschland gabs Arbeit, die Sprache unbekannt Sie suchte bei Männern im Bett, was sie nicht fand Sehnte sich nach Hause, nach Mutter, Land und Kind suchte nach Wärme im Leistungslabyrinth. RELA TIONS Ihr Leben aufgeschrieben hat sie für jede Frau damit die ihre Lage ein bißchen besser sieht und daß mit ihrem Leben nicht das Gleiche mal geschieht Manchmal denkt sie an Deutschland und sehnt sich nicht zurück Sie hat es aufgegeben, die Suche nach dem Glück.1 Die Arbeit, die sie machte, die war der letzte Dreck Doch sie war immer pünktlich, das Geld schickte sie weg nach Hause zur Familie und das, was übrig blieb bezahlte sie fürs Essen und Wohnheim im Betrieb Unter vielen Männern schien einer Kavalier der kam aus der Türkei und dem ging es fast wie ihr Sie zog in seine Bude, war bißchen primitiv Der Anfang lief ganz gut, doch dann ging alles schief. Er hat sie oft geprügelt, wenn es ihm dreckig ging Sie sehnte sich nach ihrem Sohn, an dem sie schrecklich hing Da ist sie weggelaufen in eine andre Stadt und suchte wieder Wärme, die man im Eis nicht hat Der Mann hat sie gefunden nach ein paar Tagen schon Wenn sie nur wiederkäme von ihm aus auch mit Sohn wollt er sie nie mehr schlagen, er brauchte sie so sehr Doch schon nach einer Weile war alles wie bisher. Sie nahm am Urlaubsende den Sohn nach Westberlin Das Kind war viel alleine und voller Eigensinn Sie arbeitete täglich auch noch nach Arbeitsschluß und dachte, daß der Junge sie glücklich machen muß Der Mann schlug all sein Elend in das Gesicht der Frau Ein Zimmer für drei Menschen, das Kind schlug viel Radau verstand die fremde Sprache nicht und schien ihr undankbar Sie konnte nicht ertragen, daß da kein Ausweg war. Das Kind war ungezogen und machte sie verrückt Vier Jahre und ein halbes hat sie dafür gekriegt weil sie das Kind verprügelt hat, bis es still liegenblieb Sie hat den Sohn erschlagen und hatte ihn doch lieb Ihr Leben war gelaufen, in ihr war alles tot da hat Keiner geholfen aus dieser schlimmen Not Und das passiert mit Menschen, die sind in unsrer Welt Die machen uns die Dreckarbeit für’n bißchen deutsches Geld. Sie wurde abgeschoben nach zweieinhalbem Jahr fand endlich eine Arbeit, wo sie geboren war Von Montag bis zum Freitag schrubbt sie jetzt auf dem Bau Nenad Popović 1 Bettina Wegner (1947), bekannteste deutsche Kantsängerin. Nachdem sie 1968 in der DDR gegen die Intervention der Warschauer-PaktStaaten in der Tschechoslowakei demonstriert und 1976 gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann protestiert hatte, wurde sie 1983 nach zahlreichen Verfolgungen und Schikanen in die BRD abgeschoben. Sie hat zahlreiche Alben aufgenommen und mehrere Bücher veröffentlicht; sie lebt in Berlin. Relation 1_2011.indd 160 30.4.2011. 17:53:06 RELA TIONS In der männlichen Variante sieht der Gastarbeiter, according to Trumbetaš, so aus: Er ist männlichen Geschlechts. Er ist zwischen fünfundzwanzig und vierzig Jahre alt. Er ist Arbeiter, lebt in einem bescheidenen Mietzimmer, unter dem Bett oder auf dem Schrank hat er einen Koffer, im Portemonaie ein Foto seiner Familie oder seines letzten Mädchens, sein privater Mikrokosmos besteht aus einer Kochplatte, einem Wecker, zwei Töpfen und Tellern, einem Fernseher und ein paar alten, zehn Mal durchgelesenen Illustrierten. Er ist das Bild und Gleichnis eines schweigsamen, in Wirklichkeit stummen Einzelgängers, der morgens auf dem Bahnsteig der Vorortsbahn oder an der Haltestelle des Busses steht, der ihn ans Fabriktor bringen wird. Nachmittags kauft er im nahen Supermarkt schweigend und uninteressiert zwei, drei Lebensmittel und geht davon in die Welt seiner stummen Abende. Er legt nicht viel Wert auf seinen Anzug, aber am Samstag, falls er keine Überstunden macht oder noch etwas unterwegs erledigt, auf jeden Fall aber am Sonntag geht er zum Bahnhof, um ein Wort mit seinen „Landsleuten“ zu wechseln, eine Zeitung zu kaufen, vielleicht geht er zu Mittag essen, ins Kino oder zu einer Partie Fussball und besichtigt mit jemandem Gebrauchtwagen. (In Deutschland heißt es von älteren, verschlissenen Autos, dass man sie nur noch an Gastarbeiter verkaufen könne, und für zwanzig Jahre alte größere Autos gibt es auch die Bezeichnung „Gastarbeiterauto“.) In zwei monumentalen Grafikserien aus den achtziger Jahren hat diesen Archetyp der malende Autodidakt Dragutin Trumbetaš, auch sonst Beschreiber und Chronist der Gastarbeiterwelt, exemplarisch eingefangen. Seine zentrale Figur ist ein vereinsamter, sich selbst überlassener Mann inmitten und „am Boden“ einer kalten und depersonalisierten Zivilisation. Relation 1_2011.indd 161 1960er, 1970er, 1980er Indessen wäre es gut, wenn es so wäre. Denn die Entfremdung, die Traurigkeit dieser Männer suggeriert auch eine andere, eine helle Seite. Irgendwo wartet zu Hause eine treusorgende Frau auf sie, und die gute, sonnige Heimat. Die virile Welt ohne Eros und die erniedrigende Sexualität im Gastarbeitrbordell wird sich dort in einem reichen Spektrum positiver Emotionen auflösen. Solche Männer werden sich entspannen, ihre grotesk verkrampften Gesichter werden sich zu einem Lächeln verziehen: Die erste Woche zu Hause werden sie auf der Wiese mit den Kindern spielen, einen Spaziergang durchs Dorf machen und sich herzlich mit den Nachbarn begrüßen, im Zagreber Arbeiterviertel werden sich alle um sein Auto versammeln, das er entspannt wäscht, werden dies oder das kommentieren, gemeinsam auf einen gemišt – eine Gespritzten – und nach dem Mittagessen alle zusammen ins Dinamo-Stadion gehen, zum Spiel, zur schönsten Nebensache der Welt. Der ganz andere Sonntag: Der Gastarbeiter nimmt teil am fussballseligen small talk, ihm wird die Karte abgerissen wie jedem anderen, und er findet endlich seinen Platz auf der überfüllten Tribüne unter seinen Leuten. Zehn Minuten vor dem Anstoß wird die Stimme des Stadionsprechers ihn und alle anderen mit einem langsamen, erregenden Aufzählen der in Kürze auflaufenden Dinamospieler überschwemmen. Da, Kranjčar ist aufs Feld gelaufen. Mit allen zusammen steht auch der Gastarbeiter energisch auf und klatscht. Das sind Unsere, das sind wir. Die Karte hat ihn fast nichts gekostet, er ist in voller Kraft. Zu Hause, versteht sich, wartet nach dem Spiel auf ihn die junge Frau. Aber die Welt ist nicht Kundera. Die Vorstellung vom Gastarbeiter, der seine Abwesenheit als Militärdienst oder Schwerstarbeit erlebt, ist eine psychologische Konstruktion, und 161 Dragutin Trumbetaš ist nun einmal ein politisch engagierter Künstler, der seine Gründe hat, seinen Protest und sein Zeugnis extrem und drastisch zu formulieren. Kapitalismus und kapitalistische Gesellschaft sind Wörter aus dem ahistorischen staatlich-sozialistischen Diskurs, die nur durch ein Spiel des Zufalls ihren festen Platz in dem Imaginarium gefunden haben, das sich in dem der hypermoderne marxistische Philosoph mit Lehrstuhl an der Philosophischen Fakultät und der Viehhirte im abgelegenen dalmatinischen Bergland teilen völlig übereinstimmend – dass in der kapitalistischen Welt des Westens der Mensch entfremdet ist. Dragutin Trumbetaš ist unser einziger Künstler, der sich konsequenterweise nicht nur über das Gastarbeitertum, sondern über die Arbeiterthematik im Allgemeinen geäußert hat. Irgendeine Rezeption, außer vereinzelten Gesten Božo Biškupićs als Herausgeber seiner grafischen Mappen, hat er nicht erlebt. Sie ist ausgeblieben. Die Explosivität seines Themas hat einzig das Theater KPGT Ljubiša Ristićs in den achtziger Jahren genutzt. Die suggestiven Zeichnungen von Trumbetaš erschöpfen das Thema eben doch nicht. Teils wegen des männlichen Geschlechts seiner Helden, teils wegen der Assoziation mit dem Gegenteil, das die Darstellungen vereinsamter Männer suggerieren: Automatisch rufen sie das Bild der Frau (Mutter, Schwester) herauf, die den Herd hütet, während er dort ist. Denn, vor allem aus jenen Teilen Jugoslawiens, wo Emanzipation und Not die patriarchalen Tabus überwunden haben, gehen auch Frauen zur Arbeit ins Ausland. Das sind nicht nur Schwestern, Töchter von jemand, der bereits dort ist, oder Mädchen, die zuerst saisonweise, dann für ständig in den Hotels aufräumen oder als Kellnerinnen arbeiten werden, Krankenschwestern, die im Westen wegen der schweren 30.4.2011. 17:53:06 162 RELA Nenad Popovi}: Schattenwelt Nachtarbeit und der schlechten Bezahlung wie Gold gesucht werden. In den Sechzigern und Siebzigern wurden – unter Assistenz unserer „Arbeitsämter“ – junge Frauen massenhaft rekrutiert und mit Zügen zur Arbeit an den großen Fließbändern der Leichtindustrie transportiert. Auch heutzutage genügt ein Besuch auf einem größeren Busbahnhof. Mehr als die Hälfte der Fahrgäste auf den Gastarbeiterrouten sind Frauen. Ihre Unsichtbarkeit ist von Anfang an eine zweifache. Frauen sind diskret. Sowohl beim Weggang – bei ihnen gibt es nicht jene minimale heroische Beziehungsweise sie arbeitet, bis sie heiratet oder maximal, bis sie zum ersten Mal schwanger wird. Außerdem ist die Unsichtbarkeit der Gastarbeiterinnen auch eine Frage der Grauzone, in der sie massenhaft beschäftigt werden. Sie bilden das unsichtbare Heer überwiegend illegal beschäftigter Putzfrauen, Aufräumerinnen, Haushaltshilfen, Frauen, die sich um Kinder, Ältere und Behinderte kümmern, Tellerwäscherinnen in Restaurants und Kantinen, Büglerinnen in den Tiefen der chemischen Reinigungen. Im Vergleich mit ihnen haben die Gastarbeiter vor dem Nenad Popović Aufladung, die man eventuell dem Mann zuschreiben könnte, wenn er hingeht, um etwas „mit seinen Händen“ zu machen – und bei der Rückkehr. Sie werden vom ersten Tag an alles tun, um unauffällig zu bleiben. Und daran werden Gott weiß auch die Aufnahmeländer arbeiten. Nicht nur, dass sie für schlechtere Arbeit auch schlechter bezahlt werden, Unbehagen erweckt auch die Tatsache, dass sie arbeiten. Zur Zeit des Wirtschaftsbooms im Westen – bis zu den Neunzigern – arbeitet die Gattin nicht, sie ist Hausfrau, und der Mann kümmert sich um das Geld. Relation 1_2011.indd 162 Münchner oder Frankfurter Hauptbahnhof zumindest eine Silhouette. Sie haben nicht einmal das. Von ihnen weiß hier und da eine Nachbarin. Dabei sind unsere Frauen für häusliche Arbeiten besonders geeignet. Sie kommen aus ähnlich kodierten Zivilisationen, ihnen braucht man nicht lange zu erklären, was aufgeräumt und was für das Kind aufgewärmt werden muss, ihnen kann man ohne Probleme gebrauchte Kleidung überlassen, und sie verstehen etwas zu kochen, dessen feiner Geruch abends allen in die Nase steigt. Sie sind nicht exotisch und leben in ähnlichen Fa- TIONS milienstrukturen wie die Hausfrau. Bravo! Logisch, applaudieren bessere deutsche Damen und national gesinnte Kroaten, die genau wissen, dass die Kroaten keine Balkanesen sind. Die kroatischen Raumpflegerinnen in Mailand und die saisonalen Zimmermädchen in den Alpenhotels sind der ultimative Beweis unseres Europäertums – neben dem historischen unseres Akademikers Nedjeljko Mihanović, dass auch in unseren Konzentrationslagern die Gefangenen viel musiziert haben. Die Kroatinnen sind die besten im VorhängeAbnehmen und -Waschen, beim Bodenschrubben, sie ziehen verlässlich die Klospülung (nach sich). Warum allerdings sollte der Gastarbeiter nicht glücklich sein? Ist nicht der Augenblick des Ankommens auf einem unbekannten Bahnhof auch eine große Erleichterung? Der Weg der Akulturation muss nichts Tragisches an sich haben. Einschluss in eine weitere Kultur, sich ihr aussetzen, ist auch Reichtum. Das, was wir geerbt haben, dass was wir sind, muss ja nicht jeder als Geschenk oder als Verpflichtung empfinden. Schließlich und ganz persönlich genommen ist nicht jede Familie aus der man kommt als solche wunderbar. Noch weniger alle Dörfer und Städte, „in denen wir aufgewachsen sind“. Es gibt Familien, die schlecht sind für die Kinder, es gibt Liebesverhältnisse, aus denen man besser die Flucht ergreift. Mit Sicherheit gibt es auch solche, die, wenn sie in den Gastarbeiterzug steigen, nicht nur Trauer empfinden. Sondern aufatmen. Ein Leben von Null an beginnen können, ist ein großes Privileg. Der Münchner Hauptbahnhof, so schrecklich er ist, ist in diesem Fall eine unwichtige Kulisse wie jede andere auch. Besonders für die unglücklichen, malträtierten Frauen, die aus einer im Wesentlichen patriarchalen Gesellschaft kommen, bedeuten Distanz und Anonymität die Rettung. Ein anständi- 30.4.2011. 17:53:06 RELA TIONS ges Leben draußen ist ja doch garantiert; im Falle der Frauen ist dieses Minimum schon ein Haupttreffer. In diesem reinen Zustand eines Menschen, der aufatmet, wenn er auf dem Münchner Bahnhof aussteigt, ist der Gastarbeiter von aller nationalen, kulturellen und politischen Theologie befreit, er findet sich im Zustand der Laizität wieder. Außerhalb der Reichweite von Propaganda und Traditionen, trifft er seine Entscheidungen autonom: wie sich politisch entscheiden – aber vor allem, dass er die Politik ignorieren wird, welchen Typ Privatleben er führen wird, welche Medien er verfolgen wird (beziehungsweise ob sie oder er sich überhaupt von jemandem eine Gehirnwäsche verpassen lässt). Unter dieser sehr wahrscheinlichen Annahme von einem Gastarbeiter, der genau nach dem existentialistischen Ideal als freies und befreites Individuum entscheidet, erfährt das Kriterium des materiellen Erfolges als Sinn des Weggehens und der Arbeit irgendwo anders seine Relativierung par exellence. Im Mercedes zurückkehren hat sein Pendant: sein Leben ruhig und ohne viel Lärm verbringen. Allein, in der Zufriedenheit der Arbeit, in der heiligen Stille der Einsamkeit. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass es Zehntausende Gastarbeiter gibt, die sich in keinem einzigen Augenblick gewünscht haben zurückzukehren. Dass er zu Weihnachten Tränen vergießt und sich all seiner armen Verwandten als einsamer Seelen erinnert, handelt es sich vielleicht nur um einen großen Irrtum: Warum soll es nicht Menschen geben, die glücklich sind, weil sie allein sind und weit weg in der sogenannten fremden Welt? Unter der Decke verkrochene Kroaten, denen es völlig reicht, die Stimmen aus der Heimat lediglich übers Telefon zu hören? 2 1960er, 1970er, 1980er Home, sweet home ist nämlich eine private und allgemeinmenschliche Kategorie. Sie ist die Existenz im Persönlichen, die Verlängerung des Seelischen. Eine gegen die Außenwelt durch Wände verschlossene Schachtel. Sie ist klein und groß, begrenzt von der Wand einen Meter neben dem Bett im Untermieterzimmer oder durch eine Gartenhecke, hinter der man Blumen züchtet. Vor dem verschlossenen Hoftor des Familienhauses in einer ruhigen Straße stehst du genauso draußen wie vor der dünnen Zimmertür im Dachgeschoss, an der man nur zu klopfen braucht, damit der ganze innere, geschützte Raum in sich zusammenfällt. Die Tür: im Kosovo, vor der Intervention der NATO, sind Polizei und Soldaten in albanische Häuser eingedrungen, nachdem sie mit Stiefeln die Türen eingetreten hatten, und haben mit vorgehaltener Waffe Zwangsdurchsuchungen durchgeführt, Hausbewohner abgeführt. Später, als die Gewalttäter vertrieben und die Menschen zurückgekehrt waren, sind Psychosen aufgetreten. In ihren Zimmern haben die Menschen noch monatelang auf die Tür gestarrt, vor allem die Frauen. Es ist nicht so, dass einem Gastarbeiter niemand etwas Böses will. Von ihm will niemand etwas. Er baut seine Schachtel in Frieden. Die soziale Pentration ist fern. Ab sechzehn-nullnull herrscht Stille. Der Hauswirt wird vielleicht einmal jedes halbe Jahr an die Tür klopfen, wenn überhaupt. Später wirst du ihn jahrelang nicht sehen – wenn du nicht willst. Im Briefkasten gibt es auch nicht jene zwei, drei Rechnungen pro Monat. Alles geht automatisch über die Bank. Geräuschlos. Der Gastarbeiter ist allein, natürlich. Aber er ist auch in einer besseren Situation als sein schwedischer Mitbürger, von 163 dem trotz allem in sozialer Hinsicht etwas erwartet wird. Dass er bei der freiwilligen Feuerwehr ist, dass er zuschauen kommt, wie sein Kind Fußball spielt, dass er etwas abzweigt, wenn lokale Wohltätigkeitsveranstaltungen durchgeführt werden, dass er am Leben der Pfarre teilnimmt. Nördlich von Wallonien und vom Main, in der protestantischen Welt, heißen die Pfarren Gemeinden. Ihre Aktivitäten sind nicht nur religiöser Natur. Die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft beweist man nicht notwendigerweise durch sein Erscheinen bei Messe, Gebet und Gesang. In den protestantischen Kirchen laden Gemeinden und Pfarrer die Bürger ein, innerhalb der Liturgie Predigten zu halten. Sie müssen nicht Protestanten sein. Der Gastarbeiter muss nicht einmal das. Er ist weder expliziten noch impliziten Erwartungen ausgesetzt. Wenn der Schwede Atheist ist – hört er auf zum Gottesdienst zu gehen, er informiert den Pfarrer schriftlich, dass er aus der Kirche ausgetreten ist und hört auf Kirchensteuer zu zahlen – seine Mitbürger nehmen das schweigend zur Kenntnis. Für den Gastarbeiter gilt sogar das nicht. Nur in der Schule gibt es ein Formular, in das das Kind sein Glaubensbekenntnis einträgt. Aber nicht, um sich zu identifizieren, sondern damit es nicht irrtümlich zum Besuch von Stunden in konfessioneller Religionserziehung gezwungen wird.2 Die Freiheit wird entsprechend der Persönlichkeit verwirklicht. In der Schachtel kann alles Mögliche passieren. Die Wohnung kann für den Gastarbeiter nach zwanzig Jahren noch immer eine Übergangslösung mit Hotelcharakter sein: wenn er überhaupt nicht angekommen ist. Sie kann sich auch in den Teil eines kleinen kommunitären Biotops verwandeln, Ich (nicht meine Eltern) habe mit vierzehn Jahren ein einfaches gelbliches Formular auf die Bank gelegt bekommen, auf dem es vier Rubriken gab: katholisch, protestantisch, jüdisch und andere. Es wurde vom Klassenlehrer eingesammelt, und fertig. Das war im Herbst 1964 im Eichendorff-Gymnasium in Koblenz. Relation 1_2011.indd 163 30.4.2011. 17:53:06 164 Nenad Popovi}: Schattenwelt wenn sich unter den dortigen Gastarbeitern, Kollegen und „Landsleuten“ aus derselben Stadt ein Netz menschlicher Beziehungen entwickelt, wenn sich ein Rhythmus von gegenseitigen Besuchen, Geselligkeiten, gemeinsamen Feiern, Hilfestellungen, Beratungen und Freundschaften einstellt Die Schachtel, und sei sie auch das schönste Haus, kann genauso ein Ort des uwahren Lebens bleiben, auch der Depression und Trauer – zu zweit, aber es braucht auch nur ein Ehepartner traurig zu sein, das genügt. Die völlige Freiheit der existentiellen Wahl – ein Augenblick, den jeder Gastarbeiter erlebt – führt nicht notwendigerweise zum Biotop persönlichen Glücks. Zu einem individuellen, von innenher errichteten Idealtypus: dem Gastarbeiter, der hinter sich die Tür geschlossen hat und fernsieht. Die zweite Heimat ist eine gute Heimat. Alles, was sie ihm geboten hat, war gut. Ohne Erwartungen zu stellen. Am Gastarbeiter als dem neuen Nachbarn war es, dem Nachbarn zum Gruß zuzuwinken, aber er konnte auch den Blick ohne Bemerkung zu Boden schlagen (ein „Ausländer“, hat seine Sorgen). Alles was er in der neuen Umgebung erlebt hat, ist in eine entleerte Seele gefallen. Aber auf keine „tabula rasa“. Die neue Umgebung hat der Gastarbeiter nach einer, die ihr vorausgegangen ist, beschritten – und nach einer Enttäuschung. Seine psychologischen Prädispositionen sind Mangel und Trauer. Die neue Umgebung kann ihn nicht enttäuschen, er weiß, dass sie ihm nichts schuldet. Er kann sie nicht liebgewinnen, aber er wird ihr nie etwas ernstlich übelnehmen. Man nennt ihn Gast, aber er weiß, dass das nicht der Realität entspricht. Er wurde nicht als Gast aufgenommen, sondern als Rekonvaleszent. Nach einem Trauma. Nach dem freiwilligen Weggang, dem schlimmsten. Der glückliche Gastarbeiter: Hinter geschlossenen Türen ist vielleicht das Relation 1_2011.indd 164 Glück der Einsamkeit, vielleicht das Lecken der Wunden, aber auch etwas, von dem der Mensch nur träumen kann. Dass man vielleicht, wenn es einem schwer ist bis zum Gehtnichtmehr, hinausgehen kann ins Treppenhaus, an der Nachbartür läuten und sagen kann: Frau Nachbarin, ich würde Sie gern einmal zum Kaffee einladen, wenn Sie möchten. – Die Nachbarn werden sich freuen. Sie werden zusagen. Du hast ihnen ein Geschenk gemacht. Sie werden dich kennenlernen. Denn, was einst gewesen – was er einst gewesen – ist gewesen. Weit zurück liegen Nostalgie, zerstörerische Sehnsucht nach der Heimat, Unglücklichsein, das ihn gebeutelt hat wie ein Fieber. Das Abarbeiten dieser Leerträume hat ihn ein Jahr, zwei Jahre gequält und seine Seele beherrscht, doch dann sind sie mit dem ersten großen Urlaub geplatzt. Als die angesammelte Sehnsucht mit der Realität zusammengestoßen ist. Dieses Großereignis hat sich lange und minutiös vorbereitet, in einer Atmosphäre verkrampften Lustigkeit. Wie wird es mir ergehen? Werde ich überhaupt im Stande sein zurückzukehren? Und dann wie ein Blitzschlag. Sonne, Hügel, Wälder, Düfte und Farben der Erde, die du wie deine Hosentasche kennst, schon an der der Straße siehst du die Dächer, die kennst, als wären es deine. (In den Flugzeugen, beim Landen, beugen sich die Gastarbeiter zu den Fenstern hin um zu sehen, betrachten nachdenklich Dächer und Straßen, sehen das alte und suchen mit dem Blick kleine Veränderungen, kommentieren das unterienander.) Warum lebe ich nicht hier?! Oder Traurigkeit, Depression. Abschaffung aller Sehnsüchte. Dann sieht man traurige Bogenlampen, verwitterte Stadtfassaden, stinkende Taxis, Schmutz, im Dorf armselige, verwohnte Häuschen, windschiefe Zäune, Höfe mit ein paar Hühnern und hier und da einem Truthahn, RELA TIONS im Stall eine, zwei Kühe. Im aufgeräumten, frisch gebohnerten Wohnzimmer küsst du deine Mutter und betrachtest parallel dazu, geschockt, ihr ausgezehrtes Gesicht, die Tränen, die ihr über die harte, fast lederartige Haut rinnen, und nicht über weiche, entspannte Wangen. „Geht es euch gut?“, fragt sie dich, und dir ist es unangenehm. Nach zwei, drei Minuten sinnlosen Austauschens von Informationen, wie es wem gehe – wird die Mutter (oder der Bruder) unterbrechen: „Dass du es weißt, jetzt haben wir auch einen Supermarkt. Er ist nicht so groß wie bei euch, aber er hat alles.“ Schwer fällt das Weggehen nach dem ersten großen Besuch. In zwei, drei Wochen hast du dich unmerklich wieder an alles gewöhnt, registrierst du nicht mehr das, was du bei deiner Ankunft gesehen hast. Die ersten Tage hast du gesagt „hier ist es heiß“, nach fünf Tagen sagst du „es ist heiß“. Und dann der Abschied, der fast noch schwerer fällt als der ein Jahr zuvor, als du weggegangen bist. Jetzt gehst du wirklich weg. Du kehrst zurück. Hierher wirst du nur noch kommen. Wenn du dem Dorf den Rücken kehrst, ist die qualvolle Nostalgie aus den ersten Jahren ausgeheilt. Mit deiner Frau sprichst du im Flugzeug darüber, wann man zurückkehren solle. Du beginnst über Zeitabstände von fünf Jahren zu sprechen, ihr sagt zehn Jahre, aber bloß noch als das denkbar längste, äußerste Maß, das außerhalb des real Vorstellbaren liegt. Während ihr euch unterhaltet, sitzt eure Tochter teilnahmslos auf ihrem Sitz. Sie denkt an ihre Freunde aus der Klasse. In drei Tagen beginnt die Schule. In dieser Hinsicht trüben die in die Heimat Zurückkehrenden nur das Bild, weil sie herausragen. Sie sind sichtbar und entsprechen den Phantasien der Zeitweiligkeit, des glücklichen Ausgangs, der Lösbarkeit. Aber die Frage stellt sich, nach jenen die 30.4.2011. 17:53:06 RELA TIONS nicht zurückkehren. Leise, diskret stehlen sie sich aus dem Horizont der Erwartung und des existenziellen Genres „Gastarbeiter“. Der Umstand, dass man sie zu Hause dann auch schrittweise vergisst – die Tante, die wir in Frankfurt haben, die das ganze Leben Krankenschwester war; ojeh, der Vetter in Schweden – für sie kann das eine Wohltat sein. Die Sprache ist hier genau: jene Tante, jener Vetter leben ihr eigenes Leben. Da die Nation keinerlei Beziehung zu den Gastarbeitern hat, stellt ihr die schweigende Mehrheit dafür in gewisser Weise die Rechnung aus. Sie sind eigentlich emigriert, nur sind sie in ihr privates Leben emigriert. Auf das Schließen der Tür hinter sich, auf private Ruhe hat jeder ein Anrecht. Rationalität hat sich vom Augenblick des Weggehens/des Ankommens fast auf das gesamtes Innenleben gelegt, hat ihm/hat ihr das „Recht“ auf tiefe geteilte Emotionen beschnitten. Es gibt keinen Gastarbeiter-Blues unserer Tage, auch wenn es das Lebensgefühl gewiss dafür vorhanden ist. Schließlich ist in den Pariser Banlieues ist ein autochthoner Rap entstanden. Die Erklärung liegt wohl darin, dass die „Rationalität“ des existentiellen Zustandes als Gastarbeiter jedoch ganze Bereiche des Innenlebens anästhesiert. Das ausschließlich arbeitsbezogene funktionale Leben schliesst den edlen Glanz tiefer Emotionen aus. Der Gastarbeiter bezahlt seinen Heroismus mit einer auf das Praktische und Seichte reduzierten Seele, indem er sich weder Sentimentalität noch Selbstmitleid erlaubt. Selbst Emigranten, Auswanderer nach Übersee haben es auf eine perverse Weise leichter. Ihr Bruch mit dem ersten Leben war radikal und für immer; er bedeutete zugleich den Beginn eines neuen und anderen: the second chance. Der Gastarbeiter als Emigrant in die Nähe lebt hingegen in ein Netz der Fluiditäten aus Zeitweiligkeit, Halbdistanz, Weggang ge- Relation 1_2011.indd 165 1960er, 1970er, 1980er fangen, der nicht sofort Bruch oder Zurücklassen bedeuten muss, aber ebenso ein Ankommen im anderen Leben. Alles Wichtige in seinem Leben kann der Gastarbeiter in Anführungszeichen setzen: „Weggang“, „Zeitweiligkeit“, „anderes Leben“, „Zurücklassen“, „Heimat“, „Ferne“, „Rückkehr“, „Dableiben“. Der Gastarbeiter lebt eine Welt ohne Katharsis. Ihn betrifft das Frühere nicht mehr, ihn betrifft das Jetzige noch nicht, oder nur technisch. Selbst der fünfte Akt des Dramas ist ein Gegenstand des Planens: Vielleicht kehre ich dorthin zurück, vielleicht bleibe 165 re Identitäsarbeit, fast ein Martyrium. Die Eroberung und Aneignung einer neuen Sprache und neuer Kodes des Alltagslebens und der Kultur sind alles andere als angenehm und verlangen totale seelische Anstrengung. Die ganze Zeit heißt das Sich zügeln, Autokorrekturen und weitreichende Negationen, dessen was man ist. So weit man das war; so weit man mit fünfundzwanzig oder dreißig Jahren geformt ist, wenn zum Beispiel das letzte Bildungserlebnis in der Heimat die Ableistung des Militärdienstes war, die JNA, die Jugoslawische Volksarmee. Die neue Kul- Nenad Popović ich hier. Aber auch im letzteren Fall werde ich mich doch dort begraben lassen. Dort haben wir ein Grab. (Im Dialekt der Schnulzen kroatischer Musikfestivals: Hier bist du zu Haus.) Aus dieser Perspektive ist die Situation faktischer Einsamkeit, in der man die Liebe zu seinen Angehörigen nur noch mittels Geld erweisen kann als Figur nur logisch. Es ist eien Katharsis, wenn auch in einem Monodrama. Denn, als glücklicher Gastarbeiter zu enden, ist auch verdient. Sie haben sich abgearbeitet, die Männer und Frauen. Nicht nur bei ihrem Arbeitgeber. Hinter ihnen liegt eine schwe- tur und Sprache korrigieren nicht nur oder verändern – in unserem Fall füllen sie womöglich erst die inneren Leerräume. Es gibt einen neuen Imperativ des eigenen Überlebens und Fortschrietens. An dieser persönlichen Stunde Null arbeitet – im schlechten Fall – allerdings auch die neue Umgebung: Nachdem man dort angelangt ist, wo man nun einmal angelangt ist, als stiller Sklave, der glücklich ist, dass er Arbeit bekommen hat, ist der Gastarbeiter auf der Arbeit das am niedrigsten rangierende Wesen. Sofern er kein Glück hat, wendet sich der Vorgesetzte an ihn wie an einen Idioten, 30.4.2011. 17:53:06 166 RELA Nenad Popovi}: Schattenwelt Nenad Popović mit einfachen Worten mit Ausrufezeichen. Im präpotenten Befehlston – die Proletarier- und Arbeitersolidarität sind wahrlich grenzenlos – und im Dialekt, mit dem er sich dem Gastarbeiter zuwendet, spiegelt sich seine Sprachlosigkeit wortwörtlich. Er kommandiert ihn auf eine Weise, wie sich Eltern an Kinder wenden, die noch nicht sprechen können. Wie seinerzeit in der Kommunikation zwischen Weißen und Schwarzen werden seine eigenen Ausdrucksversuche verhöhnt: Machen! Kommen! Arbeiten! Der Vorgesetzte oder Eingeborene ist mit dem Gastarbeiter per „du“. Du kommen! Du arbeiten! Du machen! Das Gastarbeiter-Pidgin hat deshalb teilweise dieselben qualvollen Wurzel wie die Sprache der Schwarzen oder der Kreolen. Mit seinen dreißig Jahren wird der hilflose Gastarbeiter am Fließband in den Zustand eines Kindes zurückversetzt. Er verfolgt die Lippen, die ihm etwas unverständliches mitteilen und ihn herumkommandieren; er traut sich nicht zu antworten, er kann nicht antworten – er kann nur parieren. Eine komische Puppe, die mit dem Kopf nickt. Da kann schon mal ein brüllendes Lachen durch die ganze Halle tosen, wie dumm er ist. 3 Doch in gleicher Weise identitätsmäßig anstrengend ist die positive Variante: Wollen Sie nicht mit uns ein Bier trinken? Warum fahren Sie mit dem Bus, wir finden einen Gebrauchtwagen für Sie? Warum ist Ihre Frau in Jugoslawien geblieben, warum holen Sie sie nicht her? Diese zweite, die trotz allem die Regel ist, ist auch entscheidend für den „Sieg“ der neuen Identität. Denn: Warum soll ich nicht mit ihnen ein Bier trinken? Warum soll ich mir nicht ein Auto kaufen wie sie? Warum soll ich meine Frau nicht nachholen und sie ihnen vorstellen? Daneben ist der Gastarbeiter selbst das Subjekt seiner Akulturation. Wenn er sich bewusst für das Weggehen entschieden hat, hat er mit allem hinter sich gebrochen. Für Romantische ist dieser selbstgeschaffene neue Niemand tragisch. Aber er ist in Wirklichkeit zum reinen Ich geworden, ein Niemand im positiven Sinne. Er ist nicht ein Teil des Kollektivs, mehr ein wir-Teil. – Was im übrigen für das verlassene Kollektiv zu Hause bis zum Physischen unerträglich ist: Man bekommt Krämpfe vor Schmerz. In der zeitgenössischen mittelalterlichen Rhetorik ist der Kroate im Ausland ein Teil des TIONS gemarterten Körpers: „ein lebendes, verwundetes Kroatien“.3 Ein weiterer Antriebsbrennstoff des Bewusstseins, dass man nur noch Ich ist: aus Kroatien bekommt der gastarbeiter keine Briefe, in denen steht „Komm zurück“. An den Gastarbeiter schreibt man: „Wie geht es dir, wann kommst du zu Besuch?“ Das erzeugt Schmerz. Dem Gastarbeiter Jozo ist es jedoch vermutlich längst egal, was er ist: Vetter, Kroate oder Niemand. Vielleicht hat sich für ihn seine erste Identität, jene sogenannte „tiefe“, die darunter, schon längst als leerer alter Sack herausgestellt. Warum sollte ausgerechnet er mit seiner doppelten Erfahrung nicht im Stande sein zu erkennen, dass alles Identitäten nur leere Säcke sind? Weil er nicht studiert hat? Die beiden Extreme, das künstliche Ausgrenzen durch Begriffe wie „Diaspora“ ebenso wie das raunende Beschwören des gemeinsamen nationalen Körpers, sind kulturelle Fehlschüsse. Der Gastarbeiter bewegt sich in Europa auf die Art und Weise der einstigen wandernden Handwerksgesellen und Handeslreisenden. Auch auf dem längsten europäischen Weg zur Maschine wandert er von Region zu Region. Die ersten sind ihm nahe. Wenn der Gastrabeiter auch vom Dorf kommt, weiß er, wo seine (engere oder weitere) Region aufhört. Aus Dalmatien nach Italien zu reisen und in Ventimiglia nach Frankreich überzuwechseln bleibt im Horizont der erwarteten regionalen Fortsetzungen und Unterschiede; über Varaždin nach Wien oder über Ljubljana nach Bayern (und nicht nach Deutschland) zu gehen, ist kein Sprung ins Unbekannte und verlangt keine Änderung oder tragische Verleugnung der eigenen Identität. Fremdheit, Besonderheit, Andersartigkeit sind ein europäischer Živko Kustić: Nisu oni „lažna dijaspora“, Jutarnji list, 5. 10. 2007. Relation 1_2011.indd 166 30.4.2011. 17:53:06 RELA TIONS Naturzustand. Die Fahrt mit den Gastarbeiterzügen, die langen Autofahrten und der Halbschlaf in den Autobussen sind noch immer Formen des alten Fußwanderns, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land. Ich bin hier in Deutschland, kann der Gastarbeiter am Telefon sagen, ich bin hier in Amerika – nicht. Amerika ist nicht hier. Virgil Tibbs dagegen erlebt ein großes Drama, bevor er hinter den Strukturen (eines anderen Staates, der staatlichen Obrigkeit und was dazu gehört) lediglich eine andersgeartete Region, eine Fortsetzung und eine Variante seiner Heimat erkennt. Das widerfährt ihm erst, als er aus dem klimatisierten Express aussteigt, der lautlos dahingleitet und den Kontinent durchmisst. Freilich sagt sein Gegenspieler, der Sheriff Bill Gillespie: „Du bist genauso wie ich.“ Gillespie sagt eigentlich: wie wir alle. Was für Europa normal ist, dass man unterschiedlich und heimatverbunden zugleich ist, ist in Amerika das romantische und stark metaphorische Genre einer Ausnahmesituation. Im Unterschied von diesem Drama über Territorium, Staat und Individuum („In der Hitze der Nacht“), an deren Anfang Sidney Poitier übrigens auch gebeugt geht, mit abgerissener Sprache und fahrigen Bewegungen wie auf den Zeichnungen von Trumbetaš, ist der europäische „Yol – Der Weg“ von Yılmaz Güney eine Komödie. Die uralte Wanderlust Europas begann sich auch auf auf die Luft zu erstrecken seit der Einführung von Charterflügen von Jugoslawien nach Deutschland. Diese Charterflüge waren nicht keine echten, in Wirklichkeit waren sie Linienflüge der JAT, der Jugoslawischen Aerotransportgesellschaft, die für Gastarbieter eingerichtet wurden. Und rasch wurden sie zu einer neuen Form des uralten volkstümlichen Reisens. Die Szenen Relation 1_2011.indd 167 1960er, 1970er, 1980er vom Bahnhof übersiedelten auf die Flughäfen. Es flogen plötzlich nicht nur die Gastarbeiter, sondern auch ihre Verwandten, die zu Besuch kamen, ältere Menschen, „Omas und Opas“, Kinder, Ehefrauen. Der Zagreber Flughafen, bis dahin reserviert für priveligeirte Bürger, Leute vom Außenhandel und Ausländer, wurde überflutet von Arbeitern und Bauern, die bisher auf Eisenbahnstationen und Busbahnhöfe angewiesen waren. Das Markenzeichen des fliegenden kroatischen Proletariats: bescheidene Kleidung, bei älteren Frauen auch Volkstrachten beziehungsweise schwarze Kopftücher, billige Koffer, große Reisetaschen, Unsicherheit in den langen Reihen beim check-in, Stille an den gates, im Flugzeug Unbeholfenheit beim Auffinden der Sitznummern, während des Flugs beklommenes Schweigen, unterbrochen nur vom Weinen der kleinen Kinder, beim Landen, vor allem auf dem Rückflug, Händeklatschen für den Piloten und allgemeine Freude, dass das Flugzeug wieder über den Asphalt rattert. In der Anflughalle vor den automatischen Türen der Ausgänge in die große Halle an die hundert geduldig wartende Verwandte: archaischer Empfang mit Tränen und Lachen, Umarmen, Abnehmen von Koffer, Taschen und Schachteln. Es fehlten nur noch Bassgeige und Akkordeon. Aber das ging nicht. Nicht vor den Augen der unterbezahlten und halb durchgefrorenen Angestellten hinter den in allen „Weltfarben“ leuchtenden Schaltern der Rent-a-cars, Luftfahrtkompanien und Wechselstuben. Bass und Akkordeon hätten die Lebenslüge dieser armseligen Szenografie eines Entwicklungslandes bloßgestellt, wo man nicht weiß, wer mehr erniedrigt ist: der blasse Polizist, der in Zagreb zur Untermiete wohnt und der mit Eiseskälte die Reisenden kontrollie- 167 ren muss, der Zollbeamte, der die komprimierte Traurigkeit des gleichermaßen armseligen wie müden Reisenden durchwühlen muss (und obendrein vor dem in der Schlange wartenden stehenden gutgekleideten, großgewachsenen Deutschen, der erhobenen Augenbrauen der Szene gegenseitiger Erniedrigung zusieht). Nein, Bassgeige und Akkordeon gingen hier nicht. Denn hier würde Schnaps fließen, Glücksgefühle würden entstehen, die Gefangenen des Systems würden sich verbrüdern in dieser Revolution, und auch jener Herr aus Deuschland würde sich betrinken, selbstverständlich. Die Revolution gegen die perversen Choreografie, die auf den Schultern des Gastarbeiters ruht, durfte nicht stattfinden. Eine Danziger Leninwerft vermittels Bassgeige, Singen und Jauchzen hätte – und würde heute noch – die erzwungene kulturelle Traurigkeit als das Mittel zur Disziplinierung des arbeitenden Volkes aufheben. Nein, vom Gastrabeiter erwartet man, dass er innerlich tot und eingemottet ist. Einen Menschen, der ein nur funktionales Minimum an Anpassung und eine Unterkunft in der Baracke, im Getto akzeptiert. Dass sein Leben, seine ureiggene biographische Zeit während im Ausland suspendiert ist. Dass seine Abwesenheit eine zweifache sei: Abwesenheit von der Heimat und Abwesenheit vom Ort des Lebens draußen. Er soll ein unlebender Mensch, ein lebender Toter sein: Das ist der ideale Gastarbeiter – erwünscht wie in der Heimat so auch in Europa. Ohne jede Bindung an das Milieu, in dem er (nicht) lebt, und mit der Seele zu Hause geblieben: eine perfekte Maschine zum Geldverdienen und -überweisen. Aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof 30.4.2011. 17:53:06 168 Der gefundene Wohlstand Alltag und Konsumkultur in Kroatien der 1970er und 1980er Jahre* Igor Duda Übungen in Konsumkultur D ie Industrielle Revolution hat zwei deutlich voneinander abgegrenzte zeitliche Abläufe – Arbeitszeit und Freizeit – geschaffen und sowohl die Zeit, als auch den Raum der Arbeit von der Zeit und dem Raum des Müßiggangs getrennt.1 Die Arbeitszeit wurde zu jener Zeit, die für die Produktion, sowie das Verdienen und Erringen von all jenem bestimmt ist, was die Arbeit mit sich trägt: des Gehalts und anderer Arbeitsrechte, etwa des Rechts auf tägliche, wöchentliche und jährliche Freizeit. Die Freizeit wurde zur Zeit des Konsumierens, sowohl des verdienten Gehalts, als auch des Rechts auf die von jeglicher Form organisierter Arbeit befreite Zeit. Die Verkürzung von Arbeitstag und Arbeitswoche, sowie die Erhöhung der Löhne erweiterten die Grenzen und Möglichkeiten des Verbringens der Freizeit. Da Massenproduktion ohne Massenkonsum nicht auskommen kann, wurde notwendigerweise auch das Angebot an jenen Inhalten immer reichhaltiger, die den Konsum ermöglichen und antreiben können. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten IGOR DUDA (Pula, 1977), Historiker, Junior Researcher an der Universität Juraj Dobrila in Pula. An der Philosophischen Fakultät in Zagreb studierte er Geschichte und Kroatistik. Magister- und Doktorstudium in Geschichte. Aufenthalt an der Universität Oxford dank dem Stipendium OSI/Chevening Scholarship. Mitarbeit am Projekt Tourism and Leisure Cultures in Socialist Yugoslavia der Universität Graz. Zusammenarbeit mit dem Lexikographischen Institut Miroslav Krleža in Zagreb. Interessensgebiete: soziale Geschichte und Alltagsgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Autor zweier Bücher: U potrazi za blagostanjem. O povijesti dokolice i potrošačkog društva u Hrvatskoj 1950-ih i 1960-ih (Auf der Suche nach Wohlstand. Über die Geschichte des Müßiggangs und der Konsumgesellschaft in Kroatien der 1950er und 1960er Jahre, 2005) und Pronađeno blagostanje. Svakodnevni život i potrošačka kultura u Hrvatskoj 1970-ih i 1980-ih (Der gefundene Wohlstand. Alltagsleben und Konsumkultur in Kroatien der 1970er und 1980er Jahre, 2010, Kiklop-Preis für das wissenschaftliche Buch des Jahres). Jahrhunderts wurde die Freizeit erfolgreich vom Einzelhandelsnetz mit seinen verschiedenen spezialisierten Geschäften, Selbstbedienungsläden und Kaufhäusern ausgefüllt, im Westen seit den achtziger Jahren auch von großen Handelszentren. Mit Restaurants, Gaststätten, Tavernen, Kaffeehäusern, Bars, Buffets, Bistros und ähnlichen Orten trumpfte das Gastgewerbe auf. Der Tourismus wurde in den sechziger Jahren zur müßiggängerischen Massentätigkeit, die wiederum ohne die Errichtung von Hotels, touristischen Siedlungen und anderen Inhalten undenkbar wäre. Sport und Rekreation, elitäre und Massenkultur, Printmedien, Rundfunk, Musik, Film und Unterhaltungsindustrie gehören ebenfalls zu jenen Inhalten, ohne die die Freizeitgestaltung und die Konsumkultur der * „Srednja Europa“, Zagreb, 2010 Siehe Duda, Igor, Auf der Suche nach Wohlstand. Über die Geschichte des Müßiggangs und der Konsumgesellschaft in Kroatien der 1950er und 1960er Jahre, Srednja Europa, Zagreb, 2005, 24-29, sowie die dort angeführte Literatur. 1 Relation 1_2011.indd 168 30.4.2011. 17:53:06 RELA TIONS zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts undenkbar wären.2 Für das Auskosten der Inhalte des konsumorientierten Müßiggangs blieb den kroatischen Arbeitern der siebziger und achtziger Jahre genügend Zeit übrig, jedenfalls in jenem Maße, in dem die halbstündige tägliche Pause während der Arbeitszeig, die 42stunden-Woche und der beinahe einmonatige jährliche Urlaub das zuließen. Die Fülle an Inhalten und die Menge an finanziellen Mitteln, mit denen diese Zeit auszufüllen war, entsprachen gewiss nicht jedermanns Bedürfnissen, es gab aber Möglichkeiten, etwas Anderes oder Besseres im näher oder weiter gelegenen Ausland zu finden und die Bezahlung zu verschieben oder in mehrere Raten zu zerteilen. Die Arbeit war wichtig, der Konsum jedoch war noch wichtiger, sodass er aus der Freizeit in die Arbeitszeit überlief. Davon zeugt auch eine Titelseite der Zeitung VUS aus dem Jahr 1975 mit der Aufschrift Wer spaziert während der Arbeitszeit in der Stadt herum?, während sich der dazugehörige, auf journalistischer Beobachtung und den Untersuchungen des Zagreber Instituts für Arbeitsproduktivität begründete Artikel mit der besorgniserregenden Einschätzung befasst, der zufolge die Arbeitnehmer die Hälfte ihrer Arbeitszeit am Arbeitsplatz oder anderen Orten mit Müßiggehen verbracht haben.3 Die damalige Untersuchung hatte gezeigt, die „Sprünge“ wohin und wann immer es nötig war – zum Beispiel zum Einkaufen, zum Friseur, zur Autowerkstatt, auf einen 2 3 4 5 6 7 8 1960er, 1970er, 1980er Kaffee oder zwecks Erledigung von etwas, was am Nachmittag wegen der Arbeit verschiedener Behörden oder dem Aufpassen auf die eigenen Kinder nicht möglich sein wird – zu einer Gewohnheit wurden, die die Vorgesetzten nicht beunruhigte, da sie auch selbst auf diese Weise verfuhren, während die Arbeit daran keinerlei Schaden nahm, da die niedrigere Produktivität durch den Überschuss an Angestellten gedeckt wurde. Im Unterschied zu den Beschwerden bezüglich des nächtlichen Vergnügungsangebots, war dies mit im täglichen Gastgewerbe nicht der „Wer spaziert in der Arbeitszeit durch die Stadt?“, VUS, 1975. Fall: die Cafés erstreckten sich über sonnige Terrassen, wurden zu Treffpunkten und übernahmen die soziale Rolle der städtischen Corsos, was zu einer Überfüllung der Innenstädte in den späten Vormittagsstunden 169 führte, während der Arbeitszeit verschiedener Angestellter, deren Büros sich in unmittelbarer Nähe befanden.4 So dauerte der Arbeitstag für manche nicht acht, sondern Schätzungen zufolge vier bis sechs Stunden.5 Soziologen hatten ausgerechnet, die Arbeiter würden nicht konstant arbeiten, würden nötigenfalls auch Übersunden machen, sich ansonsten aber an die Devise „werden wir schon erledigen“ halten. Ferner seien die Arbeiter nicht Teil der modernen industriellen Arbeitskultur, sondern ließen sich vom vorindustriellen Arbeitsethos leiten, der dem zwischenmenschlichen Kontakt mehr Bedeutung zukommen lässt als der Arbeitsdisziplin.6 Bei der Arbeit im Ausland verhielten sie sich nicht so, zu Hause jedoch akzeptierten sie die westeuropäischen Regeln nicht, sondern beriefen sich auf den Ausspruch: Ich kann nicht so wenig arbeiten, wie wenig sie mich bezahlen können.7 Die nicht zufriedenstellenden Gehälter trieben viele dazu, zusätzlich außerhalb des Arbeitsplatzes zu arbeiten, sodass der Nebenverdienst oft Ursprung eines problematischen konsumorientierten Verhaltens war: „Wir wollen innerhalb einer einzigen Generation in rasendem Wettlauf an die Spitze der konsumorientierten Zivilisation gelangen und das ist der Hintergrund unserer enormen Tüchtigkeit. Dabei haben sich von uns unser übernommenes bäuerliches Durchhaltevermögen und die Ungeduld und Habsucht von Emporkömmlingen vereinigt!“8 Jenseits jeglicher Arbeitsdisziplin blieb den Siehe z. B. Prost, Antoine, Gérard Vincent, Hrsg., A History of Private Life. Riddles of Identity in Modern Times, The Belknap Press of Harvard University Press, Cambridge (Massachusetts), London (England), 1991; Marwick, Arthur, The Arts in the West since 1945, Oxford University Press, Oxford, 2002. „Wer spaziert während der Arbeitszeit in der Stadt herum?: Aus dem Café zum Friseur...“, VUS, 16. Juli 1975. „Panoptikum in den Cafes“, Start, 8. April 1970; „Das triste, nächtliche Zagreb“, Start, 14. März 1973. „Arbeitszeit: Mitten in der Arbeit – ohne Arbeit“, VUS, 28. Mai 1977. „Arbeiten wir etwas zu viel?“, VUS, 24. September 1975. „Kürzere Arbeitszeit – ja oder nein?“, Radničke novine (RN), 18. Juli 1988. Vgl. auch Goldstein, Hrvatska 1918.-2008., EPH und Novi Liber, Zagreb, 2008, 595; Radelić, Zdenko, Hrvatska u Jugoslaviji 1945.-1991. Od zajedništva do razlaza, Hrvatski institut za povijest – Školska knjiga, Zagreb, 2006, 506. „Arbeiten wir etwas zu viel?“, VUS, 24. September 1975. Relation 1_2011.indd 169 30.4.2011. 17:53:07 170 Igor Duda: Der gefundene Wohlstand Arbeitern, die die Zeit zwischen sieben und fünfzehn Uhr bei der Arbeit verbracht hatten, genügend Zeit übrig, die sie ohne schlechtes Gewissen als Freizeit verbringen konnten. Seit 1983 die Sommerzeit eingeführt wurde, schien der Tag länger, sodass es auch mehr Zeit für Aktivitäten gab, die vom Tageslicht abhingen. Andererseits waren die nachmittäglichen Spaziergänge durch die Innenstädte im Licht der Auslagen und Leuchtaufschriften wahrscheinlich beeindruckender, wobei der Einkaufsund Schaufensterbummel 1997 von 14 Prozent aller Befragten in Kroatien, vornehmlich jener im Alter zwischen 18 und 34 Jahren, als wichtigste Freizeitaktivität genannt wurde.9 Dies lag zwar unter dem gesamtjugoslawischen Durchschnitt von 20 Prozent, aber deutlich über jenem kroatischen aus dem Krisenjahr 1984, als nur 8 Prozent der Befragten in die großen gläsernen Schaufenster blickte – allerdings immer noch 1 Prozent mehr als auf Bundesebene.10 Dort, wo es keine Schaufenster gab, etwa in den neuen Wohlsiedlungen von Neu-Zagreb, verspürten die Konsumenten, wie etwa der 25jährige Präzisionsmechaniker Stjepan Ilijaž, nur Leere: „Es gibt keine Geschäfte und keine Auslagen, denn diese ziehen die Menschen an und beleben die Stadt. Natürlich ähnelt hier dann alles überdimensionalen Schlafstädten.“11 Hinter den Schaufenstern lagen die Geschäfte, deren Arbeitszeit ebenfalls heftig diskutiert wurde. Es war üblich, dass die Lebensmittelgeschäfte den ganzen Tag auf hatten, während die übrigen oft in zwei 9 10 11 12 13 14 15 16 Schichten arbeiteten, zum Beispiel von acht bis zwölf und von siebzehn bis zwanzig Uhr, oder aber von sieben bis dreizehn und von siebzehn bis neunzehn Uhr. Die ganztägige Arbeitszeit war einer der Vorzüge, mit denen 1971 die Warenhauskette „Nama“ in Zagreb, Bjelovar und Sisak ihre Kundschaft umwarb: „Die Warenhäuser arbeiten ununterbrochen von 7 bis 20 Uhr und können Ihnen mit ihrer Auswahl aus über 46.000 Gebrauchsartikeln sowie ihrer 25jährigen Tradition ungefähr dasselbe Assortiment bieten, wie jedes beliebige Kaufhaus in Europa.“12 Samstagnachmittags und sonntags hatten nur wenige Lebensmittelgeschäfte offen, während alle anderen geschlossen waren. Eine Plage war dies 1976 für die Zagreber Pharmazeutin Mira Helman, die den Sonntag mit dem Entdecken und Kaufen neuer Erzeugnisse verbringen wollte: „Im Laufe der Woche eile ich immer zur Arbeit und habe auch andere Verpflichtungen. Sonntags würde ich gerne Geschäfte besuchen und einkaufen. An diesem Tag habe ich es nicht eilig, könnte in Ruhe kaufen, was ich benötige, aber auch das, wovon ich gar nicht weiß, dass es in unseren Geschäften existiert, weil ich keine Zeit habe, mir deren Angebot anzusehen.“13 Genauso dachte auch die Angestellte Štefica Vistrička: „Es wäre viel praktischer, wenn sonnund feiertags in den größeren Städten statt nur einiger Selbstbedienungsläden auch ein Kaufhaus offen hätte, in dem es auch andere Dinge zu kaufen gäbe las nur Lebensmittel.“14 Es gab Konsumenten, die nachts einkaufen RELA TIONS wollten, diese Möglichkeit zählte jedoch zu den Ausnahmen, die nur in den Hauptstädten der jugoslawischen Teilrepubliken anzutreffen waren. Mitte der siebziger Jahre konnte in Belgrad und Skopje nachts eingekauft werden, sodass die Zagreber Meiden beklagten, dass die Unikonzum-Selbstbedienung in der neueröffneten Passage beim Zagreber Hauptbahnhof nur vom fünf bis dreiundzwanzig Uhr offen hatte, obwohl man am Abend dort kaum noch einen freien Einkaufskorb bekommen konnte, aber eine derartige Arbeitszeitenregelung stand mit der Gesellschaftlichen Übereinkunft zwischen der Wirtschaftskammer, dem Gemeinderat und der Handelsgewerkschaft in Einklang.15 Wenn auch nicht nachts, so waren die Einkaufsmöglichkeiten nach der Zahl der Geschäfte gemessen tagsüber immer größer. Zwischen 1970 und 1990 hatte sich das Einzelhandelsnetz in Kroatien um 50 Prozent vergrößert.16 1970 umfasste es 15.651 Geschäfte, 1975 17.776, während die Zahl der Geschäfte bis 1980 auf 18.313 angestiegen war. Das langsamere Wachstum in der ersten Hälfte der achtziger Jahre führte bis 1985 zu nur 18.980 Geschäften, wurde aber bis Ende des Jahrzehnts ausgeglichen, sodass es 1989 20.262 und 1990 sogar 22.088 Geschäfte gab. Außer in gewöhnlichen Geschäften konnte – wenngleich diese Möglichkeit schwächer entwickelt war – auch über Kataloge, wie dem deutschen Quelle, oder aber in Konsignationslagern einheimischer Außenhandelsbetriebe, sowie zollfreien Geschäf- Die gewohnte Art der Freizeitgestaltung, Tržišne informacije (TRIN), 1-2, 1979., 50-51; Gewohnheiten und Aktivitäten der Bevölkerung nach Altersstruktur, TRIN, 1-2, 1979, 55. Sabol, Vesna, „Wie verbringt man Freizeit“, TRIN, 3, 1985, 69-76. „Sie fragen – wir antworten: Komfortable Wohnungen oder nur Schlafstätten?“, VUS, 7. Mai 1975. „Auswahl aus dem reichhaltigen Assortiment der Nama-Warenhäuser“, Vikend, 17. Dezember 1971. „Konsumentenschutz: Nachtarbeit für Geschäfte verboten!?“, VUS, 11. Dezember 1976. Ebenda. „Manche mögen es Nachts (nicht)“, VUS, 10. Juli 197.; „Konsumentenschutz: Nachtarbeit für Geschäfte verboten!?“, VUS, 11. Dezember 1976. Statistisches Jahrbuch der Republik Kroatien (SGH), Kroatisches Statistikamt, Zagreb, 1991, 79. Relation 1_2011.indd 170 30.4.2011. 17:53:07 RELA TIONS ten eingekauft werden.17 Zur statistisch erarbeiteten Gesamtzahl der Geschäfte zählten auch Warenhäuser, die seit dem neunzehnten Jahrhundert als Tempel der Konsumkultur galten, sowie Selbstbedienungsläden, eine amerikanische Erfindung die nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa eingeführt wurde. In beiden Fällen wickelte sich der Einkauf zum Teil durch die Selbstbedienung des Käufers ab, der auf diese Weise den Erzeugnissen näher kommen, sie in die Hand nehmen und begutachten konnte, und schließlich mehr ausgab als ursprünglich geplant war, unbewusst, dass er von bestimmten Techniken der Platzierung von Erzeugnissen in bestimmten Teilen des Verkaufsraums, bzw. auf bestimmten Teilen der Regale beeinflusst war, worüber auch in der einheimischen Presse berichtet wurde.18 Sowohl Warenhäuser als auch Selbstbedienungsläden verzeichneten in Kroatien ein ständiges Wachstum: die Zahl von 607 Selbstbedienungen im Jahr 1970 hatte sich bis 1980 auf 1.194 verdoppelt und stieg bis 1990 zusätzlich auf 1.835 an; die Zahl von 13 Warenhäusern 1970 stieg bis 1980. auf 60 und bis 1990 sogar auf 151 an. Zu diesem Anstieg trug am Ende der achtziger Jahre auch die private Initiative bei. Zu den gesellschaftlichen Selbstbedienungen gesellte sich so auch das erste, Anfang 1988 in Savska Ves bei Čakovec eröffnete private Selbstbedienungsgeschäft.19 Dieses war werktags von 8 bis 21 Uhr geöffnet, sonn- und feiertags von 8 bis 12 Uhr. Die vollen Regale und um bis zu zehn Prozent niedrigeren Preise erfreuten die Käufer, die sogar als Varaždin oder Zagreb angereist kamen. In den ersten Mo17 18 19 20 21 22 1960er, 1970er, 1980er naten waren die Verkäufer zufrieden, der Eigentümer, Miro Vucković, besorgte notfalls mit dem Wagen Brot aus Slowenien und hatte nur die gesetzliche Einschränkung zu beklagen, der zufolge er nicht mehr als vier Personen anstellen durfte. Die Ausweitung des Handelsnetzes in den siebziger und achtziger Jahren verlief schneller als der Zuwachs der Bevölkerung, sodass sich immer weniger Konsumenten vor den Regalen der Geschäfte drängeln mussten: 1970 entfielen auf ein Geschäft 283 Einwohner, 1980 251 und 1990 214. Dem größeren Verkaufsraum und der höheren Zahl der Konsumenten auf der Seite der Nachfrage folgte auf der Seite des Angebots eine Erhöhung der Produktion von Massengebrauchswaren, deren Ausmaß zwischen 1970 und 1990 verdoppelt wurde, zum größten Teil in den siebziger Jahren, da die späteren Veränderungen eher gering waren.20 Trotz eines derartigen Wachstums in Handel und Leichtindustrie, wurde im Einzelhandelsumsatz kein ständiges Wachstum verzeichnet.21 Während der siebziger Jahre stieg der Verkauf, vor allem zwischen 1976 und 1979, als der jährliche Zuwachs sogar an die zehn Prozent betrug, sodass der Warenumsatz am Ende des Jahrzehnts rund 60 Prozent über jenem an dessen Anfang lag. 1979, nur ein Jahr nach dem höchsten realen Gehaltswert, wurde – getragen durch den in diesen Verhältnissen entstandenen Konsumoptimismus, sowie die Zugänglichkeit von Verbraucherkrediten – der Höhepunkt des Einzelhandelsumsatzes im zwanzigjährigen Zeitraum 19701990 verzeichnet. Der Zuwachs wäre noch höher gewesen, hätte man den 171 im Ausland realisierten Konsum dazugezählt. Nach 1980 befinden sich das reale Gehalt und der Handelsumsatz auf niedrigeren Ebenen und werden hauptsächlich in geringeren Steigerungen und Senkungen verfolgt, die Werte von 1979 sind jedoch nicht übertroffen worden, sodass das Jahrzehnt mit einem rund fünfzehn Prozent geringeren Umsatz endete. Es ist trotzdem interessant, dass die Wirtschaftskrise mehr Einfluss auf den realen Gehaltswert ausgeübt hat, als auf den Handelsumsatz, dessen Sinken nicht so ausgeprägt gewesen ist, wie jenes der Gehälter. Die Konsumgewohnheit war nicht mehr auszuschalten. Vielleicht waren es gerade die Stagnierung des Verkaufs und die leichte Senkung der Gehälter zwischen 1974 und 1975, die zur Diskussion über die ersten großen saisonbedingten Ausverkäufe geführt hatten, an die die Konsumenten nicht gewohnt waren. In Zagreb wurde nämlich 1974 zum ersten Mal von achtundvierzig Arbeitsorganisationen ein Selbstverwaltungsabkommen über den Verkauf von Waren zu ermäßigten Preisen unterzeichnet, demzufolge der Sommerausverkauf im August und Anfang September stattfand und der Winterausverkauf im Januar und Anfang Februar.22 Die ersten Versuche waren von einer zaghaften Werbung begleitet, während die Preisermäßigungen zwischen 20 und 90 Prozent lagen, manchmal für über sechs Jahre alte Waren. Die Konsumenten waren misstrauisch. Marija Dejanović, eine vierzigjährige Hausfrau, nahm keine Rücksicht auf die Preisermäßigungen: „Ich halte nicht viel von Preisermäßigungen. Wenn ich etwas brauche, kaufe ich es, koste es, was es wol- Quelle, VUS, 16. April 1975; „Konsignationen statt Triest“, Danas, 7. Dezember 1982. „Katze im Sack nach eigener Wahl“, VUS, 25. Juli 1973. „Alles für den Käufer“, RN, 15. Februar 1988. SGH-91, 72. SGH-91, 79. „Erste Schritte der Zagreber Ausverkäufe: Alles Hereinspaziert, aber langsam...“, VUS, 14. Juli 1974. Relation 1_2011.indd 171 30.4.2011. 17:53:07 172 le.“23 Ausverkäufe besuchte auch der 24jährige Maschinenschlosser Ivica Pavlek nicht: „Diese Ware ist nicht von hoher Qualität, meist stand sie lange irgendwo und ist heute aus der Mode geraten. Wir Jungen aber mögen, was modern ist. Jedes Jahr gibt es etwas Neues. Lieber kaufe ich etwas Modernes und von guter Qualität, und kann es dann drei Jahre lang problemlos tragen.“ Langfristige Modeplanung betrieb auch die 40jährige Zahnarztassistentin Bosiljka Riha, schreckte aber auch vor Ausverkäufen nicht zurück: „Manchmal kaufe ich T-Shirts und Blusen zu ermäßigten Preisen. Sie sind praktisch, egal, wie lange sie dauern, und der Preis ist auch nicht hoch. Das, was bei Ausverkäufen angeboten wird, ist meist aus der Mode geraten und kann anders nicht mehr verkauft werden. Ich kaufe mir lieber teurere Schuhe. Sie sind modern und ich trage sie lange. Wir haben bei Varteks auch Kredite, sodass ich mir ein Kleid für siebzig Tausend gekauft habe. Wo ich schon diese Möglichkeit habe, kaufte ich etwas solides, es ist auch besser, als wenn ich solche Sachen im Ausverkauf kaufen würde.“ Vorsicht erweckte das Konzept der Ausverkäufe und Preissenkungen bei jenen Konsumenten, die damit rechneten, sie würden alte oder beschädigte Waren erhalten, sodass sie als sparsame Käufer – das Sprichwort „Wie viel Geld, so viel Musik“ befolgend – von den Konsumgütern eine gewisse Dauerhaftigkeit erwarteten. Qualität kaufen, die dauert, Kleidung und Schuhe im Voraus besorgen und diese tragen, bis die Not einen nicht zwingt, neue zu kaufen, das waren die bekanntesten Konsumdevisen Ende der achtziger Jahre. Untersuchungen hatten ergeben, dass die Erwartungen der 23 24 25 26 27 RELA Igor Duda: Der gefundene Wohlstand Konsumenten bereits seit 1980 immer niedriger wurden, dass sie erwarteten, derselbe Mantel würde fünf bis sechs, dieselben Stiefel mindestens vier Jahre dauern. 61 Prozent der Jugoslawen hatte nur ein bis zwei Paar Schuhe, „das Schlimmste aber war, dass beinahe drei viertel von ihnen der Meinung war, mehr hätten sie auch nicht nötig“.24 Lutrija Hrvatske, Danas, 1982. Gleichzeitig gesellten sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zum Handelsnetz auch zollfreie Geschäfte, bzw. Duty Free Shops hinzu. Diese populären Geschäfte, deren Ziel es war, den Zufluss an Devisen zu fördern, wurden ab 1986. nur für Ausländer und im Ausland angestellte einheimische Arbeiter eröffnet, da das Angebot aber hauptsächlich auf Zigaretten, Getränke und Parfüms beschränkte, waren ihre Einkünfte nicht besonders hoch.25 Gewöhnliche einheimische Konsumenten, die sich etwas aus dem Angebot derartiger Läden wünschten, nutzten dazu ihre Bekanntschaften zu Touris- TIONS ten, die dem Ambiente des bekannten hauseigenen Touristikgewerbes ohnehin durch Geschenke aus dem Ausland beitrugen. 1898 blühte der zollfreie Handel auf, teils wegen des europäischen Trends zur Verbesserung des mediterranen Tourismus, wobei auch Jugoslawien nicht zurückbleiben wollte, teils wegen der inneren Handelsliberalisierung, die besagte Geschäfte auch den einheimischen Käufern zugänglich machte.26 Die Regale waren voller verschiedener importierter Waren, die Bürger kauften für ihre Devisen alles, von Getränken, über Süßigkeiten bis hin zu Videorecordern, und genossen die Tatsache, dass sie jetzt, wenn auch in einer Art Zwischenraum, all das kaufen Konnten, was zu früheren Zeiten nur im Ausland zugänglich war. Die 25jährige Verkäuferin Sonja Becić wunderte sich über den Andrang: „Die meisten haben kaum genug Geld zum Überleben, jene wenigen, die es haben, wissen offensichtlich nicht wohin damit. Jeden Tag kommen viele Menschen zu uns in den Free Shop, es wird viel eingekauft und meine Kolleginnen sagen auch, sie hätten alle Hände voll zu tun. Und sehen sie doch nur, wie viele wir sind, an jeder Straßenecke ein Geschäft. Gekauft wird alles: Parfüms, Getränke, Schmuck, Zigaretten, Kaffee, Technik. Aber wer kauft das alles!?“27 Ihren Beitrag zu dieser Praxis leistete gewiss auch die Fremdenverkehrssaison 1988, als mehr Ausländer denn je das Land besuchten. So wurden auch mehr Devisen verdient bzw. gewechselt, während die Gehälter bis 1989 real um zwanzig Prozent anstiegen und endlich wieder jene von 1976 erreichten, die ein sehr angenehmes Ende der siebziger Jahre eingeleitet hatten, sodass „Wir fragen – Sie antworten: Bürger, nutzt ihr Ausverkäufe?“, VUS, 5. Februar 1975. „Entbehrungen wollen wir nicht entbehren“, Vikend, 10. März 1989. „Wer kauft im Free-Shop“, Danas, 2. September 1986. „Luxus oder Bedürfnis“, Vikend, 3. März 1989; „Wie passt man sich dem Markt an“, Vikend, 10. März 1989. „Entbehrungen wollen wir nicht entbehren“, Vikend, 10. März 1989. Relation 1_2011.indd 172 30.4.2011. 17:53:07 RELA TIONS Optimisten auch jetzt etwas Ähnliches erwarten konnten. Der Anstieg des Verkaufs hing von der Zahlungskraft der Käufer ab und diese konnte sich durch Zahlungsverschiebung und Ratenzahlung an den Verkäufer so gut wie fiktiv erhöhen. Auf der Suche nach Regelmäßigkeiten in der Verwaltung finanzieller Mittel, könnte grob gesagt werden, die Aufmerksamkeit der Medien haben in erster Linie die Ersparnisse auf sich gezogen, danach wurden diese durch Kredite und schließlich durch Checks verdrängt, während Kreditkarten in geringerem Ausmaß die ganze Zeit über anwesend waren. Während die Zagreber Kreditbank 1974 in ihren Werbeanzeigen ihren Kunden mitteilte: „Sparen Sie ihr Geld, um es ausgeben zu können“, bzw. „Mit dem bei der Zagreber Kreditbank investierten Geld erfüllen Sie ihre schönsten Wünsche“ und die Jugobanka der Hauptbuchhalterin im Haushalt anlässlich des Tages der Frau ein Sparbuch anbot, denn: „Die ökonomisch bewusste Hausfrau verwaltet ihr Budget zur Zufriedenheit ihrer Hausgenossen. Sie spart und ökonomisiert mit jedem Dinar. Der Überschuss wird auf die Seite gelegt. Sie hat ein Sparbuch...“, kamen Journalisten voller Zufriedenheit zum Schluss, es gäbe keinen Grund zur Sorge, denn die Kreditverschuldung der Bürger sei geringer, als die Beträge auf ihren Sparbüchern.28 Kredite wurden meistens direkt bei Banken aufgenommen, unter besonderen Bedingungen über den Arbeitsplatz, ihr häufigster Zweck war die Ausstattung des Wohnraums mit Möbeln und Elektrogeräten. Sie waren leicht zu28 29 30 31 32 33 34 1960er, 1970er, 1980er gänglich, denn sie waren z. B. Ende der siebziger Jahre im Dienste der staatlichen Maßnahmen zur Belebung des Konsums, deren Ziel es war, die mit unverkaufter Ware überfüllten Lagerhäuser zu leeren: „Ende vergangenen Jahres hatte die jugoslawische Wirtschaft z. B. 50 Prozent der jugoslawischen Produktion gelagert. Spekulativ betrachtet bedeutet das, dass wir unsere Geschäfte für sechs Monate hätten schließen, uns in den Schatten legen und wie Hamster oder Eichhörnchen an unseren Vorräten zehren können. Und dass dabei nichts Nachteilhaftes passiert.“29 Die Kredite waren günstig und billig, da die Inflation während des Zeitraums der Abbezahlung die Höhe der Rate senkte. Anfang der achtziger Jahre zahlte jeder zweite Haushalt einen Kredit ab, Familien, die 25 bis 35 Tausend Dinar verdienten, bzw. ca. zwei Durchschnittslöhne, zahlten 4.700 Dinar an monatlichen Kreditverpflichtungen ab.30 Höhere Einkünfte bedeuteten zugleich höhere Verschuldung, also, auch größere Konsumappetite. Die Nachfrage nach Krediten rief demzufolge negative Reaktionen hervor, vor allem wegen ihrer nicht zweckgemäßen Verwendung, die nicht zu rechtfertigen war und auf der Übertragung der spärlichen gesellschaftlichen Mittel in die Hände von Privatschuldnern beruhte.31 Die Bedingungen wurden daraufhin verschärft und die Bürger gewöhnten sich – neben der bereits bewährten Unterstützung durch die Eltern, der Landwirtschaft und der Schwarzarbeit – an eine neue Art des Zahlungsaufschub, bekannt als Scheck mit Aufschub. 173 Die Schecks lebten nach 1981 auf, als die Arbeitsorganisationen damit aufhören müssten, Löhne in Lohntüten zu packen und begannen, sie stattdessen über Sparbücher und laufende Konten auszuzahlen.32 Viele verstanden damals nicht, dass ein laufendes Konto die bessere Wahl sei und entschlossen sich für das Sparbuch, während jene Arbeiter, denen vom Arbeitgeber ein laufendes Konto zwecks Gehaltsauszahlung eröffnet wurde, gingen zur Bank und hoben den ganzen Betrag auf einmal ab, ohne den Wunsch, ihr Geld in der Bank zu lassen, oder sich für Schecks und permanente Zahlungsaufträge zu interessieren. Übertrieben interessiert waren sie auch nicht an den großen Plänen des Bankensystems, den Zahlungsverkehr durch bargeldlose Zahlungen zu beschleunigen und billiger zu machen, sowie die Geldmenge zu reduzieren: „Ein derartiges Arbeitssystem sieht die Einführung von Bankomaten voraus, die, mit Bargeld gefüllt, in Banken, Wechselstellen und Postämtern aufgestellt werden, um von den Bürgern selbst benutzt zu werden, die mittels Geldkarte die von ihnen benötigten Beträge abheben.“33 Zu den Bankomaten, die anhand von Fotografien des westdeutschen „Geldautomaten“ noch 1978 den kroatischen Lesern vorgestellt wurden, hätte sich in dieser futuristischen Vision gegen Mitte der achtziger Jahre sogenannte POS-Terminale zur mittellosen Zahlung in Geschäften dazugesellen sollen.34 Für die Besitzer laufender Konten wurden jedoch gerade um die Mitte des Jahrzehnts Schecks besonders interessant. Sie hatten nämlich be- Kreditbank Zagreb, VUS, 4. Dezember 1974; Jugobanka, VUS, 6. März 1974.; „Immerhin sparen wir mehr, als wir schuldig sind“, VUS, 20. November 1974. „Käufer an den Konsum verkauft“, Start, 10. Dezember 1978. „ZIT/CEMA: Kredite ohne Motive“, Danas, 15. Februar 1983.; „ZIT/CEMA: Kredite ohne Kontrolle“, Danas, 26. April 1983. „ZIT/CEMA: Kredite ohne Kontrolle“, Danas, 26. April 1983. „Ohne Banknoten im Verkehr“, Vikend, 10. Januar 1986. Ebenda. „Non-stop Geld“, Start, 14. Juni 1978; „Ohne Banknoten im Verkehr“, Vikend, 10. Januar 1986. Relation 1_2011.indd 173 30.4.2011. 17:53:07 174 Igor Duda: Der gefundene Wohlstand griffen, der Scheck brauche eine gewisse Zeit, um zur Einlösung zu gelangen und begannen, ihn zur Eigenkreditierung zu gebrauchen, ja sogar zum gesetzwidrigen Ausstellen ungedeckter Schecks, also zum Ausgeben des kommenden Gehalts, im Wissen, dass zum Zeitpunkt der Ausstellung oder Einlösung des Schecks die notwendigen Mittel auf dem Konto nicht verfügbar sein werden.35 Während auf mündlichem Wege, vor allem unter den Konsumenten, gute Nachrichten über die Geschäfte umgingen, die Schecks langsamer einlösten und sich ihre Ware mit mehreren Schecks bezahlen ließen, fanden die Banken an dieser Art zinsloser Kreditierung und verantwortungslosem Handeln ihrer Klienten wenig Gefallen.36 Nachdem der Bundesexekutivrat Mitte 1989 die Schecks auf Aufschub eingestellt hatte, waren die Bürger wegen dieses Beschlusses der Bundesregierung verbittert, da eine Fertigkeit, von der, wie es scheint, Frauen am meisten Gebrauch machten, auf einmal jeglichen Wert verloren hatte. Besorgt gab sich der Bauarbeiter Stjepan Bjenić, angestellt bei der Arbeitsorganisation Zagreb-Grič: „Ich komme durch selbstständige Arbeit in der Freizeit aus, die den meisten als „Pfusch“ bekannt ist. Mein Gehalt deckt gerade mal die Stromkosten. Bei größeren Einkäufen rettete mich bisher meine Frau, die wusste, wie man mit solchen Schecks umgeht, sodass wir irgendwie auskamen. Jetzt weiß ich nicht mehr weiter. Am meisten besorgt bin ich um die Zukunft meiner Kinder. Solange ich gesund bin und den ganzen Tag 35 36 37 38 39 40 41 42 arbeiten kann, schaffen wir es gerade noch, ich fürchte aber, ich könnte erkranken oder in andere Nöte geraten.“37 Ähnlich dachte auch Zvonko Kota, Angestellter der Verlagsdruckerei Naša djeca aus Zagreb: „Ich bin der Meinung, es war dumm, die Bezahlung durch Schecks auf Raten einzustellen. Wir können doch ohne Kredite nicht mehr leben! Neulich habe ich ganz gewöhnliche Lebensmittel für drei Schecks gekauft. In meiner Firma kaufen alle auf Kredit und zwar alles. Vom Gehalt lässt es sich überhaupt nicht mehr leben. Angeblich wird um unsere Zukunft gekämpft, dabei sind wir es, die alles austragen müssen.“38 Derselben Meinung war auch Josip Kovačević, Informationsreferent der Volkshochschule Slunj: „Persönlich habe ich von den Schecks auf Aufschub nicht Gebrauch gemacht, dafür war meine Frau spezialisiert. Sie und ihre Kolleginnen hätten bereits Doktortitel im Ankämpfen gegen die meist unsinnigen Maßnahmen der Regierung erhalten können. Jeder gibt sich um den arbeitenden Menschen besorgt, man verspricht ihm einen besseren Sozialismus, und dann werden ihm die Schecks eingestellt. Ohne Kredit geht es nun mal nicht. Die neuen Kredite werden nicht mehr so günstig sein.“39 Die bevorstehenden Ereignisse werden zeigen, dass ohne Schecks auf Aufschub und günstige Kredite der Sozialismus selbst nicht mehr lange leben wird, nicht einmal mit Hilfe von Kreditkarten, die bereits seit zwanzig Jahren ein zwar seltenes, dafür aber legales Mittel bargeldloser Zahlung waren. RELA TIONS Durch ihre Arbeit mit ausländischen Touristen dazu bewogen, führten kroatische Fremdenverkehrsagenturen als erste Kreditkarten in Jugoslawien ein. Generalturist war seit 1969 Vertreter des Diners Clubs, während Atlas 1972 einen Vertrag mit American Express abschloss. Es sollten weitere folgen, sodass die slowenische Agentur Kompas Eurocard und die serbische Centroturist Carte blanche vertrat, letztere jedoch ohne Recht auf die Ausstellung von Kreditkarten. Die Jugobanka arbeitete mit Visa, allerdings nur als Debitkarte.40 Den Kreditkartenverkehr seit Anfang der siebziger Jahre beobachtend, meldete die Behörde für gesellschaftliche Buchhaltung, Kreditkarten würden „in der Wirtschaft eines Landes eine wichtige Rolle spielen, da sie die Geldmasse in den Banken zurücklassen, die diese mehrfach benutzen kann“, während Journalisten zum Schluss kamen, Kreditkarten würden „die Geldbörsen der Jugoslawen unaufhaltsam überfluten“.41 Das war ein ziemlich euphorischer Standpunkt, da der Diners Club 1973 in Jugoslawien an die dreitausend und American Express lediglich dreihundert Mitglieder hatte.42 Alle Werbebotschaften richteten sich an den modernen Menschen, der ohne Einschränkungen leben will: „Bewahren Sie Ihr Geld auf der Bank – bezahlen Sie für Ihre alltäglichen Bedürfnisse mit Ihrer Unterschrift!“; „Die Diners Karte ist mehr als Geld – sie ist der Beweis für die Rationalität des modernen Menschen“, „Diners – der Personalausweis des modernen Geschäftsmanns!“, „Mit einer Diners „Der Scheck, der Leben bedeutet“, RN, 5. Juni 1989. „Schecks erlösen“, RN, 18. Juli 1988. „Mini-Umfrage: Wie ohne Kredite?“, RN, 28. August 1989. „Mini-Umfrage: Wie ohne Schecks auf Aufschub?“, RN, 31. Juli 1989. Ebenda. „Jugoslawien auf der Kreditkarte“, Start, 24. Oktober 1981; „Wie mit der Unterschrift bezahlen“, Vikend, 27. Dezember 1985; „Unser Test, Ihre Wahl“, Start, 29. November. 1986. „Kreditkartenflut“, VUS, 14. November 1973. „Bargeld ist Vergangenheit“, Start, 9. März 1977. Relation 1_2011.indd 174 30.4.2011. 17:53:07 RELA TIONS Karte können Sie bereits heute das, was sie sonst erst viel später könnten.“43 Der Markt reagierte, sodass 1981 von den rund 70 Tausend Kreditkartenbenutzern in Jugoslawien 31 Tausend auf Diners entfielen, was noch immer 4 Tausend mehr bedeutete als bei American Express.44 Die Kreditkarten hatten ihre „Effektivität im einheimischen und ausländischen Zahlungsverkehr zugunsten unseres Landes“ endgültig bewiesen, wobei lediglich ein halbes Prozent der Nutzer ihre Rechnungen nicht regelmäßig beglich, die gegen sie eingeleiteten Gerichtsverfahren warteten allerdings wegen der „Überbelastung der Gerichte“ lange auf ihre Erledigung.45 Bis 1985 hatte beinahe jedes Geschäft einen Vertrag mit mindestens einer Kreditkartenanstalt, die Zahl der Kreditkarten wuchs indessen auf rund hunderttausend.46 Die Bereits im nächsten Jahr veröffentlichten Resultate deuteten auf einen großen Andrang auf American Express hin, der mit 90 Tausend Mitgliedern die Zahl der 37 Tausend Diners-Nutzer sichtlich übertraf, größtenteils wegen seiner niedrigeren Gebühren.47 Im Jahr 1986, als das Durchschnittsgehalt in Kroatien 90.995 Dinar betrug, betrug die Einschreibegebühr bei American Express 5 Tausend und der Mitgliedschaftsbeitrag 7.000 Dinar, während man bei Diners 15 Tausend Dinar Einschreibegebühr und 5 Tausend Dinar Mitgliedschaftsbeitrag zahlen musste.48 Ende 1988 hatte Ameri43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 1960er, 1970er, 1980er can Express in Jugoslawien sogar 140 Tausend Nutzer. Aus der Zagreber Filiale wurde bekanntgegeben: „Wenn die Leute aus der American-ExpressZentrale unseren Anstieg sehen, sind sie sprachlos! Wir sind das einzige sozialistische Land mit aktiver Karte.“49 Sogar die Hälfte der Anwärter musste wegen nichterfüllter Bedingungen abgewiesen werden, was früher nicht der Fall war. Die Inflation und der deutlich niedrigere Lebensstandard hatten das Ihrige getan, die Kreditkarte blieb als einzige Möglichkeit die Zahlung aufzuschieben, sodass es immer mehr Transaktionen gab. Die zu bezahlenden Beträge auf den Konten wurden jedoch immer niedriger, denn viele kamen aus Lebensmittelgeschäften. Neben der verschiedenen Arten der Zahlung mit Aufschub, gewannen in den achtziger Jahren Glücksspiele an Beliebtheit, eine weitere Konsumpraxis, deren Stärkung die Senkung des Lebensstandards beigetragen hatte. Die hoffnungsvollen Blicke waren jetzt auf Lotterielose gerichtet, ebenso suchte man darin sein Lebensglück.50 Da es anders anscheinend nicht mehr ging und die zahlreichen Preise in der Tages- und Revuepresse schon keinen Wohlstand bringen konnten, träumten die Spieler davon, gerade im Lotto die verlorene lichte Zukunft wiederzufinden. Die Kroatische Lotterie war eine der neun jugoslawischen Lottoorganisationen und war z. B. 1983 mit einem Einkommen von 2,6 Millionen Dinar 175 die führende im Land, ihr 26prozentiger Anteil am Einkommen auf Bundesebene war jedoch niedriger als der 48prozentige Anteil am Gesamtverkehr, der von den vier serbischen Lotterien gemeinsam erzielt wurde.51 Im selben Jahr verdiente der Arbeitnehmer im Durchschnitt 17.317 Dinar, während der durchschnittliche Lottogewinn bei 5/36 als populärstem Spiel 280 Tausend Dinar, bzw. sechzehn Monatslöhne betrug, es blieben aber auch Gewinne in Erinnerung, die reichten, um eine Dreizimmerwohnung zu kaufen.52 Die Arbeit der Kroatischen Lotterie, als Hauptorganisator von Glücksspielen, wurde seit 1973 statt durch ein Bundesgesetz durch das neue Landesgesetz über Glücks- und Unterhaltungsspiele geregelt.53 Unter dem Slogan „Kroatische Lotterie – ein Spielsystem“ stand eine ganze Palette von Spielen im Angebot, an denen Mitte der achtziger Jahre mit ihren Einzahlungen Schätzungen zufolge rund 12 Prozent der Bevölkerung teilnahm und dadurch einen Fond bildete, aus dem die Hälfte der Mittel durch Gewinne an die Spieler zurückgegeben wurde, ein Fünftel für die Kosten der Kroatischen Lotterie übrigblieb, während ein beträchtlicher Anteil dem Wohle der Gemeinschaft zugute kam, wie es auch in der Werbung erörtert wurde: „Lose, Express-Lotterie, Sportprognose, Lotto, Tombola, Spielautomaten... bilden das einheitliche Spielsystem der Kroatischen Lotte- Diners Club, Start, 18. Oktober 1978, 15. November 1978., 10. Dezember 1978.; Diners Club, SAM, Oktober 1978. „Jugoslawien auf der Kreditkarte“, Start, 24. Oktober 1981. Ebenda. „Nutzer kreditieren die Kreditorganisation“, Vikend, 13. Dezember 1985.; „Wie die Mitglieder vertreiben“, Vikend, 20. Dezember 1985. „Unser Test, Ihre Wahl“, Start, 29. November. 1986. „Nutzer kreditieren die Kreditorganisation“, Vikend, 13. Dezember 1985.; „ Unser Test, Ihre Wahl „, Start, 29. November 1986. „Unerschöpfliche Kaufinspiration“, Danas, 14. November 1989. „Gibt es Glück im Leben“, Danas, 10. Mai 1983; „Schlangen vor den Glücksgeschäften“ RN, 18. November 1985. mehr zur Lotterie der Achtziger siehe in: Bahtijarević, Štefica, Hrsg., Osnovna obilježja igrača i vrste igara na sreću, IDIS, Zagreb, 1991. „Gibt es Glück im Leben“, Danas, 10. Mai 1983; „Wer handelt mit Glück“, RN, 1. Oktober 1984. „Gibt es Glück im Leben“, Danas, 10. Mai 1983. „Glücksspielgesetz“, Narodne novine (NN), 31/73; „Glücks- und Unterhaltungsspielgesetz“, NN, 33/83; „Wer handelt mit Glück“, RN, 1. Oktober 1984. Relation 1_2011.indd 175 30.4.2011. 17:53:07 176 Igor Duda: Der gefundene Wohlstand rie – das Spiel ist ein Bedürfnis des Menschen. Aber die Glücksspiele der Kroatischen Lotterie sind auch Spiele für den Menschen: neben den persönlichen Gewinnen unserer Mitspieler, unterstützt die Lotterie soziale und humane Projekte, die gesellschaftliche Fürsorge für Kinder und Jugendliche, sowie die physische und technische Kultur, als gemeinsamen, weiteren Gewinn für uns alle.“54 In Zusammenarbeit mit der Tageszeitung Večernji list startete die Lotterie das Spiel Veldo, eröffnete Hallen mit Spielautomaten und übernahm ab 1984 auch die Kontrolle über dem restlichen Teil der privaten Spielautomaten in Gaststätten und Vergnügungsobjekten, der in Kroatien vor der Verabschiedung dieser gesetzlichen Bestimmung an die 5 Tausend betrug.55 Bunte Druckwerbung der Kroatischen Lotterie, darunter auch Fotografien von Modellen, die in Venedig aufgenommen wurden, lockte mit Behauptungen, der Gewinn komme „stets zur rechten Zeit“, die Express-Lotterie sei eigentlich „der Augenblick der glücklichen Wahl“ und Lotto einfach „die Freude des Miteinanders“.56 Lotto brachte in den Achtzigern vielen Menschen Freude und war das beliebteste Spiel, im Unterschied zu den Siebzigern, als die Sportprognosen diesen Platz einnahmen.57 Der Beliebtheit der gelben Trommel, aus der einmal wöchentlich Kügelchen mit Zahlen hervor purzelten, trugen zum Teil auch die Moderatorinnen der Fernsehziehungen bei.58 Auch kroatische 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 Zuschauer wurden bei den Lottoziehungen aus dem Belgrader Studio von Suzana Mančić, einer blonden „glückhändigen“ Schönheit, die es verstehe, „die Stimmung zu heben“, zu den Bildschirmen und zum Spiel gezogen.59 Es gab aber auch andere Kommentare, die infolge des riesigen Interesses an Lottogewinnen zur Nüchternheit ermahnten: „Im Hintergrund von Suzana Mančićs magischen Bewegungen und ihres eisigen Lächelns existieren zahlreiche Geschichten: von jener, die Glückspiele als gesellschaftlich gerechtfertigt erscheinen lässt, bis zu jener, die sie ebenso schädlich macht. Die Krise drückt alldem ihren Stempel auf.“60 Auf ähnliche Weise wurde die Krise der Werte von der Barbie-Puppe verkörpert, die, „unmenschlich und leblos“ in ihrer Vollkommenheit, zusammen mit verschiedenem Zubehör und ihrer gesamten Familie in Kommissionsgeschäften erstanden werden konnte.61 Das Kokettieren mit der Körperlichkeit, vor allem jener weiblichen, war nicht nur Teil der Lottoziehungen, sondern tauchte auch auf anderen Gebieten auf und bestätigte auf diese Weise die Beliebtheit schöner Gesichter und Körper in der Konsumkultur. Nur ab und zu kam es zum Moralisieren und Ironisieren, das der in der Revuepresse ohnehin spärlich vertretenen sozialistischen und feministischen Kritik nur eine schwache Hilfe war. 1971 wurde über die körperliche Ausnützung jener Mädchen geschrieben, die als Hostessen RELA TIONS bei Messeveranstaltungen arbeiteten, deren Engagement dabei aber nicht aufhörte, sondern sich auch auf die Begleitung bei abendlichen Vergnügen, teure Geschenke und ungewollte Schwangerschaften ausdehnen konnte: „Sie aber müssen allein entscheiden, ob sie nur Informatorinnen bleiben, oder sich als ausgestellte Ware benehmen wollen. Sie müssen sich darüber im Klaren sein, wo die Grenzen des Charmes liegen.“62 Die Warnung wurde ausgesprochen, aber die Art der Arbeit war auch weiterhin Sache der Mädchen und der Vertreter der sozialistischen Wirtschaft. Zugleich konnte man auf den Zagreber Straßen Abiturientinnen in sehr kurzen „Hotpants“ sehen, die gut aufgenommen wurden, sodass ein entsprechender Zug der einheimischen Textilindustrie und des dazugehörigen Handels erwartet wurde: „Große Gruppen junger Mädchen gingen selbstsicher im letzten Schrei der Mode auf unseren Straßen spazieren und wurden vom Publikum äußerst gut aufgenommen. Vor allem vom männlichen.“63 Dasselbe Publikum verfolgte mit Interesse zahlreiche Schönheitswettbewerbe, von der Wahl zur Miss irgendeiner Sommerterrasse bis hin zu den großen Veranstaltungen, bei denen die Schönheitsköniginnen Jugoslawiens oder gar der Welt gewählt wurden. So wurde 1972 die 19jährige Zagreberin Anđelka Božić wegen ihrer „Direktheit, Heiterkeit und Herzlichkeit, ihrer guten Englischkenntnisse und natürlich ihres „ Schlangen vor den Glücksgeschäften „, RN, 18. November 1985.; Kroatische Lotterie, Start, 16. Juni 1984 (Zit.). Veldo, Danas, 12. August 1986.; Kroatische Lotterie, Danas, 19. August 1986.; „Wem nützen Automaten“, Danas, 2. Oktober 1984.; „Wer handelt mit Glück“, RN, 1. Oktober 1984.; „Industrie der Hoffnung und des Vergnügens“, Danas, 2. Juli 1985; „Glücks- und Unterhaltungsspielgesetz“, NN, 33/83, Art. 78. Kroatische Lotterie, Danas, 30. März 1982., 14. August 1984.; Kroatische Lotterie, Vikend, 4. mai 1984. „Gibt es Glück im Leben“, Danas, 10. Mai 1983. Titelseite, Vikend, 27. März 1981; Kroatische Lotterie, Vikend, 4. Mai 1984. Titelseite, Vikend, 20. Dezember 1985; „Suzana hebt die Stimmung“, Vikend, 20. Dezember 1985. „Schlangen vor den Glücksgeschäften“, RN, 18. November 1985. „Spielzeug ist eine ernste Sache“, Danas, 11. Dezember 1984. „Die gefährliche Grenze des Charmes“, VUS, 5. Mai 1971. „Wen wärmen Hotpants, VUS, 26. Mai 1971. Relation 1_2011.indd 176 30.4.2011. 17:53:07 RELA TIONS Charmes und ihrer Schönheit“ in Tokio zur „Miss Young International“ gewählt, was den bis dahin größten jugoslawischen Erfolg bei internationalen Wettbewerben darstellte.64 Zwei der populärsten jugoslawischen Schönheitsköniginnen hatten Anfang der achtziger Jahre erfolgreich die Medien erobert: die Kroatin Ana Sasso 1982 und die Slowenin Bernarda Marovt 1983.65 Die erste – bis dahin als hawaiianische Strandkönigin aus Split und nachher für die Fernsehwerbung für das von Dalmacijavino aus Split hergestellte Getränk Pipi bekannt – wurde bei einer Veranstaltung in Banja Luka vor rund sechstausend Zuschauern in erhitzter Atmosphäre gewählt, da einige Bewerberinnen Beschuldigungen hinsichtlich Favorisierung und Resultatfälschung hervorbrachten: „Eigentlich hat keine Chancen gegen Ana Sasso und ihr gepflegtes Image: Haar, Gang, Selbstgefälligkeit und einige kleine Tricks machen das Spliter-hawaiianische Sternchen zur absoluten Favoritin der Generalprobe und des morgigen Wettbewerbs.“66 In der Jury saßen unter anderem Saša Zalepugin, Ćiro Blažević und Fahreta Jahić alias Lepa Brena, die neben Zdravko Čolić, Miroslav Ilić und Meri Cetinić auch als Sängerin die Bühne betrat. Die Mädchen trugen Schuhe der Fabrik Borovo aus Vukovar, beide Begleiterinnen waren ebenfalls aus Kroatien: Asja Brešan aus Split und Elizabeta Vidas aus Rijeka. Die muskulösesten Männer wurden bei klei64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 1960er, 1970er, 1980er Ana Sasso, Vikend, 1982. neren Wettbewerben gewählt, über die schönsten urteilte jedoch nicht die Jury, sondern aufgrund von Zeitungsumfragen entstandene Charts, wie jene der Zeitung VUS aus dem Jahr 1971, als tausend Frauen beschlossen, die attraktivsten Jugoslawen seien wie folgt: Mića Orlović, Nikola Pilić, Arsen Dedić, Ljubo Jelčić, Vice Vukov, Oliver Mlakar, Ivica Šerfezi, Boris Buzančić, Relja Bašić usw.67 Über die Charakteristiken ihrer Landleute wurden in ähnlichen Umfragen auch prominente Frauen wie Helga Vlahović, Josipa Lisac oder Mija Oremović befragt.68 Die Revuepresse verfolgte die Trends der Damen- und Herrenmode und kürte Mirjana Rakić zur best- und Neda Ukraden zur schlechtgekleidetsten Frau, bzw. Frano Lasić zum best- und Ivo Pogorelić zum schlecht- 177 gekleidetsten Mann.69 Geschrieben wurde über Herren- und Damenfrisuren, Frisuren für Junge, sowie die „Top-Frisur“ der Schauspielerin Linda Evans, Star der amerikanischen Seifenoper Denver Clan, die unter den einheimischen Zuschauern außerordentlich beliebt war.70 Vorgestellt wurde ferner Damen- und Herrenkosmetik einheimischer und ausländischer Hersteller, so auch das Haarshampoo Go Gay, das, durch seinen Namen an Lebendigkeit erinnernd, beschädigtem Frauenhaar seine Schönheit zurückgab.71 Männern wurde suggeriert, „Aussehen, Geruch, Benehmen und Stil seien bei ihnen genauso wichtig und obligatorisch wie bei Frauen [...] und dass sie sich dieser Transformation wegen nicht wie Schwule fühlen müssen“.72 Die Nachfrage nach Männerkosmetik stieg, sogar in den einheimischen Verhältnissen, in denen „im Volk auch sonst eine sonderbare, geradezu mystische Angst vor Wasser herrscht“, der wachsende Verkauf war jedoch den Frauen zu verdanken, die Männern Kosmetikerzeugnisse als Geschenke kauften.73 In der Atmosphäre befreiter Sexualität wurde auch die Zeitschrift Erotika reklamiert und gelesen, geschrieben wurde auch über erotische Zeitschriften für Frauen, als neuem westlichem Trend.74 In diesem Zusammenhang sprach man auch von einer porno-bürokratischen Gesellschaft, als Folge pornografischer Freiheit und ideologisch- „Miss World“, VUS, 9. August 1972. „Bernarda Marovt Miss Jugoslawiens“, Start, 10. September 1983; „Fünfzig Tage der Bernarda Marovt“, Start, 8. Oktober 1983; Titelseite, Vikend, 23. September 1983. „Schönheitsmesse in Banja Luka“, Start, 11. September 1982; Titelseite, Vikend, 17. September 1982. „Mister delija rmpalija“, VUS, 30. Juni 1971; „Die attraktivsten Jugoslawen“, VUS, 13. Januar 1971. „Frauen antworten – wie sind die Jugoslawen so?“, VUS, 27. Februar 1974. „Die zehn best- und schlechtgekeleidetsten Jugoslawen“, Start, 10. Januar 1987. „Frisuren für Jugendliche“, Vikend, 7. Januar 1983; „Frauen mit Top-Frisuren“ Vikend, 7. Januar 1983. Go Gay, VUS, 29. August 1973. „Gebrauch des behaarten Körpers“, Danas, 22. Dezember 1987. „Zeit des männlichen Körpers“, Danas, 20. Juni 1989 (Zit.); „Rebus männlicher Düfte“, Start, 17. November 1971; „Gebrauch des behaarten Körpers“, Danas, 22. Dezember 1987. Erotika, Vikend, 25. April 1986.; „Magazin für Frauen – Untergang der Männerwelt?“, Start, 4. Dezember 1974. Relation 1_2011.indd 177 30.4.2011. 17:53:07 178 Igor Duda: Der gefundene Wohlstand politischer Disziplin.75 Für den Fall des Falles hatte man Androgel, Tabletten aus natürlichen Bienenerzeugnissen, ein Medikament, das „die allgemeine Kondition verbessert, aber auch die Potenz steigert.“76 Die Sorge um die Gesundheit wurde zum Teil der Konsumkultur: in Artikeln über Lebensdauer und Organalterung versuchte man, die Frage nach dem Jungleiben zu beantworten, geschrieben wurde über die ersten Saunen und privaten Fitnessstudios, reklamiert wurden Fitnessgeräte, sowie der Aerobic-Bestseller der amerikanischen Schauspielerin Jane Fonda.77 Bei soviel Werbung für verschiedene Produkte stellt sich die Frage, ob die Überfüllung des medialen Raumes durch ökonomische Propaganda überhaupt das Übel war? Hatte sie eine falsche Welt geschaffen und unbegründet die Entwicklung einer übertriebenen Konsummentalität vorangetrieben? In Anbetracht der Überhäufung der westlichen Medien und Straßen mit Werbung, der Entwicklung einer speziellen Werbeindustrie, ja sogar der Unterbrechung von Filmen durch gesendete Werbung, was im Zagreber Fernsehen nur kurze Zeit im Rahmen der Serie Peyton Place Anfang der siebziger Jahre der Fall war, käme man zum Schluss, die Situation in Kroatien sei anders gewesen und von einem Werbeterror hätte nicht die Rede 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 sein können.78 Dennoch hat die einheimische Werbeindustrie existiert. Diese auf wissenschaftliche Weise betrachtend kam der kroatische Marketingexperte Fedor Ross 1978 zum Schluss, das „Konzept der Marktorientierung (Marketing) sei in unserer Theorie und Praxis dominant“, fügte aber 1982 hinzu, es sei nicht genug getan worden, um die Marktorientierung zur Gänze zu verwirklichen und dass die Praxis „noch immer mit veralteten, verlassenen und nichteffektiven Klischees des geschäftlichen Umgangs mit dem marktorientierten Handeln“ zu kämpfen hat.79 Die Akzeptanz des Marketings befand sich in ihren Anfängen und blieb erheblich hinter den westeuropäischen Ländern zurück, den Unternehmen aber wurde klar, dass sie vom Erfolg auf dem Markt abhängen, dem sie Ware anzubieten haben, die auch Käufer finden wird, sodass sie, mehr spontan als bewusst, zum Marketing-Konzept neigten.80 Wirtschaftsexperten warnten, im System der Selbstverwaltung und der Gemeinschaftsarbeit sei Marketing „ein unausweichliches Instrument der Verbindung zwischen Produktion und Nachfrage auf dem Markt.“81 Unter derartigen Umständen verfolgte die Werbeindustrie westeuropäische und nordamerikanische Trends und passte sie dem spezifischen Umfeld des einheimischen RELA TIONS Sozialismus an. Deshalb konnte sie nicht zum Beispiel osteuropäischer Propaganda werden, in der das Bedürfnis dem Wunsch übergeordnet war.82 Die Wünsche waren nicht außerhalb des Gesetzes, das Ideal jedoch war eine rationale, praktische, bildungsbezogene und zuverlässige Werbung, die zu keinen Träumen von Luxus in einer gänzlich unrealen Welt verleitet.83 In der Mitte oder irgendwo dazwischen seien erforderte Balance und gelegentliches Erforschen eines möglicherweise verbotenen Terrains, sodass man – während die Propagandisten um die Anerkennung ihrer Profession kämpften und versuchten, die Wirtschaftsleute davon zu überzeugen, dass Werbung nicht jedermanns Sache ist – versuchte, jenseits jeglicher Zweifel festzustellen, wo die Grenzen ökonomischer Propaganda verlaufen: „Die einen halten Werbung in der modernen Produktion und für notwendig, die anderen reden von ihrer gefährlichen Aufdringlichkeit, der durch sie angetriebenen Konsummentalität, ihrer Unangemessenheit in der Gesellschaft, der wir angehören.“84 In der Abteilung für Marktforschung und Propaganda der Zeitungsverlags Vjesnik wurde 1975 behauptet, wir würden „unsere negative Einstellung der Werbung gegenüber fälschlicherweise als gesellschaftlich angemessene Stellungnahme auffassen.“85 Igor Mandićs Standpunkt in: „Beratung über den Ideenkampf in den Bereichen Kultur und Schaffen“, Naše teme, 7-8, 1984., 165. Nach: Čale Feldman, Lada, „Bijela knjiga, nepoćudna književnost u kulturnostudijskoj perspektivi“, Devijacije i promašaji. Etnografija domaćeg socijalizma, Lada Čale Feldman, Ines Prica, Hrsg., Institut za etnologiju i folkloristiku, Zagreb, 2006, 60. Androgel, Medex Ljubljana, Start, 5. Dezember 1981. „Wie jung bleiben?“, Start, 1. Januar 1975; „Die sonderbaren Wonnen der Sauna“, Start, 8. März 1972; „Üben bei Luka!“, Vikend, 16. Dezember 1988.; Buch über Aerobic, Danas, 5. Juli 1983. „Werbung ist ernst, verrückt und unumgänglich“, Start, 18. Juni 1975.; „Werbung – ein modernes Übel?“, Start, 17. Dezember 1975; „Von der Irritation bis zur wertvollen Information“, Danas, 14. August 1984. Rocco, Fedor, Osnove tržišnog poslovanja, Informator, Zagreb, 31983., VII-VIII. Beurteilungen des Autors aus dem Vorwort zur zweiten und dritten Auflage. Dieses Universitätslehrbuch bekam 1975 von der Ökonomischen Fakultät in Zagreb den Mijo-Mirković-Preis für das beste wissenschaftliche Werk. Siehe ebenda, 6, 8, 19. Ebenda, 13, 24. Siehe Patterson, Patrick Hayder, „Truth Half Told: Finding the Perfect Pitch for Advertising and Marketing in Socialist Yugoslavia, 1950-1991“, Enterprise and Society, 4, 2003, 179-225. Ebenda. „Werbung – ein modernes Übel?“, Start, 17. Dezember 1975. Ebenda. Relation 1_2011.indd 178 30.4.2011. 17:53:07 RELA TIONS Auch die Parteiideologen waren sich über die Schädlichkeit und Nützlichkeit der Werbung nicht im Klaren, sodass die Kommission des Exekutivkomitees des Präsidiums des Zentralkomitees des Bundes der Kommunisten Kroatiens im Zeitraum zwischen den Kongressen 1974 und 1978 auf der Suche nach Antworten über „die ideologisch-politischen Probleme und den Charakter unserer Wirtschaftspropaganda“ diskutierte und mehrere Male eine grundlegende Analyse einiger Informationsmittel initiierte.86 Die Kommission machte darauf aufmerksam, dass Wirtschaftspropaganda durch Kopieren des westlichen Modells, das „einen aufdringlichen, der Konsumpsychologie eigenen Überredungscharakter aufweist“ und dessen Werbung „einziges Ziel es ist, ohne Rücksicht auf die Qualität der Erzeugnisse zum Kauf zu verleiten“ nicht möglich ist, sondern als Form wirtschaftlichen Informierens wahr und dem „selbstverwaltenden sozialistischen Informieren, sowie dem System als Ganzem“ dienlich sein soll.87 Das Rezept für ökonomische Propaganda war folgendes: „Sie muss dem objektiven Informieren, sowie der Unterdrückung von kleinbürgerlichem Geschmack, Konsummentalität, illoyaler Konkurrenz und der Täuschung der Käufer beitragen.“ Ferner kam die Kommission zum Schluss, es dürfe weder Zugeständnisse an die kleinbürgerliche Mentalität geben, denn diese „widersetze sich unserer sozialistischen Moral“, noch sei es zulässig, dass „aufgrund kommerzieller Aspekte 86 87 88 89 90 91 92 1960er, 1970er, 1980er ökonomischer Propaganda die moralischen Prinzipien unserer selbstverwaltenden Gesellschaft vernachlässigt werden“. Einen Teil der Verantwortung von sich weisend, oder vielleicht den weiteren Verlauf der Ereignisse suggerierend, betonte die Kommission dennoch hilflos, dem Konsumenten „bleibe leider nichts anderes übrig, als die angebotenen Inhalte zu schlucken“, stellte aber fest, es gäbe seitens der Konsumenten immer häufiger Reaktionen auf inakzeptable Werbung. Čokolino, Vikend, 1976. Diese Werbungsschlucker hegten jedoch keine allzu großen Zweifel, sodass 1976 in einer Umfrage sogar 52 Prozent der jugoslawischen Befragten eine positive Einstellung gegenüber der ökonomischen Propaganda äußerten. Vierzehn Prozent standen ihr negativ gegenüber, während sie für 34 Prozent gleichgültig war, in 179 der Woche vor der Umfrage hatten jedoch lediglich 37 Prozent in Fernsehen eine interessante Werbebotschaft bemerkt.88 In den darauffolgenden Jahren erhöhte sich die Akzeptanz der Werbung und betrug 1982 74 Prozent, 1985 jedoch nur 67, 1986 73, 1987 76 und 1989 78 Prozent. Die Wende fand auf Kosten der gleichgültigen statt, deren Anteil bis Ende der Achtziger Jahre auf acht Prozent gesunken war, während sich der Anteil der negativ eingestellten im selben Zeitraum zwischen 10 und 19 Prozent bewegte.89 Vom jugoslawischen Durchschnitt wichen nur die dem Marketing zugeneigten Slowenen, Mazedonier und Wojwodiner ab. Das schwindende Interesse an Werbung zwischen 1982 und 1985 war eine der Folgen der schlimmsten Jahre der Wirtschaftskrise, als wegen der Knappheit zahlreicher Artikel, sowie dem Werbeverbot für Kaffee und Zigaretten auch die Sende- und Veröffentlichungsfrequenz, sowie die Qualität der Werbebotschaften abnahmen.90 Doch sogar damals waren mehr als zwei Drittel der Konsumenten der Überzeugung, sie seien notwendig und nützlich, mehr Zuneigung als andere zeigten wiederum gebildetere, arbeitende und jüngere Bevölkerungsschichten.91 Seher und Hörer säuselten Melodien aus Rundfunkwerbesendungen, die Kinder sahen sich das Werbeprogramm wie Zeichentrickfilme an.92 Bereits in der ersten Sekunde des Werbespots konnten sie erkennen, um welches Erzeugnis es sich handelte. Es gab allerdings Einwände, die Struktur der „Bericht über die Arbeit des Bundes der Kommunisten Kroatiens und seiner Organe zwischen dem siebten und achten Kongress“, Osmi kongres Saveza komunista Hrvatske. Stenografske bilješke, knjiga I., Branka Počuča, Hrsg., CK SKH, Zagreb, 1978, 230. Über die Rolle und die Probleme der wirtschaftlichen Propaganda in unsere Gesellschaft“, Sitzung der Kommission des Exekutivkomitees des Präsidiums des ZK BKK für informativ-propagandistische Tätigkeit 15. März 1977, IP, 9, 1977., 31-32. Ökonomische Propaganda, TRIN, 1, 1976., 35. Kroflin Fišer, Vlasta, „Grundlegende Indikationen für das Verfolgen der Massenmedien in Jugoslawien, sowie der ökonomischen Propaganda in diesen Medien“, TRIN, 3-4, 1990, 150-158. Kroflin Fišer, Vlasta, „Was bedeutet uns Werbung!?“, TRIN, 4, 1985, 119-125; „Von der Irritation bis zur wertvollen Information“, Danas, 14. August 1984. Kroflin Fišer, „Was bedeutet uns Werbung!?“. „Werbung – ein modernes Übel?“, Start, 17. Dezember 1975. Relation 1_2011.indd 179 30.4.2011. 17:53:07 180 Fernsehwerbung würde die wirklichen Bedürfnisse nicht widerspiegeln und „keine wirklichen und wahren Informationen über die Charakteristiken vom Ware und Leistungen geben.“93 Wofür wurde also in der ersten Hälfte der achtziger Jahre geworben und wodurch das Bild der eigentlichen Bedürfnisse verklärt? Es scheint, Tourismus und Gastronomie hätten sich nicht an der Spitze der Konsumprioritäten finden sollen. In der beobachteten Woche wurde im ersten Fernsehprogramm für rund zwanzig Arten Produkte geworben und es wurden insgesamt 28 Werbespots für touristische Dienstleistungen ausgestrahlt, 22 für Bücher, hauptsächlich Kochbücher, je 15 für Schallplatten, Süßigkeiten und alkoholfreie Getränke, 13 für Kleidung, während die übrige Ware schwächer vertreten war.94 Zur Beliebtheit des kulinarischen Angebots trug gewiss Podravkas gesponserte Sendung bei, in der Oliver Mlakar und der Koch Stevo Karapandža „kleine Geheimnisse großer Küchenmeister“ lüfteten und den Speisen stets einen Löffel Vegeta beigaben.95 Die Messer der eigentlichen Bedürfnisse waren wahrscheinlich auch in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre nicht zufrieden. zwischen 1987 und 1989 verfolgte rund drei viertel der jugoslawischen Bevölkerung täglich das Fernsehprogramm, am häufigsten jene gebildeteren, mit höheren Einkünften, im Alter von 35 bis 44 Jahren. Fernsehwerbung sahen sich neun von zehn Zuschauern an, denen wiederum vor allem Werbung für alkoholfreie Getränke (Coca-Cola, Pepsi, Fructal und 93 94 95 96 97 98 99 RELA Igor Duda: Der gefundene Wohlstand Cedevita), Kleidung (meistens Levi’s) und Lebensmittel (Bronhi Bonbons usw.) auffiel.96 Gleichzeitig verfolgten rund achtzig Prozent der Hörer die Radiowerbung, jene in der Tagespresse rund die Hälfte der Leser, in Kroatien 148 auf je Tausend Einwohner, während ebenfalls der Hälfte der Leser Werbung in Zeitschriften auffiel, wobei populäre Revuen von sogar zwei Dritteln der Bevölkerung gelesen wurden. Das Publikum war zahlreich und offensichtlich bereit, eine noch größere Menge Werbebotschaften zu empfangen. Die Marktforschung richtete sich nicht nur auf das Verfolgen wirtschaftlicher Propaganda, sondern auch der Qualität der Erzeugnisse in der Werbung und in den Regalen der Geschäfte. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 1982 war die Zufriedenheit mit einheimischer Ware in Kroatien geringer als in allen anderen jugoslawischen Teilrepubliken: völlig zufrieden waren nur 13 Prozent Vegeta, Vikend, 1972. TIONS der Konsumenten, 60 Prozent waren teilweise zufrieden, 27 Prozent waren unzufrieden, während die durchschnittlichen jugoslawischen Daten in dieser Frage 24, 59 und 17 Prozent betrugen.97 Am sensibelsten waren fest angestellte im Alter zwischen 35 und 45 Jahren mit höherem und hohem Bildungsgrad, sowie höheren Einkünften, die Hauptgründe für ihre teilweise Unzufriedenheit waren hohe Preise, schlechte Qualität, die kleine Auswahl gleichartiger Erzeugnisse sowie die häufigen Versorgungsengpässe. Letztere waren charakteristisch für die frühen achtziger Jahre, als sogar achtzig Prozent der Konsumenten die Knappheit an Kaffee und Waschmitteln zu spüren bekam. Dreißig Prozent spürte die Knappheit an Öl, zwanzig Prozent an Milchprodukten, dann folgten Fleisch und Gefrierkost, Zucker, Südfrüchte, Damenstrümpfe, Watte, Benzin, Baumaterial, Ersatzteile, Nägel, Farben, Glühbirnen, Landwirtschaftsmaschinen, Werkzeug und andere Waren.98 Es gab aber auch eine Reihe langfristiger Schwierigkeiten auf dem Gebiet des Handels. Da sich die Konsumenten an der Arbeitszeit des Einzelhandelsnetzes störten, die den Bedürfnissen aller Käufer nicht angepasst war, leisteten ihnen die Medien, nach dem Grundsatz „der Konsument hat Vorrang“, Unterstützung in der Forderung nach längerer oder sogar nächtlicher Arbeitszeit der Geschäfte: „Das ist eine Komponente der Konsumgesellschaft, die gewiss akzeptabel ist, im Unterschied zu anderen Komponenten, die wir akzeptieren obwohl sie nicht so gut sind.“99 Während viele „Von der Irritation bis zur wertvollen Information“, Danas, 14. August 1984.; Kroflin Fišer, „Was bedeutet uns Werbung!?“, 124 (Zit.). „Von der Irritation bis zur wertvollen Information“, Danas, 14. August 1984. Titelseite, Vikend, 26. März 1976.; „Wenn man mit Herz kocht...“, Vikend, 26. März 1976. Kroflin Fišer, „Grundlegende Indikationen für das Verfolgen der Massenmedien“. „ZIT/CEMA: Fette Preise schlechter Ware“, Danas, 16. März 1982. Bizjak, Zdenko, „Was umfasst und wie lange dauert die Knappheit“, TRIN, 4, 1982., 80-87; Milekić, Vesna, „Wie erlebt die Bevölkerung die Versorgungsprobleme“, TRIN, 2, 1983., 11-23; „ZIT/CEMA: Lange Liste der Mängel“, Danas, 3. Mai 1983. „Konsumentenschutz: Nachtarbeit für Geschäfte verboten!?“, VUS, 11. Dezember 1976. Relation 1_2011.indd 180 30.4.2011. 17:53:07 RELA TIONS slowenische Erzeugnisse, aber auch der kroatische Taschenrechner von Digitron Buje, Krašs Slatka tajna und einige in den Werften von Pula, Rijeka und Split gebaute Schiffe, ihres Designs wegen gelobt wurden, existierte auch eine ganze Reihe visuell schlecht geformter Erzeugnisse, die dazu noch in schlecht produzierten Verpackungen auf den Markt kamen.100 Nicht alle Hersteller hatten begriffen, dass gute Verpackung wie ein Magnet wirkt, sodass die Verpackung von exportierter Ware nicht selten den ausländischen Importeuren überlassen wurde, während in der einheimischen Fernsehwerbung die Produkte nicht verpackt gezeigt wurden, was den Käufern die Suche nach neuen Waren in Selbstbedienungsgeschäften erschwerte.101 Diese Problem wird aufs Vortrefflichste durch das Beispiel eines Speiseeises illustriert, dessen Geschmack sich mit dem Stehen im Kühlschrank veränderte: „Wie soll man ein Eis von guter Qualität auf dem westlichen Markt anbieten, wenn es den schlechten Geschmack seiner Kartonverpackung hat, die dazu noch hässlich ist?“102 Die Art der Verpackung war dem Hersteller überlassen, aber beim Beeindrucken des Konsumenten war auch jenes Verhältnis von sensibelster Wichtigkeit, das beim Kauf zwischen dem Käufer und dem Verkäufer entstand. Der Käufer wurde in Fleischereien, auf Fischmärkten, in Obstläden betrogen, ferner an den Kassen verschiedenster Geschäfte und an den Zeitungsständen. Die staatliche Behörde, die sich in den Raum zwischen Verkäufer und Käufer einmi100 101 102 103 104 105 106 1960er, 1970er, 1980er schen und dem Konsumenten Schutz bieten konnte, war die Marktinspektion. Die Inspektoren bemängelten, dass sie zu wenige seien, weswegen sie nicht immer und überall zur Stelle sein konnten, und da sie in Kroatien sogar bei einem Drittel ihrer Begutachtungen Unregelmäßigkeiten feststellten, mangelte es nie an Arbeit.103 Manche Aktionen der Marktinspektion wurden 1987 von Journalisten der Zeitschrift Vikend begleitet, die in ihren Reportagen alle Geschäfte anführten, in denen betrogen wurde, sowohl aber auch die Namen der Verkäuferinnen, die Art des Vergehens, sowie die dafür verhängte Strafe. Es kam vor, dass Fleisch regelwidrig in dickeres Papier eingewickelt wird, dessen Gewischt auf der Waage zu jenem des Fleisches dazugezählt wurde und zusätzlichen Gewinn einbrachte.104 Hackfleisch wurde nicht in Gegenwart des Käufers vorbereitet, andere Produkte waren lange nach Ablauf der Aufbrauchfrist noch im Handel erhältlich, die angegebenen Preise entsprachen nicht den wirklichen, ein Preisschild für Käse war dem Käufer zugewandt, ein anderes dem Verkäufer, Eier der Kategorien A und B wurden zusammen zum höheren Preis verkauft, Zigaretten und andere Erzeugnisse wurden unter den Pulten gehortet und warteten auf Stammkunden, während andere sie nicht kaufen konnten, die Beträge wurden oft höher abgerundet, manchmal waren auf den Waren keine Preise angeführt, sodass die Kassiererinnen diese aufs Geratewohl festsetzten, was die ohnehin häufige Möglichkeit willkürlichen oder unwillkürlichen 181 Eintippens eines falschen Preises in die mechanische oder elektronische Kasse zusätzlich erhöhte.105 Da Kassen mit Barcode-Lesegeräten und der Möglichkeit, die Bezeichnung der Ware auszudrucken, noch Sache der Zukunft waren, hatten es die Käufer schwer, ihre Rechnungen zu kontrollieren, vor allem beim Kauf in kleineren Geschäften, denn dort waren die Preise nicht auf den Waren aufgeklebt wie in Selbstbedienungsläden. Die Aufklärung der Konsumenten über ihre Rechte stieß jedoch nicht immer auf Akzeptanz, denn auch sie schienen sich der vorherrschenden Atmosphäre zu fügen: „Es ist in unserem Bewusstsein, dass wir benachteiligt werden, und fast niemand erhöht mehr den Ton, wenn er Betrug feststellt. Das ist gefährlich und trägt der weiteren Entwicklung dieses benachteiligenden Klimas bei, frei nach dem System: heute bin ich benachteiligt, morgen benachteilige ich jemand anderen.“106 Auf die schwache Reaktion der Konsumenten auf diverse Ungerechtigkeiten Machte 1977 der Direktor des Kroatischen Preisinstituts Ettore Poropat aufmerksam und hob zugleich die Wichtigkeit der Händler in der Kette der Errichtung von Vertrauen gegenüber dem Staat hervor: „Die Qualität der Dienstleistung, das Ansehen der Arbeitsorganisation, das gute Verhältnis zum Konsumenten... all diese Kategorien sind noch ziemlich abstrakt für einige unserer Händler [...] Symbolisch ausgedrückt, sowohl der Verkäufer, als auch der Fleischer sind politische Arbeiter, solange sie am Arbeitsplatz sind. Von ihnen hängt die Zufriedenheit der Bürger „Die ersten 25 des YU Designs“, Start, 4. April 1987. „Bilderbuch der Kultur(losigkeit): Wen kümmert’s!“, RN, 24. September 1984. Ebenda; Ledo, Danas, 16. März 1982. „Ein wenig ich, ein wenig du – alle bestohlen“, RN, 22. Februar 1988. „Betrug bei Gewicht und Preisen!“, Vikend, 6. Februar 1987. „Konsumentenschutz: Sie bestehlen mich, na und?“, VUS, 18. Juni 1977; „Betrug bei Gewicht und Preisen!“, Vikend, 6. Februar 1987; „Skandal in der Dežman-Straße“, Vikend, 13 Februar 1987; „Warum gibt es keine Lord-Zigaretten’?“, Vikend, 20. Februar 1987; „Ein wenig ich, ein wenig du – alle bestohlen“, RN, 22. Februar 1988. „Konsumentenschutz: Sie bestehlen mich, na und?“, VUS, 18. Juni 1977. Relation 1_2011.indd 181 30.4.2011. 17:53:07 182 Igor Duda: Der gefundene Wohlstand mit den gesellschaftlichen Formen und ihrem Funktionieren ab.“107 In Serbien wurde die Qualität der Produkte von Zentrum für Konsumenten des Instituts für Haushaltsökonomik kontrolliert, dass Verzeichnisse der schlechten Artikel veröffentlichte und auf diese Weise den Konsumenten Schutz bot, da die Handelsunternehmen es ablehnten, schlecht bewertete Ware zu bestellen. In Kroatien jedoch gab es ein Konsumentenschutzzentrum noch nicht einmal 1989, als diese in allen Teilrepubliken mit Ausnahme von Montenegro gegründet wurden.108 Die Verfassung der Sozialistischen Republik Kroatien sah Mechanismen zum Schutz der Konsumenten vor: „Die arbeitenden Menschen und Bürger als Konsumenten und Nutzer von Dienstleistungen haben das Recht, ihre Rechte und Interessen unmittelbar zu schützen, durch ihre Organisationen, durch Teilnahme an der selbstverwaltenden Verständigung und dem gesellschaftlichem Übereinkommen, sowie durch die Organe der Inspektion und des Schutzes von Rechten und Interessen.“109 Den Bürgern hätten so die Konsumentenräte der Gemeindekonferenzen des Sozialistischen Verbandes der arbeitenden Bevölkerung Kroatiens (SSRNH) zu Hilfe eilen sollen, sowie die Konsumentenräte, die bei den meisten Ortsgemeinden tätig waren, also auf unterster Ebene der Vereinigung der Bürger, derer es Anfang der siebziger Jahre in Kroatien rund dreitausend und Anfang der achtziger Jahre rund viertausend gab. Das 107 108 109 110 111 112 113 114 115 Šljivovica Badel, VUS, 1970. Recht der Bürger als Konsumenten auf selbstverwaltendes Organisieren „zum Zweck des Einflusses auf die Entwicklung der Produktion und der Dienstleistungen, durch die ihre Bedürfnisse befriedigt werden, der Verhinderung des Monopols, bzw. des Missbrauchs monopolistischer Stellungen und des Schutzes anderer Interessen“ war durch das Gesetz über gemeinschaftliche Arbeit (ZUR) vorgesehen.110 Laut Verfassung, ZUR und dem Gesetz über den inneren Waren- und Dienstleistungsverkehr im Warenverkehr sollten die Produktions- und Handelsunternehmen die Vereinigung der Konsumenten „zwecks Erforschung und Ergründung ihrer Bedürfnisse und Interessen“ fördern, wobei ein Teil der Zusammenarbeit zwischen beiden Seiten, dem Angebot und der Nachfrage, die Festlegung des Assortiments und der Qualität der Ware, RELA TIONS sowie die Unterzeichnung selbstverwaltender Übereinkommen betreffend Versorgung, Angebot, Preise und anderer Fragen sein sollte.111 Das Gesetz über ortsgemeinschaften regulierte die Gründung der Konsumentenräte, aber auch die Erledigung der Bedürfnisse und Interessen der Bürger bei Vereinigungen von Konsumenten und Dienstleistungsnutzern, Mietern in großen Wohnhäusern, Arbeitern und Bürgern.112 In Einklang mit dem Delegationssystem wurden die Mitglieder der Räte von den genannten Vereinigungen delegiert und zwar bei Wahlen in Organisation der örtlichen Konferenz des Sozialistischen Verbands der arbeitenden Bevölkerung, ferner von gesellschaftlichen Organisationen, sowie Organisationen gemeinschaftlicher Arbeit, die sich auf dem Gebiet der Ortsgemeinschaft mit den Verkehr von Waren und Dienstleistungen befassten.113 Solche Räte schlossen selbstverwaltende Übereinkommen ab, bestellten Inspektionen, beurteilten deren Berichte und gaben ihre Meinung über den Verleih von Geschäftsräumlichkeiten an Handels-, Gastwirtschafts-, Gewerbe- und Serviceorganisationen an die zuständigen Gemeindeorgane weiter.114 Derartige Einvernehmen waren jedoch oft nur Formalität, sodass in einer Ortsgemeinschaft in der Zagreber Innenstadt durchaus vorkommen konnte, dass mehrere Geschäfte entgegengesetzt den Wünschen der Bevölkerung bzw. ihrer Konsumentenräte zu Duty Free Shops umfunktioniert werden.115 Die Bürger waren „Konsumentenschutz: Piraterie in den Auslagen“, VUS, 19. Februar 1977. „Konsumentenschutz: Glanz und Elend des schwarzen Körnchens“, VUS, 2. Oktober 1976; „Konsumentenschutz: Embargo fürs Über-den-Tisch-ziehen“, VUS, 30. April 1977.; „Gut, aber billig“, Vikend, 8. September 1989. „Verfassung der Sozialistischen Republik Kroatien“, NN, 8/74, Art. 278. „Gesetz über gemeinschaftliche Arbeit“, Službeni list (SL), 53/76, Art. 23 (Zit.); „Gesetz über den inneren Waren- und Dienstleistungsverkehr im Warenverkehr“, NN, 32/77, Art. 101-107, 103 (Zit.). „Verfassung der Sozialistischen Republik Kroatien“, NN, 8/74, Art. 43; „Gesetz über gemeinschaftliche Arbeit“, SL, 53/76, Art. 23 (Zit.). „Gesetz über Ortsgemeinschaften“, NN, 19/83, Art. 38, 60, 73, 76. Ebenda, Art. 74. Ebenda, Art. 75. „Gut, aber billig“, Vikend, 8. September 1989. Relation 1_2011.indd 182 30.4.2011. 17:53:07 RELA TIONS über die Tätigkeit der Räte meist uninformiert oder an ihr nicht interessiert, sodass diese, so sehr sie sich auch bemühten, nicht viel bezwecken konnten. Die Bürger verwandelten sich nur mit Mühe in organisierte Konsumenten und es scheint die Räte für Konsumentenschutz seien lediglich Statisten gewesen.116 Mit ihrer Arbeit zeigte sich Milka Šormaz, Angestellte bei der Gemeinde Bjelovar, unzufrieden: „Ich habe als Konsumentin sehr schlechte Erfahrungen und glaube, dass auch andere sie haben. Auf dem Markt drehen uns die Händler schlechtes Obst an, betrügen an den Kassen, sodass die Kassiererinnen dann sagen, die Kasse hätte sich vertippt, oder es handle sich um die Rechnung vom vorherigen Käufer. Die Waren sind teuer, schlecht, zum Beispiel Damenstrümpfe – die Maschen beginnen nach nur einem Waschen zu laufen... Vom Konsumentenrat hatten wir keinerlei Nutzen, ich weiß nicht, ob sie überhaupt etwas getan haben. Ich glaube nicht, dass wir so bald eine Organisation haben werden, die dem Konsumenten effektiv Schutz bieten könnte.“117 Die Studentin der Zagreber Fakultät für politische Wissenschaften Renata Jurčević war der Meinung, der Schutz könne auch besser sein: „Ich glaube, bestimmte Aktionen der Konsumentenräte beim Kontrollieren von Produkten haben doch geholfen. Aber dann müsste man öffentlich bekanntgeben, welches Produkt 116 117 118 119 120 121 122 1960er, 1970er, 1980er und von welcher Firma den Grundkriterien nicht entspricht, sodass die Hersteller, wenn sie einen schlechten Ruf bekommen, auch darüber nachdenken, was sie da herstellen. So wird alles verkauft und niemand macht sich darüber Gedanken.“118 Im März 1988 versuchte die Aktion Konsummonat das Konsumentenbewusstsein zu wecken, während der in Kroatien zum ersten Mal der 15. März als Weltkonsumententag begangen wurde.119 In Zagreb wurde damals auf jugoslawischer Ebene die Konferenz Konsument und Handel abgehalten, im Jahr darauf wurde ebenfalls in Zagreb die Zeitschrift YU-Konsument als erste jugoslawische Zeitschrift für Konsumenten gegründet.120 Im letzen Jahr, in dem Sozialismus und Konsum koexistierten, wurde in dem Medien ein Brief unter dem Titel Wie schützt man Konsumenten veröffentlicht, adressiert von der Bundeskonferenz des SSRNJ an den Koordinationsausschuss des Jugoslawischen Konsumentenrats, in dem die Aktivierung des Systems zum Schutz der Konsumentenrechte gefordert wurde: „Die jetzige wirtschaftliche Situation charakterisieren veraltete und konkurrenzunfähige Produktionsprogramme, eine schlechte Arbeitsorganisierung, sowie die drastische Verschlechterung der Produktionsbedingungen. All das führt zu Erzeugnissen von schlechter Qualität, während die Hersteller derartige Umstände durch ihre Preise beglei- 183 chen. So fällt alles auf den Rücken der Konsumenten, die eigentlich doppelt Schaden nehmen. Einerseits zahlen sie einen hohen Preis, andererseits erhalten sie Erzeugnisse von schlechter Qualität, die oft sogar gesundheitsschädlich sind.“121 Es ist klar, dass das Problem nicht ausschließlich im System des Konsumentenschutzes lag, sondern auf viel breiterer Ebene, im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen System, das zur Gänze einstürzte. Bereits ein Jahr nach diesem Brief entledigte sich die Konsumkultur in Kroatien des Rahmens des jugoslawischen selbstverwaltenden Sozialismus, die neue Zeit aber brachte neue angenehme und unangenehme Herausforderungen mit sich. Die im Dezember stattfindenden Märkte mit vielen Ständen und einem breit gefächerten Angebot von Massengebrauchswaren heißen nicht mehr Neujahrsmärkte, Väterchen Frost beschenkt am Tag der Kinderfreude keine Kinder mehr und in der Werbung werden die Herren anlässlich des Tages der Frau wohl kaum mehr eine Flasche Slibowitz als Geschenk auswählen.122 Flaschen, Schokolade, Pralinen und Kaffee werden an den Kassen der Geschäfte immer seltener in dünnes, weißes Papier eingewickelt. Man übt die Regeln einer neuen, öffentlichen Konsumkultur. Aus dem Kroatischen übersetzt von Boris Perić „März – Monat der Konsumenten“, Vikend, 11. März 1988. „Mini-Umfrage: Käufer, wer schützt euch?“, RN, 10. Juli 1989. Ebenda. „März – Monat der Konsumenten“, Vikend, 11. März 1988. „Gut, aber billig“, Vikend, 8. September 1989. „Gut, aber billig“, Vikend, 8. September 198. Slibowitz Badel, VUS, 4. März 1970; Neujahrsmesse, Zagreber Messe, Vikend, 14. Dezember 1973. Relation 1_2011.indd 183 30.4.2011. 17:53:08 RELA TIONS Foto: © Višnja Arambašić 184 Relation 1_2011.indd 184 30.4.2011. 17:53:08 RELA TIONS 185 Spiegelverkehrte Liebhaber Wenn Verliebtheit, wie manche be- haupten, eine vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit ist, von der man mit der Ehe geheilt wird, was ist dann ehebrecherische Verliebtheit, die nicht mit einer vor dem Gesetz gültigen Verbindung endet? Womit wird ehebrecherische Verliebtheit geheilt? Der große Zyniker der westlichen Literatur Oscar Wilde meinte in einem seiner beliebten Aphorismen, dass die Treulosen den Genuss der Liebe kennen lernen, während die Treuen die Tragödie der Liebe kennen lernen. Er hat nicht mit hartnäckigen Ehebrechern gerechnet: sie sammeln beide Erfahrungen – am Anfang der Liebesbeziehung sind sie Akteure einer leidenschaftlichen Liebe, wenn sie jedoch hartnäckig bleiben – holt sie die Tragödie ein. ☺ Hmmm, oder zu so einem Schluss kommen wenigstens die (die Minderheit, sagt man) Treuen und trösten sich damit, dass sie nichts verpasst haben. Wir bitten darum, von der Anstiftung zum Ehebruch freigesprochen zu werden, aber nachdem Sie diese zwei Romane über die eheliche Untreue gelesen haben – einer geschrieben aus der weiblichen, der andere aus der männlichen Perspektive, schließen Relation 1_2011.indd 185 Sie vielleicht, dass sich Ergebenheit nicht lohnt. Die Liebe belohnt nämlich trotz allem ihre Protagonisten, was auch immer die gesellschaftlichen Normen darüber sagen mögen. Die Protagonistin des Romans von Mirjana Dugandžija Ein paar Tage im August („Nekoliko dana kolovoza“) ist einer reife Frau, die die Erwartungen in allen Rollen, die sie gewählt hat oder die ihr das Leben zugespielt hat, erfüllen möchte: Journalistin im Kultursektor, die verantwortungsbewusst und professionell ihre Arbeit macht; geschiedene Ehefrau und Mutter, die sich um ihren einzigen Sohn kümmert; Tochter, die ihren Vater, die Familie und das Familienerbe respektiert; selbstlose Freundin, die immer bereit ist zu helfen; Kaufsüchtige, die Hilfe braucht... Doch all ihre Identitäten sind gezeichnet und in großem Maße bestimmt durch ihre langjährige Liebesbeziehung zu einem verheirateten Mann. Ihre Leidenschaft, ab und an fatal und selbstzerstörerisch, bietet ihnen Genuss in Fülle, stürzt sie aber auch in Verzweiflung – denn sie sind nicht imstande die Folgen ihrer Beziehung zu bewältigen. Drago Glamuzina hat schon mit dem Titel – Drei („Tri“) – angedeutet, dass ihn die Verhältnisse in einer Dreiecksbeziehung interessieren werden. In einer sorgsam konstruierten Geschichte, die zu einem großen Teil aus Großaufnahmen einer Liebesbeziehung besteht, die voller Lust und Eifersucht, Grausamkeit und Zärtlichkeit, Geben und Nehmen, Selbstsucht und Großzügigkeit, Besessenheit und Nachgiebigkeit ist – sind die Protagonisten Gefangene ihrer Beziehung, unfähig aus dem Teufelskreis auszubrechen. Die Ehefrau, die Dritte, ist das Maß ihres Glücks. Liebe lässt sich nicht mit Liebe vergleichen – denn jede ist einzigartig und anders, so sehr es dem oberflächlichen Auge auch scheinen mag, dass dafür nur zwei nötig sind. Am häufigsten bringt jeder auch seine Dämonen und Engel mit in die Beziehung ein. Doch, wie Baudrillard sagen würde: „Sobald Sie ‚ich liebe dich‘ gesagt haben, haben Sie sich schon in die Sprache verleibt, was andererseits eine Form der Trennung und der Untreue ist.“ Jandranka Pintarić Aus dem Kroatischen von Marijana Miličević Hrvić 30.4.2011. 17:53:08 186 Ein paar Tage im August Mirjana Dugandžija VI. Schlaflose Nächte in Saloniki D u sagst, du könntest das Gedicht nicht entschlüsseln. Natürlich nicht, denn das kann nur ich. Jene Nacht, die du im Gedicht beschreibst, in der du neben einer unbekannten Frau im Bett lagst, bin ich ins Sax gegangen, habe mich auf einen Barhocker gesetzt, die Beine übereinandergeschlagen, als sich ein Typ neben mich setzte und mich fragte: „Wo kann man heutzutage guten Jazz hören?“ Später sagte er: „Glauben Sie, dass es dumm wäre, nach Ihrer Telefonnummer zu fragen?“ Es wäre dumm gewesen, aber das Gedicht wäre dadurch besser geworden. Das konnte ich nicht wissen damals, und so habe ich sie ihm nicht gegeben. Mein Gespräch mit Boris im Auto. Über ein Gedicht, das er geschrieben hat, es ist schon eine Weile her – ein Gedicht über einen Mann und eine Frau, die sich nicht kennen und sich ein Hotelzimmer teilen müssen. Weil es keine freien Zimmer mehr gibt. Aber wo kann denn so etwas passieren, frage ich, in welchem Hotel? Das Gedicht ist nicht schlecht. Das heißt, sobald ich es durchgelesen hatte, kam mir das erotische Potenzial darin kindisch vor, aber doch irgendwie auch konkret fühlbar. Das Gedicht nervte mich. Relation 1_2011.indd 186 MIRJANA DUGANDŽIJA wurde am 7. Juni 1960 in Požega geboren. An der Philosophischen Fakultät Zagreb absolvierte sie Komparatistik und Philosophie. Sie arbeitet als Kulturjournalistin in der Wochenzeitschrift Globus. Zuvor war sie, ebenfalls als Kulturjournalistin, bei der Tageszeitung Vjesnik und dem Wochenblatt Nacional tätig. Ein paar Tage im August ist ihr erster Roman. Denn in diesem Gedicht lagen eine Frau und ein Mann nebeneinander, sie telefonierte mit ihrem Freund, er mit seiner Freundin, beide flüsterten zärtlich und verführerisch ins Telefon, wie man es zu vorgerückter Stunde eben macht, doch im Grunde waren sie nur auf die Anwesenheit jener unbekannten Person neben sich im Bett konzentriert. Sie lagen zu nahe beieinander, um davon unberührt zu sein. Jetzt will Boris es zu einem Buch umarbeiten. „Ich weiß nicht, ob mich die Pointe restlos befriedigt“, sagt er mit leichtem Stirnrunzeln. „Aber in welchem Hotel kann denn so etwas passieren?“, antworte ich jetzt schon ziemlich genervt. „Kennst du jemanden, dem das passiert ist?“ „Nicht dass ich wüsste“, sagt Boris. „Aber ich weiß es“, insistiere ich. „So etwas gibt’s nicht.“ Schließlich habe ich im Hôtel du Louvre in Paris übernachtet, im Helmsley in Manhattan, auf Schloss Mcely mit zehn verschiedenen Champagnern, irgendwo in den Jahrhunderte alten Wäldern in der tschechischen Pampa? Ich muss es wissen. „Kennst du, bitte schön, auch nur eine einzige Person, der das passiert ist?“, frage ich wieder. Diesmal keine Antwort. Eine böse Vorahnung ergießt sich flutartig über mich. „Na gut“, kommt es zögernd. „Mir ist es passiert!“ Es passierte... in Frankfurt, vor ein paar Jahren. Sie gehörte zu seiner Gruppe, aber er hatte sie erst an jenem Tag auf der Buchmesse kennen gelernt. Sie hatten angefangen, sich zu unterhalten, einfach so, über die Arbeit. Es ging um Bücher. Und wie groß war ihre Überraschung, als sie sahen, dass es ein Zimmer zu wenig gab! Und dann fanden alle es irgendwie in Ordnung, dass gerade sie beide sich das letzte freie Zimmer teilten. Und nichts weiter. Nichts. „Nichts ist passiert, Ksenija. Meiner Frau habe ich es sofort erzählt, aber dir konnte ich es nicht, weil du so durchgeknallt bist!“ Mein Magen fühlte sich auf einmal leer an, fast wie an dem Tag, als ich zum ersten Mal die Kriegssirenen 30.4.2011. 17:53:08 RELA TIONS hörte, an einem Sonntag auf unserem Berg, nachdem ein Militärflugzeug den Zagreber Nachmittag zerfetzt hatte. Ja klar, verstehe, mir konnte so etwas natürlich nicht passieren, denn ein Journalist reist alleine, einsam wie ein Nashorn, aber doch mit der verdammten Herde seiner Redaktionskollegen! Da ist alles anders. Und klar doch, Boris ging das alles auf die Nerven, mein Gewimmer und Pathos, denn einmal schrie er mich an: „Geh nach Hause, heul doch, renn doch mit dem Kopf gegen die Wand... ich kann nicht mehr!“ Ich steige aus dem Auto, vergesse den Aufzug, gehe die Treppe hoch zu meiner Wohnung, alle paar Augenblicke durchzieht mich ein Schauer, dass sich mein Körper zusammenkrümmt, als müsste ich niesend in Tränen ausbrechen, aber... stell dir vor, siehst du, es war also doch ein unglaublicher Zufall, schade nur, dass mir jetzt schon die Einzelheiten jenes Abends im Sax entfallen sind, wenn es denn überhaupt im Sax war, und überhaupt ist es jetzt schon ein bisschen spät für all das, nun ja, irgendwie so wird es wohl gewesen sein. Während du in Frankfurt warst. Oder du warst mit deiner Arbeit beschäftigt, mit furchtbar wichtigen Besprechungen. Oder du warst in deinem Haus am Meer, wo du mit deiner Familie Urlaub machst und von wo aus du mich anrufst, wissend, wie verheerend der Sommer in der entvölkerten Stadt auf mich wirkt, wissend, dass die Wut eitrige Blüten in mir treibt wie Tuberosen und wozu ich alles in der Lage bin, wenn mich der Horror vacui überkommt. Fahr du nur ans Meer, Liebster, dort ist es ja so langweilig. Ich betrete die Wohnung, setze mich aufs Sofa, greife nach dem Telefonhörer. Ich habe die Beine angewinkelt. Vielleicht sollte ich dir alles erzählen, damit wir das endlich hinter uns bringen. Ich denke, du weißt, wie so etwas läuft. Es ist ein Abend wie dieser. Ei- Relation 1_2011.indd 187 Prosa ne Frau läuft einsam in ihrer Wohnung umher, die Tage sind schon recht kurz, die Wohnung ist erfüllt von ihrem Tremor, sie geht hinaus auf den Balkon, der Herbsthimmel lastet auf den Dächern, sie ist unglücklich, in ihrem Unglück wütend, in ihrer Wut machtlos, in ihrer Machtlosigkeit böse, angezogen legt sie sich aufs Bett und klopft mit der Hand ihres ausgestreckten Arms auf die Bettdecke, ihre Kleider engen sie ein und kneifen, der Vigor mortis all dessen, was du immer schon wolltest, alles Mögliche geht ihr durch den Kopf, aber sie kann nichts machen, denn ihr Leben verläuft schon lange in völliger Abhängigkeit von deinem, aber du bist jetzt nicht da, und so reibt sie sich ihre Hände mit Duftöl ein und macht sich auf den Weg, sagen wir mal, ins Kino, während sie in der Straßenbahn sitzt, gleiten die Lichter der Stadt an ihr vorbei, irgendwann biegt sie ab und steigt ein paar Stufen in ein Lokal hinunter, aus dem Musik nach draußen dringt. Du liegst zur selben Zeit in einem Zimmer neben einer unbekannten Frau. Hättest du zu jenem Zeitpunkt gewusst, was passierte, in jenem Herbst, als der Typ sich neben mich setzte und anfing, über Jazz zu reden, du hättest gedroht, mich sitzen zu lassen. Du würdest gesagt haben, jetzt sei Schluss, bis ich anfinge, wie ein Schatten durch die Straßen zu streichen. Damals wären das nicht einfach nur leere Worte gewesen. Was später daraus wurde, das ist eine andere Geschichte. Aber damals war das alles ein blutiges Knäuel, an dessen beiden Enden wir uns festgebissen hatten. Natürlich zankten wir uns später auch, aber eher einfach so, aus Lust und Laune. Jetzt dauerte alles viel kürzer, denn inzwischen hattest du so richtig Gefallen daran gefunden. Du hast Kraft, du kannst das aushalten. Deine Kraft wird ständig größer, 187 als würdest du durch mich immun, denn immer entlockst du mir etwas, irgend ein längst vergangenes Bildchen, das deine Fantasie entfacht, oder du schubst mich in etwas hinein, um dich später wie ein über alles erhabener Pathologe aufzuspielen, der selbst nicht richtig im Kopf ist und sich entzückt am Anblick verkeilter Gliedmaßen, die es mit dem Skalpell voneinander zu trennen gilt. Allein der Gedanke an eine andere Frau, einen Eindringling macht mich zu einem unglücklichen Häufchen aus Fleisch und Knochen. Ich kann das nicht ertragen, ich weiß nur nicht, warum ich mir einbilde, dass sich deshalb nichts zwischen uns ändert. Wohl deshalb, weil du das sagst. Deine Worte beweisen, dass unsere Liebe sich nur scheinbar im Ungleichgewicht befindet, bestehend aus mir angeblich zugestandenem Verhalten, das dich nicht stört, und dir nicht zugestandenem Verhalten, da es mich stört, dass sie sich in Wirklichkeit aber in einem ungetrübten Schwebezustand befindet, wie eine weiße Kugel, festgehalten von goldenen Schnäbeln an zwei schwarzen gebogenen Hälsen. Zum Zeitpunkt, als sich das Gespräch ernsthaft um die in New Orleans verhafteten Wurzeln der Preservation Hall Jazz Band zu drehen begann, quälte mich immer wieder der Gedanke, dass du eines Tages begonnen hast, das zu tun, was du dir immer gewünschst hast. Du hast dir immer etwas gewünscht? Ich dachte, wir allein wären das, was man sich immer hätte wünschen können. Immer wieder kam ich zu dem Schluss, dass du mich nicht einfach so würdest verlassen können, du solltest es schon sehen, du solltest dein blaues Wunder erleben. Um ehrlich zu sein, ich hatte keine Ahnung, wie und wann, bis... du weißt doch, wie das ist, wenn eines Abends völlig unvorhergesehen 30.4.2011. 17:53:08 188 Mirjana Dugand`ija: Ein paar Tage im August zwei Menschen zusammenfinden, die nichts Größeres vorhatten. Keine Sorge, ich will jetzt nicht über die Traurigkeit reden, von der an meinem ganzen Körper verkrustete Eiterknötchen wie Sahnebaisers sprießen. Hundertmal hast du das schon gehört, es hängt dir zum Hals heraus, zum Kotzen findest du das. Aber Drohungen müssen verwirklicht werden, ebenso wie Versprechen. Und jetzt würdest du sicherlich schon sehr gerne wissen wollen, was ich eigentlich gemacht habe, als an jenem Tag die Dämmerung früh anbrach, es sieht immer so trostlos aus, es fehlte nicht viel, und das Wasser käme von allen Seiten herbeigeströmt. Aber ich werde dir nichts sagen. Nicht jetzt, während ich mit angewinkelten Beinen auf dem Sofa sitze. Ich sage nichts mehr. Ich denke, wir würden wahrscheinlich auch jetzt wieder Streit anfangen, aber das ginge schnell wieder vorbei. Dabei könnte die Geschichte etwa so beginnen. Ich habe mich auf einen hochbeinigen Stuhl gesetzt. Als der Typ mich ansprach, habe ich nicht geantwortet, bin aber auch nicht weggegangen, eine Hand lag auf meinem Knie, mit der anderen hielt ich meinen Martini, der Typ setzte seinen Ellenbogen neben meinem auf den Tresen und sagte: „Vielleicht doch lieber Southern Comfort?“ „Wir sind weit weg von New Orleans“, entgegne ich. „Wusste ich’s doch, dass Sie keine echte Blondine sind“, sagt er. Ein Lächeln zittert in den Mundwinkeln des Barkeepers. Der Typ fängt an zu lachen: „Sorry, aber das war jetzt doof...“ Es war ihm unangenehm, ins Fettnäpfchen getreten zu sein. Ich sage dir nichts, denn noch hätte ich meinen Satz nicht beendet, und du würdest schon fragen: Seid ihr aus dem Sax weggegangen? Nun... wir sind hinausgegangen. Relation 1_2011.indd 188 Davor habt ihr aber wohl noch etwas getrunken? Du konntest doch nicht einfach so mit dem Typ hinausgehen. Davor haben wir uns an jenen niedrigen Tisch gesetzt, um den ein paar klebrige rote Sesselchen herumstehen, und auf ihnen saßen ein paar Leute. Und? Die Leute sahen ziemlich merkwürdig aus, muss ich sagen, als wären sie an den Sesseln festgeklebt gewesen und gleichzeitig irgendwie ins Schaukeln geraten, merkwürdig, nicht wahr, doch wie es kam, dass mein Bein auf seinem Knie lag, das wüsste ich jetzt wirklich nicht. Und wie sein Kinn an meinem Fußknöchel zu liegen kam, wird ebenso schwierig zu enträtseln sein. Und wie sich, später, seine Hand auf meinen mit Flaum bedeckten Hals legte – gönnen wir uns den Glauben, dass es der Hals war... nein, diesbezüglich würde ich dich nicht in die Irre führen wollen. Was? Wann seid ihr gegangen? Wir sind gegangen. Du bist widerstandslos mit ihm weggegangen? Wie sah er denn aus? Er war jung, nicht übermäßig groß, ungewöhnlich von sich eingenommen übrigens, wie mir damals auffiel, denn den ganzen Abend lang drehte er sein glatt rasiertes Gesicht weder nach links noch nach rechts, gönnte niemandem an den Nebentischen auch nur einen Blick. Hat euch jemand gesehen, als ihr durch die Stadt gegangen seid? Das weiß ich nicht, aber es gab sie natürlich, die nächtlichen Gassigeher, die Wärter, die wichtige Gebäude bewachten, wie den Musikpavillon im Zrinjevac-Park, in dem manchmal Sonntagskonzerte abgehalten werden und die in mir stets die Erwartung auslösen, dass von irgendwoher ein kleiner, reifentreibender Junge im Matrosenanzug auftauchen könnte. Gays waren anzutreffen, die in den Gebüschen von Zrinjevac Zuflucht suchten, aber auch RELA TIONS ein Mann und eine Frau, er kniete auf einmal vor ihr nieder und strich ihr mit den Handflächen über die Waden. Dann ein kleiner sommersprossiger Iswoschtschik in Hochwasserhosen... Ein Iswoschtschik? Ja, nicht nur einer, sondern viele! Mit Schirmmützen auf dem Kopf, überbrachten sie geheimnisvolle Botschaften von einem Ende der Stadt ans andere. Dann ein Mann, der eine Postkutsche lenkte. Eine Postkutsche? Ja, eine Postkutsche, die langsam über steile Wege dahinrollte, während die Klänge des Posthorns widerhallten und Zitronenbäume den Duft ihrer Früchte verströmten, in einer Landschaft also, die von den Deutern jenes Buches, in dem ebenfalls ein Postkutscher vorkommt, als imaginäres Neapel entschlüsselt wurde. Ferner Milchmänner und Taxifahrer... Hat sich der Taxifahrer nach euch auf dem Rücksitz umgedreht? Der Taxifahrer? Der Taxifahrer war mit allen Wassern gewaschen und hatte zweifellos eine gewisse Übersicht über die Lageentwicklung von Punkt A nach Punkt B, und sicher gibt es ihn heute noch, am Taxistand am Hauptbahnhof, oder beim Archäologischen Museum, vielleicht am Kaptol... Ich war ein paar Mal so am Arsch, dass wenig fehlte und ich dir all das erzählt hätte. Will sagen, du warst es, der mich so fertiggemacht hat. „Erinnerst du dich, Liebling, an den Abend, als du da und da warst... und ich war – ja, also ich war im Kino...?“ Eine Frau, die einem Mann hinterherrennt, trifft auf ihrem Weg immer noch einen, stimmt’s? Ich meine, wenn wir nicht gerade eingestehen wollen, dass all das passierte, um eines Tages eingelöst zu werden für einen Augenblick deiner Aufmerksamkeit, ein Krümelchen deiner Zuwendung... 30.4.2011. 17:53:08 RELA TIONS Du nervst... Ihr seid also in die Wohnung gekommen. Hier war er ein bisschen verunsichert, weil ich nicht wollte, dass er das Licht anmacht, wir wollen doch nicht von außen gesehen werden, die Stadt ist voller merkwürdiger Menschen, nicht wahr, stecken ihre Nase in Dinge, die sie nichts angehen, sagte ich, obwohl mir ganz andere Gedanken durch den Kopf gingen. Er wurde nur vom Licht der Parklampe draußen beschienen, trotzdem konnte ich erkennen, an seinem Oberkörper, als er sich das Hemd aufknöpfte, dass er noch sehr jung war. Ständig stieß er gegen die herumstehenden Kartons, die ich immer noch nicht ausgepackt hatte, obwohl mein Einzug schon ein, zwei Jahre zurücklag. Schließlich fand er mit Mühe einen Platz zum Sitzen auf dem Sofa, das unter einem Berg von Klamotten lag, die ich kurzerhand aus dem Koffer geschüttelt hatte, erst ein paar Tage zuvor war ich von irgendwoher zurückgekommen und hatte überstürzt nach etwas zum Anziehen gesucht. Da hielt er es nicht mehr aus und fragte, ist das Ihre Wohnung, denn auch ich stieg nur langsam zwischen den Kartons umher, als hätte ich all das vorher nie gesehen, die aufgestapelten Bücher und den offen stehenden, durchwühlten Koffer, bis ich innehielt, denn das Handy klingelte, dein Anruf aus Frankfurt. Du hast ihn abgeschleppt, was soll das jetzt? Wenn du meinst, Liebster, dass man das so grob umschreiben kann, o.k. Ich würde das lieber als nächtliche Intrige bezeichnen. Du bemühst dich, deiner Stimme einen träumerischen Klang zu verleihen, dort in der Stadt, die die Freiheitsphilosophie hervorgebracht hat, Marcuse, Horkheimer und Adorno, ja, du seist schon im Bett, sagst mir Gute Nacht. Wir erobern uns die Wohnung Schritt für Schritt, zwischen Wälzern der Lexikografischen Verlagsanstalt und alten Nummern von Vanity Fair. Relation 1_2011.indd 189 Prosa Und jetzt wäre ein günstiger Augenblick, deinem stecken gebliebenen Gedicht einen Ruck zu geben. während in der Ferne das sonntägliche Glockengeläut einsetzt, zur Feier seiner Wiederauferstehung. Will sagen, nun müsste man entschlüsseln, warum er fragte, während er sich das Hemd zuknöpfte – glauben Sie, dass es dumm wäre, nach Ihrer Telefonnummer zu fragen? Ich würde hier wirklich gern eine Pointe aufdecken, doch wäre dir das gut genug, und würde dich das eigentlich zufriedenstellen? Es sei denn, wir könnten uns vielleicht auf jenen Augenblick berufen, in dem er seine Hand an meine Wange legte, wenn es denn überhaupt so geschah, wenn nicht ich selbst es war, die ihm dabei half, ihn führte, seine mit glatten Härchen bedeckte Hand ergriff, ihm die Zigarette abnahm, damit er seine Finger entkrampfen konnte, lange Finger mit elastischen Gelenken, die eine weiche Handfläche freigaben, und wenn ich nicht mein Gesicht in dieser Hand vergrub und ihn dabei regungslos anstarrte. Habe ich ihm vielleicht selber gezeigt, was er mit ihr machen solle, indem ich nach dem fein geschnittenen Gesicht dieses jungen Mannes ausholte, das sich aber auch in diesem Augenblick weder nach links noch nach rechts drehte? Es ist wie immer eine undankbare Sache zu sagen, wer als Erster angefangen hat, außerdem holten bald nur noch seine Hände nach mir aus, nachdem er sich mit gespreizten Beinen, das linke Knie an meiner rechten Hüfte, das rechte Knie an meiner linken Hüfte, auf mir niedergelassen hatte und Worte aussprach, die ich jetzt aber nicht wiedergeben möchte. Wahrscheinlich waren es Worte. Er hat dich geschlagen? Nein, ich glaube eher, es ist so, dass ich in der Position war, über mir, im Licht, das man von draußen bereits erahnen konnte, eine Zeit lang sein 189 fest verschlossenes Kinn zu betrachten, auf dem das schwarze Barthaar so schnell nachwuchs, dass es in den paar Stunden, die wir zusammen verbrachten, blauschwarz schimmerte. Währenddessen fuhren seine Hände fort, mit präzisen Bewegungen auf meine Wangen niederzusausen, und irgendwann musste ich meine Arme heben und meinen Kopf in ihnen vergraben... Hast du Angst bekommen? Nein, eher fragte ich mich, warum er manchmal aufstand, um laut schnaufend ein paar Schritte zu machen, und ob ihn all diese Dinge um uns herum frustrierten, ihn daran hinderten, in die Küche zu gehen, das Licht anzuknipsen und sich dort unter dem Küchengerät irgendein Hilfswerkzeug auszusuchen für sein Unterfangen, das schon ein wenig anstrengend wurde. Seine Stirn war feucht, ich spürte es, wenn er sich erneut neben mir niederließ, denn natürlich hatte er nicht versucht etwas zu holen, er beugte sich immer wieder zu mir herunter und bog sanft meine vor dem Gesicht erhobenen Unterarme auseinander, die unablässig in dieselbe Haltung zurückkehrten, und so musste ich in einem Moment doch versuchen, seinen Körper mit den Füßen wegzustoßen... Du hast nach ihm geschlagen? Nein, es war eher der Versuch, das Ganze für einen Augenblick zu unterbrechen, um mir unsere Bewegungen irgendwie bewusst zu machen, sie nach Merkmalen einzuordnen, da ich nicht mehr wusste, woher sie kamen und welchen Zweck sie hatten, wenn auch mein Versuch vielleicht nicht optimal aufgefasst wurde, denn jetzt waren immer mehr Beine und Arme im Spiel, Beine und Arme für mehrere Körper auf einmal, die mich umschlangen und sich mit der Geschwindigkeit eines Aliens multiplizierten. Tat es weh, mein Herz? Nun... immerhin war es für mich das Beste, unter diesem Körper, der üb- 30.4.2011. 17:53:08 190 Mirjana Dugand`ija: Ein paar Tage im August rigens sehr delikat gebaut war, möglichst regungslos liegen zu bleiben. Tat es weh? Nein, es war eher ein Rauschen in den Ohren, eine rauschende Leere, das Gefühl, dass durch diese Ohren nichts mehr in meinen Kopf würde dringen können, doch als er sagte, dir gefällt das, stimmt’s, begriff ich, dass ich mich getäuscht hatte, ich hörte ausgezeichnet. Er schien von seiner eigenen Stimme aufgerüttelt worden zu sein und hörte mit allem auf, nur sein Körper bewegte sich noch eine Zeit lang, dann hörte auch das auf. Für einige Augenblicke herrschte Stille. „Glauben Sie, dass es jetzt dumm wäre, nach Ihrer Telefonnummer zu fragen?“ fragte der Junge, dessen links gescheiteltes dunkles Haar die rechte Kopfhälfte bedeckte. Es wäre dumm gewesen, ja, aber das Gedicht wäre besser geworden. Es war schon Morgen, und ich musste ihn bitten zu gehen, ich aber lag noch einige Augenblicke wach und schlief dann ein. Ich verbrachte noch ganze zwei Tage zuhause, dann wusch ich mir die Haare, ließ sie mir ins Gesicht fallen und ging in eine Parfümerie, in der ich mir verschiedene Make-ups, teure Make-ups anschaute, und als ich mir schließlich eines ausgesucht hatte, überreichte mir die Verkäuferin das Päckchen wie einen Tombolagewinn. Als du zurückkamst, konntest du nur mein ausgeruhtes Gesicht bewundern, in dem einige Stellen, unsichtbar für jedermann, den distinguierten Farbton eines Amethysts annahmen. Und ich habe dir nichts davon erzählt, ich hatte Angst, du würdest es mir mit gleicher Münze heimzahlen. Du würdest irgendwohin verschwinden, und wer weiß, wie das Ganze enden würde. Um ehrlich zu sein, grauste es mir allein schon bei dem Gedanken, du könntest auch nur das Geringste ahnen. Und so endete Relation 1_2011.indd 190 mein Besuch im Sax als lächerlicher nächtlicher Ausflug. Natürlich ging es dabei ums Fremdgehen. Um Rache. Liebe, Verrat, Rache. Rache, bei der etwas schiefgelaufen war. Rache, die keine war, denn du weißt ja gar nichts davon. Rache muss heiß gegessen werden, Heiß, wenn man den Mut hat, die Konsequenzen zu tragen. Aber jetzt, da ich mit angewinkelten Beinen auf dem Sofa sitze und eh alles schon egal ist, werde ich dir nichts erzählen. Ich weiß, wie sich diese Geschichte noch einmal gegen mich kehren könnte. Ich kann es förmlich hören, wie du ihr die Knochen brichst und sie in deiner Hand zerbröselt wie mürber Eiweißteig. Alles, was mir je passiert ist, habe ich dir schon gebeichtet. Der Doktor. Der einarmige Geigenlehrer, getarnt als Tennislehrer; der Torten backende Minister mit seinen weißen Armen und dem schwarzen Muttermal auf dem Handrücken. Der flachsblonde Norweger, ein Nachfahr Leif Erikssons, der Glückliche genannt, vielleicht aber auch seines Bruders Thorvald, dessen Drachenschiff mit dem weit geöffnetem Rachen ihn bis vor die Küste von Hvar brachte, wobei er sich an Vogelflug und Wellengang orientierte und des Nachts die Hauksbók studierte. Später sind wir besudelt vom Blut seines Schwertes und übersät von violetten Blütenblättern, die durch die Flucht des verängstigten Volkes aufgewirbelt wurden. Er verschwand mit der ersten Brise, die sein Rahsegel blähte, und trug alles mit sich fort, was es auf der Insel an Schätzen gab. Der Schlitzer, Alpha-Fleischer und Bezirksbeschäler. Hinter dem Ladenraum wälzt er Schulterstücke und Keulen. Wenn er wieder nach vorne kommt mit seinem Messer in der Hand, dessen Klinge eine verdickte Spitze hat und wie aufgegeilt nach oben gebogen ist wie der Phallus des Hermes, jenes Gottes, der die Seelen RELA TIONS der Toten in die Unterwelt begleitet sowie Reisenden und Betrügern seinen Schutz gewährt, entfährt jedem Anwesenden ein Seufzer der Bewunderung. Die Kundschaft ätzt ihn, widerliche Weiber mit fettigen Haaren, umweht vom Mief ihrer durchgeschwitzten Kissen, Frauen in den Vierzigern mit über dem Bauch spannenden Turnhosen, die sich zum Fleischer aufgemacht haben, der Schafen und Rindern mit der bloßen Hand das Genick bricht. „Können Sie’s mir auch so machen?“, gurrt heute eine, als sie sieht, wie er Fleischstücke durch den Wolf dreht, nachdem ich Hack verlangt habe. „Na, vielleicht ähnlich... aber genau so bestimmt nicht“, murmelt er. „Ich meinte, alles zusammen, damit’s schneller geht...“, sie hat begriffen. Ich gehe. Ein, zwei Minuten später im Aufzug erblicke ich im Spiegel entsetzt mein bleiches Gesicht über dem Kragen des roten Mantels, der nur von dem breiten roten Gürtel aus Siena zusammengehalten wird. Ich senke meinen Blick um ein paar Millimeter, wie Clive Owen in einer der letzten Szenen von Closer. Meine Geschichten finden sich in deinen Texten wieder. „Sind das nicht meine Geschichten?“, frage ich. „Ich dachte, das sind unsere Geschichten“, antwortest du. Umso schlimmer. Du verbreitest sie auf dem CvjetniPlatz, enthüllst die zarten Geheimnisse meiner Eifersucht. Du trägst sie in das Halbdunkel der Cafés. Du kommst herein, als wärst gerade du jener hünenhafte Centurio aus Triest, der mit den schwarzen Haaren und dem schwarzen Schnurrbart, der auf einer Harley Davidson in die Stadt geritten kam, dann mir seinen Helm mit dem quer stehenden Helmbusch aufsetzte, damit ich sicher durch die neu eroberte Provinz galoppieren konnte, während seine Flanken mei- 30.4.2011. 17:53:08 RELA TIONS nen Leib abschirmten. Du trittst an den Tisch heran, gefolgt von den Blicken der anderen, ja, du trägst das Gladius hispaniensis, das längste aller Schwerter. Davon soll Scipio bei den karthagischen Schmieden sogar hunderttausend Stück für seine Soldaten bestellt haben, mit dem Versprechen, Karthago niemals zu zerstören. Die karthagischen Schmiede schmiedeten hunderttausend Schwerter für das Heer des Scipio Africanus. Das wurde Karthago zum Verhängnis. Ich habe vor dir längst keine Geheimnisse mehr. In mir ist nicht das kleinste Quäntchen Gift zu finden, selbst wenn mein Leben davon abhinge. So hatte ich mir das früher nicht vorgestellt. Du sprachst anders mit mir. Ich spüre um mich herum die Gegenwart dieser anderen Frauen, denen du erlaubt hast, in unsere Geschichte einzudringen. Sie bewegen sich darin, als wäre es ihre eigene. Du hast sie herbeigerufen in jener Nacht, als es passierte. In jener Nacht. An vielen Tagen. Du hast sie herbeigelockt mit der Beschreibung deiner Rippe. Andere Frauen werden aufgereizt durch den Klang deiner Stimme, wenn sie das Wort Fotze ausspricht. Fotze. Nun kommt es ihnen vor, als hätten sich die Schweißperlen in deinen Achselhöhlen nur für sie gebildet. In jenem schäbigen Hotel. Als hättest du extra für sie den Gürtel aus schmalen Kupferplättchen getragen, an dem nur ein Dolch befestigt war. Die Existenz unserer Geschichten hat Raum gemacht für eure. Du hast sie in meine Seele blicken lassen. Jetzt wollen sie ihre Seele vor dir ausbreiten. Schon lange warten sie darauf, dass jemand in ihnen nach etwas sucht, das es dort gar nicht gibt, mein Lieber. Du bist ja schon ganz erstarrt unter diesen Ergüssen, wie Väterchen Frost mit von Zuckerwatte bedecktem Gesicht. Wusste ich es doch, dass sich all das irgendwie gegen mich kehren würde. Relation 1_2011.indd 191 Prosa Pigmentlose Gesichter schweben über uns. Augen, trocken wie Zunder, sind über unserem Bett. Augen, blind wie die einer Ratte, wässerig wie Brandblasen, trüb wie nässende Schwielen, treiben auf dich zu. Du hast sie verhext mit dem Anblick deiner Lende, die sich in ihrer ganzen Länge meinem Schoß nähert. Dir ist klar, was vor sich geht, aber was kannst du schon dafür? Das Innerste des einen drängt dem des anderen zu, dem Gesetz kommunizierender Gefäße folgend. Sie spüren, dass du sie verstehst. Zwischen euch ereignet sich das Wunder gegenseitigen Verstehens. Du redest. Geschwüre rekeln sich in den Säften ihrer Eingeweide. Du hörst zu. Die Gewebekapseln ihrer Innenorgane vernarben, während im Inneren verschleppte Entzündungen schwelen. Du schaust. Meine Seele flackert leise wie eine kleine Kerze. Wie eine kleine Kerze, eine Flamme, ein Licht, ein Grablicht, so nennt man das. Dir nähert sich ein tätowierter Rüssel. Wie eine Flamme. Ihre Eckzähne wachsen unablässig, während der grüne Pilzbelag auf ihren Zungen nur in jenem offenbarungsähnlichen Sekundenbruchteil aufblüht, in dem die Exkremente aus dem Körper auszutreten beginnen, der sich aber jeglicher Begriffsbestimmung entzieht. Wie ein Licht. Eure Nasenflügel weiten sich, um freigesetzte Duftmoleküle aufzunehmen, die sich dann einnisten und zu ganzen Molekültrauben heranreifen. Wie ein Grablicht. Ihre Körperöffnungen lassen schmatzende Geräusche vernehmen. Deine Hand ruht auf dem Einband eines Buches, auf der Lehne eines Stuhls. 191 Wie ein Licht, ein Grablicht, das man einmal im Jahr anzündet, zum Sonntag der Toten. Ihr habt euch noch etwas zu sagen. Ihre Zähne durchstoßen die Oberlippe und reichen mit den Rändern an die Augenlider heran. Die Lider sind fest verschlossen beim Ausstoßen der letzten Laute, kurz bevor die Finsternis der Jahrhunderte ein Bronzeblatt zwischen sie wirbelt. Du lachst. Wie ein kleines Licht, das an einem fernen Ort verlischt. Ihre Körperhaare wachsen inwärts in den durchlöcherten Hals ein. Gase treten aus den Milchdrüsen aus. Der eingeringelte Schwanz kehrt in die Bauchhöhle zurück. Im Boden bleibt eine Mulde von einem Körper zurück, der sich in dem, was er gestern noch zu sich genommen hat, herumwälzte. Auf unbekannten Gräbern. Ihr schweigt. Ihr Köpfe triefen von Fett, und ihre Ohrmuscheln streifen den Boden, während sie an den Hinterbeinen herabhängen. Ihre Mägen ist in drei Hälften unterteilt. Ihr steht auf. Aus den Mägen entleeren sich Eicheln, winzige Wirbeltiere, prall gefüllte Würste, ein Hühnerflügel und Klauen. Winzige Würmer rieseln aus den Falten zwischen ihren Zehen hervor. Ihr geht. Ihre Borsten brodeln neben dir wie Weingulasch auf dem Kirchweihfest. Beckenknochen, Knorpel und Säuren kreisen unter dem herumrührenden Huf des Kochs, dessen Körper bis in das entfernteste Teil prallvoll mit Blut ist. Vaginen und Arschlöcher, die bis vor kurzem noch ein Schmatzen verlauten ließen, verdampfen im Kessel, in dem Seife gesiedet wird. Ja... fast hätte ich dich beschuldigt, mir meine Liebhaber, mein Leben und meine Geschichten weggenommen zu haben. Richtig ist aber, dass 30.4.2011. 17:53:08 192 Mirjana Dugand`ija: Ein paar Tage im August Ich rufe dich nicht an. Diesmal nicht, denn jetzt weiß ich, dass ich dir die ganze Zeit beim Verrat an mir selbst geholfen habe. Ich sitze auf dem Sofa mit angewinkelten Beinen, während du nach Hause unterwegs bist und dich immer noch darüber ärgerst, dass ich die triviale Tatsache nicht ertragen kann, dass du eine Nacht lang, während ich in der Stadt umherirrte, in deinem Zimmer neben einer unbekannten Frau lagst. In meinem Zimmer herrscht Stille, nur gedämpfte Motorengeräusche von Autos, die unterm Fenster vorbeifahren, sind zu hören. Darin sind Menschen, die von der Arbeit zurückkehren. Darin ereignen sich beruhigende, unerhebliche Dinge. per, der seine kindliche Gestalt bewahrt hat, schmal wie eine Pflanze, umschleicht zögernd sein Bett, ein Glas in der Hand. Eine kleine weiße Tablette nähert sich der Zunge. Der Körper legt sich aufs Bett. Dann durchfährt ihn eine Bewegung. „Nein, heute Nacht werde ich nicht einschlafen.“ Gewöhnlich setzten wir uns ins Auto und suchten einen Ort, der noch belebt war. „Ksenija, das kann nicht gut gehen“, sagtest du. „Okay, lass das jetzt... wenn man es mir am Morgen nur nicht ansieht“, antwortete ich lachend. Am Morgen musste das Kleid fließend den Körper umspielen, und so war es auch, denn in der Nacht war ohnehin jedes überflüssige Gramm daraus abgesaugt worden. Erotica insomniae. Pavor nocturnis. Du schlürftest meine Hilflosigkeit auf wie eine Katze, der man Innereien vorsetzt. Lass die Finger von einer Frau, die nachts nicht schlafen kann, wollte ich dir sagen, so eine ist zu allem fähig. So eine hat in die Hölle geschaut. Sie hat sie erlebt. Da gibt es keine Abhilfe, deswegen ist ihr alles egal. Alles ist erlaubt. Nur wenige Sachen sind nicht erlaubt. Solange sie denken kann, will sie möglichst so sein wie die anderen, aber immer kommt etwas dazwischen. Aber gut, mein Lieber, da wir es nun schon mal angesprochen haben, da es um dich und um mich geht, womit wir in Zukunft aber vorsichtiger umgehen müssen, jetzt besprechen wir noch das hier, und dann ist Schluss. Du wusstest gar nicht, dass es so etwas wie Schlaflosigkeit gibt, bevor du mich kennen gelernt hast. Schlaflosigkeit, das ist, als würden Nichtschlafende von Untoten heimgesucht und streckten diesen einfach ihren Hals entgegen. Du warst ehrlich überrascht, mein Lieber, als du gesehen hast, in was für ein Ritual sich Schlaflosigkeit verwandeln kann. Ein Kör- Wie alt warst du, Ksenija, als du zum ersten Mal zum Arzt gebracht wurdest, damit er dir etwas gibt, Herrgott nochmal, und du endlich einschlafen kannst? Siebzehn. Du warst in Griechenland unterwegs und nachts, in deinem Zimmer im Hotel Kapsis, lauschtest du den Geräuschen von Saloniki, das unter deinem Fenster dröhnte. Das Morgenrot drang durch die Vorhänge herein. Du konntest nicht schlafen. Ermattet von den schlaflosen Nächten in Saloniki, badetest du im Swimmingpool auf dem Dach deines Hotels in Athen, während dir die weiß ich dir mein altes Tagebuch, das über den verfickten Arzt, selbst gegeben habe. Hier, Liebster, mein Leben. Für dich. Möchtest du’s lesen? Wirklich? Ich möchte es auch. Die anderen hast du dir selber genommen. Aber gut, geschehen ist geschehen. Doch auch das hat uns nicht gereicht. Hat dir nicht gereicht. Sagen wir mal, dass danach Dinge passiert sind, die schlecht für mich waren. Wem von uns hat das nicht gereicht? Wir fingen an, uns neue Dinge auszudenken, waren immer schärfer drauf. So waren wir eben. Relation 1_2011.indd 192 RELA TIONS leuchtende Stadt zu Füßen lag. An der Rezeption gab man dir eine Adresse. Ein Dienstmädchen öffnete die Tür. Du tratest ein in die dämmrige Wohnung des Arztes, in der schwarz lackierte, mit funkelndem Glas gefüllte Vitrinen und hohe Vasen standen und Teppiche die Schritte dämpften. Die plötzliche Stille ließ dich innehalten, nur wenn die Kerzenleuchter ihre Kristallfunken versprühten, war so etwas wie Knistern zu hören, als würden irgendwo unsichtbare Flügel von einer Flamme angesengt. Dann hörtest du Schritte. Er kam aus der Tiefe des Zimmers und war ganz in Schwarz gekleidet, hatte eisige, lange Finger. „Why are you so afraid of the night... Xenia? Night is made for love...“ Du hättest schwören können, dass ein Wölkchen dampfenden Atems seinem Mund entströmte, so kühl war es in der Wohnung. „So, you don’t sleep... Why is it a problem?“ „I feel so tired... so guilty in the morning.“ Er kommt einen Schritt auf dich zu. Hebt mit den Fingern dein Kinn an, um dich daran zu erinnern, dass du seinem Blick standhalten musst. Aber sie blenden dich, die schnellen Tode, die kleinen Hinrichtungen rings um dich her, und du musst mit der Hand deine Augen bedecken. „Like I have to be awake, not to miss something... something that is happening.“ „But you would like to sleep anyway? In spite of missing something?“ „I would...“ „When you come home, see your doctor. Until then...“ Er streckt seine Hand nach der funkelnden Lackoberfläche des Tisches aus und schaut dir dabei weiterhin geradewegs in die Augen, als würde das, wonach er sucht, von selbst in seiner Hand erscheinen. „Tonight, you will take one, next day, you will cut it.“ 30.4.2011. 17:53:08 RELA TIONS Cut. Blutleere Finger schnippen vor deinen Augen durch die Luft. Sie verströmen den Duft von Kölnisch Wasser und Apothekengeruch, und ein Hauch von Kälte entweicht aus dem Inneren seines Hemdes, das sich vom Körper gelöst hat. Dann geht er, hoch aufgerichtet, entfernt sich mit schnellen Schritten, und du erkennst, dass er ein Bein nachzieht. Geräuschlos erscheint das Dienstmädchen und geleitet dich auf den Korridor zurück, entlässt dich dann auf die Straße, wo dich erneut das Tageslicht bestürmt. Am nächsten Morgen gehst du träge zum Hafen hinunter, betäubt von dem, was er dir durchs Blut hat strömen lassen. Auf dem Schiff sind viele junge Leute, die mit Schlafsäcken unterwegs sind. Die Nacht verbringen sie unter freiem Himmel, lassen sich von Düften aus der Vergangenheit in den Schlaf wiegen. Früher war das auch dein Leben gewesen, aber jetzt gehörst du nicht mehr dazu. Denn dein Leben zerfiel damals in zwei Teile, doch du vermochtest keinen dieser Teile zu verstehen. Die Zeit vor der Schlaflosigkeit. Die Schlaflosigkeit. „Tatsächlich, ich habe nie darüber nachgedacht. Aber sag mal, wie fühlt es sich an, wenn man nicht schlafen kann“, wolltest du wissen. Als ob alle Dinge keinen Schatten mehr hätten, weder lichte Schatten noch dunkle Schatten. Ich bewege mich zwischen entblößten, hässlichen Dingen. Siehst du denn nicht, wie hässlich auch ich bin? Und jetzt ist bereits klar, sagt Alfred Adler in seiner Individualpsychologie, dass der Personentyp, der an Schlaflosigkeit zu leiden beginnt, mit „bestürzender Sicherheit“ beschrieben werden kann: Misstrauen in die eigenen Kräfte, hochgesteckte, ehrgeizige Ziele, Angst vor Entscheidungen; zugleich die Neigung, den Selbstwert herunterzuspielen, Relation 1_2011.indd 193 Prosa 193 aber auch Selbstsucht, wie bei hypochondrischen und melancholischen Zuständen. Schlaflosigkeit ist ein klassisches psychologisches Symptom, eine Konversion im weiteren Sinne. Palliative Medikamente haben manchmal Wirkung, mitunter aber auch nicht. Schlaflosigkeit ist für Adler ein Bindeglied in der Kette jeder nervösen Lebensmethode. Sie ist ein Hemmnis im Leben des Patienten, sie behindert ihn in allem, aber er fühlt, dass er keinerlei Verantwortung für sie trägt. Der Schlaflose schätzt den Schlaf sehr. Kein Arzt, so Adler weiter, wird die Bedeutung des Schlafs unterschätzen, „wer aber Selbstverständliches so breitspurig in den Vordergrund stellt, darf wohl um seine Absicht gefragt werden“. Schlaflosigkeit – ein Meisterwerk des nervösen Charakters. Das Ziel der Behandlung ist, die Schlaflosigkeit als Mittel und nicht als rätselhaftes Schicksal zu erkennen. Daran, mit welchen Gedanken du einschlafen kannst, mit welchen auf gar keinen Fall. Du darfst nur nicht dein Herz zu sehr an etwas hängen. Es vollzieht sich eine Umwertung aller Werte – auf der Suche nach ein bisschen Schlaf. Wichtige Dinge, solche, die du für wichtig gehalten hast, Ideen und Ambitionen, müssen eines nach dem anderen wegfallen. Denn du kannst dir selbst nicht mehr trauen. Du lernst gehen. Mit 17 Jahren. Diese Person bist nicht mehr du. „Aber das bedeutet vielleicht nur, dass dein Leben nicht banal sein wird, wie das Leben so vieler anderer um dich herum“, sagt Vater. Im Herzen fröstelt es dich vor so vielen Erwartungen. Deine Schlaflosigkeit wird zum Familiengeheimnis. Und du weißt nie, wann du einen raschen, verstohlenen Blick erhaschen wirst, den die Erwachsenen tauschen, wenn sie glauben, dass du nicht hinschaust. Manchmal erschreckt dich das, was du liest, so sehr, dass du das Buch hinter Vaters Regal wirfst, hinein ins tiefste Dunkel. Dann holst du es wieder hervor, die Bücher stapeln sich auf dem Tisch, sie verlocken und schrecken dich gleichermaßen. Aber irgendwie versäumst du es immer zu enträtseln, was dir die Schlafosigkeit sagen wollte. Die Angst vor der Nacht bringt dein Leben durcheinander, doch dann fügt sich das Leben wieder zusammen, ganz aus Teilchen bestehend, so richtig crooked. Dein neues Leben. In deinem neuen Leben gibt es nur selten einen Tag, an dem du erholt und fröhlich die Augen öffnest. Ein andermal wälzt sich die Schwere des Vortages nur in den nächsten hinein. Du ziehst den Rollladen hoch, schiebst die Vorhänge auseinander, und der Tag draußen hockt da wie ein Rabe auf einem Ast. Du lebst in den Tag hinein. Passt dich an die neue Ordnung der Dinge an. Doch dann, mit den Jahren, wenn am Fenster der eisige Morgen sichtbar wurde, begriff ich, dass es einen Moment gab, der wie geschaffen war, dass mich die milchige Leere des Schlafs überkam. „Ksenija, du kannst die Nacht nicht zum Tage machen“, sagt man mir. Aber jetzt ist es zu spät. Ich habe schon gelernt, worin die Kraft der Schwachen liegt und wie man davon profitieren kann. Ja, es gibt Wesen, fast Menschen, die durch die Nacht wandeln gerade so wie durch das Leben am Tag, nicht wissend, wohin sie aufgebrochen sind, erleichtert darüber, nirgendwo anzukommen. Und so habe ich meine Lebenserfahrungen um eine weitere bereichert. Der Mann, mit dem ich eines Tages zusammen leben werde, muss derjenige sein, an dessen Seite ich einschlafen kann. Du bist das niemals gewesen. Du hast viel gefordert. 30.4.2011. 17:53:08 194 Mirjana Dugand`ija: Ein paar Tage im August Dir galten meine Wutausbrüche, die nächtliche Raserei zur Notapotheke, die Getränke, die ich mir zusammenbraute. Und diese Auflösung vor deinen Augen, du konntest dein Glück kaum fassen, als sei dies nur für dich bestimmt gewesen. Vielleicht war es auch so, aber vorher musste man nur der eigenen Seele ein Leben lang aus dem Weg gehen. Ich fing an, die Kerle in solche für tagsüber und solche für nachts zu teilen. „Für tagsüber und für nachts?!“ fragtest du. Der Mann, an dessen Seite ich werde einschlafen können, wird derjenige sein, der keine Forderungen an mich stellt. „Dir ist es doch völlig egal, was jemand von dir fordert, dir geht es doch einzig darum, was du von jemandem forderst“, sagst du lachend. „Lass das... hör mir doch zu“, antworte ich. „Na gut, o.k.... Kerle für nachts?“ Sie mussten ihre Unruhe auf mich übertragen, wie die Stierkämpfer in Pamplona... lache ich zurück. Doch sie mussten rechtzeitig wieder abhauen... kapierst du? Nur gelang es mir nicht immer, sie loszuwerden, im alles umhüllenden Aschgrau der Morgendämmerung. Nicht immer? Nie. Das war eine Angelegenheit für eine Nacht, nur dass sie angedauert hat... wie lange eigentlich? Ich meine, du. Ja, hätte ich dir beinahe gesagt, Hände weg von einer Frau, die nicht schläft. Ich tat es aber nicht. Denn niemand hat es je so genau getroffen und gewusst, worauf ich warte, während ich warte, dass zwischen den Vorhängen der Morgen aufscheint, wie der längliche Bauch eines zum Trocknen aufgehängten Fisches. „Du wartest darauf, nicht mehr wach zu sein?“ sagst du, dich zu mir wendend. „Ja“, sage ich, ohne mich zu rühren. Relation 1_2011.indd 194 XII. Die Wahl der Waffen Ich kaufte mir blau lackierte Herbstschuhe mit sehr hohen Absätzen. Vielleicht weil ich sonst nichts anderes gekauft hatte, lief ich leichten Schrittes, trotz der Absätze, die wirklich so hoch waren, dass man mir manchmal hinterherpfiff und ich Kommentare hörte wie, vierzehn Zentimeter, juhuuu! Ich lief wie auf einem Teppich. Oder einem Teppich aus Blättern, wie an jenem lange zurückliegenden Tag, als ich meinem Uniprofessor begegnete; ich mochte ihn, er war schon sehr alt, wir schlenderten unter der Baumreihe in der Vukovarska-Straße dahin, da sagte er plötzlich, ganz der typische Dalmatiner, der er war: „Dieser wunderbare Zagreber Herbst...“ Ich musste an dich denken, keine Ahnung, warum, vielleicht weil ich in dieser Zeit ohnehin an nichts anderes dachte, ich hatte dich ein paar Monate zuvor kennen gelernt, und ich musste lachen: „Ja, dieser wunderbare Zagreber Herbst.“ Boris und ich trafen uns immer nach der Arbeit am Cvjetni-Platz. Ich kam, als wäre eine sehr lange Zeit vergangen, dabei war ich nur ein, zwei Wochen weggewesen. Noch vor kurzem war mir hier alles auf die Nerven gegangen, aber jetzt nahm ich um mich herum das normale Stimmengewirr von Leuten wahr, die hier Kaffee tranken. Oder ich bummelte durch die Stadt, setzte mich in ein Café, vor dem herumrollende Kastanienfrüchte lagen. Wenn die Zeit kam, mich mit Boris zu treffen, zahlte ich beim Ober, der mich anlächelte, und ging. Eines Nachmittags, in der Redaktion, fiel mein Blick auf einen Stoß abgelegter Zeitungen und eine alte Notiz, die besagte, dass ein Mamet-Film, den ich mochte, auf DVD erschienen sei. Ich war sehr überrascht, als ich die Notiz sah; das war vor etwa einem Monat gewesen. Der Film war aus RELA TIONS dem Ende der Achtziger, es schien, als wäre er schön längst vergessen. Und den ganzen Monat schon wollte ich ihn kaufen, vergaß es aber immer wieder. Jetzt starrte ich auf die Notiz, als sähe ich sie zum ersten Mal, und wollte den Film sofort haben. Ich musste ihn noch am selben Abend sehen. Im Computer ließ ich ein unvollendetes Interview zurück. Ich würde nicht mit der Straßenbahn bis zum Jelačić-Platz fahren, sondern zwei Haltestellen früher aussteigen, beim Theater, und dann die Abkürzung über den Cvjetni-Platz nehmen und so zu dem Geschäft gelangen. Dann könnte ich mich irgendwo hinsetzen und auf Boris warten, mir blieben noch eineinhalb Stunden bis zu unserer Verabredung. Während ich die Masarykova-Straße entlanglief, schien mir die Sonne warm auf den Kopf, ich verlangsamte meinen Schritt, um diese Berührung länger genießen zu können. Am Cvjetni-Platz waren viele Menschen, und hier geriet ich schon ins Stocken, schloss für einen Moment die Augen. Die wohlige Stimmung dieses Nachmittags war so ungewöhnlich, so überwältigend, dass es den Eindruck erweckte, als gäbe es ihn gar nicht. Hier saßen viele Bekannte von mir, auch die fächerförmige Theatertussi. Sie rauchte, das Haar rann ihr in dünnen Strähnen vom Scheitel und die Wangen hinunter, und ich schloss daraus, dass sie es vielleicht gar nicht sehen konnte, als ich ihr zunickte. Sie schaute, wenn ich so sagen kann, hinter den Haaren hervor und führte ihre Zigarette an die Lippen. Ich ging den Film holen und als ich zurückkam, saß sie immer noch in derselben Haltung da. Ihr Blick war starr wie der einer Blinden auf denselben Punkt gerichtet, Richtung Preradovićeva-Straße, sodass auch ich unwillkürlich den Kopf hob. Etwa zwanzig Schritte vor mir erblickte ich Boris. Er war soeben um die Ecke gekommen. 30.4.2011. 17:53:08 RELA TIONS Ich dachte, er ginge auf mich zu, ich wollte ihm zuwinken, aber dann begriff ich, dass er mich überhaupt nicht sah, seine am Körper anliegenden Arme schlenkerten langsam, als bewegte er sich im Wasser, sein Kopf war nach links gedreht, und seine Augen suchten die an den Tischen sitzende Menge ab. Durch das breite Lächeln der Fächerförmigen gerieten ihre Gesichtsfältchen in Bewegung wie die Flügel einer Windmühle, ich begriff, dass auch sie dich erblickt hatte, und verschwand schnell in der ersten Hofeinfahrt. Ein kurzes Nicken, in ihrem Gesicht flackerte es noch einmal auf, dann erlosch es, woraus ich schloss, dass nicht sie es war, die du suchtest. Ich werfe nochmals einen kurzen Blick aus der Hofeinfahrt und an einem Tisch in unmittelbarer Nähe, so nah an mir dran, dass ich jäh innehalte, erblicke ich ein orangenes Wölkchen. Die Orangene saß allein, das Haar nach hinten geworfen, den Kopf ebenfalls nach hinten gelegt. Sie hielt die Augen verschlossen, sonnte sich. Ohne ein Wort setzt du dich zu ihr. Sie öffnet die Augen, und ihre Finger mit den langen, durchsichtigen Nägeln greifen nach dem Glas, ebenfalls ohne ein Wort. Dann sagt sie etwas, und schon unterhaltet ihr euch, ohne viele Bewegungen. Ich sehe euch beide im Profil. In den Dreiecken eurer geöffneten Lippen gleitet der Herbstnachmittag an euch vorbei. Ihr sprecht in den ruhigen Sätzen zweier Menschen, die keiner großen Erklärungen bedürfen. Wenn sie nach dem Glas greift, scheint das Licht durch ihre Fingernägel hindurch, dann lacht sie auf, wirft mit einem leichten Seufzer den Kopf nach hinten und schließt erneut die Augen. Du sprichst weiter, während sie mit den Händen über den Hinterkopf streicht und die Haare anhebt, als wolle sie sich strecken oder die Haare aufstecken, und sie verbleibt in dieser Haltung, den Kopf in die Relation 1_2011.indd 195 Prosa Hände gestützt, während ihr Gesicht leuchtet wie eine Sonnenscheibe. Dann verschwand die Sonne, die Menschen um euch herum streiften sich Jacken über. Du sahst kurz auf die Uhr und als du begriffst, dass ich schon eintreffen oder mich bei dir melden müsste, schwiegst du eine Weile, dann blicktest du erneut auf die Uhr und begannst dich umzuschauen. Da trat ich an euch heran. Unvermittelt, denn aus der Hofeinfahrt waren es nur ein paar Schritte. „Ich habe dich gar nicht kommen sehen...“ „Ich war den Film holen.“ „Setz dich“, du bietest mir einen Sessel an. „Das hier ist Vanda... Ksenija.“ Eine Sekunde lang Schweigen. „Campari?“ „Nein, ich muss gehen. Es ist später, als du denkst“, sage ich lachend. „Wie hast du den Tag verbracht?“ „Mit Bummeln. Dieser wunderbare Zagreber Herbst“, antwortete ich. Wir erhoben uns, gingen gemeinsam los und setzten uns dann ins Auto. „Hast du nicht gesagt, dass du für morgen Fleisch brauchst?“ fragtest du, als wir in meinem Wohnviertel ankamen. „Jetzt? Die haben schon geschlossen.“ „Der Metzger ist noch da, ich habe ihn durchs Schaufenster gesehen.“ „Wenn du meinst...“ Ich gehe zur Eingangstür der Metzgerei, klopfe an, bleibe eine Sekunde stehen und gehe dann zum Auto zurück. „Er hat schon geschlossen, hat mir aber zugewinkt und gezeigt, dass ich zum Hintereingang kommen soll. Warte auf mich.“ Der Metzger öffnet die Hintertür, und ich sehe ihn in einem kleinen Raum stehen, neben einem Tisch, auf dem viele Messer mit verschiedenen Klingen und ein paar Hackbeile verstreut liegen. Er setzt die Zigarette am Aschenbecher ab, öffnet die Tür des Kühlraums. Er schaltet das Licht ein und lässt mich an seiner Seite in die krustige Kälte eintreten. Ich be- 195 wege mich zwischen herabhängenden Fleischstücken, aber diesen Gang kenne ich bereits, du schlängelst dich hindurch, tastend, suchend. „Das hier“, sage ich mit dem Finger zeigend. Über meine Schulter hinweggreifend, nimmt er das Fleisch vom Haken, tritt an den Tisch heran und beginnt ihn bedächtig von kleinen weißen Hautstückchen zu säubern. Ich nehme ihm das Messer aus der Hand. „Dieses Messer hier... wofür ist es eigentlich?“ „Ein Messer... zum Schneiden“, antwortet er ein bisschen verwirrt. Ich gebe ihm das Messer zurück, und er setzt seine Arbeit fort. Dann legt er es beiseite, tritt an mich heran, hält inne, greift nach einem durchsichtigen Papier, erneut als befände es sich irgendwie hinter mir, dann nimmt er eine Tüte und beginnt das Fleisch einzupacken. Ich nehme ein anderes Messer, eines, das an einen Körperteil des Seelenbegleiters in der Unterwelt erinnert. „Das hier?“ „Um die Haut abzuziehen.“ „Das hier?“ „Zum Sortieren.“ „Und das...“ „Ein Stechmesser mit Mittelrinne... Zum Entbluten.“ „Das alles brauchen Sie?“ „Aber nein, das habe ich heute zufällig hier... weil...“ „Ein Hackmesser, ein beidseitig geschliffenes, haben Sie nicht?“ „Meinen Sie so etwas...?“ „Ja, beidseitig geschliffen“, sage ich. „Nein. Früher waren sie mehr in Gebrauch, heute weniger. Die sind gefährlich.“ „Nur einseitig geschliffene?“ „Ja... so eins, und dieses größere... Ein Sägemesser...“ „Was sägen Sie denn damit?“ „Knochen...“ „Das hier... mit der hornförmigen Spitze?“ 30.4.2011. 17:53:08 196 Mirjana Dugand`ija: Ein paar Tage im August „Ein Spezialmesser... aber warum fragen Sie?“ „Sssst... Das hier?“ „Ein Streichmesser... ist aber kein richtiges Messer.“ „Streichmesser. Und das hier?“ „Ein Entbeinungsmesser... Vorsicht!“ „Entbeinungsmesser, was bedeutet das?“ „Zum Herauslösen der Knochen.“ „Ein skandinavisches Modell.“ „Ein amerikanisches Modell.“ „Ein... gewöhnliches Modell.“ „Eins mit gezahnter Klinge.“ „Mit Holzgriff.“ „Noch eins... mit Plastikgriff.“ „Zum Abhäuten... von Lämmern.“ „Zum Herausschneiden von Schnitzeln... aus der Keule.“ „Möchten Sie sich vielleicht die Hände waschen? Die Messer waren nicht sauber...“, sagt er abschließend. Während ich am Waschbecken stehe, tritt er von hinten an mich heran und beobachtet mein Gesicht im Spiegel, bis ich mich umdrehe und zum Gehen anschicke. Dann verlasse ich den Laden. Ich betrachte dich durch die Autoscheibe. Du siehst mich nicht kommen. Die schwere Tasche lege ich mir unter die Beine, auf dem Schoß halte ich das Haus der Spiele. Hinter der Scheibe gleiten Gebäude vorbei, die bis vor kurzem hinter dichtem Grün verborgen lagen, doch der Laubfall hat unvermittelt eingesetzt. Andere Autos gleiten vorbei, der Spielplatz ist voller Kinder. Wir hören nichts davon, wir sitzen geschützt im Gehäuse des Autos wie in einem Zustand der Gnade. Vollkommene Stille umgibt uns, und das Rauschen wird immer lauter. Dein Blick ist seitwärts gerichtet, dein Kopf ist leicht, vielleicht bist du noch geblendet von der Sonnenkugel, auch ich bin irgendwie schwerelos, ich habe überhaupt nicht das Gefühl, dass wir uns fortbewegen, als stünde selbst die Zeit fast still. Als würde ich schauen, ohne zu sehen, so wie du, der du in den letzten Tagen Relation 1_2011.indd 196 Gott weiß was für Zaubern ausgesetzt warst, vielleicht dem Sonnenschauer von 24 Faubourg, dessen Duftwolke dich einhüllte, vielleicht funkelndem Burgunder, dessen Tropfen feine Ohrläppchen zierten. Als sähe auch ich in den Anblicken um mich herum keine Kinder, keine Bäume mehr, sondern als würden daraus: ein Blütenteppich aus Grünen Knollenblätterpilzen, eine zwischen den Drüsen der Bauchhöhle eingenistete Tätowierung, gespreizte Frauenschenkel, die einst frohlockend in den bewölkten Himmel über sich blickten und auf die Kornblumen unter sich, denen jetzt aber, mit dem Ende dieses federleichten Tages, ohnehin die Zeit langsam abläuft, und es naht der Moment, da ihnen sacht Gase und Säuren zu entweichen beginnen. Diese Frauen werden nun aus unserer Geschichte verschwinden. Aus der beerenförmigen Spitze, die in den Nasenlöchern herangereift ist, wird bald Most hervorfließen, während das Stechmesser weich in den glatten Hals eindringt. Danach kommen andere Waffen zum Einsatz. Sie werden an der mit Smaragden gefüllten Galle vorbeigleiten, hin zu der mit Perlmutt ausgekleideten Innenwand des Magens. Über ihre Leiber werden sich die Schatten der Rächer beugen, Haralds des Schönhaarigen und des noch grausameren Thorvald, ihre Finger werden über die Schlange aus den knöchernen Perlen der Wirbelsäule streichen, und in dem Augenblick, da sie sich wieder aufrichten, werden sie gewahr werden, wie durch befreiten Flügelschlag die Luft in Bewegung gerät und roter Regen jeden Halm, jede Rispe benetzt. Mein Kleid wird das Blut wie eine Käseschnitte aufsaugen, es wird bleischwer werden, und wenn ich mich endlich aufrichte, um zu gehen, wird sein verkrusteter Saum, durch meine Schritte in Bewegung versetzt, wiegend meine Waden umspielen. Meine purpurrote Erscheinung wird auf RELA TIONS den weißen Parkwegen eine kaum sichtbare Veränderung in dem mir bekannten abendlichen Verkehr herbeiführen. Auch mein Lächeln wird purpurrot sein, wird das Kind auf der Schaukel einhüllen, und das Kind wird seine Beine geradestrecken und noch höher fliegen wollen, noch weiter weg von der Erde. Ich werde nach Hause kommen. Ich weiß auch, was weiter mit ihnen geschehen wird. Ist die Außenhülle ihres Körpers erst einmal von dem tüchtigen Faustmesser bearbeitet, bleibt nur noch eine frische, weiße Oberfläche zurück. Doch das Weiß wird bald angefressen werden von Salz, Feuer und Rauch, es wird schwarz werden, und du wirst sie nie mehr wieder berühren wollen. Ihre glänzenden Kupferborsten werden rings um dich herum auf die Erde fallen und bald werden sie alles zudecken, wenn du auch den Eindruck haben magst, es sei Herbstlaub, das deine Schritte dämpft. Der Widerhall über den Städten wird anschwellen, Winde werden aufkommen, Regenschauer sich ergießen, das Haar wird sich zu unfruchtbarer Erde wandeln. Schleimhäute, die sich mit einem Schmatzen vernehmen ließen, Nägel so rosig wie Zirkushonigkuchen, flüssiger Bernstein aus den Gedärmen, all das nimmt eine neue Gestalt an und kreist in unaufhörlichem Wandel, Lymphe wird zu Nebel, Nebel an der Fensterscheibe zu Moos, Moos zu Finsternis, doch bei diesem Kreisen werden dich ihre Augen nie, nie mehr wiederfinden. Und die Dämpfe aus dem Kessel, in dem Seife gesiedet wird, werden verweht werden von den Herbstgerüchen des Hofes, des Kirschbaumzweiges, der Früchte des Apfelbaums, neben dem Brunnen, auf dem der Blechhahn schon in Schlaf versunken ist. Aus dem Kroatischen übersetzt von Silvia Sladić 30.4.2011. 17:53:08 TIONS 197 Foto: © Višnja Arambašić RELA Relation 1_2011.indd 197 30.4.2011. 17:53:08 198 Drei [Romanauszug] Drago Glamuzina 1. Es ist drei Uhr morgens und das Telefon klingelt E s ist drei Uhr morgens und das Telefon klingelt. Ich lege die Zigarette in den Aschenbecher, nehme einen Schluck Kaffee und sage zu Rita: Da, das ist er. Ich lasse das Telefon klingeln, ich bin mir sicher, dass es nicht aufhört, bevor ich mich melde. Rita soll begreifen, mit wem ich es zu tun habe. Dann schlage ich ihr vor, sie solle den Hörer abnehmen. Sie nimmt ihn ab und legt ihn nach ein paar Augenblicken wieder auf. Was hat er gesagt?, frage ich. Dass ich eine Hure bin ... und dass er dafür sorgen wird, dass das alle wissen, sagt Rita, dann lächelt sie etwas ratlos und schüttelt ungläubig den Kopf. Du siehst, dass ich nicht übertrieben habe, sage ich. Aber weshalb tut er das?, fragt Rita. Wie zumeist weiß ich nicht, was ich auf diese Frage antworten soll, obwohl ich weiß, dass sie immer kommt. Deshalb, weil er verrückt ist, sage ich schließlich. Aber wie ist er gerade auf dich gekommen? Anstatt zu antworten ziehe ich mir das Laken über den Kopf. Dann spüre ich ihre Finger, wie sie sich um mein Gesicht sammeln, dort ein we- Relation 1_2011.indd 198 DRAGO GLAMUZINA, geboren 1967 in Vrgorac/Kroatien. Studierte Kompara- tistik und Philosophie an der Philosophischen Fakultät in Zagreb. Arbeitet als Chefredakteur im Verlagshaus Profil. Mitbegründer und Programmdirektor der Zagreber Buchmesse. Veröffentlichte die Gedichtbände Mesari (Die Fleischer, 2001) und Je li to sve (Ist das alles, 2009). Für den Band Mesari wurde ihm der Vladimir Nazor-Preis für das Buch des Jahres und der Kvirin-Preis für den besten Gedichtband eines Autors unter 35 verliehen. Der Gedichtband Mesari wurde ins Slowenische (2001), Mazedonische (2004) und Deutsche (Wieser Verlag, Klagenfurt, 2008) übersetzt sowie in Serbien veröffentlicht (2009). Mit seinem ersten Roman Tri (Drei, 2008.) gewann er den Preis von T-Portal für den besten kroatischen Roman des Jahres. Seine Gedichte fanden Eingang in ein Dutzend Anthologien zeitgenössischer kroatischer Dichtung im In- und Ausland. nig innehalten, verkrampfen und das Laken zerknautschen. Das ist eine Geschichte, die ich nur erzähle, wenn ich mich bei jemandem interessant machen möchte, sage ich und sehe Rita an, etwa so, wie ich ihr im Spiegel zusehe, wenn sie mir mit der Hand über das gerade rasierte Kinn fährt. Das macht Rita öfter, als es nötig ist. Wenn es überhaupt nötig ist. Wenn ich darauf warte, an die Reihe zu kommen, sehe ich immer zu, wie sie anderen die Haare schneidet. Und zähle, wie oft sie ihnen mit der Hand übers Gesicht fährt. Ich bin mir nie ganz sicher, auch jetzt nicht, wo ich ihr dabei zusehe, wie sie es sich auf dem Bett bequem macht, dass sie mich anders berührt als die anderen. Als wüsste sie, woran ich gerade denke, legt sie mir die Hand aufs Gesicht und sagt: Erzähl’. Ich liebe deine weiche Berührung, sage ich. Nicht das, erzähl mir von dem Typen, der dich ständig anruft. Weshalb tut er das? Ich war mit seiner Frau zusammen, sage ich und drücke mit meiner Hand das Händchen, das gerade über meine Augen gefahren ist. Nicht zu warm, nicht zu kühl. Nur weich, mit langen geschickten Fingern, die nicht zu ihrem gerundeten und immer unbeweglicheren Körper zu gehören scheinen. Und? 30.4.2011. 17:53:08 RELA TIONS Er war wahnsinnig eifersüchtig. Er wollte jeden Augenblick wissen, wo sie war und was sie tat. Jeden Tag kontrollierte er sie übers Telefon, und wenn sie nach Hause kam, konnte es sein, dass er von ihr verlangte, sie solle ihr Höschen ausziehen, dann schnüffelte er daran und suchte nach Spermaspuren. Ein Verrückter, presst Rita durch die Zähne und versucht die Knie unters Kinn zu ziehen, als hätte sie für einen Augenblick vergessen, dass in ihrem Bauch ein Baby heranwächst. Dann dreht sie sich auf den Rücken und zündet sich eine Zigarette an. Ich schweige und sehe ihr zu, wie sie rauchte. Ich versuche zu erraten, was sie im folgenden Moment sagen wird. Aber auch sie schweigt hartnäckig, bis ich ihr die Zigarette aus der Hand nehme und selbst einen Zug mache. Jetzt dreht sie sich zu mir um und sagt: Ich muss dir etwas gestehen. Seit mich Joško verlassen hat, höre ich solche Geschichten gern. Über Männerschweine. Damit ich im Bett, während ich aufs Einschlafen warte, sagen kann: – Bestimmt wäre er auch so ein Schwein gewesen. Du hast noch gar nichts gehört, sage ich, gebe ihr die Zigarette zurück und fahre fort: Die richtige Scheiße kam erst, als sie die Scheidung verlangte. Darüber wollte er überhaupt nicht reden. Er war überzeugt, dass an ich allem schuld sei und dass sie, hätte er mich erst einmal aus ihrem Leben geschafft, wieder die Seine sein würde. Wieder klingelt das Telefon. Ich stehe auf, rücke das Nachtschränkchen, auf dem es gewöhnlich steht, von der Wand und ziehe den Stecker heraus. Warum hast du das nicht getan, bevor ich gekommen bin, fragt Rita. Er hätte sowieso von dir erfahren. Er ist immer irgendwo in der Nähe und weiß alles. Sei nicht überrascht, wenn er morgen tatsächlich deine Chefin anruft und zu ihr sagt, sie habe eine Hure eingestellt, sage ich und strei- Relation 1_2011.indd 199 Prosa chele, mich ein bisschen an ihrer ungläubigen Miene weidend, ihren gespannten Bauch. Du redest scheiß. Nein, nein, das hat er schon getan, sage ich und frage: Saft oder Wodka? Rita bläst bekümmert den Rauch zur Seite und dreht mit dem Finger nervös in ihrem Haar. Dann richtet sie ihn auf den Badel-Wodka mit Melonenaroma. Ich trinke auch aus deinem Glas, sage ich und gieße es halb voll. Ich reiche es Rita und lasse mich aufs Bett fallen. Ich wollte, dass dir gleich klar ist, auf was du dich einlässt, murmele ich ins Kissen. Das hättest du mir sagen müssen, bevor ich gekommen bin, faucht sie wütend. Dann wärest du nicht gekommen, gebe ich zurück. Auch so weiß ich nicht, was mir da eingefallen ist, sagt sie, und nach einem Augenblick der Stille fragt sie: Warum hast du mich erst jetzt zu dir eingeladen, wo ich so rund geworden bin. Mir ist plötzlich klar geworden, dass du bald nicht mehr da sein wirst und dass ich dich ein ganzes Jahr lang nicht sehen werde, antworte ich aufrichtig, drehe mich zu ihr um und schmiege mich an ihren großen Leib. Ich wollte sehen, ob ich mich im Bett auch so entspannt fühle wie auf dem Stuhl bei euch, wenn du mir die Haare schneidest. Argwöhnisch dreht sie den Kopf hin und her, dann stürzt sie sich wieder auf den Verrückten am Telefon. Glaubst du, dass er weiß, wer ich bin? Vermutlich weiß er es noch nicht. Aber wenn du weiterhin zu mir kommst, wird er es bald wissen. Bestimmt hast du ihm übel mitgespielt. Hast du Angst vor ihm? Nicht mehr, aber eine Zeit lang war es mir gar nicht egal. Mit jedem Tag wurde er verrückter. Er hat sogar Freunde engagiert, damit sie uns in 199 der Stadt verfolgen, und als er mitkriegte, dass wir uns immer weniger sahen, aber immer öfter miteinander telefonierten, fing er an, unsere Gespräche mitzuhören. Ja, kann man das denn so einfach, fragt sie. Was? Gespräche mithören. Die Zeitungen sind voll mit Anzeigen für solche Anlagen. Für 200 Kuna kriegst du einen Apparat zum Aufnehmen von Gesprächen, der sich automatisch einschaltet, sobald jemand den Hörer abhebt. So eine Wanze kostet gerade mal 50 Kuna. Es reicht, wenn du sie einem ins Mantelfutter hakst oder in die Tasche wirfst, und dann kannst du am Radioempfänger alles mithören, was wir sagen, antworte ich und flüstere: Selbst das Flüstern. Du nimmst mich auf den Arm. Nein, wirklich. Glaubst du, dass er das getan hat? Einmal hat sie eine Kassette gefunden, auf der unsere Telefongespräche aufgezeichnet waren. Mehrmals hat er genau gewusst, worüber wir in einem Café gesprochen hatten. Wenn sie nach Hause kam, wiederholte er vor ihr ständig die wenigen Worte, die er gehört hatte. Er schleppte sie ins Badezimmer, verschloss die Tür, damit sie nicht weglaufen konnte, drückte sie gegen die Wand und drohte ihr stundenlang Auge in Auge. Er brüllte, sie sei eine stinkende Hure, die gerade vom Ficken komme, und ihr Haar sei voller Sperma. Manchmal drängte er sie in die Wanne und zwang sie zu duschen, denn so schmutzig könne sie nicht sein Kind berühren. So hielt er sie die ganze Nacht fest, bis sie ihm versprochen hatte, sich nie mehr mit mir zu treffen. Was für eine Bestie, murmelt Rita, steht auf und watschelt zum Klo. Sie setzt sich auf die Toillette, ohne die Tür zu schließen, und sagt: In letzter Zeit sitze ich mehr auf dem Klo als auf dem Stuhl. Dieser Druck im Bauch ist schrecklich. 30.4.2011. 17:53:08 200 Als sie ausgeplätschert hat, rufe ich: Bei manchen Frauen stört mich diese aggressive Intimität. Dass du nicht die Tür zumachen kannst und ich mit anhören muss, wie du pinkelst. Ja, was ist damit? Heißt das, dass du dir nichts aus mir machst, dass es dir völlig egal ist, was ich darüber denke, oder muss ich zufrieden sein, weil du in meiner Gegenwart so ungezwungen und natürlich bist? Ihre Antwort, wenn es eine war, geht im Rauschen des Wassers aus dem Spülkasten unter. Dann höre ich das Plätschern des Wassers im Waschbecken und ihre Frage: Warum hat sie das ertragen? Ich warte, bis sie ins Bett zurückgekehrt ist und uns eine Zigarette angezündet und den schweren Kristallaschenbecher auf meinem Nabel eingenistet hat. Dann antworte ich. Er wollte nicht in die Scheidung einwilligen. Allen erzählte er, dass seine Frau ein widerliches verlogenes Flittchen sei, aber er erlaubte ihr nicht zu gehen. Sie schliefen nicht im selben Zimmer, sie aßen nicht am selben Tisch, aber er verlangte weiterhin, dass sie ihm über jede fünf Minuten Rechenschaft ablegt. „Solange du in meinem Hause bist, hast du dich an eine Ordnung zu halten“, waren seine ständigen Worte. Er war überzeugt, dass es anhalten würde. Aber warum hat sie nicht einfach ihre Sachen genommen und ist gegangen? Sie wollte nicht ohne das Kind gehen, damit aber, wem es zugesprochen werden würden, befassten sich die Damen vom Sozialamt und das Gericht. Jahrelang. Zwischen einer Verhandlung und der nächsten lagen oft bis zu sechs Monate. Er zog es in die Länge, er erschien nicht zum Termin, und wenn er erschien, quälte er sie auch dort. Sie behauptete, er sei ein Irrer, der sie misshandele, und er, dass sie eine Hure sei und lüge. Und dass er sich um das Kind kümmere, während sie herumhure. So ein Schweinekerl. Relation 1_2011.indd 200 RELA Drago Glamuzina: Drei Sie dachte auch daran, mit der Kleinen zu ihren Eltern zu flüchten, aber am Schluss nahm sie immer davon Abstand, denn sie war sich sicher, dass er ihr tatsächlich die Scheiße antun würde, die er ihr immer androhte. Es würde genügen, die Tochter nach der Schule abzupassen und sie mit zu sich nach Hause zu nehmen, und sie hätte zu ihm zurückkehren müssen. Ich bin dieser Geschichte schon müde, aber Rita lässt nicht locker. Wie abwesend spielt sie mit meinem Geschlecht – als würde sie mit den Fingern eine Streichholschachtel drehen – und stellt hartnäckig immer neue Fragen. Eine Menge Fragen. – Nein, sie wollte nie aufhören. Jeden Tag kam sie zu spät nach Haus, und jeden Tag hörte sie, wie er schrie, dass sie nie wieder zu spät kommen dürfe, sonst würde er ihr eine große Scheiße antun. Einige Male verabredeten wir, uns seltener zu sehen, aber schon nach drei, vier Tagen war wieder alles beim alten. – Mich rief er an, sobald sie das Haus verlassen hatte. Wenn ich mich nicht am Telefon meldete, glaubte er, ich sei mit ihr zusammen. Damit er sie nicht quälte, wenn sie nach Hause kam, sprang ich aus der Dusche oder vom Klo auf und rannte zum Telefon. – Manchmal legte er nur den Hörer auf ... Wenn er sehr erregt war, drohte er. Er schüttete einen ganzen Sack Beleidigungen aus und sagte dann, er würde mir die Fresse polieren, wenn ich sie jemals wiedersehen würde, und ähnliches. – Ständig schmiss er mit Gemeinheiten um sich. Nach fünf Minuten brüllte er in den Hörer: Ich weiß, dass ihr miteinander vögelt. Ich weiß, dass ihr miteinander vögelt ... Das waren seine ständigen Worte. – Er rief auch meinen Chef an und sagte zu ihm, in seiner Firma arbeite ein Haufen Scheiße, der seine Familie zerstört habe. – Zu meinen Eltern sagte er, sie hätten einen Haufen Dreck aufgezogen TIONS und keinen Menschen ... Und dass er sie so lange anrufen werde, bis ich seine Frau in Ruhe lasse. – Für mich war das gar nicht komisch. Es war gar nicht leicht, ihnen zu erklären, worum es sich dabei handelte. – Wir kämpften um jede fünf Minuten. Wir sahen uns fast jeden Tag, oft auch mehrmals täglich, aber immer nur kurz. Wenn es nicht anders ging, verabredeten wir, wann sie von der Arbeit losgehen würde, und ich wartete dann an der Haltestelle und war mit ihr die halbe Stunde zusammen, die die Straßenbahn bis zu ihrem Viertel brauchte. – Vermutlich deshalb, weil ich sie geliebt habe. Nächtelang bin ich durchs Haus gegangen und habe in Gedanken diese dreißig Minuten wiederholt, die wir an dem Tag zusammen verbracht hatten. Ich erinnerte mich an jedes Wort, jeden Blick, ich spürte wieder jede Berührung. Wieder antwortete ich auf alle ihre Fragen, mehr als ich es an diesem Tag vor ihr getan hatte, und stellte einen Haufen neuer. – Auch er hat behauptet, dass er sie liebt. – Auch ich war nicht ganz gesund. Wenn immer ich zu ihr ging, krampfte sich in mir alles zusammen. War sie schön?, fragt Rita jetzt mit einer Stimme, in der nicht nur Neugierde mitschwang. Nicht so schön wie du, antworte ich bereitwillig, und sie schlägt mir leicht auf den Kopf und zischt: Du Schmeichler. Es ist ja wirklich nicht leicht, einer Frau, die dir gefällt, zu erzählen, wie sehr du in eine andere verliebt gewesen bist, sage ich und setze hinzu: Sie hatte etwas Beunruhigendes. Ja? Ja. Sie schien keinen Anfang und kein Ende zu haben, so als könnte man sie nicht in Sätze fassen, die sie erklären würden ... Sie war zart, depressiv und verängstigt, aber niemand konnte sie 30.4.2011. 17:53:09 RELA TIONS aufhalten, wenn sie sich an jemanden angehängt hatte. Dann wurde sie mutig, frech, schamlos ... Du redest wie ihr Mann, fällt Rita nervös ein. Aber nein ... Sie kokettierte gern, von allen ihren Talenten war das ihr größtes, aber ich habe darin nichts Schlechtes gesehen. Sie war immer bereit für eine neue Leidenschaft, die sie bis an die Nägel versengen und alles unwichtig machen würde, worauf die Menschen gewöhnlich bedacht sind, aber mich hat das nicht gestört, sondern geradezu fasziniert. Rita schweigt, und ich deutet ihr Schweigen als gespannte Erwartung und fahre fort: Sie liebte dieses Gefühl, das eigene Ich zu zerbröseln. Sie liebte es, sich mit mir zu zeigen. Es kümmerte sie nicht, was die Leute über sie dachten. Wir hielten uns an der Hand und spazierten durch die Ilica beim dichtesten Gewühl. Wir trafen ihre und meine Freunde. Manchmal auch die Freunde ihres Mannes. Dabei wollte sie vor Angst fast sterben, aber sie ließ nicht locker. Aber wenn wir in einem Café zehn Minuten länger blieben, als wir es ihrer Meinung nach hätten dürfen, fing sie an zu zittern. Kaum hatten wir uns getrennt, lief sie los. Immer blieb mir die Luft weg, wenn ich sie so hergerichtet, im Mini und mit hohen Absätzen, wie ein Kind nach Hause laufen sah. Ich nannte sie die Frau, die läuft. Rita lacht. Dann sagt sie: Und jetzt eine praktische Frage. Wo habt ihr gevögelt. Ich meine: mit Rücksicht auf all diese Agenten, die euch verfolgt haben, und auf den Umstand, dass ihr euch in der Straßenbahn getroffen habt. In Cafés, auf Parkplätzen, auf fremden Autos, auf den Marktständen in der Opatovina, im Krankenhauskeller, vor der Tür zum Atomschutzbunker, in der Toilette der Uni-Bibliothek ... ich bin bereit, alles aufzuzählen, bis mich Rita unterbricht. Relation 1_2011.indd 201 Prosa Zu jeder Tageszeit, fast jeden Tag. Im Schnee, bei minus zehn, stehend, ohne die Mäntel abzulegen und zitternd, beim Theaterausgang, zehn Meter vom Haupteingang, hinter einem armseligen Busch, dabei die Leute im Ohr, die die gerade gesehene Vorstellung kommentieren ... He, mal langsam. Du bildest dir wohl was drauf ein? – fällt Rita ein und stößt mir ihren Ellbogen in die Rippen. Nein, ich antworte nur auf deine Frage. Wir hatten keine Zeit fürs Bett, und so mussten wir mit der Straße vorlieb nehmen. Aber das hat uns dann auch etwas gebracht, was uns erregte. Um beim nächsten Mal noch mutiger zu sein, oder noch verrückter. Rita schüttelt den Kopf und zischt leise: Okay, sag mir, was ist daran so anregend, es auf der Straße zu machen? Zuerst sehe ich sie lange prüfend an, mir dessen bewusst, dass das, was mir wichtig ist, als lächerlich ausfallen kann, aber als sie mich bittend auf den Handrücken küsst, fahre ich fort: Die Gefahr. Ständig hatten wir Angst, dass jemand kommen könnte, das Adrenalin spritzte nur so, aber wir lernten mit der Zeit an dem Fieber, das uns befallen hatte, Gefallen zu finden. Außerdem lag eine gewisse Befriedigung auch darin, dass wir trotz aller Hindernisse überhaupt miteinander vögeln konnten. Du meinst, wie bei diesen Computerspielen, je schwieriger das bewältigte Niveau, desto besser der Spieler, meint Rita wieder ätzend. Nein, mit dem Anwachsen der Hindernisse wuchs auch das, was zwischen uns war. Auf die Weise kämpften wir für unsere Beziehung. Gut, wo habt ihr am meisten gekämpft. Darauf werde ich nicht antworten, denn du wirst mir wieder vorwerfen, dass ich übertreibe Nein, tue ich nicht. Sag es bitte. Ich schweige noch immer, so dass sie sich jetzt zu mir neigt, mich flüchtig küsst und flüstert: Versprochen. 201 In Cafés. In einem regelmäßig, das ganze erste Jahr. Wir verabredeten unsere Treffen in diesem Café, wie sich andere in einem Hotelzimmer verabreden. Aber geh, ich glaube nicht, dass ihr in einem Café gevögelt habt. Ich habe noch nie gehört, dass das jemand getan hätte. Ich sagte ja, dass du mich der Lüge bezichtigen wirst, sage ich, stelle den Aschenbecher neben mich und versuche aufzustehen, aber Rita nimmt meinen Arm und zieht mich zurück ins Bett. Ich beschuldige dich doch nicht. Es fällt mir nur schwer, es zu glauben. Gut, gut, lass mich. Ich lege eine Musik auf, sage ich und lächle. Sie wartet, bis ich ins Bett zurückgekehrt bin, setzt den Aschenbecher wieder auf meinen Bauch und sagt: Erzähl weiter. Dieses Café war auf dem Weg von ihrem Haus zu ihrer Arbeitsstelle, so dass wir nicht viel Zeit verloren, und im ersten Stock war fast nie jemand, vor allem nicht zwischen neun und zehn Uhr morgens. Nein, ich glaube nicht, dass ihr dass getan habt, fällt Rita wieder ein, und ich sehe, wie sich ihre Lippen, während sie das sagt, zu einem Lächeln verziehen. Dann sagt sie rasch: Entschuldige, ich werde dich nicht mehr unterbrechen. Wir hatten es immer eilig, aber es gab auch Tage, an denen wir nicht aufhören konnten. Dann vögelten wir auch mal eine ganze Stunde, horchten die ganze Zeit auf die Geräusche aus dem Erdgeschoss und versuchten herauszuhören, ob jemand die Treppe heraufkam ... Wir waren nervös, aber das konnte uns nicht hindern. Mit der Zeit kümmerte uns nicht mehr, ob jemand mitkriegte, was wir dort trieben, aber wir hatten Angst, dass er uns unterbrechen könnte. Wenn ein Eindringling die Stufen heraufkam, hatten wir uns bereits getrennt und saßen jeder auf seinem Stuhl. Rot ge- 30.4.2011. 17:53:09 202 worden, außer Atem, zerdrückt, aber jeder auf seinem Stuhl. Die Leute taten so, als würden sie nichts bemerken, vielleicht schüttelte mal einer den Kopf, aber das war auch alles. Dafür sahen wir sie böse an. Wir sahen zu ihnen hin, wie sie langsam ihr Getränk tranken, und hassten sie ... Sie bat mich, sie zu vertreiben, ihnen zu sagen, dass sie gehen sollen. Manchmal knutschten und fummelten wir so intensiv, dass es ihnen tatsächlich unangenehm wurde und sie gingen, und manchmal fuhr sie mir, vor ihren Blicken durch meinen Körper geschützt, mit der Hand in die Hose. Ich halte inne in Erwartung eines Kommentar, aber Rita bläst nur Rauchwolken unter die Decke. Das liebte sie, antworte ich auf die Frage, die sie nicht gestellt hat. Sie schien darin mehr Genuss zu finden als ich. Und dann führte sie ihre Hand zur Brust und verrieb das Sperma in der Mulde am Halsansatz, um mich bei der Arbeit den ganzen Tag in den Nasenlöchern spüren zu können. Aber wie habt ihr es gemacht, saß sie auf dir, oder was, fragt Rita jetzt doch. Meistens habe ich gekniet, und sie saß auf einem Stuhl. Da hast gekniet? Auf den Knien? Ja, worauf sonst? Meine Knie waren ständig abgescheuert. Jetzt steht Rita auf und geht wieder zum WC. Als sie zurückkommt, versucht sie ihren Körper in dieselbe Lage zu bringen, in der er kurz zuvor gewesen ist. Nachdem sie sich eine Zeitlang gedreht und gewunden hat, fragt sie mich: Wenn du heute an sie denkst, welches Bild kommt dir als erstes. Du denkst doch wohl nicht nur daran, wie du sie gevögelt hast. Lass uns von etwas anderem reden. Ich habe genug. Nein, bleibt Rita hartnäckig. Mach die Augen zu und erinnere dich an etwas. Und dann erzähl es mir. Relation 1_2011.indd 202 RELA Drago Glamuzina: Drei Ich schließe die Augen und erinnere mich an den ersten sonnigen Nachmittag, als wir beide gerade eine Grippe überstanden hatten. Wir hielten uns an den Händen und schlenderten durch die Opatovina. An den Bänken vorüber, auf denen wir nachts gevögelt hatten. Auf dieser haben wir, auf dieser nicht, haben wir auf der dort?, ich denke, ja, und auf der da auch ... so hatten wir unseren Spaß, glücklich, dass wir wieder zusammen waren. Rita schweigt, bis ich sie schließlich frage: Ist es das, was du hören wolltest? Das heißt, ihr habt auch im Park gevögelt, konstatiert sie. Und ich habe gedacht, dich interessieren andere Dinge, etwa wie glücklich wir waren, als wir uns endlich wiedersahen. In welchem noch? Ich verstehe nicht. In welchem Park noch? Am meisten im Ribnjak. Dort ist es am dunkelsten. Wann? Den ersten Winter. Es schon gegen fünf dunkel, gerade zu der Zeit, wenn sie von der Arbeit kam. Dort hast du auch gekniet. Manchmal, aber meistens habe ich auf der Bank gesessen, in den Büschen an der rückwärtigen Mauer der Kathedrale, und gewartet, dass sie sich auf mich setzt ... Ihr Mantel bedeckte uns vollständig, aber das konnte die Spanner vom Dienst nicht abhalten. Ständig spazierten sie herum, die Hände in den ausgebeulten Taschen, und schielten zu uns herüber. Eigentlich brauchten wir nur dort keine Angst zu haben, dass jemand kommen könnte. Wir wussten, dass sie nicht störte, was wir taten. Gehst du noch immer auf die Knie vor ihr?, fragt Rita jetzt. In ihrer Frage ist im Unterschied zu den vorangegangenen nicht nur Neugier und Stichelei, sondern auch Angst, TIONS Zärtlichkeit und Interessiertheit. Das bringt mich total zurück in dieses Zimmer, neben diese Frau, der ich gefallen will. Nein, jetzt kniet ihr Mann neben ihr, hält ihre Hand und versucht ihr einzureden, dass ich an allem schuld sei. Das Gericht hat ihm die Kleine zugesprochen, und sie musste zwischen ihr und mir wählen und hat sich natürlich für das Zusammenleben mit ihr entschieden. Er hat ihr verziehen, aber an mir tobt er sich noch aus. Wie konnte das passieren?, fragt Rita. Seine Mutter ist mit dem Richter in eine Klasse gegangen, antworte ich lakonisch. Ich werde langsam nervös und will diese Geschichte so rasch wie möglich zu Ende bringen. Aber Rita hört nicht auf: Und wie hast du darauf reagiert? Gar nicht, ich sehe sie nicht mehr. Aber warum ruft ihr Mann dich noch immer an? Ich weiß nicht. Vielleicht genießt er es, sage ich und lösche meine und Ritas Zigarette. Dann stelle ich den Aschenbecher weg, entferne mit der Hand ein paar Flöckchen Asche von meinem Bauch und flüstere ihr kaum hörbar ins Ohr: Diese Leidenschaft hat ihn erfüllt, und Erfülltheit ist ein Zustand, der den Menschen auch dann gefällt, wenn er schmerzhaft ist, nicht wahr? Aber warum lässt du zu, dass er dich quält?, bleibt Rita hartnäckig, entschlossen, die Sache bis zum Ende zu treiben. Manchmal, wenn er anruft, höre ich, wie sie etwas zu der Kleinen sagt. Ich stelle mir gern vor, dass sie das deshalb tut, weil sie weiß, dass ich an der anderen Seite der Leitung bin, sage ich und bitte dann Rita, mir den Rücken zuzukehren. Ich schmiege mich mit all meiner Zärtlichkeit an sie, lege den Arm über ihre Hüfte und streichele ihren großen runden Bauch. So wird es dir weniger weh tun, sage ich. 30.4.2011. 17:53:09 RELA TIONS 2. Wer ist diese Frau – Wer ist diese Frau? – fragte sie nur wenige Sekunden, nach dem ich mich von ihr herunter aufs Bett gewälzt hatte. – Welche Frau? – sagte ich, noch immer keuchend und um Luft ringend. – Die Frau aus deiner Geschichte? – Na du. – Nicht ich. Die andere. – Es gibt keine andere. – Die Friseuse. Wer ist die Friseuse? ... diese Rita. Warum hast du mir nie etwas von ihr erzählt. – Es gibt keine Friseuse. Es gibt niemanden außer dich, mein Liebes – sagte ich und beugte mich wieder über sie. Ich versuchte sie zu küssen und die Geschichte abzuschließen, aber sie wich mir aus, wie immer in solchen Situationen. Eine Zeit lang begleitete ich mit dem Kopf die Bewegungen ihres Kopfes und wartete auf den richtigen Moment, mich auf ihre Lippen zu senken, aber am Ende gab ich auf. – Lüg nicht. Ich weiß, dass alle deine Figuren auch in Wirklichkeit existieren – sagte sie, stand rasch auf und ging ins Vorzimmer, zum Kühlschrank mit den Getränken. Draußen war es heiß, Sommer, Juli, und es war uns lieb, dieses Mal kein lauwarmes Wasser aus der Leitung trinken zu müssen. Der Mann an der Rezeption verlangte schon seit Monaten keinen Ausweis mehr von uns, und heute hatte er uns ein Appartement angeboten, in das die Sonne nicht hinein brennt, mit einer Mini-Bar. „Es kostet Sie genauso viel wie das kleine Zimmerchen. Das ist unser Bonus für Stammgäste“, hatte er verschwörerisch gesagt. Jetzt hockte sie vor dem Kühlschrank im Vorzimmer und füllte Getränke in die Gläser auf dem Boden, und ich starrte wie immer, wenn ich sie in dieser Stellung sah, auf ihre gespreizten Beine. Erst als sie sie wieder schloss, rief ich, um den Fernseher zu übertönen: – Vielleicht gibt es ein fernes Relation 1_2011.indd 203 Prosa Muster, dass sich in dieser Geschichte hundert Mal verkehrt hat. Aber das ist eine Geschichte! Eine Geschichte! Und Geschichten sind, wie du weißt, Fiktion! Bist du etwa bei deinem Mann geblieben? Das muss ich doch dir nicht erklären! Aber sie ließ sich nicht beirren: – Okay, gut, wer ist dieses ferne Muster in diesem Fall? – Meine Friseuse. – Wieder lügst du. Was willst du trinken? – Was nimmst du? – Wodka mit viel Juice. – Okay, bring mir auch einen. Warum glaubst du, dass ich lüge? – Du veränderst bei ihnen doch immer den Beruf, du willst nicht, dass man sie erkennt. – Dieses Mal nicht. Ich habe auch ihren Namen nicht geändert. Diese Figur ist genau genommen unwichtig, ich habe nicht angenommen, dass es jemanden interessieren wird, wer sie tatsächlich ist – setzten wir unsere Zurufe fort, denn die Fernbedienung lag auf dem Boden neben dem Bett, und ich hatte keine Lust aufzustehen und den Fernseher leiser zu drehen. – Sie ist also wirklich Friseuse – sagte sie, dieses Mal leiser, und kehrte mit zwei Gläsern ins Zimmer zurück. – Wirklich – antwortete ich und streckte die Hand nach ihrem Bauch aus. – Jetzt bist du hilflos, mit den Gläsern – sagte ich und zwängte meine Hand zwischen ihre Beine. – Und? – schien sie meinen Vorstoß nicht bemerkt zu haben. – Was und? – Und was ist zwischen euch gewesen? – Nichts. – Aber warum hast du sie dann in die Geschichte mit hineingenommen? – Jetzt hör schon auf! Komm, leg dich neben mich, und lass uns von etwas anderem reden. Sag mir, warum hat dich heute Morgen Josip angerufen? 203 – Nein, solange du mir nicht erklärst, wer diese Frau ist – sagte sie, stellte das Glas auf das Nachtschränkchen und ließ sich aufs Bett fallen. – Das denkst du doch nicht im Ernst? – Mir gefällt die Geschichte nicht. – Warum? Alle sagen, dass sie gut ist, und der Redakteur, der sie veröffentlicht hat, will schon eine neue von mir. – Deshalb weil du in der Geschichte sie vögelst und nicht mich. Du erzählst von mir, um sie zu erobern. Du machst sie an, indem du ihr erzählst, wie wir gevögelt haben. Du tust dich wichtig mit deinem großen Herzen. – Nein, umgekehrt, sie ist nur ein Mittel, sie existiert nur, damit ich leichter deine Geschichte erzählen kann – sagte ich und fügte nach einigen Augenblicken der Stille, die nur von ihren Schlucken unterbrochen wurde, nervös hinzu: – Ich kann nicht glauben, dass wir darüber reden. – Aber sie existiert. Dieses Mittel arbeitet in deiner Nachbarschaft – blieb sie hartnäckig. – Es gibt eine Friseuse, die mir die Haare schneidet, aber zwischen uns beiden gibt es nichts – presste ich durch die Zähne. Jetzt war ich schon müde und ärgerlich, aber sie nahm es nicht zur Kenntnis. – In der Geschichte schreibst du, dass du es genießt, wenn sie dir die Haare schneidet. – Ich habe die kleinen zufälligen Zärtlichkeiten genossen, in der Entspanntheit, die ich auf dem Frisierstuhl empfand, im rhythmischen Klappern ihrer Schere. Sie ging über Schere und Stuhl hinweg und sagte: – Beschreib mir diese kleinen Zärtlichkeiten. Und dreh bitte den Fernseher leiser. – Das war eine kleine reine und interesselose Befriedigung – warf ich wie beiläufig ein und stand auf. Ich drehte den Ton leiser und kehrte mit der Fernbedienung in der Hand ins Bett zurück, und sie fuhr fort: – 30.4.2011. 17:53:09 204 Und der Satz, dass sie dich immer streichelt, wenn sie dir die Haare geschnitten hat? – Das habe ich erfunden. – Ich glaube dir nicht, ich glaube dir gar nichts. – Und was soll ich tun? – fragte ich und zappte so schnell durch die Kanäle, dass ich überhaupt nicht mitkriegte, was auf welchem lief, bis sie mir die Fernbedienung aus der Hand wand und wieder auf den Boden warf. – Ich weiß nicht – antwortete sie, als sie sich wieder neben mich gestreckt hatte, und dann schwiegen wir lange und sahen zu, wie die grünen Vorhänge vor den Fenstern mit der Dunkelheit verschmolzen und schwarz wurden. Aus der Erstarrung weckte uns erst das Ächzen aus dem Nachbarzimmer. – Die sind wieder am Ficken – sagte ich. Sie gab keine Antwort, aber ich sah, wie sie versuchte, das Stöhnen zu hören, genauer, die Frau, die immer lauter wurde. Wir hörten sie, bis sie den Fernseher aufdrehten, und dann drehte sich Hana auf die Seite, legte ein Bein über meinen Oberschenkel und sagt: – Du bist ganz zugewachsen, du könntest dir morgen die Haare schneiden lassen. Daraufhin bewegte sie ein paar Mal das Becken vor und zurück und fragte: – Hat sie sich auch so an dir gerieben? Ich gab keine Antwort, aber ich hob mein Bein ein wenig an, um es besser zu spüren. – Aber ich komme mit. Ich will sehen, wie sie dich berührt – fuhr sie fort, ohne den langsamen Rhythmus ihrer Hüften zu unterbrechen. – Du kommst mit nach Travno nur um zu sehen, wie sie mir die Haare schneidet? – Hmmm, ja – murmelte sie. – Aber dort könntest du meiner Frau begegnen. – Das riskieren wir. – Wegen einer solchen Dummheit? – Ja. Relation 1_2011.indd 204 RELA Drago Glamuzina: Drei Ich schwieg, sie schwieg, und dann fasste ich sie am Haar, im Nacken, und drückte kräftig zu. Genauso, wie ich sie kurz zuvor gehalten hatte, beim Vögeln. – Okay, morgen gehen wir hin, und jetzt wirst du mir sagen, warum dich Josip gestern angerufen hat. – Aber ich habe dir doch gesagt, er hat sich nach dem Journalisten erkundigt, der ein Interview von ihm wollte – antwortete sie rasch. – Was hat er dich noch gefragt? – Weiter nichts. – Hat er nicht verlangt, dass ihr euch wieder seht? – Nein, aber er hat gesagt, dass er morgen in die Redaktion kommt, um den Text zu autorisieren – sagte sie, während sie mit der Hand hinter dem Rücken nach der Schachtel mit den Zigaretten tastete. Ich fühlte, wie ich zu zittern begann. Wie immer, wenn von irgendwo einer ihrer ehemaligen Liebhaber auftauchte oder jemand, von dem ich annahm, dass er ihr etwas bedeutete. Oder dass er ihr etwas bedeuten könnte. – Was hast du? – fragte sie, als sie das Zittern meines Körpers unter ihrem bemerkte. – Du triffst dich mit ihm? – Nein. Was ist mit dir? Ich hätte gern gesagt, dass mir kalt ist, aber im Zimmer war es warm, und so sagte ich schließlich: – Morgen werde ich den ganzen Tag unruhig sein. Was hat er noch gesagt? – Aber warum? Ich werde ihn nicht sehen, und ich will ihn nicht sehen. – Was hat er noch gesagt? – Ich bitte dich, hör auf. Du weißt, dass wir uns seinetwegen immer streiten – sagte sie, zog langsam ihr Bein zwischen meinen Beinen heraus und drehte sich auf den Rücken. – Aber wie konntest du mit so einem Typen vögeln? – Goran, das war vor drei, vier Jahren – antwortete sie. – Glaubst du, dass er damals besser war als jetzt. TIONS – Nein, aber es ist lange her, und ich möchte nicht darüber reden – sagte sie und zündete sich eine Zigarette an. – Es langweilt mich. Außerdem habe ich dir gesagt: Er hat mich am Arm genommen und weggeführt. Er hat mich nicht gefragt, ob ich mitgehen möchte. – Und weshalb hast du ihn nicht zum Teufel geschickt! – Deshalb weil es mir gefallen hat. Ich kannte die Geschichte gut. Er war in ihre Gesellschaft geraten, unter Leute, von denen er wusste, dass sie ihn verachteten, hatte sie am Arm gefasst und weggezogen, obwohl sie bis dahin noch nie ein Wort miteinander gewechselt hatten. Ich lag neben ihr auf dem Bett und versuchte mir, die Szene wieder vorzustellen. Die Art, wie er sie am Arm hält und zu den Männern ringsum sagt – Entschuldigen Sie ... Zu ihr kein Wort. Ich versuchte in den Augen dieser Männer zu lesen, die ebenfalls ein Recht auf sie zu haben glauben, ich versuche mir vorzustellen, wie sie sich fühlt, als sie den Saal verlassen. Doch dann presste ich hervor: – Ich ertrage es nicht. – Und ich möchte nicht mehr darüber sprechen. Das ist ein Typ, der mich eine Zeit lang erregt hat, aber auch damals habe ich nicht viel von ihm gehalten. – Ja, aber wieso hat es dich nicht gestört, dass dich ein Typ erregt, der auf Tuđman steht. – So ein Idiot ist er nun auch wieder nicht. – Glaubst du! Auch heute ist er das! – Liebling, weshalb reden wir über ihn? Es ekelt mich. – Deshalb weil du ein Jahr lang zu ihm in sein Kabinett gerannt bist! Deshalb weil du auf seinen Knien gesessen bist, während er am Telefon mit Tuđman sprach. – Aber das ist so lange her! – Aber ich kann es nicht ertragen, dass die Frau, die ich liebe, mit einem solchen Typen zusammen war. 30.4.2011. 17:53:09 RELA TIONS – Ich war immer der Meinung, dass er ein Idiot ist. – Und was hast du dann bei ihm gemacht! Wir fingen an zu schreien, und ich stand auf und drehte den Fernseher lauter. Das schien sie zu beruhigen, und sie fuhr, als ich zurück im Bett war, ganz leise fort. – Ich fand die Geschichte interessant. Es lag etwas Perverses darin, dass ich jeden Tag an seiner Sekretärin vorüberging, darin, dass diese Frau wusste, dass wir da drinnen vögeln, und dass sie niemanden in sein Kabinett ließ. Er musste manchmal für fünfzehn Minuten zu einer Sitzung, und ich wartete nackt auf der Couch, sicher dass niemand hereinkommt, dass sie mich schützt. Wir haben nie über irgend etwas miteinander geredet, wir haben nur dienstlich miteinander kommuniziert, aber ich fühlte mich irgendwie auf seltsame Weise mit ihr verbunden. – Jetzt wirst mir noch sagen, dass du ihretwegen hingegangen ist – sagte ich, während sie sich hinüberbeugte, um die halb gerauchte Zigarette auszudrücken. – Aber einmal haben wir uns sogar getroffen, im Kleinen Café am Hauptplatz – erzählte sie. – Sie hatte mich eingeladen, und ich hatte zugesagt. Es hat mich interessiert, was sie von mir wollte. Vielleicht wollte sie mir etwas sagen oder etwas über ihn verraten. Mir näherkommen. Aber wir hatten nicht den Mut, wir tranken Kaffee und redeten über Dummheiten. So wie du und ich jetzt über Dummheiten reden – sagte sie und kroch wieder auf mich und senkte ihre Lippen auf meine. Dann wich sie zurück, zwängte mir ihre Finger in den Mund und begann meine Zähne abzutasten. Einen um den anderen, vom linken Weisheitszahn bis zum rechten, mit Daumen und Zeigefinger, von beiden Seiten, dabei meine Zunge umgehend, die sich unaufhörlich zwischen sie drängte. Relation 1_2011.indd 205 Prosa *** Am nächsten Morgen half alles Sträuben nichts. Anstatt im Büro zu sein, standen wir um halb elf in der Tür des Friseursalons und spähten nach links und rechts. Sie wartete um zu sehen, an welche Dame ich mich wenden würde, und ich drehte den Kopf nach allen Seiten und suchte Rita mit dem Blick. – Welche ist es? – fragte sie mit unterdrückter Stimme und presste sich an mich. – Sie ist nicht da, vielleicht arbeitet sie am Nachmittag – antwortete ich. – Vielleicht ist sie im anderen Raum, dort wo die Frauen frisiert werden – sagte sie und zeigte zum Gang, der in den anderen Teil des Salons führte. – Vielleicht – antwortete ich und drehte mich weiterhin nervös auf der Stelle, noch immer wütend, dass ich ihr erlaubt hatte, mich hierher zu verschleppen. Ich wollte mich schon dem Ausgang zuwenden, als die Chefin plötzlich neben uns stand, eine stets muntere, aber redselige Frau. – Ja wo stecken Sie denn? Ich war schon besorgt, Ihnen könnte etwas zugestoßen sein – ließ sie einen Wortschwall heraus, nahm mich bei der Hand und führte mich zum Sessel. Dieser herzliche Griff blieb Hana natürlich nicht verborgen, sie glaubte, das war mir sofort klar, es handelte sich um Rita. – Wo ist Rita? – fragte ich deshalb rasch. – Ach Rita, Rita ist krank geschrieben ihr Kleiner ist krank. Aber wir haben eine würdige Vertretung für sie gefunden, er war zwei Jahre zur Spezialisierung in London, ein wahrer Meister, ich werde ihn gleich rufen – stieß sie in einem Atem hervor und ging in den anderen Raum. Ich setzte mich und sah im Spiegel, wie sie mit einem hoch gewachsenen, hageren, schwarzhaarigen Mann zurückkam, der sich stärker in den Hüften wiegte als sie. Er kriegte den Mund ebenso wenig zu wie seine Chefin, aber Rita war mir 205 gerade deshalb lieb, weil sie nicht redete, während sie die Haare schnitt. Sie erlaubte mir, im Sessel zu versinken, es zu genießen, nichts zu tun, nichts zu reden. Sie fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, strich mir über das Kinn, entfernte mit den Fingerkuppen die Härchen, die mir unter die Augen geflogen waren und mich zum Grimassieren zwangen, und ich konnte im Spiegel zusehen, wie ihre geschickten Finger um mein Gesicht tanzten, hörte die Schere, wie sie klapperte, oder schloss die Augen und überließ mich meinen Gedanken, die ziellos kamen, so wie man früher Fahrrad fuhr, hier entlang, dort entlang durchs Viertel und dann in den Wald, ohne Ziel. Ich wusste, dass ich eine halbe Stunde dazusitzen hatte, und dass ich dabei nichts tun konnte, und das beruhigte mich. Jetzt saß ich auf diesem Stuhl, wütend auf Hana und wütend auf mich, und der Friseur aus London berührte mich ebenso sanft und vorsichtig wie Rita. Aber anstatt mich zu entspannen, wurde ich immer verkrampfter, und in dem Augenblick, als er sich mit seinem Schritt an meinen Handrücken lehnte, fühlte ich die Wut in mir hochkommen und sich über den Spiegel genau auf Hana entladen. Ich sah im Spiegel, wie sie lachte, und verzog ärgerlich das Gesicht. „Sei doch nicht so primitiv. Rita lehnt sich doch auch ab und zu an deine Schulter, vielleicht muss er das tun, um an alles heranzukommen. Lass dich nicht von solchen Kleinigkeiten stören“, sagte ich mir, während er sanft meine Ohren verdrehte und sich mit der Schere hinter ihnen zu schaffen machte. „Was heißt das, dass er schwul ist. Schließ die Augen, entspanne dich und genieße seine Berührungen wie die Ritas“, begann ich mit dem autogenen Training. Ich schloss die Augen, aber seine Berührungen waren mir auch weiterhin unangenehm. „Damit sie angenehm werden, muss ich sie mir wünschen, 30.4.2011. 17:53:09 206 wie bei Rita ... das gibt Hana also recht, dass mir Rita gefällt ... aber nicht genug, dass ich irgendwann auch nur die geringste Mühe in diese Beziehung investieren würde ... warum lasse ich mich so malträtieren ... der hier ist wirklich hartnäckig, wie komme ich nur weg von ihm ... an Rita bin ich immer näher herangerückt ...“ Ich spulte den Film im Kopf immer schneller ab und starrte, immer unzufriedener mit dem Benehmen des Friseurs, mit meiner neuen Frisur und mit Hanas Gewaltakt, in den Spiegel. Draußen regnete es, ich würde zu spät zur Arbeit kommen, ich runzelte die Brauen und presste die Zähne zusammen, während mir Hana im Spiegel zuzwinkerte, die Hände rang und mich anflehte, ihr zu verzeihen. Sie zog mit den Fingern ihre Lippen breit und bedeutete mir zu lächeln. Sie bewegte die Lippen, und ich las: „Nicht böse sein.“ Aber ich war böse und machte ein finsteres Gesicht. Selbst als sie kurz ihren Mini hob und mir für einen Augenblick ihr Miniaturhöschen zeigte. Dann schwiegen wir und sahen einander im Spiegel an, ohne Worte, ohne Zeichen. Und dann nahm sie eine Strähne ihres Haars und legte sie sich über die Lippen zu einem Bart und hob die Oberlippe, um ihn gegen die Nase zu pressen. Aber er rutschte ab, und sie versuchte es noch einmal. Und wieder. Beim dritten, vierten Mal gelang es endlich. Der Schnurrbart stand, gehalten nur von der Oberlippe. Jetzt hob sie den Finger in die Luft und winkte drohend mit ihm. Und ich lächelte. 3. Sag, dass nichts passiert ist Ich stand vor der Mitteltür der Straßenbahn, und sie beschwor mich einzusteigen und sie ein paar Stationen zu begleiten. Du weißt, dass sie in der Redaktion auf mich warten. Ich wiederholte diesen Satz und zeigte auf das Handy, das schon wieder läu- Relation 1_2011.indd 206 RELA Drago Glamuzina: Drei tete. Sie ließ nicht locker, aber ich drehte unnachgiebig den Kopf linksrechts, bis sie sich umdrehte und auf einen freien Platz zuging. Ich sah, wie sie sich hinsetzte, sich umdrehte, mir zuwinkte, und ging dann auch selbst und stieg – einen Augenblick bevor die Straßenbahn wieder über die Schienen ratterte – durch die hintere Tür ein. Sie sah mich nicht, sondern blätterte in der Zeitung. Ich wartete einen Augenblick, bis sich die Leute verteilt hatten, dann arbeitete ich mich langsam zu ihr vor. Ich blieb hinter dem Rücken einer etwas fülligeren Dame mit großem Hut stehen, über dessen Rand hinweg ich Hana sehen konnte. Hinter ihrem Kopf konnte ich rasch wieder untertauchen, sollte sie sich zufällig umdrehen. Immer habe ich sie gern beobachtet und bin in der Stadt hinter ihr gegangen. Was auch einmal unangenehm sein konnte. Wenn sie auf der Straße einem gemeinsamen Bekannten begegnete, wechselte ich rasch auf die andere Seite, damit er nicht auf die Idee käme, ich würde sie begleiten. Meistens wusste sie, dass ich hinter ihr war. Während wir eine Straße hinuntergingen, ließ ich einfach ihre Hand los und ließ mich ein paar Schritte zurückfallen, ging hinter ihr und sah, wie ihr Rücken aufragte und wie sich die spindelförmigen Wadenmuskeln spannten, wie Männer und Frauen auf ihre Schuhe mit den hohen Absätzen sahen, die oft eine Neigung zum Gefährlichen, Perversen erkennen ließen, aber nie vulgär waren. Sie hatte ein hervorragendes Gespür für diese Grenze und überschritt sie nie. Manchmal machten wir es auch anders. Wir trennten uns, ich sagte, ich ginge nach Hause, und dann machte ich kehrt und ging ihr nach. Nicht etwa weil ich eifersüchtig gewesen wäre, nicht deshalb bin ich ihr nachgegangen, jedenfalls nicht damals. Ich liebte es einfach, sie heimlich zu beobachten, denn dann war auch sie gelöster. Einmal beob- TIONS achtete ich sie, wie sie die Tür zu ihrem Gebäude aufschloss, und als ich die Art sah, wie sie da stand und die Schlüssel in der Tasche suchte, wie sie sich zur Tür vorbeugte, wie sie sie hinter sich zuzog, obwohl sie völlig allein in der Straße war, dachte ich: Sie verführt auch das Gebäude, die Tür, Autos ... Ich liebte es, mit ungestörtem Genuss ihr Gesicht zu beobachten, während sie eine Auslage mit Kleidern betrachtete, diese völlige Hingegebenheit zu bewundern, zu sehen, wie sie mit den Händen wedelte, wenn sie einem Bekannten etwas erklärte, den sie zufällig auf der Straße getroffen hatte, oder – unbemerkt – fast ihre Finger zu berühren, die in der Straßenbahn den Haltegriff umklammert hielten. Oder ich saß hinter ihr und beobachtete im Widerschein des Straßenbahnfensters ihre immer besorgte Miene, an der deutlich abzulesen war, das dahinter ein schwerer Film ablief. Und fuhr dann auf ihr hysterisches Zucken hin zusammen, dem das nervöse Durchwühlen der Handtasche auf der Suche nach dem Handy und das fieberhafte Eintippen einer Nummer folgten. Wen ruft sie an??? Erleichtert atmete ich auf, wenn das Handy in meiner Tasche zu vibrieren begann. So sah ich auch heute, aus meinem Versteck im Rücken der Dame mit dem Hut, wie sie in der Straßenbahn saß, ununterbrochen mit dem Finger eine Haarlocke eindrehte und nachdachte. Vielleicht über die Reise nach Paris, die sie am nächsten Morgen erwartete. Und schon dachte ich, dass es an der Zeit wäre, zu ihr zu treten und sie zu küssen, unverhofft, von hinten, als sie sich abrupt umdrehte und aus dem Fenster sah. Auch ich drehte mich um. Auf der Ilica ging der Volleyballtrainer ihrer Tochter. Genau in diesem Augenblick kam eine Straßenbahn aus der Gegen- 30.4.2011. 17:53:09 RELA TIONS richtung und verdeckte ihn, aber sie wandte noch immer den Kopf nach ihm. Sie drehte sich fast vollständig auf ihrem Sitz um, in der Erwartung, dass die Straßenbahn vorbeifahren würde und sie ihn wieder sähe. Mit ihm war sie in dem Jahr zusammen gewesen, als Petra zum Training ging. Mehrere Male waren wir ihm gemeinsam begegnet, aber sie hatte ihn nicht einmal gegrüßt. Auf meine Frage nach dem Grund sagte sie, dass er sie nicht interessiere. Weder er noch die übrigen. Denn das sei in einer anderen Zeit, das sei eine andere Hana gewesen. – Ich schulde ihnen nichts, sie bedeuten mir nichts, ich brauche sie nicht auf der Straße zu grüßen – waren ihre Worte gewesen. Die Straßenbahn fuhr vorüber, aber auch unsere Straßenbahn hatte sich schon eine beträchtliche Strecke von dem Trainer entfernt, trotzdem sah sie noch immer hinter ihm her. Endlich drehte sie sich um und kehrte zu ihrer Zeitung zurück. An der nächsten Haltestelle stieg ich aus und rief sie am Handy an. – Du fehlst mir schon – sagte sie, sobald die Verbindung hergestellt war. – Bist du in der Redaktion? – Nein, ich bin noch auf der Straße. Was gibt es bei dir Neues? – Ich denke an Paris. Ich habe lange um dieses Interview gekämpft, und jetzt bin ich nervös. – Hast du jemanden getroffen. – Nein. – Ich habe gesehen, wie du ihm nachsiehst? – Wem? – Ihm. Ich spürte, wie sie von Panik gepackt wurde und fieberhaft überlegte, was sie antworten solle. – Deinem ehemaligen Liebhaber. – Ja, ich habe ihn aus der Straßenbahn gesehen. Wieso weißt du das? – fragte sie unter leisem Lachen, das ihre Beunruhigung kaschieren sollte. – Ich stand hinter dir. Relation 1_2011.indd 207 Prosa – Und warum hast du dich nicht gezeigt, Liebling. Ich schwieg. Und überlegte, wie ich es sagen solle. – Du behauptest, dass du nie nach anderen Männern siehst, und bist bereit, mir die Augen auszukratzen, wenn ich mich nach einer Frau umdrehe – presste ich schließlich hervor. – Ich sehe doch niemandem nach. – Aber ich habe gesehen, wie du ihm nachsiehst. – Na ja, ich habe ihn lange nicht gesehen, da habe ich eben sehen wollen, wie er aussieht. – Ja, du hast gewartet, dass die Straßenbahn vorbeifuhr, und dich auf deinen Platz vollständig umgedreht, du hast dir fast den Hals verrenkt, um ihn noch einmal zu sehen. – Ja, Liebling, aber das hat nichts zu bedeuten. – Ich weiß ja, dass es nichts zu bedeuten hat, aber du behauptest ständig, dass es etwas bedeutet. – Aber ich habe nicht ... – Okay, okay, es ist alles in Ordnung, du hast ihm nachgesehen, du hast einem Mann nachgesehen, mit dem du einmal gevögelt hast. Das würde jeder tun. Ich bin dir nicht böse. Wir hören uns später. Jetzt bereite dich auf deine Reise vor. Du hast viel zu tun. Eine halbe Stunde später rief sie von zu Hause an. Sie weinte. – Entschuldige bitte. – Aber ich bin dir überhaupt nicht böse. Du musst dich nicht entschuldigen. Und es tut mir leid, dass ich dich angerufen und dir gesagt habe, dass ich gesehen hätte, wie du ihm nachsiehst. Ich wäre zufriedener mit mir, wenn ich das für mich behalten hätte. – Ich weiß nicht, warum ich ihm nachgesehen habe. – Liebling, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, es ist alles in Ordnung. Eigentlich habe ich dir nur sagen wollen, dass du selbst dich nicht so benimmst, wie du es von mir verlangst. Aber so kann sich auch nie- 207 mand verhalten. Wir können nicht jede Spur von Interesse an anderen Menschen in uns unterdrücken. – Nein, es ist nicht in Ordnung. Ich bin schrecklich beunruhigt. Und jemand anders interessiert mich nicht. – Es ist nichts Schreckliches passiert. – Ich bin dir treu, ich bin dir schrecklich treu. – Ich weiß. – Ich sollte mich für die Reise vorbereiten, aber ich kann nicht. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe. – Vielleicht deshalb, weil ich dich damit aufgezogen habe, der Typ habe den Gang eines Fickers, und das wolltest du nachprüfen. – Vielleicht. Sag, dass nichts passiert ist. – Okay, es ist nichts passiert. 4. Und wenn ich sie ein bisschen mehr spreize Wir lagen am Nudistenstrand, er war hässlich, ungepflegt und voller Spanner, die sich um die zwei, drei Frauen herum gruppiert hatten, die es, zusammen mit ihren Männern, gewagt hatten, sich in diesen Wichserpfuhl zu begeben. Wir lagen da, hielten uns an den Händen und linderten die Folgen des Streits vom Vorabend, der mit dem Zerreißen der Bücher einer Kollegin von uns und dem Hinauswerfen ersterer aus dem Fenster des fahrenden Autos geendet hatte. Denn diese Bücher hat sie, und warum habe ich sie mir dann nicht von ihr geliehen. – Ich kann das nicht verstehen ... du hast Psychologie studiert, du schreibst oft über Obsessionen, die den Menschen das Leben zerstören, aber deines hast du so angelegt, dass es keine Chance für dich gibt, ein guter Mensch zu werden – sagte ich und sah zu den Wolken hinauf, die über den Jarun segelten. – Ja? Das war alles, was sie sagte, und so wiederholte ich nach kürzerem 30.4.2011. 17:53:09 208 Warten: – Ja. wenn du die Frauen hasst, mit denen ich zusammen arbeite, obwohl du weißt, das sie mir nicht gefallen, wenn du Lexaurin nimmst, wann immer ich auf Reisen gehe, und versuchst, mir diese Reise auszureden, wenn du jede Telefonnummer in meinem Handy überprüfst, hast du keine Chance, ein gutes Mädchen zu werden. – Meinst du? – Meine ich. – Aber du quälst mich auch. Du fragst mich nach den Leuten aus, die ich interviewe. Ich muss dir von jedem sagen, ob er gut aussieht, wie alt er ist, ob er interessant ist – entgegnete sie und sah ebenfalls irgendwohin hinauf, in die Wolken. – Ja, aber ich verlange nicht, dass du dich nicht triffst mit diesen Leuten, ich behindere dich nicht bei der Arbeit, eventuell gehe ich dir ein wenig mit meiner Eifersucht auf die Nerven. – Ein wenig? – sagte sie so leise, dass es kaum zu hören war, und fügte dann nur wenig lauter hinzu: – Als ich dir von Josip erzählte habe, hast du mich tagelang nicht atmen lassen. – Deshalb weil ich nicht hinnehmen konnte, dass du dich mit ihm getroffen hast. Das passte nicht zu dem Bild, das ich mir von dir gemacht hatte. Und es tat weh. Mich hat wirklich der Gedanke vernichtet, dass die Frau, die ich liebe, mit einem Typen zusammen sein konnte, der alles darstellt, was ich verachte. Und was sie verachtet. Nur bin ich mir bewusst, dass uns ein solches Verhalten vernichten wird, du hingegen verhältst dich so, als ob es so sein müsste ... Du glaubst, dass etwas nicht in Ordnung ist, wenn ich nicht eifersüchtig bin, und manchmal kommt es mir so vor, dass du mir auch alle diese Geschichten über ehemalige Liebhaber nur deshalb erzählst, um meine Eifersucht zu schüren, während ich gegen diese Eifersucht ankämpfe. Vielleicht Relation 1_2011.indd 208 RELA Drago Glamuzina: Drei nicht gerade erfolgreich, aber ich kämpfe. Das ist der Unterschied. – Ach komm, du hast darauf bestanden, dass ich dir alles erzähle. Du hast ausdrücklich darauf bestanden. Du hast ständig gesagt, du willst alles über mich wissen. – Ja, du wirfst mir einen Knochen hin und wunderst dich, wenn ich mich auf ihn stürze. Hättest du gewollt, hättest du alles verschweigen können, und ich hätte keine Chance gehabt, etwas zu erfahren. – Gut, gut, ich mag darüber nicht reden, nicht dieses Mal – sagte sie, mit ein wenig mehr Energie in der Stimme, aber noch immer faul in der Sonne schmelzend. Beleidigt schwieg ich. Nach einigen Augenblicken drehte sie sich zu mir um, sah mich an und sagte: – Okay, sag mir, wie kämpfst du gegen die Eifersucht? – Dieser Mann, der unter deinen Füßen liegt. – Ja? – Schon eine Stunde lang tut er, als würde er schlafen, und starrt durch seine Sonnenbrille auf deine Muschi. Ich habe es gesehen, und ich denke, du auch, aber ich habe dir nicht gesagt, dass du die Beine schließen sollst. Wenn dich das nicht stört, oder wenn du ihn reizen willst, warum nicht, tu das. Danach werden wir nach Hause gehen und ihn nie wieder sehen. Am Anfang hat mich die Frage gequält, ob du es absichtlich tust, aber dann habe ich mich beruhigt und bin zu dem Schluss gekommen, dass es egal ist, dass ich mich nicht ärgern werde. – Ich habe nicht gesehen, dass jemand unter mir liegt. Und es fällt mir überhaupt nicht ein, irgendwem irgend etwas zeigen zu wollen – schnitt sie das Gespräch ab und schloss die Beine. Dann schwiegen wir. Nach zehn Minuten fing sie wieder an. – Du bist dir sicher, dass er mich angesehen hat. – Ja. TIONS – Wie? – Er hat einen Ständer gekriegt. Ich habe gesehen, wie er ihn in Position gebracht hat. Kurzes Schweigen. Dann fragte sie: – War er groß? – Sehr. – Und du bist nicht böse? – Nein. – Du lügst. – Ich lüge nicht. – Aber wenn ich die Beine wieder spreize, wirst du böse. – Nein. Sie spreizte sie, und der Mann unterhalb von uns bezog rasch wieder seine Stellung. – Sieht er her? – fragte sie. – Er sieht her – sagte ich. – Du bist böse. – Ich bin nicht böse. – Und wenn ich sie ein wenig mehr spreize? – Ich werde nicht böse sein. Sie spreizte sie, als wollte sie beweisen, dass ich Blödsinn redete und dass ich schon im nächsten Augenblick wütend werden würde. Aber ich war bereit, sie alles tun zu lassen, was ihr einfiel, sie sogar mit diesen Typen reden zu lassen, die nur deshalb an den Strand kamen, um den Frauen zwischen die Beine zu linsen. Ich hoffte, dass danach auch sie etwas anders reagieren würde. Aber ich begriff rasch, dass es mir nicht leicht fallen würde. Scheinbar zufällig, um eine Fliege zu vertreiben, senkte sie die Hand zwischen die Beine und ... ließ sie dort liegen. Langsam fuhr sie mit der Hand über die Härchen und legte sie dann zufrieden auf meine. Der Typ reagierte. Mit Keuchen. Und ich hörte auf zu atmen. Ich glaubte, das sie jetzt aufhören würde, aber sie ging weiter. Zuerst befeuchtete sie mit der Zunge die Lippen, dann strich sie ein paar Mal mit der Hand über die Innenseite der Schenkel. Angelegentlich, absichtslos, während sie mir das Buch nacherzählte, das sie gerade las. 30.4.2011. 17:53:09 RELA TIONS Als ich hinunter sah, kam es mir so vor, als wären ihre Beine noch mehr gespreizt als vorher. Das Keuchen wurde schneller. In dem Moment richtete sie sich plötzlich auf und drehte sich zu dem Typen um, der erstarrte, als er begriff, dass die Worte, die sie sagte, ihm galten. – Würden Sie ein wenig zur Seite rücken. Sie verdecken mir die Sonne. Aber das war nicht leicht, auf der einen Seite lagen die Abfallreste eines nächtlichen Saufgelages, auf der anderen war stacheliges Gras. Und würde er das überschreiten, würde er den paradiesischen Winkel verlassen, den ihre gespreizten Beine beschlossen. Fieberhaft sah er sie an und überlegte, ob sie wohl wegen seines Linsens protestierte, oder ob es sie tatsächlich störte, dass er ihr die Sonne verdeckte. Dann stand er auf, legte sein Handtuch über die Unkrautbüschel und streckte sich, innerlich strahlend vor eigener Findigkeit, selbstzufrieden darauf aus. Jetzt hob sie das rechte Bein, als wollte sie seine Opferwilligkeit belohnen, und lehnte die Wade an mein aufgestelltes Knie. In den nächsten zehn Minuten versuchte ich das Geilheitsdrama, dass sich unter uns abspielte, nicht zu sehen und mich meiner Zeitung zu widmen, aber kaum hatte ich sie sinken lassen, stand der Mann auf, trat zu mir, und bat mich, sie ihm zu leihen. Ich fragte mich, ob das der Versuch sein sollte, einen konkreteren Kontakt herzustellen. Dann fragte ich das auch sie, und sie gab zur die Antwort: – Ist mir egal. Ich wünsche keinerlei Kontakt mit ihm. Aber der Typ ließ nicht locker. Er setzte sich an oberen Rand seines Handtuchs, genau genommen auf seinen rechten Fuß, bog das linke Bein im Knie ab, stützte nachlässig den Ellbogen aufs Knie und breitete, nachdem er sich so gegen den Rest des Strandes abgeschirmt hatte, die Zeitung bis unmittelbar an ihren Fuß Relation 1_2011.indd 209 Prosa aus. Sein Kopf war fast zwischen ihren Beinen. Er blätterte in der Zeitung, vor, zurück, raschelte, seufzte und beruhigte sich wieder. Als ich hinuntersah, sah ich, dass er am Wichsen war. Ich beugte mich zu ihr und flüsterte es ihr zu, worauf sie ein Stöhnen herausließ. Das sie freilich später hartnäckig leugnete. Ich wunderte mich über seine Frechheit und Aufdringlichkeit, ich sah ihr ruhiges Gesicht und ihre geschlossenen Augen und fragte mich, was wohl in ihr vorging. Und was ich tun solle. Ich beugte mich zu ihr und flüsterte wieder: – Stört es dich nicht? – Nein, solange er mich nicht berührt, ist mir völlig egal, was er tut. Ein paar Minuten lang schwiegen wir, dann drehte sie den Kopf zu mir und sagte: – Sag mir, wenn er fertig wird. – Sieh doch selbst hin, wenn es dich interessiert. – Ich möchte ihn nicht ermuntern. – Und du meinst, ich darf ihm zusehen, das ist keine Ermunterung? – Okay, dann lass es. Aber wir brauchten ohnehin nicht hinzusehen, wir hörten es. Das Keuchen kam immer rascher und lauter. Ich sah in ihr Gesicht um zu sehen, ob sie zu zittern begänne, wenn sie erkannte, dass er fertig gemacht hatte. Aber auch darüber konnten wir uns nicht einigen. Als er aufstand und ins Wasser ging, um sich abzuwaschen, sprangen wir auf und packten rasch unsere Sachen zusammen. Wir wollten uns davonmachen, bevor ihm der Gedanke käme, sich uns zu nähern. Angewidert sahen wir die milchigen Tropfen gut dreißig Zentimeter von seinem Handtuch entfernt, und auch die Zeitung, die er neben unsere Tasche geworfen hatte, stieß ich angewidert mit dem Fuß zur Seite und schob zwei Steine darauf, damit sie nicht über den Strand geweht würde. Erst jetzt bemerkte ich, das sie sich mit 209 einem Papiertaschentuch den Unterschenkel abwischte. Wir schwiegen bis zum Auto, und dann fingen wir wie verrückt an zu lachen. Über sein verzerrtes Gesicht, sein Keuchen und Schnaufen, sein Liegen im Gestrüpp. Zwei Stunden später, geduscht und erfrischt, saßen wir auf der Terrasse der Pizzeria „Maslina“ und warteten auf unsere Gnocchi mit Krabben. Und natürlich lachten wir noch immer über den Typen, der am Strand gekeucht hatte. Am Nachbartisch saßen ein älterer Herr und eine junge Frau. Alle Augenblicke beugte er sich vor und bedeckte ihre Hand mit seiner. Die Frau war nervös und tanzte ständig mit den Beinen unter dem Tisch, schloss sie und spreizte sie. Dann legte sie ein Bein auf das Knie des anderen, ließ es einen Augenblick so liegen und setzte es dann rasch wieder auf den Boden. Aber schon nach wenigen Augenblicken legte sie wieder ein Bein über das andere. Ich sah, wie sich dabei ihr kurzes rotes Kleid an der Hüfte hochschob, und fragte mich, ob sie nur nervös war, oder ob sie das im Grunde für mich tat. Während er sie oben an der Hand hielt und sie ihn verliebt ansah, spreizte sie unterm dem Tisch die Beine und zeigt mir ihre nackten Schenkel. – Was guckst du? – fragte mich Hana jetzt in ihrer gefährlichen abrupten Art. Noch immer gut gelaunt, überzeugt, dass ich nach allem, was dieser Tag gebracht hatte, erzählen konnte, welch harmloser Verdacht mir im Kopf herumging, deutete ich mit dem Kopf zu der Frau am Nachbartisch. Sie drehte sich um und sah sofort ihre Beine, die sie in diesem Augenblick ruhig hielt. – Was? – wiederholte sie. – Schau nur. – Was? – Ihre Beine. 30.4.2011. 17:53:09 210 Und tatsächlich, nach ein paar Augenblicken begannen sich die Schenkel zu öffnen und das Kleid hinaufzurutschen. – Was glaubst du, ist sie nervös oder provoziert sie mich. – Diese Schlampe – presste sie jetzt hervor und erbleichte. – Aber was hast du denn, du hast heute viel schlimmere Sachen getan. – Diese Schlampe, diese Schlampe ... – wiederholte sie wie ein Automat, dann gab sie sich plötzlich einen Ruck, drehte sich zu mir um und zischte durch die Zähne: – Ich habe gar nichts getan! – Ich habe keine Ahnung, ob sie irgend etwas tut, aber ich bin mir sicher, dass du sehr gut gewusst hast, was du tust – antwortete ich, auch selbst schon ein bisschen wütend. Aber sie hörte mich nicht mehr. Sie war aufgestanden und schon unterwegs zu dem Mädchen, und ich sprang ihr rasch nach. Während ich sie vom Nachbartisch wegzuzerren suchte, entwand sie sich, drehte sich um und rief: – Schämst du dich nicht? Ich zog sie zum Ausgang von der Terrasse, die Leute drehten sich nach uns um und versuchten mitzukriegen, was passiert sei. Als ich sie bis zum Auto gebracht hatte, riss sie sich los und rannte zurück. Nach erneutem Ringen schob ich sie ins Auto, fuhr los und fing an zu brüllen. – Bist du normal! Nie im Leben ist mir etwas unangenehmer gewesen. Du bist verrückt! – Mir tut es nur leid, dass du mich nicht hast zurückgehen lassen. So eine Ohrfeige hätte ich ihr verpasst – gab sie zurück. – Aber weshalb? – Deshalb weil sie eine Hure ist. – Du bist eine Hure, nicht sie. Wie kannst du jemanden angreifen wegen etwas, was du selber auch tust. – Aber ich liebe dich, und ich kann es nicht ertragen, dass du andere ansiehst – war sie jetzt schon am Weinen. – Warum hast du sie angesehen? Relation 1_2011.indd 210 RELA Drago Glamuzina: Drei – Aus reiner Neugier. – Warum hast du sie angesehen? – Und warum hast du heute diesem Typen deine Muschi gezeigt? – Deshalb weil du es verlangt hast. – Ich habe gar nichts verlangt. Ich habe nur gesagt, dass du tun sollst, was du willst. – Warum hast du zu ihr hingesehen ... warum hast du zu ihr hingesehen ... – wiederholte sie. – Ich habe nicht zu ihr hingesehen – sagte ich, mir meiner Niederlage völlig bewusst. Dann schwiegen wir eine Zeitlang, und dann verlangte sie, ich solle ins Restaurant zurückgehen und ihre Tasche und ihre Strickjacke holen. – Wie soll nach einer solchen Scheiße wieder dahin zurückgehen – explodierte ich. Gut, dann gehe ich – sagte sie, rührte sich aber nicht. Ich stieg aus dem Auto, ging hinauf auf die Terrasse, nahm Tasche und Jacke und ließ 200 Kuna neben dem Teller zurück, auf dem die Gnocchi mit den Krabben kalt wurden. Dann drehte ich mich zu dem noch immer entsetzt blickenden Paar am Nachbartisch um, hob die Schultern und breitete die Arme ... und verschwand. Als ich wieder im Auto war, legte ich ihr die Sachen in den Schoß. Dann sagte ich zu ihr, sie solle sich die Lippen nachziehen, drehte den Schlüssel und fragte: – Wo werden wir zu Abend essen? 5. Der alte Herr, der sie gevögelt hat – Und wie ist er – fragte sie, sobald sie im Auto saß. – Alt. – Ich habe dir ja gesagt, dass er alt ist. Das war vor fünfzehn Jahren, und schon damals war er alt. – Okay, aber trotzdem hat er dich heute Morgen angerufen – sagte ich und versuchte mich in die Kolonne TIONS in der Ilica einzureihen. – Er glaubt noch immer, dass er dich haben kann. – Er hat mein Bild in der Zeitung gesehen. Und offensichtlich hat er sich an einige Dinge erinnert – gab sie zur Antwort und setzte dann besorgt hinzu – Was für ein Verkehr, wer weiß, wie lange wir bis zum Jarun brauchen. – Ja, er hat sich erinnert, wie du ins Krankenhaus gerannt bist, um zu ihm ins Bett zu kriechen. – Ha, vielleicht – stieß sie durch die Zähne hervor und kramte, ein wenig abwesend, in ihrer Tasche. Dann sagte sie noch: – Ich habe nicht viel Zeit, Petra kommt bald heim. – Was genau hat er zu dir gesagt? – Das habe ich dir doch heute Morgen schon gesagt. – Wiederhole – insistierte ich. – Dass ich auf dem Foto zerzaust aussehe – kam die Antwort, während sie Buchstaben ins Handy tippte. – Das war lasziv gemeint? – Vielleicht. – Du warst tatsächlich zerzaust. – Wir haben die Aufnahmen bei dem Maler auf dem Balkon gemacht, und es war windig – erklärte sie. – Was noch? – Lass mich nur kurz Petra eine Nachricht schicken – murmelte sie nervös. Sie wartete das Signal ab, dass die Nachricht übermittelt sei, und wandte sich dann mir zu – Ich verstehe nicht. Was hast du gefragt? – Was hat er noch gesagt? – Dass ich zu ihm kommen soll. – Und du? – Ich habe gesagt, dass ich nicht kann – sagte sie und legte das Handy in den Schoß. – Hat er gefragt warum? – Er hat nicht nachgefragt. Wir haben uns fünfzehn Jahre nicht gesehen, und vermutlich hat er selbst nicht erwartet, dass ich kommen würde. – Aber trotzdem hat er angerufen. – Da ist sie – sagte sie und las die Nachricht auf dem Handy, die sie gerade bekommen hatte. 30.4.2011. 17:53:09 RELA TIONS Dass sie abwesend war und nicht mit mir darüber reden wollte, konnte mich nicht aufhalten. Nicht in einer solchen Situation. Kurz zuvor hatte ich noch in seinem Wartezimmer gesessen und darauf gewartet, dass er herauskommen sollte, ich wollte sehen, wie dieser Doktor aussah, zu dem sie vor vielen Jahren gekrochen war, so dass er noch heute glaubte, es würde genügen, den Hörer abzuheben und sie anzurufen. Ich saß dort und ließ das Revue passieren, was sie mir erzählt und was ich in ihrem Tagebuch gelesen hatte. Wie eines Sonntags das Telefon klingelt, nachmittags, 1985 oder 1986, und wie die kleine Studentin vor den erschrockenen Eltern vom Tisch aufspringt, den Stuhl umwirft und, nachdem sie den Hörer aufgelegt hat, zu ihm rennt, wie sie wütend ist, dass die Straßenbahn nicht kommt, wie sie den Berg zum Krankenhaus hinaufgeht, und wie sie zittert, wie sie im Wartezimmer auf ihn wartet, wie er sie die Treppe hinaufführt, zu seinem Zimmer im Dachgeschoss. Wie er dort, in den Sessel gefläzt, verlangt, dass sie den Rock hebt und sie ihm zeigt ... Während ich auf den Straßenbahngleisen die stehende Kolonne überholte, mir durchaus bewusst, was ich da tat, schwirrte mir ein Haufen Fragen durch den Kopf, die ich ihr stellen wollte. – Hat er anders geklungen als früher, als er dich angerufen hat? – Nein, er hat alles genauso ablaufen lassen, wie er es immer gemacht hat. Nach ein paar Sätzen sagte er – Morgen habe ich Dienst, komm zu mir, wenn es dunkel wird. – Jedenfalls ziemlich selbstbewusst. – Er war immer so. Und er wusste, dass mir das gefällt. – Und etwas anderes hat er nicht gesagt? – Als ich ihm sagte, dass ich nicht kann, dass ich zu viel zu tun habe, sagte er, er werde mich in zehn Tagen wieder anrufen, dass ich dann Relation 1_2011.indd 211 Prosa vielleicht mehr Zeit habe. Das war alles. Mir gefiel gar nicht, was ich da hörte, und so fragte ich ein wenig böse: – Aber was ist das für eine Antwort, dass du nicht kommen kannst, weil du zu viel zu tun hast? Warum hast du ihm nicht gesagt, dass du nicht kommen kannst, weil du verliebt bist? – Und warum soll ich ihm etwas beichten? – Warum hast du dann nicht gesagt, dass du nicht kommst, weil du es nicht möchtest? – Das ist mir eben zuerst eingefallen. – Das ist dir nicht eingefallen – ächzte ich wütend – sondern du wolltest absichtlich nicht alle Türen zuschlagen, du wolltest die Möglichkeit offen lassen, doch zu ihm zu gehen. Du hast ihn überhaupt nicht abgewiesen! Du hast nur gesagt, dass du heute nicht kannst. – Bist du noch normal! Der Mensch ist über sechzig! – Aber offensichtlich glaubt er, dass er noch immer gut fickt! – Goran, ich werde nicht zu ihm gehen, was ist mit dir! Hätte ich es gewollt, hätte ich dir nicht gesagt, dass er angerufen hat, oder? Aber ich möchte, dass du alles weißt. Ich verheimliche nichts vor dir, und mich interessiert nichts außer dir. – Aber dann hättest du ihm sagen müssen, dass er dich nicht mehr anrufen soll. – Aber warum soll ich ihn verletzen? Es genügt, dass ich nicht zu ihm gehe. – Ach komm. Du hast nie so mit einem Schluss gemacht, dass du ihn für alle Zeiten abgehängt hättest. – Nein, gerade umgekehrt, ich bin nie zu meinen Verflossenen zurückgekehrt. Aber warum sollte ich mich von ihnen im Streit trennen, wenn ich es leicht bewerkstelligen konnte, dass es einfach vorbei war. Ich habe mich auf ihre Anrufe hin einfach nicht mehr gemeldet, bis sie begriffen hatten, dass es keinen Sinn hat, wenn 211 sie mich weiter anrufen. Oder ich habe mich gemeldet und einen Grund erfunden, aus dem ich mich mit ihnen nicht treffen kann. So werde ich es auch dieses Mal machen, sollte er mich wieder anrufen. – Du bist unglaublich, bei dir weiß man nie, woran man ist. Immer schlüpfst du einem durch die Finger – sagte ich, nahm ihre Hand und setzte dann müde hinzu: – Und wann werden endlich diese Anrufe aus deinen ehemaligen Leben aufhören? Sie sagte nichts, sie hob nur meine Hand und führte sie an ihren Mund. Danach schwiegen wir lange. Die ganze Horvaćanska hinunter fuhren wir in der Stille, aber wir wussten beide, dass es noch nicht zu Ende war. Wir waren schon unmittelbar am Jarun, als der Wurm, der in mir bohrte, wieder seinen Kopf hervorstreckte. – Ich habe ihn dort gesehen und konnte nicht glauben, dass der Alte der Mann ist, in den du verliebt warst, zu dem du zwei Jahre gelaufen bist, sobald er dich anrief. Der in seiner Praxis auf dich gewichst hat. Der dich gelehrt hat, das zu mögen. Über den du in deinem Tagebuch geschrieben hast. – Ich habe dir gesagt, dass er mich erregt hat, aber ich war nie in ihn verliebt. Er war gebildet, ein Primar, Professor an der medizinischen Fakultät, aber zugleich war er roh, direkt, primitiv ... er hat nie viel Umstände gemacht. Er konnte sich nicht kontrollieren, ja, das hat mich erregt. – Wenn einer kein Schwein ist, gehe ich immer mit einem unguten Gefühl zu einem Termin. Ich frage mich immer, wie werden wir da Liebe machen – deklamierte ich. – Wovon redest du? – fragte sie. – Das steht in deinem Tagebuch. Und ich habe es mir gut gemerkt ... Und da steht, dass du verrückt nach ihm warst. Und das hat er nicht vergessen. Du warst so willig und bereit, allen seinen Wünschen zu willfahren, 30.4.2011. 17:53:09 212 dass er noch immer glaubt, er könne dich anrufen, wann immer er will, und dass diese fünfzehn Jahre nichts geändert haben. – Jetzt übertreib’ nicht! Ich war es, die ihn verlassen hat. – Nein, du hast es, so wie immer, offen gelassen. Bis heute. Außerdem, wie oft hast du mir im Bett erzählt, wie du deine Wange an seine Hose gelehnt hast, das erste Mal, als du ihn gesehen hast. Dieses Bild erregt dich noch immer. – Wenn du aber doch verlangt hast, dass ich es dir erzähle. Das macht dich an, und ich wollte dich zufrieden stellen, wie immer. – Ich verlange nicht, dass du mir das deshalb erzählst, weil es mich anmacht, sondern deshalb, weil es die einzige Möglichkeit ist, deine Geheimnisse zu erfahren. Diese Situationen, in denen deine Stimme tiefer wird und die Augen feucht, die Vorgehensweisen dieser Leute, alles das erregt dich noch heute, und in diesem Zustand bist du bereit auch das zu sagen, was du sonst nie sagen würdest. Darum geht es. Natürlich fällt es mir schwer zu hören, zu was allem du für diese Männer bereit warst, aber das ist die einzige Möglichkeit, mir dein Leben einzuverleiben ... Mir fällt es schwer zu akzeptieren, dass es eine Zeit gegeben hat, in der du nicht mit mir zusammen warst. Oder dass ich hinter dir gesessen habe bei einer Promotion und deinen freien Rücken gesehen habe, während du, ohne meine Existenz zur Kenntnis zu nehmen, mit einem Typen kokettiert hast ... Ich versuche das wettzumachen. Während ich redete, piepste wieder ihr Handy, aber sie sah so lange nicht auf das Display, bis ich fertig war. – Aha, du opferst dich im Bett, um etwas über mich zu erfahren. Also wirklich, – sagte sie schließlich und schob das Handy in die Tasche zurück – als ob ich nicht spüren würde, wie du auf diese Geschichten reagierst. Relation 1_2011.indd 212 RELA Drago Glamuzina: Drei – Wie oft haben wir uns beim Sex gestritten, weil ich dich gefragt habe, wie viele Monate du mit einem Typen zusammen warst, ob dein Mann davon erfahren hat, warum ihr Schluss gemacht habt. Glaubst du etwa, dass mich das anmacht? – fragte ich und sagte dann, ohne auf ihre Antwort zu warten: – Nein, das war die einzige Möglichkeit herauszufinden, zu was du fähig bist. – Okay, vielleicht hat es auch das gegeben, aber ich habe dir oft etwas vorgelogen, manches habe ich dir nur deshalb erzählt, weil ich gesehen habe, dass dich das anmacht. – Und dann hast du mir nach sechs Monaten dieselbe Geschichte noch einmal erzählt, mit allen Details. Ich zweifle, dass du dich an manche dieser Lügen so gut erinnert hättest. – Ja, weißt du denn, wie aggressiv und hartnäckig du bist, bei einigen Leuten hast du mich direkt gezwungen zu sagen, dass ich mit ihnen zusammen gewesen bin, obwohl sie mich nie angefasst haben, und jetzt willst du mir einreden, dass du das deshalb getan hast, weil du mich liebst. Ich antwortete nicht. Ich war ans Ende der schmalen asphaltierten Straße gekommen und suchte nach einer geeigneten Zufahrt zum Jaruner Wäldchen, aber überall ringsum war Matsch. Langsam kämpfte ich mich durch den Schlamm, der am Auto hochspritzte, suchte eine verdeckte Bucht, in der ich parken konnte. – Wollen wir wieder unter diesem Baum? – Hier ist es dreckig, sieh nur den Haufen Taschentücher und Kondome. – Ja, aber dort hinten wird der Matsch immer tiefer. Ich habe Angst, dass ich stecken bleibe und dass ich wieder jemanden aus dem Auto holen muss, damit er mich rausschiebt. – Du würdest das nie tun. Die Schuhe anziehen und aus dem Auto steigen, um einem Menschen, den du nie zuvor gesehen hast zu helfen, dass er TIONS rechtzeitig nach Hause kommt, zu seiner Frau. – Als ich bei ihm an die Scheibe klopfte, hatte ich Angst, dass er mich anfällt. Aber es gibt auch gute Menschen, nicht alle sind Schweine – sagte ich und setzte sogleich nach: – Von einigen von diesen Schweinen wolltest du mir es deshalb nicht zugeben, weil ich sie kenne und weil du dachtest, es würde mir weh tun. – Und dann wärest du noch hartnäckiger gewesen. – Deshalb weil ich gefühlt hätte, dass du mir etwas verheimlichst. – Aber du kannst nicht verlangen, dass ich dir etwas erzähle, und mich dann deswegen angreifen – argumentierte sie nervös, während sie sich aus dem Mantel zu schälen versuchte. – Das habe ich zu Anfang getan, aber das tue ich schon lange nicht mehr – sagte ich, während ich an der Klimaanlage herumfummelte. – Das heißt, dass du nicht mehr daran interessiert bist – fragte sie und stieg, ohne auf die Antwort zu warten, aus dem Auto, um auf den Rücksitz zu wechseln. – Nein, sondern dass ich mich allmählich daran gewöhnt habe – rief ich, damit sie mich draußen hörte, und fügte dann hinzu. – Hier gibt es wenigstens Gras, so dass du aus dem Auto steigen kannst. – Es gefällt mir nicht – sagte sie und kam wieder herein. Als ich mich aus dem Auto gewunden hatte, spähte ich um mich, um zu sehen, ob wir allein wären, und setzte mich dann neben sie. Das Höschen hatte sie schon ausgezogen. Sie warf es aus einer Hand in die andere, als wüsste sie nicht, was damit tun, bis ich es nahm, daran roch und es dann in die Tasche der Rückenlehne stopfte. Die Bluse hatte sie aufgeknöpft, aber nicht ausgezogen. Damit wir nicht völlig nackt waren, wenn jemand kommen sollte. Als ich mich zwischen ihre Beine hinunterließ, sagte ich mir – „Stell dieses Mal kei- 30.4.2011. 17:53:09 RELA TIONS ne Fragen“, aber sobald ich ihre Haut an meiner spürte und ihre Zunge in meinem Mund, verlangte ich, dass sie mir erneut erzählte, was geschehen war, als sie das erste Mal zu diesem Doktor kam. – Ich habe es dir doch gesagt. Ich musste zu einer Operation, meine Eltern kannten ihn und brachten mich zu ihm, und er brachte mich zu seinem Kollegen, der mich operieren sollte. – Und? – Was und? – Erzähl. – Und während ich vor diesem Kollegen saß und auf seine Fragen antwortete, stand er hinter mir. – Und? – Und ich spürte, dass er sehr nahe stand. – Wie nahe? – Gleich neben meinem Kopf. Ich spürte, dass er ihn direkt neben meinem Scheitel hatte, dass er mich fast berührte. Vielleicht hat er mich auch berührt, ich weiß es nicht. – Und? – Und ich drehte den Kopf ein wenig zur Seite, zu ihm, als wollte ich ihn etwas fragen ... Ein paar Augenblicke schwiegen wir, so als würden wir warten, wer als erster etwas sagen würde, und dann sagte sie: – Und da legte ich meine Wange an seinen Schwanz. – Vor dem anderen Doktor? – Ja. – Hat es dieser andere Doktor bemerkt? – Er konnte sich gar nicht wieder einkriegen vor Verblüffung. – Hat es dich erregt? Sie schwieg. – Dass er sich nicht zurückhalten konnte, dass er ihn an dich gedrückt hat vor diesem Typen. – Ja. Es hat mich erregt, dass er so schamlos war. – Und wann hat er dich gevögelt? Wenn uns in diesem Moment je- Relation 1_2011.indd 213 Prosa mand gesehen hätte, hätte er überhaupt nicht bemerkt, dass wir am Ficken waren. Ich bewegte mich kaum in ihr. Und das nur, wenn ich meine Frage stellte, danach verhielt ich und wartete auf die Antwort. Das war meine kleine Erpressung, ich rührte mich nicht, bevor sie nicht geantwortet hatte. – Und wann hat er dich gevögelt? – wiederholte ich meine Frage und zog mich aus ihr zurück. – Den ersten Tag, als sie mich im Krankenhaus aufgenommen hatten. Er kam am Nachmittag in mein Zimmer. Und führte mich in seines. – Und nach der Operation. – Schon nach ein paar Tagen kam er mich holen. – Aber du konntest nicht vögeln. – Nein, aber ich konnte andere Sachen machen. – Okay, nicht weiter. – Okay, dann nicht. Zwanzig Minuten später saßen wir auf dem Rücksitz, nackt und müde. Von allem, was an diesem Tag geschehen war. Sie zündete sich eine Zigarette an, zog den Rauch ein und gab sie mir. – Eigentlich ist mir nicht klar, wie dir das alles gelungen ist – fragte ich und blies den Rauch zum Fensterspalt hin. – Was? – Immer gleichzeitig mit mehreren zusammen zu sein. – Leicht. Nur an einem war mir wirklich gelegen. – Aber warum bist du dann mit den anderen zusammen gewesen? Sie schwieg und zog sich den Rock an, dann die Stiefel, und antwortete erst, als sie den Reißverschluss hochgezogen hatte. – Deshalb, weil ich schwach war, weil ich Angst hatte, dass sie mich verlassen oder betrügen. Dann lachte sie: – Mit den anderen war ich präventiv zusammen. So ha- 213 be ich diese Anspannung in mir verringert, diese große Angst, die mich immer total gepackt hat. – Präventiv? – Ja. – Und mit wem bist du jetzt präventiv? – Mit niemandem. Das mache ich nicht mehr. Ich bin es müde. Ich liebe dich und bin dir mehr als irgendwem sonst ergeben, du Verrückter – sagte sie und küsste mich ungeduldig auf die Schulter. – Was wartest du, zieh dich an. Sie war schon angezogen, ich hingegen saß noch immer nackt da. Ich wollte nirgends hin. Ich wollte mit ihr reden in diesem warmen, mit unserem Schweiß und unserem Schleim getränkten Auto. Es gab noch so Vieles, was ich wissen wollte. – Und du erwartest, dass ich das glaube? – Ich denke, du siehst, wie ergeben ich dir bin. – Aber gerade hast du mir gesagt, dass du die Menschen um so mehr betrogen hast, je mehr du sie geliebt hast. – Präventiv – lachte sie wieder. – Aber jetzt behauptest du mir gegenüber etwas anderes? – Mit dir ist es anders. – Wie? Aber in diesem Moment läutete ihr Handy. Ihre Tochter war aus der Schule gekommen und rief an um zu fragen, wo sie sei. – Mama kommt gleich, mein Lieb – sagte sie. Als sie das Handy sinken ließ, sah sie mich flehend an. – Beeil dich bitte. Ich brachte sie nach Hause, anschließend fuhr ich den Wagen in eine Waschanlage. Um den Matsch und die Spuren abzuwaschen. Aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof 30.4.2011. 17:53:09 RELA TIONS Foto: © Višnja Arambašić 214 Relation 1_2011.indd 214 30.4.2011. 17:53:09 RELA TIONS Was ist in Wirklichkeit „wirklichkeitsbezogene“ Poesie? Damir Šodan In literary criticism we are constantly using terms, which we cannot define, and defining other things by them. We are constantly using terms which have intension and an extension which do not quite fit: theoretically they ought to be made to fit; but if they cannot, then some other way must be found of dealing with them so that we may know at every moment what we mean. T. S. Eliot, „Experiment in Criticism“ (1929)1 J edem, der die kroatische Literaturszene seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis heute kennt und verfolgt, ist wohlbekannt, dass man um die Jahrtausendwende anfing, der Begriff „wirklichkeitsbezogen“ als universellen Nenner für gewisse realistische, mimetische sogar existenzialistische „Abweichungen“ in der kroatischen Prosa und Poesie zu benutzen. Der Begriff „wirklichkeitsbezogen“ selbst wird, wie Zvonimir Mrkonjić in seiner letzten Anthologie Zeitgenössische kroatische Dichtkunst – neue Texte (1970 – 2010) („Suvremeno hrvatsko pjesništvo – novi tekstovi [1970 – 2010]“) angibt, 1 2 Robert Perišić zugeschrieben, Schriftsteller und Kritiker, der ihn nach eigenen Angaben erstmals benutzte, als er über das Gedichtband von Tatjana Gromača, Stimmt was nicht? („Nešto nije u redu?“, 2000)2 schrieb. Perišić selbst sagt, dass er den Begriff eher als thematische Richtlinie oder Bestimmung einer „Einstellung“ gewählt hat, und nicht als einen ultimativen Gattungsstempel eines Genres im Entstehen. Jedoch, wie es nun mal mit Begriffen so ist, übertrug sich die Attribution „wirklichkeitsbezogen“ sehr schnell in das Prosalager, wo sie sofort in der Bestimmung ähnliche, wenn schon nicht gleichartige Wurzeln schlug, da sie mehr oder weniger präzise einige neuere Neigungen in der so genannten kroatischen jungen Prosa widerspiegelte, die anfing, sich immer intensiver von der ehemals sehr populären Metafiktion zu entfernen und sich etwas näherte, was man am ehesten „Neorealismus“ taufen könnte. Man muss Neorealismus sagen, denn die kroatische Literatur hat, diachronisch gesehen, schon vor langer Zeit die Phase des historischen Realismus hinter sich gelassen, und zwar gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Deshalb stellen, gelinde gesagt, diese neuen, im realistischen Schlüssel geschriebenen Milleniumspoetiken – sowohl die prosischen als auch die poetischen – eigentlich die zweite Ankunft des Realismus (wenn nicht sogar die „dritte“ oder „vierte“, wenn wir die soziale Literatur zwischen den Weltkriegen und den nachkrieglichen agitpropagandistischen Sozrealismus mitrechnen) auf die kroatische Literaturszene dar. Es ist interessant, dass die Anforderungen der „wirklichkeitsbezogenen“ Prosaisten vom Ende des 20. Jahrhundert sogar in gewissem Maße mit denen der Realisten vom Ende des 19. übereinstimmen: Soziale Thematik, die Wahl des Schreibstoffes aus dem modernen Leben, sowie das Beobachten der unmittelbaren Wirklichkeit werden favorisiert. Die Realisten dieses letzten Fin-de-siècles suchten zu einem großen Teil ihr Vorbild in Raymond Carver (1938 – 1988), dem „amerikanischen Čechov“, Erzähler und Dichter, Minimalisten und hervorragendem Stilisten, aber auch Alkoholiker mit Arbeiterbackground und chaotischem Privatleben. Die Frage, wie sich die „In der Literaturkritik bedienen wir uns ununterbrochen mit Begriffen, die wir nicht definieren können und mit deren Hilfe wir andere Dinge definieren. Wir benutzen ununterbrochen Begriffe, deren Absicht und Umfang nicht gerade passend sind: theoretisch müsste man sie passend machen, aber wenn dies nicht zu erreichen ist, dann muss ein anderer Weg gefunden werden, damit wir uns mit ihnen befassen, damit wir in jedem Augenblick wissen, an was wir denken.“ T. S. Eliot, Experiment in der Kritik, (1929) Tatjana Gromača, Stimmt was nicht?, Edition Thanhäuser, 2003, dt. Übersetzung Klaus Detlef Olof (Anm. d. Übersetzerin) Relation 1_2011.indd 215 30.4.2011. 17:53:09 216 Schriftsteller der kroatischen jungen Prosa der Neunziger in Carvers deklassiertem Proletariat aus dem unzugänglichen amerikanischen Norden, in der winzigen Intelligenz, die zu Sentimentalismus, dem Gläschen und Selbstzerstörung neigt, den heruntergekommenen Akademikern und wahnsinnigen Schornsteinfegern, all diesen lieben, akuten Losern und verstoßenen Kindern des amerikanischen Traums wiedererkannt haben, wird die einheimische Literaturwissenschaft mit der Zeit kompetent, wollen wir mal hoffen, beantworten. Das, was hier wichtig ist, ist die Tatsache, dass dank der realistischen Galvanisierung zwischen den damaligen jungen einheimischen Schreibern der Begriff „wirklichkeitsbezogene Prosa“ sehr schnell das literarische Bürgerrecht erhalten hat, sogar etwas früher in den literarischen Umlauf gelangte als das schwesterliche Syntagma „wirklichkeitsbezogene Poesie“, das, wie die Akteure der Szene behaupten, ihm wahrscheinlich „historisch“ voranging. Man muss betonen, dass Raymond Carver zweifelsohne auch als Dichter die einheimische „wirklichkeitsbezogene“ Poesie beeinflusst hat, beziehungsweise wenigstens ihren harten Kern, den Autoren wie Drago Glamuzina, Tomica Bajsić, Tatjana Gromača, Krešimir Pintarić oder Bojan Radašinović bilden, da in den Neunzigern zwei integrale Gedichtbände von Carver in der Übersetzung zugänglich wurden, was ein Kuriosum an sich ist, denn bei uns, es sei denn es handelt sich um eine wirklich außergewöhnliche Gelegenheit, werden keine gesammelten Gedichtbände übersetzt veröffentlicht, sondern meist eine Auswahl. Dieses plötzliche literarische Interesse an der „Wirklichkeit“ hat wahrscheinlich ihren Grund vor allem in irgendwelchen außersprachlichen 3 RELA Damir Šodan Begebenheiten historischen Charakters, wie das zu Fall bringen des alten politischen Rahmens, die soziale Zersetzung der Gesellschaft, sowie der Krieg als, gelinde gesagt, radikal negative kollektive Erfahrung. Gegenüber einer solchen Hypertrophie der grausamen und drohenden sozialen Wirklichkeit konnte, so scheint es, die Literatur keineswegs gleichgültig bleiben. Es handelt sich in erster Linie um eine Art existenzialistischen „Reflex“, der „spontan“ seinen Weg in die Schrift gefunden hat und erst danach um einen mehr oder weniger bewussten kollektiven Widerstand gegenüber den gebräuchlichen künstlerischen Praktiken und Trends. Denn es war, als ob die Literatur plötzlich eine Art Wirklichkeitsepiphanie erlebte, wonach sie das Gesehene – das eine bis zu jenem Maße erschütternde, wenn nicht gar traumatische, Spur hinterlassen hatte, dass es zur Genesung mit allen zur Verfügung stehenden kreativen Mitteln zu antworten gab – nicht mehr ignorieren konnte. Die schwierige Kriegsthematik eröffnet am authentischsten Tomica Bajsić im Buch Kreuz des Südens („Južni križ“, 1998), er rechnet aber ausschließlich mit der eigenen Lebenserfahrung ab, beziehungsweise vermittelt sie künstlerisch und schreibt nicht schreckliche und „spektakuläre“ Figuren des „Wirklichen“ in den Text oder gar leere und pathetische patriotische Beschwörungen ab. Man muss jedoch unterstreichen, dass die Kriegsrealität keineswegs der einzige Inhalt dieses außergewöhnlichten und geradezu betörenden Buches ist. Denn Bajsić ist kein „Kriegsdichter“, wie das manche ad nauseam gerne betonen, sondern einfach ein „Dichter, der im Krieg war“. Seine Poesie bewohnen nämlich gleich effizient Abenteuergeist, die Exotik ferner Länder, Vignetten aus dem alltägli- TIONS chen und familiären Leben, der sozial-politische Kommentar oder aber der romantische Glaube an die sühnende Macht der Kunst. Des weiteren sind da ganze Trauben naturalistischer, durch den Krieg inspirierter oder erlebter Verse in den Bänden von Tomislav Čadež, ebenso wie das „im Charakter“ geschriebene Buch von Boris Dežulović Gedichte aus Lora („Pjesme iz Lore“, 2005)3, das mit einem aggressiven in-yer-face Emulieren von Diktion und Aktion der „bösen Jungs aus der Nachbarschaft“ als Nebeneffekt das Untergraben der kleinbürgerlichen Poesier lebnistästhetik als Domizil des nicht in Frage gestellten Feinsinnes hat. Čadežs und Dežulovićs „wirklichkeitsbezogene“ Verse tauchen zwar etwas später auf, mit einem gewissen zeitlichen Abstand zu den traumatischen Geschehnissen, was teilweise ihre Rezeption erleichtert, aber keineswegs ihre Aktualität oder ihren expressiven Wert mindert. In diesem Kontext ist als Übergangsgeste ebenso die kräftige und überaus beeindruckende Sammlung von Delimir Rešicki Buch über Engel („Knjiga o anđelima“, 1997) wichtig, die, obwohl sie nach einem ungefähren neoexpressionistischen Modell geschrieben wurde, direkt den Kern des kroatischen Kriegs- und Nachkriegstraumas apostrophiert. In den „Engeln“ kann der Wissenschaftler Tvrtko Vuković im Geiste von Lacan „die Metapher aller annonymen Opfer, der Heimatlosen, der ungeordneten Schicksale, der verlorenen Angehörigen usw.“ herauslesen. Von diesem Buch an wird Rešicki immer häufiger eine empathische und engagierte Haltung einnehmen, wird dies jedoch immer auf eine subtile, nicht-pamphletistische und künstlerisch glaubwürdige Art tun. Neben der Kriegsthematik Ende der Neunziger, genauer gesagt um die Boris Dežulović, Gedichte aus Lora, Drava Verlag, 2008, dt. Übersetzung Klaus Detlef Olof (Anm. d. Übersetzerin) Relation 1_2011.indd 216 30.4.2011. 17:53:09 RELA TIONS Jahrtausendwende, taucht auch die sozial-existenzielle Lyrik auf, am besten verkörpert in dem oben erwähnten Band von Tatjana Gromača Stimmt was nicht?. Nach mehr oder weniger überzeugenden bezeichnerischen Exhibitionen der Off-Leute und der Quorum’schen post-modernistischen Dezentrierung des dichterischen Subjekts im permanenten (Selbst-)Ausbau, gelang es Tatjana Gromača das lyrische Subjekt – diesen „zerteilten Orpheus“, wie der Theoretiker Ihab Hassan sagen würde – zu reintegrieren und es dem „Cogito“ des Autors zu nähern, wenn schon nicht seinem so genannten bürgerlichen Ich, und es als abgerundete Einheit bar aller konstitueller Risse anzubieten. Gromača belebt gleichermaßen auch den Glauben an die sprachliche Representation wieder und zeigt ganz klar, dass Poesie auch als lesbarer Ort des Erkennens funktionieren kann und nicht ausschließlich als Raum eines hybriden verslichen Intellektualisierns oder gar „vitalistischen“ textuellen Possenreißertums. Radikale Ausfälle in den Raum des Privaten, das Zuschaustellen der Intime als „Extime“, sowie das Forcieren des emotional-libidalen Dramas durch ewig intrigante Szenen aus dem Eheleben erleben ihr Crescendo im ausgezeichneten und preisgekrönten Buch von Drago Glamuzina, Die Metzger („Mesari“, 2001)4. Es ist jedoch interessant, dass dieser Autor in seiner „wirklichkeitsbezogenen“ Orientierung nicht nur ein Muster verfolgt, sondern seine – wie er selbst sagt – „Aufzeichnungen“ des Alltäglichen, wo unter anderem die blinden Mächte von Eros und Thanatos herrschen, zusätzlich mit der Anlehnung an analoge Beispiele aus der Literatur und der Medienkultur durchschichtet, so dass man ruhig sagen kann, dass Intertextualität und Intermedialität Reservesubstrate sei4 Poesie ner dichterischen Strategie sind, was letztendlich so eine Schreibweise von der trockenen darstellerischen Flächigkeit freispricht. Die Neunziger haben in der Poesie auf formaler Ebene eigentlich den kleinen Tod der Metapher herbeigeführt, im Auge behaltend, dass Dichter sich immer mehr auf die Metonymie verlassen, die nach Jakobsons Dichotomie als Baufigur eigentlich für die Prosa reserviert ist, weil sie sich nach der Nachbarschaftlichkeit richtet und nicht wie die Metapher nach der Ähnlichkeit. Es ist dann nicht ungewöhnlich, dass die Narrativität auf „natürliche“ Weise der effizienteste Part der Realisierung des neuen dichterischen Kurses wird, was vielleicht am sichtbarsten in der urbanen Lyrik des Krešimir Pintarić oder Bojan Radašinović ist, wobei auch reifere Autoren der disparateren Poetik wie zum Beispiel Jozefina Dautbegović oder Mile Stojić nicht weit von ihnen entfernt sind. Außerdem sind viele „wirklichkeitsbezogene“ Dichter, die in diese Auswahl aufgenommen wurden (Jergović, Bukovac, Čadež, Dežulović, Lucić, Glamuzina, Prtenjača, Bodrožić, Štiks...) ebenfalls auch Prosaschriftsteller oder Journalisten, so dass der lyrische Diskurs nicht der einzige ist, innerhalb dessen sie es gewohnt sind zu operieren. Den Moment des „wirklichkeitsbezogenen“ Schismas oder die symbolische Registrierung und das Erscheinen in der Öffentlichkeit der „wirklichkeitsbezogenen“ Literatur als neues Phänomen, d. h. ihre Veräußerlichung, wie die Philosophen sagen würden, ja, auch ihre Medientaufe, stellt auf alle Fälle die Entstehung des Festivals der alternativen Literatur (Festival alternativne književnosti – FAK) dar, das im Jahr 2000 Borivoj Radaković ersann und realisierte und zu dem sich alsbald viele andere gesellten. Das FAK hat kurz gesagt 217 die Literatur demokratisiert und den Markt mobilisiert, indem es das Buch als eine relativ einträgliche Ware mitmodifizierte. Für die Poesie bedeutete dies das symbolische Auseinandergehen mit den so genannten Bezeichnungspraktiken, die ein intellektuelles aber auch wirkendes Erbe des (Post-)Strukturalismus waren, sowie den Anfang der Umkehr zum Metonymischen und Mimetischen, die Symptome des erneuerten Glaubens an die soliden repräsentatorischen Möglichkeiten der Sprache sind. Was keineswegs verwunderlich ist, wenn schon nicht aus anderen dann aus praktischen Gründen, denn das eventuelle Lesen einer Poesie der so genannten sprachlichen Erfahrung in vivo ist weder eine einfache noch eine dankbare Aufgabe. Als er die erreichten und die „verfehlten“ Ziele der Dichtergeneration der Neunziger ganz allgemein kommentierte, behauptete der Dichter und Kritiker der Generation um das Quorum Krešimir Bagić in seinem Text Die dichterische Generation der Neunziger („Pjesnički naraštaj devedesetih“), dass die Neunziger nicht so richtig der Poesie geneigt waren, da deren erste Hälfte durch den Krieg gekennzeichnet war und die zweite durch die Wirtschaftskrise, sowie dass alte Wertesysteme eingestürzt und neue noch nicht geformt waren. Er führt an, dass die Gedichtbände in den Neunzigern „wichtige Erfahrungen der kroatischen Dichtkunst in den letzten paar Jahrzehnten kritisch beleuchtet haben und dass sie die narzisstische Vereinsamung des Subjekts, das stilisierte ‚Abschreiben‘ alltäglicher Szenen, die intertextuelle und intermediale Gestualität, die Genremimikry, die Fragmentalität und die Kolloquisierung des lyrischen Idioms als Ausgangspunkt neuer dichterischer Praktiken in den Vordergrund gedrängt haben“, wobei Drago Glamuzina, Die Metzger, Wieser Verlag, 2008, dt. Übersetzung Christine Okresek (Anm. d. Übersetzerin) Relation 1_2011.indd 217 30.4.2011. 17:53:10 218 die postmoderne „Gleichgültigkeit“ stärker war als die wirklichkeitsbezogene Apokalypse. Einige der Charakteristiken der „wirklichkeitsbezogenen“ Poesie sind nach Bagić „die verführerische Narrativität, die Geistreichigkeit der Thematisierung und die ausgesprochene Kommunikativität des Textes“. Bagićs fachliche Bemerkungen über die Generation der Neunziger sind im Ganzen gesehen auf alle Fälle maßgebend, wenn wir diese Poesie als einen Durchschnitt, ein kollektives Unterfangen ansehen, aber wenn wir einen Teil der Poesie der Neunziger aus dieser zeitlichen Distanz in ihren hochwertigsten und künstlerisch kraftvollsten interpretatorischen Teilen und Leistungen betrachten – deren ihrer vielleicht nicht übermäßig viele sind, aber es gibt sie – und wenn wir den Fokus nur ein wenig zu den Milleniumsjahren lenken, dann kann man auch völlig andere Schlussfolgerungen ziehen. Denn es ist zweifelhaft, inwiefern es in der Poesie von Tomica Bajsić, Drago Glamuzina oder Tatjana Gromača „verführerische Narrativität“, „Geistreichigkeit“ oder „Gleichgültigkeit“ gibt, da in ihrer „wirklichkeitsbezogenen“ Planierung von Textes und Welt, d. h. im Schreiben von Versen ohne den bequemen Schutzschirm der Theorie und dem Verzicht auf das so genannte dezentrierte lyrische Subjekt, das am ununterbrochenen Aufschieben der eigenen Eingliederung ein Parasitendasein fristet, wir letzten Endes sogar etwas vom „bitteren Erfahrungssatz“ des Danilo Kiš oder aber – insbesondere bei Bajsić – starke Schichten einer Merton’schen gelebten Spiritualität erkennen können. Es ist eigentlich schwierig, nicht zu bemerken, dass ein Teil unserer hochgeschätzten Wissenschaftler und kompetenten Kritiker die „wirklichkeitsbezogene“ Poesie gewissermaßen „Platon(i)sch“ ablehnt als eine „abschreibende“ Kunst und womöglich „nie- Relation 1_2011.indd 218 RELA Damir Šodan dere“ Gattung, beziehungsweise eine gewöhnliche Version jener anderen, wohl „wirklichen“ Poesie, die – im „Fachjargon“ ausgedrückt – elegant die repräsentatorischen Begrenzungen transzendiert. So analysiert Sanjin Sorel in seiner eigentlich gründlichen und tadellosen Studie über die Dichtkunst der Neunziger-Generation bis ins Detail die Poesie von Drago Glamuzina aus der Sammlung Die Metzger und bezeichnet sie als emblematisch für die „wirklichkeitsbezogenen“ Abweichungen in der zeitgenössischen kroatischen Poesie, lässt sie jedoch als „minderwertig“ aus der beigefügten Anthologieauswahl aus. Ebenso meint Ervin Jahić in seiner unlängst veröffentlichten Anthologie der kroatischen Dichtkunst, wenn er über den „Dichter der Neunziger“ schreibt, dass „die Diktatur der praktischen Wirklichkeit in Co-Habitation mit den massenmedialen und hochtechnologisierten Artefakten die Fantasie seiner Rede entscheidend bestimmt hat“, dabei hinzufügend, dass „in den Neunzigern so ein Mischmasch die Dominanz der so genannten wirklichkeitsbezogenen Poesie in der jungen/jüngeren kroatischen Dichtkunst zur Folge hatte, eine in ihrer Bezeichnung problematische, in ihren ästhetischen Leistungen schwächliche dichterische Strömung oder vielleicht eher Strategie und operatives Modell.“ Der Antagonismus, der sich bei uns zwischen der, bedingt gesagt, semiotischen modellativen Matrize, ja, auch der früheren gnoseologischen, wie sie Cvjetko Milanja evidentiert hat, und dieser zeitgenössischen „wirklichkeitsbezogenen“ oder metonymischen, wenn wir sie so nennen dürfen, ahnen lässt, ähnelt bis zu einem gewissen Grade dem Zweikampf, der in der (west)deutschen Poesie der frühen Siebziger stattfand, als die Dynamik der dortigen Dichterszene groß von der Teilung in Anhänger TIONS und Praktizierende der politisch parteinehmenden und sozial bewussten Neuen Subjektivität und Anhänger der weniger transparent eingestellten Hermetisten diktiert wurde. Ervin Jahić beleuchtete die Ursachen des Phänomens genannt „wirklichkeitsbezogene“ Dichtkunst und konstatiert weiter, dass der „Hyperrealismus in der jüngeren kroatischen Poesie der Neunziger [...] zweifelsohne [...] eine rebellische Antwort auf den Hypermetaphorismus der Achtziger war. Die Wirklichkeit im dichterischen Text der Neunziger ist sicherlich ein Aufstand gegen die Flucht vor ihr in der vorangehenden ‚Gesangsschule‘“. Diese Qualifizierung ist in jedem Fall richtig, denn wenn wir all das betrachten, was im Sinne von Strömung, Schule oder gar Lagerbildung um eine Zeitschrift der „wirklichkeitsbezogenen“ Poesie voranging, werden wir feststellen, dass die letztere eine gewisse Suche nach einem „neuen Weg“ ist, beziehungsweise das Ausprobieren eines Musters oder Modells, das vielleicht besser oder adäquater einem dichterischen Aktualisieren der „neuen“ Wirklichkeit, in der wir uns als Gesellschaft in einem bestimmten historischen Moment befanden, entsprechen würde. Und ungeachtet dessen, dass uns Michael Riffaterre schon in den Achtzigern darauf hinwies, dass der poetische Diskurs auf nichts Anderes hinweist als auf sich selbst, und trotz der Tatsache, dass uns die Postmodernisten und Dekonstruktionisten wie zum Beispiel Jean Baudrillard beziehungsweise Jacques Derrida ständig daran erinnerten, dass die „Wirklichkeit“ ein virtuelles Konstrukt ist (wenn nicht gar ein völliges Simulakrum) und dass nichts „Intertextuelles“ überhaupt existiert, griffen die „wirklichkeitsbezogenen“ Dichter, gleich wilden Surfern der Mimesis, trotzdem sehr entschlossen gerade nach der Wirklichkeit, die- 30.4.2011. 17:53:10 RELA TIONS sem groben Abdruck Platons, und suchten gerade darin Inhalte, die ihrem dichterischen Ausdruck und ihrer Sensibilität den angebrachtesten Ankerpunkt bieten würden. Rückblickend können wir feststellen, dass seit den siebziger Jahren, und dass vor allem in der Tradition der „Bezeichnungspraktiken“, die einstmals eine Gruppe von Autoren um die Zeitschrift Pitanja promovierte, der alte Reflex der Avantgarde wie ein Eidechsenschwanz weiterhin im Stillen wirkt, der jedoch in anderen Kulturen und Umfeldern gänzlich entfernt oder als längst konsumierte Ware neutralisiert wurde. Das Insistieren auf der herstellerischen Materialität der Sprache als einem Zeichen, das durch geduldiges und hartnäckiges kreatives Umschlichten andersartige und frischere Bedeutungen bringen könnte, findet einen seiner Anfänge noch in der russischen literarischen Avantgarde, deren einige Mitglieder glaubten, dass es möglich sei, eine autonome dichterische Sprache zu schaffen, mit eigenen Bedeutungen, die auf dem „klanglichen“ Symbolismus beruht.5 Das Bestehen auf der Autonomie der Dichtersprache können wir beispielsweise von da ab schön verfolgen, zwar auf etwas anderen Wegen und in anderen Ausführungen, bis hin zu den Arbeiten der Theoretikerin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva, nach deren poststrukturalistischen Untersuchungen gerade die Dichtersprache mit ihren Möglichkeiten der Semiotisierung einen Schutz vor den aufdringlichen und totalisierenden Kräften der symbolischen Ordnung bietet. Ein großer Verehrer des „russischen Ansatzes“ ist bei uns sicherlich der ingeniöse Dichter Josip Sever (1938 – 1989), der tiefe Spuren in der zeitgenössischen kroatischen Poesie hin5 Poesie terlassen hat, vor allem dank seiner charismatischen Persona, aber auch weil einige wichtige Schriftsteller Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger wenigstens in einer Phase ihres Schaffens seine leidenschaftlichen Jünger, wenn nicht gar unverhohlene Epigonen waren. Diachronisch gesehen haben die Poetiken und Modelle, die der Erscheinung der „wirklichkeitsbezogenen“ Poesie vorangegangen sind, mit allem gebührenden Respekt gegenüber ihrem tiefen philosophischen Durchdenken des Wesens und der Funktion der Poesie, letztendlich die Poesie in eine Art philosophischen „Ping Pong“ verwandelt, d. h. eine streng intellektuelle und selbstgefällige Disziplin, der allein der Gedanke an eine potentielle Annäherung an die „unschuldige“ außerfachliche Leserschaft ein irritierender Ballast darzustellen schien. Die Poetiken, die um die Zeitschrift Off strukturiert waren, infiziert mit radikalem Antimimetismus, der unausweichliche Semantkonkretismus des Branko Maleša (1949) mit seinem Insistieren auf dem verminderten Anteil des „Sinns“ im Konstruieren eines Textes, das Bestehen auf dem „Unterschied“ der verschiedengattigen dichterischen Praktiken der so genannten schwachen Subjekte, die um die Zeitschrift Quorum versammelt waren, die Ressurektion des poetischen Einfalls als Variante des Konkretismus (Mazur, Kvesić, Igrić), der sonettliche Neomanierismus (Maroević, Mrkonjić, Paljetak, Stamać), der persiflagenhafte Barockismus, der gelehrte Ludismus oder aber der neomodernistische Spiritualismus des Projekts Insulae, scheinen es trotz ihrer großen und unleugbaren Verdienste im Ausbau der Zikkurat der kroatischen dichterischen 219 Modernität nicht geschafft zu haben, die Poesie vom ununterbrochenen Stolpern über das Sprachgewebe als eigenes Ausdrucksmittel oder aber von der Neigung zur Theorie als allkontrollierende und legitimisierende Kraft zu „befreien“. Ununterbrochene „Distanzierungen“ gegenüber der unvermittelten Erzählung, exaltiertes Manierisieren, narzissoide Ziererei im Konstruieren des dichterischen Subjekts, das Schutzsuchen in der intensiven Kontrolle des „Über-Ichs“ der Theorie, ebenso wie die programmierte Flucht vor dem betonter überwiesenem „Sinn“ scheinen die kroatische Poesie mit der Zeit „klüger als sie selbst“ gemacht zu haben, wie ein Zeitgenosse sagen würde, so dass diese das Ende des 20. Jahrhunderts, aus einer Distanz von etwa zehn Jahren gesehen, im Zustand einer gewissen Erschöpfung, wenn nicht gar einer Art Burnout, erlebt hat. Eine der Neuheiten, die die „wirklichkeitsbezogene“ Poesie mit sich gebracht hat, beziehungsweise ihre metonymische modellative Matrize, ist letztendlich ein gewisser Hauch von Erleichterung im Sinne der Rezeptionszugänglichkeit der Lyrik, die auf den eventuellen Leser nicht mehr von ihren olympischen Höhen als einen gewöhnlichen „Gnom“ herabgesehen hat, sondern begann, ihm empathisch die Hand zu reichen wie einem gleichberechtigten Mitreisenden im – sagen wir mal – Abenteuer des Textes und des Lebens. Bezeichnend ist, dass viele wichtige, wenn nicht gar kanonische Autoren, während des letzten Jahrzehnts anfingen, ihr Schreiben dahingehend anzupassen, oder noch besser, einzurichten, dass sie es so schmerzlos und elegant wie möglich in das neu entstandene mimetische Modell ein- Die Dichter Krutschonych und Chlebnikow (Manifest Slovo kak tekovoe aus dem Jahr 1913) versuchen die phonetische Schicht der Sprache als neues Ausdrucksmittel und Bedeutungsträger zu autonomisieren, so schafft Krutschonych seine transmentale Sprache Zaum und Chlebnikow seine Sternensprache. Relation 1_2011.indd 219 30.4.2011. 17:53:10 220 gliedern können, denn sie fühlten intuitiv oder aber bewusst, dass doch etwas zu ändern sei. Es genügt nur, in die letzten Werke von Branko Čegec, Delimir Rešicki, Ervin Jahić, Evelina Rudan oder Miroslav Kirin hineinzublicken, um völlig klar zu bemerken, dass es trotz allem zu einem spürbaren Umschwung gekommen ist. Ist die Rede von der Definition der „wirklichkeitsbezogenen“ Poesie als solchen, dann ist es vielleicht am besten und opportunsten, die serbische Dichterin Radmila Lazić zu zitieren, die im Vorwort ihrer unlängst veröffentlichten Anthologie der serbischen urbanen Poesie behauptete, dass solche „Dichter nicht auf dem Medium Sprache bestehen, wie das die Dichter der ‚Poetik der Stille‘ tun, oder sprachliche Dichter. Ihr poetisches Feld ist die Existenz, die unmittel- oder mittelbare, abhängig von der Position, die das Subjekt in ihrer Poesie einnimmt. Ihre Poesie ist in großem Maße wirklichkeitsbezogen (Jeder gute Dichter war ein Realist, sagte Bodler), denn sie dichten über das Wirkliche und Mögliche, ohne Mystifikationen und Mystifizieren – letztendlich, ohne Mythologisieren, was uns zur Beobachtung von Olga Friedenberg bringt, dass das lyrische Gedicht eigentlich einen Wandel vom mythologischen zum realistischen Blick auf die Welt darstellt“. Außer den oben registrierten Charakteristiken gilt es an dieser Stelle auch das typische „wirklichkeitsbezügliche“ Entfernen von der Metapher zu erwähnen, diesem taktilsten und unbestreitbaren „G-Punkt“ der Dichtkunst, der schon seit Aristoteles der Garant der (dichterischen) Genies ist und der Hauptkonstituent der Dichtersprache, die M. H. Abrams zufolge notwendig metaphorisch ist, denn sie enthüllt mit ihren sprachlichen Figuren die Einheit hinter anscheinend unterschiedlichen Erscheinungen. Mit anderen Worten, Relation 1_2011.indd 220 RELA Damir Šodan die Metapher war schon immer das ein und alles des dichterischen Ausdrucks, oder wie es Milko Valent so schön zusammengefasst hat: „Ohne Metapher kannst du dir nicht einmal eine Zigarette anzünden.“ Aber die Dichter selbst haben sich die Geschichte hindurch gegen den übermäßigen Gebrauch dieser Figur aufgelehnt und sind für eine „natürlichere“ Diktion und eine Wende zur Metonymie im Aufbau eingetreten. David Lodge hat über eine Reaktion bei den englischen Romantikern geschrieben, die, wie er meint, versucht haben „eine nicht authentische Weise des Schreibens in Metaphern (nach Coleridge ‚Einbildungskraft‘) mit einer anderen, kräftigeren Weise (‚Fantasie‘), die sich nicht immer mit einer Fülle von Metapherfiguren hervortut“ auszutauschen: William Wordsworth beispielsweise bemühte sich, die englische Dichtersprache zu „klären“ durch „eine Zwangsdrängung dieser Sprache zurück zum metonymischen Lager – von daher ruht im Vorwort der Lyrischen Balladen Lodges Behauptung, dass es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Poesie und Prosa gäbe...“ Das Metaphernlager hat jedoch, allseits bereit, zurückgeschlagen: Cleanth Brooks hat 1948 darauf hingewiesen, dass „kurz gefasst, die moderne dichterische Technik die Metapher wiederentdeckt hat, und ist ihr vollständig ergeben“. Der einflussreichste moderne Theoretiker der Metonymie, Roman Jakobson, hat jedoch, wie schon erwähnt, zwei äußerst unterschiedliche Modalitäten der literarischen Widergabe der „Wirklichkeit“ gefunden. In seiner Schrift Zwei Aspekte der Sprache und zwei Typen aphasischer Störungen identifizierte Jakobson in diesem Sinne zwei Lager, oder Pole, das metonymische und den metapherliche, und behauptete, dass das erste für die Prosa charakteristisch sei, das zweite für die Poesie. TIONS Anfang der Achtziger erreicht uns eine neue Erschütterung der Metapher, die bis dahin einzig Privileg und Pläsier der Dichtersprache war, aus dem Lager der kognitiven Linguistik, vor allem dank des agilen George Lakoff, dem es gelang, den Ansatz über die Metapher als ausschließlich linguistischem Konstrukt zu zerschlagen. Lakoff behauptete nämlich, dass die Metapher eine konzeptuelle Konstruktion ist und dass sie als solche für die Entwicklung des menschlichen Denkens essenziell ist. Er zeigte durch zahlreiche Beispiele und funktionelles Klassifizieren der Metaphern, dass unsere konzeptuellen Systeme, mit deren Hilfe wir denken und überhaupt funktionieren, in ihrem Wesen selbst metaphorisch sind. Aber die Menschen bemerken die Metaphern im Alltag überhaupt nicht, vor allem deswegen, weil sie in der Sprache seit langem „tot“ und „versteinert“ sind, so dass man ihre Herkunft nicht mehr erkennt. Für Lakoff ist die Evolution des menschlichen Denkens überhaupt eigentlich ein langer und mühsamer Entwicklungsprozess immer besserer und adäquaterer Metaphern. In diesem Kontext muss auch die gegensätzliche Einstellung des Philosophen Donald Davidson erwähnt werden, der ungefähr zur gleichen Zeit (1978) mit einer sehr originellen und „revolutionären“ These ankam, dass Metaphern eigentlich keine „übertragene“ Bedeutung außer der buchstäblichen hätten. Die Metapher ist nach Davidson die Traumarbeit der Sprache, deren Interpretation von der „Kollaboration“ auf der Linie Interpret – Schaffer abhängt. Das Verständnis einer Metapher ist ein ebenso kreativer Akt wie das Bilden einer Metapher, wobei beide Prozesse nur minimal durch irgendwelche Regeln reguliert sind. Wenn wir von der entmetapherisierten Sprache als einem der Kriterien zur Detektierung des „wirklichkeits- 30.4.2011. 17:53:10 RELA TIONS bezogenen“ Ansatzes innerhalb der kroatischen poetischen Modernität nach dem Zweiten Weltkrieg ausgehen, werden wir sehen, dass ihn als einer der ersten Milivoj Slaviček (1929), Angehöriger der Generation des Krugovi 6-Kreises, gebrauchte. Slaviček hat mit tagebüchlicher Beflissenheit, mit betonter Denotativität, sorgfältig die Verbrauchbarkeit des Lebens als Form des urbanen Seins festgehalten, ohne sich in seinem Schreiben so sehr auf die Literatur und das Wissen zu verlassen wie auf existenzielle Zeugnisse. „Sein privates, bürgerliches Ich lässt sich fast mit dem lyrischen Subjekt gleichsetzen“, meint Cvjetko Milanja. Der Grund, warum er nicht in diese Auswahl eingereiht wurde, liegt vor allem darin, dass die Wirklichkeit, auf die sich seine „Methodologie“ bezieht, eigentlich längst verschwunden ist, so dass sein Aufnahme eher ein Memento an eine Technik wäre, als die Aktualisierung der Thematik, über die hier die Rede sein soll. Einen ähnlichen Kurs verfolgte sporadisch auch Antun Šoljan (1932 – 1993), beispielsweise in seinen nun schon anthologischen Gedichten Abendliche Sinnlosigkeiten („Večernje besmislice“), Der Beamte liest Cesarić („Činovnik čita Cesarića“) oder Auf dem hl. Ivan („Na Sv. Ivanu“), in denen er mit einfacher Diktion, ohne Überheblichkeit und „Schnörkelei“, mit leicht melancholischem Ton, einige menschliche gar zu menschliche, durch Erfahrung beglaubigte und glaubhafte „Wahrheiten“ vortrug. Auf einer ähnlichen Spur waren in den Sechzigern und Siebzigern die Gründerväter der so genannten Macker-Poesie oder Jeans-Poesie, Zvonimir Majdak, Branislav Glumac und Alojz Majetić, denen die Einführung der urbanen Thematik, sowie des Stadtjargons und des Rotwelschen in die Poesie zu verdanken ist. Im Nach6 Poesie wort eines von Majetićs Büchern meint der Dichter Branimir Bošnjak, dass „sich Majetić gemeinsam mit einigen dichterischen Gleichgesinnten in etwas stürzte, das wir das Abenteuer einer parallelen Sprache nennen könnten [...] einerseits ist jedoch immer noch Verachtung gegenüber allem ‚Modernen‘ als etwas ‚Abstoßendem‘ und für die Kunst der neuen Zeiten Unnötigem und sogar Schädlichen anwesend, andererseits machte eine Art philosophischer Purismus, mit dem zu jener Zeit in der Poesie nur äußerst schicksalsträchtige und existenzielle Themen besungen werden durften, Majetićs Experimente mit dem Slang zweideutig und ‚nicht rechtgläubig‘“. Ungefähr ein Jahrzehnt nach dem erwähnten „Tolle-Kerle-Experiment“, brachte der einflussreiche und produktive, aber auch einsiedlerische Liedermacher und Bandleader der Rockgruppe Azra, Branimir „Johnny“ Štulić (1953) die Jugendsprache und den Slang, überhaupt die Sprache der Straße, der damaligen „Jugend“ wieder näher, als legitimes Mittel des künstlerischen Ausdrucks, wenigstens innerhalb des Idioms der Rockmusik, aber auch in einem weiteren Umfeld. Faszinierend ist die Tatsache, dass trotz seiner physischen Abwesenheit, sein Einfluss auf die neuesten Generationen um nichts weniger geworden ist als er damals auf die Generation der Achtziger und Neunziger war. Man könnte eigentlich ohne Übertreibung sagen, dass die kroatische und jugoslawische Kultur in Štulić ihren Bob Dylan bekommen hat, und dass sein wirklicher Einfluss bis zum heutigen Tage nicht zur Gänze adäquat soziologisch Bearbeitet wurde. Es ist interessant, dass es auch in der Poesie von Zvonko Maković (1947) zu gewissen „wirklichkeitsbezogenen“ Abweichungen, die Kritiker „Reis- 221 mus“ nannten, gekommen ist, d. h. eine Umkehr zur gegenständlichen Realität des unmittelbaren intimen Umfelds des lyrischen Subjekts, in welchem es versucht, Relationsanalogien für seine oftmals aufwühlenden und nicht beneidenswerten inneren Zustände zu finden. Maković führte wirklich eine Befreiung von der Metapherlichkeit ein, sein Vers ist entpoetisiert und ohne Sentimentalität, obwohl manche seinen Stil wegen der auffallenden Hypersensibilität des lyrischen Helden auch die „Ästhetik der Irritation“ nannten. Trotz der Tatsache, dass es sich um einen abgerundeten und kanonischen dichterischen Opus handelt, ist Makovićs Wankelmütigkeit in Fragen des Modells, beziehungsweise sein „Schreibnomadismus“ einer der Gründe, warum er aus dieser Auswahl ausgelassen wurde, ebenso wie die Unmöglichkeit, so gut es geht, präzise festzustellen, in welchem Maße sein Ausdruck wirklich die „wirklichkeitsbezogene“ Wende in der modernen kroatischen Dichtkunst beeinflusste. Andererseits ist Boris Maruna (1940 – 2007) allen Merkmalen seiner Poesie zufolge unumstritten der einzige wirkliche Vorgänger, wenn nicht gar geistiger Vater der zeitgenössischen kroatischen „wirklichkeitsbezogenen“ Dichter, doch leider konnte er nicht wesentlicher Einfluss auf ihre Formung ausüben, da er, nicht nur nach eigenem Willen, dreißig Jahre im Exil in Süd- und Nordamerika sowie in Spanien verbrachte. Aber es ist anzunehmen, dass aufgrund ihrer „Deutlichkeit“ seine Poesie, die sich vollständig außerhalb des nationalen Korpus entwickelte, höchstwahrscheinlich auch weiterhin sehr elegant älter werden wird, denn sie spricht von der unmittelbaren menschlichen Erfahrung mit einer einfachen nicht manipulierten Sprache, was eine Errungenschaft ist, Literarischer Zirkel um die einflussreiche Zeitschrift Krugovi aus den fünfziger Jahren, der den nachkrieglichen Agitprop-Sozrealismus demontierte. Relation 1_2011.indd 221 30.4.2011. 17:53:10 222 die langwierig an anglo- und lateinamerikanischen – gewiss nicht kroatischen – dichterischen Modellen geschleift wurde. Würde man aber die „Stunde Null“ der wirklichkeitsbezogenen Poesie suchen, im Sinne von urbanem und existenziellem Inhalt, Demetapherisiertheit und Denotativität, müsste man auf alle Fälle das paradigmatische Gedicht von Branko Čegec Der Stand der Dinge 7 („Stanje stvari“) aus dem „fernen“ 1988 heranziehen. Dieses Gedicht ist vollständig denotativ, „gebaut“, wie Tvrtko Vuković sagt, „aus dem präzisen Nachzählen des Alltags“ (wenn der Alltag „nachzählbar“ ist!?). Das einzige, was Čegecs konsequent durchgeführte Taxonomie der Existenzialien stört, ist der sich wiederholende Refrain „draußen regnet es“ und diese plötzlich eingeführte „Dunkelheit aus Emilijas Augen“ – ein Bild, das Čegec auffallend gegen Ende des Gedichts einführt, fast als Vorahnung eines riesigen und dunklen Ereignisses, das ein paar Jahre später auch auf dem historischen Horizont eintreffen wird und dessen Resultat die Realität, d. h. die „Wirklichkeit“ ist, die wir heute in diesen Gegenden leben. Was eigentlich nur beweist, dass man auch ohne groß zu mystifizieren zum Schluss kommen kann, dass wirkliche Dichter als Individualisten eine gewisse Art Medizinmänner des Kollektivitätsschicksals sind. Beim Ausroden des exaltierten Bezeichnungsgestrüpps und dem Zügeln der Dichtersprache, diesen primären Meliorationseingriffen, mit denen der Zugang zum „wirklichkeitsbezogenen“ Modell in der kroatischen Poesie erst möglich wurde, haben sich natürlich, inter alia, auch das Chanson-Dichtertum der Allgemeinpraxis von Arsen Dedić, 7 8 9 RELA Damir Šodan der Neoexistenzialismus von Dalibor Cvitan, der „heitere“ Phänomenologismus von Danijel Dragojević oder aber in letzter Zeit der „historische“ Melancholismus von Mile Stojić verdient gemacht. Was ist dann letzten Endes „wirklichkeitsbezogene“ Poesie: eine thematische Richtlinie oder ein seperates „Genre“ oder ist hier vielleicht die Rede von der „Dichtkunst des Bezeichneten“, der „Prosa im Lied“8, dem metonymischen Gesang, Mimetismus, Realismus, Neorealismus, dem urbanen „Narrativismus“, der Dichtkunst, die (gezwungenermaßen) die Außenrealität kooptiert, der Poesie, die die Grenze zwischen lyrischem Subjekt und dem „Ich“ des Autors löscht, der Poetik der Erdwesen, oder aber einer Poesie, in der, Käte Hamburger paraphrasierend, der Gegenstand des Erlebnisses nicht hinter dem Erlebnis des Gegenstandes zurückbleibt, u. s. ä., u. s. ä? Ich fürchte, dass eine feste und eindeutige Antwort auf diese Frage im Sinne der „klassischen“ Definition an dieser Stelle ausbleiben wird, das alles nur, damit der wissenschaftlichen Kritik die Möglichkeit gegeben sei, mit einer endgültigen Lösung aufzuwarten, denn diese Einleitung stellt in diesem Sinne nur eine „Geländeaufnahme“ dar, oder eine Handvoll Anmerkungen des weiter unten signierten Anthologisten, keineswegs Theoretikers, sondern eher eines Praktikers des Handwerkers, der sich deshalb freiwillig vom Aussprechen einer endgültigen Urteils enthalten und nur so im Spaß hinzufügen wird, dass die „wirklichkeitsbezogene“ Poesie jener „Typ“ der Poesie ist, die, um mit den Worten der großen amerikanischen Dichterin Marianne Moor zu sprechen – „erfundene Gärten mit richtigen Fröschen darin“ – bietet! TIONS Vielleicht ist es eigentlich letzten Endes noch angebrachter, die Meinung, dass der Hader zwischen der „wirklichkeitsbezogenen“ und „nicht-wirklichkeitsbezogenen“ Poesie gar nicht so „wirklich“ ist, zu lizitieren, denn „theoretisch“ gesehen sind beide Diskurse gleich fingiert und mangelhaft, wenn schon wohl bekannt ist, dass die Sprache, ganz wie Achill in Zenons Paradoxon über Achill und die Schildkröte, sowieso nie bis zum Ende die Welt erreichen und umfassen kann. Mit anderen Worten, alle Wahrheit lässt sich, wie uns Jacques Lacan erinnerte,9 bei aller Liebe nicht aussprechen, denn Signifikanten repräsentieren sowieso nur ein Subjekt für einen anderen Signifikanten, während sich das Signifikat hartnäckig zurückzieht und die Bedeutung ständig aufschiebt. Vielleicht ließe sich schließen, dass das Aufhalten der „Hysterie“ der Signifikantenkettenbildung eine Art Zeichen der „Heilung“ ist, wenn nicht gar der „Reife“ der Poesie. Denn weniger ist manchmal wahrlich mehr, sowohl in der Kochkunst als auch in der Literatur. Vielleicht lässt sich das nicht leicht erreichen, denn jeder, der sich wenigstens einmal mit ihr befasste, weiß, dass die Herstellung sprachlicher Zeichen zu literarischen Zwecken irgendwie eher zur „Bulimie“ neigt als zur „Anorexie“. So ähnlich lässt sich, nehme ich an, auch der relativ unlängst verfasste Schluss von Tonko Maroević in der Zeitschrift Poezija verstehen, dass „es von der Parodie und der Persiflage bis zur Würde der Rede – kein leichter Weg sei“. Die Frage, ob die kroatische Poesie mit ihrem „wirklichkeitsbezogenen“ Dämmen der Flut von Bezeichnungspraktiken in eine neuere und „reifere“ Phase gekommen ist, oder Branko Čegec, Melancholische Chronik („Melankolični ljetopis“), IC Rijeka, 1988, S. 77-78. „Prosa im Lied“ ist ein geistreiches Syntagma von Arsen Dedić. Jacques Lacan im Dokumentarfilm Psychoanalyse 2 (1974), DVD, Žižek!, /20:55-20:75/, Zeitgeist Video, 2005. Relation 1_2011.indd 222 30.4.2011. 17:53:10 RELA TIONS ob es sich nur um ein temporäres Kreuzen der Sprache und der Welt handelt, ist von dieser kurzen zeitlichen Distanz aus schwer kategorisch zu beantworten. Insbesondere, wenn man im Auge behält, dass ein Großteil der hier aufgenommenen Autoren sich bis jetzt mit nur einem oder zweien Gedichtbänden hervorgetan hat. Doch das, was wichtig ist, ist die Tatsache, dass die „wirklichkeitsbezogene“ Poetik als Poetik des „neoexistenzialistischen Vorzeichens“ – wie Sanjin Sorel mit Recht betont – eigentlich die „‘Archipoetik‘ der ganzen Generation“ der Neunziger ist, beziehungsweise, „dass sie in den Grundfesten aller anderen Erfahrungen liegt“ und „die Bedingung“ ihrer „Realisierung“ ist. „Mit anderen Worten, sie hat den ‚Geist der Zeit‘ detektiert und ihn an die Generation überwiesen“. Ist nicht so eine Schlussfolgerung der beste Beweis, dass die „wirklichkeitsbezogene“ Poesie als neuer Abschnitt des poetischen Ausdrucks einen prominenten, wenn nicht gar den zentralsten Platz innerhalb des Korpus der Relation 1_2011.indd 223 Poesie zeitgenössischen kroatischen Dichtkunst eingenommen hat? Es ist vielleicht an dieser Stelle angebracht, daran zu erinnern, dass viele große Dichter des 20. Jahrhunderts, wie zum Beispiel Kavafis, Brecht, Brodsky, Walcott, Auden, Miłosz, Herbert, Zagajewski, O’Hara, Simic, Ginsberg, Montale, Parra, Bukowski, Carver, Hikmet, Enzensberger oder Cardenal... keine „Sprachwissenschaftler“ oder „Konkretisten“ waren und sich trotzdem einen nicht in Frage zu stellenden Status im Pantheon der Weltdichtkunst verdient haben. Wie dem auch sei, die Absicht dieses anthologistischen – seiner Definition nach undankbaren – Unterfangens war vor allem als Versuch gedacht, mit einem ziemlich umfangreichen synchronischen Durchschnitt, oder Schnitt, auf die unumstößliche Tatsache hinzuweisen, dass es auch in der kroatischen Literatur endlich eine Poesie gibt, die, mit der einfachen Sprache der Straße gesprochen, sehr wohl „etwas mit dem Leben zu tun hat“. 223 Dabei wollte man ebenfalls die Aufmerksamkeit auf die Änderung des Paradigmas in der zeitgenössischen kroatischen Poesie lenken, die im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte das dichterische „Aus-führen“ ins „Aufführen“ umwandelte und sich dabei dem Leser großherzig öffnete, nicht ohne einen gewissen Wunsch nach gegenseitigem Erkennen auf der empathischen Linie oder dem durchlebten Erlebnis. Mit so einem Ansatz scheint die zeitgenössische kroatische Dichtkunst die Worte des kanadischen Barden von Lied und Vers, Leonard Cohen, zu bestätigen und zu verinnerlichen, der einstmals gesagt hatte: „Die Poesie ist nur eine Aufzeichnung des Lebens. Wenn Ihr Leben schön brennt, dann ist die Poesie nur seine Asche.“ Damir Šodan, Split, November 2010 Aus dem Kroatischen von Marijana Miličević Hrvić 30.4.2011. 17:53:10 224 RELA Poesie DALIBOR CVITAN TIONS [1934 – 1993] Das gespreizte Foto Dieses Pornofoto ist mir heiliges Andenken nie wird dies dralle Fleisch faulen und die Haare, und der Schleim... Das wie eine Ikone über dem Rauchfass gespreizte Foto gießt das gelbe Licht des Körpers auf mich. In was hast du dich, mein Gott, verwandelt? Aber so ist halt das Leben auch ich habe mich verwandelt in einen Greifkäfer in einen Tentakelkriecher... Ich klimme auf den Altar Leib und Scheid und Poback und Schlack und Lust und Brust und da ging mein Gott aus meinem Leben fort. Der chinesische Pavillon Auf dem Messegelände steht der Chinesische Pavillon, in dem die Chinesen in einem Jahr ausstellen, im anderen nicht, abhängig von den Beziehungen. Man sieht ihn von weitem, grüngoldene Keramik, Spitzbögen, ach, so richtig chinesisch. Einen Lesenden erinnert er an Mishimas „Goldenen Tempel“. Februar. Es regnet in Strömen. Aus der Straßenbahn sehe ich den Chinesischen Pavillon an, in die graue Stadt geknallt wie die Faust aufs Auge, wie die Zypresse in der Wüste. Relation 1_2011.indd 224 30.4.2011. 17:53:10 RELA TIONS 225 Poesie Was, was, was sollen wir tun mit dem chinesischen Pavillon, mit seinen Bögen, mit seinen Drachen? Was, was sollen wir mit ihm, beraten sich die aufgeregten Putzfrauen in blauen Arbeitskitteln, die jeden Morgen den Staub von nirgendwoher wegfegen, aus China... Was mit der grünen Glasur, was mit der Fayence, was mit den Lampions, was mit den Vögeln, Löwen, Greifen? Im Chinesischen Pavillon haust nur trockenes Laub, wohnt die Maus, verweilt die Taube, gurrt die Putzfrau. Foto: © Višnja Arambašić Uns befiehlt, besiegelt unsere Hölle der Grüne Drache. Relation 1_2011.indd 225 30.4.2011. 17:53:10 226 RELA Poesie DANIJEL DRAGOJEVIĆ TIONS [1934] Im Wartesaal des Bahnhofs Im Wartesaal des Bahnhofs beobachtete ich arme Leute, die sich um die Heizung drängen, die einzige Wärme, die ihnen geblieben ist. Menschen gingen an ihnen vorbei, eilten, ohne sie zu beachten. Hier ist, dachte ich, was Historisches oder etwas Ähnliches an einem Ort. Nach Hause gekommen bitte ich die Worte, dass wir etwas sagen, dass sie etwas über jene Szene sagen. Es ist kalt und regnet, und trotz unzähliger Züge werden diese Elenden nirgendwohin fahren, die Welt ist verschlossen. Ich dränge sie, lasst uns, so viel wir können, die Wärme vermehren, so wie es Gebete tun. Sie schweigen. Sie schweigen, so dass ich nicht weiß, wohin, auf welche Seite ich meine Bitte richten soll. So viele Male haben sie sich spontan gereiht, ob es um meine Dinge und eingebildete Missgeschicke, Freuden, Schweigen und Ähnliches ging. Es wird so aussehen, als ob wir nichts gesehen hätten, als ob sich nichts ereignet hätte. Blindheit, eine Art Schläfrigkeit wird alles verschlucken. Wie soll ich sie überreden? Beklommenheit, Öde und Unglück, angefangen durch jene Szene, wachsen. Die Worte fliehen. Obwohl zweifellos in einem Zentrum, sind wir (die Worte und ich) verloren in der Leere. Wieder kann ich etwas nicht gut und ausreichend. Kälte, Regen, Züge kommen und gehen, statt der Worte bellen die Hunde etwas, die Vokale ihrer Stimme breiten sich in unbekannter Richtung aus. Jeden Tag ist ein bisschen Weltuntergang. In den Park gehen In mir schaukelt es wie beim Unwetter. Ich muss mich sammeln. Auf alle Fälle muss ich mich sammeln. Sie hat zwei große Augen, die mich drei Jahre zuvor nicht angesehen haben. Mein Gott, sie sieht mich an! Es stimmt, ich bin ihr Vater, halte sie an der Hand und gehe mit ihr in Richtung Park. Wenn sie mich etwas fragt, weiß ich, was ich sagen werde, alles was auftaucht, traf ich schon viele Male. Ich weiß, was sie von diesem Morgen, von der Straße, dem Park, von mir, der ich sie an der Hand halte und deren Vater ich bin, verlangt. Relation 1_2011.indd 226 30.4.2011. 17:53:10 RELA TIONS Poesie 227 Ich muss alles im Gleichgewicht halten. Darf keinen Fehler machen. Ich muss zeigen, dass ich an die Straße glaube, die gute Freundin von jederlei. Jedes Ding ist an einem Platz, der sein Platz ist. Auch ich habe eine Form, die meine Form ist, mein Wissen, mein Eigentum, meine Überzeugung. Ich bin keine Katze, bin nicht unglücklich oder ein Kaktus. Wen ich kenne, grüße ich, die anderen nicht. Ich darf meinen Kopf nicht in die Hände vergraben. Dann rauscht Regen in meinem Kopf, oder es rennen nur Mäuse in der Welt herum. Ich werde den Kopf heben. Sie könnte merken, dass in mir die Geburt schaukelt, ganz Korčula. Sie könnte merken, dass ich keinen Namen habe. Wenn mich Gott, Menschen, die Dinge rufen möchten, sind sie in großer Verlegenheit. Auch ich rufe sie nicht, öffne nur den Mund und bringe einen unechten Laut hervor. Wenn sie neben mir ist, bin ich freundlich zu ihnen wie bei einer Festlichkeit. Und wenn ich unabsichtlich aufschreie? Nein, das werde ich nicht. Ich bin gut gekleidet, habe Geld für Schokolade, spreche leise, setze Punkte und Kommas an die richtige Stelle. Ich bin klug, lese Bücher, viele Bücher. Alles ist in Ordnung. Wenn ich Lust bekomme, mich auf der Erde zu wälzen, werde ich sie nur ansehen, ihr übers Haar streichen, lachen und es nicht tun. Die Liebe hält die Form aufrecht, das ist klar. Die ganze Welt, dabei denke ich auch an ihre Freunde die Ameisen, wird mit mir zufrieden sein. Es wird bestimmt noch ein relativ glücklicher Tag sein. 1963 – 1983 Relation 1_2011.indd 227 30.4.2011. 17:53:10 228 RELA Poesie ARSEN DEDIĆ TIONS [1938] Ein literarisches Abendessen ein literarisches Abendessen in der Region Schnee bis zum Hals ein Apotheker und ein Frauenarzt eine zarte Bibliothekarin, die auch Ortsschriftstellerin ist Autorin mehrerer Bilderbücher, einiger Kalender, als auch Aufkleber verbittert ist die Dichterin gefühllos und hässlich sie beobachtet wie eine Ringelnatter den Dichter-Jungen der nichts damit zu tun hat Weihnachten ist nah seltene Verheißungen und ein Hermelin im Esszimmer Eine Liste unliebsamer Ereignisse, Begriffe, Personen und Dinge, die mit Musik zu tun haben Ein Schlagzeug im morgendlichen Restaurant bedeckt mit einem karierten Tischtuch. Betrunkene Sängerinnen, mit denen es bergab geht. Schallplatten, die niemand kauft. Schallplatten, die alle kaufen. Sätze wie: Meine Musik mögen auch die jungen Leute. Die jungen Leute kehren doch zur Melodie zurück. Das Akkordeon wird früher oder später wieder ein Comeback haben. Oder Sätze wie: Ach, wenn ich alle diese Erfolge im Ausland gehabt hätte. Sie sind für mich eigentlich ein Dichter. Relation 1_2011.indd 228 30.4.2011. 17:53:10 RELA TIONS Poesie 229 Schauspielerinnen, die falsch singen und Typen, die ihnen beteuern, dass das richtig charmant sei – in der Hoffnung, dass sie mit ihnen schlafen werden. Der in London gekaufte Anzug für einen Auftritt in Bugojno. Hitparadensänger-Kryptonationalisten. Musiker-Parteigänger, die sich über die Partei ärgern, da sie kein Neujahrsengagement haben. Rockkritiker mit zwei Jahren Geigenunterricht im Landesinnern. Klavierstunden bei Nonnen. Harfenstunden bei Engeln. Intellektuelle mittleren Alters, die hoffnungslos bei Rockern schleimen. Typen, die sich für das, was sie spielen, schämen. Ansehnliche Orientschlagersängerinnen ohne Backenzähne. Musikschreiber ohne musikalisches Gehör. Schallplatten ohne Loch in der Mitte. Chansoniers, die stricken. Über Nacht erreichter Misserfolg. Bestechliche Redakteure. Talentlose Typen mit glänzender Ausrüstung und Idioten mit wunderschönen Stimmen. Ausgezeichnete Dichter mit schäbigen Schlageraufträgen. Textschreiber im Allgemeinen und überhaupt. Unbezahlte Tourneen in südlichen Gegenden der Heimat. Dritter Preis der Fachjury für die sympathischste Sängerin. Lebenslange Chorsänger; ewig beleidigt, weil sie keine Solisten sind. Das Singen von Cowboyliedern in Tschechisch, Slowenisch und Deutsch. Nächtlicher Gulasch in Novska. Orientierung, kurz vor Karriereende, auf Evergreens. Garderobe Pflicht. Neukomponierte Oldies. Erste Stimme und Miss Jagdtourismus. Typen, die verheimlichen, dass sie nicht Noten lesen können. Conférence. Conférencier in Volkstracht. Revolutionäre Lieder in Rock-Bearbeitung. Regime-Rock. Glatzköpfige Rocker, die geschmackvolle modische Mützchen tragen. Und so weiter und so weiter ... Und zum Schluss: Moralischer Sieger beim Festival der Unterhaltungsmusik. Relation 1_2011.indd 229 30.4.2011. 17:53:10 230 RELA Poesie BORIS MARUNA TIONS [1940 – 2007] The New Left So traf ich einmal eine Blondine Von etwa dreißig Jahren Um zwei Uhr nachmittags Den Rest des Tages verbrachten wir Tee trinkend Auf einer Terrasse mit Blick aufs Meer; Am Abend führte ich sie aus ins beste Restaurant der Stadt Sie stellte sich vor als Tochter Eines ukrainischen Tuchhändlers, Eines Juden aus Brooklyn, Intellektueller Typ: Sie hatte einen Ph. D. und angeblich die größten Brüste Nördlich des Grand Canyon Ich bearbeitete sie die ganze Nacht Und erinnere mich nicht, einen Funken herausgeschlagen zu haben. Pausenlos zitierte sie mir C. Wright Mills und behauptete, Wegen ihres Ehetraumas und der kürzlichen Scheidung Sei sie noch nicht Prädisponiert Es regnete, als ich morgens einschlief im Hotelzimmer mit sieben Kerzen Interessant ist, dass ich als Katholik Keine religiösen Probleme hatte Beim Abschied überließ sie mir Eine halbe Flasche Bahamasrum, ein paar Einige Monate alte progressive Zeitschriften Die Originalausgabe von Macdonalds Buch The Root is Man Und eine gewisse Geschlechtskrankheit Mit der ich regelmäßig zum Strand ging Relation 1_2011.indd 230 30.4.2011. 17:53:10 RELA TIONS Poesie 231 Etwa zwanzig Tage lang Und sie in der Zwischenzeit weitergab Wie den Stafettenstab des Genossen Tito Nie hat sie sich richtig eingenistet Unser Arzt erklärte mir später Dass die Immunität meines Blutes eng verbunden ist Mit historischen Gegebenheiten Der Türkenzeit Und unserem nationalen Unglück Ich weiß nicht. Es liegt mir nichts daran, etwas zu verneinen Aber ich denke, dass sich alles zusammen Mit der Tatsache erklären lässt Dass es auch in der Neuen Linken Situationen gibt, in denen Sie nicht möglich sind weder Liebe Noch Tragödie. Das Ende des 2. Weltkriegs in Westwood Einer meiner Professoren ein Schüler Hegels Kierkegaards und Martin Heideggers Behauptete, er sei nicht Gott weiß was Da er die erste amerikanische Generation sei Erzeugt auf dem Rücksitz eines Autos Da ich das letzte kroatische Geschlecht bin Erzeugt auf dem Gipfel des Velebit Glaubte ich ihm Als er mit sechzehn Jahren nicht aufgenommen wurde Ins amerikanische Heer heuerte er mit gefälschten Papieren bei der kanadischen Königlichen Marine an Und es gelang ihm unter anderem Fast den ganzen nordamerikanischen Kontinent Relation 1_2011.indd 231 30.4.2011. 17:53:10 232 Poesie RELA TIONS Vor den Deutschen zu schützen Für Fortschritt und Demokratie Und gleichzeitig so manche Vergewaltigung älterer Seebären zu ertragen Um wie das im Leben oft so geht Nachträglich festzustellen mit einer gewissen alles verheerenden Resignation dass das eigentlich nicht seine Pflicht gewesen war Aber wie ich schon sagte war der Kontinent schon verteidigt worden Und er kehrte zurück mit zwei tätowierten Armen Einigen Narben zwischen den Sommersprossen seiner walisischen Abstammung Und mit einem Gehirn für das Washington ein ganzes Vermögen ausgab und bezahlte Zuerst sein Studium in Freiburg und Kopenhagen Und danach in Hollywood und Beverly Hills deutsche Psychiater Die sich vergeblich bemühten Das Dasein und das Knäuel der Ariadne in seinem Kopf abzuspulen: Der Mensch sah überall den Minotaurus Worin ich mit ihm ebenfalls übereinstimmte Es war eine höllische Art des Seins, sagte er manchmal zu mir Woraufhin ich antwortete: Ich weiß, Jack Auch ich war als Kind im Krieg Und kam besiegt aus ihm heraus Mehr oder weniger so wie du gesiegt hast So wie er war, konnte er, obwohl Katholik, Nicht lange mit meinen Jesuiten die als echte Bolschewiken nur irischen Whiskey tranken Aristoteles’ Logik des Thomas von Aquin anerkannten Die geistlichen Übungen des Ignatius Und die apokryphen Leben der Heiligen Er ging zur UCLA und schenkte mir zum Abschied Eine seltene Anthologie der amerikanischen Literatur Relation 1_2011.indd 232 30.4.2011. 17:53:10 RELA TIONS Poesie 233 Dort erkannte er bald Dass eigentlich niemand in Vietnam umkommen möchte Dass mexikanische Studenten weder Davy Crockett noch Alamo vergessen Dass die Japaner wenn sie mit Honolulu fertig sind Los Angeles kaufen werden Und dass ihm die jüdischen Muttersöhnchen den Rest seiner Nerven zerstören werden mit ihrer Bereitschaft Israel zu verteidigen bis zum letzten Nachkommen der Southampton-Passagiere Und so ist dieser Professor der vergleichenden Literatur Zweifellos ein Verehrer von Dostojewski und Camus Ein Liebhaber der europäischen Zivilisation und der keltischen Mythologie Zum Großteil ein Freund des deutschen Geistes Eines Tages buchstäblich am Herzen gestorben Zurück blieb auf dem Bürgersteig in Westwood seine Tasche Mit einigen unfertigen Manuskripten Mit sich aber nahm er eine Unmenge unbearbeiteter Bilder Das Ende eines Krieges wie ein Labyrinth ohne Ausgang Und ein wunderschönes Paar Brüste einer Minderjährigen Die auf mein Zureden zustimmte Im Nebenzimmer für uns nackt zu tanzen Auf einer Party in Manhattan Beach Zu der ich ihn mitgenommen hatte Denn an jenem Abend wollte er wieder einmal Oder konnte nicht seiner Frau gegenübertreten Und den eigenen Kindern Heute denke ich an ihn wann immer ich Abraham Lincoln lese: Men are not flattered by being shown that there has been a difference of purpose between the Almighty and them. Was etwa bedeutet: Den Menschen schmeichelt es nicht wenn ihnen gezeigt wird, dass es einen Unterschied der Bestimmung gab zwischen ihnen und dem Allmächtigen. (Brief an Thurlow Weed, 15. März 1865) Relation 1_2011.indd 233 30.4.2011. 17:53:10 234 RELA Poesie JOZEFINA DAUTBEGOVIĆ TIONS [1948 – 2008] Flüchtlingslied Endlich die Illusion von Freiheit Die Wohnungseigentümer sind verreist übers Wochenende um sich auszuruhen Wir werden alleine zu Mittag essen Im Kühlschrank steht die Konserve kalt mit einer Zubereitungsanleitung in einer uns unbekannten Sprache Die Leine ist frei zum Aufhängen von Wäsche oder ... Die Leine ist übrigens manchmal frei Wir besitzen Flüchtlingsscheine wir können verreisen in einen anderen Stadtteil nach Maksimir zum Beispiel und zusehen wie sie fressen die Tiere Zum Abendessen gibt es schlechte Nachrichten aus der Heimat und Milchpulver Vielleicht wird es besser als gestern Gestern haben wir überhaupt nicht gegessen denn die Polizei prüfte unsere Identität und tadelte uns streng Es ist unwichtig dass Sie Kroaten sind Sie befinden sich in einem fremden Land und Sie dürfen nicht so oft beim Bürgeramt anrufen wegen des Heimatscheins Wir haben eine Lösung sagen wir und denken dabei an die Leine Sie gehen Das Milchpulver ist von der Feuchtigkeit verklumpt egal Es ist gesund manchmal das Abendessen zu überspringen Relation 1_2011.indd 234 30.4.2011. 17:53:10 RELA TIONS Poesie 235 Liebe in Sarajevo Zwischen zwei Granaten die vorläufig ihr Ziel verfehlten spute ich mich Du kannst dich sehnsüchtig und unvorsichtig auf den Weg machen der Heckenschütze jedoch wartet auf die die sich vergessen Wir müssen uns schnell lieben solange unsere Knochen noch eine gefällige Form bilden Wir haben wenig Zeit Zwischen zwei fremden Schreien verlängern wir das Leben mit einer Umarmung Später auf einem improvisierten Bett rauchen wir etwas was einer Zigarette ähneln sollte und ziehen den Schluss dass der Heckenschütze sicher impotent ist Wir haben sehr wenig Zeit Wir müssen vor den letzten Nachrichten zurückkehren in denen gibt der Sprecher ihn bekannt unseren Tod Zagreb, 26. Juni 1994 Relation 1_2011.indd 235 30.4.2011. 17:53:10 236 RELA Poesie MILE STOJIĆ TIONS [1955] Der Weg über Kreševo Solch einen Anfang haben wir alle erwartet, aber er überraschte uns Vom Berg aus wurde zuerst der TeVau-Sender auf dem Hügel beschossen Kurz danach die Zentralen von Unioninvest und dem E-Werk Kugeln aus dem Maschinengewehr rissen Porzellanstücke im Trafohäuschen ab Betrunkene in Marindvor drehten sich vor doppeltem Entsetzen Die Serben, diese verdammten Hunde, schrie einer, wieder schlachten sie die Moslems Im Auto, das mit hundertfünfzig Stundenkilometern raste, sagte ich, wir werden ihn finden, Einen Weg. „Nie werden wir hier herauskommen“, sagtest du. Die Sirene des in Flammen stehenden Feuerwehrautos heulte Du lieber Himmel, die Post brennt, das Theater brennt, der Herzog-Putnik-Kai brennt Morgen fahren wir nach Dalmatien, auf eine Insel in den Schatten einer Palme, die Wellen ansehen Aber alle Brücken sind zerstört und wir sind auf einer brennenden Insel Mach dir keine Sorgen, ich kenne einen geheimen Weg über Kreševo, Ihn zeigte mir ein Mädchen, mit dem ich vor langer Zeit anbandelte Aber die sind Blödmänner, die werden alles vernichten, den Ast absägen, auf dem sie Auch selbst sitzen. Nie werden wir hier herauskommen Das Gesicht wird starr, während die Gebäude um uns herum zu Brandstätten werden Es wird Winter und unser Blut gefriert im Schnee. Um uns herum Sprießen Krater, in denen alle Geschichte und Philosophie verschwindet, Alle Literatur. Auf einer mit einem Hirtenmesser geschnitzten Flöte Auf gespannter Lammhaut und Rosshaar spielt Belzebub Und Verliebte umarmen sich zum letzten Mal in schlammigem Graben Und die Lieben verlassen senkrecht unsere Stadt In eine gefühllose friedlichere und schmerzlosere Welt (Fragment aus dem Jahr 1992) Relation 1_2011.indd 236 30.4.2011. 17:53:10 RELA TIONS Poesie VOJO ŠINDOLIĆ 237 [1955] Feedback Schmetterlinge in meinem Bauch. Heißer Senf in den Mundwinkeln. Rivalisierende Mittelschüler in den Stadtbussen. Damen mit umgehängten pelzigen Toden. Raureif an starren Strümpfen, die trocknen auf den Balkonen der Hochhäuser-Kasernen. Nackte Körper in Zeitungskiosken. DAS, WAS ICH WEIß, IST DAS, WAS ICH FÜHLE! Ich esse ein Sandwich mit Schinken, Käse und Mayonnaise, liege im Bett und verfolge eine TV Bildungssendung: einen Kondor, der einen Pferdekadaver hackt, den Vogel Karakara, der die Jungen im weißbekoteten Nest mit Aas füttert. Visionen der Gemeinschaft, entstellt in der Menschenmasse der Stadt. 8. Januar 1984 Relation 1_2011.indd 237 30.4.2011. 17:53:10 238 RELA Poesie BRANKO ČEGEC TIONS [1957] Sexualitäts- und Schlammlandschaften auf den straßen war nicht einmal mehr ein hund: flugzeuge bombardierten die stadtrandsiedlungen, die gärten waren voll quecken und löwenzahn, den letzten resten der pädagogik, aus der du in einem knöchellangen röckchen hinaustratest mit frisch depilierten waden, und viele sätze sagtest über apfelsinen und wladiwostok, über drachenkopf in wein und den staub des balaton, über kühne liegestütze und die hochebenen des pazifik oder eines anderen meeres, über blumenkohl, barmherzige schwestern und bier aus karlovac. mein gott, was für ein durcheinander! – wiederholte ich im stillen immer den gleichen satz mit blick auf deine knie und die komischen zähne in barocker anordnung. grob und gerührt zugleich, wie in der jugend eines künstlers, eines philanthropen, fuhr ich hinab am spalt des körpers mit der erfahrung des überlebens. mann, nichts ist auf den straßen. feuchtigkeit im mund, rohes texas ins doppelläufige gewehr gepflanzt, freude, die schlaftrunkene stimme eines hirten auf einer symbolischen weide. 2003-4-13 2003-4-20 Relation 1_2011.indd 238 30.4.2011. 17:53:10 RELA TIONS Poesie MIROSLAV MIĆANOVIĆ 239 [1960] job (die kroatische poesie der neunziger) ich sagte zu ihm: dich wird die dunkelheit auffressen aus emilijas augen Branko Čegec: Der Stand der Dinge er, der kroatische dichter, tritt ins zimmer und heftet vorsichtig klebstreifen an die fenster, zuerst ein kreuz, dann gleichmäßige viertel, die sonne bricht in leuchtenden pfeilen, er prüft die ränder und drückt sie fest an seine frau tritt ein, setzt ruhig einen Fuß vor den anderen, es ist schön, dass wir heute nicht hinuntergehen mussten, sie wagt nicht zu fragen, wie man auf englisch luftschutzkeller sagt. die völlige dunkelheit des zimmers bedeckt das bett. er möchte zu ihr sagen, schlaf, hat aber angst, auf der anderen seite sind ihre offenen augen alles, was ich habe, erwarb ich sehend, jetzt aber ist verdunkelung er möchte gedichte schreiben, in denen namen wie ein hot dog im mund einer schwarzen klingen ... das uns aus der ganzen tiefe deiner himmlischen finsternis berührt gott, endlich ruhe. wo ist diese welt. nimm die finger aus diesen wunden, ungläubiger Thomas. dunkelheit. Relation 1_2011.indd 239 30.4.2011. 17:53:10 240 RELA Poesie DELIMIR REŠICKI TIONS [1960] Ansteckung Es gibt keine tiefere Trauer als eine Fahrt durch Slawonien am Samstagnachmittag. Denn die Trauer in diesen etwa anderthalb Wegstunden eben hier, gerade mir, zeigt sie nicht eine einzige Spur ihrer Herkunft. Man sieht, völlig klar, nur einen oberflächlichen Schnitt, den man mit einem Stückchen Watte heilt, das man in jemandes fremden Worten fand, in jemandes fremdem Telefonbuch, im übervollen Aschenbecher des Kupees, das leer blieb wie der Stich einer schmutzigen Ahle. Ich kannte ein Kind es wollte Kostümbildner werden, grundlos blieb es nur einmal im Tau sitzen, den es sich voller Angst im Haar verrieb. Ich möchte wirklich erkranken. Dieser Kult. Diese Trauer. Dieser Satyr aus Hartriegel, Asche und Staub. Diesen Tau mit einem goldenen Strohhalm inmitten eines gestorbenen Wirbelwinds trinken. Das Ostergebet mit Händen voll dunkel gewordenen Silbers sprechen Relation 1_2011.indd 240 30.4.2011. 17:53:10 RELA TIONS 241 Poesie MILOŠ ĐURĐEVIĆ [1961] Seekrank Foto: © Višnja Arambašić Leicht wie ein Hahn, wenn die Sonne mich weckt, denk an den Sommer ’95 ich. Auf dem Schiff von Rijeka, auf ’ne Bank hingestreckt, bis Split, an den Inseln entlang – erinnre ich mich. Das Radio quietschte, es drohte das Meer, da fand Rettung ich einzig am Schank. Die Menge dort schaukelte hin und her, nach dem ersten Glas in Träume ich sank. Auf einmal verschwandst du, warst einfach weg, vielleicht standst am Bug du und warst erbost. Alles nach Zadar war nur noch ein Fleck: ich weiß, du wirst sagen, du warst nicht bei Trost. Runde auf Runde, wie konnt’s anders sein, und später da kotzte jeder allein. Relation 1_2011.indd 241 30.4.2011. 17:53:10 242 RELA Poesie KREŠIMIR BAGIĆ TIONS [1962] Der Markt in Dubrava wir bauten den Markt in Dubrava das kann ich euch heute sagen Ribe Andjelko Šime und ich kneteten Ton formten Ziegel keiner konnte uns etwas anhaben wir bauten den Markt in Dubrava das kann ich euch heute sagen morgens pflanzten wir Verkaufsstände und Mauern mittags begossen wir sie damit sie sich aufrichten und Blätter treiben auf der Wiese im Wasser und im Schlamm bauten wir den Markt in Dubrava als wir fertig waren tauchten zehn Dalmatiner auf und luden uns zu einer Partie Boccia ein wir gingen mit spielten und gewannen Ribe Andjelko Šime und ich nach einem Jahr kehrten wir auf den Markt zurück die Dalmatiner verkauften dort Stockfisch Mandeln und Mangold wir kauften Zeitungen tranken ein Bier Andjelko sagte: wir haben den Markt gebaut und Ribe: das ist nicht wichtig wir sind Dalmatiner Šime und ich sagten nichts wir bestellten Kaffee und spielten eine Partie Darts am nächsten Tag begann Ribe Standgeld zu kassieren Andjelko wurde zu seiner rechten Hand heute reden die Leute aus Zagorje und aus Bosnien sie mit „Herr“ an bieten ihnen Salat zum Mittagessen und Obst zum Nachtisch die Dalmatinern laden sie zum Bier ein Relation 1_2011.indd 242 30.4.2011. 17:53:10 RELA TIONS Poesie 243 es bauten den Markt in Dubrava auch Šime und ich jetzt kaufen wir dort Stockfisch Mandeln und Mangold Šimes Haus in Dalmatien ist abgebrannt und ich wurde Professor in Zagreb wann immer sie Zeit finden spielen Ribe und Andjelko eine Partie Darts mit uns Der Hof meiner Mutter In den Hof meiner Mutter kommen oft schlechte Nachrichten. Während sie schweigt, wachsen sie, wie Rebstöcke verdecken sie Himmel und Gedanken. Während sie spricht, wachsen sie, verflechten und vergrößern sich im schwindelnden Spiel von Blicken und Worten. Gäste und Ungebetene bringen sie mit – Nachbarinnen und Fremde, Elektriker und Journalisten. Meine Mutter behält sie, der Panzer aus Angst und Einsamkeit wird immer fester und fester, der Hof ballt sich zu einem Punkt, der von traurigen Vaterunsern genährt wird. In den Hof meiner Mutter kommen oft schlechte Nachrichten. Schwere Krankheiten fangen Unheil ab, Diebe und Lügner beherrschen die Welt, niemandem kann man glauben. Tatsachen sind immer auf ihrer Seite – Namen, Zahlen und Orte als stumme Zeugen einer Tragödie, schweben sie auf dem schwarzen Vorhang der Erzählung. Meine Mutter spricht sie langsam, mit leiser Stimme; ein unhörbarer Flügelschlag nimmt den Hof ein, besiedelt den Schritt, dringt in den Körper oder zerschlägt sich einfach am Rande des Atems. Relation 1_2011.indd 243 30.4.2011. 17:53:10 244 RELA Poesie TIONS Foto: © Višnja Arambašić Manchmal verirrt sich auch eine gute Nachricht in den Hof meiner Mutter. Kommt sie ihr entgegen, breitet die Mutter ihre Arme aus, schiebt die Reben zur Seite, die Sonne beschattet Himmel und Gedanken. Wenn sie sie umarmt, ein Lächeln auf ihren Lippen, in ihrem Blick Beklommenheit; die Worte zögern wie Vögel zwischen Lied und Geschoss. Meine Mutter weiß besser als irgendjemand, die schrecklichsten Geschichten sprießen zwischen Feldblumen, in blinder Freude, die nicht an morgen denkt. Relation 1_2011.indd 244 30.4.2011. 17:53:10 RELA TIONS Poesie BORIS DEŽULOVIĆ 245 [1964] Meine Heimat Sie gehen mir auf den Sack die Serben, Albaner und Bosnier Ungarn, Tschechen und Slowenen die blockfreien Schwarzen und Makedonier die Juden, Araber und ausländischen Studenten die Kinder afrikanischer Diplomaten die Japaner, Chinesen und Asiaten und alle diese schmutzigen Beduinen wegen denen wir Kroaten aussehen irgendwie wie primitive wasweißich Chovos und Xe Xephob wie sagt man ja, das. Relation 1_2011.indd 245 30.4.2011. 17:53:10 246 RELA Poesie PREDRAG LUCIĆ TIONS [1964] Simonides, König von Pentapolis Als Matrose im Perikles gelangte ich Zur Heiligen Sophia Am Vorabend von allem Im Jahre sechsundachtzig Als Gower ich begleitete Der dem Grab entstiegen war Wir überlebten Antiochias Gräuel Überstanden des Meeres Stürme Und dann Inmitten des Ritterspiels In Pentapolis An König Simonides Hof Hielt alles still In einem Augenblick Die Vorstellung Das Ritterspiel Shakespeare Und die Welt Simonides König von Pentapolis Miloš Tripković Ausgezeichneter Schauspieler Trennte plötzlich sich von der Gestalt Verlor Handlung und Text Umsonst Souffleuse Beba Umsonst Höflinge und Ritter Umsonst Taida die Schöne König Simonides’ Tochter Relation 1_2011.indd 246 30.4.2011. 17:53:10 RELA TIONS Poesie 247 Der König stockt Er stockt Er schweigt Und ich Neunzehn Jahre später Suche etwas vor der Kirche der heiligen Sophia Ich weiß nicht was ich suche Aber schließlich begreife ich Dass ich das gleiche Schweigen suche Und überlege wie es wäre Wenn König Simonides wir nicht Um jeden Preis zurückgeführt hätten In die Handlung In die Vorstellung In den Text Wenn wir ihn hätten schweigen lassen Neunzehn Jahre gar Wenn nötig Vor der Heiligen Sophia Wenn alles gestockt hätte Vorstellung Schauspieler Publikum Alles Simonides König von Pentapolis Miloš Tripković Leben würde der Schauspieler Weder Shakespeare Noch die Heilige Sophia Hätten erlaubt Dass er stirbt wie ein Hund Relation 1_2011.indd 247 30.4.2011. 17:53:10 248 RELA Poesie MIROSLAV KIRIN TIONS [1965] Es ist früh am Morgen, als eine nackte Frau auf dem Küchenboden kniet und betet Es ist früh am Morgen, als eine nackte Frau auf dem Küchenboden kniet und betet. Der Rauch aus dem Fernheizwerk steigt völlig senkrecht hoch. Der Sopran aus Schnittkes Madrigal vermischt sich mit der Stimme eines Kartoffelverkäufers auf der Straße, die von unten heraufdringt. Die Kälte senkt sich vertikal hinab zur Wurzel einer vergessenen Balkonpflanze. Als der Verkäufer gegangen ist, wiederhole ich jenes Madrigal, und die Stimme der Frau scheint mir unerträglich einsam zu sein. Noch kurz vorher war sie mit ihm zusammen, doch schon hat er sie verlassen. Als wenn plötzlich die Stütze ihrer aufrechten Haltung verschwunden wäre, zerbricht ihre Stimme, ziellos verliert sie sich waagerecht irgendwohin, völlig gleichgültig. Warum betete die nackte Frau an einem Wintermorgen? Ihre aufrechte Haltung in der Küche ist doch vollkommen ausreichend. Relation 1_2011.indd 248 30.4.2011. 17:53:10 RELA TIONS Poesie IRENA MATIJAŠEVIĆ 249 [1965] Der Schornsteinfeger der schornsteinfeger war gekommen. zuerst ein junger er sah gründlich den boiler nach sie haben das nicht, was denn fragte ich. egal, sagte er jetzt seh ich dass sie einen turbo-boiler haben das bedeutet dass er alleine Luft rauslässt und reinholt dann ging er und sagte es käm ein anderer, ein kollege, ich solle unterschreiben. ein kleiner rothaariger mit hellen augen. ich behielt gut seine gesichtszüge da ich ihn ansah: er erzählte zwei witze. aber zuerst fragte er mich sind sie allein ich sagte, sonst nicht aber jetzt ja. dann fing er an: von Štef der betrunken nach hause kam. und wie er anklopfte und Bara zu ihm sagte säufer, nichtsnutz dann klopfte er wieder und an dieser stelle klopfte er mit seiner schwarzen hand an die tür und dann wieder: Štef, du kannst mich mal, du kommst nicht rein und so ging das noch ein paar mal. dann sagte am ende der Štef: aber ich klopf nicht mit der hand da ließ Bara ihn rein. Relation 1_2011.indd 249 30.4.2011. 17:53:11 250 RELA Poesie TIONS ich hab noch einen sagte er nachdem ich die klinke runtergedrückt hatte aber dann kam noch einer: Ivica kommt nach hause und papa und mama wollten sex haben da schicken sie Ivica, er soll passanten zählen, für jeden bekommt er eine kuna. papa, da kommt ein leichenzug, das wird dich viel kosten, sagt Ivica, diese fickerei wird aber teuer Foto: © Višnja Arambašić er sagte, jetzt sind sie was rot geworden nehmen sie’s mir nicht übel, ich mach gern spaß aber zuerst die arbeit, die arbeit zuerst vor der tür wartete der junge schornsteinfeger, der schon an den chef gewöhnt war obwohl er sich etwas wegen ihm schämte. wir wechselten einen blick. dann gingen beide, der rote redete noch was aber ich hörte nicht mehr zu Relation 1_2011.indd 250 30.4.2011. 17:53:11 RELA TIONS MILJENKO JERGOVIĆ Poesie 251 [1966] Ein Mensch singt nach dem Krieg An den Tag, als ich aus dem Krieg kam, erinnere ich mich wegen der Wanne voll heißen Wassers Im alten Hotel an der dalmatischen Küste Der Zimmerschlüssel hing an einem Messinggewicht, auf dem ein Willkommensgruß stand Auf den Gängen spielten Flüchtlingskinder, ein blonder Junge saß Auf einem rosa Plastiktöpfchen, direkt neben meiner Zimmertür Das könnte ein Engel sein, dachte ich dann ohne Zuneigung und Wärme, Ich wollte keine Engel, ich wollte ein ordentliches Bad nehmen In der Wanne voll heißen Wassers spürte der Körper solch einen Schmerz, Der mich bei anderer Gelegenheit erschreckt hätte, aber ich wollte singen So wie man das im Badezimmer tut, ein Lied, das wie jeder Zufall Den Rest des Lebens bestimmen kann, ich hätte etwas anderes tun können Die Pulsadern aufschneiden in der Wanne des alten Hotels an der dalmatischen Küste Genau an dem Tag, als ich aus dem Krieg kam Und niemand hätte sich nach den Gründen gefragt, es ist normal sich umzubringen Nachdem das Leben nur noch dir gehört, ist es normal zu gehen Wenn ich schon nicht singen werde, wird es morgen zu spät sein Denn morgen ist nicht jener Tag Relation 1_2011.indd 251 30.4.2011. 17:53:11 252 RELA Poesie SIMO MRAOVIĆ TIONS [1966 – 2008] *** Foto: © Višnja Arambašić Gestern wurden Schüsse gewechselt in der Stadt. Die Kugel traf Marko in den Kopf. Er hatte keine Freundin. Er war kränklich. Und hartnäckig. In seinem Leben. Er hinterließ eine Mutter Garešnica. Und uns paar Freunde. Was sollen wir jetzt ohne unseren Marko tun. Wir werden uns volllaufen lassen wie Schweine. Und versuchen, alles zu vergessen. Relation 1_2011.indd 252 30.4.2011. 17:53:11 RELA TIONS Poesie DAMIR RADIĆ 253 [1966] März 1944, japanisches Lager australischer Gefangener wegen tropengeschwüren wurden vielen die beine amputiert. eines abends gab es ein konzert; ein schöner anblick: 12 einbeinige männer sangen waltzing matilda und andere Lieder. maden wurden ihnen auf die wunden gelegt, die das tote fleisch fraßen. die menschen waren bedeckt mit erdöl und schmutz, vier tage auf dem floß und drei jahre in japanischer gefangenschaft. mir fehlen die worte, um ihnen zu danken, ich wünsche ihnen alles glück der welt, und dass die japaner bekommen was sie verdienen Relation 1_2011.indd 253 30.4.2011. 17:53:11 254 RELA Poesie DRAGO GLAMUZINA TIONS [1967] Frösche Noch immer lieben sie sich. Obwohl schon viele Jahre vergangen sind. Und viele Streitereien. Nichts hat sich verändert, sagt er. Nur dass wir jetzt ein Auto haben und wir müssen nicht in Parks frieren, antwortet sie. Sie sahen einen Film, in dem Frösche vom Himmel fielen, ein richtiger Froschregen, der durch die Autodächer drang, während er sie an der Hand hielt. In der anderen Hand hielt er das Handy, bereit auszusteigen, sobald seine Frau anriefe. Und in der Stille des Flurs zu lügen, dass er noch nicht fertig sei mit der Arbeit. Später, im Auto, sagte er, das sei nicht in Ordnung. Mit ihr ins Kino zu gehen, und in der Hand krampfhaft das Handy zu halten. Seine Frau zu belügen. Zu warten, dass Frösche herunterfallen. Aber sie hörte nicht, was er sagte. Sie wühlte in der Tasche und suchte krampfhaft ihr Handy. Als sie es gefunden hatte, stotterte sie: Mama kommt bald, mein Liebling, ... ich weiß, dass du keine Angst hast. Und dann gingen sie zum See und parkten zwischen zwei Bäumen. Als er sich auf sie legte, sah sie auf die Uhr, griff nach der Tasche und begann darin zu wühlen, aber er ließ sich nicht beirren. Nicht einmal als sie eine Lexaurin herausnahm und sie schluckte. Diesmal wird mich nichts hindern, dachte er. Und presste sich in sie hinein. Nicht einmal als am Fenster zwei Voyeure auftauchten mit ausgestreckten Zungen und aufgeknöpften Hosen. Er dachte, er hielte Frösche in den Händen, hörte aber nicht auf, sich hineinzupressen in sie. Aber dann klingelte sein Handy. Ich bin auf dem Nachhauseweg, sagte er. Aber er hörte nicht auf, sich in sie hineinzupressen. Relation 1_2011.indd 254 30.4.2011. 17:53:11 RELA TIONS Poesie TOMICA BAJSIĆ 255 [1968] Kardinal Kuharić am Telefon 9827 Es ist Heiligabend und eine Bande von Säufern degustiert Šipon und Silvaner im illegalen Weinkeller auf dem Friedhof Plastik- und Glasflaschen aller Dimensionen werden gefüllt und Autos stürzen über Straßenränder heute Abend wenn die gläsernen Knochen der Alten rauschen in der Kirche ist Durchzug denn jemand ließ die Tür auf die alten Weiber ärgern sich zu Recht es wird gezählt wer mehr Lämpchen anzündete würde ich auch wenn ich alt wäre Lämpchen anzünden und mich dumm stellen man sagt dieser vorweihnachtliche Konsumrausch sei vom materialistischen Westen eingeführt worden und es ginge verloren der Sinn jenes heiligen Tages als das Wort zu Fleisch wurde doch mir scheint am schlimmsten ist es dem Geflügel ergangen das reihenweise geköpft wurde vor sechs Jahren fütterte man uns mit gebratenen Ochsen und jetzt bereitet man uns ein Massenspektakel mit kostenlosen Würsten und Popstars auch Tito fütterte uns mit einem Schweinskopf den er vom Speicher gestohlen hatte und davon tat uns noch lange Relation 1_2011.indd 255 30.4.2011. 17:53:11 256 RELA Poesie TIONS Foto: © Višnja Arambašić der Bauch weh es beginnt zu schneien und auch ich bin betrunken wie alle anderen ehrlichen Kroaten unser Weg in die Zukunft heißt Nationalhumanismus – Stillleben mit Schweinskopf – der Pharao atmet tief im Frieden seines Winterpalastes erwägt vielleicht wieder einen Racheakt und Kardinal Kuharić ist am Telefon 9827 – nur die Aufnahme einer Weihnachtsbotschaft – antwortet nicht auf Fragen. Relation 1_2011.indd 256 30.4.2011. 17:53:11 RELA TIONS Poesie TOMISLAV ČADEŽ 257 [1969] Unterwegs nach Perjasica Die dürre Alte ließen sie im Bett liegen, Tattergreise sind nicht für die Flucht, sie ist schwerer als sie wert ist. Ich stieg vom Panzer, dem lärmenden 55-er, fiel ins Haus, sie schiss vor Angst, da stank sie noch mehr, zerfressen von der Zeit, in den besten Jahren war sie gewesen während des Massakers im vorigen Krieg. Ich lese in ihrem gläsernen Blick, der sendet das Geschichtsprogramm: Ödland, das blutige Kleid, Kleid, Grenzgebiet, Mehos Zustand während des Schlachtens der Ustaschas und die orthodoxe Kirche von Glina und Gudovci und Gradiška Stara und Hrvatski Blagaj und Šaranova jama, Jadovno, Jadovno, Jadovno, Jasenovac, Pag, ag, g. Sie glaubt mir nicht ... „Mütterchen, ich bin kein Ustascha, und wenn ich auch einer wär, ich würd dich nicht abschlachten, alles wird gut, Mütterchen.“ Ich bin bewaffnet, stinke nach verschossener Munition, fühle mich ungemütlich, habe ein Messer im Gürtel, ich lasse ihr eine Feldflasche mit Wasser zurück, wer weiß, ob sie bis zum Winter noch leben wird, mit gefrorenem Herzen auf einem Kissen verbrannter Heimat. Relation 1_2011.indd 257 30.4.2011. 17:53:11 258 RELA Poesie ROBERT PERIŠIĆ TIONS [1969] Die Rückkehr des Drachens Vor etwa fünfzehn Jahren meldete er sich zum ersten Mal im Karateklub an, denn er mag es nicht, wenn ihn jemand im Vorübergehen anrempelt, das geht ihm wirklich auf den Wecker, aber nach ein paar Trainingsstunden verliert er immer wieder die Lust, dann wird er faul, kommt nicht wieder, bezahlt die zweite Rate nicht mehr Alle zwei, drei Jahre versucht er es von Neuem, und so erscheint er auch diesen Oktober mit dem Kimono in einer Sporttasche, die früher mal in war Seit langem hat er einen guten Draht zum Trainer, sie sind etwa gleich alt, und der treibt ihn nicht an, reine Freizeitgestaltung, Herbstanfang Der Saal in der Vorstadt riecht nach Leere, es hallen Rufe Noch immer hat er den weißen Gürtel, vielleicht, darum ich weiß nicht, warum, bekommt er eine Sparringpartnerin, eine Kleine mit großen Titten Relation 1_2011.indd 258 Die ganze Zeit passt er auf, dass er sie nicht schlägt auf die Titten, sie aber hat ihn einmal, zweimal, dreimal wirklich was auf die Fresse gegeben Füße und Fäuste der Kleinen mit den großen Titten treffen ihn durch die Hohlorgane bis er verzichtete auf die zweite Rate 30.4.2011. 17:53:11 RELA TIONS IVICA PRTENJAČA Poesie 259 [1969] Donauwellen Es ist Samstag und meine Nachbarin verheiratet ihre Tochter. Unbekannte und fröhliche Leute erobern alle Durchgänge zu meiner Wohnungstür, nehmen alles, womit sich meine Einsamkeit nährte, das Rauschen der Schatten Gerüche, den Zufall, alles was etwas wert ist in diesem Gebäude. So wird auch sie mir genommen werden. So etwa denke ich über die Heirat meiner Nachbarin Tochter. Jemand klingelt, und im Guckloch dehnt sich ein bekanntes Gesicht. Herr Nachbar, etwas Kuchen, Donauwellen, die Großmütter brachten ... Ich sage nicht danke, schließe die Tür und halte in der Hand Relation 1_2011.indd 259 den kleinen Kristallteller, im Treppenhaus Musik, Stimmengewirr und ein Volkslied, das, da bin ich sicher, obwohl ich es nicht sehe, meiner Nachbarin Tränen in die Augen steigen lässt. Ich bringe die Wellen ins Zimmer, die Wintersonne bricht sich im Kristall, verwundert über die Schönheit der Szene, spüre ich wieder Angst Schrecken Tod ich blicke auf die Strudel der Donau, als wenn jemand sehr rasch eine Tasse schlechten Kaffees rührt, und stehe auf der Brücke und warte, dass er sich auflöst, der Zucker des Augenblicks, dass die Hochzeitsgäste in die Kirche gehen, dass die Kinder die zertretenen Bonbons auf dem Parkplatz aufsammeln. 30.4.2011. 17:53:11 260 RELA Poesie TVRTKO VUKOVIĆ TIONS [1969] Kartographie Ich lag auf einem langgestreckten bronzefarbenen Felsen. Die azurblauen Küsten meines Todeskellers Wurden besucht von winzigen Madonnen mit großen Milchigen Brüsten, während ich, der ich kein Geld hatte Für kleine süße gottgefällige Perversionen, Kohlen auslud für Arme und Reiche, Tag und Nacht an den Schlund dachte, der mich Vor dem ausgebreiteten topographischen Bild meines Gehirns verschlucken würde. Die Bisse der Großen Mutter Rochen nach schimmligem Staub, der von der Zimmerdecke auf uns fiel, Die sich enthaltenden Schüler von Körper und Tod Wahrlich, jene Jahre waren ein kartographisches Handbuch für Reisende, die nicht wussten, Wohin sie sich wenden sollten, denn das Grauen lauerte in allen schleimigen Löchern des Alls. Der eine oder andere fleckige Augenblick der Einsamkeit Wurde unterbrochen von des Trainers Ruf Oder dem Tosen der Tribünen, das den Ohren entgeht, Solange bis der Schiedsrichter das Spiel abpfeift. Ich lag auf dem Bett, Unter dem Arm wuchs mir Eine Kiefer, deren Nadeln bedeckten Die ununterbrochenen Angriffe Marias. Relation 1_2011.indd 260 30.4.2011. 17:53:11 RELA TIONS 261 Poesie ERVIN JAHIĆ [1970] Gebet Jetzt schläft in der Wiege Iman, voll des Glaubens an den Schlaf. Mirza schlich sich Unter das Haar und die Hände, nahm sich die Liebe Mamas. Aida sorgt auch im Schlaf sich Kümmert sich um alles. Ich, Wirt des Daches, betrachte sie zu später Nachtzeit und bitte den hehren Gott um Gnade Foto: © Višnja Arambašić Gegenüber Seinen Statthaltern auf Erden. Relation 1_2011.indd 261 30.4.2011. 17:53:11 262 RELA Poesie SLAĐANA BUKOVAC TIONS [1971] Die Tage, an denen wir Tabak ernteten Wir mussten so früh aufstehen, dass man sich schwer vorstellen konnte, dass es um diese Zeit die Welt überhaupt gab obwohl sich die Erde von Amts wegen um die Sonne drehte konfrontiert mit Pflanzen, die sich in ordentlichen Reihen irgendwo am Horizont verlieren fühlten wir uns wie angeschmiedet, gebrandzeichnet und außerordentlich günstig gekauft und dann verfrachtet in dieses Klima das so ungerecht ist, dass es verhinderte, dass wir flockige Baumwolle pflücken sondern stattdessen Tabak von dessen Blättern voller Teer wir schon nach einer halben Stunde klebrig und schwarz waren, bereit, uns zu federn und verbrennen zu lassen die Hitze brach wieder halbe Jahrhundertrekorde und wir konnten sie schon gar nicht mehr zählen, die geleerten Flaschen Bier wir schütteten uns Eimer voll Wasser über den Kopf manchmal zischte es als wenn man ein Schnitzel in heißes Öl legt. Nach einigen Stunden, in denen es schien als könnten wir es nicht aushalten so durchgeistigt und unnütz, befanden wir uns in einem hypnoseähnlichen Zustand bemerkten nichts mehr außer Blättern, die gelb genug sind, dass die Hand nach ihnen griff wir verneinten völlig den Schmerz im Rücken die Sonne, die keine Eile hat die Erde, die rissig geworden war und auf Regen wartete. Relation 1_2011.indd 262 30.4.2011. 17:53:11 RELA TIONS Poesie 263 Dann fuhren wir im Anhänger des Traktors zum Haus des Plantagebesitzers wo eine Mahlzeit auf uns wartete eine Suppe in einer, für diese Gelegenheit, Schüssel aus Porzellan, riesige Scheiben Brot, Fleisch, Kartoffeln, Tomaten, Gurken und wieder Bier. Nach der Auszahlung des Tagelohns schleppten wir uns mit Hilfe des Mondscheins zur Insel im Fluss wo wir sämtliche Kleider auszogen zu müde und zu vertraut für Konventionen, wir sammelten Zweige in der Umgebung für den Mais den wir nebenbei gestohlen hatten und begannen dann eine gründliche Säuberung der Teer mochte besonders die Haare am Kopf und an den Armen die sich zusammen mit ihm vom Körper lösten und dabei einen starken Schmerz hervorriefen. Nachdem alles fertig war und wir noch ein, zwei Kilometer geschwommen waren setzten wir uns nackt ums Feuer in dem die Maiskolben schon fast gebraten waren und zündeten uns jeder eine Zigarette an. Relation 1_2011.indd 263 30.4.2011. 17:53:11 264 RELA Poesie TATJANA GROMAČA TIONS [1971] Am wichtigsten ist es, Ruhe zu bewahren Als ich die Straße entlang ging, sah ich einen Typen aus dem Auto steigen mit einem Revolver in der Hand. Er steckte ihn in die Tasche seiner Trainingshose. Genau in dem Augenblick schnallte er, dass ich ihn beobachtete. Er sah mich bösartig an, so: dich werd ich auch umbringen, Schlampe. Schnell blickte ich fort. Ich tu so, als hätte ich einen Blumenstrauß gesehen, und keine richte Pistole. Am wichtigsten ist es, Ruhe zu bewahren. Im nächsten Augenblick war es mir egal. Ich wartete, dass mir die Kugel in den Rücken fliegt. Als wenn mich etwas gejuckt hätte, und sie mich nur kratzen würde. Ich blickte auf den Mond oben am Himmel. Es war Vollmond. Die Zeit war völlig O. K. zum Sterben. Ich fühlte mich irgendwie so, als ob ich abgeschlossen hätte mit meinem Leben. So ausgeglichen, gebadet und mit geputzten Zähnen, vor dem Schlafengehen. Die Leute trugen Fernseher und alte Möbel vors Haus. Eine richtige Invasion schwitzender Typen in Unterhemden und Hauslatschen, die schweigend alles auf dem Rasen abluden, all das rostige verzinkte Eisen, das verchromte Aluminium und Anderes. Relation 1_2011.indd 264 30.4.2011. 17:53:11 RELA TIONS 265 Poesie Es sah so aus, als ob auch sie mit ihrem Leben abgeschlossen hätten. Sie mussten nur noch den alten Kram aus den Wohnungen werfen, dann kann der Typ mit dem Revolver in der Trainingshose kommen, um sie alle der Reihe nach abzuknallen. Wahrscheinlich hat der Kerl Mitteilungen an die Hausverwalter verschickt Ich morde bei Ihnen zu Hause. Vor dem Tod sind alle alten Möbel aus den Wohnungen zu werfen. Foto: © Višnja Arambašić Dort hinten, beim zweiten Hochhausblock, spielen die Kids Verstecken. Sie ahnen überhaupt nicht, dass hinter mir ein Onkel mit ’ner Knarre in der Unterhose rumläuft. Wen findest du besser, Martina oder Mirela? Fragt ein Mädel ein anderes, während sie rennen, um sich zu verstecken. Ich hörte nicht, was die andere antwortete. Relation 1_2011.indd 265 30.4.2011. 17:53:11 266 RELA Poesie KREŠIMIR PINTARIĆ TIONS [1971] Was Danijel Dragojević sagte als die aufnahme fertig war, lud Dragojević uns – Krešimir Zlatko und mich – zu einer tasse kaffee ein. ich glaube es gelang mir relativ normal auszusehen obwohl ich ausgesprochen nervös war und gründlich unausgeschlafen. mit anderen worten: vollkommen unfähig für irgendein gespräch. ich hoffte dass das als schweigsamkeit ausgelegt würde und nicht als unhöflichkeit. als ich nach hause zurückgekommen war legte ich mich sofort ins bett. trotz müdigkeit konnte ich nicht einschlafen. ununterbrochen erinnerte ich mich an teile des gesprächs. nach einiger zeit gab ich es auf: ich erhob mich setzte mich an den tisch und beschloss aufzuschreiben was Danijel Dragojević gesagt hatte. er sagte ein kluger mensch hat keine angst vor dummheit. er sagte die angst vor dummheit ist immer größer in kleineren orten. Relation 1_2011.indd 266 30.4.2011. 17:53:11 RELA TIONS Poesie 267 er sagte es ist am schwierigsten ein gedicht zu schreiben das jeder schreiben könnte. er sagte in den meisten texten unserer autoren fehlt die wirklichkeit und das rührt daher weil es in diesen gegenden sehr wenig davon gibt. er sagte es ist ganz normal dass man langeweile empfindet wenn man beginnt literaturkritik zu lesen. er sagte erfolg ist nicht etwas wonach wir streben sollten sagte er. in einem moment spürte ich dass ich einschlafen könnte also ging ich zurück ins bett. ich schloss die augen und sah Dragojević Krešimir Zlatko und mich am tisch sitzen: sie sehen aus wie drei normale personen die sich unterhalten und kaffee trinken auch ich trinke meinen kaffee und rauche – eine nach der anderen – Zlatkos zigaretten. dann fiel mir das interview ein das Peter Bogdanovich mit John Ford aufgenommen hatte und ich lachte lautlos. danach verschwand das bild allmählich und kurz bevor ich einschlief hörte ich eine bekannte stimme die sagte Danijel du bist zu geduld verurteilt. Relation 1_2011.indd 267 30.4.2011. 17:53:11 268 RELA Poesie EVELINA RUDAN TIONS [1971] Ich backe Brot Jeden Tag backe ich Brot. Zuerst knete ich es durch und beobachte, wie meine Hände im Mehl versinken, im Mehl und im Wasser. An meinen Nägeln, an ihrer Innenseite, entsteht während des Knetens, Quetschens und wieder Knetens ein dünner Teigrand. Der dünne Teigrand, einem winzigen, schmalen Halbmond ähnelnd, presst sich zwischen Nägel und Haut und wohnt dort, bis ich sie wasche. Ich habe begonnen, diese Zeit zu verlängern, die Zeit zwischen dem Kneten und dem Händewaschen: ich setze mich an den Tisch, während der Teig aufgeht, und warte. Dann knete ich ihn wieder und warte wieder und fette die Form ein und lege ihn hinein und schiebe ihn in den Backofen. Und noch kratze ich das getrocknete dünne Rändchen nicht ab. Ich kratze es nicht ab, denn es erinnert sich an mich. Es erinnert sich an mich, so wie angeblich das Wasser sich erinnert, so wie der Morgen sich erinnert, so wie die duftenden Kräuter sich erinnern, auf denen ich lag, bedeckt mit einer blauen Jacke. Relation 1_2011.indd 268 30.4.2011. 17:53:11 RELA TIONS TOMISLAV ZAJEC Poesie 269 [1972] das lied von žana das lied von žana ist ein trauriges lied, denn žana ist ein trauriges mädchen. sie lebt mit einer pistole unter dem kopfkissen und hat angst vor tropenmäusen. die vororte südafrikas können gefährlich sein – schreibt sie mir in briefen, in denen ich weder anfang noch ende erkenne. ihre aufzeichnungen sprechen von trauer und einsamkeit und dass ihr als kleines mädchen nur figuren aus sand gefielen. žana ist missionarin in afrika, oder sagte ich das schon? sie heilte pablo, sie half müden soldaten, sie tränkte gazellen und schrieb lange briefe, länger als zagorkas romane. und als tolstois. briefe, so traurig wie zerstörte kirchen in addis abeba, halb versiegte tränken für nilpferde, ein leeres erste-hilfe-schränkchen. žana, ich werde dir gaze schicken ... o, wenn du nur wüsstest, wie die nächte in afrika fließen und wie die sonne unendlich lange untergeht und wie ihr widerschein tagelang auf den gesichtern meiner kleinen schwarzen andauert, wenn du nur wüsstest, wie. danach blieb alles still, danach regnete es bei uns viel, während in der steppe trockenheit und tiersterben herrschten. da dachte ich, sie sei gestorben, als sie den grauen zebralein ihre letzte feldflasche wasser gab, die fleischfressenden pflanzen umarmte. und alles erledigten wir, ihre schwestern und ich. die messe und die schnittchen – wie das schon so geht. aber dann kam noch ein brief – lieber tomo, wieder bin ich traurig, blablabla ... oh. und in jenem augenblick wusste ich, dass alles in bester ordnung ist. fast unverschämt super. GERADEZU PHANTASTISCH! Relation 1_2011.indd 269 30.4.2011. 17:53:12 270 RELA Poesie DORTA JAGIĆ TIONS [1974] Weibliche Schreibe es wurde allmählich zeit, meiner braunen freundin den schirm zurückzugeben, leider ungelesen. ich rief sie an, ging dann in den Maksimir und setzte mich auf jemandes träne. während ich auf sie wartete, ließ ich mir durch die löchrigen lider ihre bleiernen tittchen reisen, die ich mir an allerseelen unter die zunge ordne, damit sie mir im laufe des jahres nicht hölzern ist. schließlich ist auch sie gekommen. ungeschminkt und ganz wie eine geröstete kastanie. beim zeichen des ersten stares zogen wir rasierklingen unserer kerle aus der tasche und ritzten uns plaudernd ins handgelenk. bis zum morgengrauen. mit den fingern schrieben wir aufs morgengrauen: um zu spüren, dass ich lebendig bin, und schliefen ein. am morgen stieg aus der sonne so kalt der rauch in die kleinen häuser der psychiatrie, dass wir auch jetzt schwarze streifen über die augen kleben, voir selbstmörder in den zeitungen, bibeln. Relation 1_2011.indd 270 30.4.2011. 17:53:12 RELA TIONS OLJA SAVIČEVIĆ IVANČEVIĆ Poesie 271 [1974] *** es ist sonntag, und sie kommt. die oma aus der stadt. sie hat einen goldzahn. sie hat ein schönes kleid. sie hat weiches haar. duftendes. sie hat einen spitzigen büstenhalter. sie hat durchsichtige strümpfe. alle sagen: deine oma ist eine schönheit. das erste mal heiratete sie mit siebzehn, das zweite mit sechsundzwanzig. ich höre das erste klappern des absatzes auf der treppe. und dann flink über die vierzig stufen unseres hauses. nie sage ich zu ihr: ich mag nicht. ich mag es, wenn man mir sagt: du hast omas lächeln. und ein muttermal auf der rechten wange. *** es ist altweibersommer, ich trage meine tochter in den park. ihre füße hängen schon unter meinen knien, aber ich gebe nicht auf. wir gehen nach sustipan, zum alten friedhof, eichhörnchen suchen. wenn ich müde werde, lasse ich sie runter, sie lief auch früher schneller als ich. ich vergöttere diese tochter, ihr seidenköpfchen, die fülle an kindheit, die straßen breiter als die, in denen ich rennend aufwuchs, die welt mit mehr bewegungsfreiheit, eine reichere. der altweibersommer beginnt mit einer langen reihe von nachmittagen vollgestopft mit zeit für uns. die gemeinsamen jahre erstrecken sich träge unter meinen Knien. erlaube mir, dich zu tragen, bis du den boden berührst. du bist zweifellos die schönste. Relation 1_2011.indd 271 30.4.2011. 17:53:12 272 RELA Poesie BOJAN RADAŠINOVIĆ TIONS [1975] *** mein vater hieß marko und er starb 1982 ich ging mit meiner mutter ein paar mal zu seinem grab und sie wollte es mir so leicht wie möglich machen wir hatten einen ocker renault 12 und aßen spanferkel in lasinja von allem erinnere ich mich am deutlichsten an den orthodoxen friedhof mit kyrillischen inschriften und äpfeln auf den grabmalen und den mit gras überwucherten grabhügeln auf die wir hingewiesen wurden es seien gräber die verwandte zeigte mir fotografien meines toten vaters und des leichenschmauses und meine mutter ärgerte sich über sie weil sie mich aufregte der fußboden im haus bestand aus gestampfter erde vaters mutter hatte merkwürdige zähne und sprach merkwürdig den teller trug sie mit beiden händen und ging langsam dabei Relation 1_2011.indd 272 30.4.2011. 17:53:12 RELA TIONS BOJAN ŽIŽOVIĆ Poesie 273 [1975] Der Freund aus Sarajevo Ich habe einen Freund in Sarajevo Igor Banjac Wir treffen uns selten Und sehen uns noch seltener Ich schulde ihm einen Kasten Bier Ich erinnere mich an seine Erzählung Gedenkzentrum Miljenko Jergović Eine sehr gute Erzählung Einmal bewirtete mich Igor In Sarajevo Bei einem literarischen Empfang Damals lernte ich auch seine Frau Fernala kennen Mit der ich nichts hatte Igor führte mich ins Baybook Um mir zu zeigen dass Sarajevo eine Buchhandlung hat In der man trinken kann Ich hoffe dass man das noch immer kann Wir gingen auch Ćevapi essen Tranken türkischen Kaffee Sprachen über kluge Dinge Darüber wie ich in Pula lebe Und er in Sarajevo Und wie groß die Entfernung zwischen den beiden Städten ist Luftlinie Igor sagte mir es gäbe einen Morgenzug Nach Zagreb Er fährt morgens Vom Hauptbahnhof ab Der Morgen in Sarajevo überraschte mich Und dann betranken wir uns Er kam zu schnell Ich blieb im Bett Dann schrieb Igor für die Zeitschrift Žiža verpasste den Zug Ich wollte ihm sagen dass man mich Žižo nennt Und nicht Žiža Aber ich brachte es nicht übers Herz Relation 1_2011.indd 273 30.4.2011. 17:53:12 274 RELA Poesie TIONS Poetisches Treffen in Bijelo Polje In Bijelo Polje In Montenegro War ein poetisches Treffen Du setzt dich ins Flugzeug in Ljubljana Steigst aus in Podgorica Zum ersten Mal reist du mit dem Flugzeug Also weißt du nicht wo du dein Gepäck abholst Läufst über die Piste He, wohin Ruft der Gendarm mit dem Maschinengewehr in der Hand Mein Gepäck holen Komm, da rein Da ist das Gepäck Du nimmst die Tasche Die Sporttasche Die richtig poetische Verlässt den Flughafen Und wartest Dann erscheint Goran Und stellt sich vor Du setzt dich ins Auto das er fährt Er fährt als wäre er bei einer Rallye Zweihundert Stundenkilometer Du hältst in einer Straßenkneipe Trinkst ein Bier Dann ein zweites und das dritte halb ......... und fährst weiter Zweihundert Stundenkilometer Eine Kurve nach der anderen Du denkst, ein Flugzeug ist besser als der alte Golf Vielleicht auch nicht Die Tafel der Stadt Bijelo Polje Endlich Und in der Stadt wohnt Bürgermeister Tarzan Er reicht dir die Hand Tarzan Milošević Aber nicht jener Milošević Und lacht Relation 1_2011.indd 274 30.4.2011. 17:53:12 RELA TIONS SAŠKA ROJC Poesie 275 [1977] Das kleine Mädchen, das sie befummeln Foto: © Višnja Arambašić ihr alle seid in der pubertät während des sommers gewachsen. nur die jungen und ich sind kinder geblieben. warum springen die jungen auf euch herum wie die irren, drei, vier auf eine? warum schimpft ihr und kreischt, macht manchmal ein weinerliches gesicht, sagt es aber nie der klassenlehrerin oder pädagogin? ich werde sie bei der pädagogin verpetzen. ich werde sie verpetzen, alle werde ich sie verpetzen! sie wird denken, dass ich auch ein kleines mädchen bin. das sie befummeln. jeden abend werde ich mein ganzes wachsen auf die titten richten. Relation 1_2011.indd 275 30.4.2011. 17:53:12 276 RELA Poesie IGOR ŠTIKS TIONS [1977] Die Anlegestelle Die Überschwemmung ist dir nachgelaufen Du sahst, wie sie an einem trüben Frühlingstag in das schöne haussmannsche fünfstöckige Gebäude auf dem Boulevard Saint-Michel drang Du riefst den Leuten zu, sie sollten sich in Sicherheit bringen, sie wäre da sie sollten Sand in Säcke füllen, sie sollten sofort auf die Dächer steigen und in Richtung Pont Mirabeau blicken, von der sich Celan hinunterwarf mit Erinnerungen aus der Bukowina statt mit Steinen in der Tasche Du verbreitetest Panik, deine Stimme auf Französisch klang, als gehöre sie nicht dir, aber du fuhrst fort wirr zu reden Später wurdest du mit Pastis und feuchten Tüchern beruhigt Ein Mädchen aus dem Komitee zum Schutze mündlicher Überlieferung hielt deinen Kopf zwischen ihren Händen und erzählte dir Geschichten von bretonischen Nächten, bis du einschliefst Dabei warst du dir der Wellen nicht bewusst, die unermüdlich auch an diesem Ufer nagen. Etwas Ähnliches ereignete sich mitten in einer Nacht in Chicago Du hörtest die Feuerwehr Du hörtest das Zivilschutzauto Der Michigan-See schaukelte gefährlich Die Sirenen waren bis weit zu hören, bis zu den gelben Feldern von Midwest und der Lutherkirche auf dem Berg in Iowa Du wusstest, dass jemandem das Wasser bis zum Hals steht, Relation 1_2011.indd 276 30.4.2011. 17:53:12 RELA TIONS Poesie 277 aber du schliefst ruhig weiter auf dem höchsten Stockwerk Du wusstest, dass du noch einige Tage Zeit hast und riefst nicht 911 an du wolltest niemanden retten wie damals in Paris Das W