rela tions - Hrvatsko Društvo Pisaca

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TIONS
Inhalt
1
RELATIONS
Literarisches Magazin
Zeitschrift der Kroatischen
Schriftstellervereinigung
1-2/2011
Einführung
Herausgeber
DOSSIER: ZDRAVKO ZIMA
Kroatische Schriftstellervereinigung
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Zdravko Zima: Essays
Venedig als Atlantis
Redaktion
[Chefredakteur]
Roman Simić Bodrožić
[Redakteurin]
Jadranka Pintarić
Lektur / Korrektur
Marijana Miličević Hrvić
............................................................................................................................................................................
Die Sonne ging zweimal unter
Professor des Leidens
Tel.: (+385 1) 48 76 463
Fax: (+385 1) 48 70 186
www.hdpisaca.org
[email protected]
10
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13
Das Leben mit einem Kadaver
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17
Metropole und Nekropole
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20
Das Laster des Schreibens
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26
Die rote Jungfrau
Doppelleben
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29
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32
Freud und Krleža oder das Leben mit dem Torso
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43
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Der Essay als Roman, der Roman als Essay
Zdravko Zima: Kolumnen
Ein gewisser Herr Baudelaire
Van Gogh lebt
Preis 15 €
Der Hohepriester aus Montreal
Umschlag
Auf den Wellen der Ewigkeit
„Crtaona“
Meister Radovan
Prepress
Wie die Bohnenranke im Märchen
Krešo Turčinović
Gedruckt in Kroatien bei
„Profil“, Zagreb
ISSN 1334-6768
Die Zeitschrift wird vom Kultusministerium der Republik Kroatien
und vom städtischen Fond der Stadt
Zagreb finanziell unterstützt.
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Der Jäger im Labyrinth
Redaktionsadresse
Kroatische Schriftstellervereinigung
Basaričekova 24
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49
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52
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[Historische Hintergründe im Roman Einübung des Lebens]
Das Leben als Marathon
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Mysterium des Todes in Desnicas Prosawerk
Babaja war eine Insel
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Doktor Sonne aus Agram
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Ein Bariton für die Ewigkeit
Neue Töne
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Zdravko Zima: Tagebücher
Die Geschichte von Gabriel [Nachtschwarze Agenda]
............................................................................
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Inhalt
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Zdravko Zima: Feuilletons
Noch ist es Nacht, August
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100
Ein Traum namens Gimignano
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104
Der Gondoliere auf der Moldau
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106
Ich habe Esterházy besiegt
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108
Ein Requiem für Komiža
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110
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112
Edita Majićs Fühler
Der Löwe in der Falle
Das Theorem der Liebe
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114
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116
Zdravko Zima: Kritiken
Die Orthographie der Insel
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Der Traum von Havels Mutter
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121
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124
Der als Bettler verkleidete Prinz
Pessoa oder Die Suche nach sich selbst
Der Bote des unreinen Gewissens
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127
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130
Kroaten in den Augen eines Ungarn
Jeder ist seine eigene Insel
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133
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137
Der große Schamane und der kleine Staubwischer
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140
Berührungen, Berührungen .............................................................................................................................................................................................................
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ESSAY
Andrea Zlatar
1960er, 1970er, 1980er
Nenad Popović
Schattenwelt [Auszug] ............................................................................................................................................................................................................................
158
Igor Duda
Der gefundene Wohlstand
Alltag und Konsumkultur in Kroatien der 1970er und 1980er Jahre ..................................................................................................
168
PROSA
Spiegelverkehrte Liebhaber [Jadranka Pintarić] ...............................................................................................................................................................
185
Mirjana Dugandžija
Ein paar Tage im August ...................................................................................................................................................................................................................
186
Drago Glamuzina
Drei [Romanauszug] .................................................................................................................................................................................................................................
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Inhalt
POESIE
Damir Šodan
Was ist in Wirklichkeit „wirklichkeitsbezogene“ Poesie? .......................................................................................................................................
215
Dalibor Cvitan: Das gespreizte Foto [224]; Der chinesische Pavillon [224] • Danijel Dragojević: Im Wartesaal des
Bahnhofs [226]; In den Park gehen [226] • Arsen Dedić: Ein literarisches Abendessen [228]; Eine Liste unliebsamer
Ereignisse, Begriffe, Personen und Dinge, die mit Musik zu tun haben [228] • Boris Maruna: The New Left [230]; Das
Ende des 2. Weltkriegs in Westwood [231] • Jozefina Dautbegović: Flüchtlingslied [234]; Liebe in Sarajevo [235] • Mile
Stojić: Der Weg über Kreševo [236] • Vojo Šindolić: Feedback [237] • Branko Čegec: Sexualitäts- und Schlammlandschaften [238] • Miroslav Mićanović: job (die kroatische poesie der neunziger) [239] • Delimir Rešicki: Ansteckung [240]
• Miloš Đurđević: Seekrank [241] • Krešimir Bagić: Der Markt in Dubrava [242]; Der Hof meiner Mutter [243] • Boris
Dežulović: Meine Heimat [245] • Predrag Lucić: Simonides, König von Pentapolis [246] • Miroslav Kirin: Es ist
früh am Morgen, als eine nackte Frau auf dem Küchenboden kniet und betet [248] • Irena Matijašević: Der
Schornsteinfeger [249] • Miljenko Jergović: Ein Mensch singt nach dem Krieg [251] • Simo Mraović: *** [252] • Damir
Radić: März 1944, japanisches Lager australischer Gefangener [253] • Drago Glamuzina: Frösche [254] • Tomica
Bajsić: Kardinal Kuharić am Telefon 9827 [255] • Tomislav Čadež: Unterwegs nach Perjasica [257] • Robert Perišić:
Die Rückkehr des Drachens [258] • Ivica Prtenjača: Donauwellen [259] • Tvrtko Vuković: Kartographie [260] • Ervin
Jahić: Gebet [261] • Slađana Bukovac: Die Tage, an denen wir Tabak ernteten [262] • Tatjana Gromača: Am wichtigsten
ist es, Ruhe zu bewahren [264] • Krešimir Pintarić: Was Danijel Dragojević sagte [266] • Evelina Rudan: Ich backe
Brot [268] • Tomislav Zajec: das lied von žana [269] • Dorta Jagić: Weibliche Schreibe [270] • Olja Savičević Ivančević:
*** [271]; *** [271] • Bojan Radašinović: *** [272] • Bojan Žižović: Der Freund aus Sarajevo [273]; Poetisches Treffen in
Bijelo Polje [274] • Saška Rojc: Das kleine Mädchen, das sie befummeln [275] • Igor Štiks: Die Anlegestelle [276] • Vlado
Bulić: 009 [279] • Antonija Novaković: pontius pilatus geht in die billa und kauft [280] • Ivana Simić Bodrožić: Hotel
„Dunav“ [281]; Zimmer [282] • Marko Pogačar: Every woman adores a fascist (an die verschlafenen Hausfrauen) [283]
Višnja Arambašić
Fotografien
[Seite: 16, 38, 45, 48, 51, 55, 58, 75, 81, 87, 99, 103, 118, 136, 144, 157, 184, 197, 214, 225, 241, 244, 250, 252, 256, 261, 265, 275, 281]
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Einführung
Sehr geehrter Leser,
vor dir liegt eine Doppelausgabe der
Zeitschrift Relations, die wir – zum
größten Teil und völlig zu Recht
– dem kroatischen Essay widmen.
Zdravko Zima ist einer unserer geachtetsten und vielseitigsten Essayisten und wir haben versucht, die
ganze Bandbreite seiner Interessen
und Einsichten, die Geschicklichkeit und Schärfe seiner Feder mit
einer Auswahl von Texten vorzustellen: Essays, Literaturkritiken, Rezensionen, Feuilltons, Tagebucheinträge... Neben Zimas Texten haben
wir auch Auszüge aus den ausgezeichneten neuen Werken von Andreja Zlatar Wörterbuch des Körpers,
Nenad Popović Eine Welt im Schatten und Igor Duda Gefundener Wohlstand. Und während Zlatar eine Reihe von Begriffen, die mit dem Körper
zu tun haben, anspricht und erläutert (Berührung, Anziehungskraft,
Abneigung, Alter, Krankheit, Ver-
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gewaltigung...) sind die Texte von
Popović und Duda ebenfalls in gewisser Weise Wörterbücher – solche,
die uns mit unseren, jedoch vergangenen, Welten und mit Begriffen/
Gegenständen/Realitäten, aus denen
sie bestanden, bekannt machen – von
der Schattenwelt der jugoslawischen
„Gastarbajter“ aus den sechziger Jahren bis zu jener, in der wir in Kroatien
gelebt haben, was wir uns in den siebziger und achtziger jahren des vergangenen Jahrhunderts gewünscht (und
gekauft) haben.
Im Prosablock Spiegelverkehrte Liebhaber stellen wir zwei intrigante Romane vor, die – einer aus der weiblichen, der andere aus der männlichen Perspektive – offen von Ehebruch (und Liebe), Lust (und Zärtlichkeit), einem Liebesdreieck (immer einem Dreieck), ehelicher Treue
und Untreue (unter anderem) erzählen. Drei von Drago Glamuzina hat
den Preis des T-Portals für den bes-
ten Roman im Jahr 2008 erhalten
und Ein paar Tage im August von
Mirjana Dugandžija (2010) ausgezeichnete Kritiken und die Zuneigung der Leser.
Deise Doppelausgabe der Zeitschrift
Relations beenden wir mit einer Auswahl aus der Poesie-Anthologie, die
der Dichter, Übersetzer und Kritiker
Damir Šodan der kroatischen „wirklichkeitsbezogenen“ Poesie gewidmet hat – dem oftmals gelobten und
ebenso oft abgelehnten Zweig der
einheimischen Poesie, der in diesem
Buch zum ersten Mal seine (gleich
wie bedingte/schlaue/weiche) Definition, Genesis und vielleicht auch
seinen Kanon bekommen hat.
Fotografien in den Pausen, keineswegs
Pausen: by Višnja Arambašić.
Redaktion
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Marijana Miličević Hrvić
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ZDRAVKO ZIMA wurde 1948 in Malinska auf der Insel Krk geboren. An der
Philosophischen Fakultät in Zagreb machte er sein Diplom im Studium der
südslawischen Sprachen und Litertur (heutige Kroatistik) und absolvierte
das Studium der Soziologie. Der Universitätsprofessor und Krleža-Experte
Stanko Lasić, über dessen Studie „Konflikt an der literarischen Linken“
(1970) Zima seinen Debüttext veröffentlichte, formte ihn entscheidend.
In dem Versuch in seiner Arbeit die Glaubwürdigkeit literarischer Tatsachen mit einer Mediengesetzen entsprechenden Einfachheit zu verbinden, legitimierte er sich auch als Nachfolger von Hergešić. Über diesen
Aspekt seiner Arbeit äußerten sich der Germanist Dragutin Horvat und
der Talianist Tonko Maroević. Eine Hommage an den Zagreber Begründer
des Studiums der vergleichenden Literaturwissenschaften stellte sein
Buch „Zvjezdana prašina“ dar, das den Untertitel „literarische Porträts“
in Anlehnung an Hergešić trägt. Seine Kritiken, Feuillletons, Essays und andere Arbeiten wurden in allen führenden
kroatischen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht („Omladinski tjednik“, „Studentski list“, „Vjesnik“, „Slobodna Dalmacija“, „Forum“, „Quorum“, „Kolo“, „Republika“, „15 dana“). Er war Chefredakteur des Wochenmagazins
„Danas“ und der Zeitschriften „Bridge“ (Zeitschrift zur Förderung der kroatischen Literatur im Ausland), „Lettre
Internationale“ und „Cicero“. In den letzten zehn Jahren wirkt er als Kolumnist und Literaturkritiker der Tageszeitung
„Novi list“ aus Rijeka.
Seine Essays sind in mehreren Anthologien in Kroatisch und anderen Sprachen vertreten. Bis jetzt veröffentlichte
er die Bücher Noćna strana uma (1990), Zvjezdana prašina (1992), Zagreb je kriv za sve (1993), Purgeri u purgatoriju (1995), Porok pisanja (2000), Zimsko ljetovanje (2001), Močvara (2002), Prikazi, prikaze (2003), Gondolijer na
Vltavi (2004), Metak u petak (2005), Lovac u labirintu (2006), Život je tabloid (2007), Bordel u plamenu (2009). Eine
Essaysammlung sowie ein Buch mit Tagebuchbeobachtungen sind in Vorbereitung.
Für seine Arbeit erhielt er zahlreiche Auszeichnungen (Preis der Zeitschrift „Gratis“, „Julije Benešić“, „Kiklop“,
„M. J. Zagorka“, „Goranova nagrada“).
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Venedig als Atlantis
Zdravko Zima
E
benso wie es eine Seekrankheit
gibt, die auf langen Reisen die
Reisenden befällt, kann man sagen,
dass es eine „Venedigkrankheit“ gibt.
Sie ist keine Einbildung oder ist es in
jenem Maße, in dem auch Venedig
eine Einbildung ist. Emile Cioran
fühlte sich in keiner Stadt besonders
wohl – vielleicht weil er sich nicht
in seiner eigenen Haut wohl fühlte
– aber er kam zu dem Schluss, dass
Venedig keine Realität sei und dass
es sich um eine Stadt handle, die aus
Unendlichkeit, Zweifel und Traum
gewebt ist. In gleichem Ton schrieb
Joseph Brodsky seine Prosa Das Wasserzeichen; er vermied Allgemeinplätze über einen der geheimnisvollsten
Topoi der europäischen Zivilisation,
vermeid es aber auch, in der Sommersaison Venedig zu besuchen, wenn
die üblichen Vorstellungen über die
Stadt durch Touristenanstürme vervielfacht werden.
Ebenso wie der Gegenstand seiner
Obsession eine Stadt ist, die zwischen
Wirklichkeit und Einbildung schaukelt, die sich an die Realität wendet,
um sie auf ihre Art zu demantieren,
so entrückt auch seine Prosa der Eindeutigkeit aller Definitionen. Sie ist
Tagebuch und Beichte, aber vor allen
Dingen ein Rückblick in dem Sinne,
in dem Venedig der Spiegel ist, den
der Dichter vor sein Gesicht stellte.
Als Kind des Nordens findet Brodsky
in Venedig das so benötigte Gegengewicht, die Verwirklichung ehemaliger Illusionen, die durch die Grau-
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samkeit einer Gegend und eines Regimes vergrößert sind, aber ebenso
findet er darin einen Reflex von St.
Petersburg. Er ist Kenner und Neugieriger, der das gleiche Recht der
Erfahrung aus Büchern und dem
individuellen Gefühl zuspricht. Deshalb würden zu seiner Prosa, trotz
aller Interventionen der Vernunft,
als Motto Ryūnosukes Worte passen, auf die sich Brodsky ausdrücklich beruft: „Alles, was ich habe, sind
Nerven.“ Im Wasser entdeckt der
Schriftsteller die Metapher der Zeit,
den Ausgangspunkt des Lebens, sogar einer gewissen Reinigung, trotz
des Salto Mortale der Zivilisation
und der Tatsache, dass das Wasser
in Venedig gleichbedeutend mit einer Kloake wurde. Da vor uns das
Buch eines eingeschworenen Individualisten liegt, der seine Neigungen
nicht verbirgt, sondern sie sogar potenziert, wäre es nicht klug, mit seinen Thesen, Sympathien und Antipathien gegenüber Wagner, Tschaikowski, Thomas Mann oder Visconti
zu streiten.
Es ist nicht leicht, der Versuchung zu
widerstehen, deshalb können wir trotz
des schwer absprechbaren Charmes
seiner venezianischen Reisenotizen
wenigstens in einem nicht mit Brodsky übereinstimmen. Die Behauptung, dass man in Venedig schwer
das Opfer eines Albtraumes werden
kann (obwohl es eine Stadt am Meer
ist!) ist fast die Folge einer touristischen Vision, eines wallfahrerischen
Bedürfnisses nach Faszination und
der Tatsache, dass ein Reisender, der
nur das nötige Gepäck dabei hat, sein
wirkliches Bündel zu Hause lässt. Die
Behauptung des Autors steht im Gegensatz zu Manns Idee, die in seiner
namhaften Novelle ausgedrückt ist,
für die der russische Dichter und
amerikanische Erzähler keine übertriebenen Lobesworte fand und die
von den Thesen ausgeht, dass Venedig aus übernatürlicher Schönheit gewebt ist, dass die Stadt ihren
Höhepunkt erreicht hat, ebenso wie
unser Kontinent, und dass sie gerade deswegen zum Verfall verurteilt
ist. Vielleicht entspringt die Faszination mit Venedig der Schönheit,
die jenen Punkt der Vollständigkeit
erreicht hat, der die Stadt zwecklos
macht und gerade der Mangel an
Zweckdienlichkeit ist die Erkenntnis zu der ein Schriftsteller gelangt,
und jeder der das Bewusstsein von
seiner Mission bewahrt, nachdem er
jahrelang mit ein und derselben Arbeit beschäftigt ist. Die Lagunenstadt
würde sicherlich nicht mit solch einer Kraft wirken, wenn sich ihr Besucher, während er diese Schönheit
aufsaugt, nicht ihrer Baufälligkeit bewusst wäre. Venedig ist ein Mysterium und das Spiegelbild der verborgensten Sehnsüchte des Menschen.
Deshalb ist es ein Prüfstein für jeden
leidenschaftlichen Pilger, der seine
Zerbrechlichkeit der Zerbrechlichkeit des menschlichen Schicksals gegenübersetzt.
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So spazierte auch Brodsky, indem er
durch diese Stadt ausschließlich während der Wintermonate spazierte, in
sein Selbstportät.
Das ist der Wendepunkt, an dem
sonnenklar wird, dass der Neugierige, der, der befreit ist von touristischen Stereotypen, in andere Städte
reist oder ins Ausland, um sich selbst
und sein tief liegendes Innland zu
entdecken.
Sage mir, welche Städte du magst
und ich zeichne dir dein Psychogramm! Brodsky ist ein Hyperboräer,
ein Dichter einer zweifach-dreifach,
jüdisch-russisch-amerikanischen Zugehörigkeit, geboren in LeningradSt. Petersburg, Universitätsprofessor
mit einem amerikanischen Reisepass,
der siebzehn Jahre hintereinander
nach Venedig reist, um immer wieder aufs Neue fasziniert zu sein vom
Wasser, der Adria und den Lagunen,
die ihn, getränkt vom Grau und vom
Geschmack der Unwirklichkeit, an
seine Geburtsstadt erinnern.
St. Petersburg ist scheinbar eine Stadt
der Kälte, in dem gleichen Maße, in
dem Venedig eine Stadt der Wärme
ist; der Zauber des Wassers als erfrischende Substanz verbindet sie,
die Brodsky mit einer Weltraumuhr
identifiziert hat. Venedig, die Stadt
an der Grenzscheide zweier Welten,
der romanischen und slawischen, der
des Apennin und des Balkan, mit der
Adria als Bindegewebe ist der südliche Zwilling von St. Petersburg, der
Stadt an der Neva, in russisch-finnischem Griff und baltischer Umrandung. Brodskys St. Petersburg, ebenso wie sein Venedig sind am wenigsten die Städte von den Werbetafeln,
sondern so viel eher Oasen und Welten, die die Größe der Vergangenheit
mit sich tragen, die bis zu dem Maße
sedimentiert ist, in der Grenzen verwischt werden und die Zeitlosigkeit
als einzige authentische Zeit beginnt.
Man könnte sagen, um sich einer
billigen Psychoanalyse zu bedienen,
dass Venedig jene inspiriert, die ein
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Dossier: Zdravko Zima
unreines Gewissen haben, die sich
nicht ihres Vorlebens entledigt haben und die in der abenddämmerlichen Verwandschaft mit seinen Veduten die eigenen Wunden lindern.
So wie Andrei Bely im Roman St. Petersburg die Grenzen zwischen Poesie
und Prosa relativisiert hat, so ist im
Wasserzeichen, dem Werk eines prädestinierten Dichters, die prosische
Faktur durch dichterischen Vortext
verdünnt.
Belys St. Petersburg ist die Verkörperung von geometrischer Harmonie
und dem Aufstieg der Zivilisation,
die die Wirbelwinde der Revolution und der kommenden Weltkriege
auslöschen werden. St. Petersburg ist
und ist nicht: Es hat den Anschein
einer Illusion, schreibt Bely, denn es
wird unter den historischen Stürmen,
deren Duft in der Luft hängt, zusammenfallen. Venedig, an das sich ein
amerikanischer St. Petersburger, Joseph Brodsky, wendet, ist ebenfalls
aus spiegelnder Symmetrie gewebt,
die solche Ausmaße besitzt, dass sie
unwirklich erscheint. Es ist nicht
ohne Bedeutung, dass Belys Roman
1914 entstand, in der Zeit der schweren europäischen Agonie und dass
fast gleichzeitig, 1911, ein anderer
Bote der Dekadenz, Thomas Mann,
den Tod in Venedig schrieb. Manns
Novelle trägt den Geist von Müdigkeit und Sterben in sich und antizipierte das Klima des Ersten Weltkrieges, so wie Brodskys venezianische
Prosa während der Balkankrise veröffentlicht wurde, die, einigen Prognosen zufolge, die Einleitung in eine
neue Katastrophe zu sein hatte.
Obwohlt Manns und Brodskys Helden nach Venedig kommen, getragen von einer schwer zu stillenden
Leidenschaft nach Reisen, obwohl
Manns Prosa heute fast nicht lesbar
ist, ohne dass man in ihr die Ankündigung eines großen europäischen
Dramas erkennt, hat Brodsky keine
besondere Meinung von dieser Novelle. Von ihr hielt auch Henry Mil-
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ler nicht übertrieben viel, doch es ist
interessant, dass Brodsky im wässernen Spiegel Venedigs das Schicksal
von Atlantis sieht, das Schicksal einer
Welt, die so sehr mit ihrer Schönheit
beschäftigt ist, dass sie früher oder
später in ihr versinkt.
Wir sind Venzianer der Definiton
nach, behauptet der russisch-amerikanische Gedichteschreiber, denn in
den Spiegelbildern der unterschiedlichen Gewässer, der adriatischen oder
baltischen, die das gleiche sind wie
die Zeit, identifizieren wir unsere
Spiegelbilder, unsere Jugend und unser Alter, nach allem in einem Punkt
zusammengeschmolzen. Brodsky war
bis zu dem Maße in die Serenissima
verliebt, dass er zum Schluss kam,
dass man in dieser Stadt nicht auf
natürliche Art sterben könne, also
wäre es für einen baltischen Neuankömmling, wenn er ohne einen Pfennig darsteht, das beste, eine Browning zu kaufen und Selbstmord zu
begehen.
Außer tausender bekannter und weniger bekannter Venezianer starben
in dieser Stadt Marin Držić, Richard
Wagner und viele andere. Von Držić
könnte man noch annehmen, dass er
keines natürlichen Todes gestorben
ist, aber Brodsky hatte offensichtlich
nicht einmal von ihm gehört (ebenso wie im 19. Jahrhundert Nemčić
nichts von Držić wusste, obwohl er
in seinen Reisenotizen die Kirche erwähnt, in der der berühmte Bürger
Dubrovniks beigesetzt liegt) und gegen Wagner war er allergisch genug,
dass ihm sein Leben und sein Tod
überhaupt irgendwas bedeuteten. Der
russische Dichter und amerikanische
Erzähler war so sehr von der venezianischen Schönheit eingenommen,
dass es ihm scheint, dass dort auch
die Krankheit ihr objektives Gewicht
verliert. Trotz ihres Glanzes oder gerade wegen ihm, spiegelt sich im
Sfumato dieser Stadt, in den Labyrinten ihrer Lagunen die Krankheit
klarer als anderswo. Der erwähnte
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Antun Nemčić Gostovinski, ein niederer Adeliger und leidenschaftlicher
Reisender, erkrankte ein paar Jahre
nach seinem Aufenthalt in Venedig
an Cholera und starb; in Manns berühmter Novelle, trotz Aschenbachs
bösem Geschick, ist Venedig nicht
nur das Asyl der „Schöngeistigen“
aus aller Herren Länder, sondern
auch der Raum von Fäulnis und
Brutstätte der Pest, auch Brodsky
selbst, der sich selten von seinen Nitroglyzerintabletten trennte, musste
einen seiner venezianischen Winterurlaube unterbrechen, um sein Herz
zu retten und um, nach allem, seine
fremdländische, aber ebenso persönliche und tief durchlebte Geschichte
zu schreiben.
Letzten Endes darf man nicht vergessen, dass Venedig, ebenso wie St.
Petersburg, auf lockerem und sumpfigem Boden gebaut ist, dass Pestepidemien jahrhundertelang durch die
Stadt wüteten und dass sich in ihr
auch heute die Ufer der Verlorenen
(Fondamenta degli Incurabili) befindet. Susan Sontag, Brodskys Kollegin
und Newyorker Mitbürgerin, die wir
ebenfalls in einem Bruchstück seines
Buches finden, in Zusammenhang
mit dem Treffen mit der Witwe von
Ezra Pound, schrieb über die Krankheit, um sie zu detabuisieren und
um, Oberflächlichkeit vermeidend,
die Oberflächlichkeit gegenüber dem
Leben und dem Tod zu vermeiden.
Obwohl die Verknüpfung von Venedig und Krankheit immer etwas Romantisches und masochistisch Wünschenswertes in sich trug, liegt in
den Grundlagen der christlichen und
westeuropäischen Überzeugung, dass
die Krankheit in gewisser Weise auch
eine Strafe für begangene Sünden
ist. So sehr es im jedem Einzelnen
Prädispositionen für eine bestimmte Krankheit gibt, ebenso sehr trägt
ein jeder sein Venedig in sich, sein
Ideal und seine Träume. Die Pest ist
in Venedig eine notorische Tatsache,
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Essays
die mit dem individuellen Schicksal
koinzidiert, also ist die Krankheit
für Aschenbach, so behauptet auch
Susan Sontag, nur eine Form seiner
definitiven Degradation.
Brodsky ist am wenigsten daran gelegen, den vorgeformten Erwartungen
Genüge zu tun, obwohl sein Vorgehen an einen Lichtdruck erinnert,
an Licht, dass sich dem Klischee entreißt, oder an einenen Wasserkamm,
der die spiegelglatte Oberfläche des
Wassers aufschreckt. Die Besessenheit des Schriftstellers von Venedig
stammt aus seinen frühen Tagen, seit
der Zeit, als sein nordischer Durst
nach Wasser sein südliches Gegengewicht im Abbild von Goldonis Stadt
fand. Und wahrlich spielte ein Bild,
ein Foto aus dem Life, das den Markusplatz unter einer Schneedecke [!]
zeigte, vielleicht die entscheidende
Rolle im Erwecken seiner venezianischen Gelüste. Es fehlte nur noch
diese Fotografie, damit sich Brodsky das eröffnet, was in ihm so hartnäckig keimte und darauf wartete,
unter dem Wind der mediterranen
Lanschaft aufzulodern. Brodsky geschah das, was geschehen musste,
was heißen will, dass Fotografien und
venezianische Souveniers sich an ihn
hafteten wie eine Krankheit sich an
einen zerbrechlichen oder leicht besiegbaren Körper haftet.
Wenn wir wissen, dass sein Vater ein
professioneller Fotograf war, dann erreicht seine Besessenheit von dieser
Stadt – dem Zauber, der wie ein Bild
zu sein scheint – und die Fähigkeit,
seine eigene Sicht mit dem literarischen Objektiv zu fotografieren, ihren Höhepunkt. Jenen, in dem sein
Bericht, auch wenn er nur auf der Ebene der typischsten venezianischen
Plätze bleibt, gleichzeitig dokumentarisch und tief persönlich ist.
Die Idee der Fotografie hat ihre natürliche Koppelung im Spiegel, in
etwas, das Venedig im Überfluss besitzt, schon wegen der Tatsache, dass
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es über das Wasser gebreitet ist wie die
Henne über ihre Küken. Aus dem lateinischen Wort speculum – was Spiegel heißt – ist die Spekulation hergeleitet und sie war ursprünglich mit
dem Erforschen der Sterne mittels
Spiegeln verbunden. Jenseits des billigen Narzismus haben schon altgriechische Denker die Idee des Spiegels
als Bildnis der Seele problematisiert.
So wie das menschliche Antlitz zum
Spiegel der Seele wird, so erfährt es eine Verwandlung, die dazu führt, dass
jedes Individuum nicht nur für seine
Handlungen sondern auch für sein
Gesicht verantwortlich ist. Während
wir Brodsky lesen, scheint es uns,
dass wir sein Porträt nicht brauchen
und dass wir ihn sehen, dass wir das
Lächeln ahnen, das genau so traurig
und transparent ist, wie traurig und
transparent das Panorama Venedigs
ist. Für Goethe war diese Stadt eine
Republik der Biber, Nemčić nannte sie eine Art Kompass, für Matoš
war Venedig der traurigste Ort und
ein Synonym für Sterbestadt, Pasternak setzt sie mit einem Croissant
gleich und Brodsky mit dem „größten Meisterwerk, das unsere Art hervorgebracht hat“.
Vielleicht hat sich Brodsky am ehesten seinem kindlichen Gesicht genähert, als er konstatiert hat, dass
er den Fehler begangen hat, nicht
in Venedig geboren worden zu sein
und dass er einen Beruf gewählt hat,
der ihm keinen übermäßig hohen
Status ermöglicht. Was am traurigsten ist, oder am komischsten, wenn
er in Venedig geboren worden wäre,
hätte er schwerlich je so ein kompaktes Buch geschrieben. Und wenn er
eine andere Berufung gefunden hätte? Hätte er dann die Ausmaße der
Stadt verstanden, die mindestens so
zerbrechlich und gauklerhaft ist wie
das menschliche Leben?
Aus dem Kroatischen von
Marijana Miličević Hrvić
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Die Sonne ging zweimal unter
Zdravko Zima
T
eilweise ist die Geschichte der
kroatischen Literatur gleichzeitig die Geschichte der Literaturkritik
und ihrer unerforschten Möglichkeiten. In einem Umfeld, das misstrauisch gegenüber Werteskalen ist,
in dem Eitelkeiten den Raum der
öffentlichen Leere ausfüllen, wurde diese Art der Tätigkeit gesetzlich
an den Rand gedrängt. Dort, wo die
Kritik als Fachsprache und als Form
der herrschenden Konversation vernachlässigt ist, ist die Katastrophe der
legitime Zustand, über den sich die
einen mit Begeisterung äußern, die
anderen mit Entrüstung, abhängig
von ihrem individuellen Status. In
letzter Konsequenz ist die Kritik ein
Test der Demokratie, der gegenüber
die balkanische Entität, vom Triglav
bis zum Vardar, ihre angeborene Abneigung pflegt. Der schattige Ort der
Allgemeinplätze, in dem alles gleichermaßen gut und gleichermaßen
bedeutungslos ist, in dem Kitsch zum
Absolutum erhoben wurde und in
dem politische Schreiberlinge Kommissionen vorsitzen, die über das
Zagreber Marko-Marulić-Denkmal
arbitrieren, bietet sich als Rahmen
an, in dem die Tätigkeit eines Kritikers ebenso geschätzt oder unterschätzt ist wie das älteste Gewerbe
der Welt. Aber das ist ein separates
und stets schmerzhaftes Thema, das
1
2
Vladimir Lunaček in gewisser Weise
(1873-1927) provoziert. Über diesen Kritiker und Journalisten, der in
Zagreb vor siebzig Jahren gestorben
ist, wissen auch jene wenig, die von
der Literatur leben, geschweige denn
die, die sich beim Lesen auf Werbeslogans oder mechanische Zitate beschränken, die dazu dienen sollen,
ihre intellektuelle Volljährigkeit zu
beweisen.
Was das angeht, ist Lunačeks Schicksal für die Berufung zum Kritiker bezeichnend, aber auch für ein Umfeld,
das sich lieber in Heuchlerei spiegelt
als in seinem unverfälschtem Bildnis.
Als er starb, haben wahrscheinlich viele aufgeatmet und über Lunaček urteilte im Nachruf mit Sympathie und
ausgesprochenen Reserven auch sein
Busenfreund Julije Benešić. Matošs
Lebensweg wurde ausschlaggebend
von seinen Belgrader Jahren gezeichnet, während Lunaček, die unangefochtete Kritikerautorität in den
ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, eine Art Bastard war: Sein Vater war Tscheche, seine Mutter Serbin
und mit der deutschen Sprache kam
er besser zurecht als mit der kroatischen. Das sind kulturelle Tatsachen,
die unseren kulturlosen Landsmännern, die in ihrem Fanatismus bereit
sind, den Königssohn Marko von
Brlić in einen angeblichen Ritter zu
verwandlen, ein Dorn im Auge sind.
Biografische Pikanterien wären vielleicht gar nicht wichtig, wenn daraus nicht jene professionellen und
journalistisch-literarischen hervogehen würden. Denn Lunačeks Größe
als Kritiker in der Zeit des Untergangs der Donaumonarchie, in der
Zeit illyrischer1 Rückfälle und der
Stärkung Frank’schen Kroatentums
steht in umgekehrtem Verhältnis zu
seinen Kenntnissen der kroatischen
Sprache. Obwohl er schlecht mit
dem Werkzeug hantierte, mit dem er
sein Ansehen aufgebaut hat, wurde er
zur Legende und der höchsten Autorität, die bei vielen jeglichen Wunsch
nach literarischem Wirken auslöschte. Als er über seinen Altersgenossen
schrieb, lobte Matoš seinen Geist
und Geschmack, war aber über seine
Sprache schockiert. Wie es seine Art
war, bemerkte Gustl2, dass Lunaček
Französich mit einem Wörterbuch
liest, aber dass er für kroatische Bücher ebenso ein Wörterbuch benötigt. Er lobte sein Stück Die Illyrer,
das einen Tag vor der Uraufführung
verboten wurde, und entdeckte darin
geometrische Einfachheit und angemessene Dramatik. Nach dem Ersten
Weltkrieg fanden Die Illyrer endlich
ihren Weg auf die Bühne, aber nach
dem Zusammenbruch der Franzjosephinischen Monarchie verlor das
Illyrische Bewegung: kroatische nationale Bewegung, die die kulturelle, ethnische und politische Einheit aller Südslawen innerhalb der Habsburger Monarchie propagierte, sowie die Gleichstellung der Kroaten und der kroatischen Sprache innerhalb des Königreichs Ungarn verlangte.
Kosename für Antun Gustav Matoš.
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Werk an politischem Gewicht. Josip Horvat behauptet, dass nach der
Zagreber Uraufführung das Parterre
umsonst den Autor herbeizurufen
versuchte, der sich zwischen der eigenen Theateraufführung und einem
Gänsebraten ohne zu zögern für das
letztere entschied. Vielleicht gab es
darin etwas von einer Pose eines Bohemiens und heruntergekommenen
Adeligen, der alles aufgeben konnte,
aber nicht seinen Hedonismus und
sein schwer zu bändigendes Temperament. Dass er die kroatischen
Sprache nie so richtig beherrschte,
ist nicht nur die Folge seiner tschechisch-serbischen Wurzeln, sondern
auch seiner Einstellung zum Leben.
Unterhaltung war ihm wichtiger als
seine eigene Premiere, er ging lieber
ins Kaffeehaus als in die Bücherei und
mit Geld ging er um wie ein betrunkener Millionär.
Lunačeks Temperament bestimmte
seinen Weg als Kritiker, obwohl er in
seinen Beurteilungen, die manchmal
überzogen und daneben waren, nie
die Grenze des guten Geschmacks
übertrat. Benešić und Lunaček waren
miteinander so verbunden wie zwei
Finger einer Hand, doch auf die fast
konventionelle Frage, ob der Verstorbene ein guter Mensch gewesen sei,
antwortete Benešić in seinem Nachruf untypischerweise, aber ehrlich,
mit einem Nein. Er besaß einen unwiderstehlichen Charme, trotz seines
melancholischen Gesichts und der
schnabelförmigen Nase, wegen seines Süßholzraspelns vergab man ihm
Einiges, er war von Frauen besessen,
schrieb ungern, konnte Deutsche
nicht ausstehen, ebenso wie Tschechen und Slowenen, aber er war von
einer zu großen Luzidität, als dass
man zu dem Schluss kommen konnte, er wäre ein guter Mensch gewesen. Ein Paradox? Nur auf den ersten
Blick für einen Kritiker, der repräsen3
Essays
tativ für seine Schwächen war, der
auf Deutsch dachte, auf Kroatisch
schrieb und unvergleichlich überzeugender im lebhaften Konversieren war als im gedruckten Text. Zu
jener Zeit, um die Jahrhundertwende, waren Schreibmaschinen noch eine Seltenheit und Lunaček ließ sich
nie dazu herab, seine schwer zu entziffernde Handschrift zu lesen. Für
seine Fehler gab er den Korrektoren
die Schuld, aber seine Rettung war
sein erstaunliches Gedächtnis und
die Bereitschaft, auch über das zu
schreiben, über das er nicht genügend Informationen besaß.
Er begann in der Agramer Zeitung,
der ältesten Zeitung in Zagreb, über
einen kürzeren Zeitraum arbeitete
er für das unionistische Tagesblatt
Dnevni list, und endete als Furcht
und Schrecken von Dežmans Zeitschrift Obzor. In unserem kollektiven Gedächtnis blieb er am meisten
durch Valdecs Skulptur Cave criticum, als Kritiker mit Hundezähnen
erhalten, in dessen Biss sich giftige
und heilende Kräfte mischen.
Obwohl er in der kroatischen Sprache
hinkte, obwohl er mehr nach eigenen
Gesetzten lebte, als nach den Gesetzen von Strebertum und krankhafter
Ambition, ist er in vieler Weise das
Vorbild eines Literaturkritikers geblieben. Er studierte in Wien, Prag
und Zagreb, zunächst Medizin, danach Jura und war von einer zu großen Nonchalance um irgendetwas
davon zu Ende zu bringen. Nach seinen Studienversuchen in der k. u. k.
Hauptstadt, machte er sich auf nach
Prag, wo Vladimir Vidrić studierte.
Dort lernten die jungen Männer aus
dem slawischen Süden Masaryk kennen und erneuerten den Geist des Illyrertums, während in Kroatien zur
gleichen Zeit Josip Frank antiserbische Winde verbreitete. Obwohl er
sich beim Studieren kein Bein aus-
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gerissen hat, war Lunaček intelligent genug, um zu begreifen, dass
bei den Restaurationsarbeiten an der
Karlsbrücke im goldenen Prag seine
Landsleute – Kroaten aus Lika – fast
wie Sklaven eingespannt waren.
Mit der gleichen röntgerischen Strenge zeichnete Stanko Lasić Wien auf,
aus dessen Untergrund in aller Morgenfrühe schwer artikulierte Stimmen
der kroatischen Sprache drangen.
Am Ende versuchte sich Lunaček als
Jurastudent. Er erwies sich als brilliant, aber das gab er auch auf wegen
einer gewissen Mara Divković, in die
er sich verliebt hatte und deren Vater eine Beziehung der beiden unterband. Besagte Mara lebte in Samobor, ebenso sie Vrazs Julijana Cantilly, so dass sich dieses idyllische Städtchen, in so vielen Liedern besungen,
als sentimentale Wunde der kroatischen Literatur erwies. Lunaček
schrieb zunächst Kunstkritiken, als
Matoš immer mehr erkrankte, orientierte er sich auf Literatur und gegen Ende seines Lebens erboste er die
Akteure des Zagreber Theaters. In
der Silvesterausgabe von Obzor kommentierte er die wichtigsten Erscheinungen aus dem vergangenen Jahr,
obwohl Benešić behauptete, dass er
sie nicht gelesen hat, und erläuterte
die Inszenierung von Grička vještica3,
obwohl er sie nicht gesehen hatte.
Was anderen unmöglich oder idiotisch erschien, verwandelte Lunaček
in die Regel und wurde zum unangefochtenen Arbitrar in der eigenen
Mitte. Außer seiner offensichtlichen
Schwächen, was machte Lunaček eigentlich wirklich zu Lunaček? Seine
Ausbildung war relativ umfangreich
und oberflächlich, er war Antikleriker und gegenüber Politik pflegte er
eine tiefe Gleichgültigkeit. Was die
Politik angeht, entsprach er nicht den
balkanischen Stereotypen, vor allem
dadurch, dass ihm Servilität fremd
Zu Deutsch: die Hexe von Grič; historischer Roman (und später auch Theaterstück) von Marija Jurić Zagorka, der ersten kroatischen professionellen Journalistin, die schwer unter der Geringschätzung ihrer männlichen Kollegen zu leiden hatte.
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war, dass er provinzielle Schulmeisterlichkeit nicht ausstehen konnte
und dass er regelmäßig die jüngeren
Generationen in Schutz nahm.
In kroatisch-serbischen Konflikten
sah er nie mehr als notorischen Primitivismus und sein Liberalismus ging
Hand in Hand mit seinem Feminismus, seiner Bohemie und die Auflehnung gegen jegliches Spießertum.
Welche Standpunkte diese apolitische Streithahn einnahm, erläutert
vielleicht die Tatsache, dass er auf
dem barocken Tisch schrieb, den
der Redaktion seines Blattes Strossmayer geschenkt hatte. Da wir uns
in einer Zeit befinden, in der auch
über den heiteren Himmel politische Bauchredner entscheiden, erscheint Lunačeks Eigenständigkeit
wie ein Museumsstück. Ebenso wie
seine Verliebtheit in russische Literatur, insbesondere Dostojewski und
Gontscharow, die nichts zu tun hatte
mit bolschewistischen Umwälzungen und auf die irgendwelche ideologischen Wechsel keinen Einfluss
haben konnten. Neben Matoš und
Nehajev, mit all seinen Beschränkungen und Launen, bildete Lunaček
Anfang des Jahrhunderts ein Kleeblatt von literarischen Richtern, deren
Benotungen die Kraft eines Rechtsspruchs hatten. Beim Schreiben war
er schlampig und zerstreut, den Kaffeehaustisch liebte er mehr als den
in der Redaktion und einen Namen
machte er sich vor allen Dingen dank
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Dossier: Zdravko Zima
seiner Intuition und irritanter Ehrlichkeit. Die letztere Eigenschaft sah
man sowohl Anfang des letzten Jahrhunders als auch heute als Makel,
mehr als volksgegnerische Verschwörung, weniger als Notwendigkeit und
Imperativ für einen Kritiker.
Atmen als Schreiben, wie Matoš sagte, Respiration und Deklination, diese Art von fanatischer Hingabe war
Lunaček nicht eigen, denn Fanatismus jeglicher Art hatte mit seiner
Lebensphilosophie nichts gemein.
Aus Kontradiktionen bestehend, die
sich dadurch erkennen lassen, dass
der Teutonentum nicht ausstehen
konnte, obwohl er deutsch aufgezogen wurde, dass er Frauen liebte,
obowohl er zeitlebens alleine durchs
Leben ging, gehört Lunaček zu jener seltenen Gattung von Kritikern,
die ihren Status auf Gegensprüchen
oder, was richtiger ist, auf eigenen
Makeln aufbauten. Was für eine Abneigung er gegenüber dem Schreiben
hatte, bezeugt Benešić, wenn er behauptet, dass in einem seiner Feuilletons die Sonne zweimal unterging.
Er war eigentlich Mondsüchtig, Luna, nannten sie ihn, so dass seine
Verfehlungen unschuldig erscheinen
im Vergleich zu jenen, die die Sonne
sehen, wo Sonnenfinsternis ist und
die Wiesen an Stellen planetarischer
Wüsten erkennen. Nichts war ihm
heilig, außer dem Theater, in dessen Ritualen er Rituale des Alltags
entdeckte und in dessen Gemächer
TIONS
pompös entrat, wie ein Gesalbter.
Büchern gegenüber benahm er sich,
als ob sie Allgemeingut wären: Wenn
er sie auslieh, brachte er sie nicht zurück und wenn er zum Dieb wurde,
spürte er deswegen nicht übertriebene Gewissensbisse.
Er reiste wenig, außer wenn wir sein
blättern in Büchern – das ohnehin
zweifelhaft war – nicht als die größte aller Reisen betrachten. Nach seinen Studententagen in Wien und
Prag ließ er sich definitiv in Zagreb
nieder. Einmal besuchte er Belgrad,
mit Benešić bereiste er Ilok und Vukovar und bekam Schwindelanfälle
auf einem Flussboot und das Meer
sah er zum ersten Mal in Crikvenica, als Fünfzigjähriger. Als er sein
Ende nahen fühlte, wünschte er sich,
dass Krleža ihn besuchen möge. Ein
Autor ging fort, der andere breitete seine Flügel aus, bereit, mit seinem Flug den gesamten Horizont
zu überschatten. Der erste kam in
seinen Kinderjahren nach Zagreb,
der zweite war gebürtiger Zagreber.
Aber keiner war Agramer aufgrund
seiner dienerischen Unterwürfigkeit
und dirigierter Heimatliebe, was sie
in dem Punkt einander nahe bringt,
in dem Leidenschaft und Freiheit
immer einen gemeinsamen Nenner
haben.
Aus dem Kroatischen von
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Professor des Leidens
Zdravko Zima
E
insamkeit, Armut und Tod bilden die Triade, die am besten
zum Leben und zum Werk von Antun Branko Šimić (1898-1925) passt.
Hundert Jahre nach seiner Geburt
bieten einen Abstand, der groß genug ist, damit wir wiederholt die
Ausmaße eines Opuses, der längst
als klassisch gekennzeichnet wurde,
hinterfragen. Wodurch ist Šimić eine außergewöhnliche Erscheinung in
der neueren kroatischen Lyrik? Nicht
nur durch sein kurzes und leidvolles
Leben, durch den Tod, mit dem jede Faser seines Wesens durchzogen
war oder durch den Glauben, dass
in einer Welt zweifelhafter Werte nur
ästhetische Erfüllung Trost spenden
könne. An geißelnden und geißlerischen Schicksalen hat es in der kroatischen Literatur nie gemangelt; gleich
kurz lebten Kamov, Donadini und
Sudeta und auf die Kunst schworen
sie alle, unabhängig von den Gaben,
die sie auf ihren Altar zu legen in der
Lage waren. Außer in Lyrik versuchte sich Šimić in Kritik, Polemik und
Übersetzung, er rief mehrere Zeitschriften ins Leben und blieb dabei
bis heute fast gleich modern, wie er
es in der Ära seiner literarischen Anfänge war. Vom Franziskanergymnasium in Široki brijeg, über Mostar
und Vinkovci führte sein Weg ihn
nach Zagreb, wo er seine schulische
1
2
3
Ausbildung unterbrach und sich dem
Schreiben mit jener Sorte von Passioniertheit widmete, die keinen Widerspruch duldet.
In der kroatischen Poesie war er und
blieb ein Schrei, vielleicht wörtlich
mit dem gleichnamigen Gemälde
von Munch vergleichbar: Denn Pessimismus, exaltierter Erotismus und
Zerfall, charakteristisch für diesen
Vorreiter der expressionistischen Malerei, sind entscheidende Bestandteile von Šimićs lyrischem Ausdruck.
Im Jahr 1917 gründete er die Zeitschrift Vijavica1, 1919 var er Herausgeber des Magazins Juriš 2 und 1924
rief er die Zeitschrift Književnik 3 ins
Leben. Diese Literatureditionen wären an und für sich vielleicht nicht
mehr als museale Tatsachen, wenn
sie nicht den glaubwürdigen Stempel
ihres Begründers trügen. Die Namen
der ersten zwei Zeitschriften explizieren auf ihre Weise das globale Chaos,
das mit dem Ersten Weltkrieg den
europäischen Kontinent in Ketten
legte und das auch die Künstler nicht
umgehen konnte. Zu jener Zeit, die
nicht weniger wandelträchtig als die
heutige ist, praktizierte man die Ideen des Expressionismus auf verschiedene Arten. Einerseits führte dies
zu einem kämpferisch-revolutionärem Taumel, der Idee der Brüderlichkeit, des Internationalismus und
zwischenmenschlichen Egalitarismus;
andererseits, im geistigen Umfeld,
wandten sich Expressionisten an ferne Planeten und die Weiten des Alls.
Schon damals erwies sich die Erdhalbkugel als zu eng!
Der Wiener Dichter und Kraus’ Schüler Albert Ehrenstein besang den
Mond, jedoch nicht als das Objekt
romantischer Visionen, sondern als
etwas, das er verschlucken möchte;
der serbische Modernist Stanislav
Vinaver meldete sich mit der EssaySammlung Der Blitzableiter des Weltalls und in Šimićs Lyrik tauchen Sterne als eins der typischsten und meist
gebrauchten Requisiten auf.
In jenen Jahren, als eine Welt starb
und eine andere erst ihre Gebrechen
entdeckte, brach der junge Šimić
ganz klar mit seinen Vorgängern und
nationalen Vorbildern. Nach Matošs
und Wiesners Lyrik wirkte Šimić mit
seiner verheerenden und gänzlich reduzierten Stimme wie eine Bombe.
So wie die expressionistische Bewegung den klassischen Schönheitskult
infrage stellte, für die Freiheit plädierte und mechanische Lebensformen ablehnte, die sich auf Krieg und
Tod, extremes Bereichern und extremes Verarmen reduzieren, so stimmte der kroatische Dichter aus Drinovci seine maximalistischen künstlerischen Ansprüche auf den sozialen
Deutsch: Schneesturm, Sturm.
Deutsch: Ansturm.
Deutsch: Schriftsteller, Literat.
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Aufruhr ab. Kaum jemand korrespondierte damals auf diese Art mit
den neuesten ästhetischen Imperativen, kaum jemand drückte ein solches Mitgefühl gegenüber den Erniedrigten und Entrechteten aus, wovon seine Gedichte zeugen (Der Blick
des Armen, Frauen vor den Ämtern,
Arme Menschen). In Zagreb ließ er
sich während des Ersten Weltkrieges nieder, aber es fiel ihm nicht im
Traum ein, den Errungenschaften
der Kroatischen jungen Lyrik zu folgen, der zu jener Zeit unabkömmlichen poetischen Matrize.
Getragen vom planetarischen Chaos,
auch von der Vorahnung der eigenen Krankheit, konnte er sich nicht
in den Schmäh aus der Zagreber
Oberstadt einleben, sondern in etwas, das sich dem ausgesprochen
entgegensetzte.
Es war Kunst, die symbolisch vom
bereits erwähnten Schrei eingefasst
war, in einer Welt, die ihre eigenen
Widersprüche meistens mit einem
Strom vergossenen Blutes substituierte. In einem programmatischen
Text kommt Šimić zum Schluss, dass
er vielleicht nicht weiß, dafür aber
spürt, was Kunst ist. Für das, was er
wollte, boten sich ihm eher im Ausland als im Agramer Umfeld Vorbilder. Außerdem, sein Juriš wurde so
nach der namhaften Avantgardezeitschrift Der Sturm betitelt und nach
dem Lektüre von Kandinsky und
Worringer übernahm er die wichtigsten Errungenschaften des deutschen Expressionismus. Es ist alles
in der Expression, ruft Šimić gemeinsam mit seinen europäischen Lesern,
wandelt durch die Weltraumlandschaft und sein blutiges Inneres mit
jener Sorte von Hartnäckigkeit, die
vielleicht nurm mit religiösem Fanatismus vergleichbar ist.
Darin lag auch das Problem. Liebe
ist mit Religion identifiziert, Leidenschaften sind in den Dekor der welträumlichen Panerotik eingetaucht,
aber Gott wurde mit Nietzsches Pro-
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Dossier: Zdravko Zima
phezeiung, der Zügellosigkeit der
Technik und der Agressivität der Ideologien immer entfernter und ungreifbarer. Das, was sich am Anfang erahnen ließ, was historische Stürme und
individuelle Krankheit unterstützten, bestätigte sich am Ende: dass das
Leben nicht viel Sinn hat.
Auch als er das Unglück anderer konstatierte, als er sich über die soziale
Erniedrigung entrüstete oder sich ins
Netz der Tanatophobie verwickelte,
stieß Šimić mit dem Absurd zusammen. Mit jener Art von Unglück, das
so anfassbar und schwer ist, dass man
es nur in schwerelosem Zustand ertragen kann. Deshalb wandte er sich
zum Himmel, sang über den Weltraum und astrale Fernen, zeigte das
Bedürfnis, sich über seinen zerbrechlichen Körper zu erheben. Im Raum
von Armut und Tod, dort, wo Einsamkeit und Angst weilen, sind die
Sterne die erwählte Ferne und Form
des Blinzelns, die den Dichter mit
der Ewigkeit verbrüdert. Kaštelan
nannte ihn einen Meteoren, Ristić
wunderte sich über seine Fähigkeit
den Tod auf sein eigenes Maß zu reduzieren, Tenžera schrieb über die
Dimensionen des Zweifels als eins
der typischen Zeichen von Šimićs
Modernität. So sehr niemand, also auch kein Dichter, vor den großen existentiellen Dilemmas fliehen
kann, so sehr nistete sich der Tod bei
Šimić ein, wie in einem Drama: Er ist
die Hauptfigur und Deus ex Machina,
Rahmen und Inhalt, Prolegomenon
und erwartetes Finale.
Er bemühte sich um Klarheit als einen der Grundsteine der Poetik und
machte seine zerstörerische Prädestination dem Aufruhr gegen den Tod,
in dem das menschliche Wesen definitiv degradiert ist, gleich.
Šimić war so streng zu sich selbst,
dass er bis zu dem Maße seine Strophen schliff, das jeder Vers wie eine
Art Epitaph stehen könnte. „Ich besinge mich, der ich jeden Tag unzählige Male sterbe“, sagt er in ei-
TIONS
nem schon kanonisierten Vers aus
dem Band Verwandlungen, an anderer Stelle sieht er das menschliche Geschick als ewige Zerstörung und im
Gedicht Der Körper und wir erkennt
sich der lyrische Protagonist in seiner
Leiche wieder. In nichts hinterfragt
das menschliche Wesen so tiefgreifend das Geheimnis der eigenen Individualität wie im Spiegel des Todes.
In einigen Fällen ist dieser Spiegel
oberflächig, in anderen vertieft, in
Šimićs Fall ist er auf beiden Seiten
ausgewölbt. Ein neues Verständnis
vom Tod, wenigstens was die westliche Zivilisation angeht, begann mit
dem Mittelalter.
Der Tod wurde zum Verstoß und in
der Zeit der allgemeinen Technikfaszination stieß man ihn auf ein Fließband, auf dem nichts dem Zufall
überlassen ist.
Nicht einmal der zufällige Tod. In
fernöstlichen Makabristiken wird die
Todesstunde als privilegierter Punkt
behandelt, in dem der Sinn des Menschen zusammenläuft. Dort, wo die
Ewigkeit aus Fetzen der Vergänglichkeit zusammengeschneidert wird, wo
der Tod nur eine Sprungfeder auf
dem Rädchen der Weltraumuhr ist,
scheint der Šimić’sche Aufruhr gegenstandslos.
Im Gegensatz zu solchen Ansichten ist das Leiden des Dichters bis
zu einem gewissen Maße durch den
Glauben an die perpetuierende Kraft
des künstlerischen Aktes ausgelöscht.
In diesem Falle war es gewiss so:
Šimić stellte sich zu Lebzeiten nur
mit dem Gedichtband Verwandlungen vor und sein Erscheinungsjahr
(1920) ist eins der wichtigsten Daten
in der Geschichte unserer Lyrik. Das
Buch wurde in einer Auflage von 500
Stück gedruckt, die Titelseite entwarf
Sava Šumanović, und die 48 Gedichte, die ihren Weg zwischen die Umschlagdeckel fanden, fesseln einen
heute noch mit ihrer Kompaktheit.
Dem Leid ist der Traum von der Verwandlung gegenübergesetzt, von der
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TIONS
Verschmelzung mit einer Reinheit,
die in den Höhen der ewig flackernden Sterne fassbar ist. Der schon zitierte Kandinsky hat über die weiße Farbe geschrieben, oder NichtFarbe, die einen Zustand absoluter
Stille hervorruft. Sie kann Seligkeit
und Tod bedeuten, den Zustand vor
jedem Anfang und nach jedem Ende. Wie sehr Šimić den Überlegungen des großen russischen Avantgardisten nahe stand, zeigen folgende
Verse: „Meine Seele ist ein finsterer
nackter See/in einem kalten weißen
Tag/Über dem Wasser fliegen keine
weißen Möwen/Unter dem Himmel rauschen keine blauen Wolken/
Oh, wie steht alles still/steifes scharfes Weiß!“ Da Weiß einigen Theorien zufolge keine Farbe ist, da man
es nicht variieren kann, wird es als
Grenzwert betrachtet. Es suggeriert
gleichzeitig Licht und Fall, Metamorphose und Blendung, jungfräuliche
Reinheit und Todesstunde.
Wie ein Professor des Leidens führt
uns Šimić in die Prosektur ein, in der
statt Toter und ehemals Lebender nur
endloses Weiß herrscht.
Das ist vielleich ein Körper, der in
seinem Hemd zappelt, der in sich
den Samen der Lasterhaftigkeit trägt
und der zum Ende verurteilt ist.
Wenn es richtig ist, dass Gott nicht
gern in denen weilt, die von ihrem
Körper dirigiert werden, stellt sich
die Frage, wie der Dichter das dritte
Auge befreit hat, das ihm das Licht
des Alls jenseits des leidvollen weltlichen Ganges enthüllt. Denn jede
Notwendigkeit kann physisch und
metaphysisch sein. Wie oft hat es
sich gezeigt, dass ein Einzelner sein
Leben herabgewürdigt hat, dass er
es in eine Formel verwandelt hat, in
eine streng festgelegte Ordnung, nur
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Essays
damit er unerreichbar hoch hinauffliegt! Šimić siechte aus Liebe dahin,
nach der vor ihm auch Rimbaud
suchte. Die schwer zu entwirrende
Zweiheit, Šimićs Hin-und-Hergerissenheit zwischen Pneumatischem
und Traumatischem erforschte bei
Rimbaud Yves Bonnefoy. Der große
französiche Dichter besaß eine majestätische Sanftheit, aber er war gleichermaßen gebrandmarkt von unwiderruflichem Hass, der vielleicht als
Pose hätte verstanden werden können,
wenn er nicht in ihn selbst gedrungen
wäre und ihn gemürbt hätte. Dieses kontradiktäre Verhältnis zwischen
Weichem und Hartem, Feinfühligem
und Herbem ist beim kroatischen Gedichteschreiber bemerkbar.
Niemand in unserer neueren Literatur verhielt sich gegenüber Worten
mit solch einem Asketismus, niemand vor ihm entzauberte bis zu dem
Maße den Journalismus, hinter dem
Söldlinge von Banken und billigem
Sensationalismus stehen.
Während sich ein Zeitungsautor immer in gewisser Weise der Öffentlichkeit unterwirft, meint Šimić, dass ein
Schriftsteller gegen das Publikum
denken muss, denn durch den Aufstand gegen die Mehrheit rebelliert er
gegen Stereotypen und den verknöcherten Geist einer Zeit.
Der krankhaft sensible Dichter, der
in jeder Kleinigkeit Zeichen von Zerfall sah, der auch die rote Frucht des
Granatapfels mit der Granate gleichsetzte, und behauptete, dass sich ein
Wort vom Symbol für Leben in ein
Symbol des Todes gewandelt hat,
pflegte dem Schreiben gegenüber
eine fast mörderische Strenge. Während seine Kollegen postmatoš’sche
Laudationen verfassten, lehnte Šimić
Kanons ab und trug Aufstand und
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Protest wie sein festlichstes Gewand.
Verwandt war darin mit ihm nur
Krleža, von dem ihn – auch das ist
ein Paradox, ein kroatischer oder
literarischer – Lichtjahre trennten.
Niemand begrüßte wie Šimić die
Anarchie, fand in ihr ein Synonym
für das Leben und schauderte über
das, was die anständige Mehrheit
als Maß nimmt. Niemand hat so
laut gegen die zweifelhaften Anforderungen des Publikums aufgeheult
und gegen die Taugenichtse, die die
öffenliche Szene überschwemmt hatten. Er glaubte, vielleicht naiv, dass
es gut sei, dass Schriftsteller miserabel honoriert werden, weil sich so
weniger Dilettanten in ihre Reihen
einschleichen würden.
Wenn er Matoš in der Dichtkunst
nicht folgte, so folgte er ihm in der
Kritik. Die Reinheit war das Ideal,
dem er alles unterwarf: sein Leben
und seine Zeitgenossen, die er ohne Mitgefühl und einen Hauch von
Gefälligkeit beurteilte. Er war hart
genug, um sich auf jeden zu stürzen, aber auch persönlich genug, dass
seine Kritik trotz Allem ein entsprechendes Gewicht behalten konnte.
Hundert Jahre nach der Geburt des
Dichters, an der Schwelle zum neuen Jahrtausend, besteht die Reinheit als Möglichkeit! Rimbaud blieb
groß, weil er alles verwarf, was ihm
seine Zeit als Wert angeboten hatte.
Schließlich identifizierte Bonnefoy in
ihm ein Grab, das Grab beigesetzter
Freuden und eines Lebens, das wegen
seiner Ansprüche des Gleichgewichts
und des elementaren Glücks beraubt
war. Etwas Anderes dürfte sich kaum
für Šimić schlussfolgern lassen.
Aus dem Kroatischen von
Marijana Miličević Hrvić
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Foto: © Višnja Arambašić
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Das Leben mit einem Kadaver
Zdravko Zima
I
n einer Reihe von Apostelbriefen
an namhafte Damen aus der kroatischen Kulturgeschichte, sowohl
wirklichen und als auch fiktiven,
wandte sich Pavao Pavličić auch an
Madona Markantunova. Die betagte
Kontesse, die Hauptheldin von Novaks Roman Gold, Weihrauch und
Myrrhe ist unserer Zeit wahrscheinlich nahe, aber doch entfernt genug,
um als eine Art Ponton zwischen
Vergangenheit und Gegenwart, zwischen dem, was war und dem, was ist,
dienen zu können. Pavličić schrieb an
Madona, nicht nur weil es sich um
eine der berühmtesten Frauenfiguren
der neueren kroatischen Prosa handelt, oder aus Gründen der Courtoasie und streng protokollarischen, obwohl man auch solche Motive nicht
außer Acht lassen sollte, wenn Briefe
geschickt werden. Hinter der Form
verbirgt sich der Inhalt: In der Gestalt von Madona sah der Absender
die Verkörperung der Geschichte, eine ununterbrochene Kette, vielleicht
einem Familienbaum ähnlich, an den
wir gebunden sind, wie Blätter an
Wurzeln und Adern und in dem wir
einander Erlösung oder schwer zu ertragende Last sind. Als fruchtbarster
kroatischer Romanschreiber, wendet
sich Pavličić an Madona, weil er sich
ihres Statuses in der rezenten Prosa
bewusst ist, aber er wendet sich auch
um seiner selbst willen an sie. Indem er sich in einer fast vergessenen
Form wie dem Brief versucht, stellt
er sich die Frage nach den Gründen
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des Schreibens und nach dem Roman, als demjenigen, der unsere literarische Identität ausschlaggebend
bestimmt.
Wenn er erklärt, dass Madona eine
Gestalt ist, die die Vergangenheit
symbolisiert, aber gleichzeitig die
Verkörperung der Geschichte ist, die
nie stirbt, ist er auf den Spuren unserer blutigsten Dilemmas. Pavličić
ist dann im Fokus der Geschichte,
mit der, so scheint es, jeder unserer
Gedanken über den Roman beginnt
und endet. Ein Zagreber Simenon
und ordentlicher Professor an der
Philosophischen Fakultät untermauert einerseits Eliots Thesen aus dem
Essay über Tradition und individuelles Talent, während er andererseits
die Geschichte als erstklassige nationale Faszination entblöst, in einer
Zeit, in der große Völker Ideen über
das definitive Ende der Geschichte
servieren. So spiegeln sich in einem
Brief an eine Kontesse, unverwüstbar
wie ein hundertjähriger Olivenbaum
und ermattet wie Methusalem, unsere schwer zu heilenden Taumatas.
Um uns aus der Falle der Geschichte
zu befreien, müssen wir sie zunächst
ausleben; dann wird Madona nicht
mehr das Zeichen oder die Inkarnation eines kollektiven Zustandes sein,
sondern eine alt gewordene Matrone, was Pavličić allem Anschein nach
möchte. Dass Pavličićs Brief an die
richtige Adresse gesendet wurde, ist
nicht schwer zu beweisen, denn Madona bei Novak ist das gleiche wie
Godot bei Backett. Seit 1968 die erste
Ausgabe erschienen ist, erreichte Gold,
Weihrauch und Myrrhe den Status des
meistgelesenen und meistübersetzten
kroatischen Romans. Eine andere
Frage ist, inwiefern die verhältnismäßig bescheidene nationale Produktion dem Pate stand, und wie verdienstvoll Novaks Kunstfertigkeit ist.
Von 1968 bis heute, im Zeitraum
von 30 Jahren wurde Gold, Weihrauch und Myrrhe in neun Ausgeben
gedruckt. Im Jahr 1971 drehte Babaja den gleichnamigen Film, drei Jahre später brachte Violić im Zagreber
Theater ITD das gleichnamige Stück
auf die Bühne, und der Roman wurde
ins Ungarische, Slowenische, Polnische, Englische und Deutsche übersetzt. All das genügte, um in der neu
ins Leben gerufenen Edition von Matica Hrvatska, mit der man plant, die
wichtigsten Romantitel aus der nationalen Produktion zu präsentieren,
Gold, Weihrauch und Myrrhe als erstes
zu drucken. Mit den Aquarellen von
Matko Trebotić und für diese Gelegenheit verfassten Beiträgen von Jelena Hekman und Tonko Maroević,
wurde eine Ausgabe vorbereitet, die
als eine Art Klassiker angeboten wird,
aber auch als Stoff, den man zu jeder
Zeit zum Neulesen aufschlägt. Als er
sich an einer Stelle in die Typologie
des Romans einlässt, behauptet Solar, dass der Roman so viele Vorbilder
hat, dass man zu dem Schluss kommen könnte, er hätte gar keine Vorbilder. Diesen Gedanken paraphra-
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18
sierend nähern wir uns in gewissem
Maße dem Geheimnis von Novaks
Roman: Denn beim Lesen von Gold,
Weihrauch und Myrrhe entdecken wir
Ironie und Selbstironie, eine hochkodifizierte kroatische Sprache und
italienische Ausdrücke, einen kauderwelschen Geist und das Bedürfnis zu Parodieren, jedoch werden wir
schwer die Lehrer des Autors erkennen. Trotz seiner Verwurzelung in der
Heimat, trotz seines fast mythischen
Bandes mit der mediterranen Landschaft und der insularen Sensibilität
könnte man vielleicht sagen, dass
Novak sein eigener Vorgänger und
gewissenhafter Fortsetzer ist. Oder,
um sich auf einen der fabelhaftesten Monologe seines Haupthelden
zu berufen: Er selbst war sein großer
Vorfahre, nun ist er seine kanonisierte Nachkommenschaft!
Dass dem so ist, beweist eine redaktionelle Notiz, in der es heißt, dass
der Autor die neueste Version des
Romas bearbeitet hat und den Liebhabern seines Opuses ist bekannt,
dass Novak eine Neuversion seiner
Novelle Badessa madre Antonia geschrieben hat. Auch wenn es sich
nicht um eine Erzählung gehandelt
hätte, die schon in die diversesten
Anthologien Einzug gefunden hatte, war dieser Einschnitt unerwartet
und undenkbar bis zu jenem Maße,
in dem jeder Kanon als in Zement
gegossene Tatsachen angesehen wird.
Von ganz anderer Art sind Interventionen in das Gewebe des Romans,
die ihm nichts genommen haben und
die den Roman drei Jahrzehnte nach
der Ersterscheinung der Neugierde
der Leser wieder offenbaren. In dem
zitierten Brief an Madona behauptet
Pavličić ausdrücklich, dass jeder kroatische Roman in seinem Wesen ein
historischer ist. Diese Konstatierung
bringt uns zurück zur Geschichte als
der Grundrichtlinie des Romans und
zu dem Bewusstsein, dass sich ihre
Grenzen nur schwer oder gar nicht
überspringen lassen.
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RELA
Dossier: Zdravko Zima
Aber ein Schriftsteller wendet sich an
die Geschichte anders als ein wissenschaftlicher Forscher.
Der erste ist in der Sphäre der Legende und palimsestierter Zwei – oder
Dreifaltigkeit, der zweite greift nach
Fakten, um sie in seine hermetisch
geschlossenen Schubladen zu stecken. Der erste wird von moralischen
Imperativen und seinem aufgebrachten Bewusstsein getragen, der zweite sucht im Flechtwerk der blutigen
und unglaublichsten Geschehnisse
immer nach passenden Gesetzbarkeiten. Die Geschichte ist das Bild
einer existentiellen Begrenzung, von
dessen Margine aus sich der Blick
auf die Freiheit erstreckt. Wenn sie
nicht die Lehrerin des Lebens ist,
ist die Historie die Projektion und
der Rahmen der mythischen Unübersichtlichkeit, im Gegensatz zum
Zeitgenössischen, das sich auf den
engen Spalt zwischen dem, was verschwunden ist und dem, was eventuell verschwinden wird, beläuft. So
wie sich die geschichtliche Vorgegebenheit nicht mit der eines Romanschriftstellers identifizieren kann, so
wäre es auch illusorisch, den kritischen Aspekt von Novaks Roman
nur an die Zeit, in der er geschrieben wurde, zu binden, obwohl genau diese Zeit seine schriftstellerische
Fruchtbarkeit bewirkt hat. Wenn das
harmonische Bild der Welt zerrüttet
wird, verdreht sich der Mythos in
Mystifikation, die Idee in Ideologie
und irrationele Lynchjustiz. Novaks
Protagonist Mali stöhnt unter der
Last des roten Kollektivismus, während aus seinem Inneren die Pulsierungen des katholischen und selbstbestrafenden Bewusstseins ertönen.
Zwischen Stern und Kreuz, zwischen
Insel und Festland, an der Grenze
zweier Welten und zweier schwer
versöhnlicher Religionen tickt sein
Schicksalschronometer.
Indem er sich der Welt widersetzt,
ihren Parolen und Stereotypen, wird
er in letzter Linie seine traurige Hilf-
TIONS
losigkeit bestätigen. Der Konflikt
seiner Bestrebungen und der bestehenden Normen führt zu einer Gespaltenheit mit allen Traumatas und
Missverständnissen, die so ein Zustand mit sich bringt. Als er sich von
der Wahl sieht, zwischen dem geschichlichen Pragmatismus und der
eigenen Überzeugungen, zwischen
der geheuchelten Wahrheit und dem
Wunsch nach Reinigung, entschied
sich Novaks Held für das zweite.
Auch der Roman Gold, Weihrauch
und Myrrhe, trotz seines exkrementalen Kalenders, trotz der Tatsache,
dass er innerhalb von achtzehn Tagen
stattfindet, so lange wie der Abstand
zwischen dem einen und dem anderen Stuhlgang von Madona dauert,
ist vor allen Dingen von dem Bedürfnis nach Reinigung geleitet. So wurde zwischen menschlichen Fäkalien
und dem Unrat, welcher den Menschen umgibt, ein Gleichzeichen gesetzt, auf eine Weise, die in der neueren kroatischen Literatur noch nie
da gewesen ist. In ihren wichtigen
Etappen beläuft sich die Geschichte
auf Kriege, große und kleine Revolutionen, große und kleine Diktatoren. Aber für einen Schriftsteller
ist sie am wenigsten attraktiv, wenn
sie nicht auf die Ebene existentieller
Unruhen, verkörpert in einem Individuum und seinen tiefsten Forderungen, begrenzt wird. Novaks Held
enschloss sich in einer solchen Zeit
für eine freiwillige Isolation.
Nicht nur das, wenn Madona ein lebender Kadaver ist, der sich auf rektale Pulsierungen beläuft, verwandelte Mali seine Zeit in Vegetieren und
Samariterwerke als Form der Sühne.
Madona ist ein medizinisches Phänomen oder eine Mumie, die sich aus
einer anderen Welt meldet, während
Novaks Isolationist ein lebender Toter ist, der an der Gegenwart stirbt.
Sie währen fort im Schatten erwarteter Zyklen, zwischen Sakralem und
Profanen, impregniert durch die Ironie von Madonas Kurator, der sei-
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RELA
TIONS
nen Invalidenstatus mit der Invalidität einer Zeit gleichgesetzt hat.
Und obwohl er am wenigsten von
der Geschichte und ihrer Mystifikationen lebt, in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit schient
Novaks Protagonisten die Vergangenheit als einzige Realität. Und diese Realität ist in Madona verkörpert,
um die er sich kümmert und in der
er, nach allem, den Sinn der eigenen
Opferung entdeckt. Umgeben von
einer Welt, in die er nie einwilligen
konnte, zwischen der einen und der
anderen Scheiße, der dort oben, in
der Metropole, und der hier, auf der
Insel, wählte Novaks Held lieber das
Einsiedlertum. Mit Madona als seinem Kreuz, mit der hundertjährigen
Matrone, in deren Antworten sich
Senilität und Luzidität mischen und
in deren verbalen Ausfällen er sein eigenes Echo sucht.
Selten sind die Romane in der kroatischen Literatur, die so viele lebensbringende Säfte haben und die
bis zu dem Maße vom Tod getragen
werden. Selten sind die Romane, die
so fest gefügt und kohärent sind, dessen Fabel trocken wie ein Stockfisch
ist, und die einen nichtsdestotroz
mit ihrer Offenheit und verschiedenen Inerpretationsmöglichkeiten fesseln. Es gibt wenige Bücher, in denen
Nachttöpfe, Rektalstöße, Fäkalien
und Kanalisationsrohre erwähnt werden, die aber mit dem Geruch rechnen: nicht als Sinn, sondern als Form
der Erkenntnis. Schlussendlich, es
gibt wenige Bücher, in denen sich
der Standardwortschatz mit idiomatischen Füllwörtern vermischt, in de-
Relation 1_2011.indd 19
Essays
nen italienische, lateinische und lokale Ausdrücke Hand in Hand gehen
und die als Muster der kroatischen
Sprache geboten werden. Wenn sich
ein Roman mehr im Entgegesetzen
dem, was ihm vorausgegangen ist,
entwickelt, als im mehanischen Folgen, kann Novaks Beispiel dafür als
Bestätigung dienen.
Wenn es richtig ist, dass die Zeit
in der (post)modernen Prosa zeitlos
ist, weil sie eine ebensolche Erkentnis sucht, dann identifiziert sie sich
letztendlich mit der Ewigkeit und
Ewigkeit ist das letzte Wort in diesem
konfessionellen Roman. Gold, Weihrauch und Myrrhe hat einen Zeitablauf, der gleichzeitig fest gefügt und
zyklisch unbegrenzt ist. In achtzehn
Tagen, wie viele zwischen der einen
und der anderen Defäkation von Madona vergehen müssen, zwischen der
vorweihnachtlichen Stimmung und
dem Dreikönigstag, schließt sich der
Kreis der alltäglichen Rituale.
Madonas Nervereien, Mali und seine
Draga, die stotternde Erminija und
der Doktor, der von dem Krempel
auf dem Dachboden mehr angezogen ist als von der hundertjährigen
Kranken.
Obwohl die Anspielungen auf ein
Regime klar genug sind, legt sich
Novak nie auf die Art einer doktrinalen Orientierung fest. Sein Held
hat sich von allen Illusionen befreit,
die die Möglichkeiten eines menschlichen Wesens übersteigen und sich
lediglich als Stahlpanzer anbieten.
Indem er seine Geschichte auf einer
Insel ansiedelte, stellte Novak die
Kehrseite einer ideologisierten Welt
19
dar, schob die einzelne Geste und die
Geduld des Einzelnen in den Vordergrund, auch wenn sie nur durch eine verwelkte Madona hervorgerufen
wurde. Als er über die Abnutzung des
literarischen Textes schrieb, erklärte
Dorfles, dass seine Dauerhaftigkeit
von einer ganzen Reihe unterschiedlicher Umstände abhängt. In einem
Umfeld, das zu Zerschlissenheit und
Vergänglichkeit eine tiefe Affinität
hegt, umging diese Abnutzung ein
so anspruchsvoller Roman wie Gold,
Weihrauch und Myrrhe. Obwohl wir
in der Ära des Postmodernismus und
Populismus leben, in der keinem
etwas am Warten und Vegetieren
liegt, wurde Novaks Roman über
das Vegetieren auf die höchste Stufe
gehoben. Seine Prosa bringt uns zu
einem russischen Mystiker zurück,
der zu dem Schluss gekommen ist,
dass der Mensch ein Organismus
ist, und die Gesellschaft sein Organ
und nicht umgekehrt, wie viele heute noch meinen. Die individuelle Befreiung, laut des Mystikers Nikolai
Berdjajew, wird nicht möglich sein,
bis sich das menschliche Wesen von
der Sklaverei der Geschichte befreit.
Solange das nicht geschieht, wird das
Schicksal des historischen Romans
das selbe sein, wie das Schicksal der
kroatischen Literatur. Das dem so
ist, kündigt dieser Roman über das
Leben mit einem Kadaver an. Denn
nur Einfaltspinsel denken, dass eine so bizzare Geschichte einer anderen, längst abgeschlossenen Zeit,
gehört.
Aus dem Kroatischen von
Marijana Miličević Hrvić
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RELA
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TIONS
Metropole und Nekropole
Zdravko Zima
I
m Jahr 1985 erhielt Italo Calvino die Einladung, in den Vereinigten Staaten einen Vorlesezyklus nach eigener Wahl abzuhalten.
Der namhafte Erzähler und Theoretiker beschloss, über die Eigenschaften zu referieren, die die Literatur
an der Wende zweier Jahrtausende
als gewisse Axiomatik fördern sollte.
Die Lezioni americane sind einzeln
nach genau diesen Eigenschaften benannt worden, über die Calvino Vorlesungen gehalten hat: Leichtigkeit,
Schnelligkeit, Exaktheit, Sichtbarkeit und Vielfältigkeit. Da er in genau dem Jahr verstorben ist, ist die
sechste Vorlesung, über die Festigkeit, nur ein Projekt geblieben. Und
so erscheint nach allem auch Calvinos Nachlass, wie ein Schloss, dem
einige Fenster oder eine schützende
Balustrade fehlen. Inwiefern dem
der unvorherssehbare Tod Pate gestanden hat, und inwiefern der Autor selbst, ist eine andere Frage. Wie
dem auch sei, mit dem Ende des Jahrtausends stellte sich Calvino bei verscheidenen Gelegenheiten die Frage
nach der Zukunft der Literatur. In
den gerade erwähnten Vorlesungen
betonte er, dass er seinen Optimismus auf der Überzeugung aufbaue,
dass es einige Erfahrungen und Tatsachen gäbe, die sich nur mithilfe von
Worten vermitteln lassen. Mit dem
Ende einer Epoche, mit dem Jahr,
das die Menschheit wie ein Fatum
erwartet, mehren sich diverse Propheten und Chiromanten, obwohl
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es von der Ankündigung eines neuen
Geistes in der Literatur auch anderswo keine Spur gibt.
Alles erscheint wie ein Sich-im-Kreis-Drehen, in dem die Regeln bekannt
sind und die Varianten längst ausprobiert. Mit der Literatur im Bewusstsein, die Tradition und Avantgarde,
Regularität und Irregularität miteinschließt, baute auch Calvino sein
Opus auf. Im italienischen Umfeld
verband man ihn mit Pavese und
Vittorini, als Vorgänger und eine Art
Mentoren, aber im Sinne der Generationszugehörigkeit und Ideologie
könnte man auch Pasolini hizufügen.
Schon in seiner Anfängerzeit hat ihn
Pavese das Eichhörnchen der Feder
genannt und diese Attribution wäre
vielleicht nicht mehr als ein geistvoller Einfall, wenn sie Calvino nicht in
den Jahren seiner Arbeit ständig bestätigt hätte. Heute können wir sagen, dass Calvino der totale Schriftsteller ist, dem Fragmentarität eigen
ist: Zunächst war die Fragmentarität
Teil eines geplanten Projekts, das sich
in Notwendigkeit verwandelte. Was
heißen will, dass der Schriftsteller
Unvollendetheit fingiert hat und dass
dann der Tod diese Unvollendetheit
finalisiert hat. In Calvino paarten
sich Fantasie und Intellekt, Sensibilität und konstruktivistische Strenge.
Durch verschiedene Umstände wurde er auf Kuba geboren, aber lebte
schon seit frühester Kindheit in Italien. Seine Frau war Argentinierin,
Signora Chichita Esther und sein
Liebling, der Argentinier J. L. Borges.
Biographische Daten sind in keinem
Fall außer Acht zu lassen, denn dieser kubanische Italiener trug in sich
die Unübersichtlichkeit der Welten,
die nicht an räumliche und zeitliche
Grenzen haftete und die er in seiner
Literatur konsequent vertrat.
Selbstverständlich war Borges sein
Liebling in dem Maße, in welchem
er, wie der namhafte Argentinier,
die Idee des unendlichen Buches annahm, das man von vorne und von
hinten liest, wie eine Enzyklopedie
oder ein ideales Wörterbuch. Calvino
ist der geborene Dialektiker, der auf
Schritt und Tritt Zweiheit als Spiel
der Gegensätze und ein Annähern
an Fülle ahnt. Oder wie der Epheser
Heraklit erklärte: „Es ist immer dasselbe, Lebendes wie Totes, Waches
wie Schlafendes, Junges wie Altes.“
Diese Einheit der Gegensätze ist das
Grundprinzip von Calvinos Literatur
und seiner Weltanschauung. Er ist
gleichzeitig Mystiker und nüchterner
Konstruktivist, ein Schriftsteller der
rezente wissenschaftliche Errungenschaften angenommen hat, der aber
Zeit seines Lebens leidenschaftlich
nach seinem Märchen suchte. Nach
dem Zweiten Weltkrieg widerstand
er den Kanons neorealistischer Prosa, danach beschäftigte er sich mit
Science fiction und in den siebziger
Jahren nahm er die Errungenschaften
des Strukturalismus und der Semiotik an. Kritiker stellten fest, dass sein
bestes Buch Wenn ein Reisender in ei-
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RELA
TIONS
ner Winternacht, ein Roman über den
Roman, aus zehn Kapiteln besteht,
in denen man immer von vorne anfängt. Das ist im wahrsten Sinne des
Wortes ein offenes Werk, in dem der
Inhalt mit der Struktur gleichgesetzt
ist und die Struktur mit dem Inhalt.
Vor dem Leser liegt ein Antibuch und
ein Antiroman, der sich dem Ende
widersetzt – oder dem Tod – auf die
Art, dass sein Schöpfer, wie Sisyphos,
immer wieder an den Ausgangspunkt
zurückgeht, seinen Stein immer wieder aufs Neue bewegt.
Das Geheimnis der Initiation, von
dem Calvino besessen ist, lässt sich
mit dem Geheimnis der Geburt als
elementaren Geheimnis des Lebens
vergleichen. Oder wie Sloterdijk räsoniert: Ich weiß, was Beginnen ist,
wenn ich nicht darüber nachdenke, aber wenn ich nachdenke, weiß
ich es nicht! Während das Publikum gemeinsam mit der Kritik den
Roman Wenn ein Reisender in einer
Winternacht bejubelte, hielt Calvino
das meiste von seinen Unsichtbaren
Städten (Le città invisibili), einem
poetischen Reisebreviar, den Tatjana Peruško ins Kroatische übersetzte
und der Zagreber Verlag Ceres veröffentlichte. Wenn man in seinen
Büchern blättert, gewinnt man den
Eindruck, dass der Mensch sein Leben lang etwas Verborgenes einzufangen sucht oder etwas, dass ihm
im Moment, in welchem er sich dem
nähert, fatalerweise aus den Händen
gleitet. Calvino ist eigentlich ein Manierist und Makabrist, der die Welt
als Schein akzeptiert. In dieser Hinsicht und hinsichtlich seines Ideals
der dichten Prosa, die Märchen mit
mathematischer Genauigkeit paart,
ist er wieder Borges nahe. Für uns
Kroaten, die wir immer wieder aufs
Neue unseren Platz unter der Sonne
suchen, auch unter der Fittiche des
stiefmütterlichen Europas, ist in gewisser Weise die Tatsache interessant,
dass Calvino den Anstoß für seine Prosa im Nachlass von Marco Polo gefun-
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Essays
den hat. Während unsere Landsleute
behaupten, dass der legendäre Abenteurer und Reiseliterat von der Insel
Korčula stammt, sieht ihn Calvino
als gebürtigen Venezianer.
Nicht um ihn irgendwem wegzunehmen, sondern um zu zeigen, dass nur
jemand, der einer so spinnwebartigen
Stadt, einer Schein-Stadt, entsprossen ist, eine so majestätische Fantasie
besitzen kann. Um die Eigenschaften von fernen Städten zu begreifen, muss ich bei mir selbst und bei
Venedig anfangen, erklärt an einer
Stelle Marco Polo im Gespräch mit
Kublai-Khan.
Der venezianische Abenteurer gelangte bei seinen Irrfahrten bis nach
China und anderen fernöstlichen
Ländern. Dort lernte er Kublai-Khan
kennen und blieb etwa zwanzig Jahre lang in seinem Dienst. Nach dem
Zusammenstoß der Genueser und
venezianischen Armada landete er
im Kerker.
Dort erzählte er seine Erlebnisse seinem Freund Rustichello (denken Sie
an Šoljan!), der sie in einem in französicher Sprache geschriebenem Werk
aufzeichnete; später wurde das Buch
unter dem Titel Il Milione bekannt.
Polos Reisebericht diente als Vorlage
für Landkarten und Reisen und war
auch Calvino für seine Unsichtbaren
Städte von Nutzen. Denn Literatur
ist nichts Anderes als eine Reise! Imaginäre Dialoge zwischen dem mongolischen Herrscher und des großen
Reisenden übernehmen in Calvinos
Visur die Funktion eines Prologs
und Epilogs. Sie sind die Einleitung
in Polos fantasmagorischen Atlas, in
dem die aleatorische Macht seines
Schöpfers mit lyrischem Beben verbunden und zu den höchsten Höhen
erhoben ist.
Wenn die Grundaufgabe der Literatur das Verwerfen abgenutzter Matrizen ist oder die Inventarisierung, die
so vorgenommen wurde, dass das Alte das Neue zu sein scheint, dann ist
Calvino auf dem Thron. In seinem
21
venezianischen Buch hat Brodsky
die Liebe als Verbindung zwischen
Spiegelbild und seinem Gegenstand
bestimmt. Obwohl die Liebe eher alles Andere ist, als Definitionen unterworfen, verbirgt sich in Brodskys
Worten das Geheimnis von Calvinos poetisch-prosischen Rebus. Seine
Städte sind Tatsache und Schein, gekennzeichnet vom Verlangen als der
Voraussetzung jeder Reise und jedes
Abenteuers: dem eingebildeten, von
dem der allmächtige Khan beflügelt
wird oder dem wirklichen, mit dem
Marco Polo infiziert ist. Die Stadt
verschmilzt mit dem Verlangen, das
Verlangen mit der Frau. Deswegen
sind die Städte aus Calvinos Atlas
alle mitsamt weiblichen Geschlechts:
Isadora, Dorotea, Anastasia, Tamara,
Zora, Fedora. Jede Stadt ist eine Frau,
jede Frau ein Mandala, Kreis und
Ichheit, Weltraum und seine individuelle Zusammenfassung. Auf diese
Art verstanden bringen uns Calvinos Unsichtbare Städte einerseits zurück in die Vergangenheit, während
sie andererseits in die Zukunft hasten. Und noch weiter, dorthin, wo
es keine Grenzen gibt, wo der Raum
relativisiert ist und Leben und Tod
mit dem Netz des Scheins bedeckt
sind. Die Literatur als Kaleidoskop
oder ein holographisches Paradigma
betrachtend identifizierte Calvino in
der Stadt die Welt, ihre Kreuzwege
und unverborgenen Zeichen, so wie
die Welt an und für sich geräumig
genug ist, dass er in ihr und ihren
Städten seine Fantasie befreit.
Im Fragment enthüllt sich das Ganze, im Ganzen das Fragment, das in
seiner Subordinarität wiederum auf
die Totalität hindeutet. Vielleicht ist
dies ein Kreis, ein Spiel von Licht
und Schatten, Trick und Tarock, das
Systematisierung bedeutet, obwohl
es sich in letzter Linie jedem strengen Versuch der Systematisierung widersetzt. Seine schönste Stadt setzte
Calvino allem Anschein nach einem
perfekten Text gleich, der sich, wie ei-
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22
ne Sator-Formel, von links und von
rechts lesen lässt. So wie sich in einer
idealen Stadt alle Wege gabeln und
in einem Punkt zusammenlaufen.
Für den italienischen Schriftsteller,
ebenso wie für seinen mittelalterlichen Vorgänger, ist die Stadt ein filigraner Plan, Spiegel und Symmetrie,
in der der Neugierige sein Gesicht erahnt, das, was ihm gehörte und das,
was ihm in einer anderen Welt oder
Leben eventuell gehören wird. Calvino trug die Exotik in den Genen,
in seiner kubanischen Geburt, so wie
sie Baudelaire tief in seinem Inneren
spürte. Im Gegensatz dazu entdeckte ein Nordländer, Walter Benjamin,
sein Asyl in San Gimignano, einem
italienischen Städtchen, in dem die
Straßen und Plätze wie Haushofe
erscheinen und in dem ein fast perfektes Gleichgewicht zwischen äußerer und innerer Landschaft hergestellt ist.
Metropole und Nekropole, Wirklichkeit und Projektion sind nur Teile von ein und demselben: Es genügt
nur eine Handbewegung oder das
Verschieben eines Vorhanges und die
Welt nimmt, wie in einem Theater,
andere Konturen an. Calvino ist am
glaubwürdigsten, wenn er von der
Stadt berichtet, die in ihrem Quadrat
beinhaltet ist oder von der Handfläche, die nichts anderes als ein Quadrat ist. Jede Kraft sucht ihre Gegenkraft, jedes Gesicht reflektiert die
Kehrseite. Zwei Hände existieren füreinander, wie zwei Augen oder zwei
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RELA
Dossier: Zdravko Zima
Städte, von denen Kublai-Khan die
erste sieht und die zweite Marco Polo. Calvinos Städte können so oder
so heißen, können Schatten oder Siena – wo er gestorben ist – heißen,
aber sie entspringen der Ur-Anordnung, in der die Fantasie in keinem
Augenblick dem Intellekt untergeordnet ist. Der italienische Autor
suchte seine Sonnenstadt, sein Heliopolis, obwohl er ein literarischer
Mondsüchtiger war und obwohl er
wusste, dass alle heldenhaften und
kriminogenen Gesten auf ihre Art
im Zusammenhang mit der Mondumlaufbahn stehen. Deshalb ist seine Welt am glaubwürdigsten, wenn
sie ein Trug ist, deshalb ist sie mit einer Frau, die er genießt, deren Opfer
oder demütiger Untertan er jedoch
ist, gleichgesetzt.
Trotz der Borges’schen Generation
sind in der kroatischen Literatur
Schriftsteller selten, deren Poetik mit
Calvinos zu vergleichen wäre. Vielleicht ist ihm Milko Kelemen am
nähesten, Komponist und Dirigent,
der seit Jahren in Stuttgart lebt, der
ein leidenschaftlicher Reisender ist
(wie Marco Polo!) und der eins seiner Bücher Labyrinthe nannte. In
seiner Basis ist das Labyrinth mit einem Mandala vergleichbar oder einer
Stadt, deren Zeichen Calvino mit fast
asketischer Strenge registrierte. Das
Labyrinth ist nicht nur ein Quadrat,
aus dem der mythische Minotaurus
lauert; es führt uns wie eine Muschel
ins innere Ich, zum Verborgenen,
TIONS
das, weil es verborgen ist, nicht weniger existent ist, als das, was außen
und leicht tastbar ist. Die letzte Stadt
in Calvinos Universum heißt Berenike. Die Legende enthüllt Berenike als
Frau des letzten ägyptischen Königs
Ptolemaios III., die ihr Haar als Zeichen der Dankbarkeit dafür, dass ihr
Mann aus dem Krieg zurückgekteht
war, opferte. Im Roman des französischen Nationalisten Maurice Barres
ist Berenike ein ätherisches Mädel
und das Symbol der französischen
Seele und gegen Ende der achtziger
Jahre fand sie sich auch im Roman
des kroatischen Erzählers und Goliarden Nedjeljko Fabrio wieder.
Calvinos Reisender ist sich dessen bewusst, dass Formen manchmal klarer
aus der Ferne zu erkennen sind und
dass Kublai-Khan, als Verkörperung
des Statischen und der Macht, vielleicht besser sieht als er, der sie aus
nächster Nähe erkundet hat. Man
darf die Tatsache nicht außer Acht
lassen, dass der mongolische Herrscher und der venezianische Abenteurer in Augenblicken der Entspannung Schach gespielt haben. In nichts
lässt sich so wie in diesem indischen
Spiel der Zusammenstoß von Licht
und Schatten, Kreation und Rekreation, Himmlischem und Irdischen erkennen. Jener Zwieheit, die der Rhytmus der Welt ist und die Calvino so
hartnäckig in seinen Büchern verfolgt hat.
Aus dem Kroatischen von
Marijana Miličević Hrvić
30.4.2011. 17:52:57
RELA
TIONS
23
Das Laster des Schreibens
Zdravko Zima
D
er Herbst ist die Zeit der Geschenke der Natur und der literarischen Preise: So ist es auch dieses
Jahr, Anfang Oktober wurde der Name des neuen Nobelpreislaureaten
José Saramago auf der größten Buchmesse in Frankfurt dem Volke mitgeteilt. Mit Saramagos Opus wurde
auch sein Portugal geehrt, ein Land,
das seit Jahrhunderten im Schatten
seines iberischen Nachbarn liegt und
dessen kollonialer Glanz der fernen
Vergangenheit gehört. Obwohl er auf
einer anderen Halbinsel praktisch
unbekannt ist, verdankt der portugiesische Schriftsteller seinen Status
vor allem den Romanen Das Todesjahr des Ricardo Reis und Evangelium
nach Jesus Christus. Im ersten Roman
evozierte er den Lebensweg seines berühmten Vorgängers Fernando Pessoa, der zweite fand sich wegen der
Bibelinterpretation des Autors im Visier der offiziellen Kirche, so dass sich
anlässlich des Nobelpreises auch der
vatikanische L’Osservatore Romano
mit reservierten Worten meldete.
Aber nicht nur die römischen Prälaten waren unzufrieden mit der Wahl
der schwedischen Akademie. Die
Tatsache, dass Saramago deklarierter Kommunist ist, rief auch in unserem Land Zweifel hervor, genauer
gesagt, in den Medien, von denen
man meint, dass sie den Standpunkten der offiziellen Kreise am nächsten
stehen. Was noch symptomatischer
ist, den internationalen Friedensnobelpreis, der ebenso auf der Frank-
Relation 1_2011.indd 23
furter Messe bekannt gemacht wird,
erhielt Martin Walser, der ebenfalls
Linker und Mitglied der namhaften
Gruppe 47 ist.
Letztes Jahr bekamen die erwähnten zwei Preise der italienische Dramatiker Dario Fo und Yaser Kemal,
der große Kämpfer für die kurdische
Autonomie in der Türkei. Dass ihre
politischen Standpunke Lichtjahre
entfernt sind von den Winden, die
in kleinen balkanischen Herrschaftsgebieten wehen, ist überflüssig zu erklären. So dienten die rezenten literarischen Anerkennungen, in Verbindung mit den übrigen Vorgängen auf
dem alten Kontinent, den Sprechern
des offiziellen Kroatien für noch ein
tragikomisches Lamento über das
Gespenst des Kommunismus, das
wieder einmal durch Europa spukt.
Wenn es sich um mit Weihwasser
besprengte Schriftsteller mit umgekehrtem, radikal rechten und radikal
konservativen Vorzeichen handlen
würde, gäbe se allem Anschein nach
keine Missverständnisse. Aber darin
liegt ja auch das Problem; dem zivilisierten Europa kann es heute nur
schwerlich passieren, dass es irgendein Extrem, und insbesondere eins,
das nahe verwandt ist mit Protonationalismus, Xenophobie und ethnischem Exklusivismus, honoriert.
Deshalb darf man das Klagegeschrei
über die neuen Laueraten nicht anders verstehen als das Klagegeschrei
jener, die das heutige Kroatien in
jedem Segment seiner Existenz der
Welt entreißen wollen und ebenso
der Weltliteratur, hinter der wir, um
ehrlich zu sein, meist erfolglos hinterhergetrabt sind.
In einem pauperisierten Land mit
4, 5 Millionen Einwohnern ist die
Literatur fast liquidiert im Namen
des Marktes, das Ende des 20. Jahrhunderts wie warm Wasser entdeckt
wurde. Und in solch einer Situation ist, welch Wunder, der Meistverkaufte wieder ein dubioser Linker
und Castros Freund – Gabriel García Márquez. Nach dem dokumentaristischen Roman Nachricht von der
Entführung, in dem es sich um die
Verbindung von Drogenmafia und
der etablierten Politik handelt, stellte sich der kolumbianische Nobelpreisträger unserem Publikum mit
dem Erzählband Zwölf Geschichten
aus der Fremde vor, der im Zagreber Verlag Ceres (Redaktion Milana
Vuković Runjić, Übersetzung von Tamara Horvat Kanjera) veröffentlicht
wurde. Über annonyme Schriftsteller zu berichten ist nicht leicht, denn
solche interessieren kaum jemanden.
Mit den anderen, den berühmten,
ist es noch schwieriger, denn man
gewinnt den Eindruck, einen falschen selbstverständlich, dass man
über sie ohnehin schon alles weiß.
Wenn nicht bei irgendetwas anderem, half Márquez die literarische
Popularität, sein Bankkonto zu füllen. In allem anderen blieb er auf dem
Boden und sich dessen tief bewusst,
dass das Leben, ebenso wie die Lite-
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ratur, ein schwer zu greifendes Mysterium ist. Oder Geschenk, vor dem
der Mensch mit offenen Augen steht
und mit dem er immer wieder aufs
Neue spielt oder ringt.
Auf jeden Fall ist die Tatsache kurios, dass ein so rassiger Erzähler, dem
Explikationen und teoretisches Geschwafel fremd sind, es für nötig befand, für Zwölf Geschichten aus der
Fremde einen besonderen Prolog vorzubereiten. Er ist wie eine Indiskretion, denn er führt den Leser, der dem
fertigen Werk gegenübersteht, in das
Innere der Meisterwerkststatt. Die
Tür seines Arbeitskabinetts weit aufreißend öffnete Márquez auch sein
Innerstes, zeigte sein Verlangen, seine
Obsessionen und Ängste, all das, was
ein Leben ausmacht und ein exemplarisches künstlerisches Schicksal.
Literarische Westentaschenexperten
werden verblüfft sein, wenn sie begreifen, dass ein im Umfang bescheidenes Buch von zwölf Erzählungen,
in einem Zeitraum von etwa zwanzig
Jahren entstanden ist. In der Zeit der
großen Hast, während man die Tage
zählt, die die Menschheit vom Jahr
2000 trennen, ist ein Schriftsteller,
der den Puls seiner Novellen immer
wieder misst, als ob sie Lebewesen
wären, sie ergänzt und frisiert, einem
Museumsstück gleich. Márquez stellt
sich die Frage nach dem Geheimnis
des Erzählens, nach dem, was ihm
vorangeht und was es nach allem abschließt und findet keine definitive
Antwort. Für die Endversion einer
Prosa ist der Instinkt ausschlaggebend oder jene Form der Intuition,
die einer Köchin genügt, um zu wissen, wann einer Suppe nichts mehr
hinzuzufügen oder zu nehmen ist.
So denkt Márquez, wenn er den Schleier seiner Kunst lüftet und erklärt,
dass seine Geschichten, bevor sie
zwischen die Buchdeckel gelangten,
in Rohform in Zeitungschroniken
oder als Drehbuch, Fernsehserie oder
ein für einen bestimmten Anlass gegebenes Interview existierten. Der
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RELA
Dossier: Zdravko Zima
Schriftsteller bediente sich der Wirklichkeit, benutze ihre Zutaten, als ob
sie duftende Gewürze wären, mixte
Poesie und Grauen, Heiligkeit und
Trivialität und schuf ein Prosaamalgam, das den Leser, auch dann, wenn
er sich auf erprobtem Boden glaubt,
aus der üblichen Bahn wirft. In diesem ganzen schriftstellerisch-kulinarischem Kreuzworträtsel spielte eine
besondere Rolle ein Schulheft, in das
Márquez all das registrierte, was ihm
wichtig erschien und was als Vorlage für eine künftige Geschichte hätte
dienen können. Im Heft hinterlegte
er vierundsechzig Themen, von denen er dachte, dass sie sich in einen
Roman schmelzen ließen. Von der
Idee des Romans kanalisierte ihn
die schriftstellerische Alchemie zu einem Erzählband, der eine Einigkeit
des Inhalts und des kreativen Vorganges besitzt. Wie eine Geschichte
über Geschichten dünkt Márquez’
Episode über das Heft, das wie ein
Phantom verschwand; als ob es von
der Hand eines konkurrierenden Erzählers geführt worden wäre! Einem
Schriftsteller kann schwerlich etwas
Schlimmeres passieren, als der Verlust des Gedächtnisses, das auf den
Seiten eines gewöhnlichen Heftes zusammengefasst war.
Doch das Leid mit dem Gedächtnis ist letzten Endes gleichgesetzt
mit dem schriftstellerischen Leid.
Mit dem Bedürfnis des Autors aus
einem Panzer zu kriechen, sich des
unnötigen Balastes zu entledigen und
sich auf das Wesentliche zu belaufen.
Auf der Suche nach seinem Handgedächtnis, suchte Márquez eigentlich
nach Reinigung, nach dem, was ihn
von den abgedroschenen Ketten befreien und ihn auf den Wegen des
magischen Realismus führen wird,
dort, wo Grausamkeit und Sentiment zusammenstoßen und wo sich
die Wirklichkeit in ihrer Vergänglichkeit mit dem Traum gleichsetzt.
Der Wunsch, das zu fixieren, was als
Einigkeit der Gegensätze bestimmt
TIONS
ist, führte ihn zu Dichte und Reinheit. Der Vorfall mit dem Heft ist in
all dem nichts anderes als ein Einfall.
Dass Márquez mit vierundsechzig
Themen angefangen hat, danach auf
dreißig und achtzehn kam und dann
einen Band mit zwölf Erzählungen
veröffentlichte, folgte aus der Gesetzlichkeit der Geschichte und nicht
aus dem, was ein mysteriöses oder
wie auch immer verloren gegangenes
Heft verursachen könnte.
Hinter dem, was Márquez’ Leben und
seine Geschichten einrahmt, verbirgt
sich das Schlüsselwort – Reisen. Er
brauchte das Heft als eine Art Safe,
in dem er auf seinen Reisen und unzähligen Kontakten kleine Kleinode
aufbewahren kann, das, was vielleicht nicht mehr ist als eine Polizeiinformation, ein Fingerabdruck
oder eine vergessene Reliquie, aber
was sich in einem Augenblick in das
Schwungrad einer Geschichte verwandeln kann.
Obwohl er mit tiefen Banden an Kolumbien gebunden ist, sein mythisches Macondo, und Mexiko, in dem
er seine zweite Heimat fand, finden
alle Erzählungen in westeuropäischen
Ländern und Städten statt, in denen
Márquez kein Tourist ist, sondern
ein Pilger, mit einem solchen Ausmaß an Hingabe und Leidenschaftlichkeit, die nur Schriftstellern eigen
ist. In seinem Rückspiegel zeigen sich
Genf, Rom, Arezzo, Neapel, Sizilien,
Barcelona, Madrid, Wien, trotzdem
sind die Protagonisten mit ihrer Herkunft und ihrem Schicksal untrennbar mit dem lateinamerikanischen
Heimatland verschmolzen. Sie sind
von Lateinamerika besessen, aber sie
möchten sich davon, wie von einer
obsessiven Frau, ebenso entreißen.
Ein gutes Beispiel dafür ist der Held
der einleitenden Geschichte, der seines Amtes enthobene Präsident eines hispanoamerikanischen Staates,
der in Genf ärztlich behandelt wird
und an den Tod denkt, obwohl er
auf dem Grund seiner Seele davon
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RELA
TIONS
träumt, in seine Heimat zurückzukehren und sich an die Spitze der
Reformbewegung zu setzen. In Augenblicken der Resignation kommt
der Ex-Presidente zum Schluss, dass
sein Kontinent in einer sonderbaren
Verbindung aus europäischem Auswanderergesindel und einheimischer
Bevölkerung geboren wurde. In so einem Prozess konnte nur ein Mischmasch entstehen, behauptet der demoralisierte Politiker, obwohl der
Glanz von Márquez’ Literatur (und
nicht nur seiner) aus der Fähigkeit,
eigene Mythen zu rekreieren, hervorgeht, aber auch aus dem Erheben außerhalb der Grenzen des gegebenen
Raumes und der Zeit.
Durch eine Welt lavierend, in der sich
Wirklichkeit und Schein, Autobiographie und Autosuggestion berühren, schloss Márquez in seine Novellen viele berühmte Zeitgenossen mit
ein, mit denen er in direktem oder
intellektualem Kontakt war.
Aime Césaire, ein frankophoner Dichter aus Martinique, Pius XII., Johannes Paul I. alias Albino Luciani, dessen Pontifikat 33 Tage dauerte, Cesare Zavattini, der legendäre
Drehbuchautor, Cineast und Márquez’ filmischer Lehrer, Generalissimus Francisco Franco, David Ojstralt, Gerardo Diego (der Schöpfer
des glänzenden Sonnets Insomnio),
Yasunari Kawabata, Pablo Neruda
und J. L. Borges, tragen auf ihre Art
zur Glaubwürdigkeit dieser sonderlichen Novellen bei. Wir haben gesagt, dass die Reise der Schlüssel für
das Verständnis von Márquez’ Buch
ist. Der Mensch reist zu Lebzeiten
zwischen zwei unbekannten Ufern,
Márquez reist zwischen zwei Kontinenten oder zwei Ufern, seine Helden jedoch irren in imaginären Kor-
Relation 1_2011.indd 25
Essays
ridoren umher und in einem Raum,
der sonst ohne Reisepass unzugänglich ist. An der Seite des Schriftstellers
war regelmäßig auch seine beschwerliche Last. Die Geschichten reisten
hin und zurück, aus Lateinamerika
nach Europa und umgekehrt, aus
dem verborgenen Tresor wurden sie
ans Licht zurückgebracht, in den Abfalleimer geworfen, rekreiert oder definitiv vergessen.
Nach allem besuchte Márquez wieder die zitierten europäischen Punkte, um sich selbst die Authentizität
der belletrisierten Erinnerungen zu
beweisen. Und er hat sich selbstverständlich geirrt! Das Reisen bringt
uns letzlich dem Titelsyntagma zurück: Denn der Pilger irrt in der Welt
umher, der physischen oder der anderen, vor allem deshalb, damit er
sich und seine verborgenen Möglichkeiten erprobt. Wenn er kein Touristendummkopf ist, reist der Wallfahrer nicht wegen oberflächlicher
Sensationen, sondern um in einer
anderen Umgebung zum Sinn zu gelangen. Auf diese Art verstanden ist
die Reise das Ideal, das Initiationsritual, dem sich Márquez gemeinsam
mit seinen Helden restlos hingibt.
Und dass es gerade zwölf Pilger gibt,
erinnert an die (Un)vollendetheit
der Welt, die mit einer Geschichte,
deren Fäden wir nie ganz entwirren
werden, identifiziert ist. Das Jahr hat
zwölf Monate, Jesus hatte zwölf Jünger, an der Tafelrunde nahmen zwölf
stattliche Ritter Platz, und so hält
auch Márquez, so präzise wie abergläubisch, seine Fantasie im zwölften Kreis an. Der zwangsgeräumte
Präsident, sich seiner Missratenheit
bewusst, der traurige Kolumbianer
Margarito Duarte, der durch Rom
mit seiner Heiligen irrt und am En-
25
de selbst zum Heiligen wird, Frau
Frida, die Träume vermietet, die alternde Prostituierte Maria dos Prazeres, die sich auf das Jenseits vorbereitet und ihrem Hund beibringt,
über dem offenen Grab zu heulen,
siebzehn Engländer, vereint im Spiegel der Uniformität und tödlicher
Austern, ein Pfarrer aus Jugoslawien,
der schmutzige Fingernägel hat und
nach Zwiebeln stinkt, eine Muräne
mit menschlichen Augen, bilden den
Planeten von Márquez, der sich vor
dem Leser wie ein Märchen und makaberes Bild dreht.
Die Frau, die durch Zufall in einem
Irrenhaus war, aus dem es keinen
Ausweg mehr gibt und die junge Nena Daconte, Tenor-Saxofonistin, die
sich an einem Rosendorn stach und
in dem Moment ums Leben kam, als
sie erst leben wollte, bilden die Gipfel
der Poetik in der Subtilität und Grauen triumphieren und in der Schönheit in ihrer Gestalt regelmäßig eine
blutige Kehrseite reflektiert. Wenn
man die Zeit eines Schriftstellers festlegen wollte, dann wäre es die Morgendämmerung, das Grenzstadium,
in dem, sich Lichter und Schatten,
Liebe und das Nichts vermischen.
Das ist jener schwer zu bestimmende Raum, in dem, laut Márquez, die
Zeit schwankt, aber in dem sich ein
Schriftsteller wie ein Fisch im Wasser fühlt. In einer Geschichte kommt
Frau Lázara zum Schluss, dass das
Erobern ein Laster ist. Ein Laster ist
allem Anschein nach auch das Schreiben, mit dem Márquez Territorium
erobert und in dem Dominanz einzig
erwünscht ist.
Aus dem Kroatischen von
Marijana Miličević Hrvić
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RELA
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TIONS
Die rote Jungfrau
Zdravko Zima
N
achdem er erfahren hatte, dass
er den Nobelpreis bekommen
hat, eilte Albert Camus in die August-Comet-Straße Nummer drei in
Paris, um in dem Zimmer Zuflucht
zu finden, in dem einst Simone Weil
gelebt hatte. Vor seiner Abreise nach
Stockholm huldigte der französische
Romanautor und Essayist so einer
Frau, ohne die er nicht gewesen wäre,
was er war, und die seine intellektuelle Entwicklung auf entscheidende
Weise beeinflusst hatte. Als er 1957
diese große Anerkennung der schwedischen Akademie entgegennahm,
wusste Camus, dass genauso gut auch
Simone Weil, die, wenn sie noch am
Leben gewesen wäre, damals knapp
48 Jahre zählen würde, diesen Preis
hätte bekommen können.
Etwa zwanzig Jahre nach Camus befand sich auch Czelsaw Milosz im Kreise der Unsterblichen, die mit dem
Nobelpreis gekrönt wurden. In seiner
zeremoniellen Festrede berief sich der
große litauisch-polnisch-amerikanische Dichter auf zwei seiner Mentoren
– für das Leben wie auch für den Intellekt. Der erste ist Simone Weil, der
zweite ist der Pariser Eremit Oscar
Milosz. Man müsste diese Einzelheiten aus der Festrede des Milosz vielleicht nicht erwähnen, wenn das
Schicksal seines Onkels nicht so viele Gemeinsamkeiten mit Simone aufweisen würde. Seine Person und sein
Werk sind von einer seltenen Erhabenheit und Edelmut getragen, die Offenheit gegenüber allem ausstrahlten.
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Oscar war der Nachkomme eines
reichen litauischen Adeligen, Simone wuchs in einer wohlhabenden
bürgerlichen Familie auf (beide waren Juden), doch sie trugen eine fast
eingeimpfte Solidarität mit sich, die
mit keinerlei politischen oder karrieristischen Durchbrüchen gerechnet hätte. Die Erinnerung an die
beiden Nobelpreisträger ist auf ihre
Weise ein notwendiges Vorwort für
Simone Weil. Denn ihre Popularität und ihre Rezeption entsprechen
doch nicht den Dimensionen ihres
gedanklichen Unterfangens, einem
der größten und radikalsten aus der
zivilisatorischen Schatzkiste des europäischen 20. Jahrhunderts. Die
französische Autorin hat zwar ihr
Publikum und ihre Anhänger, aber
ihre Zugänglichkeit ist keine, die bei
einem Zeugnis über sie nicht der Berufung auf andere bedarf. In erster
Linie auf Camus und Milosz, nicht
wegen der Preise, sondern wegen der
geistigen Nähe und des Bedürfnisses
nach Freiheit, worin sie sich als Simones vollblütige Wahlbrüder erwiesen haben. Schon ein oberflächlicher
Einblick in das Erbe der Madmoiselle
Weil, nach Pascal „denkendes Schilfrohr“ genannt, enthüllt eine Autorin,
die bewährten Kanons ausgewichen
ist. Trotz der Tatsache, dass sie in
ihrem kurzen Leben ein gewaltiges
Opus geschaffen hat, wird ihr Name in Standardhandbüchern vermieden oder nur mit ein paar spärlichen
Stichwörtern bekleidet.
In den ersten Veröffentlichungen des
Lexikographischen Instituts Miroslav Krleža findet man unter dem
Stichwort „Weil“ nur den estnischen
Kliniker Adolf als Entdecker der ansteckenden Gelbsucht. Ebenso symptomatisch wird in der Modernen
katholischen Enzyklopedie von Michael Glazier und Monika K. Hellwig, die in Kroatien im Jahre 1998
erschien, über diese bewundernswerte Frau, der Celestin Bouglé den
Spitznamen „rote Jungfrau“ gab, kein
Sterbenswort verloren.
Für rigide Marxisten war sie zu liberal, für verstockte Klerikalisten übertrieben linksorientiert und unversöhnlich. Sie gehörte nie einer Partei oder einer Kirche an, auch wenn
sie in ihrem sozialen Engagement
und ihrer geistigen Reinigung eine
Konsequenz gezeigt hat, die schwer
vergleichbar ist und die letztendlich
sie selbst in einen Kanon verwandelt
hat (wogegen sie natürlich selbst laut
protestieren würde). Ein paar Zeilen
widmete ihr das Lexikon der Philosophen, das vom Zagreber Verlag Naprijed im ehemaligen Jugoslawien in
drei Ausgaben veröffentlicht wurde.
Und da zu dieser Zeit Marxismus
dasselbe war wie Katechismus, kann
gegen das nachlässige Portrait von
Danko Grlić nichts weiter eingewendet werden. Ausführlichere Daten
gibt erst Marie-Madeleine Davy in
der zweibändigen Enzyklopedie der
Mystiker, die derselbe Zagreber Verlag, Naprijed, 1990 druckte.
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RELA
TIONS
Unter Simones Werken heben wir
Das Unglück und die Gottesliebe hervor, eine spezifische geistige Autobiographie, die auch in Zagreb veröffentlicht wurde, Die übernatürliche
Erkenntnis (die kroatische Promotion dieser Handschrift in der Übersetzung von Mirjana Dobrović wird
noch erwartet), Brief an einen Ordensbruder, ein Brief an den Dominikanerpater Couturier, Vorchristliche
Schau, Arbeiterschicksal, Bände, Unterdrückung und Freiheit. Dieses letzte Buch ist eine provokative Sammlung von Abhandlungen, die eine
umfangreiche Studie unter dem Titel
Gedanken über die Ursachen von Unterdrückung und Freiheit enthält, und
die die Autorin selbst zu ihrer wichtigsten theoretischen Arbeit erklärt
hat. Wenn das der zentrale Titel aus
ihrer ersten Phase ist, in der sie sich
zumeist mit sozialen Fragen beschäftigte, dann ist Die Einwurzelung der
Haupttitel der zweiten, bedingt die
spirituelle Phase genannt. Außerdem
müssen auch Londoner Schriften und
letzte Briefe und Ungeordnete Gedanken über die Liebe zu Gott und Gottes
Liebe erwähnt werden.
Simone schrieb auch Verse, die bei
uns unbekannt sind, und ihr Drama Venedigs Rettung blieb unvollendet. In Kroatien wurde sie mit einer Auswahl an Schriften aus dem
Werk Unterdrückung und Freiheit, die
1979 in der Übersetzung von Mirjana Dobrović veröffentlicht wurden,
am getreuesten vorgestellt.
Geboren wurde sie am 3. Februar
1909 in Paris und gestorben ist sie
am 24. August 1943 in London. In
diese 34 Jahre drängte sich ein Leben, das mit seiner Umfänglichkeit
und Strenge, vor allem sich selbst
gegenüber, immer wieder aufs Neue
erobert. Nach Cioran könnten wir
schlussfolgern, dass ein Individuum,
das sich selbstständig macht, dass
sich auflehnt und niemandem dienen will, eigentlich krank ist und
Krankheit ist nichts anderes als die
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Essays
Auflehnung gegen einen bestehenden Organismus. So hat auch das zarte Fräulein Simone seine tiefgehende Abtrünnigkeit mit dem Körper
bezahlt, mit seinem Hungern und
der zu dieser Zeit unvermeidbaren
Tuberkulose.
Als sie in einem Londoner Sanatorium ihre Augen schloss, stellten die
Ärzte fest, dass ihr Tod in bedeutendem Maße durch Hunger, Selbstfolter und Selbstbestrafung hervorgerufen worden war, womit sie demonstriert hatte, wie wichtig der
Opferanteil in allem ist. Letztendlich
behauptete auch ihr Bruder, der Mathematiker André Weil, dass Simone
mit ihrem Nachlass nur in einer dialektischen Offenheit verständlich
ist. Ihre Schriften setzen ihr Leben
fort, ebenso wie ihre Texte auch eine Zusammenfassung ihrer Existenz
und ihres physischen Körpers sind.
Heute, in einer Zeit, in der die Astrologie im Aufschwung ist, in der sie
in Sensationsblättern genauso vertreten ist wie in intellektuellen Polemiken, sollte man darauf hinweisen, dass Simone im Zeichen des
Wassermanns geboren wurde. Die
New-Age-Bewegung, die versucht
hat, die Ideen einer desintegrierten
Welt zu vereinen, hat einen Wechsel
von der Herrschaft der Fische zu einer neuen Epoche des Wassermanns
angekündigt (wovon auch im schon
kanonisierten Musical Hair gesungen wird). Das erste Zeitalter prägten Leiden, Ängste, Fanatismus und
allerlei Unglück, während das zweite
Zeitalter, geführt vom Aquarius, von
Weisheit und endloser Glückseligkeit erfüllt sein soll.
Wir nehmen nun an einer Zeit teil,
in der die große Mutation stattfindet
und in der die utopische Herrschaft
des Aquarius beginnt, die etwa zweitausend Jahre dauern wird, genau so
lange wie die Diktatur der Fische gedauert hat. In der kommenden Ära
werden die Erweiterung des menschlichen Bewusstseins und die Erneu-
27
erung geistiger Fähigkeiten vorgesehen und in diesem Prozess spielt der
Aquarius, der im Bündel der Simone Weil fixiert ist, eine entscheidende Rolle. Menschliche Solidarität,
Zusammenarbeit und der Verzicht
auf materielle Güter werden in einer
solchen Welt einen besonderen Wert
haben. Denn der Aquarius ist ein Wesen der Avantgarde und des inneren
Abenteuers, an denen Simone in vollem Maße teilgenommen hat. Ihre
philosophischen und essayistischen
Werke wurden nach dem Zweiten
Weltkrieg in der Espoir-Edition von
Gallimard gedruckt, die damals Albert Camus unterzeichnete.
Sie stand immer außerhalb aller Parteien und formeller, weltlicher oder
sakraler Rahmen, was auf ihre Weise ihr Schicksal kanalisierte. In der
ersten Phase, die bis 1935 dauerte,
war sie von sozialen Fragen besessen. Von 1938 bis zu ihrem Tod war
sie durchdrungen von Religion und
Mystik, auch wenn das nicht bedeutet, dass sie das soziale und politische
Drama vergessen hatte, das Europa
zu dieser Zeit, besonders mit Hitlers
Kriegszügen, erschütterte. Wer ist also Simone? Eine Philosophieprofessorin, die Professorenmanieren nicht
akzeptierte, Lehrerin und Arbeiterin,
die sich selbst durch ihre Opferungen auf die Probe stellte, Streikende
und Revolutionärin, Marxistin und
Bestreiterin des Marxismus, Teilnehmerin am Spanischen Bürgerkrieg
und Pazifistin, eine Christin, die ihre Faszination für Christus nicht institutionalisieren wollte, Missionarin
und Mystikerin, Mitglied der französischen Widerstandsbewegung, das
von Algerien bis Italien, von den
Vereinigten Staaten bis nach England irrte und in London starb. Ganz
gemäß ihrer eindrucksvollen Bezeugung über die Liebe zu Gott, in
der sie verkündete, dass ihre Heimat
überall und nirgendwo sei, und in der
sie das Universum als die einzige diesseitige Heimat definierte! Mit unbe-
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28
stechlichem Scharfblick, der Wärme
und Kälte, Nähe und Ferne verlauten
lässt, behauptete sie, sich auf dieser
Welt wie eine Fremde zu fühlen, vertrieben wie Odysseus, den die Argonauten, während er ruhte, an eine
unbekannte Küste versetzten.
Ihre intellektuelle Entwicklung wurde auf entscheidende Weise vom französischen Philosophen und Pädagogen Emile-Auguste Chartier beeinflusst, der in französischen Kreisen
unter dem Pseudonym Alain bekannter ist. Alain stärkte in seinen Schülern das kritische Denken und das
Bedürfnis nach Verantwortung. Seiner Überzeugung nach liberal und
antiklerikal eingestellt, wurde er sowohl von rechts als auch von links
angegriffen und als Schöpfer kurzer
Essays beeinflusste er Simone in hohem Maße. Ihr geistiger Weg führte zu Alain, von Alain zu Marx, und
danach zu Christus und mondialer
Mystik. Während ihres Studiums an
der Ecole Normale Supérieur lernte
sie ihre Namensschwester Simone
de Beauvoir kennen. Die junge Revolutionärin sah in der zukünftigen
Gefährtin von Sartre eine Kleinbürgerin, diese wiederum wunderte sich
über Simones Kleidung und beneidete sie um ihr Herz, in das das ganze Universum hineinpasste. Während ihrer Jahre als Lehrerin näherte
sie sich den arbeitslosen Arbeitern,
nahm an Streiks teil und pflegte Umgang mit Anarchisten. Auch wenn
sie körperlich nicht widerstandsfähig
war, akzeptierte sie die schwersten Arbeiten, und bei Renault versuchte sie
sich als Fräserin. Sie empfand Grauen
für Stalinismus und Sympathie für
Trotzki, den sie als 24-Jährige in Paris
interviewte. 1936 schloss sie sich der
republikanischen Armee Spaniens
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RELA
Dossier: Zdravko Zima
an, musste aber zwei Monate später
nach Frankreich zurückkehren.
Wegen ihrer ruinierten Gesundheit
brachten sie ihre Eltern nach Italien.
Und dort kam es zur Bekehrung: In
Assisi, in der romanischen Kapelle
Santa Maria degli Angeli, in der auch
der heilige Franziskus gebetet hatte,
verspürte Simone den unwiderstehlichen Drang niederzuknien. Eine
feurige Atheistin begann sich in eine
Gläubige zu verwandeln, die später
mit derselben Entschlossenheit für
Christus sprechen würde, wie sie die
Würde der Arbeiter und Streikenden
verteidigt hatte. Eine so ausgeprägte Bipolarität, ein fast sprunghafter
Übergang von einer Art praktischen
Engagements in eine geistige Oase
ist aus dem Lebenslauf von Emanuel Swedenborg bekannt. Dieser
Schwede befasste sich zunächst mit
technischen und naturwissenschaftlichen Forschungen und dann hatte
er eine Vision. Manche hielten sie für
ein Trugbild, andere für einen Anfall
von Wahnsinn. Tatsache bleibt, dass
ein Militäringenieur und enger Mitarbeiter Karls XII. behauptete, dass
ihm Jesus erschienen sei und ihm die
Mission der Erneuerung der Kirche
anvertraut habe. Vom königlichen
Senator und technischen Experten
verwandelte sich Swendenborg über
Nacht in einen Visionär, der sich damit beschäftigt zu beweisen, dass der
Mensch in seinem Kern zu allererst
Geist ist. Borges schlussfolgerte, dass
uns der schwedische Theosoph dabei
hilft, uns mittels Gerechtigkeit, Tugend und Intelligenz zu retten und
aller Wahrscheinlichkeit nach hätte
dem auch Simone zugestimmt. Was
fast kurios ist, ist, dass sich Swendenborgs mystische Bekehrung in
derselben Stadt zutrug, in der viele
TIONS
Jahre später die französische Rebellin sterben würde.
Niemand hat sein Denken in dem
Maße dargelegt, dass er gleichzeitig
auch seinen Körper, seinen Traum
und sein intimstes Beben damit ausgesetzt hat. Der Mut, den Simone
bewiesen hat, führt eigentlich auf die
andere Seite: Dorthin, wo es keine
Grenzen gibt und wo der menschliche Verstand, verbunden mit dem
unaufschiebbaren Instinkt, die Möglichkeit zur Identifikation im Augenblick und in der Ewigkeit bietet. Selten sind jene, die mit einer
solch durchdringenden Schärfe über
die Freiheit geschrieben, noch seltener jene, die erklärt haben, dass der
menschliche Geist anpassungsfähig
ist und dass er in dieser Anpassungsfähigkeit zu den größten Erniedrigungen bereit ist. Neben Simone
äußerte sich darüber im 16. Jahrhundert am radikalsten Etienne de
la Boétie. Niemand dementierte so
überzeugend politische Parteien, die
nichts anderes sind als Maschinen
der Vernebelung und der Entfachung
von Leidenschaften, und die deshalb
abgeschafft werden sollten. Mit neuen Stammes- und Marktidolen steigt
das Bedürfnis nach dem, was die französische Mystikerin vertrat: Heiligkeit
in jedem Ding und in jedem Segment
des Alltags. Immer am Rande, machte Simone darauf aufmerksam, dass
es zwei gleichermaßen schicksalhafte
und extreme Möglichkeiten gibt. Die
Welt zu Nutzen des Egos vernichten
oder das Ego zu Nutzen der Welt vernichten. Simone verstand es zu wählen, weil sie die Zeichen verstand, denen wir so klar entgegeneilen.
Aus dem Kroatischen von
Sandra Breznički Ucović
30.4.2011. 17:52:58
RELA
TIONS
29
Der Jäger im Labyrinth
Zdravko Zima
E
ins der Paradoxe unserer nationalen Geschichte ist in der Tatsache sichtbar, dass wir über unsere
nächsten Nachbarn weiniger wissen,
als über jene, von denen uns ozeanische Weiten trennen. Beweise dafür
lassen sich leicht finden: Mit Ungarn
verband uns seit Anfang des 12. Jahrhunderts die Pacta conventa, die erst
mit dem Ende des Ersten Weltkrieges aufgelöst wurde und doch sind
die Ungarn ein Volk, von dem wir im
Durchschnitt wenig oder fast nichts
wissen. Dieser Ignoranz stand in gewisser Weise das Gefühl von Bedrohung seitens einer monarchischen
Macht Pate, aber auch eine Sprache,
die zur ugro-finnischen Sprachfamilie gehört und die mit der slawischen
Idiomatik nichts gemein hat. Aber
diese Argumente, so unanfechtbar
sie auch sind, genügen nicht, um
eine so gründliche Abwesenheit des
Interesses für unsere nächsten nördlichen Nachbarn zu erklären. Unabhängig von individuellen Sympathien oder historischem Ressentiment
sollte man Krležas Fall rekapitulieren. In der Donaumonarchie geboren war Krleža des Ungarischen fast
so mächtig wie seiner Muttersprache. Zu einer Zeit, als die Türken das
christliche Europa bedrohten, blieb
den Kroaten nichts Anderes übrig, als
Schutz zu suchen. Falls sich die Helfer als Feinde herausstellten, dann
musste man sich, gemeinsam mit
Krleža, Goethes Weisheit anschließen: „Wer die Feinde will verstehen,
muss in Feindes Lande gehen“.
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Ungarische Schüler waren Pannonius, Gaj, Kukuljević und Krleža und
heute ist dieses Land für Kroaten eine Zweigstelle des Eintagstourismus,
bestehend aus Plattensee und SalamiSchmuggel. Indem wir uns die Frage
über Ungarn stellen, stellen wir uns
eigentlich die Frage über uns selbst.
Wie spiegeln wir uns in den Völkern,
die uns nahe und gleichzeitig endlos
weit entfernt sind? In einer katastrophischen Schrift kam István Bibó zu
dem Schluss, dass kleine Nationen
und Staaten östlich von Deutschland
das größte Hindernis für den Frieden
auf dem Planeten sein werden, weil
sie einen Raum von Anarchie, Unsicherheit und dauerhafter Unzufriedenheit bilden. Vor etwa fünfzig
Jahren, als diese Schrift veröffentlicht
wurde, wirkte Bibós Voraussage nicht
annähernd so suggestiv wie heute.
Ebenso wusste kaum jemand vor einem halben Jahrhundert in Europa,
in Kroatien noch weniger, dass in unserer unmittelbarsten Nachbarschaft
Béla Hamvas (1897-1968) lebt und
schriebt. Wenn Krleža von ihm gewusst hätte, hätte er ihn wahrscheinlich schickaniert, so wie es Lukács
getan hat, einer der führenden ungarischen Autoritäten jener Zeit, dem
nicht einmal die Tatsache, dass er auf
Deutsch schrieb, helfen konnte, sich
vor so vielen Irrtürmern zu retten.
In einigen Segmenten lässt sich Béla
Hamvas diesem oder jenem Autor
gleichsetzen, obwohl er im Ganzen
unvergleichlich ist und sich auf keine Kanons ableiten lässt.
Er wandte sich an Gott, war aber kein
Theologe; er schrieb über Wein und
seine Reize, obwohl er kein Enologe
war. Ein Erzähler und Essayist, der
enge literarische Rahmen übersteigt,
ein Philosoph, der der Weisheit ihre
tiefgehende Würde wiedergibt, ein
Übersetzer und Anfertiger von Studien über Henoks Apokalypse, das
Ägyptische Totenbuch, sufische Mystiker, das Zen, Konfuzius, die Kabbala, die Veden und so manches mehr.
Er erzählt und predigt gleichzeitig,
wenn er auch kein klassischer Belletrist, geschweige denn ein verstockter
Moralist ist.
Hamvas ist kein Schriftsteller sondern ein literarischer Polyp, kein Philosoph sondern ein Polyhistor, der
das elementare menschliche Wissen zusammengefasst hat und es in
sein Buch und in sein authentischstes Leben verwandelte. Ein Denker
der universellen Erudition, den man
sich auch in glücklicheren Tagen nur
schwer vorstellen konnte und den
in Zukunft eventuell sein geklonter
Doppelgänger mit einer ausreichenden Anzahl von Chips und diabolischen Megabytes erreichen wird.
Jetzt an der großen Jahrtausendwende, auf die wir mit der gleichen Menge an Neugier und an Bangen warten,
tauchen Fragen wie von selbst auf.
Wie ist es möglich, dass in unserer
nächsten Nähe einer der glänzensten
Köpfe des 20. Jahrhunderts gelebt
hat und dass wir bis vor etwa zehn
Jahren überhaupt keine Ahnung von
ihm hatten? Wie kommt es, dass so
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ein Geist einer prononcierten Provinz Europas entsprungen ist, die
nicht einmal ihre wichtigsten Repräsentanten, wie Cioran einer ist, nicht
mit Begeisterung beurteilen?
Obwohl er zu Lebzeiten verfolgt und
verheimlicht wurde, obwohl nicht
einmal den Ungarn bewusst war,
was für ein Brocken in ihrer eigenen
Mitte auftaucht, durchbricht Hamvas’ Gedanken jegliche Barrieren.
Wir haben einst Krležas Tiraden über
Petöfy gelesen, über die Revolution
1848 und die ungarische Landschaft,
die vor ihm niemand mit solch einer
lyrischen Kraft geschildert hat. Wir
haben Ady gelesen, in Kišs Übersetzung, und dort endete die Geschichte
mit Ungarn, exotisch und ungreifbar,
wie seine Sprache ungreifbar ist. Und
dann erschien Béla Hamvas.
Die ersten Assoziationen wiesen auf
seinen Namensvetter Béla Bartók
hin, nicht nur weil Bartók sein Zeitgenosse war oder weil Hamvas, außer
dass er ein Diplom von der Philosophischen Fakulät hatte, sehr wohl
in die Geheimnisse der Musik eingeweiht war. Obwohl er in seinem
Land nie verhätschelt wurde, fühlte sich Hamvas nur einmal, in seiner Jugend, versucht, zu emigrieren.
Als kleiner Junge reiste er mit seinem Vater nach Paris und München.
Mehrmals besuchte er Dalmatien
und Korčula, worüber er schriftliche
Berichte hinterließ.
Trotz seines unverhüllten Wunsches
erreichte er Griechenland nie, aber er
reiste in Texten und Büchern weiter
und weitreichender als all jene, die
im Reisen nichts als eine rein physische Tatsache finden. Als der Nazismus in Ungarn, wo er sowieso nicht
übermäßig viel Beifall erntete, immer stärker wurde, wanderte Bartók
in die Vereinigten Staaten aus. Im
Jahr 1945 starb er in New York in
Not und Elend. Etwa zwanzig Jahre später verschied sein Landsmann
und Musikgefährte Béla Hamvas.
Er behauptete, dass er diese Welt im
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Dossier: Zdravko Zima
Stadium der maximalen Wachheit
verlassen möchte oder mit offenen
Augen, wie der berühmteste Held
von Marguerite Yourcenar, der römische Imperator Hadrian, erklärte. Der kroatische Dichter Danijel
Dragojević, der auf der selben Insel
auf die Welt kam, auf der Hamvas
seine griechische Nostalgie schürte
und seinen „Griechen“ trank, hat
geschrieben, dass in Bulgarien oder
einem anderen Randstaat keine großen Entdeckungen möglich seien.
Denn an der Entdeckung nimmt
nicht nur der Einzelne teil, so genial
er auch sein mag, sondern auch sein
Umfeld mit seiner Vergangenheit,
Gegenwart und dem erreichten Zustand des kollektiven Bewusstseins.
In solchen Ländern, für die Bulgarien nur als mögliche Figur steht, ist
die Dunkelheit viel zu tastbar, als dass
sich das Licht um einen Menschen
schlingen und ihn vollkommen befreien könnte.
Auf ähnliche Weise wie Dragojević
beurteilten auch Ionesco, Cioran,
Konstantinović und viele andere die
Staaten an der Päripherie des europäischen Südostens, die nur für kurze Zeit aus ihrem hundertjährigen
Schlaf erwachen.
Hamvas bestätigt nur, dass keine Regel ohne ihre Ausnahme ist. In diesen
vermummten Zonen der Dunkelheit
schuf er Licht, zeigte sich aber auch
selbst als Fackel, die in alle Richtungen strahlt. Sogar noch dorthin,
wohin mit ihrem Blick nur die Mutigsten und Geduldigsten reichen.
Hamvas akzeptierte sein ungarisches
Schicksal ohne Gequängel, verstand,
dass er einen Raum und eine Zeit
bewohnt, dem der liebe Gott gute
Nacht gesagt hat, und verwandelte
die Wachheit in einen der Grundbegriffe seiner Philosophie. In seiner
Fähigkeit, am anwesendsten zu sein,
wenn er am entferntesten zu sein
scheint, ist ihm Edvard Kocbek nahe,
der seine Träumereien einer besonderen Art der Wachheit gleichsetz-
TIONS
te. Es ist eine fast kuriose Tatsache,
dass Hamvas die Idee der Wachheit,
wie er selbst behauptete, in seinem
schlafwandlerischen Volk entdeckte. Trotzdem, die Wachheit ist keine
mechanische Eigenschaft, etwas, was
sich von selbst versteht, sondern eine Offenheit gegenüber allen Möglichkeiten, die man mit mühseligem
Graben im eigenen Inneren erreicht.
Nur so war es möglich, dass sich in
einer verachteten europäischen Einöde ein Mann aufrichtet, der die
Kabbala liest, weit in die Prähistorie
zurückgeht, die Upanishaden erläutert, dem Schuhmacher Böhme folgt
und dort weitermacht, wo Nietzsche
in seinem Wahnsinn definitiv stehen
geblieben ist.
Nur so ist es möglich, eine scheinbar unglaubliche Tatsache zu verstehen: dass in einem halben Jahr, vom
Sommer 1943 bis Februar 1944 sein
vielleicht wertvollstes Werk Scientia
Sacra, dass die wichtigsten zivilisatorischen Wissen oder Überlieferungen
synthetisiert und in dem die Wachheit einer der Schlüsselbegriffe ist
(siehe das Kapitel über den Tod von
Sokrates), entstanden ist. Wie die
Veden, heilige indische Bücher, die
Hamvas’ Lieblingsleküre darstellten,
schließlich erklären, wenn sich ein
Mensch von dieser Welt verabscheidet, was kann die Seele mitnehmen
außer der Wachheit? Wir wissen,
dass Bartók, decouragiert von seinem
Schicksal und dem aufsteigenden
Faschismus, Ungarn verlassen hat,
ebenso wie es viele andere Künstler und Intelektuelle verlassen haben. Trotz allen Versuchungen blieb
Hamvas zu Hause. Er lebte scheinbar außerhalb seines Raumes und
seiner Zeit, jedoch am tiefsten in allem und in sich selbst! Er ist nicht in
Ungarn geblieben, weil er einen Märtyrer spielen wollte, sondern weil er
wusste, dass die größten Grenzen im
einzelnen Bewusstsein sind und dass
sie niemand auf Kosten eines anderen
überschreiten kann. Der Mensch ist
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und ist nicht; ebenso dachte Hamvas, dass es keine Päripherie und kein
Zentrum gibt und dass jeder, wenn
er dazu in der Lage ist, sich zum zentralen Punkt macht.
Gegen Ende der achziger Jahre erhielten wir erste Informationen über den
Kontinenten genannt Béla Hamvas
mittels der Belgrader Zeitschrift Pismo. Mit dem neuen Kroatien tauchte auch ein neuer Verleger auf, der
Zagreber Ceres, der sich als exklusiver Hamas-Herausgeber in kroatischer Sprache vorstellte. Zunächst
mit der Philosophie des Weins, parallel in Ungarisch und Kroatisch
gedruckt, dann mit dem allumfassenden Buch Scientia Sacra, in dem
Hamvas mit der Zahl sechs spielt.
Scientia Sacra besteht aus sechs Bänden, jeder Band ist in sechs Kapitel
aufgeteilt und diese in ebenso viele
Unterkapitel. Der neueste Hamvas
in der Version des Verlagshauses Ceres heißt Jasmin und Olive. Er besteht aus dreizehn Essays, die Jadranka Damjanov, Ivan Ladislav Galeta
und Stjepan Filaković übersetzt haben und die von einem ausführlichen Kommentar von Hamvas’ Lebensgefährtin Katalin Kemény und
einem Nachwort von Žarko Paić begleitet sind. Es ist überflüssig, Details
aus Hamvas’ Lebenslauf anzuführen,
sowohl wegen ihrer (scheinbaren)
Banalität, als auch wegen Hamvas’
Überzeugung, dass ein Mensch sich
von der egoistischen Trunkenheit befreien und sich dem Wesentlichen
widmen soll. Nichtsdestotrotz, sein
Vater war evangelischer Pastor, seine Mutter Katholikin mit künstlerischen Neigungen.
Die Schule mochte er nicht und am
liebsten präludierte er am Klavier und
komponierte. Schopenhauer war seine abiturientische Leidenschaft, mit
Böhme war er dauerhaft beschäftigt,
weil er mit ihm die bildhafte Ausdrucksweise, den optimistischen Eifer und die Idee vom Weltprozess, der
mit der Geburt der Frau gleichgesetzt
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Essays
ist, teilte. Die Abneigung gegenüber
jeglicher Art der Bestechlichkeit zahlte er so, dass er Gemüse züchtete, es
am Markt verkaufte und an der Baustelle einer Energieanlage in der Nähe
des Flusses Tisa schuftete. Er schreib,
wann immer er Zeit dafür hatte, las
immer und übersetzte. Gegen Ende
des Zweiten Weltkrieges zerstörte eine Bombe sein Zuhause mit der Bibliothek und einer reisigen Anzahl von
Handschriften, die für immer verloren gegangen sind. Aber Hamvas
konnte nicht verloren gehen. Es bestätigte sich, was er im Buch Scientia
Sacra konstatierte, das übrigens nur
durch Zufall gerettet wurde: dass es
keine Tat gibt, auch nicht die kleinste, die nicht ein für allemal geschehen
ist und die nicht in der Welt widerhallt, so den Kreis schließend, den
man schwer anders nennen kann als
ein kosmisches Wunder.
Er verneinte den Atheismus, aber
ebenso den falschen Moralismus, er
war kein Liebhaber von Technik und
bewies ständig, dass das Böse die
wichtigste Aufgabe ist, mit der man
sich auseinanderzusetzen hat. In Anbetracht der Ausmaße von Hamvas’
Erudition könnte man den Eindruck
gewinnen, dass es sich um einem
stummen Weisen handelt, der das
Leben als Kabinettskasteiung sieht
und die Sonne nur genießt, wenn er
sie auf einem Bild sieht.
Aber Hamvas ist ein Mensch aus
Fleisch und Blut, der den Wein fast
so ehrt wie Gott, die Frau außerhalb der männlichen Ausschließlichkeit beurteilt, mit seltener Subtilität
weibliche Duftzonen kommentiert
und über Griessuppe schreibt, einem
Gericht, dass jeglicher Spannung,
die der moderne Menschen fast wie
ein Medikament braucht, enthoben
ist. Es ist wahr, dass er nicht aus Ungarn herausgekommen ist, aber er
ist dafür, wie seine Lebensgefährtin
anführt, aus dem Schicksal herausgekommen. Das bedeutet, dass er zu
dem Punkt gelangt ist, an dem alle
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primitiven Konflikte aufhören, wo
sich die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart verlieren,
während man die Welt mit jener
Art von Bescheidenheit oder Überheblichkeit beurteilt, die sich am genauesten mit Nietzsches Ausdruck
die fröhliche Wissenschaft bestimmen
lässt. Gott, Kinder und Tiere duzt
man und mit so einer Art Familiarität
berichtet der ungarische Weise über
die delikatesten Fragen. In Europa
hat er keinen Lehrer gefunden, der
nicht zu seinem Schüler geworden
ist, er schrieb über Trismegistos und
das elyptische Sein, wandte sich aber
mit der gleichen Überlegenheit etwas
so gewöhnlichem wie dem Barbarismus der Arbeit oder dem Pflücken
von Kirschen zu. Für Hamvas ist Gott
die einzige Realität, die Erlösung das
einzige Werk. Er tauchte tief, in die
vormetaphysische Zeit der Harmonie
aller Lebewesen und erklärte, dass er
in der Ära der Apokalypse und des
Antichrist am schwersten das Verneinen des Körpers erträgt.
Er war ein unermesslicher Schmied
des neuen-alten Wissens, der sich an
den reinsten Quellen tränkte und
der, über Wein schreibend, die ideale Balance zwischen Weisheit und
Eifer oder zwischen Gesammeltheit
und befreitem Genuss schuf. Hamvas
ist eine Lektüre für den alltäglichen
Gebrauch und eine Philosophie, die
zu leben ist. Er ist Suchender und
Gläubiger, der größte von ihnen,
wenn er den Anschein eines Abtrünnigen weckt. Mehr als alles andere ist
Hamvas ein Jäger im Labyrinth, der
alle Hindernisse kennt, der aber auf
Erfahrung und seinen gottgegebenen
Instinkt vertraut. Letztendlich, der
Ungar mit den tausend Gesichtern
gelangte zur höchsten Instanz, weil
er, indem er einen Ausgang aus verschlungenen Wegen suchte, den Weg
auch für andere trassiert hat.
Aus dem Kroatischen von
Marijana Miličević Hrvić
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TIONS
Doppelleben
Zdravko Zima
I
n der Kritikliteratur, die nach seinem Tode und nach der Veröffentlichung seines Nachlasses anfing, wie
eine Flutwelle zu wachsen, nannte
man Franz Kafka den Schriftsteller des
Paradoxes. Aber das Paradox ist nicht
nur eine Denkart, die das Markenzeichen einer Literatur und eines Lebens wurde, das sich in verschiedene
Richtungen gabelte: hin zu der deutschen Sprache, der jüdisch-christlichen Tradition und der Topographie
der franzjosephinischen Monarchie,
in der Prag die drittgrößte Stadt war.
Ihrer Schönheit nach und noch vielem anderen wahrscheinlich die erste!
Ein Paradox ist allem Anschein nach
auch der Umstand, dass Kafka dank
eines Sakrilegs im Erbe der westeuropäischen Literatur als einer ihrer
größten Namen verblieb. Denn es
gibt kein größeres Vergehen als die
Nichtbefolgung des letzten Willens
eines Verstorbenen. Genau das hat
Max Brod getan.
Entgegen Kafkas testamentarischer
Forderung veröffentlichte er drei seiner Romane, Tagebücher und Briefe,
schrieb Vorworte und Monographien,
in denen er die mysteriöse Figur und
das Werk seines früh verblichenen
Kollegen und Pariser Compagnons
enträtselte. Ein Paradox ist vielleicht
auch das, dass Brod heute hauptsächlich dafür bekannt ist, dass er Kafka
reinkarniert hat, ebenso wie es eine Tatsache ist, dass über die etwa
zwanzig Romane von Brod längst der
Schleier des Vergessens gefallen ist.
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Vom Paradox nähern wir uns dem
Raum von Irrealität und Irrtum, in
dem nur das möglich ist, was fantastisch ist, während alles andere ungreifbar wie ein Schatten ist. Wie
jeder Schriftsteller hatte Kafka seine
Vorbilder und Favoriten.
Unter ihnen nahm Heinrich von
Kleist eine priviligierte Stelle ein,
der zwischen einer Offiziers- und einer Schriftstellerkarriere wankte und
der in einem Augenblick aufgehört
hat, an die rationale Struktur der
Welt zu glauben. Die Tatsache, dass
er sieben Dramen und sieben Novellen (die berühmteste davon ist jene
über Michael Kohlhaas) geschrieben
hat, ist fast symptomatisch, auch dass
er meist über die Frage von Irrtum
und Irrung im menschlichen Leben
fabulierte. Man könnte kaum etwas
anderes für Kafka feststellen oder seine Helden Gregor Samsa, Karl Rossman, Josef K. und andere. Ein anderer Jude und deutscher Schriftsteller,
Franz Werfel, ebenfalls in Prag geboren, war trotzdem im Unrecht, als er
behauptete, dass die Probleme beim
Verständnis von Kafka schon ein paar
hundert Kilometer außerhalb von
Prag beginnen. Heute kann man sich
einen Schriftsteller schwer vorstellen,
dem so wenig an seiner Karriere gelegen ist und der zur Metapher einer
Welt, die einer Falle oder einem verwunschenen Labyrinth gleichgesetzt
ist, wurde. Werfels These über die Literatur, die sich auf die Grenzen der
Zeit und des Raumes reduzieren lässt,
hat in diesem Fall nicht funktioniert,
denn Kafkas Helden sind der Kraft
monströser Mechanismen und irrationaler Vorfälle untergeordnet.
Die Grenzen von Raum und Zeit sind
in so einer Welt nicht physisch greifbar oder mit gewöhlicher Erfahrung
messbar. Kafka ist ein Schriftsteller,
der an der Grenze unterschiedlicher
Welten lebt, der habsburgerischen,
tschechischen und jüdisch-christlichen, an der Grenze zweier Jahrhunderte und an seiner individuellen
Grenze. Aus der Zurückgezogenheit,
fast konspirativ zu später Nachtstunde, schaffend wandte er sich an seine
Tiefe, fiksierte jene geheimnisvollen
Triebe und mechanischen Kräfte, die
auf diese oder jene Weise menschliche Bahnen dirigieren. Ein Paradox
liegt wieder darin, dass er weder für
das Publikum schrieb, noch aus purer
Berechnung, aber nichtsdestotrotz
wurde er zum Objekt des Interesses
von Kabinettforschern, geduldigen
Hagiographen, aber auch dem weitesten Kreis von Lesern, die bereit
sind, ihren literarischen Champion
einer Ikone gleichzusetzen. Als ich Ende Mai ins goldene Prag fuhr, dachte
ich an meine Freundin, die Malerin
Silva und an den Satz, mit dem sie
erklärte, dass Kafka ein glückliches
Ende hatte. Er verschied am 3. Juni 1924 im österreichischen Sanatorium Kierling. Einen Monat vor
seinem 41. Geburtstag starb er an
Tuberkulose, einer Krankheit, die
zu jener Zeit als schlimmste Seuche
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wütete. Man behauptete, dass die Tuberkulose in gewisser Weise das Geschick gefühlstiefer und esoterischer
Wesen war und Susan Sontag kam
zum Schluss, dass sie die Krankheit
der Leidenschaft sei.
Bezogen auf den berühmten Prager
ist es interessant, dass die Tuberkulose Extreme charakterisieren. Bleichheit wechselt sich mit Anfällen von
Röte ab, Lebendigkeit mit Mattheit
und außer unvorhersehbarer Zeiträume der Euphorie ist den Erkrankten ein verstärkter sexueller Appetit
eigen. Kafka ist wahrlich kein Schriftsteller, der das Publikum mit seiner sexuellen Fantasie magnetisierte.
Wenn wir dazu noch sein Judentum
und die rigide Vaterfigur hinzufügen,
in dem er nichts anderes sah als die
unsympathische Autorität, entfernen
wir uns noch mehr von der These,
dass schwindsüchtige und sexuelle
Leidenschaften im umgekehrten Verhältnis zueinander stehen.
Aber Kafka ist, wie so viele namhafte Autoren, das Opfer der Oberflächlichkeit und billiger Stereotypen. Vielleicht hat sie niemand so
überzeugend demantiert wie Kundera. Im Essay Der kastrierende Schatten des hl. Leonhart kommentierte er
Brods Roman Zauberreich der Liebe.
Er war weniger interessiert an Brods
Roman per se, sondern mehr an Kafka. Denn in der Figur des Leonhart
ist Kafka dargestellt, jedoch als impotenter Puritaner, der seinen Glauben lebt und an sich die größtmöglichen Ansprüche stellt. Kundera war
in gewisser Weise gezwungen Brod
anzuschwärzen, um mit seiner Chiaroscuro-Technik Kafka umso mehr
zu beleuchten. Im Schriftsteller, der
aus edlen Absichten Kafkas letzten
Willen übergangen hat, hat er nicht
mehr entdeckt als einen sentimentalen Graphomanen und einen Freund,
der kein Gespür für die neue Kunst
hatte.
Dank der Kafkalogie, die der altmodische Herr Brod lanciert hat, ist Kaf-
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Essays
ka von seinen großen Zeitgenossen
isoliert geblieben, wie zum Beispiel
Strawinski, Bartók, Musil, Joyce, Picasso und viele andere. Jenseits aller
möglichen Thesen über eine heiligenähnliche Sterilität betont Kundera, dass Kafka als erster das komische
und groteske Gesicht der Sexualität
dargestellt hat. Und im dritten Kapitel des Schlosses koitieren K. und Frieda in Bierlachen, kaum eine Stunde
nachdem sie sich kennen gelernt haben. Außer dass er gezeigt hat, dass
Sexualität zweigleisig ist, gleichzeitig
anziehend und abstoßend oder sogar
degoutant, bringt Kafka in viele Szenen Elemente des Poetischen und des
magischen Realismus ein.
Zu guter Letzt erwähnt Kundera,
dass Márquez ihm bei einer Gelegenheit anvertraut hat, dass gerade Kafka
ihm geholfen habe, zu begreifen, dass
man auf eine andere Art schreiben
kann. Aber weswegen dürfte man behaupten, dass Kafka ein glückliches
Ende hatte? Sicherlich nicht wegen
der Tuberkulose, sondern weil seine
drei Schwestern (Gabriele, Valerie
und Ottilie) im Konzentrationslager
geendet sind. Im KZ Ravensbrück
starb ebenfalls Milena Jesenská, in
die sich Kafka 1920 verliebte und an
die er seine legendären Briefe schrieb.
Um Brods Bild aus seinem Roman zu
entgegenen, sollte man vielleicht etwas zu den sentimentalen Beziehungen Kafkas sagen.
Im Jahr 1912 lernte er Felice Bauer
kennen. Zwei Jahre später haben sie
sich verlobt, aber die Verlobung wurde bald danach gelöst. Im Jahr 1917
folgte die zweite Verlobung mit der
selben Dame und mit dem selben,
vernichtenden Ausgang.
Danach kam Julie Wohryzek an die
Reihe. Die Verlobung fand 1919
statt, wurde aber ebenfalls gelöst,
nachdem Milena Jesenská Kafka erobert hatte. Im Jahr 1923 lernte er
Dora Dymant kennen, eine zwanzigjährige Jüdin aus Galizien, die ihn
bis zu seiner Todesstunde begleitete.
33
Kafka gehörte zum Prager Kreis jüdischer Autoren, den Max Brod, Felix
Weltsch, Franz Werfel, Oskar Baum
und Ludwig Winder bildeten. Es ist
ihm nie in den Sinn gekommen, politisch engagiert zu sein, aber mit der
Zeit stellte er sich als Schriftsteller
heraus, der eine Welt der totalitären
Hoffnungslosigkeit ankündigte, mit
menschlichen Individuen, die auf
hilflose Marionetten reduziert sind.
Er ist der Prediger des Unfriedens,
der das Leben als elementares Versehen betrachtet und der der Hoffnung keinen Raum lässt. Alles, was
er geschrieben hat, ist passiert: in der
Bahn von Gregor, der zu einem Insekt missformt ist, im Vater, der seinem Sohn das Blut saugt, im Mann,
der schuldig ist ohne Schuld, in der
Angst, die den Planeten überflutet
hat und die er in seinen Romanen
so virtuos benannt hat.
Benjamin erinnert daran, dass Kafka Robert Walser mochte, einen Erzähler, deren Figuren im Halbdunkel
schwimmen. So sind auch seine Helden, wie Gandharvas, undefinierte
Wesen in fest-gasförmigem Zustand.
Kafkas nie ganz erklärbares Geheimnis generiert sich zum großen Teil aus
seiner Beziehung zum Vater. Im Jahr
1919 schrieb er den Brief an den Vater, eine Art autobiographisches Resümee und intime Abrechnung mit
dem elterlichen Willen, in dem er
Repression und das Bedürfnis nach
Domination identifizierte. An einer
Stelle behauptet er direkt, dass der
Vater für ihn ein Rätsel darstelle, das
alle Tyrannen mit sich tragen. Selbstverständlich konnte es zwischen Hermanns Händlergeist und Franzens
dichterischer Unangepasstheit keine
Harmonie geben. Es drängt sich der
fast ultimative Vergleich mit Kamov
auf, Kafkas Zeitgenossen und Rebellen, ebenfalls in einer Händlerfamilie geboren. Der Schriftsteller aus
Rijeka wählte sein Pseudonym nach
dem biblischen Ham, dem jüngsten
Sohn Noahs, der den Vater ob sei-
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ner Nacktheit auslachte, so das ursprüngliche Bedürfnis nach Freiheit
ausdrückend. Auf der anderen Seite wirft Kafkas Vater die Decke von
seinem Körper ab. Als ob er fürchtet,
dass sein Sohn ihn auf diese Weise
ersticken oder seine Macht neutralisieren könne.
Indem er diese Last abwirft, wirft der
Vater jede Art von Verantwortung
von sich ab. Mit der Welt der Väter,
wie auch mit der Welt der Bürokraten, verbindet Kafka Dumpfheit und
Schmutz.
Zwischen autoritären Eltern und autoritären Beamten scheint es keinen
Unterschied zu geben: darauf wies
in seiner Rezension schon Benjamin
hin. Nach dem Jurastudium und der
Anstellung bei einer Versicherungsgesellschaft führte Kafka ein Doppelleben. Tagsüber ging er der Arbeit
nach, für die er bezahlt wurde und
des Nachts büßte er für seine Kreativität und das instinktive Bedürfnis
zu schreiben.
Seinen bürgerlichen Beruf und den
Doktortitel in Rechtswissenschaften
trennte er streng von seiner künstlerischen Berufung, die er für sich behielt und den Kreis seiner intimen
Freunde. Kafkas Doppelheit oder
Doppelgleisigkeit ist auf ihre Weise in Buñuels Schönen des Tages weitergeführt, die in den späten sechziger Jahren entstanden ist. Denn
der französisch-mexikanische Cineast bediente sich, ebenso wie der Prager Schriftsteller, einer gebrochenen
Struktur und bietet die Geschichte
über eine Frau, die als feinste Dame
der Gesellschaft lebt, sich gleichzeitig als Schlampe verkauft. Aber diese Doppelheit bedeutet nicht unbedingt eine Art des oberflächlichen
Moralisierens. Buñuels Koffer mit
doppeltem oder dreifachem Boden
kann man auf verschiedene Weisen
verstehen; als nackte Wahrheit, als
Form der Fantasmagorien der Heldin, aber auch als der Sprung des
Regisseurs in den Ozean des Unbe-
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Dossier: Zdravko Zima
wussten, in dem konventionelle Regeln nicht gelten.
Etwas Ähnliches geschieht in Kafkas
Prosawerken. Die Lehrerin und die
Schüler, die das Klassenzimmer betreten und in ihm verschlafene Liebhaber finden, stellen eine solche Szene dar, in der der Autor Welten miteinander verflicht, Warm und Kalt
mixt, Anständigkeit und Vergehen
und zu dem Punkt gelangt, in dem
sich das Phantom der Freiheit entlarvt. Die Frage nach Kafkas Exemplarität ist immer in gewissem Maße
eine Frage des Umfelds. In den Jahren
seine Reifung war Prag alles andere
als eine Provinz. Im Jahr 1898 fand
dort die erste wichtige Ausstellung
des „Jugendstils“ statt. In Prag wirkte die Gruppe „Osma“, deren Mitglieder die Maler Bohumil Kubišta,
Otakar Kubín, Friedrich Feigl und
Willy Nowak waren.
Man darf auch nicht vergessen, dass
Hašek Kafkas Altersgenosse war und
dass in Prag Rilke und Kisch geboren
wurden, obwohl sie ihr Leben, jeder
aus eigenen Gründen, in wesentlich
geringerem Maße an Prag gebunden
haben. Als Kafka gestorben ist, war
die glorreiche Doppelmonarchie schon
längst vergangen. Der Prager Franz
wurde als Untertan Seiner „kaiserlichen und königlichen“ Majestät geboren und starb als Bürger von Masaryks Tschechoslowakei. Doch er war
für viel weitreichendere Unterfangen
vorherbestimmt, um die Welt aus einer ideologisch-anghängerischen Perspektive zu hinterfragen.
Kafka ist ein Schriftsteller, der an
der Tür steht und man weiß nie, ob
er kommt oder geht. Mit einem Teil
seines Wesens schreitet er auf dem
Straßenpflaster, mit dem anderen
taucht er in den Raum des Geheimnisses ein, dort, wo die Möglichkeit
neuer Erkenntnisse von der Kraft der
Selbstrealisierung abhängt.
Er war von eshatologischen und esoterischen Fragen besessen und von
seiner Begegnung mit Rudolf Steiner,
TIONS
der im kroatischen Teil der ehemaligen k. u. k. Monarchie geboren wurde, hinterblieb in seinem Tagebuch
nur eine karge Notitz. Kafkas Spuren
in Prag bieten sich auf Schritt und
Tritt an. Im strengsten Zentrum, in
der Nähe der Nikolauskirche, wo
einst sein Geburtshaus stand und in
der Goldenen Gasse, wo er eine Zeit
lang lebte und schrieb, im Kaffeehaus, das Milenas Namen trägt, an
der Ecke von Mikulaška und Altstädter Ring, wo der Roman Das Schloss
entstand. Und dann, der jüdische
Friedhof Olšany. Eines heißen und
swülen Nachmittags war ich dort,
nach einigen erfolglosen Versuchen.
Lebt er nicht vielleicht noch in der
Erde, fragte sich im Gedicht Gräber
der italienische Bürger Splits Ugo
Foscolo. Vor seinem Obelisken stieß
ich mit einem jungen Mann zusammen, der eine Kappe trug (die Juden
sagen Kipa) und mich als ungebetenen Gast behandelte. Jenes Unbehagen und Schuld, mit denen Kafkas
Romane gewürzt sind, schmeckte ich
wieder einmal am Grab des Dichters.
Trotzdem, am 3. Juni, an Kafkas 75.
Todestag flackerte auf seiner letzten
Ruhestätte in Olšany eine Kerze aus
Kroatien.
Ich weiß nicht, wie lange sie gebrannt
hat, denn ich hatte nicht vor, die Kälte des Friedhofs mit einem heißen
Fanatiker zu teilen, der den Raum des
Obeliskes als sein unenteigenbares
Lehen betrachtete. Ist das wieder das
Paradox, ein Geflecht von Zufällen
oder ein kafkaeskes, schwarzhumoriges Spiel? Bachelard schrieb, dass
sich in der Flamme verdichtete Zeit
befindet. In der Flamme lebt, und
verschwindet mit ihr, der scheinbar
schreckliche jedoch eigentlich schreckhafte Salamander. Ist nicht seine nächtliche Natur, vereint mit der reinigenden Kraft des Feuers die genaueste
Verkörperung Franz Kafkas?
Aus dem Kroatischen von
Marijana Miličević Hrvić
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Freud und Krleža
oder das Leben mit dem Torso
Zdravko Zima
D
ie Geschichte der Habsburgermonarchie zwischen 1848 und
1918 hat Hermann Broch mit der
Syntagma „heitere Apokalypse“ bezeichnet. Dieser Neologismus könnte als ein Witzwort oder als contradictio in adjecto verstanden werden,
wenn sie nicht den Geist der Franzjosephinischen Welt beinhalten würde,
die sich mit ihrem Apogee, dem unglaublichen wissenschaftlichen und
künstlerischen Schwung, dem definitiven Zerfall nähert. Auch heute,
im neuen Fin de siècle, stellen wir uns
erneut die Frage, was für eine fruchttragende Spannung in einem so begrenzten Zeitraum und auf einem
relativ beschränkten Raum eine solche intellektuell-künstlerische Blüte
ermöglichte. Freud, Brentano, Rank,
Adler, Wittgenstein, Mahler, Schönberg, Wolf, Musil, Kraus, Roth, Altenberg, Loos, Klimt, die Juden und
die Deutschen, die Katholiken und
die Konvertiten, die Linken und die
Rechten, die Kosmopoliten und die
Befürworter der Rassenreinheit, wie
es der zur Jahrhundertwende in Wien
lebende H.S. Chamberlain, Sohn eines englischen Admirals und Propagandist der teutonischen Überlegenheit einer war. Der ungefähr 70 Jahre
lange Zeitraum der „heiteren Apokalypse“ ist außergewöhnlich nicht nur
wegen seiner kreativen Reichweite
und des Bewusstseins seiner Prota-
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gonisten, dass sie, am Höhepunkt
stehend, den nahenden Niedergang
ankündigen. Nichts ist so betörend
wie das monarchistische Wien, getragen von der Biedermeiertradition,
dem Walzertakt und der reinigenden Operette, nichts war so transparent wie das Bewusstsein der Wiener
Meister, von Kraus bis Zweig, dass
ein Reich und eine Welt ihrem unausweichlichen Ende entgegensehen.
Am Ende des zweiten Jahrtausends
bringt uns dieses agonale Bewusstsein mit einer gravitationsähnlichen
Kraft, in der das geschichtliche Maß
dem Maß der Krise und der zyklischen Wiederholung des ewig Gleichen entspricht, zu Wien zurück. So
sehr wir mit Wien verbrüdert wurden, nicht nur wegen unserer Zugehörigkeit dem Franzjosephinischen
Reich, so sehr waren wir dieser Welt
entfremdet. William M. Johnston
erklärt, dass uns von dieser Welt am
meisten die enzyklopädische Breite
des Wissens entfernt. Freud, Wittgenstein und Schönberg waren so
allseitig gebildet, dass man sie heute,
in der Zeit der Oberflächlichkeit und
allgemeinen Fachidiotismus, für komische Amateuere halten würde.
In unserer sozial-kulturellen Umgebung würde diese Art Vergleich nur
Krleža bestehen können. Geboren
in einer Epoche, in der Kroatien ein
Teil der Österreichisch-Ungarischen
Monarchie war, ist Krleža ihr Kind
und ihr legitimer Fortsetzer, trotz
der Tatsache, dass er das ganze Leben
lang dieser Welt und ihren Traditionen entschlossen den Stinkefinger
zeigte. Da er die psychoanalytischen
Ansätze und alles akzeptierte, was
einer der größten Wiener jener Zeit,
Sigmund Freud, hinterließ, wäre die
richtigste Bezeichnung für den von
Krleža beschritten Weg: Vatertötung.
So tappen wir in die Falle der Liebe
und des Hasses, die das Leben des
psychoanalytischen Papstes als auch
des kroatischen literarischen Patriarchen restlos geprägt hatte.
Freuds Verhältnis zur damaligen Medizin und der österreichischen Hauptstadt war äußerst widersprüchlich. Er
wurde 1856 in Freiberg geboren, einer
Kleinstadt im nordöstlichen Mähren
und in Wien lebte er seit seinem
vierten Lebensjahr. Zwar war Freud
überzeugt, dass Wien nichts mehr als
eine gelungen dekorierte Provinz ist,
doch allen seinen Frustrationen zum
Trotz hätte er nie daran gedacht, diese
Stadt zu verlassen. Wien hatte seine
Nachteile, war aber gleichzeitig Errinnerungsbastion und Pflanzstätte
der Neuigkeiten, sowie ein fruchtbarer Boden für die Entfaltung seiner wissenschaftlichen Ambitionen.
Freud sparte nicht mit giftigen Bemerkungen auf Kosten von Wien,
obwohl der Erste Weltkrieg, der den
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Glanz der Österreichisch-Ungarischen
Monarchie löschte, durch seine Geschehnisse, das Trauma und den Todesgeschmack betonte, von dem sein
ganzes Werk durchdrungen ist. Übrigens genauso wie jenes von Krleža.
Ende 1918 konnte Freud nur zur
Schlussfolgerung kommen, dass die
Österreichisch-Ungarische Monarchie tot ist, dass er aber trotzdem
Wien nicht verlassen will. „Ich werde mit dem Torso leben und es mir
als Ganzes vorstellen“, hat er niedergeschrieben. So ein Derivat von
Wien war für Krleža Zagreb, nur mit
dem Unterschied, dass der kroatische
Schriftsteller die von Josip Broz Tito
geschaffene Gemeinschaft des südslawischen Vielvölkerstaates akzeptierte und sie an die Stelle seiner tief
unterdrückten k.u.k. Faszinationen
treten ließ.
Sigmunds Vater Jakob war Wollhändler und 1860 ist der kleine Sigmund mit der Familie nach Wien
umgezogen. Dort lebte er bis zum Juni 1938. Sein Medizinstudium dauerte mehr als acht Jahre, nicht wegen seiner Faulheit, sondern wegen
seiner zahlereichen Interessen und
des Wunsches, parallel als Assistent
in dem physiologischen Laboratorium von Ernst Brücke zu arbeiten,
einem vielseitigen Psychologen und
seinem Lieblingslehrer. Von Brücke
überredet, widmete sich der zukünftige Physiologe der allgemeinmedizinischen Praxis, wobei er besonderes
Interesse für Neurologie und Neuropathologie pflegte. Mit der Frau
Martha Bernay hatte er sechs Kinder.
Die Ehe von Siegmund und seiner
Frau Martha war eines der seltenen
Beispiele einer glücklich legalisierten
Beziehung, die dem Wiener psychoanalytischen Propheten den so benötigten Zufluchtort gewährte. Vorerst
wohnten sie in Sühnhaus und von
1891 bis 1938 in der Berggasse, in der
Straße in der auch Wilhelm Reich seinen Wohnort hatte. 1923 erkrankte
Freud an Gaumenkrebs und musste
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Dossier: Zdravko Zima
33 Operationen unter Lokalanästhesie durchmachen. Als Hitlers „Anschluss“ kam, ließ sich der 82-jährige
Freud zur Emigration nach England
überreden, ein Land, für das er schon
immer offene Sympathien hegte. Ein
Jahr später starb er in London. Er
starb weit weg von der Stadt, die er
gleichzeitig liebte und verachtete und
der er viel mehr zu verdanken hatte,
als er das sich eingestanden hätte.
Das Abenteuer der Selbstanalyse, in
die sich der Wiener Seelenarzt einließ, ist bei Krleža zum Abenteuer
des Selbstschreibens geworden. Dort
wo Freud talking cure vertrat, wählte
Krleža writing cure, oder das Schreiben als Atmen. Nur so sind die Ausmaße dieses mehrstimmigen Opus
zu verstehen, das allmählich zum Gespräch mit der ganzen Epoche wird,
zum Gespräch, das eher ein Monolog
ist und sehr selten ein Dialog. Worin
bestehen die Ähnlichkeiten und worin die Unterschiede?
Indem Freud die psychoanalytische
Pyramide aufbaut, legitimiert er sich
selbst, während Krleža, auch wenn er
sich in seine Tagebuchobservationen
einlässt, am meisten über die anderen
schreibt. Der eine deckt auf, der andere verbirgt; der erste erforscht den
Ödipus-Komplex, der zweite ist von
Lenin fasziniert, in dessen revolutionären Gestalt er seine Komplexe und
seine Revolte gegen den Vater einfließen lässt. Freud hat sich sehr früh als
kämpferischer Atheist ausgegeben,
obwohl er sich nie von seinem Judentum losgesagt hatte. Krleža war antiklerikal eingestellt und sehr kritisch
der institutionellen Kirche gegenüber, obwohl hinter seinen bombastischen Ausfällen sein latenter Katholizismus zu spüren ist. Dass es dem so
ist, zeigt seine ständige Beschäftigung
mit den Protagonisten der nationalen
Geschichte, wie mit dem Dominikaner Juraj Križanić und dem Bischof
Strossmayer, aber auch sein ganzer literarischer Nachlass. Von der Legende, einer alttestamentarischen Phan-
TIONS
tasie in drei Bildern, von Michelangelo, Adam und Eva, von Golghata bis
zum Zyklus über die Glembajs, befasst sich Krleža mehr oder weniger
mit dem Phänomen des Jenseits und
des Transzendenten. Das was auch
Schorske bei Kokoschka und Schönberg feststellte – dass sie nämlich zwei
antibürgerliche Bürger sind – könnte aus vielerlei Gründen auch Krleža
betreffen, der sein ganzes Leben lang
auf einem schmalen Grat wanderte:
zwischen den sozialistischen Illusionen und dem notorischen Egozentrismus, zwischen der Spiritualität
und der Geschichte, und letzten Endes, zwischen der Rationalität und
dem Bedürfnis, das eigene Gewissen
zu schützen, oder im Grunde genommen, dem Bedürfnis der Erlösung
(was nicht anders als eine verborgene Religiosität ist). Krležas Protagonist in der Novelle Hodorlahomor
der Große träumt seit seiner Kindheit
von Paris, während Freud von Rom
besessen ist. Das Verhältnis zur ewigen Stadt ist wiederum zweideutig
und mindestens gegensätzlich. Denn
Rom ist eine der Wiegen der klassischen Zivilisation, in die Freud bis
über beide Ohren verliebt ist, aber
gleichzeitig ist Rom Sitz des Papstes
und der römisch-katholischen Kirche, die bei dem psychoanalytischen
Papst keine besondere Begeisterung
wecken. In Anbetracht seiner Zuneigungen wird in den psychoanalytischen Erforschungen Freuds das
Hauptaugenmerk auf den mythischen Ödipus gelegt. Jeder Mensch
lebt in bestimmtem Maße den Ödipus-Komplex, weil in ihm ein glimmender Wunsch vorhanden ist, den
eigenen Vater zu töten, seine erste
Autorität loszuwerden und mit der
eigenen Mutter zu schlafen. So wiederholt sich immer wieder Ödipus’
Schicksal, es wiederholt sich die Geschichte als ein endloser mit Tränen
und Toten als Karyatiden gepflasterter Saal. Der Tod von Siegmund
Freuds Vater im Jahre 1896 geschieht
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in der Zeit, wo die Positionen des liberalen Judentums in Wien schwach
und die rechten Kräfte stark werden.
Es ist die Zeit der Dreyfus-Affäre
und die Zeit von Émile Zola, der für
Siegmund Freud ein politischer Held
war. In seiner Studie über Wien führt
Schorske die fast unglaubliche Angabe über den siebzehnjährigen Freud
an, der stolz ablehnte, den Hut vor
dem Kaiser zu lüften. Wie würde
man so eine Geste in Kroatien verstehen, in der das Hand-aufs-HerzLegen, während die Nationalhymne
gespielt wird, zur Pflicht geworden
ist? Aber Freud ekelte sich vor dem
Verhalten seines Vaters, der sich den
antisemitischen Beleidigungen nicht
entgegensetzen wollte. Seine Leidenschaft für die Politik hat er deshalb
durch wissenschaftliche Errungenschaften aufgewogen: so machte er
sich von der Trivialität los und überwand den väterlichen Schatten.
Freuds Vater träumte davon, dass sein
Sohn es bis zum Ministerlehnsessel
bringen wird, aber Sigmund hat das
wissenschaftliche Kabinett und das
psychiatrische Sofa gewählt. Der Sieg
der Wissenschaft über die Politik
stellte die Vatertötung dar; der Aufstand gegen die feste Ordnung ist in
der Zone des Unbewussten und in
der zerstörenden Kraft der Psychoanalyse. Wissenschaft hat wenigstens
für kurze Zeit über die Geschichte
triumphiert, der Sohn über den opportunistischen Vater. Durch diese
Vaterverneinung wird auch die Verneinung der obersten Autorität vorgetäuscht, genauso wie der Königsmord in der Französischen Revolution die Gottestötung fingierte und
an die Stelle der ehemaligen TriadeGehorsamkeit, Hierarchie und Patriarch – die Dreifaltigkeit der Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit auf
den Thron erhoben wurde. Freuds
intime Umlaufbahn und seine wissenschaftlichen Erforschungen zeugen davon, dass in der Grundlage
jeder Existenz der Konflikt zwischen
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Essays
dem Vater und dem Sohn ist. Wie
wurde dieser Konflikt bei Krleža gelöst? In seiner ausführlichen Chronologie wird von Lasić eindeutig behauptet, dass der Vater der heikelste
Punkt von Krležas Biographie ist.
Krležas biologischer Vater war ein
städtischer Oberwachposten bzw. Polizist, aber über seine Familie hat der
Schriftsteller, der ansonsten nicht gerade zurückhalten war, praktisch keine Zeugnisse gelassen. Der Weg des
umstrittensten kroatischen Literaten
der neueren Zeit, seine konvulsiven
Revolten und sein ständiges Bedürfnis nach Selbstbehauptung werden
vielleicht verständlicher, wenn wir
von den Erforschungen Lasić’s ausgehen. Von der Tatsache, dass dieser
Vater keinen festen Anhaltspunkt
hatte, dass er sehr früh aus seiner
Heimat in Zagorje in die Welt von
all den Traumata getrieben wurde,
die er dann in seinen Sohn hineinprojizierte und dass er auf dem Zagreber Hauptmarkt als der niedrigste Vertreter des Regimes von Khuen
Hedervary seinen Dienst verrichtete.
Krleža hatte das Bedürfnis, sich mit
dem Vater zu identifizieren, aber dem
überempfindlichen und intelligenten Jungen war das nicht möglich.
Im Nebel der eigenen Widersprüche und der geschichtlichen Wirrnisse, die durch die Balkankriege,
Zusammenbruch der Habsburgermonarchie, Vereinigung der südslawischen Völker, den Unabhängigen
Staat Kroatien und Jugoslawien von
Josip Broz geprägt wurde, gedieh ein
literarisches Talent.
Auf einer Seite die Häresie der Bogumilen, Križanić, Supilo und Vladimir
Iljič, auf der anderen Seite die literarischen Autoritäten wie Kranjčević,
Matoš, Kraus und viele andere, deren
Fackel er weiter Brennen ließ, aber
deren Wichtigkeit er nur selten auch
sich selbst eingestanden hatte. Im
Jahre 1900, als Krleža die erste Klasse der Grundschule abschloss und
dem Domherr Volović ministrierte,
37
hat Freud seine vielleicht wichtigste
Studie Die Traumbedeutung veröffentlicht. In demselben Jahr starben
Nietzsche und Wilde. Der erste als
Philosoph der globalen Geschichte, die nicht mehr die Stimme einer
Gottheit ist, der zweite als Anführer
vom Ästhetizismus und Amoralismus, die sich gleichermaßen in der
Kunst als auch im privaten Leben
merken lassen. In diesem Jahr hat
Thomas Mann Die Buddenbrooks zu
Ende geschrieben, die Chronik einer
Patrizierfamilie, die durch ihre Verbrüderung mit den geistigen Werten
ihren Niedergang beeinflusste und
die Dämmerung des bürgerlichen
Europas ankündigte. Desselben Europas, das das Attentat von Sarajevo
erschüttern, der Erste Weltkrieg zerstören und der Thriumphalismus des
Dritten Reiches der allgemeinen Orientierungslosigkeit ausliefern wird.
In der Traumdeutung erklärte Freud,
dass der Traum nichts anders als die
Sublimation des Wunsches ist. Im
Zweiten Weltkrieg, in der Angst vor
den extremen Linken und Rechten,
wurde Krleža oft in der Nacht wach
und schrieb seine Träume nieder. Mit
den öffentlichen Träumen oder Idealen hat er schon längst gebrochen:
im Ludoviceum in Pest, als mit dem
Ersten Balkankrieg vor seinen Augen Serbien als Leitstern aufgegangen ist. Während des Zweiten Balkankrieges hat Krleža dem Tode ins
Auge gesehen und sich durch puren
Zufall gerettet. In diesem Augenblick
war er gleichzeitig jung und alt. Er
war kaum 20, hat aber erbittert alle Brücken hinter sich abgebrochen.
Er hat das Studium und die Offizierlaufbahn aufgegeben, enttäuscht
durch die Erkenntnis, dass er seine
Ideale dort hegte, wo die anderen
ihre Eroberungsappetite anfachten.
Außerhalb der Arztpraxis hat Freud
Blumen, Pilze und Tarot gemocht,
ein Kartenspiel, dass genauso Esoteriker als auch die Astrologen und
Kabalisten anzieht und dessen größ-
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Dossier: Zdravko Zima
bar war. In der Kirche, genauso wie
beim Militär, hat Freud die künstlich geschaffenen Massen erkannt,
die sich nur mit größerem oder kleinerem Zwang erhalten können. Den
Verdienst für die Erneuerung der
katholischen Werte hat man nach
Freud mehr der Syphilis als jedem
Kathechismus zu verdanken, die am
Anfang des Jahrhunderts das Enthaltsamkeitsgebot aufzwängte. Krleža
hat von der Religion und ihren Vorkämpfern grundsätzlich das abgestoßen, was ihm selber nicht erspart
blieb – fanatischer Geist. Es scheint
ein Paradox zu sein, aber seine Literatur war, trotz allem, tief mit eschatologischen Fragen durchwoben. Anscheinend fand der junge Krleža das
Gegengewicht in der linken Utopie
und in der Gott gewordenen Mumie
Lenins, während Freud seine Ideen
über das Jenseits mit seiner Leidenschaft für Archäologie verkleidete,
in eine Art Balsamierung der Vergangenheit, der seine ganze Epoche
gewidmet war.
Mit dem Zerfall der ÖsterreichischUngarischen Monarchie war Freud
auf den Torso verurteilt, den er sich
als die Ganze vorstellte. Über Krleža
könnte man kaum was anderes sagen. Auch seine Ideale sind wie Seifenblasen geplatzt und hinterließen
nur das Groteske, zu dem er verurteilt oder zurückgeführt wurde, sogar
auf dem Friedhof Mirogoj, als er statt
mit dichterischer Würde mit einer
militärischen Ehrensalve begraben
wurde. Tausendundein Tod, wie das
der Titel seiner bekannten Novelle
besagt oder millionundein Traum,
den Freud festhielt. Vielleicht ist das
Leben nur ein Traum, nur ein Zwillingsbruder des Todes. Mit dem neuen Fin de siècle, mit den Freud’schen
Projektionen und den Lektionen von
Krleža, nimmt so eine Schlussfolgerung den Platz ein, in dem von dem
Zauber des Möglichen keine Spur
mehr übrig bleibt.
Aus dem Kroatischen von
Helen Sinković
Foto: © Višnja Arambašić
te Bedeutung darin ist, dass es allen
Ordnungsversuchen entweicht. Der
private Krleža ist am liebsten auf dem
Zagreber Hügel Cmrok spazieren gegangen und genoss die französische
Küche und angenehme Gesprächsrunden im Palace-Hotel.
Auf jeden Fall ist symptomatisch,
dass weder der Wiener Papst noch
der Zyniker vom Hügel Gvozd keine besonders gute Meinung über
das Frauengeschlecht hatten. In den
Werken von Krleža war das schwächere Geschlecht zu nicht mehr als
Frivolität und Hysterie fähig und in
Freud’schen Visionen sind die Frauen
auf die kastrierten Männer zurückgeführt, wobei ihre Unzufriedenheit
dem Penisneid entstammt. Was das
Verhältnis zum Glauben angeht, behaupten gute Kenner von Freuds
Leben, dass er trotz seines Antiklerikalismus äußerst religiös war. Rom
liebte er viel mehr als die Katholische Kirche, während sein Verhältnis zum Judentum gespalten und mit
eindeutigen Formeln schwer erklär-
TIONS
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Der Essay als Roman,
der Roman als Essay
Zdravko Zima
S
ich über den Essay und den Roman zu äußern, ist vielleicht nichts
anders als sich über das Ähnliche
zu äußern. Schon die oberflächliche
Einsicht in die Vergangenheit suggeriert, dass sich die Theoretiker über
die Bestimmung und Deutung dieser zwei Genres nicht einig geworden sind. Es ist eine Binsenwahrheit, dass die Bezeichnung Essay von
Michael de Montaigne stammt, den
sein Buch (seine Bücher) mit dem
gleichen Titel bekannt machte und
dass er nach all dem feststellte, das
philosophische Unwissen oder docta
ignorantia sei Endzweck aller intellektuellen Forschungen. Obwohl der
französische Philosoph als Gründer
der essayistischen Schrift betrachtet
wird, er selbst entdeckte essayistische Spuren in den Werken der altgriechischen und römischen Autoren. Viele Titel aus der europäischen
geistigen Schatzkammer tragen in
sich Bezeichnung Essay (Lockes Versuch über den menschlichen Verstand,
Voltaires Versuch über die Sitten und
den Geist der Nation, Popes Versuch
über die Kritik), doch in der europäischen Literatur der neueren Epoche,
besonders mit Mann, Huxley, Gide
und anderen, ist das Essaysieren eine
Art Strukturierung des Romanstoffes. Das, was für den Essay charakteristisch ist, ist gewissermaßen im
Roman zu erkennen. Anfangs war
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der Roman an die konkreten Geschehnisse, geschichtlichen Daten
und Volksbräuche gebunden, was
praktisch bedeutete, dass die Autoren
solcher Bücher am meisten auf der
Handlung insistierten. Im 20. Jahrhundert wurde die Vielfältigkeit der
Erscheinungsformen dieser komplexesten und amorphesten literarischen
Gattung zusätzlich durch die Möglichkeit des Romans bereichert, zum
Bild der unsichtbaren Geschehnisse
im Inneren der Hauptgestallten zu
werden. Krleža hat einmal geschlussfolgert, dass sich die Gestalten in der
Prosa von F. M. Dostojewski des essayistischen Diskurses bedienen und
solcher Typ des Prosatextes wurde
später Roman-Essay (franz. romanessai) genannt. Innere menschliche
Gespaltenheit hat die Schriftsteller
seit jeher beschäftigt; ähnliche Problematik hat zur Zeit der intensiven
Erforschungen Freuds auch Huxley in seinem vielleicht bekanntesten Roman Kontrapunkt des Lebens
literarisch aufgearbeitet. Dieser Roman aktualisiert die Möglichkeit der
Gleichgewichtsschaffung zwischen
Vernunft und Leidenschaft, zwischen
dem inteligiblen und sensiblen Pol eines Einzelnen. Den ersten hat Huxley in der autobiographischen Gestalt
von Philip Quarles verkörpert, und
den zweiten, durch Emotionen und
Sinnesimpulse geprägt, stellt Mark
Rampion dar, für dessen Gestalt der
Autor die Idee in der Person des eigenen Freundes, D. H. Lawrence,
fand. Die Frage des Verhältnisses zwischen den beiden Extremformen des
menschlichen Verhaltens impliziert
in gewisser Hinsicht die Frage des
Verhältnisses zwischen dem streng
analytischen und amorphen Textmodell. Dieser Zwiespalt, die mögliche
Überwindung dieser zwei Extreme
und Erreichung einer entsprechenden Balance zwischen dem strukturellen und erzählerischen Textsegment, stellt für jeden echten Romanschreiber eine Herausforderung
dar. Trotz der erwähnten Debatten,
die sich letzten Endes auf die Gründe
des Verstandes und Herzens zurückführen lassen, hat das für die rezente
Literatur Wesentliche schon in den
sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts
John Barth auf den Punkt gebracht.
Indem er Borges apostrophierte, hat
Barth eigentlich nur wiederholt, dass
kein Schriftsteller mehr Recht hat,
sich auf die Originalität zu berufen.
Denn alle Schriftsteller sind mehr
oder weniger geschickte Meister des
Palimpsestes, fleißige Kratzer, wortwörtliche oder mittelbare Übersetzer
und Transplantatoren der vorhandenen Archetypen. Deswegen neigte Borges zu kürzeren Formen und
Notizen, so dass ihm der Roman in
seinem Kanon und Voluminosität
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fremd war und auch so geblieben ist.
Aus dieser Borges-Barthischen Position spross der Roman-Essay von Peter
Esterházy Das Buch Hrabals empor.
Ohne Rücksicht auf die mögliche
Genrediversifikation ist vielleicht die
wichtigste Tatsache, dass Esterházy
mit seinem Roman, der nicht zufällig DAS BUCH genannt wurde, also, mit dem Archetyp, die Ähnlichkeit (re)produziert. Der Bedarf nach
Ähnlichkeit ist mehr als irgendwo
anders in den Naturprozessen auffallend. Doch während die Ähnlichkeit
für die Natur ein Selbstschutzmodell ist, ist sie für den Schriftsteller
das Selbsterkennungsmodell. Wenn
wir feststellen, dass Das Buch Hrabals allen Klischees entweicht, wenn
ihre Grundhandlung karg und auf
die üblichen Muster nicht zurückführbar ist, dann sind wir der These
nahe, dass wir mit dem essayisierten Roman oder mit dem romanhaften Essay zu tun haben, in dem
der Autor, sich in der Gestalt und
dem Werk von Bohumil Hrabar widerspiegelnd, sein genauso groteskes
wie gutmütiges und narzisstisches
Selbstbildnis malt. In der üblichen
Literaturkritik wird hervorgehoben,
dass diese Prosa dem großen tschechischen Erzähler gewidmet ist, aber
gleichzeitig auch eine Widmung dem
Blues, dem Saxophon und dem Familienleben ist, in dem der Pater
familias auch der Schriftsteller sein
kann, aber in dem die warm-kalten
Zyklen genauso wie auch die Jahreszeitenzyklen gewiss sind. Damit die
Auseinandersetzung mit dem Lieblingsschriftsteller nicht zu auffällig
wird, damit die beiden Schriftsteller nicht unter vier Augen sprechen,
damit sie nicht wie zwei Widder auf
einem Balken stehen, hat der Autor
in die Handlungsmitte Anna gestellt,
Mutter von drei Kindern, die in Mußestunden Blues singt, ihren Mann
mit der Gulaschsuppe und Kaldaunen füttert und an seinen literarischen Exhibitionen vielleicht mehr
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Dossier: Zdravko Zima
als er selbst leidet. All dies und noch
vielerlei mehr verband Esterházy mit
den Jahren, in denen der Kommunismus schon die ersten Zeichen der
Müdigkeit zeigte, was seinen giftigen
Worten und Observationen an der
Grenze der Selbstbemitleidung eine
zusätzliche orgiastische Note gab. Indem er über das tschechische Vorbild
schreibt, schrieb der ungarische Erzähler über sich und indem er über
sich schrieb, schrieb er über (seine)
Frau und viele andere Frauen, all dies
mit dem Echo des schon erstarrten
Kommunismus übertönend – der am
Anfang des dritten Jahrtausends uns
als eine museale Tatsache erscheint.
Was die Gotteswerdung der Frau
angeht, die keine Berührungspunkte mit dem militanten Feminismus
hat, was die sprachlichen und vielerlei andere Gierigkeiten angeht, die
feinschmekerischen und anderen Rabelaischen und renaissancemäßigen
Genüsse, ist Esterházy in diesem Segment, sowohl Hrabal, als auch Günter Grass ähnlich; besonders dem,
was der deutsche Nobelpreisträger
im Roman Der Butt zeigte.
Ironie und Selbstironie, das Funkelnde und der Beichtton, der Witz und
die Laszivität, Intellektualismus und
Intertextualität, Sinnlichkeit und Orchestrierung aller möglichen Sinne,
Holismus und Hermaphroditismus
(verkörpert in der Doppelgeschlechtnatur des Saxophons und in der kindischen Wortspielerei: six, sax, sex),
Roman als Enzyklopädie und Roman
als Essay, das sind die Elemente, in
denen Esterházy viele Berührungspunkte mit dem deutschen Schriftsteller kaschubischer Herkunft zeigt.
Esterházy entstammt einer aristokratischen Familie und seine genealogischen Wurzeln gehen Jahrhunderte
zurück. Im Dienst seiner Vorfahren
war in höchsteigener Person Joseph
Haydn und hinter allen diesen Vorfahren glänzt die Grandezza der ehemaligen Monarchie, wobei sich diese
und ähnliche Einzelheiten in einer
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Art produktiven Skepsis niedergeschlagen haben, ausgedrückt in der
Feststellung, dass es Pech ist, als Ungar geboren zu werden. Jenseits aller
billigen Exaltationen wendet sich Erzähler in seiner Not an Hrabal und
behauptet in seiner Manier, dass sie
sich wie zwei Eier unterscheiden.
Und vom Malheur und nationaler
Identität hat in unseren lokalen Verhältnissen, bzw. in der Zeit der Nationalen Staates Kroatiens, schon Slavko Kvaternik bezeugt, als er erklärte,
dass Kroate zu sein keine Schande,
jedoch ein Pech ist. Da wir mit Ungarn seit der Pacta Conventa bis zum
Ersten Weltkrieg in der politischen
Konkubinat waren, dürfte uns diese
Form von der Esterházyschen Persiflage und Beharrlichkeit nicht allzu
fremd sein. Es gibt eine Reihe von
Anhaltspunkten für die Behauptung,
dass der Roman von Esterházy als
Essay verstanden werden kann. Sie
werden vom Schriftsteller selbst angeboten, der gleich am Anfang entdeckt, dass für ihn und seine Frau
Hrabal eine Lebensform geworden
ist. Sie hätten sich mit seinen Zitaten
beworfen, das Verhalten seiner Helden nachgeahmt und so weiter. Der
alte Spruch lautet similis similem appetit (der Ähnliche sucht den Ähnlichen), was dann bedeutet, dass es
leicht anzunehmen ist, warum Esterházy gerade mit Hrabal seine Batterien geladen und seinen Appetit gereizt hatte. Inwieweit der ungarische
Autor durch Literatur geprägt ist,
und zwar nicht durch die Literatur
als ein leeres Stichwort, sonder durch
die Literatur als etwas Fundamentales und Unumgängliches, wird an der
Stelle gezeigt, wo der Autor eingesteht, dass er sich zwischen dem Leben und der Literatur für die Literatur entschieden hatte, in der Überzeugung, dass es die einzige richtige
Wahl ist! Es ist schwer, sich über die
Tatsache hinwegsetzten, dass der Autor Mathematik und naturwissenschaftliche Studien abschloss, beson-
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ders deswegen, weil seine Neigung
zur Arithmetik und zum Zahlenspiel
auf jedem Schritt erkennbar ist. Wenn
er sich auf die Korrespondenz zwischen Russell und Frege beruft, erwähnt er den Brief vom 16. Juni
1902. Dieses faktische Datum diente ihm als Zahlensymmetrie, die sich
in der vorhandenen Bibilographie
und in der eigenen Biographie widerspiegelt. Dasselbe Datum, 16. Juni,
hat Joyce als den Tag genommen, an
dem sich die Handlung in seinem
Ulysses abspielt, an demselben Tag ist
Anna geboren und an demselben verhängnisvollen Tag musste die Familie
des Schriftstellers auf den Bauernhof
eines Großbauern umziehen. Zynisches Gespött, das Äquilibrieren von
Worten, linguistisch-stilistische Wortspiele, das Verstecken hinter den
„Grundgesetzen der Arithmetik“ und
der Frau, sind vielleicht im Dienst
einer Art Mimikry; Aufdecken, das
zugleich Verstecken und im Dienste
eines öffentlichen Selbstentwurfes
ist. Ähnlichkeitsherstellung, um die
sich der ungarische Erzähler bemüht,
sich dabei an sein tschechisches Vorbild wendend, ist in der Löschung
der Genregrenzen zu sehen, in der
Verbindung der dokumentarischen
und fiktionalen Elemente, sowie in
der Panoptikalität und Anekdotalität, zu der Esterházy, ebenso wie Hrabal, neigt. Nach dem Vorbild von
Karla Gutzkow, kann man Das Buch
Hrabals als Roman des Nebeneinander
definieren oder, mit anderen Worten,
als Roman des Parallelismus. In diesem
Roman vermittelt eine Frau im virtuellen Dialog zwischen zwei Schriftstellern, und diese Vermittlung ist
voller Anspielungen auf die Bücher
und verführerische Wohlgerüche aus
der klassischen tschechischen und
ungarischen Küche, aber auch voller
Erinnerungen an ein ähnliches mitteleuropäisches Schicksal, das wir letzen Endes als „die Sache“ erahnen.
Und was der Autor unter der Sache
meinte, kann man sich leicht denken.
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Essays
So viele Male wurde das Schreiben
mit dem Vorgang Palimpsestes gleichgestellt, und eine ähnliche Parabel
aktualisiert auch Esterházy auf den
Seiten dieses Buches. Frau Anna bemerkt nämlich, dass das Verb hrabal
schnorren heißt, was zur Schlussfolgerung führt, dass Esterházy nichts
anderes als ein Schnorrer ist; in der
Umgangssprache bedeutet es, dass er
auf die Kosten des anderen profitiert
und in der Literatur bedeutet es, dass
er jemand ist, der das schon vorhandene Erbe einsaugt und es durch geschicktes Transponieren oder Essayisieren in die eigene Prosa einbaut.
Damit aber diese Art der literarischen
Annäherung überhaupt möglich ist,
ist eine reizende Frau notwendig, die
als Schiedsrichterin zwischen zwei
Männern wie zwischen zwei aufgeplusterten Hähnen steht. Einer ist ihr
Mann, den sie nur dem Anschein
nach streng behandelt und der zweite
ist Hrabal, den sie anmacht, manchmal Bohumil und manchmal Bohus
nennt und in den besonders intimen
Augenblicken sogar Bohoušek. So
wie Anna ihre Schwangerschaft Mühe bereitet, so dass sie einmal schwört,
sie wird abtreiben und ein anderes
Mal wiederum, sie würde das Baby
auf die Welt bringen, so erlebt Esterházy mit Hilfe der Hrabal’schen Matrize das eigene Schreiben als Majeutik und immer dieselben Geburtswehen. Die Frau, die mit Hrabal durch
die Briefe kommuniziert, wird der
Versuchung nicht widerstehen und
den eigenen Mann bloßstellen, der
Hrabal in den langen Nächten „das
tschechische Wildschwein, den Spross
von Schwejk, Knödelfresser und ein
Bierfass“ schimpfte. Das bedeutet
nur, dass jede Liebe auch ein Feuer
ist und dass derjenige, der uns nahe
ist, manchmal Lichtjahre entfernt ist.
In den Abschlussszenen greift der Autor nach kumulativen Effekten, indem er den Raum und Zeit mischt
und indem er das Bild des Turms von
Ulm herbeiruft, der in sich die Kraft
41
der Integration trägt, die letzten Endes in der Saxophonhöhle von Charlie Parker Bird verborgen ist. Esterházy ist Schriftsteller, der ein Gehör
für Physik und Metaphysik hat, für
Mathematik und psychedelische Fantasieausgüsse, und für sein Vorgehen
spricht das Register der zitierten Namen Bände. Im Buch Hrabals haben
sich folgende Persönlichkeiten nebeneinander eingefunden: Barthes,
Joyce, Marina Cvetaeva, Dylan Thomas, Goethe und Schiller (als dualistischer Reflex nach dem Modell Hänsel und Gretel), Endre Ady, Attila
József, Sándor Petöfi, Hölderlin, Kafka, Philip Roth, Rilke, Céline, Theodor Fontane, Thomas Mann, Tolstoj,
Dostojewski, Julio Cortázar, I. B.
Singer, Lotman, Zenon, Platon, Plotin, Thomas von Aquin, Giordano
Bruno, Nietzsche, Swedenborg, „der
tapfere Mann aus Kopenhagen“ (eindeutig Kierkegaard), Russell, Frege,
Adorno, Hegel, Lukács, Wittgenstein, G. T. Fechner, Euklid, Newton,
K. F. Gauss, Einstein, Heisenberg,
Christian Huygens (hat den Begriff
der mathematischen Hoffnung eingeführt), János Bólyai, Gödel, Tiepolo, Salvador Dalí, Bruno Ganz (Lieblingsschauspieler von Thomas Bernhard), Oriana Fallaci, István Szabó,
Miklós Jancsó, Bach, Haydn, Mozart, Glenn Gould, Charlie Parker
Bird, Sonny Rollins (auch andere
Meister des Saxophons), Sonny Boy
Williamson, Ray C. Sartorius, Bessie
Smith, Roy Orbison, The Beatles,
Jethro Tull, Paul Anka, Karel Gott,
Rosa Luxemburg, Staljin, De Gaulle,
László Rajk. Und ein kroatische Serbe – Nikola Tesla. Abschließend soll
man Kundera und seiner Behauptung zustimmen, dass der Geist des
Romans der Geist der Komplexität
ist, der in diesem Fall durch die Ähnlichkeitsvortäuschung erhalten bleibt.
Damit alle Unklarheiten aus dem
Weg geräumt werden, muss man erwähnen, dass das Geheimnis der Meisterwerkstätte die Frau des Schriftstel-
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Dossier: Zdravko Zima
man; diejenigen die weit voneinander entfernt sind, aber zueinander
gehören, begegnen sich in diesem
Roman. Alles ist eins.“ Ein Verwandter von Esterházy, vielleicht Queneau,
würde das mit einem Wort ausdrücken: Egal! Roman oder Essay. Oder
beides, auf die Art und Weise, auf die
in dem Lob an Hrabal auch die eigene Macht zum Ausdruck kommt.
Aus dem Kroatischen von
Helen Sinković
Foto: © Boris Cvjetanović
lers herausgeplaudert hatte. Während
sie angenehm mit der „lieben Mutter“, eigentlich Schwiegermutter, plaudert, wird sie wortwörtlich zu folgender Feststellung kommen: „Alles fließt
in mich hinein. In mir ist alles was
ist und nicht ist. Ich bin wie ein Ro-
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Zdravko Zima, Jugendporträt
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Ein gewisser Herr Baudelaire
Zdravko Zima
I
n der jüngeren Vergangenheit der
europäischen Lyrik findet man
kaum ein Buch, das, seine Tentakel
ausbreitend und Vorgänge vorwegnehmend, die außerhalb der strengen
lyrischen Vorgaben lagen, die Geistesgeschichte derart revolutioniert
hat wie Baudelaires Die Blumen des
Bösen. Nach dieser Gedichtsammlung ist nichts mehr, wie es einmal
war: So wie sich die abendländische
Geschichte in die Zeit vor und nach
dem Erscheinen Jesu Christi teilt, so
wie der Zweite Weltkrieg einen Einschnitt im 20. Jahrhundert bildet, so
erwiesen sich für die Förderung und
Anerkennung der modernen Kunst,
nicht nur in der Lyrik, Baudelaires
bittere und giftige, nie jedoch welkende Blumen als revolutionär und
sind es bis heute auch geblieben.
Rimbaud hatte ihn zum wahren Gott
erklärt, die Surrealisten erkannten
in ihm ihren großen Vorläufer, und
wegen seiner magischen Dichtkunst,
die in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu seiner kaum spürbaren Eitelkeit steht, verglich Benjamin ihn mit Dante. Zu Beginn des
dritten Jahrtausends, da das Grauen zu etwas Alltäglichem geworden
ist, in einer Welt, in der allseits mit
Körper und Teufel manipuliert wird
(reduziert auf die Phänomene Prostitution und Militarisierung), mutet
er wie ein Prophet und Hexenmeister an, der weit voraus in die Zukunft
blicken konnte. Die Paraphrasierung
des alten Spruches „Charles Baude-
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laire, das sind wir alle“ gilt nur in dem
Maße, in dem dieser Magier zu Papier brachte, was die meisten anderen
in ihrer bürgerlichen Feigheit nicht
einmal zu denken wagten.
Die Krise der abendländischen Zivilisation, die zu seiner Zeit nur die
Wenigsten erahnten, diagnostizierte Baudelaire mit einer Wucht, die
den Rahmen einer Gedichtsammlung sprengt; umso weniger verwundert die Tatsache, dass die über ihn
geschriebene Literatur die Dimensionen seines wenig umfangreichen
Werkes bei Weitem übertrifft. Die
epochale Bedeutung von Die Blumen des Bösen (dessen serbischen Titel Đuro Šušnjić in einem Buch als
Cvetovi tla – Die Blumen des Bodens
transkribierte) stellt seit jeher einen
Kulturtruismus ersten Ranges dar.
Hugo Friedrich behauptet, dass dieses Werk, zumindest im Hinblick
auf seine architektonische Perfektion, das strengste Buch der europäischen Dichtkunst sei, das sich
denselben Rang mit Patrarcas Canzoniere und Guilléns Cántico teile.
Außer dem Wunsch, die eigenen Erfahrungen in einer systematischen
Struktur zusammenzufassen, hat der
Verfasser auch sorgfältig dem Kanon
der zahlenmäßigen Perfektion Rechnung getragen. Die Blumen des Bösen besteht aus einhundert, in fünf
Kapiteln angeordneten Gedichten,
wobei das kompositorische und numerische Gleichgewicht auf die mittelalterliche Vorliebe für Symbolik
zurückgeht, welche in der Formperfektion die kosmische Vollkommenheit reflektiert sehen wollte. Wie aber
erging es dem Züchter der Blumen,
zu seiner Zeit, in seiner Heimatstadt
Paris? Die erste Ausgabe von Die Blumen des Bösen erschien vor 150 Jahren, genauer: am 25. Juni 1857. An
diesem Tag wurde Baudelaires Herbarium, vervielfältigt in 1300 Exemplaren, in die Pariser Buchhandlungen geweht.
Nur zehn Tage nach ihrem Erscheinen wurde die Sammlung von Gustav Bourdin, dem Literaturkritiker
von „Le Figaro“, verrissen: „Zuweilen kommt Zweifel an der Gemütsverfassung Charles Baudelaires auf.
Größtenteils werden monoton und
bewusst dieselben Worte, dieselben
Gedanken wiederholt. Hier verbinden sich das Abstoßende und das
Scheußliche...“ Und der Rezensent
von „Le Journal de Bruxelles“ hält
fest: „Der Verfasser der ‚Blumen des
Bösen‘ ist ein gewisser Herr Baudelaire. Er gilt als eine Größe in
verschiedenen Zirkeln, die die Widerwärtigkeiten ihres bohèmehaften
Journalistentums zum Besten geben.
Man macht sich kein Bild vom Potpourri des Schändlichen und der
Sudeleien in dieser Sammlung. Von
einer ehrbaren Feder können diese
nicht einmal zitiert werden.“ Etwas
mehr als dreißig Jahre später schlug
der Dichter und Kritiker Jules Lemaître in seinem Buch Les Contemporains den letzten Sargnagel ein:
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„Ich öffne zwei kleine Sammlungen
Baudelaire’scher Gedanken, ‚Fusées‘
und ‚Mon cśur mis à nu‘. Es erübrigt sich zu sagen, dass diese mehr
als jämmerlich sind. Sie sind die infantilste Darlegung der Ansichten eines Menschen.“ Der Witz dabei ist,
dass Lemaître im Recht war, zumindest was bestimmte Angaben betrifft.
Das Kindische im Falle Baudelaires
stellt nämlich den ursprünglichen,
von Raum und Zeit befreiten Kern
dar, in dem sein Genie in Verbindung
mit kritischer Imagination Schwindel erregende und schwer zumutbare
Höhen erreichte.
Wie dem auch sei, die Abrechnung
mit dem Dichter und seiner Sammlung ging weit über den Rahmen literarischer Kreise hinaus. Der Druck
der öffentlichen Meinung war so
stark, dass Baudelaire seinen Verleger Auguste Poulet-Malassis in einem
Brief von einer Beschlagnahmung
seiner Schriften benachrichtigte und
ihm suggerierte, die übrigen Exemplare zu verstecken. Knapp zwei Monate nach dem Erscheinen saßen der
Dichter und sein Buch auf der Anklagebank. Der Ankläger war Ernest
Pinard, jener Inquisitor, der im selben Jahr (1857) bereits über Flaubert
und dessen Madame Bovary hergefallen war und in seiner Kastrationswut
den Roman völlig verunstaltet hatte. Wegen Verstoßes gegen die öffentliche Moral mussten der Autor
und sein Verleger ein Bußgeld von
300 beziehungsweise 200 Francs zahlen, sechs Gedichte wurden verboten
(„Lethe“, „Der Schmuck“, „Lesbos“,
„Verfemte Frauen“, „An jene, die zu
fröhlich ist“, „Die Verwandlungen
des Vampirs“) – doch die Welt drehte
sich weiter. Heute ist es ein Leichtes,
Baudelaire Beifall zu spenden, doch
im 19. Jahrhundert waren sich nur
wenige seiner revolutionären Kraft
bewusst und erkannten, wie etwa
Hugo, in seinen Reimen ein „neues Erschauern“. Ungeachtet sämtlicher Neuheiten war Baudelaire, sei-
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Dossier: Zdravko Zima
nem dichterischen Habitus nach, ein
Klassizist, ungeachtet des Gestus eines Dandys und trotz seiner geckenhaften Handschuhe benahm er sich
stets wie ein Nonkonformist.
Kaum ein Detail zeugt so beredt von
Baudelaire wie seine Handschuhe!
Man wäre geneigt zu glauben, dass er
sie der Mode wegen trug, obwohl dieser Manier jene verfluchte Ambiguität innewohnte, die ihm zeitlebens
anhaftete und ihm schwer zu schaffen
machte; er war berauscht vom Leben
und zugleich auf der Flucht vor ihm,
der Gegenpol seines Egozentrismus
lag im Bedürfnis nach Selbstkasteiung, während die nahezu synchronisierte Zuwendung zu Gott einerseits
und Satan andererseits zur Flamme
wurde, die das Feuer seiner Dichtkunst zusätzlich entfachte und ungeahnte Höhepunkte erreichen ließ.
Handschuhe sind eine Reliquie des
klassiszistischen Savoir-vivre, aber
auch Ausdruck des Ekels vor der
überall wie Unkraut hervorsprießenden Banalität. Zuerst eine sanfte Berührung, dann eine Ohrfeige, Loben
und Schimpfen, bezauberndes Stigma der Schöheit und entzaubernde
Macht des Nichts – in diesem Rahmen entfaltete sich und gedieh ein
durch persönliches Martyrium und
dichterischen Zündstoff erhöhtes Leben. In der katholischen Liturgie sind
Handschuhe nichts anderes als ein
Symbol der Unschuld und göttlicher
Reinheit. Dass Baudelaire weitaus öfter als Haschisch rauchender Wüstling bezeichnet wurde, der regelmäßig in Bordellen verkehre, ist lediglich
das umgekehrte Bild eines Rebellen,
der sich auf der falschen Seite des Lebens wähnte, das Bild eines Abtrünnigen, der mit religiös impostiertem
Sadismus und rachedurstiger Hysterie sein brennendes Bedürfnis nach
Heiligkeit befriedigte.
Wenn Mario Praz erläutert, dass primitive und raffinierte Menschentypen in ihrer Grausamkeit identisch
seien, Erstere wegen ihres Instinkts,
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Letztere wegen ihrer zerebralen Häresie, dann trifft er den Kern dessen,
was auch Baudelaire kennzeichnete,
diesen sensiblen und traumatisierten
Dichter, der seine Auflehnung gegen den Stiefvater in einen Aufstand
gegen die ganze Welt verwandelte.
Durch eine Laune des Schicksals fand
Baudelaire seine letzte Ruhestätte
auf dem Friedhof Montparnasse, in
derselben Gruft, in der der zweite Ehemann seiner Mutter, General
Jacques Aupick, beigesetzt worden
war, den er aus dem tiefsten Grund
seiner aufgebrachten und wunden
Seele hasste. Die in ihm gärende Revoltiertheit, die er nicht gegen seine
Mutter richten konnte, richtete er
gegen die Welt und gegen sich selbst.
Wie Hamlet und so viele andere Unglückliche, die ihren Elternkomplex
in ein bestimmtes Verhaltensmodell
umsetzten und ihre Rachegelüste gegen jemand oder etwas anderes richteten. Für Matoš war Baudelaire der
Bruder Fausts, František Xaver Šalda
erkannte in Baudelaires Sprache die
Funktionen von Aussage und Herausforderung, und Jean-Paul Sartre
erklärte seine Luzidität als Ausdruck
des Bedürfnisses nach Kompensierung. Das größte Gewicht hat vielleicht die Schlussfolgerung Valérys,
Baudelaire habe eine Sprache in der
Sprache erschaffen und die Poesie an
das Wesentliche zurückgeführt, als
einer der ersten französischen Dichter, die sich für die Musik begeisterten (Baudelaire hatte auch eine Studie über Wagner verfasst).
Baudelaire war derart fanatisch, dass
er lieber an Altem herumfeilte, statt
nach Neuem zu suchen, zumal wenn
Ersteres nicht den geltenden, an Perfektion grenzenden Kriterien genügte. Fasziniert vom Kult des Schönen, hatte sich dieser gefallene Engel der Kultivierung von Extremen
verschrieben in der Überzeugung,
das Kokettieren mit dem Satanischen
sei eine notwendige Voraussetzung,
um dermaleinst den Himmel zu be-
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sowohl Henker als auch Opfer, oder
wenn er den Dämon, der ihm wie ein
Schatten folgt, apostrophiert, zeichnet Baudelaire sein glaubwürdigstes
Selbstporträt. Dieser Parisius, der
seine sexuelle Gier im Untergrund
befriedigte, dieser Dichter, der eine schwarze und eine weiße Venus
hatte – Jeanne Duval und Apollonie
Sabatier – stellte mit seinen explizit
an George Sand adressierten Beleidigungen eine tief verwurzelte Misogynie unter Beweis. Schon früh begriff
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er, dass uns die Technik dermaßen
amerikanisieren würde, dass dies einem geistigen Rückschritt gleichkäme. Er verzweifelte über der alles nivellierenden Demokratie und drang
mit seinen Tentakeln bis zum Wesen
der Existenz vor. Kann man noch
mehr verlangen?
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Silvia Sladić
Foto: © Višnja Arambašić
rühren. Niemand vor ihm hatte so
beharrlich und dichterisch so beeindruckend die Aufdeckung der Freiheit im Bösen und die des Bösen in
der Freiheit betrieben, stets im Bewusstsein, dass es auf dem von ihm
gewählten Weg keine billigen Kompromisse gab. Wenn er den Albatros besingt, der in der grenzenlosen
Freiheit des Himmels viel schöner
ist als auf dem Schiffsdeck (da seine
riesigen Flügel ihn beim Gehen behindern!); wenn er behauptet, er sei
Kolumnen
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Van Gogh lebt
Zdravko Zima
I
m Spätfrühling 1990 trieb ich mich
mit einer Gruppe von Freunden in
Paris herum, doch in meine Begeisterung für die Schönheit der Stadt,
ihre Cafés und Frauen mischte sich
mein schlechtes Gewissen. Während
die französische Metropole die ganze
Palette ihrer unvorstellbaren Möglichkeiten vor mir ausbreitete (Lutetia non urbs, sed orbis!), während sich
die Maidüfte mit den Dämpfen von
Alkohol und Benzin vermischten,
drang aus dem Südosten Europas der
Gestank von Schießpulver heran. In
dieser kurzen und intensiven Zeit, in
der ich mich für meine Provinzialität
an den Vorzügen dieser Stadt schadlos hielt, für die aber selbst ein Jahr,
ja ein ganzes Leben nicht ausreicht,
wanderten meine Gedanken nach
Hause zurück. Die südslawischen
Brudervölker wetzten ihre Messer
und kramten aus Verstecken rostige
Keulen hervor, und während sich auf
dem Balkan erneut ein Gemetzel zusammenbraute, lebte es sich im Herzen Europas unvergleichlich schöner
und bequemer. Trotz unseres Appetits war Paris mit all seinen Versuchungen für uns nicht zu bewältigen,
während zur gleichen Zeit in Amsterdam zum 100. Todestag Vincent
van Goghs eine große Retrospektive
seiner Werke stattfand. Doch angesichts des Umstands, dass für einen
siebentägigen Kurztrip die in Paris
sich bietenden Möglichkeiten ohnehin bestürzend eingeschränkt waren,
beließen wir es bei dem Wunsch, in
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die Niederlande zu fahren, und blieben, wo wir waren. Ich vertröstete
mich damit, dass es schon schwer
genug war, an Eintrittskarten heranzukommen, und was mir damals
nicht gelang, habe ich 18 Jahre später, an einem Novembernachmittag
in Wien, nachgeholt.
Ich bin mir nicht sicher, ob es möglich ist, einmal Versäumtes überhaupt
nachzuholen und so zu kompensieren, doch Tatsache ist nun einmal,
dass in der österreichischen Hauptstadt und einstigen Hauptstadt Kroatiens eine Retrospektive der Malkunst Van Goghs stattfand. Ich glaube, der arme Vincent, wäre er am
Leben, hätte sich nicht einmal eine
Eintrittskarte leisten können (10,50
Euro). Unterdessen schlängelten sich
vor der Albertina die Wartenden in
so großer Zahl, dass man hätte glauben wollen, Seine Apostolische Majestät, unser allergnädigster Kaiser
und Herr, Franz Joseph I., König von
Ungarn und Träger zweier weiterer
Dutzend Erbtitel, wäre wiederauferstanden; indes ging dieser Rummel
auf eine ganz gewöhnliche Ausstellung zurück. In ihren Sälen beherbergt die Albertina eine der weltgrößten Grafiksammlungen mit 65000
Zeichnungen und über einer Million
druckgrafischer Blätter. Hier werden
Gemälde von Meistern wie Leonardo
da Vinci, Michelangelo, Raffael, Rubens, Rembrandt, Dürer, Kokoschka, Klimt, Schiele und anderen aufbewahrt. Doch in diesem Moment
strömte alles wegen Van Gogh in die
Albertina! Während ich in der Warteschlange nervös von einem Bein
aufs andere trat und meine Blicke
immer wieder zum Café Mozart und
Hotel Sacher wandern ließ, drängte
sich mir erneut die Frage auf, warum
solche Künstler erst nachträglich ihre
wohlverdiente Anerkennung erfahren. Van Gogh musste leiden wie Jesus auf Golgatha, seine Mitmenschen
mieden ihn, Connaisseure reagierten
mit Befremden auf seine Gemälde,
doch heute fühlt man sich privilegiert, wenn man ein paar Minuten
vor seinen Werken verweilen darf.
Zu Lebzeiten gelang es ihm, nur ein
einziges Bild zu verkaufen („Der rote Weinberg“ wurde für 400 Francs
von Anna Bloch aus Brüssel erworben); hundert Jahre nach seinem Tod
erzielte sein „Porträt des Doktors
Gachet“ auf einer Auktion des New
Yorker Christie’s einen Verkaufspreis
von 82,5 Millionen Dollar – und die
Ausstellung in der Albertina ist auf
drei Milliarden Euro versichert. Als
ich endlich vor den Gemälden stand,
wurde mir schwindelig. Ich weiß
nicht, welchen Anteil daran der unglaublich große Strom der Neugierigen hatte, die mir wie fanatische,
ihrem Idol huldigende Glaubensanhänger vorkamen, und wie viel der
Ausdruckskraft seiner Kunst selbst
zu schulden war. In Begleitung meines Freundes Vjeran trat ich an eine
Zeichnung heran, die in der Manier japanischer Strenge komponiert,
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aber von einer poetisch vibrierenden
Atmosphäre geprägt war; mir schien
es, als bewegten sich die Teichrosen,
als sei dies eine Pictura obscura, die
jenseits der Wand von einem zuständigen Kerberos, einem Wächter manipuliert würde, der an den Zuaven
Milliet erinnerte, jenen Unterleutnant, den Van Gogh mehrmals porträtierte und dessen Bildnis in verschiedenen Varianten in der Albertina ausgestellt ist. Ob beim Malen
von Blumen oder der Uniform dieses
exotischen Soldaten, Van Gogh bediente sich eines explosiven Rottons
als Ausdruck einer ebenso starken,
explosiven Leidenschaft. Gebannt
blieb ich vor den Bildern stehen, so
wie ein Alkoholiker vor einer großen
und schwer zu bewältigenden Menge ungeleerter Flaschen gebannt innehält. Wie ist das möglich? Wenn
es stimmt, dass alle Dinge beseelt
sind, wie die Animisten es behaupten, dann sind in diesen 140 Arbeiten
(51 Ölgemälde plus 89 Zeichnungen
und Aquarelle) nur allzu viele Spuren
der Seele Van Goghs enthalten.
Van Gogh ist ein Maler von solcher
Expressivität, dass selbst seine Natures mortes lebendig erscheinen! Seine Naturverzauberung ist so stark,
seine Liebe für die Erde, den Himmel und die Bäume so groß, dass der
Eindruck entsteht, als liebkoste er sie
und schaffe so eine pikturale Arithmetik, bei der die Präzision des Gestus im Widerspruch zum Ungestüm
der Imagination steht. Geschichten,
denen zufolge Van Gogh nachts unter freiem Himmel mit an der Hutkrempe befestigten Kerzen malte,
hatte ich stets für rein erfundenen
Blödsinn oder mystifizierende Darstellungen von Kunsthistorikern gehalten, aber nach dem Rundgang
durch die Albertina, der in manchen
Augenblicken an eine spiritistische
Seance erinnerte, waren alle meine
Zweifel verflogen. Mit Urteilen über
Van Gogh tut man sich schwer; nicht
nur wegen seines Ruhms, der post-
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Kolumnen
hum weit über die Grenzen seines
Metiers hinaus gewachsen ist, nicht
nur weil ich selbst kein Kunsthistoriker bin, sondern weil sein Śuvre
mit den schulüblichen Phrasen über
sein Genie und seine Beispielhaftigkeit nicht zu erfassen ist. Wenn es irgend etwas gibt, das den Menschen
in seinem Herzen und in seiner Seele berühren kann, dann sind das die
antiken Dramen, Shakespeare, Beethoven – und Van Gogh! Die Begegnung des Kunstinteressierten mit der
Gesamtheit der ausgestellten Werke
(die meisten wurden aus Amsterdam
herbeigeschafft, aber auch aus anderen europäischen und amerikanischen Museen) ist in jedem Einzelfall
eine Begegnung mit dem Erhabensten und Reinsten. Größere oder geringere Oszillationen gibt es nicht,
und die Gefühlsspannung, die Van
Gogh wie ein Kreuz mit sich herumtrug, ist förmlich im gesamten Raum
zu spüren.
Trotz des Andrangs der Massen, die
sich wie ein Strom in die Albertina
ergossen, trotz der Kustodin, die im
Minirock vor einem Selbstbildnis des
Künstlers (er schuf insgesamt 39),
auswendig herunterleierte, was sich
der Maestro dachte, als er in jener
pointillistischen Manier den Hintergrund dekorierte, war mein Eindruck perfekt. Weder Kindergetrappel noch sämtliche Sicherheitsvorkehrungen vermochten die Diversion zu verhindern: Van Gogh bohrte
von innen. Eine neuerliche Erschütterung bereitete mir „Der Sämann“,
mit dem er seinen Respekt für Millet
bekundete. Ein wahres Wunder! Erschütterung deshalb, weil Van Gogh,
fasziniert vom Land, von der Scholle,
diese Faszination durch die am Horizont aufsteigende Sonne verstärkt
und eine Atmosphäre schafft, in der
sich die Morgenstimmung mit den
gedämpften Tönen seiner Gemütsverfassung verbindet. Die Scholle ist
die Mutter, die unser Leben erst ermöglichende Mater(ie), die uns nährt
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und unsere Schritte trägt. Doch sie
verlangt ebenso, zu ihr zurückzukehren und ihr für immer anzugehören
– niemand hat das auf so ergreifende und klare Weise zum Ausdruck
gebracht wie Van Gogh. Dazu in
der Lage war nur ein Mensch, der
eine tief verwurzelte Traurigkeit in
sich trug und der Farben unbeirrbar
und ohne Zögern einsetzte, wie Artaud in seiner brillanten Studie festhielt. Das Bedürfnis, die Erde urbar
zu machen und in ihren Furchen Samen auszusäen, ist dem Geschlechtsakt vergleichbar, Abernten bedeutet
Gebären, das Einbringen der Früchte Stillen, und die Pflugschar ist ein
Phallussymbol. Diese Fülle ist von
tektonischer Kraft, quasi ein Ersatz
für die schmerzliche Schönheit der
Welt; sie ist auf den Bildern des unglückseligen Holländers, der Pastor
werden wollte und dessen Kontakte
zu Frauen stets mit einem Fiasko endeten, deutlich erkennbar.
Blättert man in den Romanen von F.
S. Fitzgerald, in denen die Welt wesentlich anders ist als das, wonach
Van Gogh strebte, wird man vielleicht zu der Überzeugung gelangen,
dass nach Ansicht des Schriftstellers
Reichtum und Schönheit letztendlich unversöhnbar sind. Belege dafür liefert uns unsere unmittelbare
Umgebung, die Magie des allmächtigen Mammons, der die Schönheit
korrumpiert, verseucht, zu Kitsch
und zur Leere einer Lebensauffassung nach dem Motto „Lasst mich
in Ruhe“ degradiert. Die Bewegung
der Banalität hat solche Ausmaße angenommen, dass wir morgen nicht
mehr erkennen werden, was Banalität überhaupt ist! Im Gegensatz
dazu war Van Goghs Lebensalltag
von stetem Mangel gekennzeichnet;
er war zu Hunger und Unverständnis verdammt, was durch seine reizbare Empfindlichkeit, gepaart mit
seelischer Verstörung und Ausbrüchen aggressiven Verhaltens, potenziert wurde. Seinen Mitmenschen
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Dossier: Zdravko Zima
zeugung durch, früher oder später
einmal aus der Anonymität herauszutreten. Vielleicht würde das nicht
für ihn selbst gelten, aber für seine
Bilder allemal. Ähnliches war auch
Stendhal widerfahren, dessen Religiosität von der seiner Zeitgenossen abwich. Dieser heute namhafte
Schriftsteller hatte sich damit abgefunden, für einen engen Leserkreis
zu schreiben, aber er war überzeugt,
dass in hundert Jahren seine Leserschaft weitaus größer und er selbst
ein gefeierter Autor sein würde. Außer dem Briefwechsel zwischen den
Brüdern Vincent und Theo sind auch
die Zeugnisse von Theos Frau sehr
aufschlussreich. Johanna van GoghBonger behauptete, Vincent habe
zwei Seiten, eine begabte, liebevolle
und eine selbstsüchtige, grobe. Der
Pfarrer Pietersen wiederum schrieb
in einem Brief an Vincents Eltern,
der junge Mann erwecke den Eindruck, in seinem eigenen Licht zu
stehen. Vielleicht erfüllte mich deshalb beim Verlassen des Museums
das Gefühl, etwas Vertrautes und
doch unvorstellbar Fernes berührt zu
haben. Mit der ihm eigenen Resolutheit beharrte Artaud auf der Ansicht,
dass Van Gogh-Ausstellungen immer
und überall ein historisches Ereignis
seien. Nach mehr als sechzig Jahren
ist diese Aussage gleichermaßen zutreffend wie in der Zeit, als Artaud
sie erstmals niederschrieb.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Silvia Sladić
Foto: © Višnja Arambašić
und besonders seinem Bruder Theo
gegenüber versicherte er, dass man
sein Schicksal klaglos erdulden müsse
und dass einzig dies zweckmäßig sei
(„Savoir souffrir sans se plaindre, ça
c’est la seule chose pratique...“). Interessant ist in diesem Zusammenhang
die Van Gogh-Biografie in Romanform von Irving Stone, in der Van
Gogh während seines Aufenthalts in
Den Haag den Maler Weissenbruch
um Hilfe angeht. Dieser hat keinerlei
Finanznöte, beantwortet Van Goghs
Bitten jedoch abweisend mit der Erklärung, dass Hunger und Leiden die
Schaffenskraft entfachten.
Wenn auch sein Leben aus immerwährenden Erniedrigungen bestand,
scheint in einem Brief Van Goghs an
seinen Bruder Theo doch die Über-
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Der Hohepriester aus Montreal
Zdravko Zima
M
eine Mittelmeernostalgie, die
ich in einsamen Herbststunden mit istrischem Mistelschnaps
und allen möglichen Versionen dalmatinischen A-capella-Gesangs bekämpfe, fällt diesmal mit der großen
Europatournee von Leonard Cohen
zusammen. Der kanadische Dichter
und Liedermacher streift schon seit
ein paar Monaten auf dem Alten
Kontinent umher, und seine Riesentournee, die erste nach fünfzehnjähriger Abstinenz, umfasst mehr als
dreißig europäische Städte und Metropolen. Sein Itinerar verzeichnet
Prag, Warschau, Berlin, Stockholm
und so weiter, selbst Bukarest, Brighton und Cardiff fehlen nicht, doch
von Destinationen auf dem Balkan
keine Spur. Daher blieb mir nichts
anderes übrig, als mich auf den Weg
zu machen. Kurios ist auch der Umstand, dass Cohen den Winter nicht
mag; er erklärt stets, dass er dem Mittelmeerraum angehöre und dass seine
Vorfahren einen Fehler gemacht hätten, als sie nach Kanada auswanderten, wo er geboren wurde und sich
zu dem Menschen entwickelte, der
er heute ist. Im Übrigen, wenn ich
nichts über diesen genialen Künstler wüsste, wenn ich nur nach seinem Äußeren, seinem Bekleidungsstil und seinen Bühnenauftritten zu
urteilen hätte, könnte ich schwören,
einen gebürtigen Europäer vor mir zu
haben und nicht einen Kanadier oder
Amerikaner. In Wien trat er an zwei
Abenden hintereinander auf und lös-
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te einen Zustand kollektiver Ekstase
aus. Nach Aussagen meiner ragusäischen Freundin waren aus dem Publikum die Zurufe Happy Birthday,
Happy Birthday! zu hören.
Der Maestro aus Kanada wurde 1934
im Zeichen der Jungfrau geboren,
und obwohl die Wiener Konzerte
kurz nach seinem Geburtstag stattfanden, bewiesen seine Pilger nicht
nur, dass sie ihn lieben, sondern über
jedes Detail seiner Biografie Bescheid
wissen. Im Herzen der einstigen franzjosephinischen Monarchie konzertierte er am 24. und 25. September,
und im Pariser Olympia wird er dreimal auftreten (am 24., 25. und 26.
November). Angesichts all der angeführten Städte und Daten, all der
Konzertsäle, Arenen und Sportstadien fiel es wahrlich nicht leicht stillzuhalten. Am letzten Tag des Oktoberfests, am 5. Oktober, fuhr ich
nach München. Trotz des erstklassigen Biers, das hier in Litermaßkrügen ausgeschenkt wird, trotz all
der betrunken umhertaumelnden,
lederbehosten Deutschen und ihrer
erhitzten Kunigunden mit den ausladenden Dekolletés sparte ich meine
Kräfte für Cohen. Bis zum morgigen
Konzert in der Olympiahalle hatte
ich ausreichend Zeit, die Personalakte der drittgrößten Stadt Deutschlands einzusehen: Marienplatz, Hofbräuhaus, Englischer Garten, Alte
und Neue Pinakothek, Frauenkirche.
Die Glockentürme der Kirche sind
aus jedem Winkel der Stadt zu erken-
nen, die Pinakothek hat just an dem
Tag geschlossen, da ich in München
herumtigere, das Hofbräuhaus ist
das bekannteste Bierlokal, und selbst
wenn man wollte, wäre der Marienplatz nur schwer zu umgehen.
Der Englische Garten ist größer als
der Central Park in New York, und
Nudisten oder Exhibitionisten stellen selbst an diesem windigen Oktobernachmittag wacker ihre Genitalien zur Schau. Obwohl sein Name
besagt, dass es sich um eine Parkanlage im englischen Stil handelt, zählen
der Chinesische Turm und das Japanische Teehaus zu seinen Hauptattraktionen. Immer wieder trotte ich
zum Marienplatz zurück, der nach
der Mariensäule in seiner Mitte so
benannt wurde. Auch Cohen hat einen Bezug zur Jungfrau, sowohl wegen seines Sternkreiszeichens als auch
wegen seiner rituellen Anrufung der
Heiligkeit, ebenso aber hinsichtlich
der mitreißenden Interpretation seiner der Liebe gewidmeten Lieder,
die fast ausnahmslos den Inhalt seiner Konzerte bestimmen. Nur selten
mute ich mir ein Megaspektakel in
einem Stadion zu, zumal im Ausland,
doch für Cohen würde ich auch mehr
als eine 600-Kilometer-Anreise auf
mich nehmen. Ich habe alle möglichen Interpreten und Musikensembles gehört, von klassischen bis hin
zu trendigen und New Wave-Bands,
aber ich erinnere mich nicht, dass
mir je jemand den Eindruck vermittelt hätte, statt einem weltlichen und
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kommerziellen Konzert einer Gebetsveranstaltung beizuwohnen. Cohen ist dies gelungen, ohne jegliche
Anmaßung und, was ebenso wichtig
ist, ohne in irgendeiner Weise die Gesetzmäßigkeiten zu gefährden, die eine Musik- und Bühnenveranstaltung
immerhin voraussetzt. Trotz seines
Alters und der langen Konzertabstinenz wusste ich, dass sich der Abend
in der Olmypiahalle alles andere als
mittelmäßig gestalten würde.
Der Abend ist weder gut noch sehr
gut geworden – die Wahrheit ist: Cohen hat einfach sich selbst übertroffen! Ich näherte mich der Konzerthalle, ohne auf den BMW-Hauptsitz in Form eines Vierzylinders zu
achten oder das Stadion mit seiner
hügeligen Zeltdachkonstruktion, in
dem Luca Toni & Co. ihre Fußballakrobatik demonstrieren. Um 20.10
Uhr erschien auf der Bühne eine neunköpfige Band, angeführt von dem
Hohepriester aus Montreal. Mir ist
bewusst, dass so mancher Leser bei
dem Wort Hohepriester aufhorchen
wird, denn Cohen hat in seinem Leben viele Frauen geliebt (ohne jemals zu heiraten) und viele Flaschen
geleert (ohne jemals Alkoholiker gewesen zu sein). Ich bezeichne ihn
nicht als Hohepriester, weil er seinerzeit in ein Zen-Kloster im kalifornischen Mount Baldy eintrat und
dort mehrere Jahre verbrachte. In
seiner Zeit als Asyl beanspruchender
Mönch veränderte er nicht nur sein
Aussehen, sondern auch seinen Namen (er hieß damals Jikan). Seine tief
verwurzelte Individualität, die nicht
mit Narzissmus gleichzusetzen ist,
sondern einen Schritt hin zur Universalität oder zum Verschmelzen des
Individuellen mit dem Ganzen darstellt, erfuhr nach der Erfahrung des
Mönchsdaseins eine noch stärkere
und glaubwürdigere Artikulierung.
Ein Priester ist, wer ohne Tricks die
Aufmerksamkeit einer großen Menschenmange fesseln kann, und ich
wüsste nicht, wer darin ehrlicher und
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Dossier: Zdravko Zima
authentischer wäre als Monsignore
Cohen, dessen Schicksal allerdings
in anderen Bahnen als denen eines
Geistlichen verlief.
Auf die Bühne der Olympiahalle trat
also ein Mann, der statt eines Priestergewandes einen dunklen Anzug
trug und statt eines Weihrauchfasses diskret seinen Hut hin und her
schwenkte und auf diese Weise seine
Dankbarkeit zum Ausdruck brachte, die sich im weiteren Verlauf des
Abends zu tiefer Demut steigerte. Vor
langer Zeit, in seinem Roman Beautiful Losers, gelangte Cohen zu der
Überzeugung, dass es die Sehnsucht
sei, die die Welt verändere. Dieser
Satz fiel mir in dem Augenblick ein,
als er auf der Bühne erschien und im
selben Moment das gesamte Publikum für sich gewann. Weder die unübersehbaren Spuren des Alters, weder das ergraute, asketisch gestutzte
Haar, weder die Stimme noch seine
verlangsamten Bewegungen minderten das Feuer, das er in einem Ritual
zu bündeln vermochte, mit dem er
das Publikum ganze drei Stunden in
einen magnetischen Bann zog. Jedes
Konzert hat seine Steigerungsphasen
und seine weniger interessanten Teile. In diesem Fall jedoch waren nur
Steigerungsphasen zu verzeichnen.
Während des 180-minütigen Auftritts, der nur von einer kürzeren Pause unterbrochen wurde, sorgte Cohen für anhaltende Hochspannung
und brachte einen Zauber hervor, der
mit Ekstase in ihrer reinsten Form
verglichen werden kann. Und dies
dank einem diskreten Humor, den
er mitunter gegen sich selbst richtet,
dank Spiritualität und Sexappeal,
dank Versen, die den Zuhörer durch
ihre Einfachheit verzaubern und in
ihrer musikalisch-szenischen Totalität einen übernatürlichen Glanz
annehmen. Egal, um welche Stilrichtung es sich handelt, zeigt Musik doch stets, dass das Leben nichts
anderes ist als eine Form des Gebens
und Nehmens.
TIONS
Diese Tatsache offenbart sich auch in
dem Verhältnis zwischen Cohen und
seinem Publikum, wobei jeder Seite
eine bestimmte Rolle zukommt. Das
Prinzip verbundener Gefäße oder
wechselseitiger Kommunikation, ohne die überhaupt eine Bühnenveranstaltung undenkbar wäre, ist auch auf
anderen Ebenen sichtbar. So hat Cohen die Ballade „Chelsea Hotel #2“
Janis Joplin gewidmet, und viele andere Musikstars, so etwa Nick Cave, haben sich mit Coverversionen
revanchiert. Natürlich war „Chelsea
Hotel #2“ einer der Höhepunkte
meiner Münchner Promenade, neben „Waiting For The Miracle“, „The
Future“, „Closing Time“, „Dance Me
To The End Of Love“, „Democracy“,
„Everybody Knows“, „If It Be Your
Will“, „I’m Your Man“, „Suzanne“,
„So Long, Marianne“, „Take This
Waltz“, „In My Secret Life“ und anderen Titeln. Der Dichter und Liedermacher, der sich nie selbstzufrieden zurückgelehnt hat, hat in seinem
achten Lebensjahrzehnt Bluffern und
Blendern jedweder Couleur, die ihm,
dem großen Magier der Bühne, nicht
das Wasser reichen können, eine Lektion erteilt. Auch dass der gute alte
Leo mitunter in die Hocke ging und
so den Eindruck erweckte, als kniete
er, gehört zu seinem Modus vivendi:
Damit ergänzt er den ohnehin intimen Bezug zum Publikum und offenbart seine Demut, mit der er sich
dem Anderen nähert.
Was auf der russischen Literaturund Gesangsszene Okudschawa und
Wyssozki waren, was Brel im französischen Chanson verkörperte, das
wird im Dichter- und Rockerplanetarium der anglisierten Megakulturszene durch Cohen repräsentiert. All
das, was an jenem Abend in München
zu sehen und zu hören war, erinnerte
mich an idiotische Werbeslogans der
Art „drei zum Preis von zwei“. Die
Karte fürs Konzert hat 100 Euro gekostet, doch dafür erlebte der Besucher einen Bühnenschamanen und
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Soldo (Saxofon, Klarinette, Mundharmonika), Bob Metzger (Gitarre),
Neil Larsen (Keyboard), Roscoe Beck
(Bassgitarre), Rafael Gayol (Schlagzeug) und drei Background-Sängerinnen. Das Finale bildete Cohens
bereits legendäres „Hallelujah“, mit
dem er die Liebe zu Gott der Liebe
zum Leben gleichsetzt. Auf die Frage,
ob er an Gott glaube, antwortete er
einst in einem zwischen Tür und An-
51
gel gegebenen Interview mit einem
bündigen „Ich muss“. Vielleicht ist
auch das der Grund, warum ich Cohen lieben MUSS, diesen Veteranen
und Vigilanten, der den schwersten
aller möglichen Kämpfe gewonnen
hat: den Kampf mit der Zeit.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Silvia Sladić
Foto: © Višnja Arambašić
Charmeur, dessen Auftritt doppelt so
lang oder zumindest doppelt so gut
war wie die üblichen Standardveranstaltungen. Dabei dürfen die Mitglieder der ihn begleitenden Band nicht
übergangen werden – allesamt perfekte Sekundanten, die dem Publikum die ganze Bandbreite ihres außerordentlichen musikalischen Könnens unter Beweis stellten. Das sind
Javier Mas (Gitarre, Bandura), Dino
Kolumnen
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Auf den Wellen der Ewigkeit
Zdravko Zima
V
or 20 Jahren starb Danilo Kiš.
Im Beisein von über zehntausend Verehrern wurde er in dem gesellschaftlichen Größen vorbehaltenen Hauptgang des Belgrader Neuen
Friedhofs beigesetzt; die Begräbnisfeierlichkeiten leitete der orthodoxe
Bischof Amfilohije Radović. Alles
stand im Widerspruch zum Schicksal eines der größten Schriftsteller, die
im 20. Jahrhundert der Balkan hervorgebracht hatte: die Bestattung in
Belgrad, wo er die längste Zeit seines
Lebens heimisch gewesen war, ohne
allerdings je mit dieser Stadt oder
ihrer balkanischen Kleinkrämerei zu
intimisieren; der orthodoxe Pomp,
der seinem Rebellentum und seinem genetisch und kulturell vorgezeichneten Judentum nicht minder
widersprach als seiner instinktiven
Auflehnung gegen jegliche deklamatorische und bloße Zurschaustellung von Religiosität. Auch der nach
allen Seiten sich ausbreitende Weihrauchduft und das wunderbar sonnige Wetter – alles stand im Gegensatz
zu den Stationen seines Lebens und
der Ausprägung seines geistigen und
literarisch-kritischen Engagements.
Im Verlauf seiner kurzen wie zerrissenen Existenz lehnte sich Kiš gegen
Manipulationen aller Art auf (diese offenbarten sich am radikalsten
in den zeitgenössischen Modalitäten
1
des Faschismus und des Stalinismus),
er beanspruchte bewusst die Position
eines außerhalb sämtlicher Klans und
Gleichgesinntenzirkel stehenden Literaten, der sich nur vor sich selbst
und seinem Gewissen zu verantworten hatte, und als er starb, schien es
fast, als wären alle seine Anstrengungen eine Sisyphos-Arbeit gewesen.
Oder wie Camus gesagt hätte: Der
Mut, mit dem er sämtliche Mystifizierungen niederriss, und die unternommenen Anstrengungen, um den
Gipfel zu erlangen, reichten aus, um
sein Herz zu befriedigen. Kiš ließ am
Fuße des Hangs viele Kollegen, viele wahre und falsche Freunde hinter
sich und gelangte nach oben, musste sein unstetes Wanderleben jedoch
mit dem allerhöchsten Preis bezahlen. In diesem Preis enthalten waren
die Grabrede eines nationalistisch
eifernden orthodoxen Bischofs sowie ein an die trauernde Familie adressiertes Beileidstelegramm von Slobodan Milošević. Im Übrigen zeigte
Kiš in seiner Novelle „Begräbnisfeierlichkeiten“, erschienen in seiner
Enzyklopädie der Toten (1983), geradezu demonstrativ, wie sich eine Beerdigung zur Farce wandelt und der
Verstorbene wird, was er nie war. Mit
all ihren mehr oder weniger ruhmvollen, anonymen oder beliebig anders
gearteten Einzelschicksalen enthüllt
sich die Geschichte als Farce. Dieser
Mann, der einer ethnisch gemischten Familie entstammte und dessen
Vater, ein ungarischer Jude, nicht
aus Ausschwitz zurückkehrte; dieser
Schriftsteller, der Maler oder Bildhauer hatte werden wollen und der
sich nach dem Skandal wegen seines
Buches Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch in Paris niederließ und sein
Leben an verschiedenen Adressen
gleichzeitig verbrachte; dieser Inidividualist und Oppositionelle, der
mit ästhetischen und ideologischen
Dogmen aufräumte, fand seine letzte Ruhestätte in Belgrad, einer Stadt,
die er liebte, obwohl er sich nie ganz
mit ihr identifizierte.
Die Paradoxe eines menschlichen
und literarischen Schicksals erschöpfen sich nicht in offenkundigen Details, die sich zum Zeitpunkt des Begräbnisses manifestieren. Der großserbische Wahn, der Kiš als Plagiator proskribierte, der das Missverständnis seiner Ethik zu einem angeblichen Missverständnis zwischen
dem Autor und der ihn umgebenden Kultur und Gesellschaft ummünzte und ihn so vor seiner Zeit
in den Tod trieb; dieser Wahn nahm
gewissermaßen das Memorandum1
vorweg und ebnete jenen Geistern
oder Dämonen den Weg, die auf
den Trümmern des jugoslawischen
Memorandum zur Lage der serbischen Nation in Jugoslawien, bekannt als SANU-Memorandum, das 1986 von Mitgliedern der Serbischen
Akademie der Wissenschaften und Künste (SANU) ausgearbeitet wurde. Die Denkschrift beeinflusste nachhaltig das Wiederaufleben des Nationalismus in Serbien. (Diese und folgende Anmerkungen stammen von der Übersetzerin.)
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Staates noch einmal ihren Danse
macabre vollführen sollten. Nationalismus passte so gar nicht zu Kišs
Haltung; als aber ein französischer
Kritiker, der seinen Wortschatz und
seinen Stil bewunderte, riet, er solle
auf Französisch schreiben, sprach Kiš
sich entschieden dagegen aus und erklärte, er habe das Serbische mit der
Muttermilch aufgesogen und könne nicht aus seiner durch Abstammung und Erziehung erworbenen
Matrix heraustreten. Mit dieser Haltung stellte er auch seine Ästhetik
unter Beweis und gab zu verstehen,
dass ein Schriftsteller nicht nur mit
Worten schreibt, sondern auch mit
Ethos und Mythos, mit der Gesamtheit der eigenen Identität, in der der
Umgang mit Sprache zwar wichtig
ist, aber doch nur einen das Ganze
abrundenden Posten darstellt.
Zwanzig Jahre nach seinem Tod hat
Kiš in Serbien den Status eines Propheten, den selbst diejenigen verherrlichen, die ihn vormals in den
Schmutz zogen; allerdings ist die Zahl
der Autoren, die sich als seine Jünger
oder geistigen Nachfolger bezeichnen könnten, gleich geblieben.
Um die Wahrheit zu sagen: Kiš hätte
aufgrund seiner Herkunft und Bildung nie ein Nationalist sein können, obwohl das nicht heißt, dass
er das Modell kommunistisch indoktrinierter Intellektueller, die in
ganz Jugoslawien verbreitet waren,
übernommen hätte. Jenseits sozrealistischer Stereotypen befürwortete
er die literarische Methodologie der
russischen Formalisten, der französischen Strukturalisten und des amerikanischen New Criticism. In einem Land, das sich von seinen Atavismen und Regionalismen nährte,
vielleicht noch nicht so direkt und
militant, wie dies heute der Fall ist,
war diese Sorte Individualist und
Okzidentalist zumindest der allgemeinen Verachtung preisgegeben. Kiš
wusste das nur allzu gut, doch sich
selbst und die Konsequenzen seiner
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Kolumnen
Poetik und Ethik konnte er nicht verraten. Trotz seiner Obsession mit jüdischen Themen wollte er sich nicht
als Autor einer Minderheit deklarieren, da er glaubte, dass ihn dies einmal mehr exkommunizieren oder
auf eine zu schmale Optik reduzieren würde. Über Juden schrieb er
so, dass ihr Schicksal als universales,
zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern immer wiederkehrendes Los verstanden werden
konnte. Vor vielen Jahren war er sich
aus eigener Position des Problems der
Sektenzugehörigkeit bewusst geworden und erklärte, viele Bücher würden aus Gründen gelobt, die mit
Literatur gar nichts zu tun hätten.
Im heutigen Sprachgebrauch hieße
das: Bücher werden gelobt, weil sie
von Frauen, Homosexuellen oder
Mitgliedern irgendeiner deprivierten
Branche geschrieben werden, was ihnen im Vorhinein affirmative Qualifikationen vonseiten bestimmter
Kreise zusichert.
Geistreich, wie er war, gab Kiš an,
dass viele Autoren sich zunächst gemäß der Logik ihrer Volkszugehörigkeit legitimierten (als kroatische, serbische usw. Autoren) und erst dann
gemäß ihrer schriftstellerischen Berufung. Er selbst deklarierte sich als
jugoslawischer Schriftsteller, obwohl
er nie vor dem kommunistischen
Regime katzbuckelte und praktisch
aus Jugoslawien emigriert war. Als er
starb, verfasste Borislav Pekić einen
der ergreifendsten Nachrufe, den ich
je gehört habe. In jenen Tagen kam es
mir vor, als hätte der weise und feinfühlige Pekić, während er am offenen
Grab seines Freundes stand, mit seinen Anschuldigungen übertrieben.
Heute glaube ich das nicht mehr. So
wie Artaud einst geschrieben hatte,
Van Gogh sei von der Gesellschaft
in den Selbstmord getrieben worden, so verwies auch Pekić die einstige Hauptstadt und den jugoslawischen Staat auf die Anklagebank.
Auf einer Gedenkversammlung in
53
der Akademie am 12. April 1990 in
Belgrad qualifizierte er Kišs Tod als
Mord. „Sein Vater ist ermordet worden. Das ist eine Tatsache. Warum
also hätte der Sohn verdient, anders
behandelt zu werden? Seine Rasse ist
ermordet worden. Auch das ist eine
Tatsache. Warum also hätte es einem
ihrer Mitglieder besser ergehen sollen? Menschen aus seinem Umkreis
sind, wiederum Tatsache, ermordet
worden. Warum also hätte er diesem
Schicksal entgehen sollen?“ Der Verfasser dieser traurigen und anklagenden Zeilen starb selbst nach kurzer
Zeit, ebenso die Serbische Akademie
der Wissenschaften und Künste, die
sich, statt sich mit Traditionspflege
zu beschäftigen, der Kriegstreiberei
zuwandte.
Und so verließ Kiš gerade in dem
Moment unsere Welt, als alle die von
ihm belletrisierten Übel, die er auf
unterschiedliche Weise bekämpfte,
erneut aus Pandoras Büchse entwichen. Im Allgemeinen wie im Besonderen enthüllt sich Kišs Opus als eine
Suche nach dem Vater – dem wirklichen, der als ungarischer Jude in der
Hölle von Auschwitz umkam, und
dem in der eigenen Vorstellung erschaffenen, mit dem der Schriftsteller verschmolz und den er zum festen
Bestandteil seiner Werke machte. In
der psychoanalytischen Tradition ist
die Vaterfigur ein Symbol der Dominanz, eine autoritäre, inhibierende und kastrierende Gestalt. In der
Form der Obrigkeit und als Verkörperung von Institutionen hat der Vater eine Doppelfunktion, die eher negativ als positiv ist. Eine Ausnahme
bildet Shakespeares Hamlet, in erster Linie deshalb, weil in der Tragödie der Vater als Geist erscheint, der
von seinem Sohn die Aufklärung seiner Ermordung fordert. Ein anderes
Verhältnis zum Vater hatte wiederum
Kafka, der als Schriftsteller viele Parallelen zu Kiš aufweist (Zugehörigkeit zum Judentum, Individuum in
einem totalitären Staatswesen, Ver-
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54
brennen von Manuskripten). Der berühmte Erzähler aus Prag hatte einen
Brief an seinen Vater geschrieben,
ihm diesen jedoch nie überreicht; erst
nach dem Tode des Autors wurde der
Brief, neben anderen Manuskripten,
veröffentlicht. Es genügt, einen Satz
zu zitieren, um zu zeigen, wie Kafka
über seinen Vater dachte: „Für mich
bekamst du das Rätselhafte, das alle Tyrannen haben, deren Recht auf
ihrer Person, nicht auf dem Denken
begründet ist.“
Ein besseres Verhältnis zu seinem Vater hatte auch Krleža nicht, obwohl
die Gründe für seine Distanzierung
wesentlich anders lagen als bei Kafka. Krleža war als Diversant und
Anfechter aller Normen in die Literatur eingetreten und etablierte sich
allmählich als Patriarch (Padre), der
einerseits Bewunderung und andererseits Ablehnung hervorrief. Obwohl er zeit seines Lebens Tagebuch
führte und Memoiren schrieb, liegen
über seine Eltern nur spärliche Informationen vor. Dies gilt vor allem
für den Vater, der ebenfalls Miroslav hieß, fast einhundert Jahre lebte
und als städtischer Polizeiwachtmeister gearbeitet hatte. Und während
Krleža in seinen Schriften mit inniger
Zärtlichkeit seiner Mutter gedachte,
existiert sein Vater darin so gut wie
nicht. In einer patriarchalisch eingerichteten Welt war es wenig förderlich, wenn man die eigene Mutter bewunderte, doch mit dem Vater wollte
und konnte er sich nicht identifizieren. Und so wurde der Samen des
Unverstehens ausgesät, aus dem alle
späteren Konflikte, jede Auflehnung
und jede temperamentvolle Streitrede
Krležas hervorgehen sollten, angetrieben von der unterschwelligen Energie des niemals hergestellten Verhältnisses zwischen Vater und Sohn. Vielleicht besteht das Paradox darin, dass
dieser Schriftsteller, der trotz seines
biologischen Vaters niemals einen
richtigen Vater hatte, selbst zum Va2
RELA
Dossier: Zdravko Zima
ter der neueren kroatischen Literatur
geworden ist. Und Kiš? Im Unterschied zu Kafka und Krleža kam Kiš
erst gar nicht dazu, sich von seinem
Vater zu distanzieren, weil dieser mit
fünf Schwestern nach Auschwitz deportiert worden war.
Von etwa 80000 Juden, die bis zum
Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet
Jugoslawiens lebten, wurden 65000
ermordet. In der Vojvodina überlebten kaum 10 Prozent der jüdischen
Bevölkerung die nazistischen Pogrome; allein diese Information deutet
an, was für traumatischen Erlebnissen Danilo Kiš seit seinen frühesten
Kindheitstagen ausgesetzt war. Als
1939 in Ungarn antijüdische Gesetze
verabschiedet wurden, ließ Kišs Familie den Jungen orthodox taufen.
Vor dem Hintergrund solcher Kindheitserlebnisse und des väterlichen
Schicksals begann sich das Knäuel
der literarischen Obsessionen Kišs
selbst zu entwirren, und Tod und
Leiden wurden zum Mittelpunkt seines künstlerischen Schaffens. So wie
Hamlet dem Geist seines vergifteten
Vaters folgte, so verfolgte auch Kiš die
Schritte seines Vaters, getrieben von
dem unbezwingbaren Bedürfnis, ihn
zu reinkarnieren und mittels seines
meisterhaften literarischen Könnens
dem Vergessen zu entreißen. Ein Dokument der Gemeinde Kerkabarabás
vom 8. September 1947 hält fest, dass
„Kiss (Kohn) Ede wegen seines israelitischen Glaubens nach Deutschland deportiert und dort hingerichtet
wurde“; etwas mehr als 40 Jahre später pflanzte Kiš im Friedenswald nahe
Jerusalem einen Baum zum Gedenken an seinen ermordeten Vater. Zwischen diesen Zeitpunkten summierte
sich eine Commedia erudita, die mit
ihrer Kraft weit hinausreicht über
die Dimensionen privater Schicksale
und einer Literatur von provinzhaftem Zuschnitt, wie es die serbische
und alle anderen Literaturen auf dem
Balkan nun einmal sind.
TIONS
Seinen Vater, einen Eisenbahnbeamten und „prächtigen Saufkumpan“,
hob Kiš über dessen streng abgezirkelte Lebenszeit hinaus und universalisierte ihn, baute ein spirituelles
Verhältnis zu einem Toten auf, der
kein anständiges Grab hatte, den er
jedoch in seiner Vorstellungskraft zu
neuem Leben erweckte und dem er
einen imposanten literarischen Kenotaph schuf. Den Satz „Ich habe
schöner und reicher gelebt als ihr,
dank meinem Leiden und meinem
Wahn“ legt Kiš seinem Vater in den
Mund; darin ist jene Art von Konvertierbarkeit, ja Konversion enthalten,
der man in Kišs Opus auf Schritt und
Tritt begegnet. Passion und Ewiges
Judentum, Leidenschaft und Not,
Anfang und Ende bilden einen Kreislauf, ein diabolisches Archiv, zu dessen Lektüre man auf jeder beliebigen
Seite ansetzen kann und das in der
magischen Szene mit Rubins Vase
(im Roman Sanduhr) zwei Profile
reflektiert: Vater und Sohn, die sich
einander nähern und zugleich voneinander distanzieren, je nach Sichtweise. Sein Erzeuger und Alter ego,
der vom Sohn in der Retorte der eigenen Retrovision hervorgebrachte Vater, wird definiert über das Element
des Wassers als Symbols der Reinigung und das des Feuers, dem eine
zugleich zerstörende und erneuernde Macht zugesprochen wird. Wie
sehr dies zutrifft, beweist Kišs Essay
„Lob den Flammen“ aus dem Jahre
1957. Der junge Autor fordert stürmisch und kompromisslos das Verbrennen minderwertiger Manuskripte und sehnt jene Art Klimax herbei,
bei der Zerstörung die Voraussetzung
neuen Werdens ist. Mehr noch, er befürwortet selbstmöderische Instinkte, die Freiheit der Grausamkeit und
die Grausamkeit der Freiheit, was ihn
letztendlich mit Artaud und Šejka
verbindet, dem legendären Maler
und Mittelpunkt der Mediala2, der
auch dann mit Systematik vorging,
1953 gegründete Künstlergruppe aus Belgrad.
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mit der ihm eigenen Kompromisslosigkeit gewissermaßen herbeiruft,
schafft Kiš ein Opus, das in vielen
Segmenten wie erzählte Geschichte
und wesentliches Selbstzeugnis daherkommt. Wie eine Chronik, deren Niederschrift in einer längst vergessenen Zeit eingestellt wurde und
die, aus der Position ihrer Altersverstaubtheit, einen schmalen Randbereich des menschlichen Bewusstseins
erhellt, wie ein Leuchtturm im Dunkel der endgültigen Apokalypse. Da
Kiš sich von der Umgebung durch
seinen Bildungsgrad, seinen Mut und
ja, seine aristokratische Haltung deutlich abhob, waren Konflikte aller Art
vorprogrammiert. So erklärte er, sich
auf Baudelaire berufend, dass einzig
der Schmerz ihn adle (Je sais que la
douleur est la noblesse unique). Im
55
Roman Garten, Asche evoziert er den
Klang des Jagdhorns, dessen Schönheit an Grabmusik denken lässt, wie
sie in den Sinfonien Mahlers immer
wieder aufklingt. Auch in Sanduhr
suggeriert der Autor, dass die Zeit
eine Illusion sei und das Leben ein
Traum. In dem Romanfragment, auf
das bereits angespielt wurde, sagt der
Protagonist, sein toter Körper werde
wie eine Arche Noah sein und der
Tod wie „ein langes Dahintreiben
auf den Wellen der Ewigkeit“. Ist dies
nicht tatsächlich auch eingetreten,
und hat Kiš dies nicht immer auch
angestrebt, im vollen Umfang seines
Bewusstseins als Autor?
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Silvia Sladić
Foto: © Višnja Arambašić
wenn er die Welt als Müllhaufen3
identifizierte.
Immer wieder ereignen sich Dinge
nach demselben Grundmuster, wie
in der Geschichte über Eduard Sam,
Kenner der Handlesekunst, der „seinen eigenen Machenschaften zum
Opfer fällt“; wie in der Geschichte
über die kleine Berta, die in einem
Spiegel die Ermordung des Vaters
und zweier Schwestern sieht; wie
letztendlich in der Erzählung Ein
Grabmal für Boris Dawidowitsch, in
der der Revolutionär Boris Dawidowitsch auf seine Art, nach 600 Jahren,
das Schicksal des jüdischen Arztes
Baruch David Neumann nachzeichnet. Während er dem Tod entgegengeht, dem bereits faktischen Tod
des Vaters wie auch seinem eigenen,
der erst kommen wird und den er
Kolumnen
3
So der Titel eines berühmten Gemäldes von Šejka.
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Meister Radovan
Zdravko Zima
K
amov starb in Barcelona, Fran
Mažuranić in Berlin, Wiesner1 in
Rom und Radovan Ivšić (1921-2009)
in Paris. In einem Zeitbogen von
hundert Jahren, in vier europäischen
Großstädten, wurden die Schicksale
von vier kroatischen Schriftstellern
bestimmt, die sich nicht in ihrer
Heimat niederlassen konnten oder
es auch nicht wollten. Mehr noch,
im Falle von Fran Mažuranić und
Ivšić kann man sagen, dass sie sich
nicht einmal in ihrer Muttersprache
niederlassen wollten. Das Schicksal des Apatriden und Schriftstellers
mit doppelter, kroatisch-französischer
Staatsbürgerschaft, die Zerrissenheit
zwischen Ost und West, wie Ivšić sie
empfand, konnte am besten jemand
erklären, wer ihm ähnlich war. In seinem Gedicht „Kolo“2, in dem er auf
das Motiv des auf dem Balkan getanzten Volksreigens zurückgreift, resümiert Joseph Brodsky: „Beschmutzt
wird das Gebäude / der großen Republik. / Moral durch Wahlen, / darum
geht’s. / Beweint die Abgeschlachteten. / Betet für die, die hingeduckt /
in einem Versteck aus Beton / ihrem
Verrat entgegensehen.“3 Auch wenn
er die längste Zeit seines Lebens im
Ausland verbrachte, hegte Ivšić niemals jene pathologisch-sentimentale
Heimatliebe, wie sie fast allen Emig1
2
3
ranten eigen ist. Er hat Kroatien, genauer: Jugoslawien verlassen, weil er
sich nicht als Schriftsteller verwirklichen konnte, der Freiheit als die erste
und letzte Instanz seines Wesens und
Wirkens auffasste.
Dass diese Gründe auch nach dem
Niedergang des Kommunismus bestanden, zeugt nicht so sehr von Ivšić
als von dem Land, das er aber liebte
und das er immer wieder besuchte,
allerdings ohne die Radikalität und
unbestechliche Schärfe seiner Ansichten aufzugeben. Der junge Ivšić
hatte Mathematik und Physik studiert, und das Gespür für Präzision, messbar an kaum bemerkbaren
sprachlichen Finessen, pflegte und
bewahrte er sich als seine stärksten
Trümpfe. Nach eigenen Angaben war
es eine Theatervorstellung, die seinen
Schicksalslauf bestimmt hatte. Nach
seinem vollendeten 17. Lebensjahr
besuchte er im antiken Theater der
Stadt Orange in der Nähe von Avignon eine Sophokles-Aufführung,
deren Intensität ihn in ihren Bann
zog. Zu dieser Zeit las er bereits Rimbaud, Lautréamont und Breton, und
in der durch die Sommervorstellung
eines antiken Dramentextes hervorgebrachten Magie fand er, wonach
er suchte: das Zusammenspiel von
Einssein und Vielsein, in denen der
„Werdegang der Gefühle“ verkündet wird. Poesie und Theater sind
die wichtigsten Komponenten seines literarischen Schaffens, finalisiert
in der Idee des poetischen Theaters,
dessen Höhepunkt König Gordogan
darstellt: Theaterkunst der verbalen
Aggression, in dem Ludismus und
Surrealismus, Groteske und Märchen, elisabethanische Tradition und
japanisches Nō-Theater eine eigentümliche Verbindung eingehen. Lange Zeit ein Stein des Anstoßes, ist und
bleibt „König Gordogan“ das Wahrzeichen von Ivšićs Opus.
Das Drama vom König, der alles vor
sich niederreißt und tötet, entstand
1943, wurde aber erst 1956 im französischen Radiosender Chaîne nationale uraufgeführt. Danach wurde es von Michel Bouquet auf dem
Theaterfestival von Avignon vorgelesen; die erste Theateraufführung fand
1969 vor der Schlossruine La Coste
des Marquis de Sade statt. Im Januar
1979 wurde es als Oper inszeniert, zu
der Henri Barraud die Musik komponiert hatte. Diese Angaben sind
kein Selbstzweck, sondern spiegeln
das Schicksal eines Schriftstellers,
der im eigenen Land jahrelang verschwiegen wurde und erst nach seinem Erfolg in Frankreich eine einigermaßen befriedigende Rezeption
Janko Polić Kamov (1886-1910), avantgardistischer Dichter und Erzähler; Fran Mažuranić (1859-1928) und Ljubo Wiesner (1885-1951),
ebenfalls im Exil lebende Autoren. (Diese und folgende Anmerkungen stammen von der Übersetzerin.)
„Reigen“.
„... Soiled turns the fabric / of the great republic. / Ethics by a ballot / is what it’s all about. / Mourn the slaughtered. / Pray for those squatted / In
some concrete lair / facing betrayal.“ – Joseph Brodsky, „Kolo“, Erstveröffentlichung in: New York Review of Books, 13.7.1995.
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in der Heimat erfuhr. In kroatischer
Übersetzung wurde König Gordogan erstmals 1979 auf den Brettern
des Teatar ITD in Zagreb, unter der
Spielleitung von Vlado Habunek,
aufgeführt. Sein allererstes Buch, das
Poem Narziss, war in der Zeit des
Pavelić-Regimes verboten und beschlagnahmt worden, obwohl es im
Selbstverlag und in einer Auflage von
kaum mehr als hundert Exemplaren
erschienen war. Die Konflikte mit
den Behörden setzten sich auch nach
dem Zweiten Weltkrieg fort; wegen
Sonnenstadt („Sunčani grad“) und
Feldwebel Pobjednik („Vodnik Pobjednik“) wurde Ivšić vorübergehend
auf Eis gelegt. 1948 wurde er zum
ersten Direktor des Zagreber Puppentheaters bestimmt, verlor seinen
Posten jedoch schnell wieder. In den
frühen Nachkriegsjahren arbeitete er
intensiv an Übersetzungen aus dem
Französischen und Russischen (Molière, Marivaux, Rousseau, Anouilh,
Ionesco, Čechov).
In meiner Bibliothek verwahre ich
ein seltenes Exemplar Sartre’scher
Dramen (Tote ohne Begräbnis und
Die respektvolle Dirne), die 1951 in
der Redaktion und Übersetzung von
Radovan Ivšić erschienen. Dies waren die ersten Sartre-Übersetzungen
im damaligen Jugoslawien, doch die
Bedeutung dieses Unterfangens, in
dem intellektuelle Neugier und Zivilcourage den Ausschlag gaben, können jüngere Generationen vielleicht
nicht ganz nachvollziehen. Will man
Ivšić charakterisieren, so scheinen
seine Augen, sein scharfer und stechender Blick, mit dem er alles um
sich herum durchdrang, im Vordergrund zu stehen, als habe er in das
tiefste Innere seines Gegenübers vorstoßen und ihn von der Unwiderlegbarkeit seiner Standpunkte überzeugen wollen. Das menschliche Auge
hat eine integrierende Wirkung, da
es in sich Lebendigkeit, Begierde und
das Feuer der Leidenschaft bündelt,
die Ivšić wie ein Schamane um sich
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Kolumnen
herum versprühte. Wie Samson demonstrierte er mit langen Haaren
seine Kraft, und die unverwechselbare gelbe Krawatte war Zeichen
seiner Jugendlichkeit und Langlebigkeit, die ihm die Schicksalsgöttinnen
großzügig gewährten. Das Schicksal
wollte es auch, dass er dasselbe Alter
wie Krleža erreichte, jener Schriftsteller, in dem er unsere kollektive
Katastrophe und das krasse Gegenteil zu Matoš erkannte, dessen viel zu
frühes Ableben wir nie kompensiert
hätten. In Krleža sah Ivšić einen Autor, der jugendlicher Begeisterung
abgeschworen hatte und in vielerlei
Hinsicht an Aragon, Ristić, Dedinac
und andere erinnerte, die ihre surrealistischen Ideale über Bord geworfen hatten.
Als er sein surrealistisches Credo mit
an Fanatismus grenzender Heftigkeit
proklamierte, dienten ihm Lautréamont, Rimbaud und Mallarmé als
Vorbilder, ebenso aber de Sade, Jarry und Artaud, die den Radikalismus
zum Imperativ erhoben hatten, da ihrer Ansicht nach die absolute Revolte
einen Schritt von der absoluten Freiheit entfernt war. Für Ivšić bestand
Poesie nicht nur in Worten, die man
auf einem weißen Blatt Papier niederschrieb. Poesie ist eine Denk- und
Lebensweise, die man nicht aus ideologischer Rücksichtnahme oder irgendwelchen anderen Gründen aufgibt. Sie ist das Synonym der Freiheit,
und insofern ist sie unweigerlich im
Konflikt mit allen Formen der Obrigkeit. Ivšić legte dar, dass Freiheit
unteilbar sei, und es wäre kaum vorstellbar, dass jemand am Vormittag
das Leben eines Kleinbürgers und
politischen Trittbrettfahrers führe,
am Nachmittag und Abend wiederum das eines Rebellen und Surrealisten. Durch diesen Extremismus seiner Forderungen unterschied er sich
von vielen Kollegen, und seine Abreise nach Paris Ende 1954 erwies sich
nur mehr als logische Konsequenz.
Dort schloss er sich dem Kreis von
57
André Breton, Benjamin Péret, Jean
Benoît, Toyen und Annie Le Brun
an, welche Letztere seine Muse und
Lebensgefährtin wurde. Ivšićs Flucht
aus Zagreb scheint gleichzeitig eine
Flucht vor seinem Vater Stjepan gewesen zu sein, dessen Schicksal sich
zu einem großen Teil in ihm wiederholte und das er in gewisser Weise
geerbt hatte.
Stjepan Ivšić war ein namhafter Sprachwissenschaftler und ordentlicher Professor für Komparative Grammatik
slawischer Sprachen an der Philosophischen Fakultät. In der Zeit des
„Unabhängigen Staates Kroatien“ hatte er sich der Einführung einer etymologischen Rechtschreibung des
Kroatischen widersetzt, sodass er auf
Verfügung Ante Pavelićs seines Amtes als Rektor der Zagreber Universität enthoben wurde. Nach dem
Krieg wurde er aus Zagreb verbannt
und war Opfer von Schikanierungen
aller Art, um bis an sein Lebensende
eine Persona non grata zu bleiben. In
Paris fand Ivšić junior in Breton einen zweiten Vater und Poesiepatron.
Für ihn war der Surrealismus nicht
nur ein künstlerisches Projekt, sondern eine sämtliche Vorurteile ablehnende Weltanschauung. Schließlich
aber ereilte ihn das Schicksal aller
unversöhnlichen Fanatiker, die sich
so lange mit Resolutheit gegen das
Dogma zur Wehr setzen, bis sich ihr
Rebellentum selbst in ein Dogma
umkehrt. Er berief sich gern auf Picassos Spruch „Wenn ich kein Rot
habe, nehme ich Blau“. Und danach
handelnd begann er – der Farben des
Kroatischen beraubt – im kosmopolitischen Umfeld der französischen
Metropole auf Französisch zu schreiben. Zur Repatriierung Ivšićs trug
am meisten Zvonimir Mrkonjić bei,
der dem Poem Narziss den Rang eines „Meisterwerks der kroatischen
modernistischen Poesie“ attestierte,
in dem auf konsequenteste Weise
die Errungenschaften der surrealistischen Poetik materialisiert seien. Au-
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58
RELA
Dossier: Zdravko Zima
Dichters ist, denn Zweisprachigkeit
und die Möglichkeit, in eine fremde
Haut zu schlüpfen, seien das legitime Recht jedes Einzelnen. Zumal
das des Dichters. Mehr als ein halbes
Jahrhundert zwischen zwei Kulturen,
zwei Sprachen und an zwei Adressen
lebend, in der Krežmina-Straße in
Zagreb und in der Rue de Mazagran
in Paris, hat Ivšić seinen Lebenskreis
vollbracht. Es entbehrt nicht einer
gewissen Symbolik und makaberpathetischer Züge, dass er am ersten
Weihnachtsfeiertag verstarb und an
Silvester beerdigt wurde. Meine letzte
Unterhaltung mit Ivšić fand am 21.
Juni 2009 in Zagreb statt, als wir eine
Performance besuchten, bei der eine
niederländische Künstlergruppe das
Publikum mit Hilfe von Digitalkameras nach Auschwitz versetzte und
anhand von Nachbildungen in Miniaturgröße das Grauen des Konzentrationslagers wiederauferstehen ließ.
Im 13. Jahrhundert hatte Meister Radovan4 in der Lunette über dem Eingang der Kathedrale von Trogir seinen Namen und das Entstehungsjahr
dieses wichtigsten Teils des Kirchenportals verewigt. Viele Jahrhunderte
später sollte die Brücke zwischen der
kroatischen und der französischen
Kultur den Namen seines literarischen Namensvetters tragen. Ruhe
sanft, Meister Radovan!
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Silvia Sladić
Foto: © Višnja Arambašić
ßer bibliophilen Ausgaben, in denen
Ivšićs Verse in Kohabitation mit Werken ausgewiesener bildender Künstler (Miró, Toyen) gedruckt wurden,
liegen seine auf Französisch verfassten gesammelten Werke in drei Bänden (Poèmes, Théâtre, Cascades) vor.
So manches hatte er mit seiner existenzialen Entscheidung demonstriert:
dass Freiheit die Aufkündigung des
Gehorsams bedeutet, dass Mediokritäten stets zu Verbündeten eines jeden totalitären Regimes werden, dass
Freiheit nicht nur das Verhältnis zur
Ideologie meint, sondern auch das
Verhältnis zur Sprache; und er demonstrierte, was nicht minder bedeutsam ist, dass die Muttersprache nicht der letzte Zufluchtsort des
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Radovan, dalmatinischer Bildhauer und Architekt des Hochmittelalters.
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Wie die Bohnenranke im Märchen
[Historische Hintergründe im Roman Einübung des Lebens]
Zdravko Zima
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ie stark in der Menschheitsgeschichte das Bewusstsein von
der magischen Kraft des Wortes verankert ist, veranschaulicht die Tatsache, dass Alexander der Große auf
seinen Feldzügen stets die Ilias in einer kleinen Truhe mit sich führte. So
ist es in dem Buch Walden von Henry David Thoreau, dem berühmten amerikanischen Schriftsteller und
Vorläufer des Anarchismus, nachzulesen, und es besteht keinerlei Grund,
die Richtigkeit dieser Aussage anzuzweifeln. Selbst wenn der makedonische Gottkönig (dem es gelang, seine eigenen Träume zu übertreffen!)
im Feldlager keine Muße gefunden
hätte, sich mit Homers Hexametern
zu beschäftigen, ist doch unbestritten, dass das von ihm gegründete
Alexandria die Stadt der Bücher war
und blieb und bis in vorchristliche
Zeit als multikulturelles Gemeinwesen funktionierte. Nach bisheriger Quellenlage war es ein Weiser
aus Athen, ein Sammler der Fabeln
Äsops und Kritiker Homers, der dem
Nachfolger Alexanders, Ptolemaios
I., vorgeschlagen hatte, eine Bibliothek zu gründen, die den Ruhm der
Stadt über alle räumliche und zeitliche Grenzen hinweg in die Welt tragen würde. Diese Anregung erwies
1
sich als ebenso weitsichtig wie nachhaltig. Obwohl die Bibliothek erstmals im Jahr 47 v.Chr. ausbrannte
und 391 n.Chr. vollständig zerstört
wurde, ist die Erinnerung an sie bis
in unsere Tage wach geblieben, in
denen sie, bereichert um eine computergestützte Dimension, erneuert
wurde und wie ein Kosmodrom für
Zeitreisende den Wissbegierigen sowohl in die Vergangenheit als auch in
die Zukunft entsenden kann.
Wie wichtig das Medium Buch ist,
illustriert ein weiteres Detail aus der
Zeit vor Gutenberg. Der persische
Großwesir Abdul Kassem Ismael (10.
Jh.) wollte sich auf seinen Reisen
nicht von seiner gewaltigen, über
100000 Schriftrollen umfassenden
Bibliothek trennen, die auf 400 Kamelen transportiert wurde. Was war
der Grund, dass große Feldherren
und Machthaber sich so verhielten?
Allem Anschein nach handelte es
sich in diesen und ähnlichen Fällen
weniger um reinen Enthusiasmus als
vielmehr um die Überzeugung, dass
in diesen Schriften die gesamte vergangene und gegenwärtige Geschichte verzeichnet sei. Geschichte – was
für ein abgenutztes und kompromittiertes Wort! Wirft man auch nur einen oberflächlichen Blick auf die Ge-
schichte der kroatischen Literatur, erkennt man, dass ihre Akteure aus den
verschiedensten Epochen, von Reformation und Aufklärung über Illyrismus bis hin zu Realismus und der
jüngeren Vergangenheit, die Sprachkunst als Ancilla theologiae betrachteten oder, mit anderen Worten, als
Medium, das zuallernächst nationale und soziale und erst dann ästhetische Aufgaben im engeren Sinne
zu erfüllen hatte. Man denke nur
an die Zeit des zum Kanon erhobenen Realismus, als Adam Smith mit
seinen Theorien die Überzeugung
untermauerte, dass der Mensch wie
eine Biene fleißig zu sein habe und
nur so ein vollwertiges Mitglied der
Gesellschaft sein könne. In welchem
Maße die Literatur der herrschenden
Ideologie inhärent war, zeigt sich am
Beispiel der zu Šenoas1 Zeiten erscheinenden Zeitschrift „Vienac“,
die als Forum zur Erhellung wichtigster Fragen des kulturellen und
politischen Lebens diente – was sich
im Übrigen bis heute nicht geändert
hat und in der seit 1993 erscheinenden Nachfolgepublikation „Vijenac“
weitergeführt wird.
Lehrreich ist in diesem Sinne ein Text,
den 1995 Pavao Pavličić in Handkuss
(„Rukoljub“) veröffentlichte. In die-
August Šenoa (1838-81), Schriftsteller, Wegbereiter der modernen kroatischen Prosa; ab 1874 Hauptredakteur von „Vienac“ (1869-1903).
(Diese und folgende Anmerkungen stammen von der Übersetzerin.)
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sem Buch wendet sich der Verfasser
in Briefform an bekannte kroatische
Autorinnen wie auch an fiktive Protagonistinnen, so etwa an Madona
Markantunova aus Slobodan Novaks
Roman Gold, Weihrauch und Myrrhe
(„Mirisi, zlato i tamjan“2). Formalitäten und konventionelle Komplimente, die für diese Art (anachronistischer) Korrespondenz selbstverständlich sind, wollen wir beiseite
lassen. Pavličić wendet sich an die
Heldin eines der besten Romane, die
je in kroatischer Sprache geschrieben
wurden. Er setzt unterschiedliche
Epochen und Existenzen in Bezug
zueinander und lässt die Komtesse
als edle Dame, aber auch als „Personifizierung unserer Geschichte“ auftreten. Während die Kritiker Novaks
Prosawerk als die Abrechnung einer
Generation mit ihren eigenen Irrtümern definierten und sie als moralistische Lektüre etikettierten, wurde
sie von dem genannten Briefeschreiber als historischer Roman bestimmt.
Im Unterschied zur Geschichtsauffassung Friedrich Nietzsches, der drei
grundlegende Ansatzmöglichkeiten
hervorhob (monumentaler, antiquierender und kritischer Ansatz), vertritt
Pavličić die Ansicht, dass es drei Typen des historischen Romans gebe
(apologischer, didaktischer und allegorischer Typ). Schwer zu sagen, welcher dieser drei Romantypen den kritischen Zugang gemäß der Nomenklatur Nietzsches impliziert, doch
Ausschlag gebend für unsere Untersuchung ist Pavličićs radikale und
völlig überraschende Schlussfolgerung, dass alle kroatischen Romane
im Grunde historische Romane seien. Dies sei nun einmal so und werde
sich so bald auch nicht ändern, nicht
weil es jemandem so gefiele, sondern
schlicht und einfach deshalb, weil die
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4
RELA
Dossier: Zdravko Zima
kroatische Geschichte noch nicht abgeschlossen sei.
Natürlich steht Pavličićs Behauptung
im Widerspruch zur bekannten und
mittlerweile überwundenen These
Fukuyamas vom Ende der Geschichte; dass sie obendrein von der Idee
der Postmoderne und des Posthistoire abweicht, hat weniger mit dem
Briefeschreiber selbst zu tun als mit
dem Problem der kroatischen Geschichte und dem ihr angemessenen Romanparadigma. Über diese
Entfremdung von der Geschichte,
um nicht zu sagen: Verurteilung zur
Geschichte, ferner über die Notwendigkeit des Erzählens äußert sich explizit auch Nedjeljko Fabrio in seinem ersten Roman Einübung des Lebens („Vježbanje života“3, 1985). Um
das Selbstbewusstsein Fabrios als Romanautors in seinem ganzen Umfang
deutlich zu machen, soll daran erinnert werden, dass er selbst, auf eine
Wortprägung von Viktor Car Emin4
zurückgreifend, sein Werk als Chronisterion bezeichnete und sich selbst
auf diesem Wege als Schriftsteller
auswies, der ein Geschichtsbewusstsein besitzt sowie ein Bewusstsein
von der literarischen Vergangenheit,
an die er mit seinem Schaffen anknüpft. Der Begriff Chronisterion
ist ein Kofferwort und vereint die aus
dem Altgriechischen stammenden
Wörter Chronik (Jahrbuch), Historie (historisches Geschehen, Erzählung) und Hysterie (Wahn, von hystera = Gebärmutter); es funktioniert
in letzter Instanz als Draperie, mit
denen der Autor seine Visionen umhüllt. Fabrio hat die formelle Ähnlichkeit von Historie und Hysterie
nicht aus reinem Manierismus oder
aus Vorliebe für effektvolle Wortspiele aufgegriffen. Das Bewusstsein von
der Geschichte in ihrem einerseits
TIONS
gebärmutterhaften und andererseits
makabren Charakter offenbart sich
nicht nur in der Dichotomie LebenTod, vermittelt und poetisch akzentuiert in der Episode, in der ein Leben
erlischt, während neues entsteht (Fanica stirbt, nachdem sie ihren Sohn
Fumulo zur Welt gebracht hat).
Von diesem Bewusstsein ist der Roman Einübung des Lebens mehr oder
weniger explizit und nahezu restlos geprägt, wie sich anhand unterschiedlicher Stellen belegen lässt:
„Während die Bora mit ungestümen
Böen und Getöse die Hänge hinabstürzte, verbrachte Jožić die Nacht
im Schein eines Talglichts, dessen
Docht gegen Morgen mit flackernder
Flamme im eigenen zerschmolzenen
Talg ersoff: Wie oft hat sich im Laufe seiner Geschichte, will heißen dieses Irrenhauses, der kroatische Mann
schon gefragt, ob seine Regierung in
Zagreb überhaupt ans Wohl der Heimat denkt?“ Und wie der Docht des
Talglichts im eigenen Wachs ersäuft,
könnte man, in Anlehnung an das
vom Autor gewählte Bild, schließen,
dass der Enthusiasmus von Fabrios
Helden – und nicht nur seiner Helden – mit ihren eigenen Irrtümern
untergeht, in deren Hintergrund man
stets den Schatten der allzeit Großen und Gefräßigen Geschichte erahnt. Mit Blick auf die vorgegebenen
Koordinaten empfiehlt es sich, auf
Krleža zurückzugreifen, der wie selten ein kroatischer Schriftsteller von
der Geschichte fasziniert war. In seinen essayistischen und anderen Texten verwendet er meistens das Wort
„Historie“, doch so begeistert er auch
von historischer Quellenlektüre war,
stand er dem Versuch, die Historie
zu einer exakten Wissenschaft zu
machen, doch skeptisch gegenüber.
Daher schließt Drago Roksandić zu
Übers. von Tihomir Glowatzky.
Wieser Verlag (übers. v. Klaus D. Olof, 2008).
Viktor Car Emin (1870-1963), istrischer Schriftsteller, der sich in seinen Werken mit der Geschichte der kroatischen Bevölkerung Istriens
beschäftigte.
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Recht, dass Krleža als Geschichtskenner kaum seinesgleichen finde,
und vertritt die Ansicht, das umfangreiche und heterogene Opus des
Schriftstellers sei am treffendsten als
Historik zu bezeichnen. Trotz seines
kontinuierlichen Interesses für Geschichte und ungeachtet der Tatsache, dass er sich zu seinen Ansichten
von Kant, Schopenhauer, Nietzsche,
Marx und anderen anregen ließ, ist
Krležas Opus im Einzelnen wie insgesamt eine ausdrückliche Absage an
jegliche doktrinäre Historiografie.
Fabrio entwickelte sich zu einem
Schriftsteller von mediterraner Sensibilität, was sich in sehr unterschiedlichen Texten offenbart, sei es in
Schriften, in denen er systematisch
die kroatisch-italienischen Beziehungen thematisiert, oder aber in Übersetzungen italienischer Klassiker, von
Goldoni und Pirandello bis Moravia,
Chiara und vielen anderen; dennoch
steht er, gemäß den Merkmalen seiner Texte, Krleža sehr nahe. Diese
Beurteilung bezieht sich in erster Linie auf das manieristische Bedürfnis
nach einem von Rhetorik überladenen und prunkhaften Stil, den Curtius als Schwulststil bezeichnete; auf
das heroische Pathos seiner Protagonisten, den gezierten Duktus, den
Fabrio selbst in der Novelle Fiumaner
Elegie („Riječka elegija“) (eine Einleitung zu Einübung des Lebens) als
„meine Scriptura cursiva“ bezeichnete, sowie auf die Auffassung der
Geschichte als Moloch und alles verschlingendes Ungetüm, das immer
neue Opfer fordere. Krleža verwendete für Historie Ausdrücke wie „Annalen der Dummheit“, „Tagebuch
nutzlosen Umherirrens“, „blutiger
Albtraum“, „Konstante der Armut,
des Todes und der Wollust“, oder
er schrieb, sie sei „jedenfalls eher eine Hure denn eine Lehrmeisterin“.
Die aussagekräftigsten Informationen über Krležas diesbezügliche Auffassung liefert der Text Einige Worte
über den kleinbürgerlichen Historis-
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Kolumnen
mus im Allgemeinen, der erstmals in
Književna republika erschien (1926)
und später seinem Essayband Zehn
blutige Jahre („Deset krvavih godina“) beigefügt wurde.
Zitat: „Alle europäischen Völker haben ihre Lügen und ihre hochtrabenden, debilisierenden und einschläfernden Phrasen, ihre historischen Fanfaronaden und Schandflecke, doch keines kommt so kümmerlich und so armselig daher, geradezu
nackt und barfüßig, ausgestattet mit
seiner Fatamorgana, wie unser lokalpatriotisches Kroatenvolk. Unbekannt, verachtet und verspottet,
Barbaren für den Westen und Deutsche für den orthodoxen Osten, rennen die Kroaten ihrem Blauen Vogel
der Freiheit hinterher, stets in krankhafter Begeisterung für Illusion und
Lüge, zerrissen von poetischer Inspiration zur Verwirklichung ihrer Ideale, immer gleichbleibend hartnäckig
im Missverhältnis zur Wirklichkeit.“
Obwohl vor mehr als achtzig Jahren
niedergeschrieben, sind diese Worte bis auf den heutigen Tag gültig
geblieben. So skrupulös Fabrio in
seinen Objektionen auch vorgeht
– diese Skrupulosität und Zurückhaltung war mit der oben erwähnten Scriptura cursiva gemeint – so
unterscheidet sich seine in Romanen und anderen Texten elaborierte
Vision der Geschichte im Grunde
nicht von der Miroslav Krležas. Diese Auffassung ergänzt Viktor Žmegač
durch Ausführungen, die er in seiner Studie „Der historische Roman
heute“ (Republika, 1-2/1991) vorgelegt hat. Unser bekannter Germanist und Kroatist merkt an, dass die
Tendenzen in der kroatischen Literatur typisch seien für so genannte marginale Literaturen, in denen
sich die Bevorzugung des Romans
als besonderer literarischer Gattung
mit dem Modell des historischen
Romans decke. Daraus ergebe sich
geradezu unvermeidlich die logische
Folgerung, dass der historische Ro-
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man, wenn auch auf kroatische Gegebenheiten reduziert, eine Verlängerung der Geschichtsphilosophie mit
anderen Mitteln darstelle.
Der postmodernen Spiritualität und
der Idee des Posthistoire zum Trotz
seien die kroatischen Schriftsteller
dem traditionellen Paradigma des
historischen Romans treu geblieben,
wie Žmegač zu Recht konstatiert.
Daraus ergebe sich ein Moralismus
(also kein Ludismus) und eine Akzeptanz des „Pathos transhistorischer
Werte“, was gleichermaßen bei Fabrio und anderen Autoren unserer
Nationalliteratur zu erkennen sei,
die sich dem historischen Roman
verschrieben hätten. Was für Krleža
Zagreb und Blitwien seien (Blitwien
steht synonym für Irrenhaus, während Fabrio den Begriff Irrenhaus
mehrmals als Synonym für Geschichte verwendet), was Lübeck für Thomas Mann, Dublin für Joyce, Danzig
für Grass, Triest für Svevo und Saba
seien, das sei Rijeka für Fabrio: sein
Theatrum mundi, identifiziert als
„gelobte Stadt“, dann als „gesonderte
Gubernie“ oder Corpus separatum,
auf das zu verschiedenen Zeiten alle
möglichen Statthalter und Gouverneure Besitzansprüche erhoben. Die
italienische Kultur und die italienische Oper, die er in der Kindheit
kennen lernte, bereicherten seinen
mit seismografischer Empfindlichkeit ausgestatteten Geist um die Vision des Nationalen und den Imperativ
des Planetarischen, lange bevor diese
Begriffe in den Morast der ideologischen Konjunktur getreten wurden,
zerschlissen von übermäßigem Gebrauch und pervertierten Bedeutungen. Fabrio ist ein Autor fernab von
allen Standards, da er die Fähigkeit
besitzt, sein Nationalbewusstsein zu
artikulieren, zu sublimieren und mit
artistischen Mitteln zu retuschieren,
ohne dabei die Dimension des Planetarischen außer Acht zu lassen.
Als unerlässliches Korrektiv wirkte
in seinem Fall der Einfluss der itali-
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enischen Kultur, den er in sich integrierte wie die Atemluft, ohne zuzulassen, dass in dieser verführerischen
Atmosphäre zweier paralleler Kultureinflüsse eine Seite die Oberhand
gewann.
Rijeka erwies sich als optimales Umfeld, als Raum einer geschichtlichen
Kohabitation, bei der auf keiner Seite
das Gefühl aufkam, der minderwertige Mitbewohner zu sein. Italienische Lebenskultur und italienische
Literatur waren für Fabrio das Maß
für zumutbaren Eurozentrismus, ein
Fenster zur Welt, das ihn jedoch nie
der Überzeugung entfremdete, dass
er als Schriftsteller und Forschender
von dem Schicksal geprägt war, eigene Ansatzpunkte zu entwickeln
und eigene Wege zu gehen. Rijeka
war ein Schritt hinaus in die Welt,
aber auch eine Welt für sich, die unzählige Möglichkeiten bot. Rijeka als
Corpus separatum, als Mittelpunkt
und Peripherie, die ihre Offenheit
dem Meer zu verdanken hat, auf
deren Gebiet, wie bei einem Karnevalsumzug, kroatische, italienische,
deutsch-österreichische, ungarische
und wer weiß was noch für Einflüsse
zusammenstießen. Wenn auch nicht
(offiziell) Fabrios Heimatstadt, war
Rijeka freilich ein die Persönlichkeit
des Autors formendes Element, dessen Genius loci auf den Seiten seiner Romane sowie anderer belletristischer und essayistischer Texte am
besten in Erscheinung tritt. Anfang
1972 entschloss sich Fabrio zu einer
Art Exil und tauschte die Stadt seiner
Kindheit und Jugend gegen Zagreb
ein. Bekanntlicherweise war dieser
Schritt eher auf soziale Umstände zurückzuführen als auf den Wunsch des
Autors, die Sonne des Südens um jeden Preis gegen die Herbstnebel Zagrebs einzutauschen. So sehr damals
diese Entscheidung schmerzhaft gewesen sein mag, so produktiv erwies
sie sich auf lange Sicht – für Fabrio
5
RELA
Dossier: Zdravko Zima
und die kroatische Literatur gleichermaßen. Ist nämlich der Abstand die
Seele des Schönen, wie Simone Weil
schrieb, dann benötigte Fabrio den
Abstand von Rijeka, um jene Dimension der Stadt zu erkennen und in Literatur umzusetzen, die durch Nähe
stets zunichte gemacht wird.
Wie hätte Fabrio im Übrigen verlieren können, was er mit der Muttermilch aufgesogen hatte und was
er, angetrieben von der ihm eigenen
Neugier, als sein spirituelles Schicksal
und literarisches Zehrgeld mit sich
trug? Karl-Markus Gauß zeichnete
in einem seiner Texte den Lebensweg
Theo Waldingers nach, eines Österreichers, der mit 35 Jahren von den
Nazis des Landes vertrieben worden
war. Waldinger verbrachte ungefähr
ein halbes Jahrhundert in den Vereinigten Staaten, doch als er in den
späten 80er-Jahren in seine Heimat
zurückkehrte, frappierte er mit seiner wienerischen Aussprache seine
Wiener Mitbürger, die das Idiom ihrer Heimatstadt in seiner ursprünglichen Form verlernt hatten. Dieser
Mann, der nicht freiwillig aus Österreich weggegangen war, sondern
um sein nacktes Leben zu retten,
hatte es fertiggebracht, sich inmitten des Ozeans der englischen Sprache die Mundart der Wiener Metropole zu bewahren, eine Sprache,
die durch jahrzehntelange Sedimentierung auf der Grundlage der kosmopolitisch durchgemischten franzjosephinischen Monarchie gewachsen war. Gauß schreibt: „Seitdem
ich diesem zweifellos österreichisch
geprägten, zugleich aber auch wahrhaftigen Weltbürger Theo Waldinger begegnet bin, erfüllt es mich mit
tiefer Verachtung, wenn ich sehe, wie
die weltlichen Kleinbürger meiner
Generation darum bemüht sind, ihre Herkunft zu verleugnen, als würde sie diese zu ewiger Provinzialität
verdammen.“ Über Fabrio ließe sich
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kaum viel anderes sagen. Bei all seiner unveränderlichen Weltoffenheit
hat er doch nicht Kozala und Mlaka5 vergessen, nicht die Sprache und
nicht die Möwen, „die in Scharen aus
dem nahen Hafen herbeiflogen“, wie
er im Finale seines bekanntesten und
sicherlich emblematischen Romans
Einübung des Lebens schreibt.
Wären Romane nur von in ihren
Heimatstädten lebenden Autoren geschrieben worden, hätte die Weltliteratur wenig Nennenswertes vorzuweisen. Weder ist Thomas Manns
Doktor Faustus in Lübeck entstanden,
noch hat Günter Grass Die Blechtrommel in Danzig geschrieben, jener Stadt, die in den Jahren der literarischen Initiation des Autors gar
nicht mehr zu Deutschland, sondern
zu Polen gehörte. Trotz ideologischer
Daumenschrauben und dem kaum
zweihundert Kilometer betragenden
Fluchtweg konnte Fabrio auch in Zagreb seinen Obsessionen nicht entgehen. Dies belegen seine sorgfältigen Recherchen in Archiven, Bibliotheken und anderen Einrichtungen,
als er nach Informationen über den
großen Exodus der Italiener aus dem
kroatischen Küstenland und von den
Inseln sowie insbesondere aus Rijeka und Istrien im Zeitraum zwischen
1945 und 1956 suchte. Ohne diesen
Exodus als Hintergrund ist der Roman Einübung des Lebens praktisch
undenkbar, doch allen Warnungen
zum Trotz, dass es nicht opportun sei,
in einem solch delikaten Thema herumzustochern, gab Fabrio sein Vorhaben nicht auf, sondern veröffentlichte später viele ausgegrabene Details in seinem Essay „D’Annunzio,
Mussolini, Lenjin, Krleža, Rijeka“.
Die schon erwähnte These von Drago Roksandić, wonach Krleža ein Geschichtskenner und sein Opus Historik sei, ist in diesem Aspekt auch
auf Fabrio anwendbar. Natürlich sollen damit der Romanschriftsteller
Kozala und Mlaka: Stadtviertel in Rijeka.
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und der Historiker nicht auf eine
Stufe gestellt werden, ebenso wenig
wissenschaftliche Fachliteratur und
Belletristik. Fabrio ist insofern ein
Geschichtskenner, als er historische
Tatsachen als Baumaterial für seine
Romane verwendete, mit hartnäckigem Fleiß viele unbekannte oder gar
vertuschte Details aus unserer Nationalgeschichte aufdeckte und somit
jene oftmals aufgestellte Behauptung
bestätigte, dass die Wirklichkeit fantastischer ist als jede Literatur.
Einzig Fabrio konnte es sich dank seiner Skrupulosität leisten, ungenauen Improvisationen über die Episode D’Annunzios in Rijeka Paroli zu
bieten, einzig Fabrio widersprach den
Auslegungen von Miroslav Krleža,
Tin Ujević und Bratlojub Klaić6,
die das Patronat des größenwahnsinnigen italienischen Schriftstellers
durch die Brille der Ideologie betrachteten. Aber wie langweilig und
fantasielos ist doktrinäre Historie und
Wissenschaft im Vergleich zur „Hintergrundgeschichte“, die Fabrio aufzeichnete! In dem oben erwähnten
Essay erwähnt Fabrio, dass Arturo
Toscanini, einer der größten Dirigenten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, 1915 von der New Yorker Metropolitan nach Mailand zurückkehrte; am 20. November 1920 traf er mit
dem erneuerten Orchester der Scala
in Rijeka ein, wo er von Comandante
D’Annunzio mit einer albernen Parade empfangen wurde. Mit der ihm
eigenen Sorgfalt versäumte es Fabrio
nicht zu erwähnen, dass das berühmte Orchester anderntags im Stadttheater konzertierte, ebenso wenig fehlt
die Auskunft, dass zur gleichen Zeit
eine Lokalberühmtheit, der Fiumaner Ivan Matetić Ronjgov, im Stadtviertel Kantrida zu den Klängen der
6
7
8
Kolumnen
Sopela tanzte. Sofern Geschichte die
ewige Wiederkehr des Gleichen bedeutet, könnte man an Mstislaw Rostropowitsch erinnern, der nach dem
Berliner Mauerfall am Checkpoint
Charlie Cello spielte, oder auch an
Alexis Weissenberg, der in der Zeit
des kroatischen Unabhängigkeitskrieges ohne große Erklärungen ein
lange vorher angekündigtes Konzert
in Zagreb absagte. Wenn die Geschichte ebenso ungreifbar ist wie
die Zeit, stellt sich jedes Mal erneut
die Frage, wie diese Kategorien von
dem Schriftsteller in seinen Texten
behandelt werden sollen.
Vielleicht tut man in dieser Situation
gut daran, sich an T. S. Eliot zu wenden, der im ersten seiner Vier Quartette festhält: „...Nur durch Form,
Anordnung / Können Worte oder
Musik / Ruhe erlangen, so wie eine chinesische Vase / Unaufhörlich
sich bewegt in ihrer Unbeweglichkeit. [...] Oder sagen wir, das Ende
geht dem Anfang voraus, / Und Ende
und Anfang waren immer schon da /
Vor dem Anfang und nach dem Ende. / Und alles ist allzeit jetzt. Worte
spannen sich, / Splittern und bersten zuweilen unter der Last...“7 Diese Zeitsynchronie, auf die T. S. Eliot
in seinen Versen verweist, ist bei vielen weiteren Autoren zu erkennen.
Marcel Proust ist der erste moderne
Schriftsteller, der die Zeit und die
Erinnerung nicht nur zum Beweggrund, sondern auch zum zentralen
Motiv seines Schaffens erhob; ein bekannter Roman Aldous Huxleys trägt
den Titel Zeit muss enden; bei Günter
Grass endet die Zeit damit, dass Oskar Matzerath an seinem dritten Geburtstag zu wachsen aufhört. Mag
uns mitunter Fabrios Geschichtsverständnis, gemessen an den Distinkti-
63
onen Nietzsches, auch monumental
erscheinen, eher moralisierend denn
verspielt, eher von Sensibilität denn
von Intelligibilität geprägt, so sind
in seinem Opus doch auch Anhaltspunkte für andere Interpretationen
zu erkennen. Dies beweist etwa die
Erzählung Frottola über Dubrovnik
(„Frottola o Dubrovniku“) aus dem
Jahre 1976, die erstmals in der Erzählsammlung Das Maul des Löwen
(„Lavlja usta“, 1978) erschien. Der
Titel suggeriert bereits eine Verbindung zur Musik, die im Subtext zahlreicher literarischer Projekte Fabrios
existiert, doch darüber hinaus ist die
genannte Erzählung gerade durch die
darin präsentierte Geschichtsauffassung exemplarisch.
Keineswegs zufällig hat Fabrio Dubrovnik als den Handlungsort für seine Erzählung ausgewählt, gehört doch
diese Stadt, die in der Vergangenheit
phasenweise als Republik existierte,
zu den nationalen Mythen Kroatiens.
Die Geschichte Dubrovniks, dem
unter vielen anderen Marin Držić8
entsprang, wird auf den Kopf gestellt.
So wie Manieristen – Maler wie Schriftsteller – mit Verzerrungen spielen, so
verzerrt auch Fabrio das allgemein
bekannte Bild der Stadt und ihrer
Vergangenheit. Statt an die Zeit zu
erinnern, als gegen Beginn des 7.
Jahrhunderts n.Chr. Awaren und Slawen das antike Epidaurum (heute
Cavtat) zerstörten, und statt zu schildern, wie sich die Flüchtlinge auf einer Felseninsel (altgr. laus, woraus
sich Rausa, dann die romanische Bezeichnung Ragusium entwickelte)
ansiedelten, bedient sich Fabrio der
Inversion. Die Geschichte Dubrovniks beginnt bei ihm nicht mit der
Siedlungsgründung auf einer Felseninsel, sondern im 20. Jahrhundert,
Bratoljub Klaić (1909-83), Sprachwissenschaftler und Lexikograf.
„...Only by the form, the pattern, / Can words or music reach / The stillness, as a Chinese jar still / Moves perpetually in its stillness. [...] Or say
that the end precedes the beginning, / And the end and the beginning were always there / Before the beginning and after the end. / And all is always now. Words strain, / Crack and sometimes break, under the burden...“ – T. S. Eliot, Four Quartets, 1. Burnt Norton (1945). Übers. v. S.S.
Marin Držić (1508-67), Dichter und Komödienschreiber, der sich der kroatischen Volkssprache bediente.
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als die Stadt ein wichtiger Mittelpunkt mit einer hochentwickelten
Hotellerie und regem kulturellen Leben ist. Nachdem Dubrovnik aufgehört hat, ein Teil des jugoslawischen
Staates zu sein, fällt es an Österreich-Ungarn, später marschieren Napoleons Truppen ein und unterwerfen die
Stadt; Atomenergie wird durch elektrischen Strom abgelöst, dieser wiederum durch Wasserdampf. Die alten
Griechen deuteten einst die Zeit als
Okeanos, den die Erde und das All
umfließenden Weltstrom; in Anlehnung daran, d.h. an die Idee des Kreisens zeigte Fabrio, dass der Anfang
sich auch am Ende befinden kann.
So wie im alten Rom während der Saturnalien die gesellschaftlichen Rollen
umgekehrt wurden und die Herren
ihre Sklaven bedienten, so suggeriert
dieser kroatische Erzähler mit seiner
originellen Intervention, dass die Zeit
eine menschliche Fiktion und die Geschichte im Grunde eine Art Farce
sei – wenn nicht gar eine Frottola!
Die genannte Erzählung will aber
keineswegs ein vermeintliches Bedürfnis Fabrios nach Exhibitionismus befriedigen. Fabrio hegt nach
wie vor Respekt für Historisches und
prüft jedes Detail seiner erfundenen, belletristischen Texte in Quellen nach; diese Novelle jedoch dokumentiert eine neue Einstellung zur
Geschichte, die ebenso erfunden,
eine Projektion oder ein a posteriori
entworfenes Bild ist, das maßgeblich
von auferlegten Ideologemen beeinflusst wird. In seinem bekanntesten
Roman beschreibt H. G. Wells eine Maschine, mit deren Hilfe Zeitebenen manipuliert werden können
und man aus der Gegenwart in Vergangenheit und Zukunft gelangen
kann; Joyce war zeit seines Lebens
auf der Suche nach dem ‚sid‘ (altirisches Wort für Jenseits), für das die
Gesetzmäßigkeiten von Raum und
Zeit nicht gelten – während Fabrio
9
RELA
Dossier: Zdravko Zima
die Zeit mit Geschichte identifizierte, Geschichte mit einer Farce, einer
Posse und letztlich mit Wahnsinn,
den er durch den Tod enden lässt. Im
Roman Einübung des Lebens wird das
so erklärt: „Lucian, gehe durch die
Stadt, bis du zum Opfer wirst: Dann
wirst du, der du bis dahin unbeachtet
unter den Sternen wandeltest, deine
Naivität auf dem Gitterrost der Geschichte einbüßen. Mit der Erzählung über dich, Lucian, und deine
zärtliche, geradezu kindliche Liebe
hätte ich sofort beginnen können,
aber ich habe den längeren, viel längeren Weg vorgezogen, weil ich fand,
dass ich als Erzähler die Pflicht habe, alles zu schildern, was ich über
die Blutsbande der Familie weiß,
mit der du dich zufällig verknüpfen
wirst. Das wird man mir übelnehmen, ich weiß: Die Menschen sind
es gewohnt, im Stehen zu essen, hundert Dinge gleichzeitig zu verrichten,
sich mit halben Sätzen zu verständigen. Noch mehr wird es sie verärgern,
dass ich auf die Geschichte zurückgreife. Ah, wie ist doch die Erzählung
ohne sie unterhaltsam und das Erzählen leicht und unverbindlich! Aber
nicht ich habe die Geschichte herbeigerufen, nicht ich habe sie erfunden! Sie hat sich doch selbst wie eine vertrocknete Klette, aufdringlich
und mich bis aufs Blut zerkratzend,
an meine Erzählung geheftet! Wann
immer ich mit einer Erzählung anfing, wuchs daraus schnell, wie jene
Bohnenranke im Märchen, das Gestrüpp und Unkraut der Geschichte hervor: Nutzlosigkeit, Wahnsinn,
Tod. Ist Geschichte denn etwas anderes? Sollte ich das alles selbst erfunden haben?“9
Wenn er auch historische Fakten
nicht umgeht, ist Fabrio in seinen
Romanen auf die Erforschung von
sich wiederholenden Existenz- und
Verhaltensmustern konzentriert, in
denen die Zeit stillzustehen scheint
TIONS
und in denen das, was man Historie
nennt, in ewige, dem Leser vertraute
Gegenwart verwandelt wird. Im Unterschied zum Historiker, den ausschließlich Tatsachen interessieren,
bedient sich der Schriftsteller der
Fakten im Sinne von Verbrauchsmaterial; im Unterschied zum Ersteren, der die (materielle) Realität
erforscht, hinterfragt der Autor die
Existenz des Menschen und dessen
Aussichten, sich im gegebenen geschichtlichen Augenblick als freies
Wesen zu verwirklichen. Insofern
ist die Zeit für den Schriftsteller ein
unveränderliches Ganzes, die stets
gleichbleibende Gegenwart, die eine schmale und kaum vorstellbare
Grenzlinie zwischen Erinnerung und
Idealzustand impliziert, zwischen einer Welt, die es nicht mehr gibt, und
einer solchen, die es immer geben
wird! Mag der Erzähler auch mit der
Kategorie der Erinnerung rechnen,
erweist sich diese doch als unverlässlicher Verbündeter, da ihre Wirkung
nach mindestens zwei Seiten hin ausstrahlt. Wie nämlich bereits Kundera irgendwo festgestellt hat, sind wir
von der Vergangenheit durch zwei
Kräfte getrennt, die blitzschnell und
synchronisiert auftreten: Erstere ist
das alles auslöschende Vergessen, die
zweite ist die Erinnerung, die funktioniert, indem sie Erlebtes in unserem Bewusstsein verwandelt. Da die
traditionellen humanistischen Disziplinen beträchtlich in ihren Grundfesten erschüttert oder in neue Paradigmen eingebunden wurden, haben
selbst kleine Schulkinder den Glauben an die hehre Geschichte als die
Lehrmeisterin des Lebens verloren.
Die noch bis gestern als unantastbar
geltenden epistemologischen Interpretationen der Positivisten werden
durch die These entkräftet, dass die
Historie ein literarisches Konstrukt
und historische Quellen im Grunde intertextuell seien. Dies besagt in
Milutin Nehajev (1880-1931), Autor der kroatischen Moderne.
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der Folge zumindest zweierlei: (1)
Tatsachen an sich sind nicht länger
ausreichend, und (2) Tatsachen implizieren, so authentisch sie auch wirken mögen, immer auch die Last der
Interpretation.
Geht man von der These aus, dass
historische Quellen apokryph sind
oder, im modernen Sprachgebrauch,
intertextuell, dann bedeutet das, dass
sie Schauplatz von Permutationen
sind und teilhaben am Spiel des gegenseitigen Austauschens, das Romanautoren nicht vermeiden können, ebenso wenig Historiker, ihre
entfernten, mitunter aber auch nahen Verwandten. Anregend ist es, an
dieser Stelle wieder auf Nietzsche zurückzugreifen, der seine Leser aus der
Tiefe des 19. Jahrhunderts geradezu
beschwörte, nicht an Historiografie
zu glauben, sofern diese nicht aus den
Köpfen erlesenster Geister hervorgegangen sei! So wie es schwierig ist, Ursprünglichkeit zu bestimmen, so ist
Schreiben als Modell intellektuellen
Selbst-Bewusstseins stets vom Dis-
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Kolumnen
kurs eines anderen geprägt. Für eine
neue Einstellung zur Geschichte waren die Werke von Michel Foucault,
Roland Barthes und Jacques Derrida Ausschlag gebend, denn diese
Autoren widmeten dem Bezug zwischen Freiheit und den bestehenden
Machtzentren besondere Aufmerksamkeit. Da die Wirklichkeit von
der Sprache gestaltet und transformiert wird (nicht nur die Sprache von
der Wirklichkeit), gelangte Hayden
White zu der Überzeugung, dass die
gesamte Historie eine verbale Fiktion
sei. Oder wie wir in Bezug auf Fabrio
bereits gesagt haben: Sein Opus ist
sowohl Historie als auch Erzählung,
ist eine Einübung des Lebens, die
vom Pathos nationaler Impostierung
zu einer Reihe von Ereignissen überleitet, in denen der Autor, wie einst
Walter Benjamin, einzig und allein
eine Katastrophe sieht. Baudrillard
wiederum negiert das traditionelle Zeitverständnis, das auf der Idee
des Endes beruht, und somit negiert er gleichfalls die Idee vom En-
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de der Geschichte. Im Anschluss an
Baudrillard könnten wir sagen, dass
nicht nur die Geschichte eine Fiktion ist: Auch die Idee vom Ende der
Geschichte ist nichts anderes als eine
Fiktion! Es erweist sich, dass Fabrio
mit seinen Chronisteria und Prosalabyrinthen als Erbe eines Entwicklungszweigs des historischen Romans
auftritt, dem seinerzeit Nehajev21 den
Weg geebnet hatte, aber auch als Befolger der geradezu eschatologischen
Idee Benjamins, der zufolge „nur der
geretteten Menschheit ihre Vergangenheit ganz gehört“. Was bedeutet
dies für Fabrios Einübung des Lebens? Dass sich die belletristische
und historiografische Wahrheit im
Roman zu einer neuen Wirklichkeit
verbinden, die in genau dem Maße
real ist, als sie der Natur des Romans
innewohnt – nicht mehr und nicht
weniger.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Silvia Sladić
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Das Leben als Marathon
Zdravko Zima
G
eht man von der Richtigkeit
der geradezu abgedroschenen
psychoanalytischen Annahme aus,
dass die Gründe für das Vorgehen eines Menschen in der Kindheit oder
einem weit zurückliegenden früheren Leben zu suchen seien, dann
steht ebenso fest, dass Autobiografische Aufzeichnungen („Autobiografski
zapisi“, 2000) von Stanko Lasić1 ohne die Kenntnis seiner früheren Arbeiten nicht leicht zu verstehen ist.
In diesem Falle bezieht sich das vor
allem auf die Studie Konflikte innerhalb der Literarischen Linken („Sukob
na književnoj ljevici“, 1970) und die
Monografie Krleža, eine Chronologie
des Lebens und Schaffens („Krleža,
kronologija života i rada“,1982). Im
Hinblick auf die Art und Weise, in
der Lasić die Frage des Verhältnisses
von Kunst und Revolution problematisiert; im Hinblick auf die nachdrückliche Erläuterung von Fakten
und die intellektuelle Kompromisslosigkeit, die damals wie heute beispiellos ist, stellt sein Buch Konflikte
innerhalb der literarischen Linken einen Meilenstein nicht nur in der Literatur- oder Kulturgeschichte, sondern auch in der politischen Geschichte Kroatiens dar. In jener Zeit,
als staatlich protegierte Schriftsteller sich wie unberührbare Heilige
1
in bequemen Sesseln breitmachten,
stellte Lasić in den Mittelpunkt seiner Reflexionen den Künstler, der
zwar die Freiheit habe, sich einer
Ideologie oder einem schöpferischen
Abenteuer zu verschreiben, der sich
letztendlich aber als Verräter ausweise.
Mit seinen hellsichtigen und schonungslosen Analysen griff Lasić in das
Wespennest petrifizierter Ideologie,
schlug aber auch, was ebenso wichtig
ist, die Schleier der Täuschung und
Selbsttäuschung auseinander, hinter
denen die Künstler ihre privilegierte
Stellung oder das, was in der abendländischen Geschichte zumeist als
Hofnarrenstatus bezeichnet wurde,
zu schützen bemüht waren.
Niemand vor Lasić hat je so unmittelbar nachgewiesen, zumindest nicht
hierzulande, dass Kunst den Privilegierten vorbehalten ist und dass
das Dilemma Shakespeare oder die
Wurst für das besitzlose Individuum ein fiktives Dilemma darstellt.
Niemand vor ihm hat in so überlegener Weise das totalitäre Bewusstsein
der herrschenden Ideokratie denunziert, ohne dabei den Sündenfall des
Künstlers zu verschweigen, der sich
mit Brotkrumen von der Tafel des
Herrschers zufrieden gibt und damit gleichermaßen die Enteigneten
als auch seine eigene Kunst verrät,
die er ansonsten so vollmundig beschwört. Den ersten Teil seines Buches, in dem er wesentliche Etappen
der Konfliktaustragung nicht nur innerhalb der literarischen Linken elaboriert, schließt Lasić mit folgenden
Worten ab: „Und wieder haben wir
alles, was auch Europa hat. In zweitrangiger Qualität.“ Ich zitiere diese
Schlussfolgerung nicht nur, weil sie
mich vor fast vier Jahrzehnten wie ein
Blitz traf, sondern weil sie trotz der
Zeit und den historischen Erschütterungen, die seitdem vergangen sind,
heute ebenso zutreffend ist wie damals. Die Tempierung und Rigorosität, die auch die anderen Analysen
von Lasić auszeichnen, gehörten mit
zu den Gründen, warum ich über
Konflikte innerhalb der literarischen
Linken noch als Student meine erste Buchbesprechung verfasste, die
am 17. März 1971 in Omladinski
tjednik erschien (welch ein Zufall,
just am Todestag von Matoš). Die
Art und Weise, in der Lasić über die
Antinomien der Kunst und der Revolution reflektierte, ist für seine übrigen Arbeiten, insbesondere die über
Krleža, paradigmatisch.
Die Mühen, von denen die Veröffentlichung der Monografie Krleža,
eine Chronologie des Lebens und Schaffens begleitet war und die heute so gut
Stanko Lasić (1927), Literaturwissenschaftler und Kulturkritiker; lehrte von 1953 bis 1976 an der Abteilung für neuere kroatische Literatur
der Philosophischen Fakultät in Zagreb, danach arbeitete er als Lektor und Literaturprofessor an verschiedenen Universitäten in Frankreich
und den Niederlanden. Seine Forschungsarbeiten widmen sich vor allem dem Opus von Miroslav Krleža. (Diese und folgende Anmerkungen
stammen von der Übersetzerin.)
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wie vergessen sind, sind symptomatisch für die Zeit, in der ideologische
Unberührbarkeit auch Schriftsteller
mit einbezog, die ebenso unberührbar waren. Das Buch ist wichtig,
weil es einerseits naiv wäre zu glauben, dass solche Praktiken hinter uns
liegen, andererseits hat Lasić darin
dargelegt, dass die Dimensionen eines Schriftstellers daran gemessen
werden, wie viel Strenge in der Beurteilung sein Werk ertragen kann.
Im Unterschied zu Autoren, die zu
jeder Art von Konzession bereit sind
und jegliche Eingriffe vonseiten des
Redakteurs bereitwillig hinnehmen,
mag es sich auch um Eingriffe handeln, die weniger mit dem Geschriebenen zu tun haben, umso mehr
aber mit dem Bedürfnis zu zensurieren, hat Lasić in seinen Manuskripten keine einzige Zeile ändern
lassen. Ein Vierteljahrhundert später
erweist sich dies als gleichermaßen
produktiv für den Forscher und sein
erforschtes „Opfer“. Trotz der Fülle an Fachliteratur über Krleža war
Lasić der Erste, der in seiner Studie
die Bedeutung des Jahres 1945 hervorhob. Bereits in der Zeit der Balkankriege und des Ersten Weltkriegs
hatte Krleža begriffen, dass Freiheit
unteilbar ist; nach der Niederlage
des Faschismus jedoch hatte er keine ebenbürtigen Gesprächspartner
mehr, nicht nur wegen seiner geistigen Überlegenheit, sondern weil er
immer offensichtlicher ins Monologisieren verfiel, wie es beatifizierten
Größen eigen ist. Lasić unterbrach
mit seinem Buch die „krankhafte
Einstimmigkeit“, mit der ein lebender Schriftsteller zum Monument
erhoben wurde, vor dem man auf
die Knie fiel und geradezu religiöse
Lobreden aussprach.
Lasić bewies klar und deutlich, dass
es zwischen dem Schriftsteller und
dem Machthaber kein idyllisches Vehältnis geben kann; nicht dass der
Schriftsteller auf ewig eingekerkert
sein müsste, doch ist der Maßstab
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Kolumnen
des Ersteren das Absolute, der des
Machthabers das Relative, und Literatur ist in ihrer Substanzialität die
Negation jeglicher Herrschaftsform.
Krleža hatte, gemäß den Worten seines authentischsten und konsequentesten Kritikers, das Unglück, nach
1945 ausschließlich apologetisch beurteilt zu werden, womit die eine
oder andere Eitelkeit vielleicht befriedigt war, doch langfristig hat man
Krleža wie auch der kroatischen Literatur insgesamt damit großen Schaden zugefügt. Dem aufmerksameren
Leser der Autobiografischen Aufzeichnungen wird kaum entgehen, dass
Lasić mit derselben Strenge, die er
bei der sorgfältigen Zergliederung
von Krležas Texten anwandte, gegen
sich selbst vorging. Obwohl er ausführlich seinen eigenen Lebensweg
rekapitulierte, sich dabei an seine Eltern, seine Familie und Freunde, seine Geburtsstadt Karlovac, den Stadtteil Gaza und so weiter erinnerte, ist
das Besondere an Lasićs Autobiografie, dass der Verfasser in diesem Prozess des Enthüllens bemüht ist, zu
sich selbst vorzudringen. Wenn es
stimmt, dass das Panorama Europas
schon seit zweitausend Jahren von
Heiden beherrscht wird, die sich in
christliche Kutten vermummt über
den Kontinent ergießen; dass der
Archtetypus des einmaligen und androgynen Christus in der Tiefe der
menschlichen Seele verborgen liegt
wie eine auf dem Meeresgrund ruhende wertvolle Perle, dann lassen
sich daraus bestimmte Schlüsse über
Lasić ableiten. Zumindest hinsichtlich seines Ehrgeizes, in den späten
Jahren seiner bürgerlichen Existenz,
als seine äußerst untypische Karriere
als Universitätsprofessor hinter ihm
lag, zu seinem eigenen Archetypus
vorzudringen. Im häuslichen Umfeld dieses Literaturhistorikers und
Krležianers, der Hegels Opus zu seinem Gebetbuch erhoben hat und der
mit den Klassikern der Literatur wie
mit seinen allernächsten Angehöri-
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gen kommuniziert, gewinnt man den
Eindruck, eine intellektuelle Neugier
verkörpert zu sehen, die das Leben als
Marathon auffasst. Am verblüffendsten dabei ist, dass Lasić sich im Tempo des Sprinters auf diesen Marathon
eingelassen hat! Seine Introspektion
vor den Augen der Öffentlichkeit
ausführend, erklärt Lasić, dass er in
verschiedenen Lebensetappen von
verschiedenen Imperativen vorangetrieben worden sei, doch habe im
Hintergrund stets das Bedürfnis nach
Freiheit gestanden. Dieses Bedürfnis
hat er mit der Formel eines in Hegels
Hermeneutik begründeten ontologischen Strukturalismus auf den Punkt
gebracht.
Jede Autobiografie evoziert letztendlich die Bekenntnisse (lat. Confessiones) des Augustinus, die um das Jahr
400 entstanden und für dieses Genre paradigmatisch sind. Manch einer
wird sagen, dass sich der Lebensweg
des römischen Theologen und Heiligen und der des Literaturhistorikers
und -theoretikers aus Zagreb in vielerlei Hinsicht unterscheiden oder
schwer miteinander zu vergleichen
sind, doch das ist nur ein oberflächlicher Eindruck. Im zweiten Buch
seiner Bekenntnisse beschreibt Augustinus seine von Leidenschaften und
Sünden beherrschte Jugend; Lasić
wiederum identifiziert die Zeit seines jugendlichen Heranreifens mit
„fundamentalistischem Fanatismus“
oder „kommunistischer Religiosität“
und erläutert, dies seien Zeiten von
größter und kaum vorstellbarer Intensität gewesen, die nachhaltig die
Weichen seines Lebensweges gestellt
hätten. So wie Augustinus sich in seiner Jugend schwer mit Sünden belud, so lavierte Lasić in der Zeit der
kommunistischen Explosion auf der
schmalen Grenzlinie zwischen Gerechtigkeit und Verbrechen. Dass
Letzteres nicht eintrat, konnte er der
Vorsehung oder seiner Mutter verdanken, die befürchtete, ihr Sohn
würde wegen seines unzähmbaren
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Temperaments eines Tages am Galgen enden. Der Theologe aus Rom
wiederum war in der Jugend einer
manichäischen Sekte beigetreten und
später zum katholischen Glauben
übergegangen; wer sich ein bisschen
in Lasićs Schriften auskennt, wird darin dieselbe, fast manichäische Aufspaltung in Gut und Böse erkennen,
jene Aufteilung oder Dichotomie,
die sich aus dem dringenden Bedürfnis nach Totalität herleitet.
Die These, dass Augustinus mit der
Entschlossenheit seines Glaubenswechsels des Leser zur Häresie verleite, ist mutatis mutandis auch auf
Lasić anwendbar. Eine weitere, auf
den ersten Blick nebensächliche Koinzidenz ist ebenfalls sehr interessant:
Sowohl der Konvertit aus Rom als
auch der Krležianer aus Zagreb erwähnen die Mutter mit größter Zärtlichkeit. Im neunten Buch seiner Bekenntnisse beschreibt Augustinus die
Trauer, die ihn nach dem Tod der
Mutter Monica befallen habe; Lasić
demonstriert in den Autobiografischen Aufzeichnungen seine notorische Offenheit, ja Kritik, die er gegen
nahe und entfernte Verwandte gleichermaßen richtet, gegen geringere
und größere geistige Autoritäten, gegen alle und gegen sich selbst, nicht
aber gegen seine Mutter Nada, die er
mit einem fast übernatürlichen Nimbus von Verständnisinnigkeit und
bedingungsloser Solidarität umgibt.
Pasolini, dem seine Landsleute einst
vorwarfen, vom Glauben abgefallen zu sein, bestätigte dies und fügte
hinzu, dass er aus tiefer Sehnsucht
nach dem Glauben ungläubig geworden sei. Zweifellos würde auch Lasić
diesen Satz unterschreiben; sein italienischer Gegenpart, der zwischen
Kommunismus und (A-)Theismus
hin- und herschwankte und dabei
nach Transhumanisierung strebte,
war zeit seines unglückseligen Lebens seiner Mutter Susanna widerspruchslos ergeben. Von der Tiefe
dieses Verhältnisses zeugt gewisser-
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Dossier: Zdravko Zima
maßen auch der Umstand, dass im
Film „Das 1. Evangelium – Matthäus“ die Rolle der Muttergottes
von Pasolinis Mutter selbst gespielt
wird; Lasić wiederum bringt im Kapitel „Ideen und Krieg“ unverhohlen
seine große Bewunderung für diesen
Film zum Ausdruck.
Nach Confessiones von Augustinus
ist das nächste große Werk dieser
Art Rousseaus Autobiografie Die Bekenntnisse („Les Confessions“, 1782
und 1789), obwohl in unserer Zeit
dieses Genre immer weniger als eigenständige literarische Gattung betrachtet wird. Bestimmte Literaturwissenschaftler neigen dazu, autobiografische Texte und Memoiren
demselben Rang zuzuordnen, doch
– mag es auch wie ein Witz klingen
– einig ist man sich lediglich darin,
dass selten jemand in irgendeiner
Hinsicht die Meinung eines anderen teilt. In Anlehnung an Wilhelm
Dilthey könnte man sagen, dass die
Autobiografie darin besteht, historisches Geschehen in persönliche Geschichte und persönliche Bekenntnisse umzukanalisieren, sie führt zur
Enthüllung der eigenen Person, um
eo ipso den anderen zu enthüllen;
diese Definition dürfte, ungeachtet ihrer Eingeschränktheit, den Bestrebungen Lasićs mit großer Wahrscheinlichkeit am nächsten stehen
und überwiegend mit ihnen übereinstimmen. Kehren wir zu der bereits apostrophierten These zurück,
der zufolge Lasić die Strenge, mit der
er Krležas Texte analysiserte, auch
dann walten ließ, wenn er mit sich
selbst ins Gericht ging. Inwiefern ist
das richtig? In den ersten Kapiteln
seines Buches beschreibt Lasić verschiedene Mitglieder seiner Familie und konzentriert sich besonders
auf seinen Onkel Ivo, der in vielerlei Hinsicht sein krasses Gegenstück
war. Der Onkel war die Faulheit in
Person, eine Mischung aus Stoizismus und Epikureismus, ein Mensch,
dem jegliche Autorität zuwider, jeg-
TIONS
liche Obrigkeit verhasst war. Demgegenüber hegte unser (Auto-)Biograf den Kult der Arbeit fast bis zum
Paroxismus, war nie immun gegen
ideologische und ähnliche Herausforderungen und wurde in jungen
Jahren, wie er freimütig bekannte,
„fanatisches Mitglied der Kommunistischen Partei“. Jedes bona fide
geäußerte Bekenntnis hat stets eine
zweifache Wirkung. Einerseits ergänzt es das Bild desjenigen, der seine Geschichte rückstandslos rekapituliert, andererseits mindert es die
Last eingestandener Sünden (sofern
die Mitgliedschaft in einer Partei als
Sünde betrachtet werden kann).
Mit der Erfahrung des 20. Jahrhunderts kann der Leser in einigen Positionen des Autors Spuren des Sartre’schen Existenzialismus sowie der
einst herrschenden Forderung nach
engagierter Literatur erkennen, doch
Lasićs Curriculum zeigt ganz klar,
dass er seit seiner frühen Jugend mit
einem tief verwurzelten sozialen Instinkt ausgestattet war. Dies mag
ihn das eine oder andere Mal an den
Rand des Abgrunds gebracht haben,
in Situationen, die heute schwer vorstellbar sind, andererseits aber vermittelte ihm die Solidarität mit den
Unterdrückten eine tragische Erlebnisfähigkeit, mit der Intellektuelle
in ihren Elfenbeintürmen beileibe
nicht immer rechnen können. Die
Dichotomie seines Bewusstseins, als
Konsequenz seiner eigenen Veranlagung, aber auch seines intellektuellens Reifens und des Bedürfnisses
nach stetigem Wachstum, erlebte in
der kommunistischen Frühphase ihren Höhepunkt. Dem Kommunismus fühlte er sich durch seinen sozialen Instinkt und seine Solidarität mit
den Unterdrückten fest verbunden,
geriet dann jedoch in eine Sackgasse,
als er einsah, dass er sich gerade durch
die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei immer offenkundiger
von den erträumten Idealen entfernte. Zu dieser Erkenntnis gelangte er
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1947, lange vor der Resolution des
Informbüros2 und dem traumatischen Bruch mit Stalin; der Partei
kehrte er nach Karađorđevo3 endgültig den Rücken, verbrannte seine Notizen und sicherte sich ab, wie
ein Inquisitor, der, wenn nicht schon
den Urheber, so doch sein Werk vernichtet. Wie sehr Lasić in seiner absoluten Leidenschaftlichkeit Pasolini
nahesteht, enthüllt ein auf den ersten Blick unwichtiges Detail aus dem
Kapitel „Moral und Politik“. Der
Verfasser erinnert sich an die Zeit,
als er unwiderruflich aus der Kommunistischen Partei austrat und ihm
klar wurde, dass dies den Abschied
von seiner bisherigen Welt bedeutete; ihm war ebenso bewusst, dass ihm
das Schicksal des Überall- und Nirgendwoseins beschieden und er ein
Pendler war, „geradeso wie ein Zug,
ständig abfahrend, ständig ankommend“. Er ruft sich die unzähligen
Reisen zwischen Zagreb und Paris in
Erinnerung und konstatiert jenseits
aller intellektuellen Pose, dass er gerade während dieser langen Bahnfahrten seinen dünkelhaften Stolz ablegte
und nicht länger glaubte, Arbeitern
aus der Herzegowina oder dem Kosovo, die im reichen Europa ihren
Unterhalt verdienten, überlegen zu
sein. In diesem Punkt erinnert Lasić
sehr stark an Pasolini, zumal beide
das Bedürfnis nach Reinheit hatten
und mit ihren Interpretationen des
(Ur-)Kommunismus bzw. des (Ur-)
Christentums im eigenen Land weniger Berührungspunkte fanden als
in Lateinamerika, als mit der Befreiungstheologie und den neuen ekklesiologischen Ansätzen, die seit Jahrzehnten auf diesem Kontinent umgesetzt werden.
Wenn er seine Haltung und Schritte
als Mitglied der kommunistischen
2
3
Kolumnen
Bewegung analysiert, kommt Lasić
freimütig zu dem Schluss, dass er
sich schwerer Vergehen schuldig gemacht habe, obwohl er sich in jenen
Momenten wie ein Gerechter vorgekommen sei. Dies sei aber der Fluch
totalitärer Pragmatik, die infolge ihrer Totalität allen Schmutz mit einem
goldenen Nimbus umgebe. Der fatale Charakter fanatischen Verhaltens
offenbare sich in der unerschütterlichen Überzeugung des Handelnden, im gegebenen geschichtlichen
Augenblick nicht nur das Richtige
zu tun, sondern eine mit nichts zu
entgeltende Mission höheren Ranges zu erfüllen. Auch Lasić scheut
sich nicht einzugestehen, dass er sein
Gewissen engelhaft rein glaubte, als
er verschiedentlich ideologisch dirigierte Schritte unternahm, die etwa
den Ausschluss wahllos betroffener
Klassenkameraden aus dem Gymnasium zur Folge hatten. Er gesteht ohne Umschweife, dass er sich 1948 für
Tito entschied, obwohl ihm damals
schon klar gewesen sei, dass der Titoismus nur die jugoslawische Spielart
des Stalinismus war.
Es bedarf keiner übertriebenen Weitsichtigkeit, um zu erkennen, dass die
lautstärksten Angriffe auf Lasićs ehemaligen Totalitarismus aus der Ecke
eifriger Proselyten kommen, die weit
davon entfernt sind, ihren eigenen
Totalitarismus rezenteren Ursprungs
aufzugeben, und denen am meisten
zu verdanken ist, dass die (kroatische)
Geschichte im Allgemeinen wie im
Besonderen so unwiderstehlich an die
Bewegungen eines Hamster im Laufrad erinnert. Wenn Lasić behauptet,
in jungen Jahren ein Russe gewesen
zu sein, so spielt er auf die Unbeugsamkeit seiner Überzeugungen an,
die ihn päpstlicher als der Papst sein
ließen; und wenn er schreibt, dass er
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sicherlich in Schwierigkeiten geraten
wäre, hätte er sich unmittelbar nach
dem Zweiten Weltkrieg in Moskau
aufgehalten, so ist damit die Tragweite eines totalitären und verabsolutierenden Bewusstseins gemeint, das für
den Menschen einerseits die größte
Herausforderung darstellen, andererseits aber auch größte Gefahren für
ihn bergen kann. Um das (Selbst-)
Porträt Lasićs so gut wie möglich
zu vervollständigen, wollen wir eine
Episode aus dem Jahr 1956 erwähnen, als er sich mit seinem Kollegen
und Freund Jure Kaštelan in Paris
aufhielt. Michel Aubin hatte versprochen, ihnen die Stadt zu zeigen, und
während Kaštelan die Sacré-Cœur
und das Museum für zeitgenössische Kunst als Prioritäten anführte,
bestand Lasić darauf, die Cour des
Adieux in Fontainebleau und Meissoniers Gemälde „Napoleons Frankreichfeldzug 1814“ im Louvre zu sehen. Lasićs Auswahl hatte aber nicht
nur mit Vorliebe für Historisches zu
tun; lakonisch gibt der Autor zu verstehen, dass ihm selbst heute Napoleon nicht gleichgültig sei, und beruft sich auf den oft zitierten Cioran,
der sagte, die Anziehungskraft eines
Geistes liege in der Diskrepanz zwischen seinen Standpunkten und seinen Neigungen verborgen.
Unterm Strich letztendlich darf man
die These Lasićs nicht außer Acht
lassen, dass er vom nationalistischen
Rausch verschont geblieben sei, weil
er sich dem mythischen Bewusstsein
verweigert habe. Dies habe er sehr
früh begriffen, bereits nach dem Attentat auf König Alexander I. in Marseille, als er die Bestie Volk und Nation erkannte und als Siebenjähriger
diese Gefahr zu fürchten begann wie
der Teufel das Weihwasser. Canettis
Geständnis aus dem ersten Teil sei-
Informbüro: Informationsbüro der Kommunistischen und Arbeiterparteien [Frankreichs, Italiens, Polens, der UdSSR, Ungarns und Jugoslawiens], gegründet 1947 mit Sitz in Belgrad. 1948 folgte der Ausschluss der jugoslawischen KP und der dauerhafte Bruch Titos mit Stalin.
Sitzung des Exekutivausschusses des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens am 30. November und 1. Dezember 1971: Gewaltsame Beendung des Kroatischen Frühlings mit Rücktritten und Inhaftierungen vormals angesehener Parteimitglieder, die die Forderungen der kroatischen Nationalbewegung unterstützt hatten.
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ner Autobiografie Die gerettete Zunge
(1977), er wäre um ein Haar in der
Kindheit zum Mörder geworden, wird
auch von Lasić explizit angeführt mit
der selbstverständlichen Voraussetzung, dass jeder ein Universum für
sich ist und sich trotzdem, im verschlungenen Gefüge seiner Besonderheiten und existenzialen Unvorhersehbarkeit, stets im anderen wiedererkennt. Es ist schwer vorstellbar,
dass ein so offener und kompromissloser Geist, der auf seiner Suche nach
dem Absoluten einen weiten Bogen
vom Griff nach den Sternen hinunter in seichten Morast beschrieben hat; der selbst vor Monumenten wie Krleža nicht zurückschreckte
und letztlich erbarmungslos mit sich
selbst abrechnete, den Blick von den
heutigen Ereignissen in Kroatien abwenden könnte. Auf den letzten Seiten seiner Autobiografie findet der
Leser eine Reihe rhetorischer Fragen, die jeder auf seine Weise verstehen wird, die aber auch zeigen, dass
es mit Lasićs intellektuellem Habitus unvereinbar ist, sich mit den gegenwärtigen Zuständen abzufinden,
mögen sie auch in das Argument der
Eigenstaatlichkeit gehüllt sein. Wäre
es anders, würde Lasić nicht nur Kroatien preisgeben, sondern auch sich
selbst und all das, was er in den langen Jahren als Universitätsprofessor
und Autor geschaffen und wofür er
sich eingesetzt hat.
An der Schwelle zum industriellen
Kapitalismus und militanten Klerikalismus hatte Nietzsche gejubelt:
Gott ist tot! und somit den Zerfall
aller Werte diagnostiziert; zu Beginn
des 20. Jahrhunderts erklärte Julien
Benda, die Intellektuellen hätten die
universalen Ideale verraten, als sie sich
dem Sirenenruf der Nation untergeordnet und die Moral des Universalismus als „unpraktisch“ verworfen
hätten; Anfang des 21. Jahrhunderts
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Dossier: Zdravko Zima
legitimiert ein kroatischer Literaturwissenschaftler seinen Krležianismus
als Auflehnung gegen die Mystifizierung von Staat und Volk, die auf phänomenologischer Ebene stets mehr
oder minder starke faschistische Ausprägungen annimmt. Unwillkürlich
muss man da an Cioran denken,
Zeitgenosse Lasićs und ebenfalls ein
Einzelgänger, der sich vom Balkan
nach Paris gerettet hatte und der zu
dem Schluss gekommen war, dass er
sein deshalb Land liebe, weil es seine Erwartungen nicht erfüllt habe!
Eine solche oder ähnliche Konstatation wird auch durch Lasićs Schicksal bestätigt, doch darüber hinaus
weisen die Biografien des französischen Philosophen und des kroatischen Wissenschaftlers weitere verblüffende Ähnlichkeiten auf; dies umso mehr als Cioran in seiner frühen
Jugend, als er noch in Bukarest lebte,
ein glühender Nationalist war. Dies
ist in seinem Buch Schimbarea la faţă
a României (Die Verklärung Rumäniens) aus dem Jahr 1937 nachzulesen,
auf das Pierre-Yves Boissau seinen
Versuch stützte, alle reifen Leistungen Ciorans aus der Zeit seiner französischen Phase abzuleugnen.
Neue Illusionen sind an die Stelle
alter gerückt, die Klasse wurde von
der Nation verdrängt, die Vorfälle in
Ahmići, Pakračka Poljana, Gospić
und andere düstere Kapitel unserer jüngeren Geschichte sind ausreichend erhellt und resümiert worden,
um davon ausgehen zu können, dass
Lasić eine Aufnahme in die Kroatische Akademie der Wissenschaften und Künste ausschlüge, welbst
wenn sie ihm angeboten würde. Lasić
glaubt nicht an Staaten, gleich welches Vorzeichen sie tragen. Ebenso
wenig lässt er sich von ausgerollten roten Teppichen oder sinnentleertem protokollarischen Zeremoniell beeindrucken, die mit den in-
TIONS
tellektuellen Pflichten und der asketischen Strenge des Forschers wenig
gemein haben. Chauchards These
vom Menschen als einem bewussten und rationalen Wesen, das seine
Freiheit nicht als Fatalität auffasst,
sondern als ständige und niemals zu
vernachlässigende Pflicht, hat kaum
jemand in der jüngeren kroatischen
Literaturgeschichte so ernst genommen wie Lasić. Seine Autobiografie
hat Seltenheitswert, da sie als Selbstzeugnis Auskunft gibt über Ideale,
aber auch Irrtümer, Kompromisse
und Niederlagen, die der Verfasser
mit einer schonungslosen Offenheit
beschreibt, die in der Geschichte
der kroatischen Publizistik kaum ihresgleichen hat. An einer Stelle hält
Lasić fest, ihm sei die Rolle eines
schwarzen Engels zugefallen zu einer Zeit, in der er an der Richtigkeit
seiner Schritte nicht gezweifelt habe,
und deswegen habe er ein reines Gewissen gehabt. Schuldgefühle habe er
früher dank seinem zelotischen Eifer
abgewehrt; die paradoxe Wirkung
der autobiografischen Wiederaufbereitung ermögliche ihm nun, diese Reinheit mittels seiner Bekenntnisse gewissermaßen wiederzuerlangen. Die in seinem Projekt Krleža
erbrachte Leistung gilt also auch für
die Autobiografischen Aufzeichnungen Lasićs, in denen der Autor zugleich sich selbst näherkommt und
wieder von sich entfernt. Mit Paul
de Mans Worten: Dies beweist einmal mehr, dass die Literatur dazu
verurteilt ist oder aber das Privileg
hat, die strengste, aber auch die unzuverlässigste Sprache zu bleiben, die
den Menschen beschreibt oder ihn
(wandelnd) formt.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Silvia Sladić
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Mysterium des Todes
in Desnicas Prosawerk
Zdravko Zima
D
ie Einstellung des Menschen
zum Tod ist jeweils zeitgebunden. Nach Darstellung Huizingas
waren im Mittelalter die Stände an
ihrer jeweiligen Tracht zu erkennen,
und man darf annehmen, dass die
Unterschiede zwischen Freude und
Schmerz, Glück und Trauer offener
zutage traten als heute. Im Frühmittelalter empfand man den Tod
als etwas Vertrautes und Selbstverständliches. Der Einzelne fügte sich
diesem Naturgesetz und belastete
sich damit noch nicht in der Art,
wie sie später zur gesellschaftlichen
Konvention werden sollte. Der französische Historiker Philippe Ariès
reaktualisierte den Fall des Pariser
Bischofs Agilbert, der 680 in einer
Kapelle beigesetzt wurde, welche er
in der Nähe des Klosters von Jouarre hatte erbauen lassen. Der Deckel
des Sarkophags mit den sterblichen
Überresten des Bischofs zeigt den am
Ende der Zeiten wiederkehrenden
Christus. Die Auserwählten erwarten stehend und mit zum Himmel
gereckten Armen ihren Herrn, der
das Buch des Lebens in den Händen
hält. Das Sarkophagrelief entspricht
der Eschatologie der urchristlichen
Vorstellung: Gott richtet weder, noch
urteilt er, während die Verstorbenen,
entschlummert wie die Sieben Schläfer von Ephesus, ruhen, bis sie im
himmlischen Jerusalem beziehungs-
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weise im Paradies wiedererwachen.
Noch musste niemand für seine Sünden bezahlen, ebenso wenig wurde
man belohnt für im Diesseits vollbrachte gute Taten. Ab dem 12. Jahrhundert änderten sich allerdings die
Aussichten. Auf den Bogenfeldern
romanischer Kirchenportale dominierte zwar weiterhin die Gestalt
Christi, doch traten vermehrt neue
ikonografische Elemente hinzu, angeregt durch das Matthäus-Evangelium, das Motiv der Wiederauferstehung und die Notwendigkeit, die
Gerechten von den zu ewigen Qualen
Verdammten zu trennen. Nach dem
16. Jahrhundert verbinden sich diese
gespenstischen Jenseitsdarstellungen
immer mehr mit erotischen Szenen,
Thanatos und Eros rücken einander
näher und dokumentieren auf geradezu genüssliche Weise die Ankündigung von Leiden, Qualen und Tod
– Szenen, die auch dem Menschen
des dritten Jahrtausends keineswegs
fremd sind. Man erinnere sich nur
an die Skulptur der hl. Theresa von
Lorenzo Bernini: Wenn der größte Meister der barocken Bildhauerkunst die mystische Verbindung der
spanischen Heiligen zum Allmächtigen in Materie bannt, identifiziert
er bewusst oder unbewusst den Zustand der Agonie und der Wollust.
Die Schauerliteratur derselben Epoche führt einen jungen Mönch und
ein junges, später durch ihn getötetes Mädchen zusammen und verweist
zumindest indirekt auf die Möglichkeit, den Akt des Sterbens wie auch
den Geschlechtsakt als Vergehen zu
deuten. Im Übrigen offenbaren auch
die Werke des Marquis de Sade in ihrem Paroxysmus, dass Sexualität und
Tod ostentative Formen von Überschreitung oder Vernichtung sind,
die in ihrer Totalität keine Grenzen
haben.
Viele Details und rituelle Praktiken
erinnern uns heute an Zeiten, in denen der Tod geradezu feierlich erwartet wurde; in den Büchern Lamartines, der Schwestern Brontë und
Mark Twains hatte der Tod eine romantische Aura. Danach war die Ars
moriendi erneut Veränderungen unterworfen. Jahrhundertelang waren
die Toten im Einflussbereich der Kirche gewesen, der man den Vorwurf
machte, sie kümmere sich lediglich
um die Seele, nicht aber um den Leib
des Verstorbenen. Die Angst vor Seuchen durch überfüllte Leichenhöfe
trug zur Entwicklung eines Totenkults und zum Anlegen von Begräbnisplätzen bei, mit denen der Mensch
seine Anwesenheit im Jenseits markierte. Eine der schönsten Dichtungen über Grabmäler stammt vom
Beginn des 19. Jahrhunderts aus der
Feder des italienischen Dichters Ugo
Foscolo (Dei sepolcri), der einen Teil
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seiner Kindheit in Split verbrachte.
Danach trat Stille ein, die vor allem
im 20. Jahrhundert immer schwerer
auf den letzten Augenblicken des irdischen Menschenlebens lastete und
so verriet, dass der Tod als unberechenbare und geheimnisvolle Macht
erlebt wurde. Aus dem häuslichen
und intimen Umfeld wurde er in
die Krankenhäuser verbannt; er ist
allgegenwärtig, aber unverständlicher und unbezwingbarer denn je.
Sterben war nie eine leichte Angelegenheit, kein Zweifel, aber in Zeiten immer dürftigerer oder rein äußerlicher Religiosität, die in der mechanischen Nachahmung tradierter
Rituale besteht, stellt der in Agonie
befindliche Mensch ein wirr faselndes Häufchen Elend dar, das kaum
jemanden interessiert.
Welchen Stellenwert hat vor diesem
Hintergrund das Erbe Vladan Desnicas, der wie selten ein Autor der
kroatischen Literatur derart seine Besessenheit mit dem Tod belletrisiert
hat? Gemäß der Allgegenwärtigkeit
dieses Gefühls, gemäß der unablässigen und geradezu obsessiven Auseinandersetzung mit der Todesangst, die
im Spruch Memento mori auf den
Punkt gebracht wurde, steht Desnica
auf gleicher Höhe mit Sudeta und A.
B. Šimić,1 wenn auch diese Autoren
ihre makabren Vorahnungen in Versen äußerten. Desnicas ästhetische
Positionen wurden größtenteils von
Benedetto Croce beeinflusst, zumal
hinsichtlich der Auffassung, dass die
Intuition eine Form der Erkenntnis
sei; mit dem berühmten Ästhetiker
und dessen Adepten Lionello Venturi verbindet ihn innigstes Einverständnis (im Übrigen übersetzte er
Texte beider Autoren ins Kroatische).
Seine Makabristik könnte man aber
ebenso gut und aus vielerlei Gründen
mit Unamuno und dessen Werk Das
tragische Lebensgefühl in Verbindung
1
RELA
Dossier: Zdravko Zima
bringen. Alle Sätze des Philosophen
aus Salamanca über das menschliche Wesen, das sich nicht vorstellen kann, nicht zu existieren, das
sich selbst nicht als nicht-existente
Entität denken kann; sämtliche Beobachtungen über die Stunde des
Todes, über Theismus und Atheismus oder den eitlen Wunsch nach
Unsterblichkeit sind in irgendeiner
Weise auf den Seiten von Desnicas
Prosawerk enthalten.
Unamuno vertrat die Ansicht, dass
der Tod eine Sphinx sei, der man direkt ins Antlitz blicken müsse, um die
verhexende Wirkung ihres Blickes zu
neutralisieren. Auf dieselbe Weise
verfuhr Desnica in seinen Schriften,
genauer: Er war ein Künstler, der dem
Tod unverhohlen ins Gesicht blickte,
der ihn Tag und Nacht um sich herum ahnte, der ihn selbst dann im Nacken sitzen spürte, wenn er ihm auch
nur für einen Augenblick den Rücken kehrte. Am einfachsten wäre es
zu sagen, dass der Schriftsteller Desnica seinen Tod, seinen Exitus lebte,
der, wie jedes menschliche Ableben,
identisch ist mit dem Ende der Welt.
Der Tod als Leitmotiv offenbart sich
in vielen seiner Werke, am ausgeprägtesten jedoch in seinem Roman Der
Frühling des Ivan Galeb („Proljeća
Ivana Galeba“, 1957) und in dem
unvollendet gebliebenen, posthum
erschienenen Roman Die Entdeckung
des Athanatikums („Pronalazak Athanatika“, 1957). Obwohl er in unterschiedlichen literarischen Gattungen
hervortrat, etwa als Erzähler, Dichter,
Essayist, Verfasser von Dramen, Theaterkritiken, Feuilletons und dem
Drehbuch für Belans „Konzert“, besteht kein Zweifel darüber, dass Der
Frühling des Ivan Galeb die Krönung
seines Opus darstellt. Nicht nur weil
er mehr als zwanzig Jahre an dem
Buch schrieb, sondern weil dieser
Roman Themen widerspiegelt, die
TIONS
den Autor am meisten beschäftigten:
vornehmlich die eigene Kindheit,
die Idee des Schönen, Religion, die
Romankunst sowie die bereits apostrophierte Todesobsession.
In seinen Betrachtungen über Desnicas Schaffen und insbesondere den
Roman Der Frühling des Ivan Galeb
unterstreicht Krešimir Nemec, dass
dieser Roman in seiner Grundstruktur ein Monolog des Protagonisten
sei, der verschiedene Themen in Opposition zueinander reflektiere. Die
vorherrschenden Kontrastpaare sind
Frühling und Tod, Licht und Dunkel, Freud und Leid, Endlichkeit und
Unendlichkeit. Das Prinzip der Polarität und das gegenseitige dialektische Ineinandergreifen von Unterschieden ist tief in der Denkweise des
Autors verankert, mithin auch in seinem literarischen Alter Ego Ivan Galeb. Trotz seiner kritischen Einstellung zu den Religionen, zumal ihrer
Institutionalisierung, präsentiert sich
der Romanheld als Befürworter des
Mazdaismus, des Glaubens der alten
Iranier, in dem die Welt in unablässiger Konfrontation von Gut und Böse erlebt wird. Eine entsprechende
Schlussfolgerung bietet sich schon
im zweiten Romankapitel an. Ivan
Galeb, der im Krankenhaus liegt,
rekapituliert seine Lebensgeschichte und wendet sich in der ich-Form
an den Leser: „Ich kann sagen, dass
ich meine Kindheit auf diesem Flur
verbracht habe, in dem sich ein ewiger Kampf zwischen Ahriman und
Ahura Mazda abspielte. Daraus ist
mir vielleicht auch fürs ganze Leben
diese ewige Aufgespaltenheit zurückgeblieben, diese grundlegende Aufteilung aller Dinge im Leben und in
der Welt in einen Bereich des Lichts
und einen Bereich des Dunkels. Daher auch meine Unfähigkeit, das Gute, das Schöne, Freude, Harmonie
begrifflich zu fassen, ohne sie mir
Đuro Sudeta (1903-27) und Antun Branko Šimić (1898-1925), frühvollendete Autoren, die v.a. als Dichter hervortraten. (Diese und folgende Anmerkungen stammen von der Übersetzerin.)
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vergegenwärtigen zu müssen, sondern einzig und allein als Offenbarungen des Lichts; und umgekehrt,
alles Traurige und Abstoßende, alles Tote und Kalte als vom Dunkel
überschattet. Demnach können auch
unsere Gedanken sonnig oder überschattet sein.“
Oder weiter unten im selben Kapitel: „Ich denke sogar, dass das Leben
auf diesem Wechselspiel beruht, dass
dieser Wechsel von Lichtflecken und
Schatten die Hebungen und Senkungen unseres Lebensatems, die Systole und Diastole unseres lebendigen
Herzens ausmacht. Und werfe ich einen Blick zurück auf mein Leben, so
erscheint es mir wie eine schimmernde und unruhige Fläche, bestehend
aus kleinen Flecken von Licht und
Dunkel.“ An vielen Stellen nimmt
der Schriftsteller Bezug zur Kindheit
und zu kindlichen Fantasien, selbst
wenn er über den Tod reflektiert, und
erweist sich als dualistischer Denker
oder „Dichter mit projektiver Fantasie“, eine Eigenschaft, die auch Bachelard zugeschrieben wurde. Gerade dieser französische Philosoph hat
einige seiner anregendsten Seiten der
Einsamkeit in der Kindheit gewidmet, welche im Menschen tiefste
und nachhaltigste Spuren hinterlasse; gerade Bachelard berief sich auf
den Kindheitskern, der in der Seele
funktioniere wie das Herz im Körper.
Dieser Kern stehe außerhalb des historischen Geschehens, sei aber sehr
wohl wirksam. Desnicas Roman ist
in seiner Struktur ein glückliches Zusammenwirken zwischen der kindlichen Vorstellungskraft und den weisen Reflexionen des Romanhelden,
der, ans Krankenhausbett gefesselt,
sein Leben rekapituliert.
Der bereits erwähnte, auch für Desnica so charakteristische Grundsatz
des Gegenüberstellens ist auch in
dem Romantitel Sommerferien im
Winter („Zimsko ljetovanje“) zu erkennen. Während sich hinter diesem Oxymoron eine untypische Ge-
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Kolumnen
schichte über die typische und schwer
zu überwindende Dichotomie DorfStadt verbirgt, beruht Der Frühling
des Ivan Galeb auf einer Ästhetik der
Digressivität und ist wie ein Mosaik
angelegt, in dem jedes Steinchen als
gesonderter Essay, aber auch als Bestandteil des gesamten Mosaiks funktioniert. Und hat schließlich nicht
auch die große Mystikerin und Revolutionärin Simone Weil gezeigt,
dass der Mensch Bestandteil eines
Ganzen ist und dieses Ganze nachahmen muss, und hat sie nicht an
sich selbst demonstriert und erläutert, dass alles, was geringer als der
Kosmos ist, zum Leiden verurteilt
ist? Sind Desnica und Galeb nicht
ein Zwillingspaar, das immer schon
denselben Weg der Reinheit und des
Leidens beschreitet, den auch die
französische Philosophin auf so epochale Weise geprägt hat? Auf dieselbe
Weise, in der Calderóns Protagonist
Segismundo das Leben als Traum erlebt, betrachtet auch Desnicas Galeb
das Leben als Traum oder als Vorzimmer des Todes.
Im 18. Kapitel tritt Galeb dem Gefühl des Nichts mit dem Wunsch
entgegen, an einem sonnigen Tag
zu sterben. Dieser Wunsch steht einerseits in Bezug zu seiner Kindheit,
andererseits in Bezug zu den Religionen des Orients, die das Grauen des
Todes gewissermaßen besänftigt haben, sodass er weniger gespenstisch
wirkt als in den Kulturen des christlichen Abendlandes. Und so wie jeden Morgen die Sonne aufgeht und
ein neuer Tag anbricht, setzt sich
in Galebs Bewusstsein ein einziger
und immer wiederkehrender Gedanke fest: „Der Tod. Ewig kreisender
Gedanke. Kamerad der Kindheit.
Die tägliche Nahrung meiner Tage
und meiner Nächte. Das verborgene Samenkorn des Bewusstseins in
unserem Vergessen. Das einzige immer und ewig Gegenwärtige in uns.“
Im selben, 19. Kapitel setzt Desnicas
Protagonist seine Reflexionen fort
73
und übernimmt denselben Wortlaut, dieselbe Geste der Auflehnung,
die A. B. Šimić in seinen Versen bekundete: „Den Tod muss man hassen. Den Tod muss man anfechten,
fortwährend, mit allen Mitteln, auf
jedem Schritt. Alle Kräfte des Menschen müssen mobilisiert werden in
diesem Hass auf den Tod. Denn im
Leben scheint es um nichts anderes
zu gehen als ums Sterben. [...] Er ist
das alles durchwirkende und erfüllende Pneuma. All unsere Gedanken entsprießen ihm auf unsichtbare Weise, wie üppige Tropengewächse dem sumpfigen Grund. Als wäre
er das Wichtigste, das Gravierendste
in uns. [...] Der Tod gibt den Dingen eine Widmung. Er verleiht ihnen das Merkmal des Realen, den
Ernst des Wahrhaftigen. Er gibt jedem Ding seine Würde vor dem Angesicht des Lebens. Es gibt nichtige,
bedeutungslose Leben. Bedeutungslose Tode aber gibt es nicht. Jeder Tod
ist ein allgemeines Ereignis, ein Ereignis, das jeden angeht. Ein kleiner
Kataklysmus. Ein kleines schwarzes
Loch ohne Boden im Körper des Kosmos. [...] Einzig der Tod ist real. Er
ist das Einzige, das sich in unserem
Leben wirklich ereignet.“
Der Gedanke des Todes korrespondiert mit der monologischen Struktur des Romans, seinem autoanalytischen Charakter, seiner Digressivität,
die die Zeit stillstehen lässt oder am
stets vertrauten Gefühl festmacht,
dass das Ende nahe ist. Deswegen
hat der Roman keine Handlung im
klassischen Wortsinn, und deswegen lässt Desnica durch seinen Protagonisten die eigene Auffassung von
der Romankunst übermitteln. Im
25. Kapitel sagt Galeb: „Würde ich
Bücher schreiben, passierte in diesen
Büchern rein gar nichts. Ich würde
erzählen und erzählen, was immer
mir einfiele, würde dem Leser anvertrauen, Zeile um Zeile, was meine
Gedanken und meine Seele bewegte.
Ich würde mit ihm plaudern. Wenn
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Poesie überhaupt existiert, dann ist
Poesie das, worauf wir in unseren Gedanken und unserer Sensibilität stoßen, während wir in der Ödnis umherirren. [...] Für meinen Geschmack
liegt der Hauptmangel der neueren
Literatur gerade darin – dass sie nicht
intellektuell genug ist. Der Mensch
hat sich nämlich, wie gemeinhin anerkannt, im Laufe der Jahrhunderte
und Jahrtausende enorm weiterentwickelt, hat sich zerebralisiert. Und
während er in grauer Vorzeit vornehmlich mit Feuersteinäxten Rentiere erlegte, ist er heute vornehmlich
mit Denken beschäftigt; er bohrt,
forscht, analysiert. Wenn es früher
also galt, den Menschen darzustellen, wurde er vornehmlich als Rentierjäger gezeigt, und gilt es, den
Menschen heute darzustellen, hieße
das vornehmlich zu zeigen, was und
wie er denkt.“
Den intellektualistischen Romantypus, für den Desnica in den auf
sich selbst bezogenen Passagen in
Der Frühling des Ivan Galeb eintritt,
hat der Autor auf den Seiten seines
letzten und unvollendeten Romans
Die Entdeckung des Athanatikums,
der posthum in seinen Gesammelten Werken (1975) erschien, verwirklicht. Außer Novellen und Gedichten, die er in seinen Ivan Galeb-Roman inkorporierte, lieferte er
im 49. Kapitel gewissermaßen eine
Zusammenfassung des Romanfragments Pronalazak Athanatika. Wovon handelt dieses Prosawerk, das
mit seinem Titel an Science-FictionLiteratur denken lässt? Der Text ist
in der heute nahezu vergessenen Dialogform geschrieben, die aus den
Vorträgen des Sokrates hervorging
und die von Platon und seinen Nachfolgern perfektioniert wurde. Während Platons Dialoge (Das Festmahl,
Phaidon, Phaidros, Protagoras, Der
Staat) philosophische Inhalte in literarischer Form vermitteln, werden
im Falle Desnicas literarische Ideen in philosophische Argumentati-
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Dossier: Zdravko Zima
on gehüllt. Markiert der Zweifel die
grundlegende Ausgangsposition jedes Philosophen, so ist Desnica nicht
nur Schriftsteller, sondern auch Philosoph.
Das lateinische Verb „dubitare“ (zweifeln) und das Substantiv Duell haben
in „duo“ (= zwei) dieselbe Wurzel.
Die Ziffer Zwei versinnbildlicht Gegensätze, wie sie bei Desnica in unterschiedlicher Form eingesetzt werden; in seinem Romanfragment hat
der Autor das Bedürfnis, die Wirklichkeit als permanentes Ineinanderwirken gegensätzlicher Kräfte darzustellen, in Dialogform umkanalisiert.
Und ist denn schließlich nicht der
Dialog ein verbales Kräftemessen, bei
dem die Akteure, mit der Präzision
von Edelsteinschleifern, ihre Zweifel gegenüberstellen? Der die Protagonisten Desnicas quälende Zweifel, der Zweifel als Existenzmodell
und Perpetuierung ultimativer Fragen, macht ein Duell in irgendeiner
Form erforderlich und spielt sich in
Die Entdeckung des Athanatikums im
Rahmen eines scheinbar lockeren
Gesprächs zweier Bekannter ab. Pascal schrieb einst, die Agonie Christi
werde bis ans Ende dieser Welt fortdauern. Er forderte, dass man nicht
schlafen, sondern wach bleiben und
träumen solle, so wie es auch der große slowenische Dichter Edvard Kocbek postulierte: Agonie ist nicht nur
die Vorahnung des Endes; Agonie ist
Kampf, ewiges Ringen, bei dem der
Mensch sich mit einem Widersacher
oder mit sich selbst auseinandersetzt;
dieser Kampf ist in seinem apodiktischen Charakter vergleichbar mit
der Endlichkeit des Daseins und der
Unendlichkeit des Todes. Diesem
Kampf haben sich die Protagonisten
Desnicas restlos verschrieben.
Die Todesobsession als das Alpha
und Omega in Desnicas Werken erfährt im Roman Die Entdeckung des
Athanatikums ihren Höhepunkt. An
einem verregneten Nachmittag, jenseits eines streng abgegrenzten räum-
TIONS
lichen und zeitlichen Rahmens, sitzen zwei Bekannte plaudernd in einem Café. Der eine wird der Zahnlose genannt, sein Opponent ist namenlos; Ersterer erzählt von seinem
über achthundert Seiten umfassenden literarischen Projekt, während
der andere ihn mit seinen Bemerkungen provoziert, das eigene Vorhaben möglichst genau zu erläutern.
Die Besonderheit dieses (unvollendeten) Romans liegt in der Vision eines
Athanatikums, eines Medikaments
gegen die Sterblichkeit, das zunächst
überall für Euphorie sorgt, später
aber vernichtet wird, da es zu allen
möglichen Formen des Missbrauchs
gekommen war. Auf etwas mehr als
fünzig Seiten dieses auf dem Dialogprinzip aufgebauten Prosatextes stellt
ein „paranoider Schwätzer“ seinen
Romanentwurf vor und erzählt von
einem Mittel, das die vor langer Zeit
ausgelöste Ungleichheit der Menschen potenziert hat. Zum Vertrieb
des magischen Elixiers wurde nämlich eine staatliche Einrichtung ins
Leben gerufen, das so genannte „Institut zur Todesenthebung“, wodurch
es letztendlich aber zu Betrügereien
aller Art und zu Aufständen unter
der Bevölkerung kam. Desnica verfolgte offenbar die Absicht, den Leser mittels seiner literarischen Gestalt
mit der schwerstmöglichen Aporie zu
konfrontieren: Einerseits ist das Leben wegen seiner Endlichkeit zwar
absurd, doch ebenso absurd oder
noch absurder wäre es, wenn es unendlich wäre. Das Paradox liegt nun
aber darin, dass einerseits der Mensch
seit je nach Unsterblichkeit strebt
und andererseits die rezente medizinische Forschung mit Klonerfolgen
und der Möglichkeit, der menschlichen Evolution eine neue Richtung
zu geben, die in Desnicas Romanen
zum Ausdruck gebrachten Annahmen gewissermaßen bestätigt.
In den besten Kapiteln seiner Prosa hat Desnica eine neue Vision des
Styx vorgelegt, des Totenflusses, auf
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Zweifel, dass diese Musik und dieses
Leiden auf den Seiten der Romankunst Desnicas ihre glänzende Umsetzung erfahren haben. Borges hat
an vielen Stellen über den „einzigartigen Geschmack des Todes“ geschrieben – ein Geschmack, der in
seiner kaum definierbaren Erfassbarkeit tiefste existenziale Mysterien erschließe. Sich an seinen Freund Maurice Abramovicz erinnernd, der in
seiner frühen Jugend verstarb, schreibt
der berühmte argentinische Erzähler:
„In dieser Nacht, unweit des Gipfels
von Saint Pierre, beteuern uns die
munteren und frohen Klänge einer
griechischen Musik, dass der Tod
75
unwahrscheinlicher ist als das Leben und dass demzufolge die Seele
fortdauert, nachdem ihr Leib schon
vermodert ist. Das heißt, María Kodama, Isabelle Monet und ich sind
nicht zu dritt, wie irrtümlich angenommen. Wir sind zu viert, denn
auch du bist mit uns, Maurice.“ In
unserem Fall lese man anstelle von
Maurice Abramovicz den Namen
Vladan Desnica.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Silvia Sladić
Foto: © Višnja Arambašić
dem Charon mit seiner Barke lautlos hin- und herfährt. Was unser
großer Schriftsteller in seinen Werken realisierte, hat Gustav Mahler
im Bereich der Musik geleistet. Adorno schrieb, dass Mahlers Sinfonismus der Romankunst sehr nahestehe,
was an sich vielleicht unbedeutend
wäre, hätte der junge Desnica nicht
zwischen Musik und Literatur geschwankt und wäre sein Ivan Galeb
nicht Violinist gewesen. Geht man
davon aus, dass die Musik einem
seelig machenden Betäubungsmittel gleichkommt und dass im Leiden die einzig wahre Biografie des
Menschen besteht, dann steht außer
Kolumnen
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Babaja war eine Insel
Zdravko Zima
N
ach dem Mittagessen im „Purger“ in der Petrinjska-Straße
machte ich mich auf den Weg nach
Hause. Draußen war es Nacht, was
sowohl meiner Gewohnheit zu schulden war, in den späten Nachmittagsstunden zu Mittag zu essen, als auch
der Tatsache, dass sich in den Wintermonaten der Schleier der Dunkelheit
sehr früh über Zagreb legt. Ich ging
durch die Boškovićeva-Straße und
musste an Babaja denken. Das hatte nichts mit Telepathie oder übersinnlicher Wahrnehmung zu tun,
denn immerhin hatte Babaja jahrzehntelang gerade hier gewohnt, im
Gebäude mit der Hausnummer 2,
in dem heute die japanische Botschaft untergebracht ist. Er wohnte im ersten Stock, in einer klassischen Bürgerwohnung von etwas
mehr als hundert Quadratmetern,
in der er eine gewisse Unordentlichkeit und Nonchalance pflegte,
wie sie für Künstler und Junggesellen selbstverständlich ist. Ich machte
vor dem Gebäude Halt und starrte
auf die mit unverständlichen Hieroglyphen bedruckte Inschrifttafel und
ging davon aus, dass mein verdächtiges Verhalten vom stets aufmerksamen Auge der Überwachungskamera
registriert wurde. Völlig untypisch für
die Hauptstadt aller Kroaten, ist die
Fassade ordentlich verputzt und getüncht, die Fensterkreuze und -rahmen sind auf Hochglanz gebracht,
was einmal mehr beweist, dass es
sich hier nicht um irgendein belie-
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biges Gebäude handelt. Überdies,
wie um jeglichen Irrtum auszuschließen, bauscht sich an seiner Vorderseite, die zu einem Teil auf den Strossmayer-Platz hinausgeht, die japanische Flagge. Im Grunde liegt nichts
Ungewöhnliches darin, dass ich eine
Straße in der Stadt entlanggegangen
bin, in der ich fast mein ganzes Leben verbracht habe.
Ungewöhnlich ist, dass ich mich am
14. Januar in der Boškovićeva-Straße
beim Haus Nummer 2 wiederfand,
ausgerechnet an dem Tag, als der
Gentleman und großartige Filmregisseur Ante Babaja (1927-2010) seine Reise in die andere Welt antrat. In
jenem Moment wusste ich allerdings
nicht, dass er uns verlassen hatte.
Ich konnte es auch gar nicht wissen, denn Babaja befasste sich nicht
nur mit der Regie von Filmen, sondern führte ebenso pedantisch und
selbstgenügsam Regie, wenn es ums
eigene Sterben ging. Dass er gestorben und bereits im engsten Familienkreis beigesetzt worden war, erfuhr
ich zwei Tage später in der LisinskiKonzerthalle, wenige Minuten vor
dem Übertragungsbeginn von „Carmen“ aus der New Yorker Metropolitan. Auf der Leinwand verfolgte
ich die lettische Mezzosopranistin
Elina Garanča, unschlüssig, ob ich
ihre Stimme oder ihre Erscheinung
schöner fand, und den Augenblick
erwartend, in dem der vor Liebe
und Eifersucht rasende Don José sie
erdolchen würde. Ein Wunderwerk
der Kunst, das Opernfantasten beider Hemisphären, dank dem Mirakel der virtuellen Realität, zum wer
weiß wievielten Male an einer gleichermaßen alten wie neuen Liebesgeschichte teilnehmen lässt. Liebe,
Tod und Musik – ist dies nicht die
Triade, die auch Babajas Schicksal so
grundlegend und kompromisslos geprägt hat? An der bereits erwähnten
Adresse in der Boškovićeva-Straße
war ich mehrmals zu Gast gewesen.
Der Anlass waren bestimmte russische Werke, unter anderem Tolstojs
Kreutzersonate.
Mein letzter Besuch in Babajs Wohnung liegt lange zurück, etwa 1992
oder 1993. In dieser Zeit filmte er
Das Steintor („Kamenita vrata“), das
er selbst als sein filmisches Testament
bezeichnete. Kompromisslos, wie er
war, jeglichen Zugeständnissen abgeneigt, zumal künstlerischen, von
ideologischen ganz zu schweigen,
konnten seine Filme nicht auch nur
annähernd die Rezeption erfahren,
die sie verdient hätten. Gewiss, es
gab Connaisseure, die verstanden,
um welches Format es sich bei diesem stets schweigsamen und in sich
versunkenen Autor Babaja handelte, doch die Kunde davon drang
nicht über diesen Kreis hinaus bzw.
nicht über exklusive und auf niedrige Auflagen beschränkte Filmzeitschriften. Für das so genannte breite Publikum, das mit Popcorn und
Coca-Cola die Kinosäle stürmt, war
er eine Terra incognita oder besten-
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falls ein Langweiler, dessen Ästhetizismus und ödem Pessismismus man
am besten aus dem Weg ging. Insofern war „Kamenita vrata“ kein besseres Schicksal beschieden als seinen
anderen Filmen. Soweit ich mich
erinnere, wurde der Film im JadranKino, das heute, ebenso wie Babaja,
verschwunden ist, höchstens zwei,
drei Tage lang gezeigt. In jener Zeit
plauderten wir oft zusammen, während ich ihn auf seinen Routinespaziergängen begleitete, die stets dieselbe Runde beschrieben, von seiner Wohnung über den ZrinjevacPark zum Jelačić-Platz, von dort zur
Gundulićeva- und Masarykova-Straße hin zum Marschall-Tito-Platz.
Wann werde ich Ihren Film sehen?,
fragte ich ihn mit Anspielung auf Das
Steintor, wohl wissend, dass ihm die
Filmverleiher nie gewogen waren.
Kommen Sie zu mir, antwortete er.
Und so sah ich die Video-Version
von Das Steintor und staunte gleichermaßen über den Film und die
Kommentare, die er auf Rechnung
seiner eigenen Regie mitunter von
sich gab, als handelte es sich um das
Werk eines anderen. Ich bin kein
Filmkritiker, erhebe auch nicht den
Anspruch, einer zu sein, aber Babaja
war ein Regisseur von außerordentlichem Format und ein wahrer Meister seines Fachs, sodass ich auch seine
Irrtümer liebte und all die Stellen, an
denen er, wie er selber eingestand, auf
andere Lösungen hätte zurückgreifen
können. Nicht selten hört man die
Phrase, dass dieser kroatische Bresson einer der größten Cineasten in der
Geschichte unserer Kinematografie
sei. Für mich ist er nicht nur einer
der größten, sondern der absolut
größte Könner, zumindest in diesem
Teil der Welt. Mit dieser Behauptung
möchte ich niemanden unterschätzen, sondern hervorheben, dass er
die tragische Schönheit der Welt und
den Sinn oder Un-Sinn der menschlichen Existenz mit poetischer Geste
festzuhalten verstand, dabei dem fil-
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Kolumnen
mischen Metier treu blieb und jene
Kraft freisetzte, die das Wunder jeder authentischen Kunst ausmacht.
Babaja – das sind wir alle in Dingen,
in denen wir keine Ausreden suchen,
in denen wir unangepasst oder naiv sind, reduziert auf das Maß einer
Spinne, die sich den Anschein eines
Urhebers gibt, jedoch kaum sichtbar
und auf ewig in ihrem eigenen Netz
gefangen ist!
Ich erinnere mich gut an den Nachmittag, als Maestro Babaja die exklusive Vorführung von Das Steintor
für mich veranstaltete. Ich fand so
gut wie nichts zu bemängeln, nicht
weil es unangebracht gewesen wäre; dabei krankte Babaja keineswegs
an pathologischer Eitelkeit, sondern
vermochte durchaus dem anderen
zuzuhören, selbst wenn ihm eine
bestimmte Sichtweise nicht zusagte.
Dieser filmische Essay über die agonalen Stimmungen des Arztes Boras,
die ebenso kämpferisch bezüglich der
vergötterten Frau als auch in Bezug
auf ihn selbst sind, hatte mich vollends perplex gemacht. Nur Babaja konnte auf den Gedanken kommen, die Hauptrolle einem Theaterregisseur zu geben – Ivica Kunčević,
der sich als Volltreffer herausstellte.
Dank den brillanten Aufnahmen des
Kameramanns Goran Trbuljak, der
die Winkel und Gassen der Zagreber
Oberstadt auf besondere Weise wiederentdeckte, glaubte ich einen Film
zu sehen, der in einem Land mit einer
hochkultivierten künstlerischen Produktion entstanden war und nicht in
Kroatien, in dem es Filmschaffenden
nicht nur an Geld, sondern auch an
Einfallsreichtum mangelt. Ich erinnere mich nicht, je einen kroatischen
Film gesehen zu haben, in dem die
Musik nicht bloß eine Klangkulisse
war, sondern tatsächlich mitspielte;
die Art und Weise, in der ein Satz
aus Mahlers 3. Sinfonie (sehr langsam, misterioso) und Mozarts wunderschöne Motette „Ave verum corpus“ verwendet wurden, gaben die
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Symmetrie in der Architektur der
Regie wieder, in der nichts dem Zufall überlassen war.
Ich teilte mit Babaja eine unverhohlene Sympathie für Hustons Verfilmung der Joyce-Novelle „Die Toten“, die sich ebenfalls als ein Testament des Regisseurs erwies. In diesem Film kommt der Musik, wie
auch dem Gesamtwerk von Joyce,
eine besondere Bedeutung zu. Daher halte ich es für angebracht, einen
Satz aus „Die Toten“ anzuführen, den
die Hauptfigur Gabriel Conroy ausspricht und den Babaja ruhigen Gewissens unterschreiben würde: „Man
fühlt, dass man einer Musik lauscht,
die von innerer Zerrissenheit geprägt
ist.“ Im Gegensatz zu seinem Kollegen und Intimus Zvonimir Berković,
der sein Gegenüber durch Esprit und
ansteckende Redseligkeit in seinen
Bann schlug, war Babaja schweigsam
und in sich gekehrt, geradeso wie die
Gestalten, die er auf der Filmleinwand verewigte. Trotz aller ihrer Unterschiede betrachtete ich die beiden
als Dioskuren, als ein Gegensatzpaar,
das sich ergänzte und equilibrierte in
einer Art von Reziprozität, ohne die
weder das Leben noch die Kunst irgendeinen Sinn hätten. Während ich
diese Zeilen niederschreibe, im Bewusstsein, dass wir mit dem Verlust
von Individuen aus unserem näheren
und weiteren Umfeld auch ein Stück
unseres Selbst verlieren, frage ich
mich, ob Babaja an das Bestehen von
Sinn geglaubt hatte. Ich bin mir da
nicht so sicher, auch wenn scheinbar
das Gefühl der Hoffnungslosigkeit
jener mürbe Nährboden war, der seine exemplarische Ästhetik hervorgebracht hat. Für seinen künstlerischen
Werdegang waren seine Arbeit als
Assistent bei Jacques Becker in Paris
und sein freundschaftlicher Umgang
mit Branko Belan von Ausschlag gebender Wichtigkeit gewesen.
Da er kein Draufgänger war und niemanden hofierte, blieben viele seiner
Projekte unverwirklicht. Am bedau-
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erlichsten ist, dass er sein Filmvorhaben über Slava Raškaj1 aufgegeben hatte, denn in der Darstellung
von Szenen der Stille und mystischer
Vorahnungen, in denen nicht gesprochen wird, die aber umso mehr
preisgeben, konnte ihm niemand das
Wasser reichen. Er war ein Perfektionist und Elitist, wovon auch die Riege der von ihm auserwählten Mitarbeiter zeugt: Drago Gervais, Vjekoslav Kaleb, Jure Kaštelan, Zvonimir
Berković, Boško Violić, Slobodan
Novak, Vladan Desnica, Tomislav
Ladan. Im musikalischen Teil assistierten ihm Ivo Malec und Miljen-
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Dossier: Zdravko Zima
ko Prohaska, überwiegend jedoch
Anđelko Klobučar. Ich weiß nicht,
wie oft ich Verlorene Heimat (Izgubljeni zavičaj) gesehen habe und warum
ich diesen Film so liebe: wegen der
Raffinesse in der Regieführung oder
wegen des existenzialistischen Hintergrunds in der literarischen Vorlage
Novaks. Obwohl Babaja in Imotski
zur Welt kam, war sein Innerstes zutiefst von der Mentalität seiner insularischen Vorfahren bestimmt. Als ich
schon geglaubt hatte, nichts könnte
mich mehr überraschen, durfte ich
in reifen Jahren mein heimatliches
Krk wiederentdecken – dank Baba-
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ja, der auf Novak und dessen Insel
Rab zurückgegriffen hatte, dabei aber
von seiner Heimatinsel Vis träumte,
während er auf Cres filmte. Auch
Babaja war eine Insel im wahrsten,
essenziellen Sinne dieses Wortes. Im
Archipel der kroatischen Filmkunst
wandelte er sich, in der Stunde seines Scheidens, zum Fanal. Requiem
aeternam, lieber Babaja!
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Silvia Sladić
Slava Raškaj (1877-1906), Malerin, von Geburt taubstumm; hatte sich das Malen selbst beigebracht.
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Doktor Sonne aus Agram
Zdravko Zima
E
s war Montag, der 15. Juni, Sankt-Veits-Tag und Namenstag eines
meiner Söhne. Trotz der Hitze, ja
Schwüle, kramte ich den feierlichen
Anzug aus dem Schrank, den ich
meist zu Konzerten trage. An diesem
Montag jedoch war kein Konzert angesagt, wenn auch klar war, dass das
Ereignis, dem ich beizuwohnen mich
anschickte, nicht ohne musikalische
Kulisse ablaufen würde. Während ich
nach Schuhen und einem passenden
Hemd suchte, wanderten meine Gedanken nach Mirogoj, wo man sich
zu einem letzten Lebewohl für Zvonimir Berković treffen wollte. Vor
vielen Jahren, als sich der Zerfalls Jugoslawiens bereits abzeichnete, drehte Zoran Tadić den Film Der Mann,
der Beerdigungen liebte („Čovjek koji je volio sprovode“), zu dem Dubravko Jelačić Bužimski, mein langjähriger Freund und trefflicher Literat, das Drehbuch geschrieben hatte.
Trotz meiner Sympathien für Filme
dieses Genres, in dem sich Reales
und Fantastisches, Horror und Poesie miteinander vermischen, gehöre ich selbst nicht zu den Menschen
mit einer Vorliebe für Beerdigungen. Doch hatte und habe ich immer
noch eine Vorliebe für Berković, sodass die Teilnahme an der MirogojProzession nicht nur eine Frage des
Anstands und gesitteten Verhaltens
war. Ich verstand dies als minimale
Pflicht gegenüber einem Cineasten,
Universitätsprofessor und Schriftsteller, der in der Kultur unseres Vol-
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kes eine breite und leuchtende Spur
hinterlassen hat. Mit Urteilen über
Verstorbene tut man sich nicht leicht,
und die lateinische Floskel De mortuis nihil nisi bene scheint in seinem
Fall überflüssig.
Denn über Berković kann man nur
Gutes sagen. In Zagreb, das in Zeiten
der Transition und Rück-/Entführung staatseigener Betriebe in Privatunternehmen so tief gefallen war, dass
es tiefer nicht mehr ging, in einem
Staat, in der die Moral im Tausch
gegen geringfügige Profite und große
Kredite preisgegeben wurde, wirkte
Berković mit seiner intellektuellen
Unbestechlichkeit, stets bereit, sich
über jede Form von Dummheit lustig zu machen, ohne dabei sich selbst
auszusparen, wie ein Fanal. Wie der
letzte Mohikaner eines zivilisierten
und bürgerlich postulierten Kroatiens, das mehr Heimat denn Staat
sein will und das über den Idolen
seine vor langer Zeit vorgezeichneten
Ideale nicht vergessen hat. In Kroatien leben, aber so, dass du gleichzeitig bei dir selbst und in der Welt
zu Hause bist. Das hieß, mit Berk
im selben Land zu leben! Im totalitären Staat, gleich welchen ideologischen Vorzeichens, zählt der Einzelne nicht. Aber er ist gefährlich.
Das galt auch für Berk, obgleich ich
keinen liebenswürdigeren und subtileren Landsmann kannte und obgleich ihn, mochte er sich auch über
finsterste Wahrheiten verbreiten, ein
Charme auszeichnete, wie er nur wei-
sen Männern eigen ist. Wollte man
präzisieren, welchen Platz er auf der
Skala seiner Berufe tatsächlich einnahm, müsste man zu ebendiesem
Schluss kommen: Er war ein Weiser.
Doch weder gemäß der Logik seiner
absolvierten Studien noch gemäß
der Strahlkraft seiner gesellschaftlichen Stellung, sondern dank seinem
Vermögen, alles auf das rechte Maß
zu reduzieren.
Angesichts der tagtäglichen Schwierigkeiten und Herausforderungen,
die sich in den Jahren, als das neue
Kroatien im Entstehen begriffen war,
wie eine Flutwelle ausbreiteten, bewies Berković eine geistige Überlegenheit, die den Ernst jüngster Fragestellungen in ein Verhältnis zur
Ewigkeit setzte. Deswegen eignete
er sich vielleicht auch nicht zum Politiker, obwohl er zu den wenigen
Landsleuten gehörte, denen ich die
Berechtigung dazu zugestehen würde. Er konnte kein Idol der Massen
werden, da er die Tiefe seiner Gedanken stets mit Zweifeln konfrontierte und auf jeden abgeschlossenen
Satz ein konditionales „aber“ folgen
ließ. Berk wusste nur zu gut, dass
große Leidenschaft ohne ebensolche
Geistesgröße von vornherein zum
Scheitern verurteilt ist. Daher wirkte er korrigierend bei allen kollektiven Rauschzuständen, daher strahlte er, gesegnet mit einem Verstand,
in dem Luzidität sich glücklich mit
Verspieltheit paarte, eine Art fatalistischer Nonchalance aus, wie sie
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nur einem ganz außergewöhnlichen
Geist eigen ist. Einem jener Mutigen, die die Beschränktheit einer
geschichtlich und räumlich abgezirkelten Position an der Dimension
eigener Unterfangen messen. Jene
Glosse von Gotovac1, Kroatentum
sei ein Unglück und komme nie allein, wurde im vollen Umfang ihres
fatamorganischen Fluchs selten so
anschaulich wie im Falle Berkovićs.
Er war konsequent genug, postulierte Standpunkte mit sich selbst zu
identifizieren, und nüchtern genug,
Scharlatane zu entlarven, die sich in
allernächster Nähe befanden.
So bedeutend er auch für die Geschichte der kroatischen Kinematografie war (Rondo, Rückkehr zum Umfallort, Rätselhafte Liebesbriefe, Contessa Dora)2, so sehr er auch sein Talent
als Feuilletonist und Schriftsteller
unter Beweis stellte (Der Glöckner der
Kathedrale des Geistes, Doppelporträts,
Briefe aus Dilettantien, Vladko Maček,
drei Gespräche)3, lässt Berković sich
doch erst in der Gesamtheit seines
öffentlichen und privaten Wesens
verstehen. Und dieses Wesen, abgesehen von Filmen und Büchern, abgesehen von seiner Professur an der
Akademie, abgesehen von Drehbüchern, Konzertkritiken und was weiß
ich nicht noch allem, war er selbst in
der Gesamtheit seiner kreativen und
verbal-hedonistischen Möglichkeiten. In seiner Autobiografie unter
dem Titel Das Augenspiel belletrisierte einst Elias Canetti seine Begegnungen mit Hermann Broch, Franz Werfel, Karl Kraus, Alban Berg, Oskar
Kokoschka, Alma & Anna Mahler
sowie anderen Protagonisten der zu
Grabe getragenen Habsburgermonarchie. Doch eine besondere Rolle bei der Persönlichkeitsentfaltung
des jungen Canetti hatte der anonyme Doktor Sonne. Niemand sei
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Dossier: Zdravko Zima
weiter von Barbarei entfernt als er,
erklärte Canetti und folgerte, dass
alles, worüber der Doktor berichtete, interessanter und fesselnder werde, als würde es von einem besonderen Licht beleuchtet. Doktor Sonnes
Prognosen waren düster, obgleich er
am allerglücklichsten war, wenn sich
seine Vorhersagen als unzutreffend
erwiesen.
So war auch Berk. Nachdem ich ihn
kennen gelernt hatte, konnte mir niemand mehr ein Vorbild sein. Jener
Satz, mit dem Canetti sein Verhältnis
zu Doktor Sonne erklärte, definiert
wesentlich auch mein Verhältnis zu
Doktor Berković. Um mich eines
Wortspiels zu bedienen, könnte ich
schließen, dass er geradezu dieselbe
Sonne verkörperte, die in den Jahren
der Initiation Canettis der erwähnte Meister Sonne inkarnierte. Seit
meiner lang zurückliegenden Mittelschulzeit habe ich stets in Zagreb
gelebt, habe Krleža, Marinković, Vera Horvat Pintarić, Lasić, die wichtigsten Akteure der um die Literaturzeitschriften „Krugovi“ und „Razlog“
versammelten Generation, kennen
gelernt. Mir kommt es vor, als hätte ich Zagreb als mein Heimatnest
verinnerlicht, und diese Tatsache fasziniert und blockiert mich gleichermaßen. Meine (Groß-)Stadt als meine provinzialische (Ei-)Zelle. In einer Art Ausweichmanöver vor lokaler Marginalität, aber auch vor einer Haltung, der die Stadt lediglich
als schillernde Kulisse diente, fand
sich selten jemand so gut zurecht
wie Berk. Er war der Doktor Sonne
aus Agram, der, um das Paradox geschichtlicher Reversibilität vollkommen zu machen, in Belgrad geboren
war und an dessen Integrität sich
nur solche heranwagen konnten, die
ihm in Habitus und Offenheit ähnlich waren. Es gab nur wenige Intel-
TIONS
lektuelle in unserer Hauptstadt, die
dermaßen der Tradition verpflichtet waren, ohne sich jedoch damit
aufzuplustern wie bunt gefiederte
Pfauen.
Berk. Ist er jetzt auch in unermesslicher Ferne, auf einer Reise ohne
Wiederkehr, stelle ich ihn mir wie
einen Brahmanen und leisen Flüsterer vor, der immer irgendwo in der
Nähe ist. In den Jahren, als Kroatien sich aus der jugoslawischen Umarmung zu winden mühte wie eine
sich häutende Schlange; in Zeiten,
in denen sich die Geschichte zu einem Augenblick, einem Schuss verdichtete, zum einmal oder tausendmal inszenierten Tod; in Momenten
explosiver Begeisterung, die ebenso
pfeilschnell in Apathie und Düsternis umschlagen konnte – da war Berk
unsere Rettung. Uns retteten seine
Fähigkeit zu relativieren, was gut erschien, und sein Talent zu verschönern, was schrecklich und irreparabel
anmutete. Ich weiß nicht, wer uns in
Zukunft retten wird; denn die Asse
sind ausgespielt, und mit den auf
dem Tisch verbliebenen Karten können weder Nobodys noch Schwindler, die sich wie Seegras vermehrt haben, mehr bluffen. Im Unterschied
zu den meisten seiner Landsleute
richtete Berk seine Kritik gleichermaßen gegen andere und sich selbst. Er
war ein Causeur und Schöngeist, auf
seiner Suche nach Perfektionismus
extrem hartnäckig und berief sich auf
den Helden aus Bernhards Roman,
der seine Karriere als Konzertpianist
wegwirft, nachdem er Glenn Gould
hat spielen hören. Sein Lebensweg
lässt sich vielleicht am besten mit
zwei Substantiven zusammenfassen:
Poesie und Politik, oder anders: Reine Musik und dreckiger Alltag.
Ich erinnere mich an seine vor Urzeiten geschriebene Kritik, in der
Vlado Gotovac (1930-2000), Dichter, Philosoph, Essayist.
„Rondo“, „Putovanje na mjesto nesreće“, „Ljubavna pisma s predumišljajem“, „Kontesa Dora“: Filmtitel.
„Zvonar katedrale duha“, „Dvojni portreti“, „Pisma iz Diletantije“, „Vladko Maček, tri razgovora“.
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ben stets zwischen Extremen bewegte: zwischen dem Grundsatz balkanischer Unabänderlichkeit einerseits
und der vom künstlerischen Schaffen dirigierten Freiheit andererseits,
zwischen dem Erlaubten und dem
in den Tiefen des gespaltenen Wesens Geahnten. Und wenn er dem
Spiel der tschechischen Cembalistin
Zuzana Růžičková lauschte, konnte
er ihre auf dem Arm tätowierte Lagernummer aus Auschwitz nicht vergessen, und wenn er Mačeks4 letzte
Tage in Kroatien dramatisierte, wollte er nicht auf die von der Violine gespielten Takte des Danse macabre von
Saint-Saëns verzichten. Bei seiner
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Beerdigung wurde Mozart gespielt.
Es musste geschehen, dass Berk ins
Jenseits aufbrach, ehe wir begreifen
konnten, dass es in Zagreb noch zivilisierte Menschen gibt, die sich
auf dem Friedhof Mirogoj einfanden, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Borges ist in einem seiner
Texte zu dem Schluss gekommen,
dass man dem Tod begegnen solle,
als ginge man auf ein Fest. Gerade so
schritt unser unvergleichlicher Berk
seinem eigenen (paradiesischen) Ende entgegen.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Silvia Sladić
Foto: © Višnja Arambašić
er sich über die Dubrovniker Inszenierung von Monteverdis Oper
„Die Krönung der Poppea“ auslässt.
Darin erläutert Berk in dem ihm
eigenen Stil, dass diese Musik betäubend sei. Der aus der römischen
Geschichte übernommene Stoff des
Librettos konzentriert sich auf Poppea, die Nero verführt, seine Ehe
mit Ottavia zerstört und sich aller
möglichen Winkelzüge bedient, um
die Krone an sich zu reißen. Worin
liegt der Schlüssel? Berk ist unsäglich
erstaunt über die Diskrepanz zwischen dem blutdurchtränkten Libretto und der göttlich impostierten
Musik, obgleich sich sein eigenes Le-
Kolumnen
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Vladko Maček (1879-1964), kroatischer Politiker, der 1945 in die Emigration ging.
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Ein Bariton für die Ewigkeit
Zdravko Zima
E
s ist in den Spätnachmittagstunden, aus der Ecke des Wohnzimmers dringen die Takte bekannter
Melodien: Nacheinander erklingen
„Ribari“ von Oštrić, Badurinas „Da
te mogu pismom zvati“, „Galeb i
ja“ von Runjić, „Dalmatino povišću
pritrujena“1 von Stipišić. Das Besondere an der Sache ist, dass alle diese
Evergreens und everlasting A-capellaWeisen von dem Saxofonisten Igor
Geržina, ehemals Student des Berklee College of Music in den Vereinigten Staaten, gespielt werden. Die
herben Klänge des Saxofons bilden
den idealen Kontrapunkt zur archaischen Gemäßigtheit und dem kaum
unterdrückten anklagenden Ton des
A-capella-Akkords, sodass der Hörer
sich in einem Moment irgendwo in
den Gewässern des Kornati-Archipels wähnt und im anderen in einem
New Yorker Wolkenkratzer, wo er
in Begleitung seines Schutzengels in
Richtung Atlantik schaut. Die CD
mit dem englischen Werbesticker
„The Most Beautiful Croatian Songs
Played on Saxophone“ hat mir meine
liebe Freundin Irena geschenkt. Ein
Freund ist, wer einen kennt, und Irena kennt meinen Background, weiß,
dass sich hinter meiner Fassade, hinter meinen kroatisch-tschechischen,
kroatisch-ungarischen, pannonischinsularischen und was weiß ich noch
für welchen unerforschten Wurzeln
1
eine tiefe Liebe für den Mediterran
verbirgt.
Deshalb wollte sie mir mit den Instrumentalversionen dieser Lieder eine
Freude machen – Lieder, denen man
am Kaminfeuer lauscht oder in einem dalmatinischen Gässchen, ebenso aber auf dem Prokuratien-Platz in
Split oder irgendwo sonst, es muss
nicht die Adriaküste sein. Die Geschichte mit dem Saxofon und Dalmatien verdankt ihre traurige Aktualität dem Tod von Vice Vukov, einem
der bedeutendsten und angesehensten Söhne Dalmatiens der jüngeren
Zeit. Nach 34 Monaten, die er, im
Koma liegend, in einer Spezialklinik
in der Zagreber Rockefellerova-Straße verbrachte, ist er von uns gegangen. Die Floskel, über Verstorbene
nur wohlwollend zu sprechen, können wir uns sparen, denn selbst der
boshafteste Mensch könnte in Vices
Biografie wohl kaum einen Makel
entdecken. Dieser großartige Sänger aus Šibenik ist zur Legende geworden, sein Lebensweg und seine
künstlerische Laufbahn weisen ihn
als Stimme aus anderen, fast vergessenen Zeiten aus, in denen würdevolles und dezentes Auftreten, wurzelnd in klar formulierten und verbindlichen Moralansprüchen, nicht
nur hohler Schein waren. Vice wurde
1936 geboren, dem Jahr, das die Welt
dank der Olympischen Spiele in Ber-
lin in Erinnerung behalten sollte, als
Jesse Owens Hitler zum Überschäumen brachte und vier Goldmedaillen gewann.
Wenn auch in vielerlei Hinsicht ein
typischer Spross seiner dalmatinischen Heimat und seines Volkes,
kann er doch kaum als typischer Dalmatiner und exemplarischer Kroate
bezeichnet werden. Während seine
Mitschüler fischen gingen und sich
mit Geplapper die Zeit vertrieben,
pflegte Vice die Zeit in stiller Einkehr mit sich selbst zu verbringen;
während seine Altersgenossen Fußball spielten, war er mit seinem Teleskop beschäftigt und blickte zu
den Sternen. Außer Lichtquellen und
Zeichen der Ewigkeit sind Sterne
auch Symbole des Spirituellen, und
Vices Lebenslauf erinnert eher an
die Biografie eines Forschers als an
die Laufbahn eines Superstars und
Unterhaltungskünstlers, der jungen
Backfischen den Kopf verdreht oder
einem begeisterten Publikum Autogramme verteilt. Er war ein Künstler
von ureigenster Finesse, ein Sänger,
der niemals aus dem Takt geriet, weder musikalisch noch im Sinne höflichen und angemessenen Verhaltens.
Vice ist jetzt an einem anderen Ort,
in den Gärten Elysions, was er in jeder Hinsicht verdient hat. Und so
traurig der Anlass auch ist, erinnere
ich mich doch auch daran, dass ich
„Die Fischer“, „Könnte ich dich mit meinem Gesang zurückrufen“, „Die Möwe und ich“, „Dalmatien, unter der Bürde deiner Geschichte“ –
bekannte Liedertitel. (Diese und folgende Anmerkungen stammen von der Übersetzerin.)
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mich einmal sehr über ihn geärgert
habe. Zwar ist dieser Ärger eher figurativ und dient der Charakterisierung
der Künstlerpersönlichkeit Vice Vukov, der in der jüngeren Geschichte
seines Volkes eine imposante Spur
und kaum zu ersetzende Leere hinterlassen hat. Der Grund war ein Auftritt vor vielen Jahren, bei dem Vice
gekränkt mit dem Singen aufhörte,
weil die Zuhörer plötzlich Lust zu
tanzen bekommen hatten!
Dies mag vielleicht unglaublich erscheinen, aber man darf nicht vergessen, dass Vice stets erwartete, mit
dem Anstand behandelt zu werden,
den er auch seinen Mitmenschen entgegenbrachte. Dass die Leute zu seinen Auftritten tanzten, erschien ihm
abgeschmackt, ja erniedrigend, und
ihn als den führenden Sänger unserer
Schlagerszene zu definieren, klingt
auch heute noch beleidigend in den
Ohren jener, die in seinem hellen
Bariton glänzende Interpretationen
italienischer Opern und Kanzonen
erahnten. Wenn auch die Trennung
von Elite- und Massenkultur ihre
einstige Gültigkeit eingebüßt hat,
war Vice doch der König der kroatischen Musikszene, der alles, was
er berührte, zu Gold machte und
jedes Lied, jede Geste mit einer tief
verankerten Noblesse veredelte. Anders als viele seiner Sängerkollegen,
die kaum einen Schraubenschlüssel
von einem Notenschlüssel zu unterscheiden vermochten, verfügte Vice
über einen ausnehmend hohen Bildungsgrad, und in seinem engeren
Familienkreis war die Musik nicht
nur eine Leidenschaft, sondern eine
Lebenseinstellung. Seine Frau Diana
spielt Klavier, sein Sohn Emil hat die
Zagreber Musikakademie absolviert,
und Tochter Ivana hat sich nach ihrem Gesangsdebüt mit dem Lied
„Majci“ dem Jazz zugewandt.
2
3
Kolumnen
An der Philosophischen Fakultät in
Zagreb schloss Vice das Studium der
Philosophie und der Italianistik ab.
Sein Ruhm als Bühnenstar und die
Lobeshymnen der Kritiker, die ihn
seit dem Erstlingserfolg „Mirno teku
rijeke“2 des Komponisten Biro ständig begleiteten, konnten ihn nicht
daran hindern, sich unablässig um
die Steigerung seines Könnens zu
bemühen. Nachdem er 1971 auf Eis
gelegt worden war und ihm jegliche
künstlerische Tätigkeit sowie öffentliche Auftritte untersagt waren, reiste
er nach Paris und studierte am Institut des Hautes Études internationales. Während seine Gesinnungsgenossen aus der Zeit des Kroatischen
Frühlings an ihrem Status politischer
Opfer laborierten und darauf warteten, ihren antizipierenden Patriotismus in bare Münze zu verwandeln, also stets darauf beharrten, ihre
Verdienste am Niederknüppeln der
roten Gespenster hervorzukehren,
meisterte Vice die größte Herausforderung, nämlich sich selbst. Statt sein
Märtyrertum zu zelebrieren, Sinekuren zu beanspruchen und sich eitel
auf die Schultern klopfen zu lassen,
zügelte er sein Ego, da ihm sehr wohl
bewusst war, dass die Freiheit nicht
per Dekret kommen kann und dass,
wer nur eine Titularzukunft besitzt,
seine eigene Gegenwart und Vergangenheit zur Farce macht. Darin stand
er Vlado Gotovac nahe, der vor Langem schon zu der Überzeugung gelangt war, dass die Identifizierung als
Kroate ein Unglück heraufbeschwöre, das nicht alleine komme.
Aus alledem kann man leicht schließen, dass er sich im tiefsten Grunde
seiner Seele und seines Herzens als
Kroate fühlte, sein Mäntelchen jedoch nicht nach dem Wind drehte.
In einer Zeit, in der sämtliche Kriterien kopfstehen, braucht es auch
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nicht zu verwundern, dass „Slobodna Dalmacija“ unerhört respektlos
über seinen Tod berichtete: Statt das
Logo mit schwarzem Flor zu unterlegen, statt den Tag zu einem Trauertag
für die gesamte Region zu erklären,
prangten auf der Titelseite der Spliter
Tageszeitung ein Riesenporträt des
einsitzenden Generals Mirko Norac
und als kapitale Information die Ankündigung seiner Hochzeit, während die Nachricht vom Tode Vice
Vukovs mit bloßem Auge kaum erkennbar war. Und so wiederholt sich
in Kroatien auf pompöse Weise die
Geschichte, degradiert zu einer Balkanhistorie, in der Soldaten und Inhaftierte auf legitime Weise den besten Sängern und Dichtern den Rang
ablaufen! „Tvoja zemlja“, „Zvona
moga grada“, „Pismo ćali“, „Šesnaest
lavandera“, „Suza za zagorske brege“,
„Dobro mi došel, prijatel“3. Insgesamt vierhundert Kompositionen,
die ins Kollektivgedächtnis eingegangen sind; ein Leben und zwei Karrieren – eine Künstler- und eine verspätete Politikerlaufbahn, die unter keine
Stereotypen einzuordnen sind und
uns zum wer weiß wievielten Male beweisen, dass eine schöpferische
Berufung die Bereitschaft impliziert,
die Leiden und Risiken individueller
Entscheidungen zu akzeptieren.
Vice – ein Dalmatiner, der zeigte,
wie man in kajkavischer Mundart
verfasste Lieder vorträgt; ein Kroate, der demonstrierte, wie man Patriot sein kann, ohne mit dem Impetus des eigenen Nationalgefühls
anderen oder anders Denkenden zu
schaden. Als ich vor einigen Tagen
mein Handy nach der Nummer von
Velimir Visković durchstöberte, fiel
mein Blick auf einen weiteren Träger von Doppelinitialen: Vice Vukov,
091/7222 804. Wie viele Tage sind
seit dem 17. November 2005 vergan-
„Ruhig fließen die Wasser“.
Liedertitel, die Vice Vukov berühmt gemacht haben: „Dein Land“, „Die Glocken meiner Stadt“, „Brief an den Vater“, „Die sechzehn Wäscherinnen“, „Eine Träne für die Zagorje-Berge“, „Sei mir willkommen, mein Freund“.
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Dossier: Zdravko Zima
Detail. Wenn er als parteiloser Parlamentsabgeordneter am Rednerpult
stand, herrschte in den Bankreihen
ungewöhnliche Stille. Es war, als ob
sich all jene, die Kroatien an ihrem
eigenen Namen festmachen, unangenehm berührt fühlten, da sie begriffen, dass dieser Mann sie mit der
Integrität seines Charakters bei Weitem überflügelte. Addio, guter alter
Vice. Ich bin mir nicht sicher, ob ein
Lebewohl überhaupt angebracht ist,
denn das Beste, das du hattest, hast
du ohnehin im Diesseits zurückgelassen. Gestirne und Winde werden
von nun an auch deine Stimme weitertragen und dafür sorgen, dass Kroatien bleibt, wie es in den Träumen
seiner besten Söhne immer war und
immer sein wird.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Silvia Sladić
Foto: © Boris Cvjetanović
gen, als er unglücklich stürzte und
nach einer Operation ins Wachkoma
hinüberglitt. Allen unheilvollen Prognosen zum Trotz blieb die Nummer
in meinem Handy ungelöscht. Wie
die Nummern anderer verstorbener
Bekannter und begrabener Freunde,
darunter Don Branko Sbutega, Boris Maruna, Dražen Vrdoljak. Requiem aeternam dona eis Domine. Was
für ein Mensch Vice war, enthüllt
ein auf den ersten Blick unwichtiges
TIONS
Zdravko Zima im Kaffeehaus
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Neue Töne
Zdravko Zima
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s kam, was ich nie für möglich
gehalten hätte: In mehr denn
gesetztem Alter verspürte ich den
Wunsch, der Amtseinführung eines
kroatischen Staatspräsidenten beizuwohnen. Als ich am Donnerstag1
in die Oberstadt eilte, verschwendete ich keinen Gedanken an die Wettervorhersage, selbst an die Krawatte
nicht, die ich zu Hause gelassen hatte.
Vielleicht bin ich auf meine alten Tage kindisch geworden, vielleicht habe
ich mich durch die spärlichen Anzeichen eines kaum erst sich anbahnenden Frühlings verführen lassen, doch
während ich mit Mani Gotovac und
Dražen Lalić die Radićeva-Straße
hochging, hatte ich das Gefühl, als
sollten wir dort, im Epizentrum AltZagrebs, einem Geburtstag, einer
Taufe oder einer Hochzeit beiwohnen, einem Fest jedenfalls, das uns
in unserem tiefsten Inneren berühren
würde – statt bloß einer politischen
Zeremonie, die außer wehenden Fahnen und protokollarischem Pomp
nichts anderes zu bieten hat. Die feierliche Stimmung wurde unterstrichen von einem Ambiente, das in jedem Kroaten, ungeachtet seiner weltanschaulichen Orientierung, nostalgisch-historische Gefühle weckt. Auf
dem Markusplatz, wo wir, uns nach
allen Seiten umschauend, Bekannte
treffen und grüßen, wurde in früheren Zeiten immer Markt abgehal1
2
ten, und Haus Nummer 10 trägt an
seiner Ecke die schnurrbärtige Büste von Matija Gubec. Die Amtseinführung des neuen Staatspräsidenten
findet vor der Markuskirche statt,
in der seinerzeit die kroatischen Bane ihren Amtseid ablegten und die
durch künstlerische Eingriffe von
Ivan Meštrović, Jozo Kljaković und
der Prager Bildhauerfamilie der Parler bereichert wurde.
In dieser Kirche hatte der Vater des
großen A. G. Matoš als Organist gewirkt, hier hatte Monsignore Svetozar Ritig seines Amtes als Gemeindepfarrer gewaltet, auch die Handlung eines Dramoletts von Berković
spielt sich zu einem Teil gerade vor
Kljakovićs Fresken ab. Alles hier atmet Geschichte. Hinter meinem Rücken ist das Alte Rathaus, in dem
Livadićs patriotisch-musikalischer
Weckruf „Još Hrvatska nij’ propala“2,
nach einem Gedicht von Gaj, zum
ersten Mal gesungen wurde; auch
wurden hier das erste kroatisch verfasste Theaterstück („Juran und Sofija“) und die erste kroatische Oper
Liebe und Arglist („Ljubav i zloba“)
aufgeführt. Etwas weiter unten, in
der Ćirilometodska-Straße, befindet sich das Haus, in dem Ljudevit
Gaj gewohnt hat und in dem heute
Räumlichkeiten der Rechtswissenschaftlichen Fakultät untergebracht
sind, jener Hochschuleinrichtung,
mit der die persönliche und professionelle Biografie Ivo Josipovićs eng
verbunden ist. Dann endlich wird
unter den feierlichen Klängen eines
Marsches von Anđelko Klobučar,
vorgetragen vom Blasorchester des
Kroatischen Militärs, der neue militärische Oberbefehlshaber und neue
Staatspräsident empfangen. Es folgt
die Hymne, woraufhin die Vorsitzende des Verfassungsgerichts Jasna
Omejec abschnittweise den Vereidigungstext vorliest, den Josipović
wie ein artiges und wohlerzogenes
Schulkind nachspricht. Wenige Minuten nach der Eidesleistung hören wir seine Antrittsrede. Obwohl
ich die Hauptakzente voraussetzen
kann, verfolge ich aufmerksam jedes Wort und flüstere nebenbei mit
Vjeran Zuppa, mit dem ich während der Wahlkampagne mächtig in
Josipovićs Horn geblasen habe.
An seiner Haltung scheint sich nichts
geändert zu haben, und doch ist etwas anders. Neben den bekannten
Argumenten von der bitter benötigten Gerechtigkeit und Solidarität,
mit denen er sich den Weg ins Präsidialamt ebnete, fehlt in Josipovićs
Rede jeglicher Triumphalismus, vor
allem aber hört man keine Ressentiments, mit denen die politischen Sieger in diesem Teil der Welt so oft manipulierten – zu kurzfristigem persönlichen Nutzen, aber langfristigem
18. Februar 2010, Tag der Amtseinführung Ivo Josipovićs. (Diese und folgende Anmerkungen stammen von der Übersetzerin.)
„Noch ist Kroatien nicht am Grunde“: Patriotisches Lied des Dichters Ljudevit Gaj, vertont 1833 von Ferdo Livadić.
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kollektiven Schaden. Es gilt, den Refrain einer Melodie so oft zu wiederholen, bis man ihn gelernt hat, und so
hat der neue Dirigent des ViereinhalbMillionen-Orchesters wiederholt, was
viele hören, aber nicht wirklich wahrnehmen. Oder sich schwer merken
können. Dass die Produktionsrate in
Kroatien unter Vorkriegsniveau liegt,
ist schockierend genug, um all jene
zu ernüchtern, die in ihrem trinkseligen Patriotismus geglaubt hatten,
dass mit der Gründung eines eigenständigen Staates alle Probleme wie
weggepustet wären. Selten war eine
Antrittsrede dermaßen beherrscht
von den Ideen der Rechtschaffenheit,
des Vertrauens und der allerhöchsten zivilisatorischen Werte. Trotzdem
trat Josipović nicht als Sprachrohr
des Zagreber Domkapitels auf. Im
Gegenteil! Indem er die Bedeutung
von Kultur, Kreativität, Wissen und
neuen Technologien betonte, verwies
es darauf, was im fortschrittlichen
Westen schon längst als Kanon gilt.
Selbst bei diesem feierlichen Anlass
konnte er nicht die Tatsache umgehen, dass für die aktuelle Krise nicht
nur objektive Umstände verantwortlich sind, sondern auch mangelnde
volkswirtschaftliche Visionen.
Auf seine Weise, juristisch exakt und
musikalisch elegant, suggerierte Josipović, dass Korruption und Verbrechen sich nicht lohnen. Klingt
schön. Doch hat sich das Gaunertum
so breitgemacht und dermaßen mit
moralischer Verkommenheit verkuppelt, dass viele Mitbürger glauben,
das Kürzel k. u. k. (kaiserlich und
königlich), mit dem einst die Verbundenheit Kroatiens mit der Habsburgermonarchie bezeichnet wurde,
meine ein autochthones kroatisches
Erzeugnis und stehe für „Korruption
und Kriminalität“. Ich weiß nicht,
wie gut die Leute bei der Antrittsrede zugehört haben oder vielmehr
dachten, sie sei eher formaler Natur
denn vorausweisend und verbindlich. Indem Josipović aber beton-
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Dossier: Zdravko Zima
te, dass er nicht herrschen, sondern
dienen werde, und daraus folgerte,
dass er das Staatswesen als Dienstleistungsservice für seine Bürger betrachte und nicht als der Eitelkeitspflege vorbehaltenen Betonturm, zog
er einen Trennstrich zu den rigiden
Herrschaftsformen, die in diesem
Teil der Welt eine allzu lange und
peinvolle Tradition hatten. Sollte sich
auch nur ein Bruchstück dessen verwirklichen, was der soeben vereidigte Staatspräsident angekündigt hat,
wird Kroatien den Balkan hinter sich
lassen. Natürlich wird das Land in
geografischer Hinsicht bleiben, wo
es ist, aber es wird sich von negativen Stereotypen befreien, die sich um
Illegitimität, Vetternwirtschaft, Inkompetenz und Unverantwortlichkeit drehen und seit jeher mit diesem
geografischen Raum in Verbindung
gebracht werden.
Allen möglichen Beanstandungen
zum Trotz, die sich auf Timing, Szenografie oder das Outfit der Präsidentenfamilie bezogen, waren noch
nie so viele Künstler und Intellektuelle auf einer Zeremonie dieser
Art versammelt, was an sich schon
bemerkenswert ist. Auf der verhältnismäßig geringen Fläche des Markusplatzes hatten sich so Ida Gamulin, Sandra Bagarić, Alfi Kabiljo,
Urša Raukar, Niko Gamulin, Predrag
Matvejević, Branko Caratan, Mladen
Martić, Željko Vukmirica und andere eingefunden. Es ist nicht meine
Absicht, mit dieser Aufzählung irgendjemanden, den ich ausgelassen
habe, zu kränken, noch aber möchte
ich suggerieren, dass die Anwesenheit
anderer oder anonymer Bürger weniger wichtig gewesen wäre. Zumal
wenn man Josipovićs Vision Glauben
schenken möchte, der zufolge alle
Bürger am politischen Geschehen
teilhaben und er lediglich eine herausragendere, dafür aber mit mehr
Verantwortung und Risiko verbundene Stellung einnehme. Vergleicht
man die Führung eines Staates mit
TIONS
der Leitung eines Orchesters, so begreift man, dass Josipović als Dirigent
vor einer äußerst anspruchsvollen
Aufgabe steht. Für seine Oper „Lohengrin“ hatte einst Richard Wagner ein Orchester mit 106 Musikern
vorgesehen. Darunter waren 16 erste
Geigen, 16 zweite Geigen, 12 Bratschen, 12 Celli, 8 Kontrabasse, 8
Hörner, 6 Harfen, 4 Querflöten, 3
Fagotte und so weiter. Interessanterweise wurde die Uraufführung des
„Lohengrin“ von Franz Liszt in Goethes Weimar dirigiert.
Unser Weimar ist Zagreb, und unser
Franz Liszt heißt jetzt Ivo Josipović.
Seine Amtszeit wird länger als Wagners Oper dauern, und neben der
Meisterschaft des Dirigenten ist für
die Aufführung des kroatischen „Lohengrin“ die Teilnahme aller Geigen
und Bratschen erforderlich, sowohl
der auf der Bühne befindlichen als
auch der unsichtbaren – all jener also, die ihr Instrument angesetzt haben und bereit sind, nach Josipovićs
Auftaktzeichen mit dem Musizieren zu beginnen. Es wäre ein Vergehen, an dieser Stelle einen überaus
wertvollen und respektierten Menschen unerwähnt zu lassen, den ich
im Gedränge auf dem Markusplatz
ebenfalls getroffen habe. Das ist Peter Kuzmič, Slowene aus dem Gebiet
jenseits der Murr, der in Zagreb die
Schule besuchte, im Ausland, größtenteils in Harvard, studierte und in
Osijek die Evangelisch-Theologische
Fakultät begründete, deren langjähriger Rektor und ordentlicher Professor er ist. Kuzmič ist ein großer Patriot und Kosmopolit, Intellektueller
und Pfingstler, der, außer Slowenien,
zwei weitere Heimaten hat: Kroatien und die Vereinigten Staaten. Kein
Wunder also, dass solch ein Mann,
in dessen Radikalismus und Universalismus sich sein Weltbürgertum
spiegelt, Josipović begrüßen möchte.
Was noch? Die Beleidigungen, die es
von Seiten der versammelten Bürger
auf Ivo Sanader herabhagelte, wirk-
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Statt Bürger zu befragen und Interviews mit Leuten zu machen, die
über Josipović etwas zu sagen hätten,
erwiesen sich die Fernsehjournalisten zum wer weiß wievielten Male
als gewöhnliche Kriecher. Am meisten mit Ruhm bekleckert hat sich an
diesem Tag Vladimir Šeks3, als er tönte, Josipovićs Präsidentschaftsmandat werde hoffentlich die Grenzen
des Verfassungsrahmens nicht überschreiten. Mit dem ganzen Umfang
ihrer Leere offenbart diese Aussage
einen Mangel an elementarem Anstand und Höflichkeit, die in einem
solchen Augenblick von einem hohen Würdenträger immerhin zu erwarten sind. Im Hinblick auf seinen
87
protokollarischen Rang und die Tatsache, dass er selbst jede Menge auf
dem Kerbholz hat, ist Šeks der Allerletzte, der sich eine Kritik am neuen
Staatspräsidenten leisten könnte. Er
selbst war nie auch nur annähernd
so populär wie Josipović, und das
schmerzt wohl am meisten. Die Zeremonie klang mit dem „Dankeslied“
von Franjo Dugan aus, mit dem der
Komponist der Ernte, dem Wein und
den Früchten des Lebens huldigt. Ein
großes Dankeschön an Josipović, da
er Gespür dafür bewiesen hat, was die
Bürger hören wollten und zu hören
verdient haben. Vivat!
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Silvia Sladić
Foto: © Višnja Arambašić
ten wie ein Schock. Nicht weil dieser
nicht zu verantworten hätte, was er
sich als Premierminister zu Schulden
hat kommen lassen, sondern weil er
in Rekordzeit den Weg vom vergöttlichten Führer zur hohlen Attrappe
zurückgelegt hat. So etwas ist nur in
Ländern ohne demokratische Tradition möglich. In Ländern, in denen
jene Mechanismen des Rechtsstaates nicht funktionieren, die die politischen Machtträger kontrollieren,
ehe sie, herabgezogen von ihrer eigenen Schwerkraft, aus gottgegebener
Höhe in den Schlamm hinabsinken.
Daher sind Begeisterung und Enttäuschung in solchen Ländern gleichermaßen extrem und fatal.
Kolumnen
3
Derzeitig stellvertretender Vorsitzender des kroatischen Parlaments.
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Die Geschichte von Gabriel
[Nachtschwarze Agenda]
Zdravko Zima
Dienstag/Mittwoch,
13/14. Januar 2009
E
s ist Nacht. Schnee hat sich über
die Stadt und Utrine1 gelegt
(wenn Utrine überhaupt eine Stadt
ist) und je weniger ich ihn mag, nicht
wegen der weißen Farbe, sondern
wegen der technischen Ausfälle und
der Beschwerlichkeiten in der alltäglichen Kommunikation (offensichtliche Zeichen des Alterns!), so sehr
tröste ich mich, dass er das Schlechte und das, was unsere Schicksale
anders macht, als wir es uns einbilden, bedeckt und in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt. Weiß ist
absolut, ein Zeichen für die Morgendämmerung und jungfräuliche
Reinheit, aber auch ein Zeichen des
Todes. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass in manchen Kulturen
Trauer nicht mit schwarzer sondern
weißer Kleidung ausgedrückt wird.
Mein Nachname2 sollte ein Synonym für eine Jahreszeit sein, selbst
wenn ich ihn nie so verstanden habe und manchmal billigen Witzen
von Menschen ausgesetzt bin, denen, wenn sie mich kennen lernen,
nichts Geistreicheres einfällt als: Ist
Ihnen kalt, Herr Zima? Danke der
Nachfrage, mir ist nicht kalt, vor al1
2
lem weil ich am Mittelmeer geboren
bin, sodass ich nach der Logik meiner
regionalen Zugehörigkeit oder eines
versteckten Impetus immer schon
den Sommer bevorzugt habe. Wenn
ich meinen Namen nannte, musste
ich früher oft die Frage beantworten,
ob ich mit Vera Zima verwandt sei.
Das bin ich nicht. Außer dass wir
beide mütterlicherseits aus dem mediterranen Raum stammen (sie aus
Ploče, ich von der Insel Krk), väterlicherseits reichen unsere Wurzeln
nach Slawonien, in die Tschechische
Republik und so weiter. Ich habe Peter Zima gelesen, den Theoretiker
der Frankfurter Schule, der im Buch
„Textsoziologie“ unseren berühmten
Germanisten Viktor Žmegač zitiert.
Anfang des Jahres hat das staatliche
Fernsehen die amerikanische Serie
„Californication“ auszustrahlen begonnen, was wörtlich mit „Kalifornikacija“ übersetzt wurde, obwohl es
sich um kalifornisches Ficken handelt. Im Zentrum des Geschehens
ist Hank Moody, ein literarisches Talent, der Probleme mit dem Schreiben hat und noch mehr mit jungen
Mädchen, denen er erbarmungslos
hinterher jagt. Ich bin kein Puritaner,
doch ich kann nicht behaupten, dass
mich eine solche Serie besonders an-
zieht. Aber sieh da; eine der Schauspielerinnen, die eifrig ihre komparativen Vorzüge herzeigt, heißt Madeline Zima. Madeleine erinnert an
die Sünderin Magdalena, aber auch
an Madeleine, das mystifizierte Gebäck aus Prousts Roman. Ist auch
egal, ich sitze in der Tinte. Jetzt werde ich wieder auf die Frage antworten
müssen, ob ich mit der sich freudig
entblößenden Madeleine verwandt
bin. Bin ich nicht. Was nicht heißen soll, dass ich in Amerika keine
Verwandten und Schwippschwager
hätte. Ich habe Verwandte, die nicht
weniger attraktiv sind als die zitierte Zima aus der kalifornischen Lifestyle-Serie. Es ist schon Mittwoch,
wir befinden uns in der 56. Minute
des neuen Tages, in den Nachbarhäusern sieht man das Licht nur in
zwei Fenstern. Die Kroaten sind ein
arbeitsames Völkchen, und nach allen Feiertagen, den katholischen und
orthodoxen Weihnachten, nach den
Neujahrsbesäufnissen, dem Dreikönigsfest und dem gesegneten Sonntag, bleibt einem nichts anderes übrig, als sich unter der Bettdecke zu
verkriechen.
So wenig man von sich selbst, so
wenig kann man von seinen Angewohnheiten davonlaufen. Seit Jahren
Neubausiedlung in Zagreb.
Zima bedeutet im Kroatischen „Winter“ und „kalt“.
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versuche ich mich dazu zu zwingen,
am Tag zu schreiben, aber vergeblich. Ich gehe um drei schlafen, stehe
gegen neun auf und dann tu ich so,
als machte ich Gymnastik. Ich gehe
auf den Markt, kaufe, was ich brauche und nicht brauche, trinke den
obligatorischen Nescafé Classic und
bis ich alle Details aufeinander abgestimmt, den Morgenmantel umgeworfen (wenn mir kalt ist!) und
die Rollläden hochgezogen (wenn
mir Licht fehlt!), bis ich mir tausend
Einzelheiten ausgedacht habe, um
den Beginn hinauszuzögern, ist fast
Mittag. Ich lese oder schreibe und am
Abend gerate ich in Panik: Ich lebe
in Zagreb, doch mir scheint, ich bin
in Klausur, in einem Karmeliterkloster und dramatisiere den Eindruck,
dass es mich in der Stadt, die Öffentlichkeit voraussetzt, überhaupt nicht
gibt. Ich bin nicht mehr in dem Alter, in dem man jeden Tag auf der
Straße sein muss, in den Cafés, in
denen wir uns früher pflichtgemäß
getroffen und über alle möglichen
Themen debattiert haben. Aber ich
habe ein Bedürfnis nach der Stadt,
und wahrscheinlich auch nach lebenden Wesen. Am liebsten gehe ich am
frühen Abend aus, wenn die Läden
noch geöffnet sind und wenn Zagreb
Lebendigkeit verheißt, eine Art Dynamik, die einer Fast-Millionenstadt
angemessen ist. In späteren Stunden
verwandelt sie sich in eine Leere, die
ideal für Polizisten ist, die vor den
Verbrechen und notorischer Gewalt
die Augen verschließen, dafür aber
umso bemühter sind, wenn jemand
keinen Ausweis mit sich führt oder
wenn man mit den vorderen Reifen
den Parkstreifen um drei Zentimeter
überschritten hat. Deshalb ist mir die
Nacht am liebsten, wenn alles tot ist
und nur das lebt, was wir mit unserem Willen wieder erschaffen. Auch
mein erstes, vor langer Zeit veröffentlichtes Buch heißt „Die Nachtseite des Verstandes“. Warum? Weil
ich es nachts geschrieben habe, aber
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Tagebücher
auch weil ich zeigen wollte, dass ich
für eine andere Wirklichkeit plädiere;
eine chthonische und nächtliche, die
in der Brandbreite ihrer Möglichkeiten unvergleichlich ergiebiger ist als
eine Tageswirklichkeit. Auch jetzt ist
Nacht und ich stehe am Fenster und
betrachte das winterliche Weiß. Ich
fühle mich wie Gabriel, der Held aus
Joyces Novelle „Die Toten“, der für
den „Daily Express“ Literaturkritiken schrieb und der nach dem Jahresball im Haus der alten und verblühten Fräulein Morkan (Kate & Julia!)
und nach dem Geheimnis, das ihm
seine geliebte Gretta preisgibt, nach
dem Sinn der eigenen Existenz fragt.
Selbstverständlich liegt der Sinn in
der Liebe und nach langjähriger, bürgerlich gebotener Ehe stellte Herr Gabriel fest, dass Gretta in ihrer frühen
Jugend, bevor sich die beiden überhaupt gekannt haben, ein unglaubliches Tristan-und-Isolde-Abenteuer
mit Michael Furey erlebt hatte. Dieser Michael, Joyces Tristan, war von
unglaublich zarter Natur und pflegte
Gretta unter dem Fenster „Das Mädchen aus Aughrim“ vorzusingen. Die
Liebe zwischen ihnen war so, wie sie
eben bei jungen und hoffnungsvollen Menschen sein konnte; rein wie
Schnee und absolut wie Gott. Es war
eine Liebe, in der nichts und doch
alles geschah. Michael starb im siebzehnten Lebensjahr, Gretta heiratete
später Gabriel, in ihrem Innersten,
im tiefsten Herzen, auch wenn sie
es vergaß, glomm jedoch die Liebe
zum sinnlos gestorbenen Michael/
Tristan. Das Problem ist nicht, dass
Gretta (wenn auch nicht Margarete,
in Goethes Faust das Symbol für ein
junges naives Mädchen) den feinsinnigen und kränklichen Michael
liebte. Das Problem ist, dass Gabriel
seiner Ehefrau nichts vorzuwerfen
hat; sie hat ihn nicht betrogen, also
konnte er ihr nicht vorhalten, dass
sie eine Ehebrecherin ist. Doch jeder
Mann ist eitel. Gabriel ist so eitel und
intelligent, dass ihm niemand die
89
grausame Wahrheit erklären muss,
dass er sein Leben Gretta gewidmet
hatte, dass er sie behütet und geliebt
hat, aber dass sie ihn nicht annähernd
so geliebt hat wie den Jüngling, über
dessen Grab längst Gras gewachsen
war und der sie mit seinen Liedern
verführt hat. Nach alldem füllten
sich Gabriels Augen mit Tränen. Es
waren keine Tränen eines Verzweifelten oder Schwächlings, sondern
Tränen, die über die Unbegreiflichkeit der Liebe vergossen wurden, mit
solcher Kraft und solchem Ausmaß,
dass sie zerstörten. In der EpiphanieSzene, am Ende der Erzählung steht
Michael am Fenster und betrachtet
den Schnee. „Und während er lauschte, wie die Flocken durch das Weltall
flogen“, schreibt Joyce, „verlor seine
Seele langsam das Bewusstsein, und
der Schnee legte sich leicht auf alle
Opfer und Tote, leicht, als käme ihre
letzte Stunde.“
Es ist merkwürdig zu sagen, dass ich
mich mit Gabriel identifiziere – auch
wenn ich seine in Irland ausgesprochenen Worte als Ersatz für Kroatien
verstand – aber Bücher werden wohl
deshalb geschrieben, damit wir uns
mit jemandem identifizieren oder damit wir uns von jemandem distanzieren. Als ihm Fräulein Ivors scheinbar
naiv vorwirft, dass er für englische
und nicht irische Zeitungen schreibt,
als sie ihn fragt, wie sehr ihm an seiner Muttersprache gelegen sei, als sie
ihn rügt, weil er in Frankreich und
Belgien Urlaub macht statt in seiner
Heimat, bleibt Gabriel nichts anderes übrig als mehrmals zu wiederholen, dass er von seinem Land genug
habe. Und dann, beim Tanzen, flüstert Fräulein Ivors ihrem Partner etwas giftig ins Ohr: Brite! So als ob
jemand in Kroatien in Ermangelung
von aussagekräftigeren Argumenten
seinem Gegenüber vorwerfe, er sei
Jugoslawe. Doch ich fühle wie Gabriel, nicht wie der biblische Erzengel, der Christi Geburt verkündete,
noch weniger wie Peter Gabriel, der
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im Tandem mit der verunsicherten
Kate Bush „Don’t give up“ sang, auch
nicht wie Gabriel Garcia Marquez,
dessen Freunde und Bekannte (darunter Woody Allen und Gordana
Tintor) Gabo nennen, sondern wie
der Gabriel von Joyce. So wie er Anfang des 20. Jahrhunderts irgendwo
am Fenster stand, so stehe ich am
Anfang des 21. Jahrhunderts, einige Tage nach dem Dreikönigsfest [!]
am Fenster und betrachte denselben
Schnee und träume dieselben Qualen, die Joyces Held im Kern seines
Wesens austrug. Ein Held, der so lebendig war, dass er begriff, dass er tot
war, ein Literaturkritiker, der seine
Heimat so sehr liebte, dass sie ihm auf
die Nerven ging, ein Ehemann, der
seine Frau so sehr liebte, dass er sich
dieser Wahrheit nicht stellen konnte, wie er sich mit äußerster Anstrengung mit ihrem lange verstorbenen
Michael auseinandersetzte.
Also, Schnee, nächtliches Schreiben
und Joyce als virtueller Gesprächspartner, an den ich mich zu verschiedenen Anlässen wende und den ich
bei vielen Gelegenheiten treffe, in
Zagreb, in Gesprächen mit meinen
Freunden und Trauzeugen Aleksandar Široki, der jetzt in London mit
Nataša und Ivan Ladislav Galeta (Autor experimenteller Filme, Konzeptkünstler, Übersetzer von Béla Hamvas, Professor an der Kunstakademie) spazieren geht und anderen,
in Pula, Triest und Dublin, Joyces
Heimatstadt, die ich vor vielen Jahren besucht habe. Und Galeta ist es,
der Hamvasas „Ungarischen Hyperion“ ins Kroatische übertragen hat,
in dem dieser Titan und Altersgenosse des altgriechischen Hyperion
erklärt, dass die Zeit kommt, in der
man die Vergangenheit vergisst und
in der das Schreiben wie ein Anachronismus behandelt wird. Vielleicht denke ich mir deshalb diese
Zeilen aus, wegen der Vergangenheit,
die schneller als der Schnee schmilzt
und wegen des Schreibens, das von
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Dossier: Zdravko Zima
elektronischen SMS-Nachrichten ersetzt wird, die die Welt in ein Reich
von halb gebildeten Wesen, Mutanten und Aufschneider verwandeln,
je weiter sie in die Untiefen ihres rachitischen (bösen) Geistes gesunken
sind, desto glücklicher. Die Stunden
verfliegen und ich weiß nicht mehr,
ob es Nacht oder Tag ist. Das ist jenes DAZWISCHEN, eine Stunde vor
der Dämmerung, in der die Welt
neu geboren wird, die Zeit, mit der
Nietzsche am besten zurechtkam.
Es ist schon Mittwoch, und vor einigen Stunden, genauer, in den letzten Minuten des Dienstags, bin ich
von der Konzerthalle Vatroslav Lisinski zurückgekehrt. Das ist der Ort,
den ich am häufigsten aufsuche und
an dem ich mich besser fühle als irgendwo sonst. Vorigen Abend wurde ein Sonder-Konzert anlässlich des
55jährigen Jubiläums der Zagreber
Solisten gegeben. Der Andrang war
so groß, dass ich das Gefühl hatte, zu
einem Konzert eines weltbekannten
Ensembles zu gehen, obwohl sich
die Zagreber Solisten sehr wohl einer großartigen Geschichte rühmen
können. Man muss dazu sagen, dass
diese Geschichte in erster Linie mit
den Jahren verbunden ist, in denen
die Solisten von ihrem Begründer,
dem großen Cellisten Antonio Janigro (1954-1968) geleitet wurden.
Das fünfundfünfzigste Jubiläum ist
eher widerspenstig als rund, aber
wenn man einen Anlass für einen
Neubeginn sucht, der dem Ensemble
den alten Ruhm wiederbringt, dann
darf man schließlich nicht Haare
spalten. Ganz Kroatien schien sich
auf dem Konzert versammelt zu haben. Zwei Reihen vor mir sah ich Präsident Stjepan Mesić in Gesellschaft
des Zagreber Bürgermeisters und nur
einige Stühle weiter, was für ein Zufall, hat es sich Ivo Josipović bequem
gemacht, Komponist und Professor an der Juristischen Fakultät, der
seit kurzem als Anwärter für Mesićs
Nachfolge in der Villa „Zagorje“ auf
TIONS
dem Pantovčak agiert. Ich saß neben
Nedjeljko Fabrio, mit dem ich außer der Küsten-Heimat und literarischen Interessen eine Leidenschaft
für klassische Musik teile. Auf dem
Repertoire waren Werke von Corelli,
Kelemen, Haydn, Golijov, Piazzolla
und Martinú. Am Ende kamen alle
ehemaligen Mitglieder auf die Bühne, um zusammen mit den jetzigen
Solisten Bachs 3. Brandenburgische
Konzert zu spielen. Die Atmosphäre
war festlich, die Ausführung korrekt
(als Solist trat der britische Cellist
Matthew Barley auf ), auch wenn ich
nicht sicher bin, wann das Ensemble
jemals wieder so gut sein wird, wie es
seinerzeit mit Janigro war. Vielleicht
klingt es zynisch, vielleicht banal,
aber diese Möglichkeit schien mir
so aussichtsreich wie die Chancen,
dass Dinamo in naher Zukunft in
die Champions Leauge kommt. Am
Ende wandte sich der künstlerische
Leiter Borivoj Martinić-Jerčić an das
Publikum. Er bedankte sich zuerst
bei den Sponsoren (ich befürchtete
schon, er würde die Zagreber Brauerei und Gavrilović-Salami erwähnen), und dann kamen die Phrasen
über Solisten an die Reihe, die schon
Ebbe und Flut hinter sich haben, die
„Weltmeere“ überflogen (mein Gott,
als gäbe es auch provinzielle, mit dem
bloßen Auge kaum erkennbare Ozeane) und es bis zu ihrem 5 plus 5 Jubiläum gebracht hätten. Ich glaube
nicht, dass ein Konzertmeister ein
erstrangiger Redner sein muss, aber
wenn seine Vorstellungskraft gerade
für eine gelegentliche Rede reicht,
dann kann man kaum glauben, dass
über den Solisten die Aureole von Janigro aufscheinen wird.
Nach dem Konzert traf ich Predrag
(Matvejević) und seine Frau Mira,
die endgültig aus Rom zurückgekehrt sind, und dann stieß ich mit
der Architektin Hilda Auf-Franić an,
die meinen Text über Mirko Kovač
erwähnte, den ich anlässlich seines
70. Geburtstages geschrieben habe.
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RELA
TIONS
Da war natürlich noch Tonko Ninić,
langjähriger Leiter der Zagreber Solisten, mit denen er zweieinhalbtausend Konzerte gehalten hat und
dessen außerordentliche charmante Frau Lavica, Biologieingenieurin
(mit dem Mädchennamen Žajdela).
Tonko erzählte, er lese das Buch „Violine“ von Dalibor Cikojević, Dozent an der Musikakademie in Zagreb. Es ist ein Roman, in dem eine
Violine die Hauptrolle spielt und
Cikojević ist Mitglied des Bläserquartetts Sebastian (in dem er Klavier
spielt!). Der große Magier Zvonimir
Berković, in Gesellschaft seiner Dubravka rezensierte ein Konzert und
Momente später stellte er eine unfehlbare Diagnose des Zustands Kroatiens. Alfi Kabiljo ist regelmäßiger
Gast aller wichtigen Konzerte und
heute Abend konnte er es sich nicht
verkneifen mir von der Oper „Casanova in Istrien“ zu berichten. Er ist
dabei, sie zu Ende zu schreiben und
sie wird Anfang Oktober im Theater
Ivan pl. Zajec in Rijeka uraufgeführt.
Der Feierlichkeit im Lisinski wohnte
auch Damir Janigro bei, Sohn des bekannten Künstlers, der extra zu diesem Anlass aus Kanada angereist war
und der auf vielfältige Weise an Zagreb gebunden blieb. Ich lausche den
Erzählungen über die ehemaligen
Gastauftritte der Zagreber Solisten in
Lateinamerika. Die Tournee war anstrengend gewesen, Janigro erkrankte
und obwohl er einen Monat im Krankenhaus verbrachte, verlangte er, dass
das Honorar ihm allein ausgezahlt
würde. Daran zerbrach die Liebe zwischen den Solisten und dem Maestro
und so unangetastet die Größe Janigros sein mag, so groß sein Verdienst
für den musikalischen Höhenflug
der Zagreber, so sehr zeigt diese Episode, dass jeder aus Fleisch und Blut
ist, und dass man sogar gegen jene,
die Superlative verdienen, etwas einwenden kann. Gegen sie wohl mehr
3
Tagebücher
als gegen solche, die es in ihrer Gewöhnlichkeit nicht weiter bringen als
zum gewöhnlichen Tratsch!
Es ist Mittag, ich sehe die elektronische Post durch. Auch wenn ich mir
keine klassischen Episteln ausdenken (wie zu Zeiten von Hektorović,
Vetranović und Nalješković!), und
auch keine Marken kleben muss,
nicht zur Post gehen und in der
Schlange warten, auch wenn es mir
die Technik erlaubt, auf wichtige
Nachrichten sofort zu reagieren, im
Pyjama, unrasiert und unordentlich,
komme ich mit der Korrespondenz
schwer zurecht. Manchmal weil ich
keine Lust habe, auf jede Nachricht
zu antworten, manchmal weil ich
schlampig oder vergesslich oder faul
bin. Der unermüdliche Hanibal Salvaro hat mir eine Einladung zu seiner Performance unter dem Titel
„Dubrovački limun nade“3 (Dubrovniker Limonade) geschickt. Zuerst
habe ich die Substantive „limun“
und „nada“ unbewusst zu Limonade verbunden, dann zu soap opera,
Seifenoper und Trash. Unglaublich.
Die zweite Assoziation führte mich
zu Glihas Stillleben mit Feigen, das
Saša Vereš in seiner Wohnung eifersüchtig wie seinen Augapfel hütet.
Aber in diesem Fall handelt es sich
nicht (nur) um Kunst. Ich betrachte
das Foto, auf dem man einen Korb
voller gerade gepflückten Zitronen
sieht. Im Hintergrund Oliven und
das offene Meer. Licht. Auch wenn
ich am Mittelmeer geboren bin, vergesse ich an langen nebligen Wintertagen beinahe, dass es so etwas überhaupt gibt. Vielleicht ist es eine Form
von Disziplin, vielleicht Flucht oder
Selbstschutz, wer weiß, denn manchmal scheint das Bedürfnis, sein Leben
in einer stinkigen Stadt zu verbringen
pervers, während sich in Dubrovnik,
der Stadt mit großem Anfangsbuchstaben (aber auch im Norden, eineinhalb Stunden Autofahrt von Zagreb)
91
andere Horizonte öffnen. Das Licht
von Salvores Fotografie suggeriert
zum wer weiß wievielten Male, warum gerade in diesem Teil der Welt
die Zivilisation geboren wurde: hellenisch-heidnisch, jüdisch-christlich
und islamisch-arabisch. Mediterran
bedeutet Mittelmeerraum, für das,
was in der Mitte der Welt ist, unabhängig von der Tatsache, dass die
Globalisierung und die Postmoderne
die Beziehung zu traditionellen geopolitischen Begriffen revolutioniert
und die Grenzen der Selbstbestimmung in eine neue und schwer vorhersehbare Richtung gelenkt haben.
Ich habe noch nie unter irgendwelchen Nationalismen gelitten, unter
Regionalismen oder ähnlichen Fanatismen, doch während ich mir diese
Zitronen ansehe, wiederhole ich in
mir wie ein Mantra: Die Bande des
Blutes sind stark.
Ich starre auf die Computer-Fotografie und kann es nicht glauben. So sehr
ich die Technik immer gehasst habe,
meistens zu meinem eigenen Schaden, so sehr gerate ich bei einer Einladung oder einer digital übermittelten
Illustration in synästhetische Trance.
Ich rieche den Duft der Zitronen,
ich will sie berühren, beinahe zerdrücken, so wie wir so viele Male in
der Fantasie, und wohl auch in Wirklichkeit, Mädchenbrüste gestreichelt
haben, in dem Glauben, dass wir auf
diese Weise Sicherheit und erlangen
würden, die wir von Kindesbeinen
suchten bis zum letzten Atemzug.
Bei alledem ist das Faszinierendste
das Licht. Das Licht, das immer nach
der Dunkelheit (post tenebras lux)
kommt und das Camus’ Meursault
in einen Mörder verwandelte.
Die Zitronen, die die Sinne anregen
und mich in einen primordialen Zustand zurückwerfen, als die Welt den
natürlichen und erneuernden Zyklen
gehorchte, wurden in Mandaljena,
im Verwaltungsbezirk Dubrovnik ge-
Nada heißt im Kroatischen „Hoffnung“, daher ist hier das Wortspiel mit der „Zitrone der Hoffnung“ möglich.
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pflückt. Dort, in einer Villa aus dem
19. Jahrhundert, hatte der tschechische Maler Jaroslav Čermak, der mit
dem jungen Vlaho Bukovac befreundet war, mehrere Male seine Sommerferien verbracht. Viele Dubrovniker hatten enge Kontakte zu Prag:
Auf Prager Bühnen hat Vojnović viele
seiner Dramen aufgeführt, und Bukovac war Professor an der Kunstakademie in Prag und lebte dort bis
zu seinem Tod. Unwillig trenne ich
mich von der Zitrone aus Mandaljena! Selbst der Name des Ortes klingt
nach der süßen Sünde, die Magdalena begangen hat, die Frau, die den
Weg von der großen Sünderin bis zur
ehrlichen Büßerin gegangen ist. Die
Agenda über die Zitronen beende
ich mit der vergeblichen Suche nach
einem Buch. Es ist der Erzählband
„Der Zitronentisch“ (The Lemon
Table), von Julian Barnes, einer meiner britischen Favoriten. Vor zwei
Wochen besuchte Barnes Zagreb. Es
war an einem Samstag, und während
alle nervös dem Unsinn im Fernsehen entgegenfieberten, bei dem der
beste Schlager Europas gewählt wurde und bei dem Severina die kroatische Fahne verteidigte, blieb mir
nichts anderes übrig, als mich auf den
Weg zur Buchpräsentation von Barnes’ Roman „Arthur and George“ zu
machen. Ich erinnere ihn schon seit
„Flauberts Papagei“, den vor langer
Zeit Zlatko Crnković ins Kroatische
übertragen hat. Barnes verbindet Tatsachen und Fantasie auf eine Weise,
die mit heutigen Trends nicht zu messen ist. Vielleicht genügt es zu sagen,
dass er kein Instant-Autor ist, auch
kein Instant-Stern für den einmaligen Gebrauch.
Eine halbe Stunde habe ich auf dem
Markt verbracht, habe Brot (Slawonisches Brot, Schwarzbrot, so nennen es die Verkäuferinnen), Äpfel
und eine Zeitung gekauft. Ich habe
auch Champignons gekauft, die ich
mit Zwiebeln gedünstet und Eiern
zum Mittagessen zubereiten werde.
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Dossier: Zdravko Zima
Eine meiner gastronomischen Spezialitäten! Als ich zurückkomme, sehe ich auf dem Telefondisplay einige unbekannte Nummern. Ich rufe
die Auskunft an. Guten Tag, können Sie mir sagen, wer der Besitzer
der Nummer 2300337 in Zagreb ist?
Nach einer kurzen Pause antwortet
die freundliche Stimme am anderen
Ende buchstabierend: D-U-R-I-E-U-X.
Die Dame hatte mir Buchstabe für
Buchstabe alles durchgegeben. Damit es kein Missverständnis gibt. Jedenfalls habe ich begriffen, wer mich
angerufen hat, auch wenn ich sofort
dachte, dass früher so etwas nicht
möglich gewesen wäre. Ich behaupte nicht, dass die freundliche Dame,
die das Geheimnis der unbekannten
Nummer gelüftet hat, hätte wissen
müssen, wer sich hinter dem Namen oder der Bezeichnung Durieux
verbirgt, aber ein minimales Wissen, eine Intuition oder etwas anderes hätten ihr suggerieren müssen,
dass man es nicht so liest. Vielleicht
übertreibe ich. Ich werde deshalb
ein Beispiel aus der Vergangenheit
anführen. Obwohl, es wäre besser,
wenn ich es überspringen würde,
denn wenn immer sie hören, dass in
Jugoslawien etwas eventuell besser
war, dann bekommen die Zeloten der
neuen nationalen Richtiggläubigkeit
einen Ausschlag. Es ist lange her, Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts (und vergangenen
Jahrtausends!). Ich war Student bei
Jure Kaštelan, der einer der beliebtesten Professoren in der Geschichte
der Philosophischen Fakultät war.
Weniger aus dem Grund, weil er ein
außerordentlicher, sogar Staatsdichter war (letztere Qualifikation konnte
ihm in jener Zeit nur schaden), aber
vielmehr wegen seiner Weisheit und
Feinheit, die auf eine Weise im Widerspruch zum Status eines Kriegsveteranen standen, eines Befreiungskämpfers und Mitglieds höchster politischer Foren im kommunistischen
Jugoslawien. Von der Hochmütigkeit
TIONS
und Arroganz, die für Typen mit diesem Pedigree typisch war, war bei Jure
keine Spur. Außerdem nannten wir
ihn alle bei seinem Vornamen, Jure,
denn so war er. Er rief Respekt und
Bewunderung hervor, und sie waren
weder durch Macht noch durch gesellschaftlichen Status erzwungen,
sondern durch ihn selbst. Heute würde man sagen, er hatte Charisma,
und Jure hatte es in der Tat und trug
es elegant und nonchalant, so wie er
sein Cord-Sakko trug.
Wir waren Erstsemester. Ich erinnere mich an die erste Begegnung
mit Doktor Jure, ordentlicher Professor für Literaturtheorie, in Saal 3
der Zagreber Philosophischen Fakultät, in der Ivan-Lučić-Straße (damals
Đure-Salaja-Straße). Jures Auftreten
und sein Habitus standen im Gegensatz zu seiner Rolle eines Hochschulprofessors, von dem man immerhin Autorität und Willkür erwartete. Wenn er unterrichtete, sprach er
klar und leise, mit Zäsuren, die von
seiner Bescheidenheit und Introvertiertheit herrührten. Der echte Jure
war das eine, und die Figur des Befreiungskämpfers Partisanendichters
und Parteifunktionärs – womit er
klarkommen musste – etwas ganz anderes. Wenn er den Saal betrat, nahm
er die Kreide in die Hand. Einige Augenblicke später sah ich auf der Tafel
Wörter und Pfeile. Es stand etwa geschrieben: Bibel – Dante – Cervantes
– Shakespeare – Goethe – Dostojevski – Kafka. Es war ein Grafikon, das
einigen Studenten die Kontinuität
darstellen sollte, die die westeuropäische Literatur kennzeichnete. Ich
sage nicht ihre Entwicklung, denn
die Literatur operiert so wenig wie
die Kunst allgemein mit der Kategorie Entwicklung. Jure lehrte leise,
als sei er in einer Kirche und nicht in
einem Universitätssaal, in dem ihm
eine Masse junger und betrogener
StudentInnen zuhörte. Einmal rief
ein Zuhörer: Professor, lauter! Jure
drehte sich um und entgegnete kalt-
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RELA
TIONS
blütig, er werde seine Stimme schon
erheben, wenn es etwas Wichtiges gäbe. Warum ich das schreibe? Einige
Male besuchte ich Jure, als er noch
im Holzhaus auf dem Iblerplatz lebte. Und dann zog er in die Ilica Nummer 12. Wenn er seine Wohnung
gewechselt hat, dann wohl auch seine Telefonnummer. Das dachte ich
zumindest, ohne zu wissen, dass er
das Privileg hatte, als verdienter Bürger und Dichter par excellence seine
Nummer zu behalten. Jedenfalls rief
ich die Zentrale an und fragte nach
seiner Nummer. Zuerst musste ich
den Nachnamen sagen, erst dann den
Vornamen, obwohl ich zuerst den
Vornamen und dann den Nachnamen sagte. Kaštelan, aber nicht der,
der das Kastell (castellum) oder eine
Burg behütet, auch kein Baumeister,
obwohl ein Dichter immer auch ein
Baumeister ist oder eine Art Konstrukteur. Es kam zum Missverständnis, Kaštelan, fragte die Stimme wieder am anderen Ende der Leitung.
Ich erinnere mich nicht, was ich
geantwortet habe, es sah so aus, als
werfe ich dem anonymen Telefonisten vor, dass er keine Ahnung habe,
wessen Nummer ich suchte. Und
dann ereignete sich ein Wunder, ein
Lichtmoment, den ich noch heute
erinnere. Der beleidigte Mann begann, Jures Verse zu zitieren! Ich war
entzückt und wir trennten uns wie
Freunde, auch wenn wir uns nie gesehen haben.
Was Jure für Oton Gliha folgerte
(noch ein Ausnahme-Künstler, den
ich das Glück hatte kennen zu lernen), dass er „den eigenen Traum
und Wirklichkeit aufschreibt“, kann
man mit viel Grund auf ihn selbst anwenden. Ein Ereignis werde ich nie
vergessen. Vielleicht klingt es ungewöhnlich, aber ich denke an die Beerdigung von Dobriša Cesarić. Jure
und Dobriša waren enge Freunde
und es verstand sich von selbst, dass
4
Tagebücher
beim letzten Abschied auf dem Friedhof Mirogoj Jure die Grabrede sprechen würde. Ich muss hinzufügen,
dass ich schon immer an Tadijanovićs
Pedanterie (nicht nur an seinem unerhörten und hartnäckig aufrecht
erhaltenen Narzissmus, der an Infantilität grenzte) verzweifelte, ich
wunderte mich über sein Bedürfnis,
jede Kleinigkeit zu registrieren und
jedes Datum zu notieren, doch dann
begriff ich, dass auch sie ihre Gründe hatte. Tadijas4 anthologischer Gegenpart Dobriša, dem gegenüber er
gewisse Komplexe hatte, starb am 18.
November 1980 und der Zufall wollte, dass an diesem Tag Jure Kaštelan
geboren ist. Solche Kalenderzufälle,
von denen ich einen erwähne, in Tadijas Nachlass in der Gajeva 2A, gibt
es sicher in Hülle und Fülle. Ein Jahr
neigte sich also dem Ende zu und ich
machte mich auf den Weg zu Mirogoj. Der kalte Wind kam vom Sljeme
und über dem offenen Grab seines
Freundes stand Jure. Sein Stakkato
und die Pausen, die sich zwischen
den Wörtern häuften, schienen mir
ausgeprägter als sonst. Ich erinnere
mich nicht, ihn jemals so erschüttert gesehen zu haben. Und so inspiriert. Hab Acht, Charon, ermahnte
er den Fährmann, der die Verstorbenen über den Styx schiffte, schon
lange sind in deine Hände nicht solche Geschenke gelangt. Dann erfolgte der letzte Abschied von Dobriša,
und als er den obligatorischen aber
in der damaligen Zeit unerwarteten
Satz aussprach – möge dir die kroatische Erde leicht sein – durchzuckte es mich. Nicht nur mich. Es war
eine Begegnung mit der Ewigkeit,
erschütternd und unvorhergesehen,
scheinbar konventionell, aber keineswegs inszeniert. Ich will damit sagen,
dass zu so etwas nur Jure Kaštelan in
der Lage war.
Ich idealisiere keine Zeit, aber damals konnte der Genosse Telefonist
93
Kaštelans Gedichte auswendig, und
heute bricht sich die Dame bei der
Telefonauskunft die Zunge beim Aussprechen des mysteriösen Durieux.
Wer oder was ist das? Durieux ist
ein Verlag aus Zagreb, den Anfang
der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Nenad Popović
gegründet hat. Ich werde nicht alle
Titel aufzählen, die er veröffentlicht
hat, wichtige und wertvolle, aber
ich werde bei dieser Gelegenheit,
in etwas so Intimem und Egozentrischem wie dem Tagebuch [!] erwähnen, dass er 1993 meine Feuilletonsammlung „Zagreb ist an allem
schuld“ veröffentlichte. Doch Durieux ist und bleibt ein Rätsel. Nenad
Popović nannte seinen Verlag so, um
die Erinnerung an Tilla Durieux zu
bewahren, eine der größten Schauspielerinnen des 20. Jahrhunderts.
Das Schicksal führte sie von ihrem
Geburtsort Wien nach Olmütz, Paris, Berlin, Moskau, New York und
andere Städte, doch eine besondere
Etappe auf ihrer Reise war ihr Aufenthalt in Zagreb, in dem sie zwei
Jahrzehnte verbrachte (von 1933, als
Hitler an die Macht kam, bis 1952
und 1955). Sie war (Anti-) Star und
Blaustrumpf, eine Linke und Rebellin, in gewisser Weise mit Alma Mahler vergleichbar; wegen ihrer Wiener
Wurzeln und fanatischer Hingabe an
die Kunst, aber auch wegen berühmten Persönlichkeiten, die in beträchtlichem Maße ihre Wege bestimmten.
Alma war mit Gustav Mahler, Walter
Gropius und Franz Werfel verheiratet
(für die Liebhaber ist hier kein Platz),
Tilla schwor zunächst dem Maler Eugen Spiru Treue, heiratete dann den
Kunsthändler Paul Cassirer, einen
Verwandten des Philosophen Ernst
Cassirer und beim dritten Mal versuchte sie ihr Glück mit dem Industriellen Ludwig Katzenellenbogen,
der 1941 in den Fänge der Nazis geriet. In ihren Zagreber Jahren führte
Spitzname des Dichters Dragutin Tadijanović.
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sie ein Hotel in Opatija, lehrte am
Mozarteum in Salzburg und ließ sich
auf allerlei Unternehmungen ein. In
der Hauptstadt des NDH5 strickte sie Strümpfe und Mützen für die
Partisanen, nach dem Krieg arbeitete
sie als Schneiderin im Marionettentheater und zu Zeiten der Kriegsnot
war sie sich nicht zu fein Kaninchen
zu züchten.
All das scheint wie ein Märchen,
besonders wenn man weiß, dass sie
mit Max Reinhardt und Erwin Piscator arbeitete und von Persönlichkeiten umgeben war wie Gerhart
Hauptmann, Franz Wedekind, Else
Lasker-Schüler, Ernst Toller, Peter
Altenberg, Heinrich Mann, Anna
Pavlova, Vaclav F. Nijinsky und andere. Zu dieser unglaublichen (Prima)Donna gibt es einiges zu sagen.
Doch auch das genügt um zu begreifen, warum Popović seinen Verlag ausgerechnet Durieux genannt
hat, und was die Ausspracheprobleme meiner Telefongesprächspartnerin verursacht hat. Am meisten erheiterte mich Nenad Popović, als er
mir erzählte, welches Durcheinander
sich ereignete, als ihn fragwürdige
Partner anriefen, die Durieux mit
Durex verwechselt hatten, der Fabrik für Kondome und andere Ballons.
Wenn sich Nenad Popović einer solchen Gummikunst zugewandt hätte,
wo wären seine Grenzen? In Zagreb
pflegte man früher die kroatische
und auch deutsche Sprache, und seine Bewohner irren heute durch die
Stadt und suchen die Heinzel-Straße
(wieder nach Vuk), ohne zu ahnen,
dass Vjekoslav Heinzel Architekt war,
gebürtiger Zagreber und langjähriger Bürgermeister, eine Art Milan
Bandić. Gestern oder vorgestern sah
ich die Serie „Ausgerechnet Alaska“.
Zugunsten der Tatsache, dass dies eine der wenigen erträglichen Sendungen ist, mal davon abgesehen, dass
es mitten in der Nacht gezeigt wird,
5
RELA
Dossier: Zdravko Zima
wenn nur Mondsüchtige und Polizisten wach sind, überspringen wir die
Werbung, mit der die Redakteure das
Publikum (bzw. Republik) alle zehn
Minuten terrorisieren. In einer Situation, in der sich zwei Brüder, hilflos
um ein Gentleman-Image ringend,
wegen eines Mädchens streiten, erklärt letzterer, dass sie zu der und der
Zeit studiert hätte, als Frau Michel
Foucault lehrte. So entdeckte ich zu
dieser nächtlichen Stunde, dass einer
der einflussreichsten strukturalistischen Denker, Nietzsches Nachfolger, interdisziplinärer Forscher, der
sich den Fragen der Linguistik, dem
Wahnsinn, der Sexualität und Pönologie verschrieben, einfach sein
Geschlecht geändert hat. Ich weiß
nicht, warum ich davon ausgehe,
dass eine Frau die Serie übersetzt
hat, jedenfalls habe ich ein ideales
Schlagwort für Feministinnen: die
diplomierte Anglistin hat nicht nur
Foucault nicht gelesen, sondern auch
nichts von ihm gehört. Aber von den
„Beatles“ hat sie gehört und dem Lied
„Michelle“ und da Lennon und McCartney hauptsächlich auf das weibliche Geschlecht konzentriert waren,
so ist auch Michel Foucault in einer
nächtlichen Übersetzerglanzleistung
ein Transvestit und Perverser geworden, der Probleme mit seiner Identität hat. Vollkommen in Einklang damit, worüber er geschrieben hat und
im Geist der Zeit, die uns im Einzelnen und Ganzen bestimmt ist. Und
schlussendlich, die neue First Lady
der Vereinigten Staaten, der dieses
Attribut auch offiziell in einigen Tagen zuteil wird, am 20. Januar, heißt
genauso: Michelle (Obama). Und
Michelle Pfeiffer; Verzeihung, wäre
es etwa höflich, so eine Schönheit
und Schauspielerin zu umgehen? Im
Jahrhundert der Mutanten und des
Klonens scheinen Komplikationen
mit männlichen und weiblichen Genen oder männlichen und weiblichen
TIONS
Namen überflüssig. Der Ignoranz der
neuen Übersetzer nach zu urteilen,
die uns Durstige über das Wasser
schiffen, scheint auch Rainer Maria
Rilke nicht zu wissen, ob er ein Mann
oder eine Frau ist. Oder beides. Deshalb hat er auch Verse geschrieben,
die sich jenseits von Zeit bewegen
und von Grenzen, die durch etwas
so Gewöhnliches wie Geschlecht bestimmt sind.
François-RENÉ de Chateaubriand,
RENÉ de Obaldia, RENÉE Zellwegger, RENÉE Fleming, RENÉ Bakalović! Mir wird schlecht von den
Accents und Doppelvokalen, aber
ich werde genau sein; an erster Stelle ist der französische Schriftsteller,
der Autor des Romans „René“, in
dem er sich selbst porträtiert und
seine Generation, dann der französische Dichter und Erzähler, bei uns
durch die Boulevardstücke bekannt,
die damals Vlasta Gotovac übersetzte, die erste Frau von Vlado Gotovac,
dann die amerikanische Schauspielerin (Tochter eines Schweizers und
einer norwegischen Lappin) sowie
die gleichnamige Landsmännin, die
berühmte Sopranistin, die den Zyklus direkter Opernübertragungen
aus dem Metropolitan leitet, die wir
nur im Lisinski in high definition ansehen können. Und schließlich unser
Landsmann, der durch Texte auf alle möglichen Arten bekannt wurde,
vielleicht aber am meisten durch gastronomische und hedonistische Magenthemen. In diesen Tagen ist er von
Worten zu Taten übergegangen, mit
der Eröffnung eines Weinklubs, der
statt einer Garantie seinen Namen
trägt. Der Klub befindet sich mitten
im Zentrum, in einer Lage, die obligatorisch ein sehr gutes, wenn nicht
sogar ausgezeichnetes Lokal vermuten lässt. Ich hoffe inständig, dass
sich die Garantie, das heißt Renés
Name nicht als wertlose Buchstaben
auf dem Papier zeigen.
Nezavisna Država Hrvatska; Unabhängiger Kroatischer Staat, 1941 auf Initiative des Dritten Reiches gegründet.
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RELA
TIONS
Dienstag, 20. Januar
Vor zwei Tagen, auf den Tag genau,
ist meine Mutter gestorben. Ich bin
kein Held aus Camus’ Roman, der
nach dem Tod seiner Gebärerin ruhig ins Kino geht, aber ich bin auch
keiner von jenen, die mit Gefühlen
prahlen, sie servieren und wie ein
Essen auf dem Tablett anbieten. Die
Gefühllosigkeit, die in einem solchen Moment Meursault, der Held
aus „Der Fremde“ ausdrückte, sollte
den Geist der Zeit widerspiegeln (der
Roman entstand während des Zweiten Weltkriegs), die Gleichgültigkeit
gegenüber menschlichen Wesen und
Institutionen sind aus der Überzeugung hervorgegangen, dass die Wirklichkeit nachhaltig von Lügen kontaminiert ist. Womit sie heute kontaminiert ist, würde ich nur zu gern herausfinden. Ich weiß nicht, wie sehr
ich mich in den vergangenen Jahren
verändert habe, seit meiner frühen
Kindheit, Jugend bis zur Reife, mittleren Alter und im Alter, in dem mich
schon die Panik ergreift. Ich weiß
nicht, wie gut oder schlecht diese
Änderungen waren, ich bin nicht sicher, ob ich überhaupt in etwas sicher
bin. Ich weiß nur, dass die Veränderungen, die nach Mutters Weggehen
eintraten, groß und quälend waren.
Meine Mutter wusste, welche Rebellion ich in mir trug, das heißt vielmehr, welchen Hass gegenüber Institutionen, oder dem, was die Macht
bestimmt. Deshalb hatte sie immer
Sorge um mich, behandelte mich wie
ein Kind und nervte mich mehr, als
ich ertragen konnte. Jeder Mensch
hat seine guten und schlechten Seiten. Das ist bei mir nicht anders. Ich
hoffe, auch eine gute Seite zu haben,
aber was ich behaupten kann, jedenfalls auf den Seiten eines Tagebuchs,
ist, dass ich gegen jedwedes Gefühl
der Beherrschung und Überwachung
geimpft bin und dass mir alle balkanischen Machthaber gehörig auf
6
Tagebücher
die Nerven gegangen sind. Jedenfalls diejenigen, die ich an der eigenen Haut erleben musste, und wenn
man Matoš Glauben schenken darf
(wem, wenn nicht ihm?), der unerbittlich gegen Wien und Österreich
wetterte, dann war wohl auch die
vor sich hin dösende Franz-JosephMonarchie ein Mythos. Ich erinnere
mich an Stjepan Čuić, mit dem ich
damals eng befreundet war. Stipe
hatte Probleme mit der kommunistischen Regierung (ich auch, danke
der Nachfrage), sodass er eines seiner
Bücher buchstäblich der Regierung
widmete. Es war ein geistreicher Einfall, umso mehr als seine erste Frau
Vlasta6 (Gracin) hieß. Unabhängig
von den Frauen könnte Stipe seine
Widmung wiederholen, denn die aktuelle Regierung/Vlasta ist ihm näher
ans Herz gewachsen als die damalige.
Aber lassen wir das.
Mit der Regierung hatte ich immer
so meine Probleme, und meine Mutter gehörte eigentlich auch zur Regierung. Sie war „Má vlast“, oder meine
Heimat, wie Smetana seinen bekannten Zyklus von sechs Symphonieliedern nannte. Außerdem suggeriert das
Synonym, das eigentlich keines ist,
diese Regierung, die in Tschechisch
das eine, im Kroatischen etwas ganz
Anderes bedeutet, aber doch wieder
verdammt ähnlich ist, dass es sich um
eine schwer lösbare Aporie handelt.
Die Mutter ist das, woran ich mich
immer annähern wollte, vor dem ich
aber auf irgendeine Weise, getragen
vom Bedürfnis nach Freiheit, geflohen bin. Ich erinnere mich an den
Tag, an dem meine Mutter starb.
Es war ein Sonntag, der schlimmste
Tag der Woche (Stanislav Šimić hat
das Gedicht „Untaten des Sonntags“
geschrieben). Ich fuhr mit dem Taxi zum Krankenhaus in der ZajčevaStraße, als mein Handy klingelte. Wo
bist du, fragte mein Bruder Željko. In
ein paar Minuten bin ich im Kran-
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kenhaus, antwortete ich. Du musst
nicht kommen, sagte er, rücksichtsvoll, um abzumildern, was sich seit
Jahren anbahnte, wofür wir aber dennoch nicht bereit genug waren. Ich
kann dies und jenes tun, ich kann
Gleichgültigkeit vorspielen oder wer
weiß was, aber die Wahrheit ist, dass
mit Mutters Weggang ein großer Teil
meiner Welt begraben wurde. Meine
Mutter war die Verbindung zwischen
mir und der Insel Krk, zwischen mir
und Amerika (wo ich Verwandte habe), sie war die Verbindung zwischen
mir und einer Welt, die schon lange
verschwunden ist, die sie aber in ihrer
Erinnerung bewahrte, so wie sie fürsorglich die Möbel und ihre Porzellanfiguren polierte. Jean Chevalier &
Alain Gheerbrandt behaupten, dass
das Meer ein Symbol für den mütterlichen Körper sei, und ich weiß nicht,
ob ich jemals jemanden oder etwas
mehr geliebt habe als meine Mutter
und das Adriatische Meer. Natürlich
liebe ich meine Kinder, aber das ist
etwas anderes. Die Mutter ist Schöpferin und Würgerin, wie das Meer, etwas Kostbares, das mit seiner Wärme
erdrückt, sie verkörpert eine Summe von Möglichkeiten, vor denen
wir fliehen und doch immer wieder
zurückkehren. Seit es meine Mutter
nicht mehr gibt, die liebe Draga, höre
ich kaum noch oder gar nicht mehr
das Requiem von Mozart. Ich höre
auch nicht mehr das von Palestrina,
Bruckner, Verdi, Dvořák und Fauré.
Auch nicht Brahms’ Ein deutsches
Requiem. Die Legenden von Mozarts Requiem und seinem Auftraggeber haben die Grenzen der klassischen Musik längst überschritten,
und unter allen möglichen Versionen
möchte ich die Ausführung der New
Yorker Philharmonie unter der Leitung von Bruno Walter hervorheben,
dem bekannten Wiener Dirigenten
und Mahlers Schützling. Nach seiner
Rückkehr aus Wien verriet mir der
Vlast heißt im Kroatischen Regierung.
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musikbegeisterte Nedjeljko Fabrio
(den ich privat Domenico nenne),
dass das Orchester 1756, nach Mozarts Geburtsjahr benannt, in einer
Saison ausschließlich sein Requiem
aufführt. Dieses Wunder ereignet
sich in der Karlskirche, schon mehr
als vierzig Mal! Der Eintritt kostet 36
Euro. Kinder und Studenten zahlen
nur 26 Euro. Das Orchester wurde in
dem Jahr gegründet, in dem Österreich und die ganze Welt auf unterschiedliche Weise das 250. Jubiläum
von Amadeus’ Geburt feierten. Seine Mitglieder spielen ausschließlich
Musik der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts und durch intensives
Üben und Spielen von historischen
Instrumenten haben sie den unvergleichlichen Mozart-Klang erreicht.
Während ich das schreibe, gehe ich
zur Hi-Fi-Anlage. Ich will die Sopranistin Anna Netrebeko in der bekannten Arie „O mio babbino caro“
aus der Oper „Gianni Schicchi“ hören. Wie oft hat sie meine geliebte
Draga gehört und gesungen! Es geht
nicht nur um die Schönheit von Puccinis Arie; in der Zeit, in der meine
Mutter sie gesungen hatte, glaubte
ich, dass ich alle Bücher lesen, alle Städte sehen und die ganze Welt
bereisen würde. Es war eine Zeit, in
der das Leben zwar kurz schien, aber
trotz allem glaubte ich, dass es für
mich unendlich sein würde. Meine
Mutter liegt jetzt auf Mirogoj, mit
ihrem Mann und meinem Vater. Sie
sind im jüdischen Teil des Friedhofs
und wenn ich ihn besuche, sehe ich
immer zuerst das Moses-Denkmal,
der den Pentateuch in seinen Händen hält. In der Nähe ist die letzte
Ruhestätte von Veselko Tenžera und
Bert Goldstein und seinem Vater,
der ein Freund meines Vaters war.
Nach dem Besuch meiner Liebsten,
widme ich mich gewöhnlich den
kroatischen Schriftstellern. Krleža
war in der Nähe, in einem Grab, das
7
RELA
Dossier: Zdravko Zima
nach seinem Entwurf Josip Vaništa
und der Architekt Radovan Nikšić
entworfen haben. In diesem Sammelbecken der Toten in Zagreb, das
nach seiner Definition eine makabre Stadt ist (sie ist za-greb, oder, mit
anderen Worten, za-grobom7), unter Dichtern und Literaten, besuche
ich meistens die Gräber von Matoš
und Lunaček. Die Gründe für diese
Sympathien habe ich bei vielen Gelegenheiten erklärt, sodass es überflüssig ist, das zu tun, auch in diesen
äußerst privaten nächtlichen/morgendlichen Agenden.
Mittwoch, 21. Januar
Barack Hussein Obama ist gestern
offiziell Präsident der Vereinigten
Staaten geworden, und nach einem
doppelten Mandat ist George Walker Bush nach Texas zurückgekehrt.
Die kroatischen Politiker haben in
den letzten Jahren so sehr mit dem
Schwanz gewedelt und auf jede Regung aus dem Weißen Haus geantwortet, dass man meinen könnte, er
sei auch unser Präsident geworden.
Auch die Grenzen sind nicht mehr
das, was sie mal waren, die Verstrickungen um die Bucht von Piran
sind Beweis genug. Ich bin kein Zyniker, besonders wenn es um den
Mann geht, der ein anderes Amerika symbolisiert (in jedem Fall ein
anderes als das von Bush), und dessen Erscheinung epochal ist, unabhängig davon, was in der Zukunft
geschehen wird und was aus vielen
Gründen undankbar ist oder unmöglich vorherzusehen. Alle fragen
sich, was wird Obama tun? Dabei ist
das, was er getan hat, schon genug.
Er hat gezeigt, dass es außer dem
Fünfdollar- und Öl-Ranger noch ein
anderes Amerika gibt, nicht nur ein
weißes sondern auch negrides, hispanisches, transasiatisches und so
weiter. Das heißt, wir leben in einer polyzentrischen Welt, die ein
TIONS
ebenso polyzentrisches Denken voraussetzt. Wer verkörpert sie besser
als Obama, Sohn eines Kenianers
und einer Amerikanerin, geboren in
Hawaii, lebte in Indonesien und in
den Armenvierteln von Chicago und
wurde Senatsmitglied im Staat Illinois. Alles andere ist Geschichte. Wie
kann ein durchschnittlicher Kroate
mit durchschnittlicher Bildung und
durchschnittlicher Menge eingeimpften Nationalismus begreifen, was sich
im mächtigsten Staat der Welt ereignet? Aber lassen wir die Vereinigten
Staaten. Obama hat Indonesien kennen gelernt, das mit 240 Millionen
Einwohnern das viertgrößte Land
der Erde ist (nach China, Indien
und den Vereinigten Staaten). Dieser
Inselstaat, zwischen dem Indischen
und Stillen Ozean, zwischen Australien und dem Südchinesischen Meer,
umfasst mehr als 17 Tausend Inseln. Worin besteht die Ähnlichkeit
zwischen einem durchschnittlichen
Yankee und einem durchschnittlichen Kroaten? Weder der eine noch
der andere kann Indonesien auf der
Karte finden. Wenn wir glauben, dass
Quantität in einer bestimmten Phase
in Qualität übergeht (was eines der
Gesetze der Dialektik ist), wenn die
Pythagoräer mit ihrer Zahlenlehre
und der Rückführung der Wirklichkeit auf das quantitative Substrat
nicht Unrecht hatten, dann muss
man begreifen, dass sich die Welt aus
der panamerikanischen Perspektive
bedeutend anders darstellt als der balkanischen, auf die nationale Enklave
begrenzte Perspektive.
Selbst wenn ich rein gar nichts über
Obama wüsste, hätte die Tatsache,
dass ihn bei seinem Rennen um die
Nominierung bei den Demokraten
Bob Dylan und Bruce Springsteen
unterstützen, genügt um zu begreifen, um welche Persönlichkeit es sich
handelt. Die gestrige Amtseinführung war in vielem unvergleichlich
Wörtlich: nach, jenseits des Grabes.
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TIONS
mit jedem Ereignis dieser Art. Eine
solche Begeisterung konnte nur ein
Politiker wecken, der Amerika zu
seinen liberalen Ursprüngen führen
will. Man muss nicht zusätzlich erwähnen, dass jeder positive Schritt in
den Vereinigten Staaten einen positiven Schritt in der ganzen Welt bedeutet. Ich gebe nichts auf äußere Effekte, ich bin kein Anhänger von Massenversammlungen, doch das, was in
Washington geschehen ist, entzieht
sich den üblichen Qualifikationen
und insbesondere den Disqualifikationen, die meistens mit der Psychologie der Massen verbunden sind. Hat
nicht schon Gustave le Bon erklärt,
dass die Methoden der Inquisition
die Methoden aller sind, die wahrhaft glauben, hat er nicht explizit
geschrieben, dass das Dogma des allgemeinen Wahlrechts dieselbe Macht
hat, die einst die christlichen Dogmen hatten? Es ist ein abgelutschter
Truismus, dass die Massen den Herrn
instinktiv identifizieren, so wie Schafe ihren Hirten erkennen.
Auch wenn ich nie Politiker favorisiert habe, möchte ich glauben, dass
Obama jemand anderes ist. Wenn es
keine Zufälle gibt, wenn es kein Zufall
ist, dass ein Marmeladenbrot immer
auf die beschmierte Seite fällt, dann
ist die Tatsache, dass den Vereinigten
Staaten genau zu diesem Zeitpunkt
Obama geschehen ist, nicht ohne
Bedeutung. Wenn seine Landsleute
wenigstens einen Teil der Begeisterung bewahren, die sie am Dienstag
zeigten, wenn ein Tausendstel der
Atmosphäre, die über dem weißen
Gebäude des Kongresses herrschte
(auf dessen Westseite die Zeremonie
der Amtseinführung gehalten wurde) in den Alltag hinübergerettet
wird, dann wird Amerika eine bessere Richtung einschlagen. Und mit
ihm die ganze Welt. So help me God !
Aber es ist schwer in rosa Farben auszumalen, was sein könnte, denn nach
dem kurzen Streifzug in Washington
folgt die Rückkehr in die kroatische
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Tagebücher
Reality-Show. Die Zurückhaltung,
mit der das offizielle Zagreb Obamas Machtantritt in den Vereinigten Staaten verfolgte, grenzt an Unhöflichkeit, wenn nicht an Primitivität, die in unseren Breitengraden
erstaunliche Wurzeln hat. Ein uneingeweihter naiver Mensch könnte
vielleicht denken, dass der Präsident
von Serbien oder einer ähnlichen
balkanischen Enklave inthronisiert
und nicht der Chef einer globalen
Supermacht in sein Amt eingeführt
wurde. Man muss kein Spezialist für
amerikanische Politik sein, um zu
begreifen, dass Obamas Erscheinen
aus vielen Gründen exemplarisch ist.
Doch alles wäre anders, wenn ein Republikaner ins Weiße Haus eingezogen wäre. Dann hätte man in Zagreb
gefeiert und alles wunderbar gefunden. Da beginnt und endet die Diskussion über das heutige Kroatien,
ihren Politikern und dem herrschenden Verständnis von Demokratie, das
nicht weiter reicht als das Bild eines
ideologisch zementierten und einseitigen Staates.
Samstag, 24. Januar
Ich sitze im Großen Lisinski-Saal und
warte auf die Satelliten-Übertragung
aus dem New Yorker Metropolitan
in high definition Technologie. Auf
dem Programm ist Glucks Oper „Orpheus und Eurydike“. Die Geschichte ist seit Ovids „Metamorphosen“
bekannt. Eurydike wurde von einer
giftigen Schlange getötet. Orpheus
beweint den Verlust der geliebten
Frau, und seine Liebe berührt Amor
so sehr, dass er ihm erlaubt, in den
Hades hinabzusteigen. Bei der Rückkehr aus der Unterwelt vergisst Orpheus Amors Ermahnung, dreht sich
um, und Eurydike stirbt zum zweiten Mal. Orpheus singt die bekannte
Arie „Che farò senza Euridice?“, die
Götter sind wieder berührt und das
Happy End ist sicher. Der Dirigent
ist James Levine, Regisseur Mark
Morris und in den Hauptrollen tra-
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ten die Sopranistin Danielle de Niese
(Eurydike) und die Mezzosopranistin Stephanie Blythe (Orpheus) auf.
Bei der Uraufführung 1762 in Wien
stand Gluck einer der besten Kastraten jener Zeit zur Verfügung, der Alt
Gaetano Guadagni, für den Händel
Arien im „Messias“ und „Samson“
schrieb. Ich war noch nie technikverliebt. Auch heute nicht, doch dank
der virtuellen Welt tröste ich mich,
dass ich in New York bin.
Sonntag, 25. Januar
Zu später Nachtstunde sehe ich einen amerikanischen Film „Smoke“.
Nach der Vorlage von Paul Auster
im Jahr 1995 von Wayne Wang. Ich
weiß nicht, warum ich ihn mir wieder ansehe; aus Bequemlichkeit, die
das Fernsehen ermöglicht oder weil
der Film so gut ist, dass man ihn mehrere Male sehen kann. Die Handlung
ist zum großen Teil auf ein Zigarettengeschäft in Brooklyn konzentriert, in dem der Besitzer Auggie
(Harvey Keitel) mit seinen Kunden
kommuniziert. Der Film ist als eine
Kette von Geschichten strukturiert,
und am meisten hat mich der Teil
mit dem Schriftsteller Paul Benjamin (William Hurt) fasziniert. Paul
ist in großer Verzweiflung, weil seine Frau gestorben ist. Einmal rettet
ihn vor einem heraneilenden Lastwagen der junge Rashid. Paul erzählt
Rashid zwei Geschichten, realistisch
und fast fantastisch, und zeigt dabei,
wie sehr ein Schriftsteller mit seinen
Helden lebt und von der Suche nach
einer Fabel besessen ist. Die erste bezieht sich auf einen Amerikaner, der
beim Skifahren auf einem Berg verunglückte. Zwanzig Jahre später fuhr
auf demselben Berg sein Sohn Ski
und erkannte im Eis sein totes Antlitz. Er sah eigentlich seinen hibernisierten Vater, den Vater, der jünger als
der eigene Sohn geworden war. Die
zweite Geschichte spielte 1942 in Leningrad, zur Zeit der deutschen Okkupation, als in dieser Stadt etwa ei-
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ne halbe Million Menschen starben.
Die Bewohner Leningrads waren gefangen und ihrer Grundbedürfnisse
beraubt. Dort lebte in dieser Zeit
der bekannte Literaturkritiker und
Linguist Mihail Bahtin. Er war leidenschaftlicher Raucher, und als er
keine Zigaretten mehr hatte, stellte
er sie her, indem er Tabak in die Manuskriptblätter seines neuen unveröffentlichten Buches drehte. Diese
unglaubliche Episode scheint unvollständig ohne die Erinnerung and die
Takte von Schostakowitschs Siebte
Symphonie, der bekannten Leningrader. Der Film endete um zwei Uhr
nachts. Natürlich die einzige Zeit, zu
der man das staatliche Fernsehen sehen und ertragen kann.
Mittwoch, 28. Januar
Heute ist der 75. Geburtstag von Danijel Dragojević. Wenn er ein Sänger wäre, wie sein Landsmann, der
Korčulaner Oliver, wäre ganz Kroatien auf den Beinen. Aber so regt sich
nicht einmal das literarische Kroatien, obwohl daran die offiziellen Institutionen weder schuld noch verdient sind. Danijel mag keine Publizität, er will keinen Pomp, sodass
in diesem Fall jeder beharrliche Versuch zum Scheitern verurteilt ist.
Es ist nicht gut, wenn man ihn ignoriert, aber auch nicht, wenn man
ihn nicht ignoriert. Das steht in der
Beschreibung, was seine Person ausmacht, was neben dem Reiz seines
Werks zu Dragojevićs Ruhm beigetragen hat, ein Ruhm, der in Zagreb
mit den Jahren Ausmaße einer Legende angenommen hat. Vor mehr
als dreißig Jahren lernte ich in einer
Passage, die einerseits die Illica mit
der Bogović-Straße, auf der anderen
die Gajeva-Straße mit der Petrićeva-Straße (einstmals MarinkovićevaStraße) verbindet, viele Zugehörige der Krug-und Razlog-Generation
kennen. Es ergab sich, dass Danijel
8
RELA
Dossier: Zdravko Zima
Dragojević nirgendwohin gehörte,
außer sich selbst, mit dem, was er
träumte und womit er ins Staunen
versetzte, seine Befürworter manchmal auch vor den Kopf stieß. Er ging
seinen Weg mit der Hartnäckigkeit
eines Einsiedlers und dem Mut eines Außenseiters, konnte von literarischen Moden und noch weniger
von Ideologien verführt werden oder
von anderen Gruppierungen. Und
Außenseiter sind in diesem Land
alle, die die Integrität ihres Werks
mit moralischer Integrität schützen.
Dragojevićs Bücher haben einen besonderen Platz in meiner Bibliothek
und wenn ich „Prirodopis“ (Naturgeschichte) und „Rasuti teret“ (Streugut mit seiner Signatur) in die Hand
nehme, habe ich den Eindruck, dass
sie nach so vielen Jahren nichts verloren haben. Die Gedichte „O ribama“
(Über die Fische), „Cipele“ (Schuhe), „Čovjek je dužan“ (Der Mensch
schuldet), der Text „Otkriće“ (Entdeckung), in dem er über ferne Länder
schreibt, in denen „das Licht nicht
so leicht zum Kopf des Einzelnen
durchdringen kann“, die Glosse über
den Baum, die Eidechse Lucumoneo
und was nicht alles, bleiben Zeichen
einer Empfindlichkeit, die in der elementaren Energie der Sprache die
Schönheit ihrer Offenbarung sucht.
In unserer dichterischen und sonstigen Umgebung ist Dragojević eine
abweichende Erscheinung. Deshalb
ist auch sein Geburtstag oder Jubiläum so vergangen. Von der Norm
abweichend. Zur Zufriedenheit jener, die ihr Vergessen jemandem anderen zuschreiben konnten als dem
Gefeierten.
Auf den heutigen Tag vor 20 Jahren
ist Josip Sever gestorben. Dieser unglaubliche Verseschmied, einer der
letzten authentischen Bohème, hat
seine Berufung mit dem Grubenhandwerk vereint, er grub in den
Urworten der Sprache, verband die
TIONS
ferne Vergangenheit mit der Postavangarde, den schamanischen Glauben in eine Sprache und postutopische Gravität. Einige Theoretiker
neigen dazu, den Autor und dessen
Privatleben streng voneinander zu
trennen. Doch nur Sever konnte in
Blinjski Kut geboren werden. In einem Ort, der mit seinem Namen
Nähe und Ferne beschwört, Provinzialität und ökumenische Exotik, so
sehr in seinen dichterischen Duktus
eingeimpft. Die Dichtung verstand
Sever als Musik, sodass ein entscheidender Moment im Verständnis seines Werks im öffentlichen Vortragen bestand (wie im Fall von Anka
Žagar). Auch wenn er durch seinen
Nachnamen8 und ästhetische Anstrengung hyperboreische Gefilde vermuten lässt, verbrannte Sever in der
Hitze seines Temperaments und lexikalischen Explosion, bereit, die Welt
zu verändern, indem er sie noch einmal umbenannte. Er war der einzige Diktator, den wir liebten und der
einzige Anarchist, der für diesen Status ausreichend Glaubwürdigkeit besaß. Sein Gedicht „Zeichen des Krieges“ zitiere ich ganz: „Wildes Blut/
schärft meisterhaft Auszeichnungen/
im winterlichen Finnland/ das Pfeifen des Windes/ bis weit nach Afrika/
bis zu den Chephren/ dem ewigen
Stab / Erbe der Wandervögel/ meißelt das Abbild/ finnischer Seen/ im
Schatten / binärer Dünen/ auf der
Schlangenbrust/ auf dem Jaguar des
Rudiments/ auf dem Gefieder des
Sperbers/ in großen Höhen/ in der
dreisten Anziehung des Textes.“ Das
war Sever. Dreiste Anziehung des
Textes, worin ihm viele folgen und
dabei zuviel Dickköpfigkeit und zu
wenig Einfallsreichtum zeigen.
Ein Brief aus Split ist gekommen,
unterzeichnet von Nikola Visković.
Das erwähne ich aus zwei Gründen;
wegen des Namens des Absenders
aber auch wegen der Tatsache, dass
Sever bedeutet Norden.
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TIONS
Split, Schriftsteller, Zoologe, Botaniker, Gründer der Grünen Aktion
und in den letzten Jahren befasste
er sich systematisch mit der Erforschung erotischer Elemente in der
Literatur und anderen Künsten. Die
meisten Artikel sind der Rechtsproblematik gewidmet. Doch wenn ich
behaupte, er sei Zoologe, denke ich
an sein Buch „Životinja i čovjek“
(Das Tier und der Mensch; an erster
Stelle das Tier), wenn ich behaupte,
er sei Botaniker oder Dendrologe,
dann spiele ich an sein Buch „Stablo
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i čovjek“ (Der Baum und der Mensch;
an erster Stelle der Baum) an. Einige
Eigenschaften von Visković schätze
ich besonders; seine fanatische Hingabe an die Arbeit und Kompetenz
verbunden mit Ethik. Wenn man das
richtig aufwerten würde und es mehr
solche Menschen gäbe, wäre Kroatien nicht das, was es ist. Das Schlusslicht Europas.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Blažena Radaš
Foto: © Višnja Arambašić
Episteln, von Hand geschrieben, mit
Tinte sogar, heute ausnehmend selten sind. Professor Visković meldet
sich sporadisch und die Briefe, die
ich bekomme, sind ein Bild seines
Charakters. Das Bild eines Intellektuellen, der sich vollkommen seinem Fach widmet, auch wenn das
in seinem Fall nicht leicht zu bestimmen ist. Er ging in Santiago de
Chile, Zagreb, Straßburg, Helsinki und Rom zur Schule, ist Spezialist für Rechtstheorie, langjähriger
Professor der Juristischen Fakultät
Tagebücher
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Noch ist es Nacht, August
Zdravko Zima
E
ndlich haben wir Frieden. Mit
diesen Worten wandte sich an
seinen Gesprächspartner ein älterer
Herr, nachdem er sich am zentralen
Zeitungsstand am Jelačić-Platz, als
würde er von überreifen Reben Weintrauben pflücken, mit einer großen
Menge frischer Zeitungen eingedeckt
hatte. Etwas war mir dabei nicht klar.
Ein Mensch von rentnerischer Statur,
der mit dem Blick eines unschuldigen
Neugeborenen dem journalistischen
Karma entgegeneilt. Nicht nur, dass
ich mich diesem Anblick gewundert
hätte, weil Rentner hierzulande zu
Bettlern gemacht wurden, was ihren
Alltag zusätzlich interessant macht,
vielmehr fragte ich mich, während
ich diesen gut erhaltnen Siebzigjährigen betrachtete, wo er denn seine
Erfahrungen verloren hätte. Dem
Aussehen nach hätte man meinen
können, er sei in Versailles zur Welt
gekommen, am Anfang des Jahrhunderts, als dort das erste Jugoslawien
geschaffen wurde, seinen Gesten zufolge hätte es leicht möglich sein können, dass er sein Leben als Tierarzt
verbracht hatte, der sich zu jeder Zeit
und in jedem Regime in seiner esopischen Profession zusammenkauern
konnte. Der Glückliche. Ich beneidete ihn, nicht seiner Jahre, sondern
des Enthusiasmus wegen, mit dem er
die Zeitungen an sich drückte, als habe er sich der schönsten aller Frauen
bemächtigt und nicht bloß die Möglichkeit honoriert, mit schmutzigen
Fingern nach Hause zu kommen.
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Und der Glückspilz machte sich zusammen mit seinem Freund oder Bekannten auf den Weg irgendwohin,
während ich ihnen nachblickte, als
würden Marsmenschen über dem
Platz schleichen und nicht zwei aus
keinerlei Grund besonders interessante Männer (Kroaten, allem Anschein nach).
Das beschriebene Tandem, in dem
der Herr mit dem Bündel frischer
papierner Essensreste immerhin der
wichtigere war, ging weiter in Richtung Stadtcafé, oder vielleicht noch
weiter, zum neueröffneter Restaurant
Jana, auf dessen Terrasse man glaubt,
man sei am Meer. Es ist Sommer, der
Abend dämmert, und es gibt wohl
nichts gescheiteres, als diesen in Gesellschaft eines treuen Freundes in
der Nähe der Zagreber Kathedrale
zu genießen. Es ist August, in der
Stadt spürt man die Leere, in diesem Fall urlaubsbedingt. Würden wir
doch statt unserem „kolovoz“ doch
zum geheiligten August zurückkehren! Aber das hat keinen Sinn! Latein ist sowieso tot, während wir erst
neulich begonnen haben, zu leben.
Einerseits symbolisiert August den
unberührbaren Kaiser und Pantokrator, andererseits den lustigen Clown,
sodass es durchaus passieren könnte,
das jemand darin eine böse Anspielung erkennt. So gebe ich mich lieber
meiner Fantasie hin. Am schlimmste aber ist, dass ich nach wie vor an
jenen fröhlichen Tierarzt denke, der
hier um die Ecke irgendwo sitzt, je-
nen riesigen Haufen Papier durchblättert und lauthals die Schlagzeilen
kommentiert. Ja, sieh mal einer an,
was die hier schreiben! Freiheit, die
aus den Händen gleitet wie Bier, das
über den Rand unserer Gläser rinnt.
Ein Skandal jagt den anderen, aber
die Hälfte davon ist frei erdacht oder
einfach übertrieben, aber die Journalisten müssen ja auch von etwas leben. Diebstähle, sinnloses Hin und
Her, hier und da eine geisterhafte
Fabrik, Mufflonfarmen oder Jachten
mit prunkvollen Wohnzimmern und
Theken aus echtem Mahagoni. Damit man etwas zu trinken zur Hand
hat, während man die Adria umsegelt und eine liebliche Nixe unter
dem Arm hält.
So sitzen also unsere Siebzigjährigen,
prosten einander mit lauwarmem
Bier zu und demonstrieren durch
ihr Beispiel, wie sehr sich jene im
Unrecht befinden, die viel Lärm um
ihre mickrigen Renten machen. Den
Alten geht es nicht schlecht, den Jungen sogar noch besser. Du trinkst
zwei-drei Krüge leer, wirfst einen
Blick auf die rundliche Kellnerin
und schon sieht das Leben schöner
aus. Ich hab sie langsam satt, diese
Kroaten, ihr dauerndes Meckern und
Opponieren. Niemals sind sie zufrieden. Jahrhunderte lang jammerten
sie um ihren Staat und jetzt, wo sie
ihn haben, meinen sie, es gäbe dort
nicht genug Bürgerrechte. Gibt man
ihnen Freiheit, behaupten sie, sie lebten in Anarchie oder aber sie stürzen
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TIONS
sich auf die Gesetze, die sie selbst
verabschiedet und den europäischen
Standards angepasst haben. Seinem
Vokabular und der Leidenschaft zufolge, mit der er die Zeitungen an
sich gepresst hatte, könnte mein unbekannter Siebzigjähriger ungefähr
so räsonieren. Schließlich zahlte er
die Rechnung, grüßte seinen Kumpel und trottete nach Hause. Gegen
Mitternacht legte er sich ins Bett und
schloss zufrieden die Augen. Mücken
plagen ihn nicht, Barbiturate braucht
er ebenfalls keine. Endlich haben wir
Frieden. Ich hoffe, dass der lebhafte
Veterinär – oder besser gesagt Veteran – ruhig schläft, was logisch anzunehmen ist, wenn ich nur daran denke, wie wohlgemut er durch Zagreb
schritt, glücklich mit sich selber und
dem Bouquet aus Papier, das ihn wie
einen August dastehen ließ, der ganz
Kroatien in der Hand hält.
Es ist nacht, der Himmel ist heiter
und du schläfst, August. Vielleicht ist
es auch unzutreffend, dass ich dich
so intim anrede, als würde ich dich
seit jeher kennen und wir hätten zusammen unsere Ziegen gehütet, aber
ich tue das nur deshalb, um zu zeigen, dass sich mein beiläufiges Portrait mehr von Gutmütigkeit leiten
ließ, als vom heutzutage dermaßen
verbreiteten Zynismus. Es ist schwer,
jemanden in ein Paar Pinselstrichen
zu portraitieren, ja es ist sogar gefährlich. Denn, um ein menschliches
Wesen darstellen zu können, musst
du seine Eingeweide betreten, seine
Seele, und dabei wissen wir nur allzu gut, wie es Faust ergangen war,
und allen anderen Seelensuchern,
die mit diesen gespielt hatten, wie
kleine Jungen mit ihren Murmeln.
Mein einstiger Freund oder bekannter hat eine Novelle geschrieben, die
von einem Maler handelt, der seinen
Lieblingsdichter so teuflisch gut portraitiert hatte, dass dieser schließlich
verschwand. Dieser Maler, ich glaube, er nannte sich Luka, hatte mit
seinem Pinsel einen Schreiberling
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Feuilletons
weggewischt, als würde er Staub von
seiner Staffelei wischen. Ich habe weder eine derartige Macht, noch ähnliche Ambitionen. Und überhaupt,
wer braucht schon Mystifizierungen?
Seit seiner ersten Anfänge ist das Portrait an den Kult der Verblichenen gebunden, und wir leben in einer Zeit
der Agonie, die wiederum ein neues
Morgengrauen ankündigen sollte. Ich
weiß nicht, was das für ein Albtraum
sein soll, wie es möglich ist, die Vergangenheit durch Gegenwart zu ersetzen, dass sich das Alte als das Neue
zeigt, aber während ich dich ansehe,
August, während ich im Kopf jenen
Film abspiele und mir vorstelle, wie
du durch die Stadt paradiert bist,
scheint es mir, nichts sei verloren.
Wir sind schon soweit, dass Dreikäsehochs ihren Lehrern Lektionen
erteilen, während Kinder mit erhobenem Zeigefinger jenen drohen, die
sie zur Welt gebracht haben. Niemand nimmt auf niemanden Rücksicht. Wir brauchen Ordnung, aber
keine Autorität. Du schläfst, August,
ich aber stehe auf meinem Balkon
und lausche der nächtlichen Stille.
Ich würde daraus keinerlei Schlüsse ziehen, vor allem nicht zu meinem eigenen Vorteil. Mein Wachen
ist vielleicht nichts anderes, als eine
Frage des Biorhythmus, eine Variante der modernen Morbidität und
der Bedürfnisses, mich an andere
Stimmen zu wenden, als jene es sind,
die der Tag uns unterschiebt. Baudelaire, seines Zeichens ein großer
Nachtliebhaber, war zum Schluss gekommen, die Menschen würden die
Herrschaft vergöttern. Das ist alles.
Ich würde mich niemals mit einem
Dichter streiten, den Benjamin mit
Dante verglichen hatte, ist es aber so,
wie Baudelaire behauptet, dann verliert sich all unsere Mühe im Nebel,
jenem kosmischen, zu dem wir früher oder später ja sowieso verurteilt
sein werden. Wir entblößen unsere
Herzen, ärgern uns und spielen Ungläubige, die Messe aber ist schon
101
vorbei und war überdies im Vorhinein regiert. Für jede eventuelle Wiederholung. Du schläfst ruhig und
hast dich vielleicht nicht nur in ein
Laken gehüllt, sondern auch in einen
therapeutischen Traum: ich beneide
dich darum, August. Du weißt, was
ein Staat ist und weißt genauso gut,
dass dieser, um bestehen zu können,
der Herrschaft nicht entbehren kann.
Das war auch Thomas von Aquino
klar, der uns weismachte, die Anforderungen der Herrschers hätten
die Kraft von Gesetzen. Aber der
berühmte Dominikaner behauptete ebenfalls, Christen müssten sich
keiner Herrschaft beugen, die nicht
gerecht sei, es sei denn, sie wollen einem Skandal oder einer potentiellen
Gefahr aus dem Weg gehen.
In dieser Augustnacht würde ich der
Strenge des scholastischen Doktors
gerne dem Unernst Jaroslav Hašeks
gegenüberstellen. Nicht nur des Sentiments wegen, sondern auch, weil
Hašek in der Dämmerung des 20.
Jahrhunderts, bevor die giftigen Blüten des Kommunismus und des Faschismus zu blühen begannen, begriffen hatte, was für eine Schweinerei sich hinter politischen Phrasen und jener pompösen Geschichte verbirgt, die er nicht anders hatte
bezeichnen können, als lausig. Auch
Havel wäre in seiner heutigen Ausgabe nicht möglich gewesen, wäre ihm
Schwejks Vater nicht zuvorgekommen, mit dem sich die große Schule
der Entmystifizierung und Antipolitik angekündigt hatte. Uns aber, August, fehlen nicht nur Schriftsteller,
sehen wir mal von den künstlichen
und hohlköpfigen ab, denn die gibt
es ja zuhauf. Es fehlen uns Hašeks, die
es verstehen würden, unserer eigenen
Dummheit und Zurückgebliebenheit ins Gesicht zu lachen. Statt sich
in jene, die ihr Gewerbe beherrschen
und jene, die es nicht tun, zu teilen,
legitimieren sich die Schriftsteller in
Kroatien am Ende des 20. Jahrhunderts als staatsbildend. Alle Hässlich-
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keit dieses Attributs wird sichtbar,
wenn man versucht, es in eine andere Sprache zu übersetzen. Sie ist dermaßen hirnverbrannt und retrograd,
dass sie in ihrem kläglichen Humor
bestenfalls zum Objekt des Spotts
eines zukünftigen, hoffentlich kroatischen Hašeks werden könnte. Deshalb wundere ich mich ja auch über
den gutmütigen August, der schläft,
obwohl das sein Monat ist und auch
ein Neumond steht als Schmuckstück am Himmel. Ihm genügt es,
Schlagzeilen zu sehen, die Frieden
im balkanischen Areal ankündigen,
und schon ist er selig.
August scheinen keine allzu großen
Sorgen zu plagen und deshalb konnte er wohl, trotz seines Alters, mit
jenen Zeitungen bewaffnet durch
die Stadt paradieren, als würde er zu
einer Hochzeit gehen. Die Sprache
hat sich jedoch abermals untergeschoben, um ihm einen Strich durch
die Rechnung zu machen. Was hätte
ein schlafender Optimist über einen
Staat zu sagen, dessen sozialer Instinkt, oder die Sorge um die menschliche Würde, damit endet, dass Sorge
zugunsten von Fürsorge aufgehoben
wird. Niemand kümmert sich mehr
um etwas. Wortwörtlich. Von den
Wörtern kommen wir allmählich zu
den Taten und noch einer weiteren
Teilung. So ist heute der Aufschwung
all jener bemerkbar, die die territoriale Begrenztheit ihres Staates glücklich mit ihrer eigenen Begrenztheit
gleichgesetzt haben. Ihnen gegenüber melden sich jene zu Wort, die
niemandes Territorium mystifizieren, ja nicht einmal das eigene, und
die das periphere des Landes nicht
mit dem kroatischen provinziellen
Geist verwechseln möchten. Über
der balkanischen Einöde wird morgen der Frieden aufleuchten und es
bestehen gute Aussichten, dass die
Qualität dieses Wortes, trotz seiner
Winzigkeit, so viele Appetite befriedigen könnte. Wir werden Frieden
schließen mit dem Feind, den wir
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Dossier: Zdravko Zima
nur allzu oft mit einem ganzen Volk
gleichgesetzt haben, und Masken auflegen, für die uns auch die größten Meister der Heuchelei beneiden
dürften. Jene albionischen, über die
wir in unserer Heuchelei so oft empört haben. Aber, sollten wir zum
gestrigen Aggressor nun die bestmöglichen Beziehungen knüpfen, sollten
über Nacht überlebende Söhne und
ermutigte Töchter in beiden Richtungen zu laufen beginnen, sollte
die nachbarschaftliche Rivalität in
Schwarzhandel und anderen lokalen
Disziplinen wieder aufleben, werden
wir uns um einen gebührenden Feind
schon zu sorgen wissen.
Wir können durchaus ohne dies oder
jenes auskommen, sind an alle möglichen Mängel gewöhnt, aber ein
Mangel an Feinden – das auf keinen
Fall. Noch dauert die Nacht, August,
und ich sitze in der Küche und warte auf jenen magischen Augenblick,
wenn sich an den Rändern der Stadt
die ersten Zeichen Frau Auroras zeigen. Du weißt, dass die Morgenröte
eine Freundin der Musen ist, aber davon ist jetzt nicht die Rede. In deiner
Zeit, ich weiß nicht, wie sie war, aber
nach deinem Aussehen zu schließen,
wird sie wohl reich und erfüllt gewesen sein, hast du bestimmt einige
Konstanten erkennen können, von
denen sich dieser Boden nur schwer
oder gar nicht trennen kann. Mit
meiner Erfahrung, die sich mit der
deinigen nicht messen kann, scheint
es wir, dass wir mit unser VorwärtsRückwärts-Philosophie, einer, wie
Krebse sie anwenden, und die hierzulande ja so eine lange Tradition hat,
den Feind am schwersten loswerden
können. Wahrscheinlich wegen unserer eigenen Komplexe oder unseres
Portraits im Negativ. Der Feind ist
unser Leitmotiv und unsere geistige
Nahrung, und im Moment der allgemeinen Aussöhnung, die deinen
sprichwörtlichen Elan zusätzlich gesteigert hat, werden wir uns schon
zu helfen wissen, um nicht ohne die-
TIONS
ses lebensspendende Fragment auskommen zu müssen. Wenn die Türken, Venezianer, Schwaben und weiß
Gott wer noch schon nicht mehr da
sind, finden wir im eigenen Hof bestimmt Grund genug, um zu hassen.
Hass, welch schweres Wort im Morgengrauen, wo ich mich doch unvergleichbar schöneren Themen hingeben müsste. Es tut mir leid, dass ich
aus meiner Behausung jenseits der
Save beinahe telepathisch und schamanisch deinen Schlaf störe. Es tut
mir leid, dass ich das zugeben muss
– sowohl vor mir selbst, als auch vor
anderen – aber nach allem, was vorgefallen ist, werde ich den Eindruck
nicht los, wir seien unerreichbare
Champions, wenn es darum geht,
Nebel zu verkaufen und Feinde zu
vervielfältigen.
Am Feind arbeiten wir nicht deshalb,
weil wir dächten, er sei allzu wichtig,
sondern weil wir auf diese Weise unsere eigene Wichtigkeit vergrößern
können. Gehst du die Straße entlang,
kennst niemanden und bist für niemanden interessant, dann wird es das
beste sein, den erstbesten Passanten
anzurempeln. Du kennst doch diese
Methoden, August, obwohl ich deine Manieren kein Bisschen anzweifle.
Und so rempelst du dem Menschen
also an, ihm fällt die Brille herunter,
gleich eilen noch zwei-drei andere
herbei und vielleicht auch ein Polizist. Wer behauptet, der Alltag sei
langweilig, der ist blöd, oder wurde
von Gott durch Mangel an Erfindungsgeist gestraft. Feind, wie bekannt das doch klingt. Hat er sich
versteckt, hab geduld, gibt es ihn
nicht, erfinde ihn. Und fühlst du dich
vor ihm etwas ohnmächtig, nähere
dich ihm und umarme ihn, als würdest du ihn mögen, wie Marinković
das in einer seiner klassischen Novellen ballettisiert hatte. Es ist Morgen, die Welt wird neugeboren, und
würden wir in Šops oder Holans Zeit
leben, würde man jetzt das Krähen
eines Hahnes vernehmen. Ich weiß,
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TIONS
Es ist vielleicht eigenartig, dass ich
neben meinen Freunden und Altersgenossen gerade einen älteren Menschen als Mitspieler gewählt habe,
den ich noch dazu nicht einmal kenne. Außer, wenn man unter Kennen
die Tatsache verstehen würde, dass
ich dich am Platz gesehen habe, wo
du, wie einst Ive Mihovilović, ein
Bündel frischer Zeigungen auf die
Schulter gepackt hattest. Jene, die
uns nahe stehen, sind uns manchmal
so fern. Du, den ich so verschwörerisch anspreche und dem ich mich
einen Namen zu verpassen getraut
habe, wirktest auf mich wie ein Verwandter, obwohl ich weder an Patriarchalität leide, noch deinen er-
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quickenden Optimismus teile. Ich
habe keine Illusionen, bin weder Illusionist noch Clown, aber jetzt, wo
ich mich fürs Bett vorbereite, fällt
mir einer unserer berühmten, stets
mürrischen Schriftsteller ein, der das
Syntagma „illusionistisches Kroatentum“ erfunden hatte. Du weißt, wer
es ist, und es scheint mir, ich hätte
dem jetzt nichts mehr hinzuzufügen.
Ich begebe mich in meine Tagesnacht, wenn du nichts dagegen hast.
Guten Morgen, August, und lass dir
den Kaffee munden!
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Boris Perić
Foto: © Višnja Arambašić
dass das, worüber ich nachdenke,
mit der Poesie eines Sommermorgens nicht in Einklang steht, ja nicht
einmal mit dir, August, der du schon
bald mit einem Vergnügen, dass ich
mir nur vorstellen kann, deinen ersten Kaffe schlürfen wirst. Alles ist auf
den Kopf gestellt und sollte jemand
jemandem einen Vortrag halten oder
eine entsprechende Dosis Zynismus
einspritzen, wärst du auf jeden Fall
vor mir an der Reihe. Ich hoffe zumindest, du zweifelst meine Absichten nicht an und weißt, dass ich mich
von keinem verdeckten Beweggrund
habe leiten lassen, es sei denn, ich
würde die Anforderungen meiner
Schlaflosigkeit dazu zählen.
Feuilletons
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RELA
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TIONS
Ein Traum namens Gimignano
Zdravko Zima
Ü
ber das Reisen schreibend, war
Baudelaire vor langer Zeit zum
Schluss gekommen, die Welt sei klein
und würde stets dieselben Dramen
in sich bergen. Seit damals hat sich
die Welt vielleicht nicht wesentlich
verändert, außer, dass sie kleiner und
gesichtsloser geworden ist, als sie es
in der Vision des französischen Dichters bereits gewesen ist. Zu Baudelaires Zeiten ahnte man noch nichts von
einem Telefon, während es heutzutage genügt, einen Internetanschluss
zu haben, einen Helm für virtuelle
Realität auf den Kopf zu setzen und zu
Hause zu hocken, in der Hoffnung,
es sei möglich, sich zu jedem bleibeigen Zeitpunkt in jeder beliebigen
Ecke des Erdballs zu finden. Aber reisen ist nicht nur eine Frage der Technik. Es wird nicht nur einer Stadt oder
Landes wegen gereist, von dem man
jahrelang geträumt hat: man reist ebenfalls wegen dem alltäglichen Bedürfnis
nach Veränderung und dem Wunsch,
dass man das, was man in sich trägt
und was einen plagt, im Meer einer
neuen Sprache und einer anderen
Landschaft desinfiziert. Aus alldem
ist leicht festzustellen, dass das Reisen
einen Schritt auf das Neue zu darstellt,
gleichzeitig aber auch das eigene Innere aufdeckt. Vielleicht legitimiert
sich der Einzelne nirgends so deutlich
wie auf Reisen oder in einer Situation
die sich in vielerlei Hinsicht von den
Schablonen des Alltags unterscheidet.
Wer lustig und verrückt ist, wird auf
Reisen ebenso sein, wer mürrisch ist,
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dem Springt sein Charakter im entscheidenden Moment aus dem Gesicht, wie ein Pickel. Die kroatischen
Schriftsteller haben nie übertrieben
viel gereist und es ist gewiss nicht
leicht, festzustellen, in welchem Maße diese Tatsache durch deren materiellen Status bedingt war und in welchem durch den Geist eines Volkes,
das geneigter ist, den eigenen Hof zu
behüten, als nach neuen Horizonten
zu suchen. Würde man unsere Literatur danach beurteilen, wie offen und
wanderlustig ihre Protagonisten gewesen sind, würde man im Kreis der
Auserwählten auf Česmički, Držić,
Kamov und Matoš stoßen. Sie alle sind viel in Italien herumgereist:
Česmički und Držić haben dort studiert (ersterer in Ferrara und Padua,
letzterer in Siena), Kamov war viel
zu temperamentvoll, um sich irgendwo im Ausland länger aufzuhalten,
während Matoš sich Florenz einzuschmeicheln suchte und es zum
Grundsatz ernannte, obwohl er an
anderer Stelle behauptete, Italien sei
eine große Täuschung und nur Reklame. Selbst der durchschnittliche
Meister der Sophistik wird Matoš
mit Leichtigkeit bestätigen oder dementieren können.
Reisen ist Täuschung, aber auch Strapaze. Globalisierung und Profithunger haben das Reisen zum Konfektionsprodukt von suspekter Qualität
gemacht, sodass der Mensch von Zeit
zu Zeit entsetzt feststellen muss, dass
es in den großen Destinationen die-
ser Welt so gut wie niemand anderen
gibt, außer einer Schar nervöser Touristen, die auf ihre Kameratasten drücken oder dem Cicerone nachlaufen.
Im in Brunelleschis Kuppel in der
florentinischen Kirche Santa Maria
del Fiore steigen zu können, muss der
interessierte Besucher stundenlang
in kilometerlangen Warteschlangen
ausharren, dann Eintritt bezahlen,
alle möglichen Kontrollen passieren
und zum Schluss klaustrophobische
Gänge emporklettern, die einem den
Ausblick auf eine der wundersamsten
Städte des Erdballs gewähren. Bei der
ganzen Geschichte muss Gott selbst
seine Finger im Spiel gehabt haben,
aber die Jagd nach Geld, das Sirenengeheul der Krankenwagen und
der Fluss der Touristen, der mythische Bilder vor Augen ruft (mit Tausenden von Gläubigen auf der Suche
nach dem gelobten Land) haben den
Effekt eines Vorhangs, der auf das
Gesicht der schönen Frau Florenz
niederfällt. Und wenn jemand noch
dazu böse genug ist, um zu sagen,
der David vor dem Palazzo Vecchio
sei nur eine Kopie, der Espresso dafür aber viel zu teuer, wenn auch unvergleichbar schlechter als in vergangenen Jahren, schreit das Misstrauen
zum Himmel.
Während er in Zagreb ist, fragt sich
der Mensch bestimmt, warum er
nicht nach Florenz reist, sitzt er aber
auf der Piazza della Signoria, fragt er
sich, warum er nicht zu Hause geblieben ist. Träume sind ja offensichtlich
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RELA
TIONS
dazu da, um unterstützt oder verworfen zu werden, wie ein Ballon, dem
schon ein leiser Windhauch genügt,
um aus unserem Blickfeld zu verschwinden. Und wo wie jener Pero
Orlić aus Krležas Novelle jahrelang
von Paris geträumt hatte, so träume
ich von San Gimignano. Ich wusste,
was Venedig ist und was Rom, aber
mit San Gimignano hatte mich vor
langer Zeit ein gebürtiger Berliner
Jude angesteckt. Walter Benjamin.
Obwohl aus dem Norden und seines
Zeichens ein Ahasver, der in Hitlers
Ära mit Mühe seinen Unterschlupf
gesucht hatte, war er von Italien angetan und beschrieb in einem kurzen
Aufsatz über Hugo von Hofmannsthal San Gimignano, das den Glanz
der Stadt und die Seeligkeit des Landes in sich trägt. Viel Wasser ist unter
dem Ponte Vecchio verflossen, viele
Geschichten wurden beendet und
viele begonnen, bis ich nicht in diesem toskanischen Wunder ankam,
das etwa fünfzig Kilometer südliche
von Florenz verborgen liegt.
Dem Fremden schmeichelt sich San
Gimignano bereitwillig ein. Auf einem Hügel gelegen hinterlässt es mit
jenen Mauern und Türmen (14 an
der Zahl) schon von weit her den Eindruck, die Mühe der Reise sei nicht
vergebens gewesen. Aber, zwischen
Walter Benjamins Stadt und jenem,
was ich mit meinen eigenen Augen
gesehen habe, erstreckt sich eine Entfernung ungefähr wie zwischen Himmel und Erde. Daran ist nicht Benjamin schuld, der seinen Aufsatz vor
dem Zeiten Weltkrieg geschrieben
hatte, und nicht einmal ahnen konnte, was der Wahnsinn des Massentourismus alles mit sich bringen würde,
oder aber, dass er selbst im mediterranen Raum sein Ende finden wird.
Mit seiner Architektur und seinen
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Feuilletons
Mauern, seinen Zypressen und Türmen, ruft San Gimignano mehr als
alles andere jene Ruhe vor Augen, die
ihm ohne jegliche Rücksicht aus den
Eingeweiden gerissen wurde. Mehr
Seeligkeit herrschte dort wahrscheinlich im Mittelalter, trotz den blutigen Schlachten zwischen Florenz
und Siena, als jene Türme entstanden sind und als sich die Stadt, je
nach Lage, mal zu den Welfen, mal
zu den Waiblingern bekannte. Eine
ganze Ewigkeit lang wartete ich auf
die Vorstellung, die sich San Gimignano nennt, wahrscheinlich so, wie
Vladimir und Estragon auf Godot
warteten, bis schließlich ein Nieselregen, unterstützt von Schülerexkursionen, einen Traum wie einen Luftballon zum platzen brachte und dazu
führte, dass ich mich nur mit Mühe
durch die Porta San Giovanni, wie der
zentrale Eingang in die Stadt heißt,
hindurchquetschen konnte.
Die Chronik der Konflikte zwischen
den Welfen und den Waiblingern erinnert uns daran, dass die goldumrandete Geschichte mit Millionen
von Leichen bezahlt worden ist, die
Bürger von San Gimignano aber rühmen sich der Tatsache, dass Dante als
Bote der vereinigten welfischen Städte der Toskana am 8. mai 1300 die
Stadt besucht hatte. Die Hauptstraße, Via Franchigena, erinnert an den
Stradun, obwohl sich keine Stadt,
wie auch kein Mensch, zur Gänze
auf eine andere zurückführen lässt.
Es regnet beharrlich und der Pilger weiß an der Schwelle des dritten
Millenniums nicht, wo er hinschauen sollte: auf die Regenschirme, die
in den Händen der Ungeduldigen zu
gefährlichen Schwertern werden, auf
die Kinder, die von allen Seiten herbeiströmen, oder auf die zweibögigen
Fenster, die Türme und Paläste, Log-
105
gien und Fresken, die enthüllen, was
San Gimignano einst gewesen ist und
wofür man heute in handfesten Euros zu zahlen hat. Trotz der Kirchen
San Agostino und San Bartolo, trotz
der Piazza della Cisterna und einem
dermaßen bizarren Punkt, wie es das
Museo della tortura ist (als wüsten wir
nicht, wer die größte Bestie ist), ist es
schwer, nicht auch einen Blick auf die
Önotheken und sorgfältig aufgestellten Weinflaschen zu werfen, durch
die sich eine feine, aber schwer verständliche Erotik hindurchzieht.
In San Gimignano wird der traditionelle Vernaccia getrunken, eine
von Gott gegebene Flüssigkeit, deren übermäßiger Genuss, so will es
zumindest der strenge Meister Dante, Papst Martin IV in Fegefeuer gebracht hatte. Der König der Rotweine nennt sich Brunello di Motalicino, obwohl er seines Ranges,
aber auch seines gesalzenen Preises
wegen vielen im Hals stecken blieb.
Zu Mittag wird Ribollita serviert, eine derbe Volkssuppe aus Brot, aber
ausgezeichnet, wenn sie von einem
Sachkundigen zubereitet wird. Danach werden Kaninchen empfohlen,
Wildschwein und Tauben, in Wein
gekochte und in Speck und Kraut gehüllt. Schließlich endeten der Reisehunger und das Dürsten nach Kunst
im Magen. Ich bin nicht der Meinung, das sei schlecht, denn ich bezweifle, dass Asketentum und Fanatismus der Menschheit Glück gebracht haben. Das Glück liegt in den
kleinen Dingen und kleinen Städten,
wie es, zumindest in den Täuschungen des Weines, San Gimignano geblieben ist.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Boris Perić
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RELA
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TIONS
Der Gondoliere auf der Moldau
Zdravko Zima
S
tatt der erwarteten Ansichten
malerischer Badeorte, dekoriert
mit Luftmatratzen und halbnackten Schönheiten, verlief der Sommer 2002 im Zeichen von Unwettern, Fluten und überfluteten Sonnenschirmen, die nach den unaufhaltbaren Regengüssen an gefallene
Krieger auf einem Schlachtfeld denken ließen. Trotz der menschlichen
Hoffnung, Kriege würden in die Vergangenheit oder zur Fantasie von
Filmregisseuren gehören, trotz der
Tatsache, dass die südöstliche Ecke
Europas in virtuellen Frieden eingetaucht ist, erinnerte dieser glimmende (Winter)Sommer mehr als alles
andere an Krieg. Aber, im Gegensatz zu den herkömmlichen, in Geschichtsbüchern beschriebenen Kriegen, traute sich kaum jemand, sich
das Szenario auch nur auszumalen,
nach dem sich all das abgespielt hatte.
Es kämpften nicht Menschen gegen
Menschen, es schlug kein Volk auf
sein Nachbarsvolk ein, nein, es war
die Natur, die eine Offensive gestartet hatte. Und gegen wen sollte die
Natur wohl Krieg führen, wenn nicht
gegen jenen, der sie so seelenlos und
so systematisch vernichtet? Die Folgen sind offensichtlich, die Verluste
werden zusammengezählt, obwohl
es nicht leicht fällt, anzunehmen, jemand würde oder wollte daraus die
nötigen Schlüsse ziehen.
Deshalb ist die Frage, ob Fluten Naturereignisse seine, die oft gestellt
wurde, nachdem die Wassermassen
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große Teile des alten Kontinents verwüstet hatten, einfach lächerlich. Man
wird sie doch nicht etwas geklont
haben, um sie zu teuflischer Stunde
den Völkern Zentraleuropas als neues
Unglück unterzujubeln, obwohl sie
sich noch nicht einmal vom Kommunismus erholt haben. Obwohl
Meteorologen die enormen Regenfälle und die darauf folgenden Fluten
den Bahnen der Zyklone, plötzlichen
Konfrontationen kalter und warmer
Luftmassen und der Bildung atmosphärischer Fronten zuschreiben, ist
es schwer anzunehmen, der Mensch
sei am ganzen Schlamassel völlig unschuldig. Wer die Bibel – jenes Buch,
auf das sich am meisten jene beziehen, die es am wenigsten in der Hand
gehalten haben – gelesen hat, wird
bestimmt wissen, dass der Kampf
zwischen dem himmlischen Heer
und der Mächte des Übels durch Beschreibungen illustriert wurde, die
in vielerlei Hinsicht an jene Szenen
erinnern, die der Mensch in diesem
katastrophischen August auskosten
musste. Die apokalyptischen Schriften stützen sich in großem Maße auf
die Philosophie der Zahlen (sieben
Siegel, sieben Posaunen). Die Zahl
sieben ist aber genauso kennzeichnend für den tschechischen Schriftsteller und Apatriden Kundera, der
alles andere als dem Glauben verfallen zu sein scheint.
In seinem letzten Roman erklärt Kundera, alle großen Daten in der Geschichte des 20. Jahrhunderts seien
durch Kerben registriert worden, die
sich am besten mit Einschlägen von
Äxten vergleichen lassen. Sein Verhältnis zur Geschichte ist zutiefst
widersprüchlich, getragen von organischem Ekel, aber auch der abermaligen Rückkehr zu gewissen Daten,
ohne die weder er, noch seine Literatur funktionieren könnten. Die Geschichte seines Volkes, schreibt Kundera wörtlich, sei im vergangenen
Jahrhundert von einer seltenen mathematischen Schönheit geschmückt
gewesen, die aus dem dreifachen Repetieren der Zahl 20 hervorgegangen
war. Wie ging das? 1918 bekamen die
Tschechen ihren Staat, die sie bereits
1938 wieder verloren hatten. Dann
kam der Kommunismus an die Reihe. 1948 wurde er aus Moskau importiert und diese Plage wurde 1968
scheinbar beseitigt, bevor die Russen ihr Land mit einer halben Million Soldaten überflutet hatten. Und
schließlich das dritte Zahlenspiel: die
Okkupationsherrschaft wurde 1969
eingeführt und im Herbst 1989 demontiert. Ich weiß nicht, inwiefern
sich Kunderas Mathematik auf das
neue Millennium anwenden lässt, da
die Tschechen 2002 (zwar nicht wegen der Russen, aber wegen der Flut)
die größte Evakuation ihrer Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg
durchführen mussten.
Zentraleuropa hat den Stalinismus
überlebt, aber die Bilder aus dem
Überfluteten Prag wirkten wie Phantasmagorien von einem längst verges-
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RELA
TIONS
senen Planeten, dem sogar Gott den
Rücken zugekehrt hat. Die Tschechen haben Hilfe beantragt, die Schäden werden in Milliarden gemessen und dem Appell für das goldene Prag hatte sich unter den Ersten
der Sean Connery angeschlossen, der
sich wegen Dreharbeiten dort eingefunden hatte. Im Curriculum dieses Schotten, der am meisten durch
seine James-Bond-Rollen berühmt
wurde, findet man die Angabe, er
habe als junger Mann in einem Bad
als Rettungsschwimmer gearbeitet.
Jetzt könnte er sich als Gondoliere auf der Moldau behaupten, es ist
aber viel wichtiger, dass Mister Connery, bekannt als Mann der Tat, auch
dieses Mal der Vorstellung gerecht
war, die ihn in allen Generation so
populär gemacht hatte, unabhängig
von Geschlecht, Bildung oder weiß
Gott was für anderen Charakteristiken. Ich kann mich nicht erinnern,
dass ein derartiger Appell aus Kroatien gekommen wäre, wenigstens als
Zeichen, dass wir auch für fremdes
Unglück Mitgefühl haben, und nicht
nur für das eigene. Umso mehr, da
uns vieles mit dem Volk verbindet,
mit dem wir in der gleichen Monarchie gelebt haben, und da während des Stalinismus viele Kroaten
die gotische Sankt-Veit-Kathedrale
besucht hatten, und dass nicht nur
wegen ihrer imposanten Schönheit,
sondern, um auf einer ihrer Mauern
ihr historisches Wappen erkennen
zu können.
Mitte der neunziger Jahre hätte wenig
gefehlt, damit der Universitätsprofessor und Staatsmann T. G. Masaryk in
Zagreb ohne seine Straße bleibt und
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Feuilletons
von allen tschechischen Initiativen
ist diese am meisten in Erinnerung
geblieben. Diesen Sommer wurden
die Böhmen hauptsächlich als außerordentlich bescheidene Touristen erwähnt, als Gäste, die selten die Geldbörse hervorziehen, obwohl wir ein
für allemal begreifen müssten, dass
nicht alles im schnellen Profit liegt
und dass jeder soviel bekommt, wie
viel er zu geben imstande ist. Das ist
eine Regel des kosmischen Gleichgewichts, die früher oder später zum
Vorschein kommt. Und wenn wir
uns der Geschichte zuwenden, auf
die wir uns sonst so gerne berufen,
ist nicht ganz klar, wer wem mehr
gegeben hat: die Kroaten den Tschechen, oder die Tschechen den Kroaten? Viele unserer Künstler und Intellektuellen haben in Prag studiert,
darunter Lisinski, Šenoa, Lunaček,
Vidrić, Bukovac, Šimatović, Grlić
und viele andere. Tschechische Filme hatten wir uns wie unsere eigenen
angesehen, in ihren Büchern fanden
wir all das, was uns vor der eigenen
Tür vorenthalten geblieben ist, denn
wir glaubten, an allem, ja sogar an
unserer literarischen Schlamperei,
sei der Schatten des Großen Bruders schuld.
Auch die ersten Fußbälle waren nicht
aus London oder Berlin in den slawischen Süden gekommen, sondern
aus Prag. Heute, wo so sehr auf der
Authentizität der kroatischen Sprache bestanden wird, wird sich vielleicht ein kreativer Geist finden und
sich ein kroatisches Synonym für
den Fußballschuh – kopačka – ausdenken, denn dieses Wort ist tschechischen Ursprungs. Jeder hat sei-
107
ne eigenen Prioritäten, aber wenn
die Wasserflut über das Carolinum,
die Karlsbrücke oder die den Wenzelsplatz herfällt, dann ist nicht nur
Prag in Gefahr. Die Welt ist in Gefahr! Das, was in der tschechischen
Hauptstadt passiert ist, ist mit der
Katastrophe gleichzusetzen, die 1966
Florenz heimgesucht hatte, als die
toskanische Bellezza unter den Fluten des Arno zu ersticken drohte.
An der Rettung dieser Stadt / dieser Welt hatte auch mein Bekannter
Vjenceslav Vlahov teilgenommen,
damals Student der italienischen und
deutschen Sprache, der sich zufällig
in Mailand eingefunden und sogleich
den Freiwilligen angeschlossen hatte, die Florenz als etwas ansahen, was
auch ihnen gehört. Es war die Zeit
der Langhaarigen und der Flower Power, und die bigotten Italiener blieben sprachlos, als sie begriffen hatten,
dass Capelloni im Sanieren ihrer Stadt
die entscheidende Rolle spielen.
Vlahov arbeitet sein langen am Cicerone, er hat so manchen erlebt, aber
seine Erfahrungen aus dem Jahr 1966
hat er als etwas überaus schönes und
wertvolles in Erinnerung behalten.
Die ganze Welt hatte sich damals
in Florenz versammelt und vor der
Nationalbibliothek steht heute eine
Gedenktafel für alle Menschen guten
Willens und Engel des Schlammes
(Angeli di fango), wie die Italiener sie
damals liebevoll nannten. Und Prag?
Ich glaube, die Engel sind schon dort,
nicht nur der Prager wegen, sondern
wegen uns allen.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Boris Perić
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RELA
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TIONS
Ich habe Esterházy besiegt
Zdravko Zima
W
ie aus Budapest nach Pula
kommen, ohne das Gefühl,
man würde zu Zeiten von Kaiserin
Maria Theresia oder Kaiser Franz
Josef leben? Auf diese Frage könnte
Peter Esterházy am glaubwürdigsten
Antwort geben. Als dieser berühmte Schriftsteller und Nachfahre der
wahrscheinlich berühmtesten ungarischen Familie zugesagt hatte, zur
Buchmesse nach Pula zu kommen,
herrschte auf einmal Misstrauen. Beabsichtigt der Herr Graf tatsächlich
zu kommen, und wenn ja, wie will
er das anstellen?
Es hat sich gezeigt, dass die Verbindungen zwischen den Hauptstädten
Ungarns und Kroatien höchst unzuverlässig sind. Eine Luftlinie existiert
nicht, sodass Esterházy auf Umwegen nach Pula kommen musste. Zuerst mit dem Flugzeug nach Venedig und dann mit dem Wagen, der
von der Messedirektorin Magdalena
Vodopija geschickt wurde, zu seiner
istrischen literarischen Destination,
an der das ungarische literarische Ass
in den späten Nachtstunden doch
noch glücklich ankam. Obwohl es
auf Landkarten nicht leicht zu finden
ist, erwies sich Kroatien abermals als
zu groß für so eine banale Reise zwischen zwei aneinandergrenzenden
Ländern, die Jahrhunderte lang unter
derselben Krone existiert haben.
An diesem Abend, einen Tag vor der
Eröffnung der neunten Buchmesse,
befand sich Pula im Zustand der Mobilisierung. Ein gutmeinender Gast-
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wirt musste auf seine Nachtruhe verzichten, denn es wäre nicht anständig
gewesen, dass Esterházy mit leerem
Magen zu Bett geht. Frau Magdalena kaute nervös auf ihren Fingernägeln herum, während sie zusammen
mit seinen Zagreber Verlegern, dem
Ehepaar Serdarević, seiner Übersetzerin Xenia Detoni und dem Autor
dieser Zeilen auf den ungarischen
Erzähler wartete. Das Hotel, in dem
wir herumsaßen, als würden wir auf
Godot warten, roch nach Frischem,
neue, noch unverlegte Teppichböden
hatten die Gänge blockiert, die Bar
im Foyer war geschlossen. Aber wer
hätte schon gedacht, dass sich in einer Stadt, in der der Sergierbogen,
der Augustustempel oder Vespasians Athene stehen, und in der hundert Jahre zuvor James Joyce gelebt
hatte, jemand um Mitternacht nach
einer Mistelschnaps, einem Kräuterschnaps oder sonst einem fragwürdigen Elixier sehnen könnte. Aber gut.
Die Uhren zeigten 0 Uhr 15 an, als
Esterházy vor uns stand. Es folgten
höfliche Begrüßungen, unter der fest
verschlossenen Theke fand man eine Flasche Kräuterlikör und die ursprüngliche Reserviertheit verflüchtigte sich wie eine Seifenblase.
Ich blickte in Esterházys von langem
silbergrauem Haar und Zwickern,
wie John Lennon sie trug, umrahmtes Gesicht und dachte nebenbei an
all die literarischen Größen, mit denen ich in Kontakt gewesen bin. Einige von ihnen waren abweisend und
arrogant, aber nur deshalb, weil sie es
nicht vermochten, sich aus der Falle
ihres festzementierten Narzissmus zu
befreien. Eine derartige Vorstellung
von einem kanonisierten und für
die Ewigkeit bekränzten Schriftstellers hat mit Esterházy nichts zu tun.
Wäre mir seine Physiognomie nicht
im Vorhinein bekannt gewesen, hätte ich angenommen, jemand aus der
einstigen Rockband Jethro Tull würde vor mir stehen, oder aber der wiedergeborene Benny Hill, der neuerdings Perücken trägt und die Gesellschaft von Blondinen genießt, trotz
aller Witze über ihre Klugheit. Die
drei Tage von Pula waren eigentlich
drei Tage der kroatisch-ungarischen
Beziehungen, die nach dem Ersten
Weltkrieg ein jähes Ende gefunden
hatten!
Obwohl der Säbel des Ban Jelačić,
dessen Denkmal am Zagreber Hauptplatz steht, nicht mehr auf Ungarn
zeigt, scheint es, die Kroaten würden
gerne die Gesellschaft von allen und
jedem genießen, aber ihre eigenen
Nachbarn seien dabei doch die letzten. Auch das Itinerar, das den ungarischen Gast über Venedig von Budapest nach Pula geführt hatte, schien
jene hartnäckige Umwegigkeit in sich
zu tragen, die seit jeher unseren nationalen Geist auszeichnet. Während
ich mit Esterházy plauderte, sprach
ich Namen an, die für uns beide anregend sein müssten. Im selben Kreis
fanden sich Thomas Bernhard, Havel, Ferenc Fejtö, Bela Hamvas, Joy-
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RELA
TIONS
ce, Krleža, Danilo Kiš... Obwohl er
kein Doktor ist, neigt Esterházy zur
Transplantierung fremder Texte und
als er einmal nach dem legendären
Hamvas gegriffen hatte, reagiert seine Witwe Katalin Kemény, als sei sie
von einer Tarantel gestochen worden.
Etwas ähnliches hat Esterházy auch
Kiš angetan. Seine Novelle Es ist ehrenhaft, für das Vaterland zu sterben
hatte er beinahe wortwörtlich abgeschrieben und mit seinem eigenen
Namen unterzeichnet.
Bei seinem ungarischen Freund meldete sich Kiš telefonisch einige Monate vor seinem Tod. In seiner Stimme klang etwas Ungeheueres mit, etwas, was signalisierte, er würde sich
bereits auf der anderen Seite befinden, erinnerte sich Esterházy. Während wir uns über Kiš unterhielten,
kamen wir auf viele bekannte und
weniger bekannte Kleinigkeiten zu
sprechen, auf Ungarn und Frankreich, Budapest und Paris. Irgendwann bemerkte ich, Kiš sei in Subotica zur Welt gekommen. Nein,
das war Cetinje, erwiderte Esterházy. Ich sah ihn misstrauisch an
und er reichte mir die Hand. Wollen
wir wetten, aber um was? Um eine
Flasche Champagner, rief mein ungarischer Opponent. Wir saßen im
Restaurant Vela Nera, unmittelbar
nach der Eröffnung der Buchmesse.
Die Gäste waren schon von Trüffeln,
Pasta und Meergräsern betört, von
denen einem, wie auch vom Terran,
schwindlig wird. Wer hätte sich in
Relation 1_2011.indd 109
Feuilletons
diesem Zustand mit der Frage abgeplagt, wo Kiš geboren wurde? Am
Nachbarstisch saßen Antun Vujić,
Željka Udovičić, Vanja Sutlić Junior
und Duško Radić. Duško ist Direktor des Kroatischen Radios und er
wurde sogleich neugierig.
Er telefonierte mit seiner Tochter in
Zagreb, diese sah in der Enzyklopädie nach und bestätigte, Kiš sei in Subotica geboren. Auf der Buchmesse
von Pula habe ich jenen Roman vorgestellt, in dem der berühmte tschechische Erzähler Bohumil Hrabal
Esterházy als Vorlage gedient hatte.
Ich sprach über Manierismus, den
Spiegeleffekt und dem Prinzip des
Kreisens, von dem Schriftsteller abhängen, so wie jeder Mensch, ob er
es nun zugeben will oder nicht, von
seinen Vorfahren abhängt. Ein ungarischer Autor suchte sein Bild in
einem älteren tschechischen Kollegen, der sich bei ihrem ersten Treffen
überheblich benahm, sodass wenig
fehlte, dass der ungarische Adelige
seinem Idol den Laufpass gibt und
revoltiert Prag verlässt. Bei Esterházy
begeisterte mich nicht nur seine Bildung, gesteigert durch die Tatsache,
dass er Mathematik studiert hatte
und Huygens Begriff der mathematischen Hoffnung analysieren kann
wie die Geschichte von Rotkäppchen, ganz zu schweigen von seinen Rock-and-Roll-Kenntnissen oder
seiner sonderbaren Leidenschaft für
das Saxofon und Charlie Parker, die
nicht geringer ist, als seine Hingabe
109
zur klassischen Musik.
Schließlich spielte am Hofe seiner
Vorfahren Joseph Haydn höchstpersönlich und den Rahmen für seinen
Roman Harmonia caelestis fand er in
den 55 gleichnamigen Kantaten, die
sein Vorfahre und Kämpfer gegen die
Türken Pál Esterházy komponiert
hatte. Ebenso wichtig ist, dass Esterházy einen subtilen Sinn für Humor besitzt, der niemals vorschnell
zur Geltung kommt. Endgültig entwaffnet hat er mich aber, als er mir
offenbarte, er würde Fußball lieben
und sein Bruder sei ein Profispieler
gewesen, obwohl die ungarische Fußballehre zusammen mit der Grandezza seiner Familie der Vergangenheit
angehören. So wie sich ein Ungar in
einem Tschechen erkannt hat, spiegele ich mich auch selber in meinem
seligen Vater Jaroslav, der tschechischer Abstammung war und seiner
Mutter Rozalija Potzi, die geborene
Ungarin gewesen ist. In einem imaginären Vorleben spazierte Esterházy
durch die Salons seiner glorreichen
Ahnen, so wie viele längst verstorbene Vorgänger ihre Europäische Union bereits gelebt haben, bevor uns
Javier Solana in sie gelockt hat. Das
magische Kreisen der Schicksale wurde durch eine gewonnene Wette abgerundet. Kann es denn noch besser
sein?
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Boris Perić
30.4.2011. 17:53:02
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TIONS
Ein Requiem für Komiža
Zdravko Zima
E
s ist nicht leicht, sich im Mediendschungel zurecht zu finden,
in dem das Gesetz herrscht und in
dem Dummheit so laut ertönt, dass
alles andere überschattet wird. Wer
seinen Blick nicht bis zur Perversion geschärft hat, wer kein Internet
benutzt und nicht unter maritimer
Nostalgie, oder, mit andern Worten,
der Sehnsucht nach dem Süden leidet, der konnte nur schwer die Nachricht registrieren, die älteste Fischfabrik an der Adria sei geschlossen worden. „Neptun“ aus Komiža wird in
die Rumpelkammer geschickt, wobei
seine Totengräber vom in Kroatien so
groß in Mode gekommenen Substantiv Bankrott Grabrauch gemacht und
auf diese Weise ihr Mitleid für den
Verblichenen demonstriert haben.
Die Fabrik in Komiža wurde also
für immer geschlossen, die Kroaten aber werden auch weiterhin mit
Märchen von tausend und was weiß
ich wie viel Inselchen und Inseln gefüttert, Märchen von Flauten, Seegängen und einer Küste, wie es sie
nirgendwo anders auf dem Erdball
gibt. Außerdem, als sei das Schließen wirtschaftlicher Giganten, aller
möglicher Unternehmen, touristischer Komplexe und Schiffswerften
nicht etwas worin wir bereits geübt
sind und uns als gottgegebene Meister behaupten konnten.
Die Kommunisten hatten sich einst
Sandschlösser ausgedacht, die Patrioten zertreten sie heute mit gut eingeübten Tritten und stellen dadurch
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das so sehr benötigte Gleichgewicht
auf. Das Gleichgewicht zwischen Bau
und Zerstörung, Tag und Nacht, ist
aber nicht nur ein gesellschaftliches,
sondern auch ein natürliches Gesetz.
Dass rund hundert Arbeiter in einem
hübschen Städtchen ohne Arbeitsplatz geblieben sind, ist das kleinere
Problem, denn Kroatien ist ohnehin
ein Staat in dem die Arbeitslosigkeit
zu einer der meistverbreiteten und
lukrativsten Erfindungen geworden
ist. Das Komischste oder Traurigste
dabei ist, dass dem seligen Neptun
niemand auch nur eine einzige Träne
nachgeweint hat. Die meisten Angestellten arbeiten so lange, dass ihnen
eine vorzeitige Pensionierung nicht
als Todesstrafe erscheint, während
eine Abfindung von tausend Kuna
monatlich in Komiža mindestens das
Dreifache wert ist, als in Zagreb. Dort
am Meer, an der Küste von Vis, finden sich immer ein stück Käse, ein
Paar getrocknete Feigen und etwas
Wein, und wenn es auch ein Glas
mehr sein sollte, ist das Leben sofort schöner als in amerikanischen
Seifenopern.
In Komiža braucht man kein Geld
für Taxis und Straßenbahnkarten auszugeben und es ist auch nicht nötig,
für Fisch mit reinem Gold zu bezahlen, wie es jene tun müssen, die in Zagreb Leben und sich am Marktplatz
Dolac mit Fisch eindecken. Wer auf
einer einsamen Insel lebt, braucht
sich nicht mit Theaterbesuchen abzuplagen, ist den Versuchungen der
Warenhäuser nicht ausgesetzt, in denen das ganze Jahr über Saisonausverkäufe wie Segel gespannt werden,
und es stellt sich die Frage, wie viel
sinn es überhaupt hat, einer Fabrik
nachzuweinen, in deren Lagerhallen
es so entsetzlich roch, dass es niemandem, der jemals ihre Schwelle
übertreten hatte, mehr in den Sinn
kommt, auch nur ein Fischchen in
den Mund zu nehmen.
Es ist wahr, jede Geschichte kann
man so oder so erzählen, und es ist eine Frage der Finesse, ihr einen fröhlichen oder traurigen Schluss zu verleihen, aber das Schließen der Fabrik in
Komiža ist nur ein weiteres Symptom
des Dahinsterbens, ein Zeichen, dass
man mit der Wiederbelebung der adriatischen Regionen auf glücklichere
Zeiten warten muss, wenn nicht sogar aufs neue Millennium. Ich weiß
nicht, was dem hinzuzufügen wäre,
aber wenn es in Komiža keine Perspektive für eine neue Sardinenfabrik
gibt, dann stellt sich genauso die Frage, was für Perspektiven dieser und
alle anderen, ähnlichen Orte auf unseren Inseln und an der Küste überhaupt haben.
Es mutet sich billig an, zu sagen, es
handle sich um eine Perle, aber auf
meinen Adriareisen von Umag bis
Cavtat und von Brijuni bis Vis habe ich kaum einen schöneren und
geheimnisvolleren Ort gesehen als
Komiža. Wenn es dort keine Aussichten auf Fischfabrikation gab, bedeutet dass etwa, das in Kürze dort Gi-
30.4.2011. 17:53:03
RELA
TIONS
raffen, niederländische Tulpen oder
profitable Opiate gezüchtet werden
sollen?
Wenn Tourismus der einzige Wirtschaftszweig ist, mit dem ernsthaft
gerechnet wird, wenn wir zu nichts
anderem imstande sind, als unsere
Häuser mit Tafeln zu schmücken,
auf denen „Zimmer frei“ geschrieben
steht, dann scheinen jene im Recht
zu sein, die behaupten, bei uns hätte
sich eine servile Mentalität verankert,
die unter den Bedingungen des neuen Kapitalismus nicht weiter gekommen ist, als zur Verbeugung des Kellners. Marinković hatte Die Hände geschrieben und wir sollen jetzt wie Papageien „Handkuss, meine Damen“
runterleiern. Und all das nur des erniedrigenden Trinkgelds wegen? So
wie es den Serben nicht gelingen will,
trotz aller Mythen und donnernder
Beschwörungen, den Kosovo weder
im demographischen, noch in irgendeinem anderen Sinne zu revitalisieren, schwärmen die Kroaten vom
Adriatischen Meer und seinen paradiesischen Gärten und verwüsten sie
von Tag zu Tag mehr.
Dass in Komiža auf die Sardinenfabrik der Todeskranz niedergelegt wurde ist ungefähr genauso verständlich,
wie wenn die Kubaner auf die Produktion von Zigarren verzichten würden, genauso logisch, wie wenn man
in Brasilien auf die Ausnutzung von
Kautschukbäumen vergessen würde
und in Mazedonien auf den Handel mit scharfem Paprika. Wichtig
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Feuilletons
ist nur, dass es nie langweilig wird.
Wenn nicht gerade eine Sardinenfabrik stillgelegt wird, wird endlos darüber debattiert, wer von der Blauen Höhle auf Biševo profitieren darf.
Wenn gerade niemand an Migräne
leidet und das Meer um Vis herum ruhig ist, geht der Sturm in der
Bucht von Piran los und lässt meinen, die kroatischen und slowenischen Fischer könnten ihre Fischerbote jeden Moment in Torpedobote
umwandeln.
Anfang 2001, irgendwie zur gleichen Zeit als in Komiža Neptun
stillgelegt wurde, verstarb in Zagreb
Ranko Marinković. Obwohl er seine Heimatinsel jahrzehntelang nicht
besucht hatte – und als er ein Haus
für den Sommerurlaub kaufen wollte, fand er den besten Standort auf
der Insel Brač – atmete Marinković
sein Leben lang als Dalmatiner und
träumte in der Agramer Oberstadt
von seinem Vis und seiner Issa.
Er wurde in Vis, dem Städtchen seiner
Mutter geboren, sein Vater war aus
Komiža, während des Zweiten Weltkriegs war er im italienischen Lager
Ferramonte interniert und danach
im Sinai, in El Shatt, seine schriftstellerische Berufung drängte ihn, Zagreber zu werden und jetzt ruht er auf
dem Friedhof von Komiža, nahe der
St. Nikolaus-Kirche, mit herrlichem
Ausblick auf das offene Meer und die
Insel Biševo. Wenn er sehen könnte,
was in seiner Heimat vor sich geht,
worum seine Mitpatrioten streiten,
111
wie sehr gegen die Thunfischzucht
gewettert wurde und wie nun Fabriken geschlossen werden, hätte er
kilometerweise Stoff für seine Novelletten.
Am wunderlichsten mag klingen,
dass šjor Ranko im Sternzeichen der
Fische zur Welt kam, die sich wieder
mal als Stein des Anstoßes erwiesen
haben. Denn auch Thunfische sind
des Teufels Werk, dermaßen gehässig
und gefräßig, dass sie sich hier und da
an einem Badegast vergreifen könnten, und Badegäste sind in Rankos
Heimat offensichtlich wichtiger als
stinkende Fabriken.
In den Dokumenten von Željko Mardešić, einem weisen Religionssoziologen, der seit Jahren unter dem Pseudonym Jakov Jukić veröffentlicht,
steht, er sei in Komiža geboren, obwohl er seit Jahrzehnten in Split lebt.
Genauso wie der Dichter Jakša Fiamengo und sein Kollege und Doktor der philologischen Wissenschaften Joško Božanić, der Gedichte in
der Mundart von Komiža und erforscht ihre lokalen Facetten. Auf
Vis fand Marschall Tito Unterschlupf
und während des NDH-Staates war
die Insel von Mussolinis Soldaten besetzt. Die Chancen, dass sich so etwas
wiederholt, sind im Moment gleich
null. Die Insel wird ab jetzt von sich
selbst besetzt.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Boris Perić
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RELA
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TIONS
Edita Majićs Fühler
Zdravko Zima
I
n der Flut der Ereignisse, die von
überallher auf und einstürmen,
vermischen sich Wahrheit und Lüge
wie der Wind und ein unerwarteter
Regenschauer. Deshalb sorgte die
Nachricht, Edita Majić wolle auf ihre
Theaterkarriere verzichten und den
Rest ihres Lebens im Karmeliterkloster verbringen, für Misstrauen und
Verwirrung. Misstrauisch waren alle,
die vor allem skeptisch sind, verwirrt
ihre Freunde, Kollegen, aber auch
jene, die in der Überzeugung leben,
die fühlbare Wirklichkeit sei schöner
und gewisser als alle anderen, letztendlich doch hypothetischen Welten. Obwohl ich zugeben muss, dass
ich nur mit einem Auge fernsehe,
während ich zum Zeitungslesen einen Ventilator oder zumindest einen
bewusst ausgelösten Luftzug benötige, traf mich die Nachricht von der
Schauspielerin, die die Theaterbretter durch eine der schwersten und anspruchvollsten Formen des Lebens in
Klausur ersetzen will, wie der Blitz.
Nicht, weil ich an ihrem Entschluss
etwas auszusetzen hätte, sondern,
weil dieser abermals die Frage nach
den Gründen einer weltlichen Existenz aufwirft, die sich in Bankkonten, Bausparkrediten und Erfolgsillusionen kanalisiert, die in der Regel
mit Sirenengeheul als Hintergrundmusik im Krankenhaus enden.
Ein Leben, reduziert auf parlamentarisches Geschwätz, Titelseiten von
Boulevardmagazinen und Einbildungen über die eigene Größe, die nicht
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weiterreicht, als bis Mala Mlaka oder
Veliko Trgovišće, ist keinesfalls das,
was einen von bloßer Eitelkeit befreiten Menschen erfüllen dürfte.
An Edita Majić erinnere ich mich
als Rebecca in der Vorstellung „Bitter Moon“, nach Bruckners Roman
(und Polanskis Verfilmung), aber auch
als Suzie Schwartz im Kabarett „Der
schwarze Kater“
Je mehr man den Eindruck gewinnt,
das Theater würde die letzten Jahre hindurch nichts besonders aufregendes bieten, desto weniger klopfe
ich an seine Türen. Außer aus dem
„Schwarzen Kater“, der nichts mit
dem mystifizierten HSS-Führer zu
tun hat, kenne ich Edita Majić als
Person, die sich in Zagreb für die
Unterbringung von Hunden eingesetzt hatte. In einer Welt in der Geschwindigkeit und Gefühlkälte zu
Synonymen geworden sind, ist ein
Herz für Tiere, denen bestenfalls die
Einschläferung bevorsteht, identisch
mit unverfälschtem Gefühl und jeder
Geste, die über die dirigierte Gutmütigkeit diensthabender Bauchredner hinausgeht. Schließlich frage ich
mich, warum uns die Nachricht vom
riesigen und scheinbar plötzlichen
Wandel im Leben einer Schauspielerin so in Staunen versetzt hat. Die
Nachricht war doch nicht allein wegen Edita unglaublich, sondert wegen aller, die nicht den Mut zu etwas ähnlichem aufbringen können
und glauben, Homogenität und ein
Nationalstaat, in dem Egoismus und
Idiotismus aufs Höchstmaß gebracht
worden sind, sein ein kaum vorstellbares Ideal.
Das Paradoxeste allerdings ist die Tatsache, dass dies Art Irrtum in großem
Maße von der offiziellen Kirche unterstützt wird, aber das ist schon eine andere Geschichte. Obwohl uns
die Erfahrung lehrt, nichts so zu
nehmen, wie es sich anmutet, ist die
Nachricht von Edita Majićs Eintritt
in ein Karmeliterkloster als Tatsache aufzunehmen. Warum? Weil es
Menschen gibt, denen man glaubt,
und Menschen, denen man nicht
glaubt, und weil der Entschluss der
Schauspielerin aus Zagreb / Split das
Resultat ihrer inneren Reife ist, und
nicht etwas Pose oder Bedürfnis nach
Exhibitionismus. Vor langer Zeit,
als die PR noch nicht mit ihren Polypenkraken umhergriff, verzichtete
Greta Garbo auf eine große Schauspielkarriere.
Diese große Vedette nannte man die
Sphinx von Schweden, weil sich hinter ihrem Gesicht Tausende von Geheimnissen verbargen, und während
sie von verschiedensten Komplimenten überhäuft wurde, unter denen das
wohl bekannteste „die göttliche Greta“ lautete, wandte sich unser Edita
Gott zu. Der letzte Film, den die mysteriöse Garbo gedreht hatte, bevor sie
ihren Produzenten, Regisseuren und
allen möglichen Kavalieren den Rücken zuwandte, hieß „Die Frau mit
den zwei Gesichtern“. Edita Majić
zeigte hingegen anhand ihres eigenen
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TIONS
Beispiels, dass sich in jeder menschlichen Kreatur mindestens zwei Gesichter verbergen: es stellt sich nur die
Frage, mit welchem es einverstanden
sein und welches sich im gegebenen
Zeitpunkt als das Stärkere erweisen
wird. Jeder geht seinem Schicksal
entgegen, was aber Edita Majić regiert hat, könnte nur schwer in einem Theaterkopf zur Welt kommen.
Ende März hatte sie zum letzten Mal
die Bühne betreten, als billige Frau
in der Vorstellung „Die Rückkehr
des Flilip Latinovicz“, und schon
in einem Monat wird sie die Rolle
der Ordensschwester im Kloster des
Heiligen Joseph in Avila übernehmen. Sich für einen solchen Schritt
zu entscheiden, bedeutet eigentlich,
eine Ehe mit Gott schließen und ihm
restlos treu bleiben.
Avila ist das Zentrum der spanischen Provinz Altkastilien. Mit dem
Aussehen einer mittelalterlichen Festung, umgeben von Wällen und 86
Türmen, zieht sie zahlreiche Fremde
und Reisende an. Die Stadt befindet
sich unter UNESCO-Schutz, aber
die künftige Schwester des Karmeliterordens wird seine Wonnen nicht
genießen. Die Mitglieder des nach
dem gleichnamigen Berg im nördlichen Palästina benannten Karmeliterordens, spielen heutzutage eine
zweifache Rolle: als Eremiten und als
Ordensmitglieder, die eine öffentliche Berufung haben.
Edita Majić trat ersteren bei, was
ein Schweigegelübde, äußerste Armut, den Verzicht auf alles Mate-
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Feuilletons
rielle und lange Fastenzeiten einbezieht. Gotowski hatte seinerzeit
erklärt, Schauspielen bedeute nicht
Darstellen, sondern Sein (oder Existieren), Edita aber ging einen Schritt
weiter, dorthin, wo sich Arbeit und
Ordnung, Gebet und Frieden miteinander verbinden und wo sich der
Agon mit dem Allerhöchsten identifiziert. Die geistige Ellipse der kroatische Schauspielerin, die ein Kapitel
ihres Lebens beschlossen hat, führt
uns zurück zu Teresa von Avila, der
legendären Heiligen, der mit Johannes vom Kreuz die Reform des Karmeliterordens begonnen hatte.
Teresa war eine der seltenen Frauen
ihrer Zeit, die lesen und schreiben
konnte, und ins Kloster gelangte sie
nach einem Kokettieren, das seinen
Dimensionen nach höchst fragwürdig gewesen sein dürfte, im 16. Jahrhundert aber empörend genug war,
um ihre Laufbahn in eine unvorhersehbare Richtung zu wenden.
Vielleicht war das Geschick des Heiligen Augustinus (dessen „Bekenntnisse“ Teresa aufs Tiefste berührt hatten)
auch nicht anders, oder aber jenes des
Ignatius von Loyola, der nach dem
Fall von Pamplona einen Wandel
durchgemacht und das Soldatendasein aufgegeben hatte, um als Pilger
durch die Welt zu reisen und in Paris
den Jesuitenorden zu gründen. Das
menschliche Innere entdeckte Teresa
als Schloss mit zahllosen Kammern,
ihre Gebetslehre wurde von der Kirche als fundamental erklärt, und sie
selbst erklärte, die geistige Fülle wür-
113
de nicht nach Ekstase gemessen werden, sondern nach Opferbereitschaf
und Nächstenliebe. Durch mehrere
Stufen führt das Gebet den Einzelnen zu Offenheit und Reinigung, die
in Gott gipfeln. In der Kirche, die
Frauen gegenüber Jahrhunderte lang
reserviert gewesen ist, zerstörte Teresa so manches Vorurteil und wuchs
zu einer Heiligen und Ordensführerin hervor, deren Werke auch außerhalb der streng begrenzten gläubigen
Kreise gelesen werden.
Es ist schwer anzunehmen, Himmel
und Erde hätten sich jemals in jemandem dermaßen einander angenähert,
wie im Schicksal dieser grandiosen
Spanierin! Teresa von Avila bedeutet
Ekstase, aber auch Unterwerfung,
Mut, aber auch Folgsamkeit. Diesem Ziel geht Edita entgegen, eine
unalltägliche Frau und entpflichtete
Schauspielerin, deren Name noch eine große Karmeliterin in Erinnerung
ruft – die geborene Jüdin und katholische Martyrerin Edith Stein. Der
Dominikaner Johannes B. Brantschen behauptet, viele Zeitgenossen
könnten Gott nicht begreifen, weil
sie ihre Antennen nicht ausgefahren
hätten. Mit dieser Art Fühler hat
Edita keine Probleme. Deshalb ist
ihr Weggehen so aufzunehmen, wie
es ist. Als Suche nach Wahrheit, die
mit dem eigenen Maße stets in Einklang ist; ohne Zweifel, auch mit dem
Glauben.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Boris Perić
30.4.2011. 17:53:03
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TIONS
Der Löwe in der Falle
Zdravko Zima
A
ls ich in Passau war, einem deutschen Städtchen an der Mündung von Ilz und Inn in die Donau,
prägte sich von allem, was ich gesehen habe, ein altes Gasthaus am
schärfsten in mein Gedächtnis ein.
Aber nicht so sehr wegen dem Gasthaus selbst, das pittoresk und ausgeschmückt ist, wie es sich für Deutschland gehört, als wegen der Gedenktafel an der Vorderfront, die besagt,
dass seinerzeit Wolfgang Amadeus
Mozart an diesem Ort logiert hat.
Das Salzburger Zauberkünstler hatte dort, soweit ich mich erinnere,
auf der Durchreise nach Prag haltgemacht, und das war mehr als genug, damit sich die Bürger von Passau heute rühmen können, eines der
größten Genies der Menschheit habe in ihrer Mitte ein Paar Stunden
verbracht, um sich im Vorfeld neuer
Herausforderungen geistig und körperlich auszuruhen. Jede Stadt und
jeder Ort rühmen sich der Künstler,
die durch die Autorität ihres Namens
ihr Bild zusätzlich verschönert haben. Auch Pula, wo zwischen 1904
und 1905 James Joyce gelebt hat, ist
dabei keine Ausnahme.
Natürlich hat die Geschichte der
größten Stadt am istrischen Ypsilon
nicht vor 100 Jahren begonnen, als
jener junge und unbekannte 22jährige durch ihre Straßen ging, der
sich durch seine Sprache, sein Aussehen, sein Benehmen und alles andere deutlich von den Einheimischen
unterschied. Mit seinen Sehenswür-
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digkeiten aus der Römerzeit, dem
Sergierbogen, dem Augustustempel,
der Arena und dem Herkulestor hatte
Pula dem Fremden viel zu bieten.
Aber, was ist diese Stadt, auf deren Plätzen die Spuren der Weltgeschichte einander ablösen wie jene
der Jahreszeiten auf Laubbäumen,
was konnte diese Stadt, in der sich
der altrömische Kaiser Hadrian aufgehalten hatte (wovon Marguerite
Yourcenar in ihrem berühmten Roman zeugt), einem Neuankömmling, wie Joyce es war, bedeuten? Dise Frage ist am besten mittelbar zu
beantworten. Jene, die Literatur als
beiläufige Unterhaltung verstehen,
meinen, Joyce sei ein englischer Autor, obwohl er Ire war, genauso wie
Jonathan Swift, Oscar Wilde, W. B.
Yates, G. B. Shaw, Samuel Beckett
und Sean O’Casey.
Aber, über sein Schicksal nachdenkend, gewinnt man den Eindruck,
Joyce sei nicht nur ein Irischer, sondern auch ein kroatischer Schriftsteller gewesen. Nicht nur deshalb, weil
seine Werke dank der Übersetzungen von Ivan Goran Kovačić, Stanko
Šimić, dem Tandem Slmanig-Šoljan,
Zlatko Gorjan, Luko Paljetak und
Ante Stamać, vor relativ langer Zeit
bei uns eingebürgert haben, nicht,
weil Joyce ein Paar Monate in Pula
verbracht hat, sondern weil Kroatien und Irland so viele Berührungspunkte haben, dass man eine derartige Synonymie geradezu voraussetzen
kann. Kroatien liegt am südöstlichen
Rand Europas, Irland am westlichen,
Kroatien ist das Antemurale Christianitatis, Irland das Ultima Thule,
oder, mit anderen Worten, das Ende
der Welt. Europa ist schon in Dunkelheit gehüllt, während die letzten
Sonnenstrahlen über Irland verglühen, über seinen Küsten und Fjorden,
und diesem Land die Aura von etwas
anziehendem, aber zugleich auch abstoßendem und wundersamen verleihen. Die Völker, die in diesen beiden
Ländern leben, sind einander durch
ihr Gefühl der nationalen Selbstständigkeit ähnlich, aber auch durch das
Sorge um das Erbe und das feine Gefühl für Unterschiede.
Die Iren lieben die Engländer vielleicht genauso, wie die Kroaten die
Serben lieben, erstere haben Geheimorganisationen, die sich Right Boys
nennen, während sich der UstaschaSchlachtruf „Für die Heimat bereit“
einigermaßen mit dem Namen ihrer republikanischen Bewegung Sinn
Fein messen kann, was da bedeuten
soll: Wir alleine. So, wie es die Kroaten nicht mögen, dass ihre Nachbarn
Ansprüche auf ihr Gebiet erheben, so
sträuben sich die Iren, wenn der perfide Albion eine Art Protektorat über
ihre Küsten beantragt. Und, was vielleicht am wichtigsten ist, Joyce fühlte
sich in seiner Heimat Irland wie ein
Löwe in der Falle und das Gefühl der
Provinzialität, das ihn auf Schritt und
Tritt plagte (und ihn in frühen Jahren
ins Exil drängte) plagt genauso jeden
zweiten Kroaten.
30.4.2011. 17:53:03
RELA
TIONS
Aus Irland fliehend, floh der junge
James vor den Gespenstern der Nation und der heimatlichen Exaltiertheit, vor der kirchlichen, schulischen
und elterlichen Autorität, vor allem,
was sich seiner persönlichen und professionellen Emanzipierung in den
Weg gestellt hatte.
Vom subtilen Dubliner, der die Musik über alles liebte, sodass er sie auch
in der Literatur suchte und mit den
Wörtern spielte, als seien es Heraufund Herabsetzungen, kann nicht behauptet werden, er hätte die Engländer geliebt, die katholische Kirche
nannte er eine italienische Leichenschluckerin, während er in seinen
Volksgenossen nichts anderes sah, als
eine Menge verstaubter Hinterteile.
Auch im Hinblick auf potentielle
Freundschaften hatte er keine anderen
Einstellungen. Er behauptete, Freunde würden früher oder später Ihre
Frau begehren, wenn nicht die Frau,
dann eben die Tochter, Ihre Geldbörse und weiß Gott was alles noch.
Ein derartiger Joyce, alles andere, nur
kein fröhlicher Typ (joy bedeutet im
Englischen Freude) hinterließ eine
der brutalsten Definitionen seiner
Heimat. Irland war für ihn eine alte Sau, die ihre eigenen Ferkel frisst,
und diese Bestimmung inspirierte
Danilo Kiš zum Titel einer Geschichte in seinem Buch Ein Grabmal für
Boris Davidovič. Der Schriftsteller
und Rebell, der so über seine eigene
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Feuilletons
Heimat urteilte, konnte auch über
Kroatien keine Illusionen haben.
So wie Irland das Ultima Thule ist,
war Pula für ihn das Ultima Pula,
eine Station der Durchreise, eine
Stadt, in der er sich eher aus Not,
als aus übertriebenem Wunsch eingefunden hatte. Bestätigung darüber
hinterließ er auch in seinen Briefen
an seine Verlobte Nora Barnacle, ein
Mädchen, das ihm zur Lebensgefährtin wurde und das auf verschiedene
Weise in seiner Literatur wiederaufersteht. Wenn für jemanden die
Feststellung zutrifft, er hätte sein Leben mit der Literatur gleichgesetzt,
dann ist es gewiss Joyce. Schließlich
wurde sein Ulysses längst als moderner Kontrapunkt zu Homers Odyssee bestimmt. Und so, wie dieses Jahr
der 100ste Jahrestag seines Aufenthalts in Pula gefeiert wird, wird auch
der 100ste Jahrestag des Bloomsday
gefeiert, des Tages, an dem sich die
Handlung des Ulysses abspielt. Den
Tag, an dem er Fräulein Nora kennen gelernt hatte, den 16. Juni 1904,
nahm der Autor als das Datum, innerhalb dessen er die Fabel seines
Romans unterbringen würde, und
verwandelte auf diese Weise seine
Liebesappointment in einen der bekanntesten Tage der modernen Literatur. Gegen den Willen seines Vaters
verließ Joyce Ende 1904 zusammen
mit Nora Irland und reiste über Zürich nach Pula.
115
Seine Heimat und sein Dublin (auf
irisch: Baile Atha Cliath) existierten
seither nur in Büchern und Träumen.
Aber vor der Heimat konnte er nicht
fliehen, so wie er auch vor seinem eigenen Schatten nicht fliehen konnte.
Das, was weit entfernt war, herrschte
in seinem Herzen! Irland wurde zur
Ithaka, der Insel, auf die er, im Unterschied zu seinem mythischen Vorgänger Odysseus, nie zurückgekehrt
war. Dublin wurde zur Hauptfigur
des Ulysses, eines Romans, der die
Grundsätze der Freiheit und der Disziplin auf die Spitze getrieben hatte.
Vielleicht bezieht sich der Gedanke
aus Marunas Gedicht „Es war leichter, dich aus der Ferne zu lieben“ auf
niemanden auf so blutige Weise, wie
auf diesen berühmten Iren. Die Reise, die er ein für allemal angetreten
hatte, wurde vom tiefen Bedürfnis
nach Veränderung geleitet. Ich weiß
nicht, wie sehr sich Joyce verändert
hatte, aber, dass er durch seine Romane den Atlas der Weltliteratur verändert hat, dürfte wohl außer Zweifel
stehen. Kolloquial könnte behauptet werden: Joyce, das sind wir alle. Wenn nicht in unseren Werken,
dann in der Bereitschaft, an einem
Schicksal teilzunehmen, das einzigartig ist, uns aber, gerade, weil es einzigartig ist, alle angeht.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Boris Perić
30.4.2011. 17:53:03
RELA
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TIONS
Das Theorem der Liebe
Zdravko Zima
W
enn der Mensch in die andere
Welt übergeht, scheint es, als
würde sich in der Tiefe seines Fortganges eine neue Ordnung zeigen.
Was wichtig schien, verliert sich im
Nebel des Vergessens, was aber nebensächlich schien, gewinnt auf einmal an Gewicht. Ich weiß nicht, ob
sich im Fall von Don Branko Sbutega auch so verhält, der in den Morgenstunden des 27. Aprils dahingeschieden ist, am gleichen Tag, wie
auch die Selige Osanna von Cattaro, die im 16. Jahrhundert in Kotor
gelebt hatte und noch zu Lebzeiten
als Heilige behandelt wurde. Osanna wurde in Relezi geboren, in einer
Familie orthodoxer Wurzeln, und ihr
richtiger Name war Katarina Kosić.
In ihrer frühen Jugend übersiedelte
sie nach Kotor und trat den dominikanischen Drittordnerinnen bei.
Gott zugewandt, verbrachte sie in
ihrem freiwilligen Gefängnis und
dem Praktizieren von Buße gute 50
Jahre, und obwohl Don Branko von
seinem Charakter und seiner Erziehung her eher auf Kommunikation
als auf Isolation angewiesen war, ist
es möglich, in der Übereinstimmung
des Datums jene Nähe zu erkennen,
die den Pfarrer aus Dobrota und seine
ferne Vorgängerin zum selben Kreis
zählen lässt, zu einer Bruderschaft,
die über die Gesetze von Raum und
Zeit hinausgeht, was letztendlich bedeutet, dass sie auch die Gesetze der
gewohnten, irdisch messbaren Existenzen überschreitet.
Relation 1_2011.indd 116
Wie richtig ist die Behauptung, der
Tod würde die eingebürgerten Vorstellungen ändern? Im Falle von Don
Branko ändert er sie nicht, sondern
verleiht ihnen eine neue, weitreichendere Dimension. So, wie Schriftsteller von Liebe zeugen, erst nachdem
sie ihnen verlorengegangen ist, so
werden die Ausmaße von Don Brankos Beispielhaftigkeit erst sichtbar,
nachdem er endgültig von uns gegangen ist. Bei vielen Gelegenheiten wiederholte ich und wiederhole auch
jetzt eine Anekdote, die ich von ihm
selbst gehört und die er aufgeschrieben und publiziert hatte. Diese Tatsache provoziert andere Fragen: war
Don Branko Priester und Schriftsteller oder Orakel und verbaler Zauberer, oder aber beides zugleich? Vielleicht ist das auch nicht wichtig, denn
außerordentliche Personen, und das
war er gewiss, über die gewohnten
Vorstellungen und geradlinigen Schemen hinausgehen. Kehren wir lieber
zur Geschichte zurück, die eine ist,
weil sie von Don Branko erzählt wurde, wie nur er sie hatte erzählen können. Ich erinnere mich nicht mehr
genau, wann sich das zugetragen haben konnte, er muss aber noch jung
gewesen sein und jung ist er ja für
immer geblieben. Don Branko war
zum ersten Mal in New York. Es war
unglaublich kalt und er besuchte, den
Kopf in Kollar und Schal eingezogen,
bekannte Destinationen.
Und dann, am Washington Square,
traf er auf eine Farbige, die Drogen
verkaufte. Er entschied sich für Meskalin, zahlte fünf Dollar und fragte, statt seines Weges zu gehen, die
Frau, was er mit der Droge (die von
den Indianern Peyotl genannt wird)
machen solle. Die farbige Frau sah in
verwundert an, nachdem sie endlich
begriffen hatte, dass sie es mit einen
Fremden und Neuling zu tun hat,
dem so etwas gänzlich unbekannt
war. Wenn du noch nie Drogen probiert hast, dann lass die Finger davon,
sagte sie. Rette dich, sagte sie, reichte
ihm sein Geld und nahm das Meskalin wieder an sich. Das ist das Wesentliche des Ereignisses und nun folgt
die Poente. Ganz in seinem Stil, kam
Don Branko zum Schluss, dass ihn
nie zuvor jemand so klar geliebt hatte, wie diese Frau, mit der er sich nur
drei Minuten unterhalten hatte und
deren Namen er nicht einmal kannte. Nur er war zu derart fantastischen
Pirouetten fähig, nur er konnte aus
einem dermaßen banalen Ereignis,
wie es der winterliche Vorfall am Washington Square gewesen ist, derart
glänzende und weitreichende Schlüsse ziehen. Schlüsse über die Liebe,
die sich, wie so viel anderes, dort
enthüllt, wo wir sie am wenigsten erwarten und mit unseren dirigierten
Gehirnen nicht einmal ahnen. Das
war ein authentisches Erlebnis, das,
zum Markenzeichen emporgehoben,
Don Branko besser illustriert als alles
andere und von dem mich, wann immer ich es nacherzähle, kalte Schauer
überkommen.
30.4.2011. 17:53:03
RELA
TIONS
Die Geschichte vom winterlichen
New York und der anonymen Drogendealerin verfolgte mich wie ein
Schatten auch am 29. April, als wir
Don Branko in seinem Kotor zu seiner letzten Ruhestätte begleiteten.
Der Himmel hatte sich aufgetan, der
Regen goss in Strömen, sodass es aussah, als würde, außer der Hände der
Kondolierenden, jeder Teil jener Landschaft die Bahre des großen Verblichenen berühren. So wie die Boka,
so klein sie auch sein mag, in ihrer
Verschiedenheit und unvergleichbaren Schönheit ein Synonym für das
Universum darstellt, so traf in der
Kathedrale des Heiligen Tripun an
diesem bewölkten Samstag die ganze
Welt zusammen. Wenn ich das sage,
meine ich nicht den Präsidenten und
Premierminister des eine halbe Million Einwohner zählenden montenegrinischen Staates, ich meine nicht
nur Filip Vujanović, Milo Đukanović
und viele andere Minister, sondern
Tausende bekannter und unbekannter Personen, die das Bedürfnis verspürt
hatten, sich an diesem Tag in der Kathedrale einzufinden. Ich betrete oft
sakrale Räumlichkeiten, aus Neugier,
oder um die Ruhe zu spüren, die
heutzutage so selten und wertvoll geworden ist, aber ich kann mich nicht
entsinnen, jemals eine ähnliche Szene gesehen zu haben: im Inneren der
Kathedrale hatten sich während der
Gedächtnismesse katholische Priester, orthodoxe Popen und islamische
Imame mit ihren weißen mit ihren
weißen Tschalmas auf den Köpfen
versammelt. So etwas konnte nur der
unvergessliche Don Branko! Es war
ein weiterer seiner Siege, wenn auch
postum, eine Warnung an alle, die
nicht weiter sehen können oder wollen, als bis zu ihrer Nasenspitze.
Obwohl Don Branko gestorben ist,
was als Tatsache nicht leicht zu begreifen ist, obwohl wir ihn gerade erst
zur letzten Ruhestätte begleitet haben (auf dem Friedhof neben der Kirche des Heiligen Stasija in Dobrota),
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Feuilletons
kann ich den Humor, als eine seiner
unverkennbaren Tugenden, an dieser
Stelle nicht umgehen. Immer, wenn
wir uns trafen, sah ich zu, dass wir
uns über Literatur unterhalten, weil
mich seine Affinitäten interessierten
und weil ich im Stillen hoffte, das sei
ein Terrain, auf dem ich ihm wenigstens einigermaßen parieren könnte.
Unser Geschmack waren nicht immer der gleiche, und seine Kunst,
die Dinge zu relativieren und sophistisch zu verdrehen einfach erstaunlich. Wenn er bemerkte, dass mir ein
Autor gefiel, half er mir, noch fester
anzubeißen. Er pflegte, den Kopf zu
senken und auf seine Weise hinzuzufügen: als Menschen von Moral sollten wir nicht glauben, dass uns alles,
was uns gefällt, auch gefallen soll! So
sprach er. Luzid und geistreich, mit
einer Dosis eingeborener Eleganz, die
keiner Zugabe bedurfte. Auch jene
Replik über das Gefallen habe ich
für immer im Gedächtnis behalten,
obwohl sie beinahe in gleicher Form
von Eliot formuliert wurde, der als
Dichter, aber auch als katholischer
Konvertit berühmt war.
Den polnischen Primas Karol Wojtyla, beziehungsweise den römischen
Pontifex Johannes Paul II, hatte Don
Branko kennen gelernt, bevor er den
päpstlichen Thron bestiegen hatte.
Zur ökumenischen Idee, die auf der
Messe in der Kathedrale von Kotor
so glänzend verwirklicht wurde, hatte gerade Johannes Paul II einen
wichtigen Beitrag geleistet. Während
seines dritten Besuchs in Kroatien war
er nicht zufällig in Đakovo und verbeugte sich nicht zufällig vor Strossmayers Schatten, obwohl sich die lokalen Größen, sowohl die kirchlichen, als auch die weltlichen, alle
Mühe gegeben hatten, dass dieser Teil
des Itinerars als päpstliche Laune verstanden wird. Faszinierend ist schließlich auch die Tatsache, dass der Pfarrer aus Kotor am 8. April geboren
wurde, also, am gleichen Tag, an dem
der Bischof aus Đakovo gestorben
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war, was wiederum ein Beweis für das
Zirkulieren ähnlicher, in das selbe
Geflecht inkrustierter Schicksale sein
könnte. Es mag vielleicht indiskret
klingen, wenn ich unter Don Brankos zahlreichen Eigenschaften auch
sein schauspielerisches Talent hervorhebe. Pan Wojtyla, der italienisch mit
polnischem Akzent sprach, konnte
er bis ins kleinste Detail nachahmen
und wenn sein Gegenüber die Augen
schloss, konnte er glauben, der erste
vatikanische Priester sei vor ihm in
aller Fülle auferstanden.
Seinen geistigen Reichtum trug Don
Branko als Wegzehrung und als feierlichsten Anzug, obwohl er bescheiden war und sich – selbst wenn er keinen Habit trug – regelmäßig schwarz
kleidete. Jenes semantische Zusammenfallen von Geist und geistreich
verkörperte kaum jemand so klar, wie
der Priester aus der Boka Kotorska.
Und geistreich zu sein, sei es auch in
dieser Form, ist keine Frage des Talents
oder der angehäuften Bildung, sondern des Extrakts einer Seele, die sich
aus den klarsten Quellen getränkt
hatte. An einer Stelle meinte er, er
würde Wahrheit ausatmen, und da
er sich erbarmungslos hingab, da er sein
Pfarrhaus in eine Unterkunft verwandelt hatte, die jeder ohne Rücksicht auf ethnische, weltanschauliche, religiöse und andere Unterschiede betreten konnte, erlosch er auch
so schnell. Das Licht, das er ausstrahlte, übertrug er auf seine Volksgenossen
und alle, die sich ihm nähern wollten,
und legitimierte sich dabei als Hirte,
der in der Vertikale seiner Flamme
bereitwillig und freigiebig mit der
Welt kommunizierte. In der kleinen
und großen Boka beendete ein kleiner und großer Priester seine irdische
Laufbahn. Was während seiner Beisetzung in der Kathedrale des Heiligen Tripun zu sehen war, genügt, um
zu glauben, seine Kraft erreiche uns
auch von der anderen Seite.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Boris Perić
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Foto: © Višnja Arambašić
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Die Orthographie der Insel
Zdravko Zima
I
n seiner bereits kanonisierten Studie über moderne Lyrik macht
Hugo Friedrich auf Goethes Gedicht
Meeresstille aufmerksam, das von der
furchterregenden, in der Weite des
Wassers fixierten Kraft der Ferne zeugt.
Diesem Gedicht, in dem das Meer
gleichbedeutend mit Mysterium ist
– eher ein furchtbares Geheimnis, als
die Möglichkeit eines Abenteuers
oder latenten Wohlgefühls – wird das
Gedicht Glückliche Fahrt entgegengesetzt, das die Vision des rettenden
Ufers übermittelt. Doch, war Anfang
des 19. Jahrhunderts die Neugier des
intellektuellen Europas auch auf Goethes Weimar gerichtet, so änderte
sich rund hundert Jahre später mit
dem neuen Geist auch die literarische
Optik. An die Stelle von Goethes Neoklassizismus trat der moderne Nihilismus, angekündigt durch Nietzsche
und vielleicht am besten in Eliots
Gedicht Das wüste Land repräsentiert. Die Gedichte des Weimarer
Genies haben letztendlich nichts mit
den Versen von Andriana Škunca zu
tun. Als geborener Kontinentaler liebte Goethe zwar den Mittelmeerraum,
so wie Andriana Škunca, im kontinentalen Kroatien geboren, dauerhaft
vom Meer und der Insel Pag fasziniert
ist. Jene Entzweiung, definiert in
Goethes oben erwähnten Gedichten,
ist im Fall der kroatischen Lyrikerin
eher die Regel als die Ausnahme.
Auf gewisse weise wurde sie durch
biographische Gegebenheiten angekündigt und in einer von Asketentum und dem Wechselspiel von Licht
und Schatten durchdrungenen Lyrik
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materialisiert. Sich für diese Gelegenheit auf die Philosophie der Zahlen
stützend, sollte darauf hingewiesen
werden, dass die Zwei ein Symbol des
Gegensatzes ist, der ewigen Zweiheit
und gewissermaßen auch einer gewissen Drohung. Durch ihre private
und lyrische Position zeigt sich Andriana Škunca als Einverleibung dieser
Zweiheit: zwischen Zagreb und Pag,
als, dem kontinentalen und dem maritimen Kroatien lebend, verwandelte
sie Peripherie in Zentrum, während
sie jenem, was im Bild der unzugänglichen Insel verdichtet ist, die Bedeutung eines geheiligten Zufluchtsortes
verlieh. Zwischen Land und Meer
hatte Andriana nicht gewählt, sondern wurde auserwählt! In biographischen Angaben wird angeführt, sie
sei am 9. März 1944 geboren, während die astrologische Ikonographie
ihr Zeichen durch zwei in entgegengesetzten Richtungen zeigende Fische repräsentiert. Einer dieser Fische
schwimmt anscheinend gen Süden,
der andere ist nach Norden gerichtet;
der eine ist Blick, der andere Schein.
Und wo weiter. Zu den Eigenschaften
von Fischen / Menschen gehört eine
tiefe Innenwelt und ein Psychismus,
der seiner Gefügigkeit und seiner Unkontrollierbarkeit wegen dem Meer
am ähnlichsten ist. Das sind Amphibien, die sich im Wasser und an Land
gleichermaßen zurechtfinden, getragen von der Überzeugung, sie würden mit allen anderen Wesen die unübersehbare Vielzahl der Welt bilden.
Sie sind ein teil der Flut, whitmansche Grashalme, die sich mit allen
gleichsetzen, so wie sich der Wassertropfen mit dem Ozean vereint. Es
wurde bereits mehrmals festgestellt,
dass die Lyrik von Andriana Škunca
durch Schatten als Rahmen und eine
Art Substanz bestimmt wird. Aber,
ohne Licht und weiße Fläche gäbe es
auch keinen Schatten. Dieser weist
auf die verborgene Natur der Wesen
und Dinge hin, die Holan und Šop
in ihrer Lyrik identifiziert haben, und
die mit dem Tod in Absprache stehen. Das Licht steht in nächstmöglicher Verwandtschaft zur weißen
Fläche, einer Farbe, die Anfang und
Ende bestimmt, das Morgengrauen
und die Abenddämmerung, und ohne
die Andrianas Lyrik keine derart herbe Qualität haben würde. Schließlich
veröffentlichte sie vor dreißig Jahren
ihren ersten Lyrikband unter dem
Titel Weiß bis zum Himmel. Auch wenn
es sich um eine verschneite Landschaft oder ein religiöses Ritual handelt, trägt das Weiße eine Vision der
Stille in sich. Denken wir an Andriana, muss hinzugefügt werden, dass
das Weiße für sie gleichbedeutend ist
mit worthafter Stille, da es als Stille
realisiert wird, die einem Steinchen
ähnelt, das, auf die stille Wasseroberfläche geworfen, um sich herum endlose Kreise verbreitet. In höherem
oder geringerem Maße bezieht sich all
das auf Andrianas Buch Lichtschrift
von Novalja, die von der Matica hrvatska in Zagreb veröffentlicht wurde
(graphischer Redakteur Luka Gusić).
Außer der Tatsache, dass sich die Autorin erneut der delikaten Form des
Prosagedichts zugewandt hat, ist der
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120
Band Lichtschrift von Novalja allem
zufolge ein Autorenwerk höchsten
Ranges, weil er, außer aus Text, aus
einer gleichberechtigten und komplementären Serie von Fotografien
besteht, die ebenfalls von Andriana
angefertigt wurden. Diese Fotografien sind keine nebenläufigen Verzierungen, sondern eine andere Weise,
über dasselbe Auskunft zu geben: das
Weiße des Gesteins, die Orthographie der Insel, die Synchronie von
Licht und Schatten, die Nostalgie,
die Einsamkeit, die Faszination durch
das Meer, die laut Thomas Mann
nichts anderes ist, als die Faszination
durch den Tod. Gedichte über die
Insel (Pag) schreibend, verwandelte
Andriana auch die Insel selbst in ein
Gedicht; sich der Zeit vermummter
Großmütterchen, versenkter Barken,
rostiger Anker und von Spinnweben
und Schatten umgebener römischer
Ziegel anpassend, identifizierte sie
ihre Sprache mit Spinnweben und
Schatten. Wer auf diese Weise seine
Sehnsucht nach der Insel lebt, ein
Spiel aus Schwarz und Weiß, das sich
letztendlich mit den Zyklen von Leben und Tod gleichsetzt, der lebt seine „Nostalgie des Lichts“, die von
Tin Ujević dermaßen glänzend gezähmt wurde. Während er dem kristallenen Würfel der Heiterkeit nachwanderte, wurde Tin, wie er es besungen hatte, von der Größe des
Himmels zerdrückt. Dieser Philosophie des Wanderns und der kristallenen Reinheit hat sich Andriana genauso zielstrebig zugewandt.
Was für Ujević die Insel Brač, für Novak Rab, für Kraljić Krk bedeutet, das
ist für Andriana Pag: Zuflucht und
Überzeugung, Anfang und Ende.
Die Insel ist der Raum der Einsamkeit und der Erneuerung, die Insel
ist Gesetz und Schutz, in dem das
Leben, zurückgeführt auf oxymoronische Paare wie reiche Armut oder
winterliche Sommerreise, erst zur
vollen Geltung kommt. So abgedroschen es vielleicht klingen mag, sollte doch festgehalten werden, dass die
mediterrane Landschaft, die Andri-
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Dossier: Zdravko Zima
ana in ihren poetischen Fotographien (Spiegeln!) enthüllt, der Widerschein einer inneren Landschaft ist,
jener tiefen Hingabe an die andere
Seite der Existenz, die sich am Ende in Schweigen verwandelt. Oder
in Meeresstille, ein Weltbild, von
allen Übeln gewaschen und in Elementarteilchen kanalisiert, den Duft
des Zimmers, die Spur der Eidechse und Glühwürmchen, über denen
sich stets der Geist der Verlassenheit
ergießt. Škuncas Gedichte sind von
den Fotografien nur schwer zu trennen, denn es handelt sich, trotz der
verschiedenen Medien, um denselben Reduktionsvorgang und dieselbe
Methode des Entblößung und asketischen Reinigung. Genauso schwer
ist es, festzustellen, wann diese Gedichte aufgenommen wurden und
zu welchem Zeitpunkt die Kamera
ihre helldunkle Handschrift auf dem
empfindlichen Negativ hinterlassen
hat. Morgengrauen oder Abenddämmerung, vor oder nach der Flut, egal.
Denn über allem zieht sich das „dünne Flachs der Wolken“ hin, von Frauenhand und Leiden gewoben, obwohl Kreativität und Leiden, sofern
sie es wirklich sind, geschlechtliche
Merkmale verwerfen, wie die Schlange ihr abgenutztes Hemd verwirft.
So, wie sie in ihren lyrischen Montagen Behausungen von Schmetterlingen, versteinerte Schwämme, eine
hölzerne Gebetbank, einen im Hügel
[!] versunkenen Mast und längst gepflückte Feigen vermutet, registriert
Škunca auf ihren Fotografien das, was
dem bloßen Auge unsichtbar ist und
belebt es als etwas schon beinahe Totes.
Die Tiefenkraft der Insel in sich tragend, in Novalja lebend, setzte Andriana ihren ausgesonderten Punkt
mit der Welt gleich. Während sich
Pessoa mit einem schmutzigen Lisabonner Pier zufrieden gab, um mit
seiner Hilfe mit Amerika und Afrika,
der Vergangenheit und der Zukunft,
zu kommunizieren, verwandelte Andriana ihr isoliertes Novalja in einen
Ausgangsfunken. „Niemals habe ich
Herden gehütet, aber, als ob ich sie
TIONS
gehütet hätte“, sang der geheimnisvolle Lusitanier, versteckt hinter einem
seiner Heteronyme. In ihre Gedichte und Fotografien gehüllt, konnte
diesen Vers ebenso gut Andriana autorisiert haben. Während sich die
touristische Theologie gleich einer
ansteckenden Krankheit im Mittelmeerraum ausbreitet, erquickt sich
Andriana an morgenroten und abenddämmernden Bildern, die keine scharfen Ränder kennen und auf denen sie
lebhaft mit dem Toten kommuniziert.
Während das Schaf in der kolloquialen Sprache zum Synonym für Dummheit oder einer Metonymie für den
auf Schlachten und Fressen reduzierten balkanischen Primitivismus geworden ist, ist es bei Andriana ein
geheiligtes Wesen (Agnus Dei), in dessen Weiß sich die Unschuld einer längst
vergessenen Welt verborgen hält.
Um ins Mark von Andrianas Gedichten einzudringen, um ihre Bilder und
(Re)Visionen lesen zu können, ist
zunächst Geduld erforderlich. Und
kosmische Offenheit, die zu genau
der gleichen Poetik der Offenbarung
und des kindlichen Wunders führt.
Und das Wunder dauert an, in Lavendel und Rosmarin, im Schatten,
der sich auf die Fensterläden gelegt
hat, oder dem Spiegeln des Zimmers, unter dem Laren und Penaten
hervorlugen. Als hätte sie sich mit
Fran Mažuranić verbrüdert, der in
den Meerestiefen Stein sein wollte,
als hätte sie das Echo eines indischen
Einsiedlers gehört, wendet sich Andriana nach allem an die großartige
Leere. An die Leere, die Fülle und
das Fragment, das Totalität ist. Ihre
Ars scribendi trägt Genauigkeit und
Flüssigkeit in sich, in ihrer Absolutheit einzig mit der Absolutheit des
Meeres vergleichbar. Alles und alle
entziehen sich uns, auch wir selbst,
schrieb Marguerite Yourcenar. Dieser
Art des sich Entziehens hat Andriana ein Buch gewidmet, das in seiner
Ausgesondertheit nach ebenso ausgesonderten Lesern verlangt.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Boris Perić
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TIONS
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Der Traum von Havels Mutter
Zdravko Zima
E
in oberflächlicher Vergleich von
Kroatien und Tschechien könnte leicht den Eindruck hinterlassen,
die beiden Länder seine in vielerlei Hinsicht miteinander verwandt.
Beide befinden sich in Europa, beide haben nach dem Fall der Berliner
Mauer mit der lastenden Praxis des
Kommunismus gebrochen, in beiden wurden die Sessel der Präsidenten von Intellektuellen bestiegen.
Aber hinter dieser scheinbar konkreten Tatsache verbirgt sich etwas
anderes. Mit dem Fall des kommunistischen Imperiums, das mit allen
epochalen Umbrüchen identifiziert
worden ist und in seinen Konsequenzen dem Zerfall des Römischen
Reiches gleichzusetzen ist, begann
sich das Rad der Geschichte wieder
vorwärts zu drehen. Oder vielleicht
doch rückwärts? Die Tschechen haben abermals ihre Zugehörigkeit zur
europäischen und westlichen Familie bezeugt, die kommunistischen
Staubschichten verschwanden rasch
und ohne übertriebenen Pomp, während der einstige Dissident und Dramatiker Vaclav Havel in der königlichen Burg auf dem Hradschin durch
den plebiszitären Willen des Volkes die Vollmachten des Präsidenten übernahm. Auch Kroatien begab sich auf einen ähnlichen Weg,
obwohl es sich schon bald gezeigt
hatte, dass zwischen den lautstarken
Proklamationen und dem alltäglichen Verhalten ein unüberbrückbarer Abgrund klafft.
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Anfang der neunziger Jahre begannen
auch die kroatischen Leader, so stark
sie nur konnten Europa zuzuzwinkern, obwohl unsere Freier, nachdem
sie Europa zehn Jahren lang den Hof
machten, heute kaum besser dastehen als Serbien oder Albanien. Auch
wir haben auf unsere eigene Art den
Kommunismus beerdigt, obwohl wir,
gemessen an der Menge unserer Toleranz und Dialogbereitschaft stark
hinter der zivilisierten Welt zurückgeblieben sind. Ganz zu schweigen
davon, dass wir den Bruch mit der
kommunistischen Doktrin mit einer
derartigen Verwüstung Kroatiens bezahlt haben, dass uns unsere Nachfahren in weiß Gott welcher Generation dafür noch verdammen werden.
Ein besonderes Kapitel ist der Zerfall
Jugoslawiens mit allen seinen Folgen,
worin jegliche Vergleiche zwischen den
Kroaten und Serben einerseits und
den Tschechen und Slowaken andererseits aufhören. Und die Präsidenten? Havel ist Dramatiker gewesen
und geblieben, Tuđman, hingegen,
war und ist ein kroatisches Drama.
Natürlich haben derartige Resultate einer historischen Inventur ihre
objektiven Koordinaten. Tschechien
konnte schweren Krankheiten, wie
etwa Nationalismus und Fremdenhass, ausweichen, da es sich um das
westlichst gelegene postkommunistische Land handelt und weil es über
demokratische Traditionen verfügt,
die es in kürzester Zeit in die westliche
Umlaufbahn zurückgeführt haben.
Es genügt, nur daran zu erinnern,
dass deren ehemaliger Staatspräsident Eduard Beneš Professor für Soziologie an der Pariser Universität
gewesen ist und dass während Hitlers Schreckensherrschaft Thomas
Mann und seine Familie Reisepässe
mit dem tschechoslowakischen Wappen bekommen haben. In einer Mitte, die über derartige Philosophen
und Staatsmänner verfügte, wie T.
G. Masaryk es war (der bei uns zwar
als Antikroate angezweifelt wurde!),
über kriegsgegnerische Autoritäten
wie Jaroslav Hašek und Menschenrechtskämpfer wie Jan Patočka, folgt
die Erscheinung eines Schriftstellers
und Politikers von Havels Format
sozusagen allgemeinen Gesetzmäßigkeiten. Um Havels Verhalten, sowie
das, wofür er sich als Staatschef und
einstiger Dissident einsetzt, zur Gänze verstehen zu können, ist es nötig,
seine Herkunft in Betracht zu ziehen.
Havel entstammt einer bourgeoisen
Familie mit alten Prager Wurzeln.
Sein Ur-Urgroßvater väterlicherseits
war Müller in Prag (mit neuen Töchtern), sein Großvater hatte ein Diplom in Architektur und in dessen
Fußstapfen trat auch sein Vater, der
Barrandov gebaut und danach seine
Memoiren in sechs Bänden veröffentlicht hatte. In Zeiten kommunistischer Gleichschaltung war ein
solcher Havel schuldig ohne daran
schuld zu sein.
Es genügte, um seine Vorfahren zu
wissen, um ihn auf Schritt und Tritt
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schikanieren und seine an Hochschulen und Akademien gerichteten
Ansuchen glatt ablehnen zu können.
Trotzdem verhielt er sich nie als Revanchist. Im Gegenteil, noch während des Kommunismus erklärte er,
ein offiziell Ausgestoßener, er sei in
der Seele Sozialist, widersetze sich
allem, was die individuelle Verantwortung zersetze, aber auch, dass die
Welt wegen ihrem Abfall von Gott
und der radikalen Atheisierung, in
der unser wissenschaftliches Jahrhundert bis zum Hals versunken sein,
im Begriff ist, seine menschlichen
Dimensionen zu verlieren. Auf all
dass ist hinzuweisen, damit es nicht
aussehe, Havels Beispielhaftigkeit sei
aus sich selbst hervorgegangen, wie in
einem antiken Schauspiel in dem alle
Wirrungen und Irrungen schließlich
vom Deus ex machina gelöst werden.
Über den aktuellen tschechischen
Präsidenten und Dramatiker weiß
man scheinbar alles, obwohl ihn die
kroatischen Verleger erst jetzt dem
hiesigen Publikum vorstellen. Nach
der Interviewsammlung Fernverhör,
die noch in der kommunistischen
Ära erschienen war und vom Zagreber Verlag Irida veröffentlicht wurde,
erhielten wir neulich das Buch Alles
ist möglich (Matica hrvatska, Übersetzung Manja Hribar).
Die Tatsache, dass Vlado Gotovac ein
kurzes Vorwort für diese Ausgabe geschrieben hat, sollte allem Anschein
nach die Ähnlichkeit der Lebenswege dieser beiden Männer andeuten.
Aber, während Gotovac’ Inhaftierungen auf der Ebene eines Einzelfalles
geblieben sind, wurde durch Havels
Freilassung aus dem Knast die tschechische Nation befreit. Aber das ist
schon eine andere Geschichte. Das
Buch Alles ist möglich enthält rund
30 Texte und Reden, die von Havel
zwischen 1990 und 1999 verfasst
wurden. In Anbetracht der Zeit und
den Anlässen ihres Entstehens, steht
außer Zweifel, dass sie in vielerlei
Hinsicht durch Havels staatsmänni-
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Dossier: Zdravko Zima
schen Status bestimmt sind. Bevor
er sich diesen Monologen und protokollarischen Auftritten zuwendet,
mit denen der tschechische Spitzenpolitiker im Laufe der vergangenen
zehn Jahre die Erdkugel überspannt
hatte – von Prag und Budapest bis
Aachen, Paris und Oxford, von New
York und Davos, bis Tokio, Hiroschima und Canberra – würde der geneigte Leser wohl nicht ohne weiteres
annehmen, dass ein Staatspräsident,
möge er auch Havel heißen, der Falle der Banalität ausweichen könnte,
die sich in solchen Fällen von selbst
stellt. Dem tschechischen Leader ist
aber gerade das gelungen. Obwohl
sich auf den Seiten dieses Buchs, das
visuell meisterhaft von Luka Gusić
gestaltet wurde, kein typischer Havel
verbirgt, der dramatische Akte mit
einer Dosis beckettscher Absurdität
schreibt, ahnt man hinter jedem Refrain einen politischen Chorführer,
der zu keinem Zeitpunkt auf seine
geistigen Verpflichtungen vergisst.
Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts
wurde auf unserem Boden in zahllosen Varianten die These aufgestellt,
das, was höheren Zielen diene, müsse sich mit den Anforderungen der
Moral nicht in Absprache befinden.
Welch ein Idiotismus, welch ein demagogischer Abweg, auf dem uns die
Inspiratoren derartiger Tunnels in die
Umarmung Europas führen wollen!
Aber, dass es jetzt ja kein Missverständnis gibt. Wenn wir jenes unterstreichen, was gut ist, um auf jenes
hinzuweisen, was sich der Zivilisation widersetzt, wenn wir uns gegen
die balkanische Dunkelheit und deren Mystifizierungen sträuben, wollen wir auch Havel nicht als Mythos
behandeln. Umso mehr, da ihn auch
seine Landsleute nicht als wandelnde Ikone wahrnehmen, geschweige
denn ihm wäre an etwas ähnlichem
gelegen. Manche Werte werden vielleicht offensichtlicher sein, wenn wir
sie mit jenem vergleichen, was diesen
Werten ostentativ widerspricht: so
TIONS
kommt Havels Außerordentlichkeit,
die gewiss den Rahmen des tschechischen Staates überschreitet, besonders gut zur Geltung, wenn man sie
mit etwas ebenso außerordentlichem
konfrontiert, zum Beispiel der balkanischen Einöde. Alle in diesem Buch
enthaltenen Texte wurden für streng
bestimmte Gelegenheiten geschrieben oder erdacht. Einmal ist es die
Neujahrsansprache an die Nation,
ein andermal die Grußrede anlässlich des Besuchs des römischen Pontifex Maximus, dann wiederum das
Plädoyer von einer Tagung über das
Phänomen des Hasses, oder aber die
Dankrede anlässlich der Verleihung
eines Preises oder Ehrendoktortitels
einer internationalen Universität.
Am wichtigsten ist, dass Havel in diesen beinahe schon theatralischen Situationen seiner Funktion als Staatsoberhaupt treu blieb, seine eigenen
Ausgangspunkte aber ebenfalls nicht
vernachlässigte. Seine Worte legitimieren ihn als notorischen Tschechen, der von nationalistischen Rückforderungen nicht belastet ist und auf
Bohemismus und Ökumenismus auf
die natürlichste Weise miteinander
vereint. Havel ist ein Schriftsteller
und Politiker, der sich seiner Wurzeln
und heimatlicher Vorfahren bewusst
ist, die Verantwortung für Tschechien jedoch mit der Verantwortung
für die Welt synchronisiert. Aus dem
Einzelnen heraus wendet er sich ans
Ganze, vor dem planetaren Panorama verschließt er nicht die Augen
für seine kaum sichtbaren Segmente.
Moral ist Havels erste und letzte Instanz, der Anfang und das Ende, dei
Bedingung, ohne die es nicht geht
und ohne die jede Mission im Vorhinein zum Scheitern verurteilt ist.
Ist es möglich, sich vorzustellen, dass
das politische Oberhaupt eines zum
größten Teil katholischen Landes neben Papst Johannes Paul II auch den
tibetanischen Dalai Lama Apostrophiert oder Konzerte der Rockband
Pink Floyd besucht? In manchen Ge-
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TIONS
genden gehört so etwas ins Reich der
Phantasmagorien, in Tschechien ist
es normal. Oder, es ist normal, seit
dort pan Vaclav Präsident ist, der von
seinen Landsleuten liebevoll Vašek
genannt wird (was sich wiederum
auf Hašek reimt).
Vielleicht wäre es ja opportun, Havels öffentliche Auftritte mit jenen
seines kroatischen Pendants zu vergleichen, weil dann zumindest klar
wäre, wer in der letzten Dekade die
Böhmen angeführt hat und wer ihre
südlichen – wenn man das noch sagen darf – slawischen Brüder. Auch
als er in Jerusalem war, wo ihm von
der Jüdischen Universität die Ehrendoktorwürde verliehen wurde, blieb
Havel aufrichtig und ehrlich, in einem Maße, das beinahe mit seiner
Präsidentenrolle kollidiert. Seinen
Aufenthalt in dieser heiligen Stadt
nutzte er, um zu erklären, wie viel er,
als gebürtiger Prager und Autor Franz
Kafka schuldet, in dessen Erbe er einen wesentlichen Teil seiner eigenen
Erfahrungen identifizierte. In diesem
Sinn sprach Havel von Schuldgefühl,
von Existenz als Sünde, vom Bedürfnis nach Verteidigung, vom Gefühl
der Nichtzugehörigkeit, von seinen
Selbstzweifeln und dem Zweifel, er
habe eine derartige Ehrung überhaupt verdient.
Natürlich kann jeder Auftritt als Folge einer gut vorbereiteten Regie aufgefasst werden und das man im Hintergrund jeder großen Vorstellung
stets ganz andere Masken vermutet.
Aber schon bei der nächsten Gelegenheit zeigt Havel, dass er sich um
kein Jota verändert hat, und wer seine Texte aus jener Zeit kennt, als er
noch als Feind und Dissident galt,
wird sich überzeugen, er sei alles andere als ein Chamäleon, der je nach
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Kritiken
Bedarf seine Farbe und Grundorientierung ändert.
So, wie die Welt 1978 verblüfft war,
als ein Pole die Nachfolge Petri antrat, blieb sie auch verblüfft und
mit Hoffnung erfüllt, als Havel die
Räumlichkeiten des präsidialen Palastes auf dem Hradschin betrat. So,
wie die Sterne zu bestimmten Zeiten
am Himmel erscheinen und Veränderungen suggerieren, ahnen wir in
der Erscheinung politischer Stars,
die in der Regel selten sind, die Anzeichen von etwas neuem und scher
erklärbarem. Havels Biographie ist
so, wie sie ist, aber sein Eintritt in
die Galaxie der glänzendsten politischen Vedetten währe wohl nie möglich gewesen, hätten sich zuvor nicht
zwei Dinge vereint: die Außerordentlichkeit des historischen Moments und die Außerordentlichkeit
des Individuums. Die Geschichte
nimmt ihren Lauf, geht schweren
und unvorsehbaren Schrittes, wobei jeder rasche Ruck eine Ausnahme bedeutet. Ein solcher Ruck ist in
Havels häftlings-präsidentialer und
anarchistisch-staatsmännischer Laufbahn enthalten. Wenn jedes von Havels Stücken durch das Gefühl von
Absurdität gekennzeichnet ist, wenn
jeder Vorstellung eine Katharsis voraussetzt, warum sollte es nicht auch
vorkommen, dass die Feierlichkeit
aus den Theateraulas zur Feierlichkeit des Alltags wird?
Durch seinen Einsatz für den Ökumenismus, seine Kritik des Rationalismus und überheblichen Anthropozentrismus, seine Unfähigkeit zu
hassen, seine Berufung auf die Einmaligkeit jedes Einzelnen und sein
Hinweisen auf transzendente Quellen ist Havel dem Papst gleichzusetzen. Zugleich ist er aber auch der Re-
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präsentant einer Welt, die eine derart
zweifelhafte Aktivität, wie die Politik
es ist, ihres teuflischen Wirkungskreises befreien möchte. Im Unterschied zu den Regionen des Balkans,
in denen die Überzeugung herrscht,
Politik sei Megalomanen und Taugenichtsen zugedacht, kommt der
tschechische Leader zum Schluss, es
handle sich um einen Beruf, der von
Personen mit überaus ausgeprägtem
moralischen Instinkt ausgeübt werden muss. Beim Weltwirtschaftsforum in Davos wies er darauf hin,
dass der Kommunismus, wenn auch
indirekt, dem Westen doch geholfen
hatte, seine Kompaktheit zu bewahren und erinnerte zugleich an den
Schmetterlingseffekt, der die tiefe
Verbundenheit aller Wesen auf dem
Erdball illustriert. Havel ist kein routinierter Staatsmann, sondern ein Politiker neuen Schlages, der sich für
Multikulturalität und verschiedene
Formen globaler Verantwortung einsetzt. Das bedeutet aber, der Politiker
sei kein Nebelverkäufer und die Welt
habe ohne Wahrung des Existenzwunders und der Menschenrechte
keine Chance für die Zukunft.
Als er von der Universität Harvard,
der ältesten Institution dieser Art in
den USA, die Ehredoktorwürde verliehen bekam, kam er nicht umhin,
sich an seine Mutter zu erinnern,
die in ihrer Liebe davon träumte,
ihr Sohn würde gerade in Harvard
sein Diplom machen. Es ist schön,
was sich eine Mutter vorgestellt hatte. Aber ist genauso schön, eine Zeit
zu spüren, in der eine derartige Persona grata, wie Havel es ist, Präsident
sein kann.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Boris Perić
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TIONS
Der als Bettler verkleidete Prinz
Zdravko Zima
N
eben Italo Calvino beschwören
die Kritiker meistens J. L. Borges, Umberto Eco ist wie durch eine
Nabelschnur an den Doctor Angelicus Thomas von Aquin gebunden,
genauso wie Antonio Tabucchi an
Fernando Pessoa. Die drei berühmten Schriftsteller, die die Ehre der
italienischen Literatur in den letzten
Jahrzehnten weit über die Grenzen
ihres Landes hinausgetragen haben
(Calvino zwar postum) haben Ankerplätze und geistige Kompasse, ohne
die ihre Werke, einzeln oder als Ganzes, kaum denkbar sind. Diese Tatsache ist an sich weder streitig noch
kompromittierend. Denn, wie das
Leben eine biologische Kette ist, die
in gleichem Maße aus unseren Vorfahren und Nachkommen besteht,
so ist auch die Literatur in ihrer optimalen Ausgabe nichts anderes als
eine imaginäre Kette, die an ihren
äußersten Punkten von Homer und
Joyce begrenzt ist. Durch Verschiebung der gewohnten Auffassung von
Raum und Zeit gelangt diese bei der
Ära des dritten Millenniums an: Von
den drei zitierten italienischen Autoren und Tabucchi in Kroatien am wenigsten bekannt, obwohl das auf keinen Fall bedeuten soll, er sei weniger
interessant als Calvino oder Eco.
Tabucchi wurde 1943. in Pisa geboren und arbeitet schon seit Jahren
als Professor für Lusitanistik an der
Universität in Siena. Außer, dass er
Experte für portugiesische Literatur
ist, ist Tabucchi ein fanatischer Le-
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ser Fernando Pessoas, der er selbst
übersetzt und auf italienisch veröffentlicht hat. Es genügt nicht, zu sagen, Pessoa sei sein intimer Favorit:
Lusitanistik ist für Tabucchi Profession und Passion zugleich, Beruf
und Leidenschaft, Obligation und
Liebe, in der Pessoa, als intellektuellem Priester und Dichter mit mehreren Gesichtern ein privilegierter
Platz zukommt. Tabucchi ist nicht
nur ein eifriger Übersetzer aus dem
Portugiesischen, sondern auch ein
Autor von Novellen, Romanen und
Theaterstücken. Seine bekanntesten
Bücher sind: Kleine Missverständnisse ohne Bedeutung (1985), Die Flieger
des Bruder Angelico (1987), Requiem
(1992), Erklärt Pereira (1994), Platos Gastritis (1998) und Die Zigeuner und die Renaissance (1999). Seine definitive, beinahe schon liebende Widmung an das portugiesische
Genie ist der Roman Die letzten drei
Tage des Fernando Pessoa (Gli ultimi
tre giorni di Fernando Pessoa), in dem
er belletristisch den durch übermäßigen Alkoholgenuss verursachten Tod
des Dichters darstellt.
Aufgrund des Romans, in dem sich
der ungeheuere Pessoa mit sich selbst
oder seinen Heteronymen unterhält,
wurde im Mailänder Teatro Piccolo
eine Theateraufführung inszeniert,
bei der Giorgio Strehler Regie führte. 1996 veröffentlichte der Zagreber
Verlag Durieux zwei Dramensammlungen Tabucchis unter dem Titel
Die unverwirklichten Dialoge, natür-
lich, abermals mit Pessoa als Protagonist (Übersetzung Tatjana Petruško),
während der Zagreber Ceres-Verlag
nun seine Reiseprosa Indisches Nachtstück (Notturno indiano, Übersetzung
und Nachwort Mirko Sladek) vorstellt. Nicht einmal in Indien konnte Tabucchi ohne seine portugiesischen Obsessionen auskommen: im
Gegenteil, gerade diese hatten ihn
ja nach Osten geführt, jenem Abenteuer entgegen, das von allem anderen als von oberflächlichem Globetrottertum getragen wird. Die Figur,
die diesen Seiten entspringt, gehört
zu jener Art Sonderlingen, die es
nach Reisen dürstet, wenn sie sich
aber dazu entschließen, werden in
ihnen Mechanismen der Selbstverteidigung und beinahe eingeborene
Zweifel wach. Alles liegt im Übergießen und gegenseitigen Durchdringen, hinter dem Schönheit und
Entsetzen, Wirklichkeit und Schein
lauern.
Bereits die Tatsache, dass im Titelsyntagma das Wort Nachtstück hervorgehoben wird, weist auf die Natur
des Texts hin, in dem nächtliche und
schattenhafte Zustände an die Erfahrungen der physischen Reise anschließen. Im Bewusstsein des durchschnittlich gebildeten Menschen ist
Indien ein Land, das Landschaften
mit Monsunregen vor Augen führt,
albtraumhafte Städte, Magie, Swamis und heilige Flüsse. Aber obwohl Tabucchis Prosa gewissermaßen
durch den Titel definiert ist, obwohl
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TIONS
am Anfang ein Verzeichnis der Orte angeboten wird, in dem Bombay,
Madras, Goa, Vasco da Gama, der
Strand Calangutea und einige Hotels erwähnt werden, bleibt Indisches
Nachtstück weit vom Reisebericht im
konventionellen Sinne des Wortes
entfernt. Das Verzeichnis der Orte,
untergeschoben als eine Art Itinerar,
ist eigentlich eine vom Autor gestellte Falle, die den Leser verführt und
von Hauptweg abbringt. Die ganze
Geschichte liegt darin, dass die Reise
durch den neuen Raum und die neue
Kultur in eine Reise ins eigene Innere
kanalisiert wird. Indisches Nachtstück
ist zum Teil ein Reisebericht, aber genauso auch ein Kurzroman, ein prosaischen Impromptu, ein Essay über
die Seele und ein Soliloquium, das
sich so ereignet hat, wie es sich auf
einem mystischen Subkontinent zu
ereignen hatte.
Das Paradox liegt vielleicht darin,
dass der Reisebericht und theoretischen und ähnlichen Handbüchern
als nebenläufige, minderwertige Gattung behandelt wird, obwohl es sich
um eine elementare Form handelt,
die in der europäischen Kultur von
Anfang an verankert ist. Die beste Bestätigung dafür ist die Odyssee.
Außer der Odyssee genügt es, Titel
zu nennen wie Die göttliche Komödie, Don Quijote, Gullivers Reisen
oder Ulysses. Das Leben, wie immer
es sein mag, ob es sich nun in nächster Nähe oder in der Ferne ereignet,
ist im Grunde eine Reise. Was sollte
dann Literatur sein? Während sterile Deutungen im Reisebericht einen
eingrenzenden Faktor sehen (als sei
der Reisebericht dasselbe wie ein Baedeker), radikalisierte Tabucchi den
fragmentarischen Charakter seines
Buchs und seiner Reise bis zum Äußersten. Obwohl Indisches Nachtstück
schulisch gesprochen einen Ausläufer
der Reiseliteratur darstellt, bleibt alles darin offen. So, wie es weder Anfang noch Ende gibt, und auch der
Tod ist kein Ende, wenn der Mensch
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Kritiken
gläubig, Spiritist oder Terrorist [!] ist,
gibt es auch in Tabucchis Prosa weder Anfang noch Ende im gewohnten
Sinne. Dieses als Albtraum fokussierte Umherirren und Indien beginnt,
bevor es sich ereignet hat und dröhnt
den letzten Seiten des Buches noch
lange nach.
Es ist auch schwer, zu erwarten, eine derartige Prosa könnte eine Fabel
mit Hauptfiguren und gleichmäßig
verteilten Statisten enthalten. Tabucchis Buch lesen bedeutet, sich auf ein
Abenteuer einlassen, das weit von
der marktwirtschaftlichen Einförmigkeit einer Welt entfernt ist, die
mit Pommes Frites und Reisebüros
gleichzusetzen wäre. Die Reise des
erschöpften und genervten Intellektuellen zeigt letztendlich nur, dass
die Welt eine Kugel ist. Denn, er
indem er nach Osten aufgebrochen
war, gelangte er nach Westen; nach
Indien reisend bereiste er die Region
Goa, die im fernen 16. Jahrhundert
eine portugiesische Kolonie gewesen ist. Auch der Mann, nach dem
er erfolglos suchte, war ein Portugiese – Xavier Janata Pinto. Die Spuren
des mysteriösen Pinto sind kaum erkennbar, man weiß, dass er indische
Vorfahren hatte, dass er Mitglied der
Theosophischen Gesellschaft gewesen ist und dass er traurig wirkte,
wenn er lächelte. Wer etwas über den
Autor weiß, hätte schwören können,
dass Tabucchi auch auf seiner asiatischen Pilgerfahrt für seinen Pessoa
Platz finden wird. Auch umgekehrt:
wer Pessoa gelesen hat, weiß, dass in
seiner mit dem Pseudonym Alvaro de
Campos unterschriebenen Dichtung
aus Pompeji der Indische Ozean ausdrücklich erwähnt wird.
Im sechsten Kapitel von Tabucchis
Buch, im Gespräch, das in der Theosophischen Gesellschaft in Madras
(sogar die genaue Anschrift ist angeführt) geführt wird, erwähnt der Gast
seinem Gastgeber gegenüber Pessoa,
im Hinblick auf dessen Gnostizismus
und die Legende von der Brille, nach
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der er in seiner Sterbestunde verlangt
hatte. Durch Indien wandernd, zumindest durch jenes, in dem noch
Zeichen portugiesischer kolonialer
Anwesenheit erkennbar sind, erkundigt sich Tabucchis Held nach Xavier, findet aber nur sich selbst, seinen eigenen Schatten und alles, was
mit ihm auf diesem entfernten Subkontinent angelangt ist. Vielleicht
ist Xavier Godot, vielleicht auch jemand anders, aber nach seiner Ankunft in Bombay trifft der Reisende
eine junge Frau, die ihn auf gewisse Spuren aufmerksam macht, geht
dann ins Krankenhaus, tauscht Erfahrungen mit einem Dschainisten
aus, empfängt eine unbekannte Frau
zu einem nächtlichen Besuch und so
fort. Obwohl sich Tabucchis Prosa in
ihrem bescheidnen Umfang mit anderen Büchern nicht messen kann,
übertrifft sie diese doch durch seine
Kompaktheit und die Vielzahl an
virtuellen Bedeutungen. In der indischen Welt, die zugleich eine offene
und eine verschlossene ist, wird sich
der neugierige Europäer mit einem
Arzt unterhalten, der Ganesha heißt
(wie der mythische Elefant) und der
zugeben wird, er sei Atheist, obwohl
Gottlosigkeit dort als größtes Verderben gilt.
Auch lernt er einen Inder kennen, der
nach Benares reist, die Stadt, in der er
zu sterben gedenkt, und kommt zum
Schluss, der Dschainismus sei eine
sehr schöne, aber auch sehr dumme
Religion. Diese Behauptung wäre
vielleicht gar nicht so kurios, wäre
sie nicht dem Kopf eines Menschen
entsprungen, der selbst Dschainist
ist. An einer Bushaltestelle lernt der
Reisende oder Nomade einen Jungen
kennen, der einen Affen auf dem Rücken trägt. Als er auf sie zutrat, begriff er, dass es sich um keinen Affen,
sondern um eine Missgestalt handelt. Diese ungeheuere Kreatur war
ein dschainistischer Prophet, der die
heiligen Schriften kannte und Pilgern das Karma las. Die fröhlichste
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Geschichte ist aber jene von Tommy,
einem Briefträger aus Philadelphia,
der eines Tages, von einem Wandbild angetan, auf dem das Meer dargestellt war, seine Briefträgertasche
in den Wind schoss und nach Indien fuhr. Seither lebt er in Goa und
schickt Ansichtskarten an Amerikaner, die er ihrer Briefe beraubt hatte.
In seinen kurzen, beinahe somnambulen Treffen mit dem Taxifahrer,
dem falschen Vizekönig und anderen Exzentrikern jeder erdenklichen
Art, spiegelt sich eine Prosa, die in
ihrer Unfertigkeit präzise ist, konsequent im Ausdehnen der Grenzen
des Genres und größenwahnsinnig
im Wunsch, alles, was sie bietet oder
andeutet in minimalen Verrückungen zu verwirklichen.
Die Ellipse ist Tabucchis stärkste
Waffe, die Verfremdung das Verfahren, durch das er blufft und fasziniert.
Wäre er ein Filmregisseur, würde
man sagen, er würde die Technik des
Short Cuts anwenden. Unter allen Cineasten kommt ihm allem Anschein
nach Wim Wenders am nächsten.
Dieser Deutsche verglich seine Weltanschauung und seine Ästhetik mit
Reisen (Filme: Alice in den Städten,
Der amerikanische Freund und Paris,
Texas), bediente sich aber auch oft literarischer Vorlagen (Peter Handke,
Dashiell Hammet, Patricia Highs-
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RELA
Dossier: Zdravko Zima
mith). Wenders’ Filme tragen das
Gefühl der Ausgeklinktheit und der
existenziellen Bedrückung in sich,
das sich auch in Tabucchis Prosa erahnen lässt. Was ebenso interessant
ist, Der Stand der Dinge wurde in Portugal gedreht, während der Held aus
Lissabon Story, Herr Winter, ebenfalls
nach seinem Freund sucht und Pessoa liest. An mehreren Stellen wird
sich der italienische Suchende mit
der indischen Welt identifizieren, in
der die äußere Form des Menschen
als Hemd erlebt wird, das die Seele bewohnt. Der Körper ist wie ein
Kasten, in dem wir uns selbst tragen,
schließt der Autor und enthüllt uns
einen Zustand der Beklommenheit
und Silhouetten, die stets mit dem
Tod in Verbindung stehen.
Die Idee des Nachtstücks weist auf
den Mond hin, das Spiel von Licht
und Schatten, die Zeit, die durch
Imagination und (Re)Inkarnation
hindurchgeht, eine Szene, die in Porto oder Goa geortet werden kann und
die eine orgiastische Mischung aus
Intellekt und Instinkt darstellt. In
verschiedenen Gelegenheiten findet
sich der Ankömmling aus Europa in
weiblicher Gesellschaft. Bei typisch
westlichen Autoren würden solche
Treffen, die meist nachts stattfinden, mit dem gewohnten Sex oder
zumindest einer derartigen Anspie-
TIONS
lung enden; in Tabucchis Buch enden sie in der Unvorhersehbarkeit
und der Verbundenheit, die jedes Ereignis und jede Geste mit einem Netz
aus Geheimnissen überziehen. Von
der Energie des konkreten Reisens
getragen, demonstrierte Tabucchi,
dass auf verschiedene Weise gereist
werden kann, sowohl als auch in allen möglichen Richtungen, und dass
dabei nicht nur die Züge und Flugzeuge wichtig sind. Jemand flieht
in weit entfernte Erdteile, um vor
sich selbst zu fliehen, jemand, um
sein authentisches Inneres zu durchleuchten. Bei einer Gelegenheit, im
Bombayer Hotel Taj Mahal, bestellt
Tabucchi (oder sein Doppelgänger)
ein üppiges Abendessen, im Glauben, ein als Bettler verkleideter Prinz
würde dasselbe tun.
So, wie geistige Prinzen manchmal
den Eindruck angeblicher Bettler
hinterlassen, so, wie sich in der Kreatur, die an einer Bushaltestelle kauert, manchmal ein Prophet verbirgt,
legitimierte sich auch Tabucchi mit
seinen europäischen und lusitanischen Gewohnheiten als Hindu. Er
vollzog dies mit der Kraft eines Schamanen und vollblutigen Nachfahren
Pessoas.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Boris Perić
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TIONS
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Pessoa oder Die Suche nach sich selbst
Zdravko Zima
U
nvorhersehbar und schwer begehbar sind die literarischen
Labyrinthe: Witold Gombrowicz unterzeichnete seinerzeit einen der heftigsten und eindrucksvollsten antilyrischen Steckbriefe, aber trotz seiner Autorität verdanken wir einige
der wichtigsten Prosakapitel des 20.
Jahrhunderts gerade den Dichtern.
Ein Beweis dafür sind Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in
denen Rilke einen neuen Weg des
europäischen Romans trassiert hat,
sowohl wegen des Verlassens der klassischen Naration, als auch wegen des
geradezu röntgenhaft tiefen Eindringens ins Innere des Helden. Der zweite Beweis ist Das Buch der Unruhe
von Fernando Pessoa, einem Dichter, der in seiner Heimat zeitlebens
nicht allzu bekannt war, während
seine Bekenntnisprosa beinahe ein
halbes Jahrhundert nach seinem Tod
zum ersten Mal veröffentlich wurde.
Dank des Verlagshauses Konzor aus
Zagreb, sowie des übersetzerischen
Elans von Mirko Tomasović und Tatjana Tarbuk ist das Werk dieses portugiesischen Modernisten heute im
großen Umfang unserem Publikum
zugänglich. Jahrzehnte lang wussten
wir so gut wie gar nichts über die Portugiesen und ihre Literatur, außer,
dass Camoes das Nationalepos Die
Lusitanier gedichtet hat und dass ihr
Komplex gegenüber des mächtigeren
spanischen Nachbarvolks in vielerlei
Hinsicht jener Rivalität und (Dis)
Parität ähnelt, die zwischen einigen
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südslawischen Völkern herrschen.
Dann haben wir allmählich Pessoa
entdeckt, seine dichterische Besonderheit und Polyperspektivität, die
sich mit den avantgardistischen Projekten, an denen im vorigen Jahrhundert ja kein Mangel herrschte,
nur schwer vergleichen lässt. Nach
der Entdeckung eines Dichters, ja eines Kontinents, erfolgte nicht weniger, als die Entdeckung seiner Prosa.
Seine Tagebuchaufzeichnungen und
Bekenntnisfragmente schrieb Pessoa
von seiner frühesten Jugend bis zum
Tod (1935) und wer zumindest einigermaßen sein Werk kennt, wird
verstehen, dass seine Lyrik und seine
Erzählungen als ein System verschiedener, zugleich aber auch miteinander verbundener Gefäße fortdauern.
Das Paradox liegt wahrscheinlich darin, dass Pessoa ein Dichter mit unzähligen Heteronymen und Gesichtern war, doch als Ganzes betrachtet
ist seine Hinterlassenschaft nichts
anderes als ein grandioser Versuch,
das eigene Werk zu entpessoisieren
und zu entpersonalisieren. Sich von
seinem äußeren zu seinem inneren
Selbst wendend, war dieser Lusitanier mal Alberto Caeiro, mal Ricardo Reis oder Alvaro de Campos (in
seinen Versen), dann wiederum Vicente Guedes, Bernardo Soares und
so weiter (in seiner Prosa).
Aber alles in allem ist in seiner Lyrik
und seiner Prosa, seiner Heteronymie
und seiner Heterophonie, die Bestrebung erkennbar, die eigene Biogra-
phie in einen breiten Bogen anderer
und andersartiger zu verwandeln,
die in letzter Konsequenz zu einem
verschmelzen. Es ist wahr, dass Pessoa 47 Jahre gelebt hat, obwohl man
sich letztendlich fragen muss: wie
lange und wen hat er wirklich gelebt? Heute, wenn das Interesse für
einen Dichter mit dem immer größeren Interesse für die iberische und
iberoamerikanische Literatur korrespondiert, wir die Behauptung, Pessoa
sei seiner Zeit voraus gewesen, wie eine gewöhnliche Schulphrase klingen.
Trotz dieser Gefahr muss wiederholt
werden, dass Pessoa ein großer Dichter und eine großer Vorgänger ist.
So sehr seine Heteronyme seinerzeit
auch als eine Art Krankheit behandelt wurden, da sie eher für psychiatrisches tranchieren als für dichterische Erfüllung geeignet schienen,
so sehr zeigen sie sich heutzutage
als Pluralismus einer Mentalität, die
gleich einem großen Fluss ihre Arme
und ihr Delta hat. Und Pessoa wurde 1866 ja in einem Land geboren,
in dem sich die Zivilisationen gabeln
und in einer Stadt, Lissabon, in der
der Tejo eine fantastische Mündung
in den Atlantik bildet und mit diesem zusammenfließt.
Es versteht sich, dass Pessoa durch
seine Prädispositionen und alles weitere, was notwendig ist, um ein virtuelles Talent zur entfalten, bestimmt
wurde. Aber genauso bestimmt wurde er durch seine Umgebung, die
Stadt, die Landschaft, die ein Bild
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von Peripherie und Zentripetalität,
Verschlossenheit und Offenheit bot,
gesteigert durch das Meer und die
Erinnerung an die einst glorreiche
nationale Geschichte. Auch alle Attribute, die am Anfang des dritten
Millenniums den New Age legitimieren, vor allem Holismus, Androgynität, Mystizismus und Planetarität,
trug der Lissabonner Dichter aus der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in
seinem Bewusstsein. So, wie ein Polyp ein maritimer Wirbelloser ist, den
man einen Vielbeiner nennen könnte, könnte man von Pessoa behaupten, er sei ein Vielköpfling gewesen.
Während der Polyp mit seinen Tentakeln nach seiner Beute greift, gelangt der Dichter mit seinen Antennen in die entferntesten Welten und
ändert dabei das eigene Bild mit jener art Nonchalance, die nur seltenen
Individuen eigen ist. Pessoa bedeutet auf portugiesisch „die Person“,
was schon beinahe ein onomastischer
Ulk ist, da Pessoa in seinen lyrischen
Körper verschiedene Persönlichkeiten transplantiert hatte und dies mit
einer Übermacht tat, wie es sonst nur
Schamanen zu tun vermögen.
Von sich behauptete er, er sei eine Mischung aus Edelmann und Jude. Obwohl er in Lissabon geboren wurde,
verbrachte er seine frühe Jugend in
Südafrika, wo sein Stiefvater Konsul
war. Er las unendlich viel und seine
ersten literarischen Zeilen verfasste
er nicht auf portugiesisch sondern
auf englisch. Nach der Rückkehr in
seine Geburtsstadt studierte er eine
kürzere Zeit, obwohl er Autodidakt
gewesen und geblieben ist. Seine Interessen reichten von klassischer Literatur und Philosophie bis hin zu
Astrologie und Theosophie. Pessoas
Feinheit und sein strenger schwarzer Anzug standen in krassem Widerspruch zu seiner bohemienhaften Natur, seiner Neigung, in allen
möglichen Herbergen zu schlafen
und sich bis zur Zerstörung zu betrinken. Er nannte sich einen Mon-
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Dossier: Zdravko Zima
archisten, obwohl in ihm die Merkmale eines Konservativen und eines
Liberalen vereint waren. Er war ein
Gnostiker, Freimaurer, Nationalist
und Kosmopolit, der im Jahr seines
Todes in einer autobiographischen
Note erwähnte, wie wichtig es sei,
gegen drei Gespenster anzukämpfen: Unwissenheit, Fanatismus und
Tyrannei. Obwohl er von verschiedenen Heteronymen Gebrauch machte, rühmten sich die Verse, die er mit
Alvaro de Campos unterzeichnete,
der größten Beliebtheit.
Dasselbe Prinzip der Karnevalisierung, dieses beinahe bachtinhaften
Mischens von Stimmen und Namen,
wandte er auch in seiner Prosa an.
Kritiker und Forscher stritten jahrelang über das Entstehen von Das
Buch der Unruhe (Livro do Desassossego) und betonten, es gäbe mehrere
verschiedene Bücher, oder zumindest mehrere verschiedene Phasen
ein und desselben Buches. Pessoa
hinterließ mehrer Entwürfe dieses
Buches, das er sein Leben lang projektierte, ohne es jemals beendet zu
haben, und das allein durch seinen
Tod finalisiert wurde, eines Buches,
das er selbst ist, Pessoa per se und persona publica. Als fragmentarisches
Werk gedacht, unterzeichnete er es
zunächst mit seinem wirklichen Namen, als der Ton aber privater wurde, griff er zur Mimikry. Sein erster
anderer Name war Vincente Guedes,
dem nach 1929 Bernardo Soares folgte. In seinen Einzelheiten, aber auch
im Ganzen, ist Das Buch der Unruhe
ein typisches Palimpsest, in dem der
Autor seine literarische, philosophischen und sonstigen Ansichten aufbewahrte, vom Tod und vom Leben
gleichermaßen bezaubert, falls das
letztendlich nicht ein und dasselbe
ist. Es gab im 20. Jahrhundert nur
wenige Titel, die so viele Diskussionen und Deutungen zur Folge hatten, wie es mit Das Buch der Unruhe
der Fall gewesen ist. Es gab auch wenige Autoren, falls es sie überhaupt
TIONS
gegeben hat, die in der Vielfalt ihrer
Namen und Identitäten mit Pessoa
vergleichbar wären.
So wie der Dichter mal dieses, mal
jenes Gesicht zeigt, enthüllt sich Das
Buch der Unruhe als Kaleidoskop,
als Himmelszelt, das stets das Gleiche zu sein scheint, obwohl es jeden
Tag anders und um die eine oder
andere Galaxie reicher ist. Trotz aller verworrener Pfade, wurde Das
Buch der Unruhe letztendlich ein eine
Prä-Soares – (1913-1929) und eine
Soares-Phase (1929-1935) geteilt. In
den Manuskripten kamen auch andere Namen vor, aber als Soares auftauchte, war Guedes endgültig verschwunden. Bereits auf den ersten
Seiten sind viele Parallelen zwischen
dem apokryphen Autor und Pessoa
zu erahnen. Soares wohnt auch weiterhin in der Douradores-Straße im
Lisabonner Handelsviertel Baixa. Er
arbeitet als Buchhalter, ist früh elternlos geblieben, schreibt in seiner
Freizeit und kannte den Orpheus, die
Zeitschrift der portugiesischen Modernisten, die leider nicht allzu lange
erschien. Ein Vorteil von Das Buch
der Unruhe ist, dass es von vorn nach
hinten, aber auch umgekehrt gelesen
werden kann, als eine Art Brevier, eine Sammlung von Gebeten, Aphorismen und anderen Funken, die jedes
Mal eine andere Ansicht bieten. Wie
auch immer, es ist eine Schrift, die bis
aufs Äußerste von der Erfahrung des
Traums und des multiplizierten Ichs
durchdrungen ist.
Trotzdem, der Traum, den SoaresPessoa befürwortet, ist der höchste
Grad an Wachsein, die Vielfältigkeit
erfolgt nicht aus Megalomanie, sondern aus dem Bedürfnis nach Fülle,
dem sich der Zauberer aus Lissabon
restlos hingab. Der Traum, auf den
sich Pessoa beruft, hat mit Surrealismus nichts zu tun; der Traum öffnet die Tore tiefster Wahrheiten und
suggeriert jene Art von Mystizismus
und Kontemplation, die im goldenen
Zeitalter der spanischen Literatur
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TIONS
von Calderón evoziert wurde und die
die Außenwelt eigentlich mit Trug
gleichsetzt. Obwohl sich Das Buch
der Unruhe als Variante eines radikalen Solipsismus anbietet, als Spiel,
das außerhalb von sich selbst keinen
Zweck hat und deshalb, so Paradox
es klingen mag, einzig Zweckhaft ist.
In vielen Fragment sind Referenzen
auf die wirkliche Zeit zu erkennen,
die die These von einem in schwer
begehbare somnambule Keller eingeschlossenen Werk bestreiten. Faszinierend ist die Tatsache, dass ein Autor zu Beginn des 20. Jahrhunderts,
in einer Ära, in der noch die klassisch
fabulierte Literatur vorherrschte, die
Idee des Textes als Totalität dermaßen
destruiert und entpersonalisiert hat.
Jene Art Entpersonalisierung – und
Umdrehung in das aufrichtigste Ich
– die im 19. Jahrhundert von Baudelaire angekündigt wurde, akzeptierte
Pessoa als Regel.
Deshalb trennt er das Schreiben, trotz
aller Berauschtheit, vom Herzen; deshalb konstatiert er beinahe programmatisch „ich bin zwei“, deshalb ist er
jedermann und niemand zugleich,
seine eigene Patience, ein Schlafwandler, der seine intime Buchhaltung führt, ein Sonderling, der in
Gefühlen denkt und der in seinen
Varianten vielleicht auf die Formel
gens una simus zurückzuführen ist.
Dieses Gefühl der Gemeinsamkeit
hat, natürlich, eher kosmische, als
nationale, ideologische oder ähnliche Konnotationen, und wurde am
deutlichsten in dem berühmten und
weltweit übersetzten Seefahrerlied fixiert, das mit dem Heteronym Alvaro de Campos unterschrieben wurde.
In einem genauso bekannten Gedicht schrieb Campos: „Alles auf jede
Weisen fühlen, alle Meinungen haben, sich selbst zu jedem Zeitpunkt
widersprechend ehrlich sein, sich in
der Freiheit des Geistes nicht selbst
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Kritiken
schmeicheln und die Dinge wie Gott
lieben“. Das Bedürfnis des Dichters nach dem Absoluten brachte eine ausdrückliche und beinahe nietzscheanische Kritik des institutionellen Christentums hervor, während
sein Soares bereits am Anfang seiner
Bekenntnisse erklärt, er sei zu einer
Zeit geboren worden, in der die Jungen den glauben an Gott bereits verloren hatten. Möchte der Mensch ein
integrales Wesen sein, dann muss sein
Wissen über sich selbst und die Welt
genauso sein; das ist die Voraussetzung, von der zahlreiche Gnostiker
ausgegangen waren, die Pessoa und
viele andere Autoren (Marguerite
Yourcenar, Cioran) akzeptiert haben
und die auch von der modernen Wissenschaft legitimiert wurde.
Was bedeutet das? Einfach nur, dass
alles, was besteht, nichts anderes ist
als Bewusstsein und dass das die Verbindung mit der göttlichen Energie
als Ganzem durch das Eindringen
ins Selbst und das überwinden individueller Begrenztheit erreicht werden kann. Es gibt kaum einen Autor,
bei dem diese Ambition dermaßen
offensichtlich wäre, wie bei Pessoa.
In einem Fragment setzt sich SoaresPessoa mit einem Reisenden gleich,
der sich auf einmal in einer Stadt eingefunden hat, auf einer Brücke, über
den Fluss gebeugt. Das ist ein typisches primordiales Bild, in dem der
Traum fixiert wurde, das Vorher und
das Nachher, ein Zustand, in dem die
Brücke eine spürbare Verbindung zu
Tod und Ewigkeit darstellt. Pessoa ist
aber kein einfacher Reisender, sondern ein Wanderer, ein Pilger, der sich
in einer Welt, in der er wohnt und
der die Ewigkeit den ersehnten Unterschlupf bietet, als Vorübergehender empfindet. Es ist verständlich,
das ein solches Individuum nach der
Nacht griff und den Tag ignorierte,
dass es ein Doppelleben führte, sich
129
tagsüber als Beamter verhielt, nachts
aber als Suchender und Künstler. Das
Buch der Unruhe bietet mehr als genug Bestätigung dafür. An einer Stelle stellt der Erzähler fest, er sei Tagsüber ein Nichts, an einer anderen
identifiziert er Nacht mit Haus und
Freiheit, an einer dritten ist Traum
Sinn, Kreation und Rekreation.
Trotz seiner Auflehnung gegen das
kanonisiert aufgefasste Christentum
ist Pessoas Held ein eigentümlicher
Gläubiger, weil er die Dränge und
niederen Imperative des Staates und
der Gesellschaft aufgegeben hat. Nichts
bestimmt letztendlich seinen Protagonisten so sehr, wie jener gnomische
Satz, in dem dieser benahe widersprüchlich behauptet, seine Natürlichkeit sei eine künstliche! Darin
liegt der wesentliche Grund von Pessoas Buch, das mit großem und kleinem Anfangsbuchstaben gedacht wurde: im Übergießen der äußeren und
inneren Wirklichkeit, im Träumen,
das den höchsten Grad an Konzentration bedeutet, in der Hellsicht, die
physische Schmerzen zufügt und
schließlich in der Sehnsucht, die
endlos ist und aus der Einsamkeit
hervorgeht. Sowohl aus der menschlichen, als auch aus jener der Sterne.
Das Buch der Unruhe und das, was es
in seiner Elliptizität beinhalten, könnte mit verschiednen Begriffen definiert werden, es scheint aber, der
bestgeeignete sei das deutsche Wort
Sehnsucht. In dieser iberisch-germanischen Sehnsucht ist alles enthalten.
Das Denkbare und das Undenkbare,
das Warme und das Kalte, dasjenige,
was Portugal mit der Welt und Pessoas Sprache mit der Weltsprache
gleichgesetzt hat.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Boris Perić
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TIONS
Der Bote des unreinen Gewissens
Zdravko Zima
W
eder Zeit seines relativ kurzen
Lebens, noch heute, gehörte
Thomas Bernhard (1931-1989) zu
jenem, was meistens unter der Formel der trendischen Literatur verstanden wird. Obwohl er Österreicher
und österreichischer Autor war, fand
er sich niemals mit den durch Sprache und Nation bestimmten Grenzen
ab, obwohl er gelobt und gewürdigt
wurde, lebte er am Rand, oder, besser gesagt, auf bewusst gewählter Distanz zu allem, was das gewaschene
Bild von der großen, durch die Ehre
der Habsburger bekränzten Kultur
verkörperte.
So paradox das auch Klingen mag,
Thomas Bernhard ist ein Kanon, der
allen Kanons entweicht, ein Begründer, der die bestehenden Fundamente stürzt, ein Zyniker sondergleichen
und dazu noch ein Schöngeist ohne
Sentiment, der die österreichische Literatur nach jener goldenen, durch
den Ersten Weltkrieg beendeten Zeit,
erneut zu ihren alpinen Gipfeln geführt hat. Diese Gipfel sind zwar sonnig und schneeweiß, während es um
ihn herum nur wenig Licht, dafür
aber viel Dunkel und Hoffnungslosigkeit gibt. Aber die Kraft, mit der er
seine literarische Landschaft geformt
hat, sein Stil, sein geistiger Reichtum,
seine Wortspiele und seine von schwarzem Humor durchdrungene Dialektik, die nicht einmal vor den schwersten Herausforderungen halt macht,
machten seinen Namen zu einem Symbol, zu etwas, das man liebt oder verwirft, restlos und ohne das Bedürfnis,
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sonderlich dazu Stellung zu nehmen.
Als Mensch, der keine Kompromisse duldete und dessen prosaistisches
und szenisches Werk Spuren offensichtlicher, rücksichtsloser und zutiefst narzisstischer Selbsttotemisierung in sich trägt, ist Bernhard ein
Autor, den man mit verwandtschaftlicher Empathie akzeptiert oder genauso leidenschaftlich verwirft und
ignoriert. Die Tatsache, dass er gestorben ist, hat den Staub und das kaum
hörbare, dafür aber noch schlimmere
mediokre Echo, dass sich über seinem Erbe zusammengezogen hat,
nicht weggewischt. Zeitlebens schockierte er durch seine Streitbarkeit
und seinen organischen Widerwillen
gegenüber einem Österreich, das im
Glanz der ehemaligen franzjosephinischen Monarchie fixiert ist, und
auch heute ist sein Schatten genauso
unpassend, weil es schwer fällt, ihn
als vorbildlichen schulischen Autor
darzustellen und einzuordnen. Aber
die Art, wie er seinen Landesgenossen als Rache für alle Schikanen und
Erniedrigungen Leid zugefügt hat, ist
ohne Gleichen: Obwohl er als Theaterautor wohl am bekanntesten war,
untersagte Thomas Bernhard testamentarisch die Aufführung seiner
Stücke in Österreich. Das ist das
Passepartout eines Schriftstellers, der
alle möglichen Ideale verneint hatte
und in der Literatur bis zum Äußersten gegangen war.
Es wäre vielleicht am richtigsten, zu
schließen, er sei eine Ausgeburt gewesen, einer, der die bestehenden Re-
geln mit Verachtung straft, wofür seine Biographie genügend Argumente
bietet. Geboren wurde er im niederländischen Heerlen, eine Zeitlang
lebte er in Rotterdam, verbrachte
aber den größten Teil seines Lebens
in Salzburg, Wien und der österreichischen Provinz. Was die Provinz
betrifft, so hatte er sie nicht nur nicht
geliebt, sondern verachtet, konnte
sich aus ihr aber nicht befreien.
Bei vielen Gelegenheiten bezeichnete
er sich als Großstadtmenschen, der
seine Fantasie in der Atmosphäre von
Kaffeehäusern und Konzerten belebt,
seine physische Kondition und seine
Lungenkrankheit (die ihn seit seiner
Jugend plagte) drängten ihn zur Erholung in ländlichen Gegenden. Er
liebte den Rhythmus der Stadt und
war von der provinziellen Trostlosigkeit angewidert; sein Geist brauchte
das eine, sein Körper aber das andere, und es war, wie in so vielen anderen Angelegenheiten, ein Ding der
Unmöglichkeit, die ideale Lösung
zu finden. Am Salzburger Mozarteum studierte er Gesang, Schauspielkunst und Regie. Zur gleichen Zeit
schrieb er Verse in der Manier Trakls
oder Rilkes und lebte als Gerichtsberichterstatter für lokale Blätter.
Anlass für viele seiner Prosastücke
fand er in gerichtlichen und kriminalistischen Berichten, deren Bizarrerie an das Fantastische grenzte.
Letztendlich stellt sich die Frage, ob
die exzentrischen Individuen und alle
möglichen Gesetzbrecher Bernhards
Fantasie kanalisiert haben oder aber,
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ob er nicht ein Autor war, der einer
solchen Welt spontan entgegeneilte.
Wie auch immer, Bernhard war ein
Dramatiker und Erzähler, aus dem
unaufhaltbar Gift und Skepsis spritzten. Wer Salzburg als säuberliche,
in Mozarts musikalische Arithmetik eingehüllte Festspielstadt kennt,
wird seine Texte als Endstation einer
Welt erleben, die von Maniacs und
prädestinierten finsteren Gestalten
bevölkert ist, die ihren Dämonismus in ihren Genen trugen. Neben
fünf Prosabänden, in denen er seine
Kindheits- und Jugenderinnerungen
beschreibt, zählen die Romane Korrektur (1975), Beton (1982), Wittgensteins Neffe (1982) und Der Untergeher zu seinen wichtigsten Werken.
Unter den Theaterstücken sind Vor
dem Ruhestand (1979), Heldenplatz
(1988) und Minetti, ein Porträt des
Künstlers als alter Mann (1977) zu
nennen.
Sein Stück Der Schein trügt (1983)
wurde im gleichen Jahr in der Übersetzung von Dragutin Horvat im
Teatar&TD aufgeführt, während der
Zagreber Verlag Meandar 1998 eine Sammlung von Kurzgeschichten
oder prosaischen Extemporationen
unter dem Titel Der Stimmenimitator
(1978) in der Übersetzung von Boris
Perić herausgebracht hatte.
Der Autor, der seiner Unruhe und
seinen Depressionen durch häufiges
Reisen beizukommen suchte, hegte
auch den Gegenden des Balkan gegenüber Sympathien. Wenn nicht
deshalb, weil diese einst von der Österreichungarischen Monarchie erfasst waren, dann allem Anschein
nach deshalb, weil er bei seinen südlicheren Nachbarn jene Vitalität und
Exotik fand, die wie der Handschuh
zur Hand zu seiner Dekadenz und
Defektivität passten. In Der Stimmenimitator werden namentlich Dubrovnik, Cavtat, Perast, Herceg-Novi, Belgrad und Trebinje genannt. Besonders intrigant ist die Erwähnung
von Cavtat und dem dortigen wundersamen, auf einer Anhöhe gelege-
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Kritiken
nen Friedhof, von dem sich ein Blick
auf Dubrovnik erstreckt.
Diese Aufzeichnung lehnt natürlich
an Bernhards Todesbesessenheit an,
geht aber auch aus all jenem hervor, was mit der Vorstellung vom
Balkan als andersartigem, archetypischen Universum in Verbindung
steht. Statt Račićs, nennte der Autor Njegošs Mausoleum, aber dieser
Fehler würde eher einen eventuellen
eingefleischten Nationalisten stören,
als die Harmonie seiner fremdartigen, manchmal schockierenden, aber
genauso exakten und stilistisch hervorragenden Prosastücke zu beeinträchtigen. Unter seinen wichtigsten Projekten kündigte der bereits
erwähnte Meandar Verlag das Veröffentlichen von Bernhards gesammelten Werken an. Als erster Titel
in dieser Serie wurde, in der Übersetzung von Truda Stamać und der Redaktion von Zvonko Maković, Bernhards vielleicht bekanntester Roman
Wittgensteins Neffe, eine Freundschaft
veröffentlich. Was kann über dieses
Buch gesagt werden, in dem Bernhard, von Paul, seinem Freund und
nahem Verwandten des berühmten
Philosophen Ludwig Wittgenstein
erzählend, zugleich ein unverschönertes und alles andere als typisches
Selbstporträt gemalt hat?
Von einer ihm verwandten Seele ausgehend, wie Emil M. Cioran es gewesen ist, könnte man zum Schluss
kommen, ein Monster habe Wittgensteins Neffe autorisiert. Denn, nur
Monster können sich den Luxus leisten, die Welt so zu sehen, wie sie ist,
erklärt Cioran. Der Staat ernährt
sich von Pomp, Fiktion und Mythomanie, die ihre Grundlage und ihre
Conditio sine qua non sind. Bernhard
ist alles andere, nur nicht das!
Ein schonungsloser Bote der Verbitterung, ein Zerstörer, (Selbst)Mörder
und Snob, dem es nicht im Traum
einfallen würde, für das Publikum
zu schreiben oder sich auf eine ihm
angemessene Ebene herabzulassen.
Bernhard schreibt für sich und sei-
131
nen kleinen Kreis, zu dem, neben
dem bereits zitierten Cioran, Gombrowicz, Beckett, Kiš und ähnliche
durch Nihilismus und Skepsis imprägnierte Gehirne gehören. Obwohl
die modernen Literaturtheorien der
Möglichkeit der Identifizierung von
Autor und Werk gegenüber reserviert
sind, fallen viele Einzelheiten aus
Wittgensteins Neffe mit Tatsachen aus
Bernhards Leben zusammen. Bereits
in den ersten Sätzen erwähnt der Autor seien ersten, 1967 veröffentlichten Roman Verstörung, darauf seine
Kortisontherapie, den faustdicken
Tumor, der aus seinem Brustkorb
entfernt wurde, sowie die ärztliche
Prognose, aus der hervorgeht, er habe
nur noch einige Monate, wenn nicht
sogar Wochen zu leben.
Jahrelang mit seiner schweren und
terminalen Krankheit kämpfend, entwickelte Bernhard seinen Zynismus
und seine Feinfühligkeit – nicht nur
die physische und materielle, sondern auch die geistige und intuitive
– bis zum Äußersten. Eine derartige,
manchmal röntgenhafte Feinfühligkeit besitzen nicht selten kranke Personen, die sich durch ihr Leiden von
anderen und allem, was diese routinierte, selbstverliebte Welt ausmacht
distanziert haben. Auch seine unalltägliche Freundschaft, die auf den
Seiten dieser Erzählung angesiedelt
ist, wurde durch Krankheit verfestigt,
da der Autor, bzw. sein Alter Ego, im
Pavillon Herman lag und Paul Wittgenstein zweihundert Meter weiter
im Pavillon Ludwig. Ersterer war Patient der Lungen-, letzterer der psychiatrischen Abteilung, der eine litt
an einer schweren, ertastbaren Krankheit, der andere an etwas, das Bernhard, in Anlehnung an Artaud, der in
den Doktoren der Psychiatrie hochpositionierte Idioten und Lustverbrecher erkannt hatte, zur Fiktion erklärte. Obwohl er, wie Plutarch einst,
in seinem Buch parallele Biographien
kreiert hatte, ist Wittgensteins Neffe
im Wesentlichen vom Gefühl des
Verfalls und des Todes bestimmt.
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Der Patient, der im Krankenbett liegt,
weiß, dass Feindseligkeit, Hartnäckigkeit und ähnliche Eigenschaften
den Organismus schwächen, kann
sich aber nicht helfen, obwohl sein
Glaube, er würde das Krankenhaus
lebend verlassen, auf ein Minimum
reduziert ist. Wie sehr der Erzähler
und sein Freund aus verschiedensten Gründen gelitten haben mögen,
so sehr weisen sie in zahlreichen Einzelheiten eine Ähnlichkeit auf, wie sie
nur unter Zwillingen zu finden ist.
Denn so, wie Paul ein unglaubliches
Maß an Wut gegenüber sich selbst
und seiner Umgebung zu erreichen
wusste, litt auch der Erzähler unter
derselben Schwäche. Den Einen wie
den Anderen trieben ihre Obsessionen direkt ins Krankenhaus und
Bernhard wird in seinem Stil schlussfolgern, Paul sei verrückt gewesen,
aber dennoch nicht verrückter als er
selbst. Außer der Reisen, mit denen
sie ihre Unruhe zu heilen versuchten, war die größte Leidenschaft der
beiden Freunde die klassische Musik. Unzählige Male diskutierten sie
über Wagner, Weber, Schönberg und
Satie, Beethoven und Mozart lauschten sie ohne stundenlang ein Wort
zu sagen, Paul konnte Karajan nicht
ausstehen und verneinte apodiktisch
dessen Größe, und die Oper war für
ihn der Gipfel aller Künste.
Mit Wittgensteins Neffen hatte den
Erzähler Irina bekannt gemacht, eine
Dame, die mit ihm die Liebe zur Musik teilte, und die so viele Ehen hinter
sich hatte, dass diese sich, laut Bernhard, an den Fingern einer Hand
nicht abzählen ließen. Was Paul für
ein begeisterter Sonderling war, davon zeugt die Angabe, er sei trotz
seiner schweren Krankheit imstande
gewesen, eine sechs Stunden dauernde Aufführung des „Tristan“ durchzustehen und danach die Künstler,
je nach Aufführung und seiner Verfassung, entweder auszupfeifen oder
ihnen zu applaudieren. Pauls Pro und
Kontra hatten nichts mit der Wirk-
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RELA
Dossier: Zdravko Zima
lichkeit zu tun, sondern mit seinen
Launen und seinem Wahn; dessen
ungeachtet schreibt Bernhard, er habe nie zuvor einen Menschen kennen
gelernt, der dermaßen luzide und von
derartiger gedanklicher Kraft gewesen wäre. Aber Paul verschleuderte
erbarmungslos seinen geistigen und
materiellen Reichtum. Er entstammte einer der drei wohlhabendsten Familien des Landes, deren Angehörige
in erster Linie als Waffenfabrikanten
bekannt geworden sind, und danach
erst durch derartige Individuen, wie
Ludwig und Paul es waren. Aber
während die Ehre der Wittgensteins
jemand anderem als willkommener
Anlass gedient hätte, Lobgesänge auf
die Österreicher zu dichten, steigerte dieser Umstand bei Bernhard nur
den Wunsch, den Krug voller Unrat
so rasch wie möglich über den Köpfen seiner Wiener Mitbürger und
Volksgenossen auszuschütten.
Noch Schopenhauer war zum Schluss
gekommen, dass nur arme Tröpfe nach
der Nation als letztem Mittel zur
Stärkung des eigenen Stolzes greifen.
Bei Bernhard, der von der Beklemmnis seiner Umgebung und dem Mythos von der Größe der einstigen K.
u. K. Monarchie angewidert war, erhielten solche Überlegungen eine
beinahe fulminante Erfüllung. Es
wäre eine Illusion gewesen, zu erwarte, er würde für die Wiener und seine
Landsleute ein sanfteres Wort finden.
Zu einem der größten Skandale kam
es daher, als er den Grillparzerpreis
erhielt und nach allen Missverständnissen und Unannehmlichkeiten als
Nestbeschmutzer beschuldigt wurde.
Mit all dem, was dieser radikale Individualist, aber ebenso auch Autor,
der durch die Natur seiner Berufung
zur Öffentlichkeit verurteilt ist, befürwortet, kann der Leser einverstanden sein, muss es aber nicht. Bernhard ist ein Erzähler von filigranem
und ökonomischem Ausdruck, ein
Erist und Nihilist, der zu Paradoxen
neigt und am glücklichsten zu sein
TIONS
scheint, wenn er seinen Handschuh
umstülpt, um etwas zu beweisen,
was sich der kanonisierten Logik und
der gewohnten Ordnung der Dinge widersetzt. Es ist allgemein bekannt, dass sich die Sinne bei Kranken bis zum Äußersten schärfen, wobei Bernhard seine Feinfühligkeit in
Richtung äußerlicher und innerlicher Wirklichkeit kanalisiert hat, zu
jenem hin, was den Alltag ausmacht,
aber auch seinen streng definierten
literarischen Habitus.
An seinen Prosastücken feilte er pedantisch herum, und ließ an keinem
Komma oder diakritischen Zeichen
Zweifel aufkommen. Der Roman
Wittgensteins Neffe hat weder Kapitel
noch abgesonderte Abschnitte. Auf
ausdrücklichen Wunsch des Autors
wurde er in ununterbrochener Abfolge gedruckt, ohne Abschnitte und
typographische Zäsuren, und auf einer dermaßen kargen Visualisierung
seiner Texte bestand ja auch Kafka.
Alle Götter und Mythen verwerfend,
legitimierte sich Bernhard als Autor,
der seine Ausschließlichkeit veräußerlichte und verinnerlichte, indem
er sie einerseits zum Skandal, andererseits zur stets aufs neue faszinierenden literarischen Vorlage machte.
Auf jene, denen Bücher als Dekoration dienen, wird er wie ein Blitz aus
heiterem Himmel wirken, bei anderen wird sein Verzicht auf Schlagerrhetorik Effekte eines Schocks, oder
aber zutiefst reinigenden Tornados
hervorrufen. Sich gegen Krankheit
als Degradation auflehnend, zu der
der Mensch eigentlich verurteilt ist,
lehnte sich Bernhard gegen die Degradation als akzeptiertes und gesellschaftlich bedingtes Verhaltensmodell auf. Er war ein Bote des unreinen
Gewissens: mutig genug, das zuzugeben und suggestiv genug, die Leser
in der Überzeugung zu lassen, es ginge um ein Abenteuer, in das sie auch
selbst ihre Finger gesteckt haben.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Boris Perić
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RELA
TIONS
133
Kroaten in den Augen eines Ungarn
Zdravko Zima
I
n ehemaligen Zeiten hatte jeder
Staat mit kommunistischem Vorzeichen mindestens einen offiziell
beglaubigten Zhdanow, der Lektionen erteilte und aus seiner streng
zementierten und ideologisch starrköpfigen Perspektive über das geistige Leben urteilte. Einer derartigen,
in vielerlei Hinsicht unglorreichen
Rolle hatte sich in Ungarn Lukács
angenommen, der seine Standpunkte mit der Abbildtheorie in Einklang
brachte, wobei einer der Höhepunkte seines vampirhaften Dogmatismus in seinem ungeheuren Lob für
Stalins Elaborat über die Sprache fixiert war. Die Beschwörung dieser
unglorreichen Episode ist wiederum
durch ein Buch veranlasst: als Ferenc
Fejtö sein Buch Voyage sentimental
herausgegeben hatte, geizte Doktor
Lukács nicht mit Einwänden herum und hielt dem Autor Frivolitäten und journalistische Oberflächlichkeit vor.
Fejtö hatte dieses Buch vor dem Zweiten Weltkrieg geschrieben und nach
so vielen Jahren und so vielen Kriegen
wurde es beim Zagreber Verlag „Durieux“ und der Dubrovnik University
Press aus Dubrovnik endlich auch in
kroatischer Sprache herausgebracht
(aus dem Ungarischen übersetzt von
Xenia Detoni).
Warum ist Voyage sentimental für uns
wichtig? Deshalb, weil Fejtö ein Historiker uns Schriftsteller von Weltruf ist und weil er unsere Menschen
und Gegenden beletrisiert, wie es der
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stets anregende Matoš sagen würde.
Seit 1938 lebt er in Paris, aber als er
nach Frankreich fortging, wechselte
er nicht nur das Land, sondern auch
die Sprache. Letztendlich kam er zum
Schluss, er würde sich in der französischen Sprache besser zurechtfinden, als in der Sprache seiner ersten
und echten Heimat. Weder als Autor, noch als Privatperson war Fejtö
jemals auf Grenzen reduzierbar, und
zwar nicht nur auf die staatlichen,
sondern auch auf jene anderen, die
in den Hirnen krankhafter Lokalpatrioten wuchern. Im 1988 geschriebenen Vorwort zur zweiten Auflage
von Voyage sentimental wiederholte
er jenen bekannten lyrischen Refrain von der Brust, in der zwei Seelen
wohnen. Wenn nicht sogar mehrere!
Im ehrwürdig hohen Alter erklärte
dieser ungarisch-französische Autor
und Reisende in der edelsten Bedeutung dieses Wortes, er habe nie gedacht, der Mensch solle sich auf eine
einzige Identität begrenzen.
Besonders anregend sind seine vitalen und intellektuellen Transversalen
für eine Mitte, in der der Mythos
von einem Land, einem Volk, einer
Sprache und einem Glauben geradezu beängstigende Hartnäckigkeit aufweist. Voyage sentimental erregt durch
den Namen seines Autors Aufmerksamkeit, sowohl aber auch durch die
Tatsache, dass es zur Gänze Kroatien gewidmet ist. Der Grundgedanke
des Buches entstand in relativ kurzer
Zeit, zwischen Anfang Juni und An-
fang August 1934, als Fejtö unser
Land besucht hatte (vor allem Zagreb, Dubrovnik und Split). Natürlich hatte Fejtö keinen Baedeker für
ungarische Müßiggänger schreiben
wollen, denn es ist schwer anzunehmen, dass dieser nach 70 Jahren für
jemanden von Interesse sein könnte.
Aber gerade die Tatsache, dass seine
Reisekleinigkeiten heute noch unsere Aufmerksamkeit beanspruchen,
dass sie sich ohne Vorbehalt lesen
lassen, erscheint als größtmögliches
Kompliment und Beweis dafür, dass
ihr Autor über die bloße Faktographie und Linearität eines grundlos
unterschätzten und diskriminierten
Genres hinausgegangen ist.
In der Übersetzung dieses nach Sterne betitelten Buches lässt sich zweierlei identifizieren: das Bedürfnis, das
Fejtö in unserer Kultur domestiziert
wird und das Bedürfnis nach der
Spiegelung in den Augen eines anderen. Wie jeder authentische Reiseschriftsteller, fasste Fejtö die Reise
als Herausforderung auf, als eine Art
Initiation, durch die er, neue Horizonte entdeckend, sein andersartiges
und wiedergeborenes Inneres entdecken wird. Er ist kein neuer Fortis,
der sich im adriatischen Hinterland
Morlacken und Wilde erhoffte, und
auch nicht Rebecca West, die im Titel ihres Buches Black Lamb & Grey
Falcon (Schwarzes Schaf und grauer
Falke), das 1941 und 1942 in zwei
Teilen veröffentlicht wurde, balkanische Archetypen fixiert, reduziert
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auf Opfer und Helden, Unschuldige und Ungreifbare, die stets dieselbe Geschichte von Blut und Gewalt
wiederholen.
Wichtig ist wahrscheinlich auch die
Tatsache, dass Fejtö unmittelbar nachdem er aus dem Gefängnis entlassen
wurde seine kroatische Tournee antrat. Hinter Gittern hatte er beinahe
ein Jahr verbracht, weil er die Arbeiterschaft sympathisierte und an der
revolutionären Bewegung teilnahm.
Die im Gefängnis verbrachte Zeit
hatte ihn offensichtlich verändert
(Zyniker würden sagen: klüger gemacht), sodass er in einem in Dubrovnik entstandenen Exkurs seiner
Reisekleinigkeiten vermerkte, er sei
Angehöriger der bürgerlichen Klasse,
aber gleichzeitig auch Sozialist.
Voyage sentimental ist ein Buch, dem
die Zeit nicht genommen hat, was
sie von den Menschen nimmt. Sie
hat es weder seiner Frische, noch
seiner Anregungskraft beraubt und
schon gar nicht seiner so evidenten
Freude am Reisen und Leidenschaft
des Entdeckens, die jeder Pilger in
sich trägt, der auf seiner Reise von allem anderen geleitet wird, nur nicht
vom Wunsch, eine schulische Reisebeschreibung zu verfassen. Fejtö
schreibt über Zagreb, seine Straßen
und Menschen, schreibt über Dalmatien und die Dalmatiner, aber genauso auch über seine Familie, ihren
ungarischen und kroatischen Zweig,
kehrt in die Vergangenheit zurück,
zu seiner Kindheit, erinnert sich, retouchiert und vertieft sich in ethische, politische und andere Zweifel,
die einen gebildeten und ambitiösen
jungen Mann schon plagen können.
Schließlich sollte auch nicht außer
Acht gelassen werden, dass sich seine
Reise ein Jahr nach Hitlers Machtübernahme im Reichstag ereignete.
Dass Hitler die Szene betreten hat,
wurde trotz des sommerlichen Fluids und des unverbindlichen Reizes
der Reise in den verschiedensten Gelegenheiten geahnt.
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RELA
Dossier: Zdravko Zima
Fejtö ist subtil genug, um niemals zu
dozieren und zu moralisieren. Aber,
was seine Standpunkte waren, was er
dachte, als Hitler Reichskanzler wurde, wird am besten durch eine Episode aus Dubrovnik illustriert. Während eines Motorbootausflugs fand
er sich in Gesellschaft einer hochgewachsenen, gutaussehenden Deutschen, die sich, eine Kokarde tragend,
ihrer rassischen Zugehörigkeit offensichtlich bewusst war. Während der
Fahrt hatte sich ein Delfin dem Boot
genähert und die dabei entstandenen
Wellen zwangen die junge Arierin,
sich zu übergeben. Der ungarische
Gast, in jeder Situation fein und distinguiert, bemerkte laut, eine derartige Schwäche sei einer Dame von
germanischer Rasse nicht würdig!
Gleich am Anfang erklärt Fejtö, er
habe sich für Sternes Titel entschieden, denn er wollte dadurch seine
ernsthaften Reflexionen mit der Leichtigkeit seines Ausdrucks versöhnen.
Gerade darin liegen die grundlegenden Werte dieses Buches. Denn, alles hat den Anschein einer legeren
Reise, auf der es sowohl Sentiment,
als auch Gelassenheit und erotische
Einbildungen in Bezug auf Zagreber
Dienstmädchen und Dalmatinische
Kellnerinnen gibt, sowohl aber auch
delikate Überlegungen über Religion, Ideologie, Freiheit und so fort.
Der Autor ist neugierig und gebildet,
verhält sich aber nicht wie ein Streber oder Bücherwurm, der über seine
Nasenspitze nicht hinaussieht. Seine Worte und Gedanken werden in
Dubrovnik plötzlich mit Ausrufezeichen versehen. Mehr noch, von dieser
Stadt fasziniert, kommt er beinahe
emphatisch zum Schluss, wirkliche
Schönheit sei unvergleichbar mehr
Wert als alle papiernen Buchstaben.
In Dubrovnik hat sein tief verwurzeltes Bedürfnis nach Welt seinen erogenen Punkt gefunden, wie auch seine
Wohlerzogenheit und Zivilisiertheit
in Zagreb auf ein ebenso entsprechendes Echo gestoßen sind.
TIONS
Allem Anschein nach waren es die
Freundschaft mit Attila József und
die Schule des Gefängnisses, die die
Laufbahn des jungen Ungarn in größtem Maße kanalisiert haben. Nach
den Tagen seiner Haft hatte er sich
gewissermaßen zurückgezogen. Das
bedeutet aber noch immer nicht, er
habe kapituliert oder aufgegeben. Er
war reifer geworden, durchdachter,
bewusst, er sei, eher als für revolutionäre Aktionen, dazu geschaffen,
Schriftsteller zu werden. Während er
es sich in Dubrovnik gut gehen ließ,
stellte er an einer Stelle wortwörtlich
fest: „Es gilt, Leben und Glauben zu
bewahren, man darf sie aber nicht
allzu krampfhaft festhalten, weil sie
einem gerade dann sehr leicht verloren gehen.“
Oder, einige Zeilen weiter, eine Seefahrerparabel: „Jetzt begreife ich schon
langsam, die Kunst verbirgt sich darin, dass der Mensch seine Schiffsreise
erledigt, ohne dabei Schiffbruch zu
erleiden.“ Fejtös Familie war nach
österreichisch-ungarischem Modell,
bzw. jedem anderen, das Grenzen,
außer jener des Geldes und anderer
objektiver Umstände, außer Acht
lässt, über die ganze Welt verstreut.
Seine Mutter hatte das Konservatorium abgeschlossen, gab Klavierunterricht und assistierte im Modesalon der Großmutter. Sie heiratete
einen draufgängerischen Rechnungsrat, der sie an sich riss, wie ein Jäger
seine Beute. Sie lebten in Budapest,
wie zwei Gefangene, die nicht viel
gemeinsam hatten. Nach ihrer Scheidung ging seine Mutter nach Zagreb, wo sie ihr erstes Kind, Ferenc’
Schwester Nada, zur Welt brachte.
Eine kurze Zeit lebte seine Mutter
auch in Rijeka. Sie starb, als Ferenc
noch in seinen Jugendjahren war (er
wurde 1909 in Nagykanizsa geboren)
und wurde auf dem Zagreber Friedhof Mirogoj bestattet.
Seine Schwester Nada verbrachte ihr
imposantes Leben in Zagreb, sein
Neffe Ljerko, Violinist, gelangte nach
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TIONS
Buenos Aires, sein anderer Neffe Mirko, Pianist und Dirigent, starb als
Leiter der Musikakademie in Sarajewo, wobei vor allem die Tatsache,
dass er ein „Marschlied der Partisanen Titos „ komponiert hatte, kurios
klingen mag.
Die Geschichte von Fejtö und seiner
sich nach allen Seiten verzweigenden
Familie ist wie die Geschichte der
Buddenbrooks, und sollte für einen
großen Roman reichen. Sein jüngerer
Bruder lebte in Sombor, Tante Toni
machte ihn auf Fehler beim Binden
seiner Krawatte aufmerksam, seine
andere Tange, Jenny („das Familienungeheuer“) sah mit einem Auge
auf den Gast, mit dem anderen, jedoch, nach den Krümeln, die auf den
Teppich fielen, Otto war sein Lieblingsonkel, obwohl sie jahrelang auf
Kriegsfuß standen. Von nationalen
Inhibitionen geleitet, suchte Otto zu
beweisen, alle Ungarn sein Schufte,
während der junge Ferenc ihm boshaft erwiderte, auch der größte kroatische Held, Nikola Šubić Zrinski,
sei eigentlich ein Ungar namens Zríny Miklós gewesen. In diese Galerie
pittoresker und schon beinahe theatralischer Gestalten passt auch die Bedienerin Barica, deren behaarte und
schmutzige Beine den jungen Ferenc
trotzdem oft seiner nächtlichen Ruhe
beraubt hatten.
Eine besondere Analyse würde Fejtös
Agramophilie erfordern, die mit kaum
zu vergleichen ist mit jenem, was
sonst über unsere Hauptstadt geschrieben wurde, vor allem nicht
mit der Skepsis, die aus Matošs und
noch mehr Krležas Prosa hervorgeht. Diese Art Entzückung ist zum
großen Teil durch Fejtös Biographie
bedingt, die Tatsache, dass er sowohl
hier, als auch dort lebte, mit einem
Bein in Ungarn, mit dem anderen
in Kroatien, beziehungsweise, wie
er selbst bezeugt: „Dort (in Ungarn,
Anm. Z.Z.) war ich in der Fremde,
als habe man sich von mir losgesagt,
ich hatte keine Mutter, es war kalt,
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Kritiken
und du warst mir alles, Großvater,
Großmutter, Feigen, Spiel und Sommer. Dort war für mich wirklich ein
‚Hundsort‘, bestehend, wie der Name schon sagt, aus grauen Häusern
und Menschen, von denen es einigen gelang, mir näher zu kommen.
Ach, sogar die Luft war dort anders,
feucht, morastig, verpestet von Bakterien, an denen laut Überlieferung
auch der weise Kaiser Marcus Aurelius gestorben ist.“ Obwohl Kroatien
ein anderes Land ist, fühlt Fejtö sich
hier zu Hause, sodass es nicht wunder sollte, dass er Zagreb zu seiner
Geburtstadt erklärt.
Gundulićeva-Straße 49 lautet die unvergessliche Adresse, an der einst seine Großeltern gewohnt hatten, während Jelačićs gezogener Säbel, drohend gen Ungarn gerichtet, keine negative Energie in ihm wachrief. Vielmehr spürte dieser ungarische Kroate
in der Breite des Jelačić-Platzes und
den Düften seines Fischmarkts einen Hauch des Meeres, ähnlich wie
Mihalić, der in einem Gedicht, als er
durch den Zrinjevac-Park spazierte,
plötzlich zu glauben begann, er sei
an der Küste.
Zagreb ist eigentlich ein mythischer
Ort, so wie Mekka für die Moslems,
oder Jerusalem für die Juden. So bestätigt Fejtö jene alte Redensart, das
Leben sei stets irgendwo anders! Thomas Bernhard, ein großer Autor und
genauso großer Zyniker, behauptete,
Wien würde ihn langweilen, sodass er
von Zeit zu Zeit in andere europäische Metropolen reiste. Er reiste zum
Beispiel nach Paris oder Rom, als er
aber dort ankam, waren sie genauso langweilig wie Wien. Am besten
fühlte er sich auf Reisen, als er sich
zwischen den Endstationen befand,
weder hier noch da, in jenem zauberhaften Intermezzo, in dem nichts
mehr existiert, außer Fantasie und
Erwartung.
Obwohl es in Fejtös Agramophilie
keine Spur von Verblendung gibt,
ist dies in großem Maße durch sei-
135
ne vervielfältigte Biographie konditioniert, die Position eines Menschen, der in Zagreb wählen konnte,
ob er Fremder oder Einheimischer
sein wolle, oder aber beides zugleich.
Natürlich hatte Fejtö die Redaktionen von „Novosti“; „Hrvatska revija“ oder „Književnik“ besucht, hatte
sich über Maček informiert und war
dem kroatischen Nationalismus auf
den Grund gegangen. An einer Stelle
bezeichnete er die Kroaten als die Iren
Mitteleuropas, an einer anderen kam
er zu Schluss, es handle sich um ein
Volk, das alles äußerst ernst nimmt.
Aber Fejtö war nicht nur ein sentimentaler Reisender und rationeller
Forscher. Als echter Hedonist, vergaß
er nicht, zu bemerkten, eine gute Küche würde die zwischenmenschlichen
Beziehungen fördern, sodass er seine
Vorliebe für Kuchen nicht verbarg,
während ein guter Schweinebraten
die allergrößte Entzückung in ihm
wachrufen konnte, sodass er für ihn
auch eine Art Hymne gedichtet hatte.
Über Krleža hatte er festgestellt, was
wir auch selbst wussten, es aber nicht
konstatieren wollten oder durften.
Ein Redakteur bei „Zagrebačke novosti“ hatte ihm gesagt, Krleža sei
unser Remarque, er sei unmöglich
in persönlichen Kontakten und würde die kroatische Literatur als seinen schlimmsten Feind behandeln.
Nachdem er ihn besucht hatte, schrieb
Fejtö vom boshaften Blitzen in seinen Augen, seiner Heftigkeit und
seinem Temperament, von der Verachtung, die er seinem Schicksal gegenüber und der Mitte, aus der er
entstammte, empfand, obwohl er
keinen Augenblick lang daran zweifelte, einen literarischen Riesen vor
sich zu haben. Im großen kroatischen
Donnergott identifizierte Fejtö eine
aufgeblasene und unsichere Figur, in
deren Gesellschaft er sich trotz allem
nicht angenehm fühlte. Nach Zagreb
führte sein Itinerar ihn dem Meer zu.
Aus Rijeka fuhr er mit dem Schiff
„Ljubljana“ zuerst auf die Insel Rab,
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136
RELA
Dossier: Zdravko Zima
schen Grippe dahingerafft wurden,
baute Meštrović auf Wunsch der Familie das Mausoleum, das heute noch
als Blüte auf jenem wunderschönen
Friedhof von Cavtat steht. Die Tatsache, dass diese Geschichte dem
Autor nicht bekannt war, vermindert keinesfalls den Wert seiner in
vielerlei Hinsicht einzigartigen Prosa. Fejtö opferte Cavtat wegen eines
Besuchs beim Künstler P.D., der in
Mlini lebte. Hinter diesen Initialen
verbirgt sich allem Anschein nach
Petar Dobrović, mit dem sich Fejtö
über Revolution und Weltordnung
unterhielt. Interessanterweise wird
in keiner Replik Pécs erwähnt: nicht
nur wegen Fejtös ungarischer Indignität, sondern, weil Dobrović in Pécs,
der Stadt, in der Krleža das Militärgymnasium absolviert hatte, geboren wurde.
Aber Dobrović war dermaßen von
Politik und seiner anti-magayaro-
nistischen Einstellung besessen, dass
er solche Kleinigkeiten gar nicht beachtete. Schließlich landete Fejtö in
Split, wo er eine 14stündige, beschwerliche Zugfahrt nach Zagreb
antrat. Die Stadt des Diokletian verließ dieser Ungar mit kroatischen
Biorhythmus voller Emotionen, mit
denen er seiner eigenen Behauptung
zufolge eines Tages diese Welt verlassen werde. Solche zugleich einfachen
und weisen Sätze sind nur Seltenen
zueigen. So spät es auch sein mag,
so pathetisch und anachronistisch
das auch klingen mag, nach so vielen
Jahren können wir Fejtö nur dankbar sein, dass er ein derart fantastisches und tief dokumentiertes Buch
geschrieben hat.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Boris Perić
Foto: © Višnja Arambašić
dann nach Korčula, wo er nebenbei
mit einer Tschechin namens Helene flirtete, in Split konnte er kurz
Meštrovićs Grgur-Ninski-Denkmal
bewundern, dann kam er nach Dubrovnik, Mlini, Kotor, Cetinje, dann
abermals nach Dubrovnik, Korčula
und Split, wo seine adriatische Route endete.
Nebenbei erklärt Fejtö, er habe es
nicht geschafft, nach Cavtat zu kommen, wo er ein Mausoleum besuchen wollte, das Meštrović für einen
Bauern erbaut hatte. Es ist schwer zu
glauben, ein Bauer hätte Geld genug
für ein derart grandioses Bauwerk.
Meštrović hatte dieses Monument
für die Familie Račić gebaut, deren
Tochter den Gründer des Jugoslawischen Lloyd und Freund von Frano
Supilo, Božo Banac, geheiratet hatte.
Nachdem Kapitän Ivo Račić, seine
Kinder Marija und Edi, sowie seine
italienische Verlobte von der Spani-
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RELA
TIONS
137
Jeder ist seine eigene Insel
Zdravko Zima
E
s ist gar nicht so lange her, seit die
letzte Meldung über die Struktur des Bruttosozialprodukts in unserem Land publiziert wurde. Es hat
sich gezeigt, dass sich unter allen Gespanschaften Zagreb an erster Stelle
befindet. Und nicht nur das: Zagrebs
Bruttosozialprodukt pro Einwohner
ist dreimal höher als der kroatische
Durchschnitt, bzw. sechs Mal höher, wenn der Rest des Landes ohne
Hauptstadt gemessen wird.
Was folgt daraus? Wären alle Gespanschaften auf der Ebene der Hauptstadt, wäre Kroatien, an seiner ökonomischen Effizienz gemessen, auf
demselben Stand wie Spanien oder
Greichenland, was allem Anschein
nach mehr als nur Hirngespinste
sind. Vielleicht ist dies eine etwas
ungewöhnliche Einleitung in die Besprechung eines Buches, aber die zitierten Indikatoren ökonomischer
Größen können als Wegweiser für
jene längst trassierten Animositäten
zwischen dem Norden und dem Süden, oder, besser gesagt, zwischen
dem kontinentalen Teil unseres Landes und dessen Küste dienen. Natürlich hat die Geschichte von wohlhabenden Zagreb und seinem armen
oder vernachlässigten Umfeld auch
eine andere Seite, aber das ist nicht
der Sinn dieses Artikels.
Die ökonomische Übermacht der
Hauptstadt setzt genauso seine geistige und kulturelle (Über)Macht voraus, sodass Zagreb für Kroatien dasselbe ist, wie Paris für Frankreich, na-
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türlich, nur in jenem Maße, in dem
solche Vergleiche überhaupt möglich
sind. Blicken wir einige Jahrzehnte
zurück, sehen wir, dass viele Schriftsteller, seit der Generation der Zeitschriften „Krugovi“ und „Razlog“ bis
hin zu den Borgesianern, aber auch
den jüngeren und jüngsten Autoren,
aus litoralen und insularen Gegenden
stammen und nach Zagreb gekommen sind, um dort ihr literarisches
Talent zu entfalten und zu definieren.
Ich erwähne das deshalb, weil Renato
Baretić einen anderen Kreis gezogen
hat und weil es wahrscheinlich keinen Kritiker gibt, der die Tatsache
nicht kommentiert hätte, dass sich
dieser geborene Zagreber vor rund
zehn Jahren in Split niedergelassen
hat. Und während alle der Hauptstadt
zustreben, was nicht nur hierzulande zu den nationalen Besonderheiten
zählt, opferte Baretić die Vor- und
Nachteile der Metropole zugunsten
provinzialer Pros und Kontras und
verwandelte sich in einen für alle
Himmelsrichtungen offenen Spliter
mit Zagreber Dialekt.
Baretić wurde 1963 in Zagreb geboren, in Zagreb studierte er Phonetik
und komparative Literaturwissenschaft, und seit 1983 ist er in allen
möglichen Zeitungen und Zeitschriften anwesend. Bekannt wurde er zunächst als Fernsehkolumnist, Koautor der Serie „Neue Zeit“ und Zusammensteller von Fragen für Quizsendungen wie „Wer wird Millionär“
und ähnliche. Er schreibt auch Ge-
dichte, seinen Lyrikband „Worte aus
der Tasche“ veröffentlichte er 1998
bei Feral Tribune in Split, und jetzt
stellt er seinen Debütroman Der achte
Beauftragte (Redakteur: Kruno Lokotar, AGM, Zagreb, 2003) vor.
Aufgrund zahlreicher Eigenschaften,
sprachlichen Amalgamierens, des Gespürs für Dialoge, des beletrisierten
Themas und so weiter, ist Der achte
Beauftragte ein willkommenes Novum in der rezenten literarischen Produktion. Aber der Gegensatz Nord-Süd, wobei der Norden stets reicher
und glänzender, der Süden dagegen
ärmer und erniedrigter ist, ist weder
in der Literatur noch im Alltag neu.
Dass dem so ist, ist zumindest implizit aus den am Anfang zitierten Zahlen ersichtlich.
Josip Kozarac, ansonsten diplomierter Agronom, veröffentlichte Ende
des 19. Jahrhunderts sein Buch Die
toten Kapitale, einen sogenannten
Thesenroman, der das Land idealisiert und direkt für die Wiederbelebung der slawonischen Agrarflächen
plädiert, aber auch für die moralische
Restitution der dortigen Einwohner.
Die kroatische Literatur ist in hohem
Maße von der Unterscheidung StadtLand bestimmt, bzw. von jenem, was
deren universelle und einheimischen
oder streng heimatlichen Prämissen
ausmacht. Auch heute ist sie genauso zerrissen zwischen jenen, die meinen, Kroatien müsse sich so rasch
wie möglich in Europa integrieren,
und jenen, die den Wohlstand im
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hartnäckigen Beharren auf vernakularen Werten und nationalen Besonderheiten sehen. In dieser Hinsicht hat
Baretić sein Ziel getroffen, viel wichtiger aber ist, dass er im Romancieren seiner Idee einen klaren und gut
projizierten Weg einschlug.
Mit den Worten eines Bergsteigers
könnte man vielleicht behaupten,
er habe einen Weg gewählt, der, wie
jedes richtige Abenteuer, Ungewissheit in sich trug, auf dem sich aber
nach jeder Etappe neue Horizonte
und Lichtungen auftaten.
Der Roman Der achte Beauftragte
beginnt als politische Geschichte, geschürt durch die Gerüche, die alltäglich den Küchen des Parlaments und
anderer Institutionen entfliehen, verwandelt sich aber schon bald in etwas
anderes. Im Mittelpunkt des Geschehens steht Siniša Mesnjak, Vertrauensperson des Premierministers und
Politiker am Beginn einer steilen Karriere, der eines Nachts in betrunkenem Zustand mit einer anonymen,
aus Weißrussland importierten Blondine ertappt wurde. Es kam zum Eklat, sensationshungrige Journalisten
setzten die Öffentlichkeit über alle
Einzelheiten in Kenntnis und der
Held des Romans wurde kurzerhand
als Regierungsbeauftragter auf die
Insel Trečić1 torpediert. Hier hätten
die Laudatoren des neuen Kroatiens
schon Grund genug, sich die Hände
zu reiben. Denn, während in ehemaligen Regimes gefallene Politiker auf
Goli otok landeten, um Steine zu
klopfen und Salz ins Meer zu streuen, erhielt Siniša Mesnjak die Gelegenheit, in einer anderen Umgebung
für Ordnung zu sorgen. Aber, auch
auf der Insel Trečić (deren Namen
nicht zufällig gewählt wurde) herrschen keine harmonischen Zustände,
vor allem nicht solche, wie sie in idealisierten Visionen insularer Utopien
meist vorausgesetzt werden.
Am wenigsten rosig gestalten sich die
Verhältnisse für den jungen Politiker,
1
RELA
Dossier: Zdravko Zima
der sich auf Trečić wie ein Fisch auf
dem Trockenen fühlt und dem die
Aufgabe zuteil wurde, längst festzementierte, durch Genetik, lokales
Brauchtum und langwierige Zweifel
fixierte Mentalitäten aufzuweichen.
Die Insel Trečić ist eine gottverlassene Gegend, in der Siniša eintraf, um
dort mindestens zwei Parteien zu
gründen, Lokalwahlen zu organisieren und dadurch die legitime Regierungsgewalt der Republik Kroatien
zu etablieren. Die Aufgabe scheint
einfach und klar wie Kloßbrühe,
doch zieht man in Betracht, dass Verschlossenheit und Reserviertheit zu
jenen Eigenschaften gehören, ohne
die man sich Inselbewohner schwer
vorstellen kann, wird ersichtlich, dass
es eine harte Nuss ist, an der Siniša
sich festgebissen hat. Die Lage ist
umso schlimmer, da vor ihm bereits
sieben Beauftragte versucht hatten,
die Insel in den Griff zu bekommen.
Von äußerlichen Indizien ausgehend,
assoziiert der Anfangsteil des Romans zahlreiche Affären, die unsere
Hauptstadt heimgesucht hatten: von
jener, als der verstorbene Präsident
Tuđman mit den Schicksalen nominierter Bürgermeister gespielt und
sie dabei umgestoßen hatte, wie fünf
schwankende Kegel, bis zum Zirkus
mit dem ehemaligen Bürgermeister,
der in alkoholisiertem Zustand Fahrerflucht beging.
Für einen Romanschriftsteller ist am
wenigsten wichtig, wie sehr er sich
an ein wirkliches Ereignis hält oder
nicht hält. Alles, was wesentlich ist,
ereignet sich ohnehin auf der Insel,
und diese ist weit und verrückt genug, dass wir alles, was in Baretićs
Fantasie passiert so gut wie restlos
akzeptieren können. Es irren sich
aber jene, die meinen, Trečić sei bloß
das Substitut für eine Insel mit all ihren Eigenschaften, unter denen sich
das Gefühl der Abgesondertheit und
Verdummung an erster Stelle befinden. Trečić ist in letzter Konsequenz
TIONS
ein Substitut für Kroatien, ein Land,
in dem jede Region einen eigenen
Erdteil bildet, in dem jede Enklave
stillschweigend über eigene Regeln,
besondere Gewohnheiten und exklusive Bräuche verfügt, von denen
man nur selten oder niemals ablässt.
Siniša war nach Trečić gekommen
um so etwas wie eine Lokalregierung
zu etablieren, die Einwohner haben
sich ihm aber widersetzt und zwar
auf eine Weise, die er weder akzeptieren, noch verstehen konnte. Und
schließlich, wenn er sie einmal verstehen wird, ist er eigentlich gekauft,
in gewisser Hinsicht domestiziert
und ihren Auffassungen unterworfen. Siniša machte einen Schritt auf
die Einwohner von Trečić zu, diese
aber auch in seiner Richtung.
Und so kam es am Ende zum Gleichgewicht: nicht als fauler Kompromiss, sondern als Lebensmodell, in
dem man gewinnt und verliert, etwas opfert, aber dafür auch etwas
empfängt. Aber bis zu diesem Zeitpunkt, bis er auf Trečić nicht einigermaßen heimisch geworden war (was
nicht bedeuten soll, er wollte dort
auch bleiben), ging der Held durch
waghalsige, manchmal unglaubliche,
manchmal groteske, manchmal sogar traurig-komische Episoden hindurch. Sein Gefühl für die Insel und
deren Schicksale verkörperte Baretić
in größtem Maße in der Figur des
Tonino, Sinišas lokalem Cicerone
und Dolmetscher, der sich aus seinem Sekundanten und Helfer zu seinem besten Freund entwickelt. Die
Insel ist eine Welt in Miniatur, ein
geheiligter, aber genauso auch diabolischer Ort, überzogen von unlösbaren Rätseln. Dass dem so ist, bestätigt Novaks Die verlorene Heimat,
ein klassischer Ableger kroatischer
pastoraler Prosa (in dem die Opposition zwischen Festland und Insel
ebenfalls errichtet worden ist). Bis
zum Äußersten wurde die Idee der
Beispielhaftigkeit der Insel in Zoran
Erfundener Name.
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RELA
TIONS
Ferićs antipastoralem Roman Der
Tod des Mädchens mit den Schwefelhölzern verschärft.
In Baretićs Roman manifestiert sich
die Besonderheit der Insel und ihrer Bewohner in der Unfähigkeit
der sieben Beauftragten, eine derart
banale Aktion, wie Lokalwahlen es
sind, durchzusetzen. Das Problem
liegt nicht nur in der Mundart, einer sonderbaren, manchmal scheußlichen, manchmal aber auch charmanten Mischung aus čakawischem
Dialekt, mit spärlich eingestreutem
Italienisch und Englisch in der australischen Subvariante dortiger, der
Schrift und Sprache nur vermindert
fähiger Emigranten. Das Problem
liegt ebenso im Geist der Insulaner,
die nur vom Meer umgeben lebten,
die den größten Teil ihres Lebens
in Australien schufteten, und allem,
was sich aus Zagreb bot, im Vorhinein die Hörner zeigten. Bis der Held
das nicht begriffen hat, passieren verschiedenste Missverständnisse, verrückte und fantastische, fröhliche
und morbide, am Ende kommt es
jedoch zur Inversion, zumindest insofern, dass auch Siniša zu glauben
beginnt, weder die Metropole sei ein
unablösbares Ideal, noch sei die Insel eine Baumschule für Narren und
endemische Idioten. Aber, warum
endeten die Aufträge so vieler staatlicher Beauftragter in einem Fiasko?
Weil so gut wie alle Insulaner ihre
Arbeitsjahre in Australien verbracht
haben, woher sie erst im Altern nach
Trečić zurückgekehrt waren, um dort
von ihren Renten und Bonino Smerdelićs Donationen zu leben, der in
Australien reich geworden war und
seine Geburtsinsel in eine Art Bußeexpositur verwandelt hatte. Aber, dass
Trečić die Welt im Kleinen ist, eine
Insel an sich und ein Staat per se, daran braucht nicht gezweifelt zu werden. So, wie es in einem berühmten
Werk der europäischen utopischen
Literatur, in Campanellas Sonnenstaat (Civitas Solis), Gesetze gab, denen zufolge alles der Gemeinschaft
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Kritiken
gehörte, sowohl die Häuser, als auch
die Frauen und Kinder, hielten sich
auch die Bewohner von Trečić ausnahmslos an Boninos transkontinentale Botschaften. Bonino war ihr Tito, ein Kapitalist mit sozialem Instinkt, ein Mann, der die italienische
Maffia engagierte, die Insel regelmäßig mit Lebensmitteln und anderen
wichtigen Dingen zu versorgen. Obwohl er am anderen Ende des Planeten lebte, hatte Bonino entscheidenden Einfluss auf alles, was sich auf
der Insel ereignete, und so war es auch
verständlich, dass die Bewohner von
Trečić kein besonderes Interesse an
einer neuen Regierungsgewalt hatten.
Trečić ist eigentlich ein Bild von Gegensätzen; auf allen Häusern stehen
solare Inverter, aber die Insel ist außer Reichweite aller mobiler Netze,
in den Häusern gibt es kein Wasser,
aber dafür trinken alle australisches
Foster’s Bier. Barzi und sein Bruder
unterhalten sich seit einem halben
Jahrhundert nicht mehr, obwohl sie
einander täglich sehen und so weiter.
All das hat Baretić genial mit der fatalen Story von Tonkica und Bonino
garniert, mit morbiden Exekutionen
junger Lämmer, Muona, einer Aborigine-Frau, die wie eine schwarze
Katze am Wegrand auftaucht, und
einem verrückten, aus der Lika stammenden Leuchtturmwärter, der Mathematikprofessor ist, mit Mönchsrobben kommuniziert, Pupačićs maritime Lyrik vorträgt und an den
Zimmerwänden seine unverständlichen Gleichungen niederschreibt.
Ein zusätzliches Aroma erhält der
Roman durch ein bosnisches Tandem, mit dem Beigeschmack von
Schwarzhandel und Pornographie,
sowie einen unerwarteten Liebesexkurs, der durch Boninos ebenso unerwarteten Tod enden wird. Als die
Gefahr drohte, der Roman könnte
ins tote Meer des Pathos absacken,
bediente sich Baretić eines drastischen Schnitts und definierte eine
Geschichte, in der, wie auch in der
Wirklichkeit, das Reale das Fantasti-
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sche ablöst, während die Freude vor
der Trauer oder unermesslicher Verbitterung zurückweicht.
Dass Kroatien, trotz seiner Winzigkeit, ein Land voller Besonderheiten
ist, bezeugt die Tatsache, dass auf einem relativ geringen Raum nicht nur
Flora und Fauna wechseln, sondern
auch die Verhaltensregeln, ja sogar
die (un)geschriebenen Gesetze. Wie
richtig das ist, ist am Geschick von
Barteićs Helden ablesbar, der im eigenen Vaterland einen Dolmetscher benötigte, um Missverständnisse überbrücken zu können, die nicht nur
sprachlicher Natur waren. Baretić hat
einen Roman geschrieben, der sich in
der politischen Tonart eröffnet, ins
Pastorale und Antipastorale übergeht, um am Ende genügend Manövrierraum für verschiedene Schlüsse
und Interpretationen übrig zu lassen. Geistiger Reichtum, lebendige
Dialoge und die sprachliche Bilderrätselhaftigkeit sind besondere Werte von Der achte Beauftragte, in dem
es weder an erschreckenden Ahnungen, noch an Sentimentalisierungen
fehlt, der aber zu keinem Zeitpunkt
in Kitsch übergeht. Baretić ist gewiss
nicht der erste von Kontinent stammende Autor, der eine Insel tiefgreifend Fotografiert hat, er ist aber einer
der seltenen, die ihr eine Rhapsodie
in Prosa geschenkt haben und dabei
gleichzeitig tendenziell und modern,
sensibel und intelligibel waren.
Auch Baretić ist eine Insel im neuen
Archipel der kroatischen Literatur
des dritten Millenniums, mit der
durchaus zu rechnen ist. Hätte sich
eine Vertreterin des sanfteren Geschlechts diesen Roman ausgedacht,
würde dieser sich, glaube ich, längst
an der Spitze der Bestsellerlisten befinden. So wird sein Autor noch lange
Zeit beweisen müssen, dass ihm sein
ausgezeichnetes Erstlingswerk nicht
zufällig passiert ist.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Boris Perić
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RELA
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TIONS
Der große Schamane
und der kleine Staubwischer
Zdravko Zima
S
etzen wir Welt mit Buch gleich
und Buch mit Offenbarung oder
Bekanntmachung, dann befindet sich
das Lesen im Fundament jeder menschlichen Tat. Die Welt, als Liber
Mundi verstanden, ist kein Einfall, der
nur Kabinettsmotten vorbehalten bleiben sollte; denn das Buch ist die Einverlebung des göttlichen Geheimnisses und im Neuen Testament wird es
mit dem Lebensbaum identifiziert.
Noch Luther hatte geglaubt, die Rettung jedes Einzelnen hänge von seiner Fähigkeit ab, das Wort Gottes
zu lesen und zu verstehen, und wie
wichtig das Lesen ist, signalisieren
repressive Regime, die zusehen, dass
ihre Untertanen in seliger Unwissenheit leben. Deshalb hatte Caligula
die Verbrennung von Homers und
Vergils Büchern angeordnet, deshalb
konnten die Plantagenbesitzer in den
USA jeden Sklaven erhängen lassen,
der die Frechheit besaß, Buchstaben
zu lernen, deshalb ließ Hitler Millionen von Büchern verbrennen, die
in Kollision mit jenem waren, was
seine rassistische Doktrin bot. Wie
wichtig das Lesen ist, davon zeugt
die Tatsache, dass die Verwüstung der
Bibliothek von Alexandria, die erst
zu Beginn des dritten Millenniums
restauriert wurde, seinerzeit als Ende
der Welt aufgefasst wurde.
J. L. Borges, einer der größten Erzähler der Neuzeit, meinte, er sei eher
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Leser als Autor. Die Bücherregale
in seinem Schlafzimmer enthielten
Lyrikbände und eine der größten
Sammlungen angelsächsischer und
isländischer Literatur in Lateinamerika. Wörterbücher und Enzyklopädien häufte und durchblätterte er
mit kaum vorstellbarer Leidenschaft,
in einer besonderen Vitrine befanden sich Gedichte Enrique Banchs,
Heinrich Heines, des Heiligen Johannes vom Kreuz und eine Vielzahl
von Kommentaren über Dante. Im
Schlafzimmer seiner Mutter, Frau
Leonora, war die argentinische Literatur untergebracht, die die Familie
mit sich nach Europa nahm, als sie
es kurz vor dem Ersten Weltkrieg bereiste. Es ist interessant, dass in seiner Wohnung in Buenos Aires laut
glaubwürdigen Zeugen keines seiner
eigenen Bücher stand. Borges’ Ideal
war ein Buch, das andere Bücher in
sich subsumieren würde, alles, was jemals aufgeschrieben worden ist und
alles, was in Zukunft geschrieben
werden wird, er las ziellos, labte sich
aus den verschiedensten Krügen, wie
ein unersättlicher Trinker, suchte im
Lesen Genuss und identifizierte die
Wirklichkeit mit dem Buch.
Welche Wichtigkeit er den Büchern
zuschriebt, enthüllt uns die Tatsache,
dass er von seinen literarischen Kollegen nicht als Freund, sondern als Leser sprach. Auch oberflächliche Ken-
ner von Borges’ Werken berufen sich
heute auf seine Behauptung: „Ich, der
ich so viele Menschen war.“ Diese ist
wichtig, weil sie die manieristische
Natur seines Werks suggeriert und
die Zeit verneint, ankündigend, dass
sich der Sinn der menschlichen Existenz stets aufs neue im Labyrinth pedantisch angereihter Bücher verbirgt:
Dort, wo laut Überlieferung der gefährliche Minotaurus lauert! Durch
seine dialektische Auffassung von
Literatur bewies der argentinische
Schamane, dass der Leser derjenige
ist, der den Stromkreis schließt, denn
Literatur ist (ohne Konsumenten)
tatsächlich nur ein toter Buchstabe
auf dem Papier. Wenn es genauso
viele Lesarten wie Leser gibt, könnte
man letztendlich zum Schluss kommen, es gäbe genauso viele Borges’
wie jene, die seine Gedichte, Erzählungen und Essays in die Hand genommen haben. Borges wurde noch
zu Lebzeiten zur Legende erhoben,
den Nobelpreis erhielt er nie, wegen
seines Konservativismus, der mit politischer Rückständigkeit so ganz und
gar nichts zu tun hatte, und die Amerikaner waren die ersten, die begannen, ihn zu bewundern.
1961 kam er an die Universität von
Austin, Texas, in Begleitung seiner
Mutter. Es war sein erster Besuch in
den Vereinigten Staaten. Dort blieb
er sechs Monate lang und besuchte
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TIONS
New Mexico, San Francisco, New
York, New England und Washington. Ein gutes Echo hatte Borges
auch in der kroatischen Literatur.
Es ist einigermaßen paradox, dass
sich die Autoren mit manieristischem
Prädikat und fantastischer Legitimation etabliert hatten, bevor er in unserer Mitte formal konsekriert worden war; das wichtigste Dokument
darüber hinterließ Branimir Donat
in seinem Aufsatz Ein Astrolabium
für die kroatischen Borgesianer.
Der argentinische Erzähler und Übersetzer Alberto Manguel (geboren 1948
in Buenos Aires) hatte das Glück,
Borges aus privilegierter Nähe kennen zu lernen. Obwohl in Argentinien geboren, lebte er in Italien, Frankreich, England und auf Tahiti. Seit
1988 lebt er in Toronto und besitzt
einen kanadischen Reisepass. Es ist
schwer zu sagen, in welchem Maße
sein Schicksal, in dem sich Bildung
und Enthusiasmus vereint haben,
von seiner genetischen Neigung zum
Lesen trassiert wurde, und wie viel
diesem Umstand die Tatsache beigetragen hat, dass sein Vater Diplomat war und das er in frühen Jahren
Borges kennen gelernt hatte.
Manguels Bibliographie enthält die
monumentale Geschichte des Lesens,
Das Wörterbuch imaginärer Orte (geschrieben im Tandem mit Gianni
Guadalupi), sowie die Romane Nachrichten aus einem fremden Land und
Stevenson unter Palmen. Außerdem
schreibt er Theatertexte und gibt
Anthologien heraus. Einen besonderen Teil seiner Bibliographie machen
seine übersetzerischen Arbeiten aus.
Denn dieser Argentinier übersetzt
aus dem Französischen ins Englische,
aus dem Französischen ins Spanische,
aus dem Deutschen ins Englische,
aus dem Italienischen ins Englische,
aus dem Spanischen ins Englische
und aus dem Englischen ins Spanische. Er unterrichtete an verschiedenen Instituten und Universitäten, in
Calgary, Urbin, Venedig, arbeitete als
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Kritiken
Lektor, Literaturkritiker, Redakteur
und Konsulent, und all das zu erwähnen war nötig, um einen Autor vorzustellen, der qualifiziert genug war,
selbst Zeugnis über Borges abzulegen. Zwischen seinem sechszehnten und zwanzigsten Lebensjahr verbrachte Manguel viel Zeit in Gesellschaft des blinden Schriftstellers, las
ihm Bücher vor und lauschte seinen
faszinierenden Kommentaren.
Davon zeugt auch die bereits apostrophierte Geschichte des Lesens, die
vom Geist seines großen Mentors geleitet und in großem Maße inspiriert
wurde. 2004 veröffentlichte er das
Buch With Borges, das prompt auch
in unserer Mitte gedruckt und vom
Zagreber Prometej-Verlag veröffentlicht wurde (Redaktion: Neda Rudež,
Übersetzung: Neda Rudež, Ante A.
Ujević). In diesem Büchlein, für das
der Diminutiv nicht Beleidigung,
sondern Feststellung und Kompliment ist, versetzte sich Manguel in
die Rolle des folgsamen Souffleurs,
jenes, der Erinnerungen an Erinnerungen registriert, sich der Tatsache
voll bewusst, dass sogar Krümel von
Borges’ Tisch mit dem üppigsten
Mahl zu vergleichen sind.
In Eine Geschichte des Lesens erklärte Manguel auf verschiedene Arten
seine Leidenschaft für die Literatur.
Als er sechszehn Jahre alt war, betrat
er das „Pygmalion“, eine der drei
anglo-deutschen Buchhandlungen in
Buenos Aires. Die Eigentümerin, Lily Lebach, eine deutsche Jüdin, die
vor den Nazis aus Europa geflohen
war, beauftragte ihren Zögling mit
dem Entstauben der Bücher. Manguel gibt zu, hier und da mal ein Buch,
das ihn anzog, gestohlen zu haben,
und kommt zum Schluss, Fräulein
Lebach habe darum gewusst und
seine Vorgangsweise toleriert, solange sie der Meinung war, er habe eine gesellschaftlich akzeptable Grenze
nicht überschritten.
Eines Tages betrat Borges höchstpersönlich die Buchhandlung, gefolgt
141
von seiner damals beinahe neunzigjährigen Mutter. Obwohl er blind
war, lehnte er den Blindenstab ab und
strich mit den Fingern über die Rücken der Bücher, als würde er durch
bloße Berührung die Titel erkennen
können. Frau Leonora riet ihrem
Sohn, statt des Englischen doch lieber Latein und Griechisch zu studieren, und als sie das „Pygmalion“
verließen, bot der große Borges dem
kleinen Staubwischer an, ihm in seiner Freizeit als Vorleser zu assistieren.
So begann ein unalltägliches Beisammensein, das vier Jahre lang dauerte,
und viele Jahre später im erwähnten
Büchlein rekapituliert und dokumentiert wurde.
Manguels Zeugnis beginnt mit der
Beschreibung der Wohnung in der
Florida-Straße 994, wo der argentinische Literaturpapst mit seiner
Mutter jahrelang wohnte. Der Autor merkt mit recht an, Borges sei einer der größten Autoren, aber auch
der größten Leser der Welt gewesen.
Besonders intrigant ist diese Tatsache
ist in Anbetracht der Blindheit, die
Homer, Milton und James Thunder
getroffen hatte, von Borges aber gewissermaßen erwartet wurde.
Seine Urgroßvater und seine Großmutter starben blind, sein Vater erblindete gegen Ende seines Lebens
als Folge der Hemiplegie, an der er
litt. Borges war von Büchern und
Reisen fasziniert, aber wegen seines
physischen Handykaps konnte er bereits in seinen vierziger Jahren weder
lesen, noch die Städte sehen, die er
besuchte, und von denen er so inspirierend berichtete. Eine Begegnung
mit ihm ist wie eine Begegnung mit
einem gigantischen Tintenfisch, der
mit seinen Tentakeln alles betastet:
die Vergangenheit und die Zukunft,
Lyrik und Mathematik, Nord und
Süd, Buenos Aires und Genf. Während ich im Atlas, einem der letzten
Bücher, die Zeit seines Lebens gedruckt wurden und das er zusammen
mit Mario Kodam geschrieben hatte,
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schien mir, er würde in der Palette seiner Staatsangehörigkeiten auch einen
kroatischen Pass verstecken, denn als
er über Venedig schrieb, erwähnte er
auch die adriatische Küste und die
dalmatinischen Städte, erwähnte Ost
und West, Zufall und Kausalität, und
das alles mit einer derart apodiktischen Überzeugungskraft, wie sie nur
bevorzugten Einzelnen vergönnt ist.
Vielleicht war er deshalb mit Blindheit geschlagen, vielleicht verlangte
es ihn deshalb nach Schein, nach jenem, was am Blick scheint und dermaßen blendend ist, dass man davor
die Augen schließen muss.
Trotz seiner unerschöpflichen Gelehrsamkeit und Vorstellungskraft,
trotz der Tatsache, dass er verschiedene Jahrhunderte und Traditionen
durchwanderte, wie der Gärtner seinen winzigen Garten durchwandert,
pflegte Borges das Dasein eines Herren, dekoriert und pointiert von niemals erloschener Jugend. Er gab gerne vor, nicht blind zu sein, Manguel schreibt, seine Augen hätten stets
melancholisch gewirkt, selbst, wenn
er lachte, und von gelben Krawatten
war er so gut wie besessen (wahrscheinlich deshalb, weil die gelbe
Farbe Kraft, Jugend und göttliche
Ausdauer symbolisiert). Sein Schlafzimmer war von spartanischem Aussehen: ein Bett aus eisen mit weißer Decke, auf der sein Kater Beppo manchmal zu liegen pflegte, ein
Stuhl, niedrige Vitrinen und Dürers
Gravur „Ritter, Tod und Teufel“, die
er in seinen Sonetten feierte. Malerei
und Musik zogen ihn nicht übertrieben stark an. Er begeisterte sich für
Brahms, dem er Ein deutsches Requiem gewidmet hatte, eine seiner bekanntesten Erzählungen. Gedruckt
in Das Aleph, neben Fiktionen seiner
wohl bedeutendsten Sammlung narrativer Texte, erweckte diese Erzählung seinerzeit viele Zweifel.
Einige Interpreten glaubten, der Autor würde darin den nationalsozialistischen KZ-Kommandanten Otto
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Dossier: Zdravko Zima
Dietrich zur Linde feiern, obwohl
Borges, fernab jeglicher schwarzweißer Simplifikation, einen Nazi
zu porträtieren versuchte, der ohne zu zögern für seine Überzeugungen stirbt. Heute ist klar, dass alle
Beschuldigungen hinsichtlich seines Konservativismus gegenstandslos
waren. Vor allem, wenn man weiß,
dass er selbst ein Opfer Perons gewesen ist, und in Anbetracht seines literarischen Elitismus, der zwar durch
die Überzeugung kontaminiert war,
jeder Mensch würde gewissermaßen
Schicksale repetieren, die sich bereits
zugetragen haben, sollte es niemanden wundern, dass er die Politik zu
armseligsten menschlichen Aktivität
ernannt hatte.
Das blinde Genie besuchend, kam
Manguel mit Büchern von Stevenson,
Chesterton, Kipling, Henry James,
Wilde, Joyce, Lewis Carroll, Swedenborg, Schopenhauer und anderen seiner Lieblinge in Kontakt. In seinen
Kommentaren vermischten sich verblüffende Hellsichtigkeit und uhrmacherische Präzision. Auch Borges’
Gedächtnis darf nicht außer Acht gelassen werden, das geradezu monströse Dimensionen aufwies: denn,
seine Bibliothek war seine Autobiographie, in der er sich auskannte, wie
ein Fisch im Wasser.
Manguel behauptet, er hätte alles im
Gedächtnis behalten und die Bücher, die er selbst geschrieben hatte,
hätte er praktisch nicht gebraucht.
Wegen eines solchen Gedächtnisses war jedes Lesen für ihn ein Wiederholen. Er erinnerte sich an Verse
längst verstorbener Dichter, Romanfragmente, Einfälle, Rätsel, Verse in
englischer, spanischer, deutscher und
anderen Sprachen. Heines Gedichte
konnte er auswendig, in frühester Jugend hatte er Baudelaires Die Blumen
des Bösen auswendig gelernt und so
weiter. Er liebte die deutsche Sprache, war aber von Heidegger entsetzt,
weil dieser in einem „unverständlichen Dialekt“ schrieb.
TIONS
Viel Zeit in seiner Nähe verbringend, entdeckte Manguel, dass Borges zwar sentimental sein kann, aber
auch grausam boshaft. Zu ersterem
veranlassten ihn jemandes großartige
Verse, zu letzterem provozierten ihn
Dilettanten, die ihn mit ihren Texten belästigten. Beinahe jeder große
Autor, der zumindest in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts spanisch
schrieb, zollte Borges Tribut. Aber
man könnte ebenso eine imposante Bibliothek mit jenen Namen zusammenstellen, die Borges verworfen hatte.
Darunter waren Goethe, Rabelais,
Flaubert, Calderon, Stendhal, Maupassant, Boccaccio, Proust, Balzac,
Thomas Mann, García Marquez, Lope de Vega, García Lorca, Pirandello und andere. Tiger faszinierten ihn
von klein auf, eines seiner Bücher
trägt den Titel Das Gold der Tiger,
von seiner Faszination durch Spiegel
und Labyrinthe ganz zu schweigen.
Auf diese weist in seiner Komplementarität das Bild von Slobodana
Matić-Kovač hin, das auf dem Umschlag der kroatischen Ausgabe von
Manguels Erinnerungen abgebildet
ist. Er stand Valéry nahe, der für eine
Literatur ohne Datum, Namen und
Nationalität plädierte, und das ist
einer der Gründe, die seine Bücher,
Gesten und das Universum, das er geschaffen hatte, über die grenzen des
physischen Lebens hinausgedehnt
haben. Sein Ende erwartete er ruhig,
beinahe freudig. In einem Eintrag in
Die Verschworenen erklärte er, in den
Tod solle man eintreten, als ginge
man zu einer Feier. Das letzte Buch,
das ihm im Genfer Krankenhaus von
einer Krankenschwester auf deutsch
vorgelesen wurde, war Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdignen. Es
ist ein Roman, gekennzeichnet von
Mystik und Reisen, wovon sein irdisches Leben in großem Maße getragen wurde.
Da er dasselbe Buch in seiner Kindheit ebenfalls in Genf bereits in den
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TIONS
dass sich sein Buch bereits als Dokument aus erster Hand liest.
Manguel hatte bereits in Eine Geschichte des Lesens behauptet, Borges
sei, obwohl er passiver Zuhörer war,
eigentlich Herr des Textes gewesen.
Manguel war, wie er selbst schreibt,
ein Fahrer, aber die Landschaft und
den Raum, durch den sie fuhren,
bestimmte der Beifahrer! Der große
serbische Erzähler Danilo Kiš erklärte seinerzeit, die gesamte Geschich-
143
te der Literatur bestehe aus jener vor
und jener nach Borges. Diese Erinnerungen sind nur ein kleines, aber
dafür überaus wertvolles Steinchen
in einem Mosaik, das bezeugt, Kišs
Behauptung sei nicht übertrieben
gewesen.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Boris Perić
Foto: © Boris Cvjetanović
Händen gehalten hatte, besteht kein
Zweifel, dass sich der Kreis auf die
bestmöglichste Weise geschlossen hatte. Manguel gibt ehrlich zu, er sei damals, als Sechzehnjähriger, des Privilegs nicht bewusst gewesen, dass sich
ihm allein dadurch bot, dass er in der
Nähe des Lehrers verweilen durfte.
Aber der Autor, der viele Jahre später
seine Erinnerungen an diese Zusammenkünfte evoziert hat, schreibt dermaßen kompetent und folgerichtig,
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Zdravko Zima, Zagreb, Winter 2011
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Foto: © Višnja Arambašić
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Berührungen, Berührungen
Andrea Zlatar
Der Vorrang der Berührung
D
ie Berührung ist irgendwo hinterblieben, hat sich festgesetzt,
wie eine Spur auf der Haut. Mehrere
Spuren: eine Linie, über die die Fingerkuppe streift, die Wärme, die sie
aus sich heraussaugen, übertragen, in
die Haut eindrücken, in den Körper
des anderen.
Eine Berührung, wie eine Bleistiftspur, als ob jemand Sie – wie das Kinder tun oder auch die etwas Erwachseneren – mit einem Stift bekritzelt,
eine Linie mit einem Filzstift, einem
Kuli, vielleicht einer Feder, vielleicht
mit Tinte gezeichnet hat. Nicht mit
einem Graphitbleistift, das tut weh.
Berührung und Spur, nicht wegzuwischen und nicht zu sehen.
Wie die Spur einer Träne im Gesicht.
Du weißt genau, wohin sie geht, wie
sie verläuft, du verfolgst ihren Lauf,
dann wischst du sie weg. Mit der
Zeit verschwinden die Spuren, die
Vertiefung, die ein anderer auf der
Haut hinterlassen hat, verschwindet
sofort. Wenigstens äußerlich, innerlich dauert sie, weil der Körper sich
erinnert. Der Körper ist unser bester
Gedächtnisbehälter, verlässlich gerade darum, weil wir es nicht schaffen,
ihn bewusst zu kontrollieren. Wir
vergessen, der Körper erinnert sich.
Wir verdrängen, der Körper widersetzt sich. Wir fällen Entscheidungen, trotzdem entscheidet der Körper. Er sammelt Eindrücke in sich,
1
ANDREA ZLATAR wurde am 13. April 1961 in Zagreb geboren, wo sie auch
ihre Schulausbildung und ihr Diplom für Vergleichende Literaturwissenschaften an der Philosophischen Fakultät machte. Dort erlangte sie
1988 auch den Magister- und 1992 den Doktortitel. Seit 1986 hat sie an
der Philosopischen Fakultät in Zagreb als ordentliche Professorin einen
Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaften inne, Allgemeine
Geschichte der Weltliteratur.
Parallel zu ihrer wissenschaftlichen Arbeit ist sie auch als Publizistin und
Redakteurin tätig. Sie war Kulturredakteurin in Blatt „Studentski list“ und
an dem Radiosender „Omladinski radio“, sowie Redakteurin der Zeitschriften „Gordogan“, „Vijenac“ und „Zarez“. Von 2001 bis 2005 war sie
Mitglied des Stadtrats der Stadt Zagreb im Kultursektor. Im Verlagshaus
Algoritam ist sie Redakteurin der AZ Bibliothek. Sie ist Mitglied der Kroatischen Schriftstellervereinigun und des kroatischen PEN. Bis heute hat sie
neun Bücher veröffentlicht (5 aus dem Gebiet der Literaturgeschichte und
–theorie, drei Essaysammlungen und einen Gedichtband), sowie mehrere
Dutzend wissenschaftlicher und fachlicher Arbeiten in Kroatien und im
Ausland. Sie hat an einer Großzahl von einheimischen und internationalen
wissenschaftlichen Symposien teilgenommen.
bindet sich an Räume, erinnert sich
mit den Sinnen.
Bis vor Kurzem habe ich gar nicht so
richtig gewusst, dass es eine besondere Theorie über die Berührung gibt,
genauer gesagt, die Theorie des Tastsinns. Das habe ich am Anfang des
Buches Philosophie des Körpers von
Mikhail Epstein1 entdeckt, das ich
schon im Zug von Belgrad nach Zagreb gierig aufgeschlagen habe, nur
wenige Stunden nach dem Kauf. Der
griechischen Wurzel zufolge (vom
Substantiv „haphe“ – berühren, betasten und dem Adjektiv „haptikós“
– was man meist als „zum Berühren
geeignet“ übersetzt, im Lateinischen
ist das „taktil“), weißt uns Epstein
darauf hin, nennt sich diese Theorie, die Lehre vom Tastsinn, Haptik.
Sowohl das Substantiv als auch das
Adjektiv entstanden aus dem Verb
berühren, befühlen, des weiteren ertasten und betasten (haptesthai) und
führen uns in die Überlegung über
den Tastsinn ein. Denjenigen, der
aus einem rationalen Winkel gesehen, am primitivsten ist. Den Sinnen
des Auges und des Ohres gehört die
Vorrangstellung: Sie befinden sich im
Mikhail Epstein: Philosophie des Körpers, Geopoetika, Belgrad 2009, S. 30 weiterführend.
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146
Andrea Zlatar: Berührungen, Berührungen
Kopf, für den Menschen sind sie mit
der Welt der Ideen und der Begriffe
verknüpft. Wir hören, denken und
sprechen Worte, das, was wir sehen,
verwandeln wir sofort in ein zum
Begriff gewordenen und begreifbaren Bild. Diese zwei Sinne und diese zwei „Sinnesmittel“, Sehen und
Hören, sind Zeugen der Realität,
vermittelbar, dienen im Raum der
Argumentation und Beweisführung.
Wir erachten sie als zuverlässige Zeugen, sogar wenn wir wissen, dass die
menschlichen Sinne bei jenem Einzelnen nicht auf die gleiche Frequenz
„geeicht“ sind. In moderner Zeit gibt
es für solche Fälle Messinstrumente
und Hilfsmittel, die unsere Seh- und
Hörsinne schärfen, uns auf Standard
und Norm bringen. Löschen unsere
minus Kurzsichtigkeiten und unsere
plus Weitsichtigkeiten, dazu dienen
Gläser, Linsen und Brillen. Bringen
uns in die intakte Welt des Hörsinns
zurück, mit Hörgeräten, künstlichen
Hörschnecken. Schwingungen und
Frequenzen sind der Garant, dass
wir rationelle Wesen sind, die die
Welt wahrheitsgemäß erkennen. Dadurch übertragen sie uns die Information, dadurch ermöglichen sie uns
die Kommunikation.
Aber was ist mit der Haut, was ist
mit dem Tastsinn, der sich über die
ganze Oberfläche unseres Körpers erstreckt und tief in unserem Körper, in
den inneren, so empfindlichen, mit
Schleim überzogenen Räumen, in
der Schleimhaut? Verfügt die Haut
über Erkenntnis? Aristoteles würde
sich fragen: „Ist der Tastsinn innen
oder nicht, sondern ist das gerade
das Fleisch?“2 Was für Informationen
überträgt die Berührung? Wie kommunizieren wir mit unserem ganzen
Körper, unserer Haut? Was passiert,
wenn wir uns selbst berühren, wenn
Sie sich mit dem Ellbogen auf ihr
Knie stützen, was oder wer genau
2
3
fühlt in uns, können wir die Berührung, die die Handfläche sendet,
und die Berührung, die die Handfläche empfängt, voneinander trennen? Und, am Ende dieser Reihe
von Fragen, warum kann eine kurze,
flüchtige und gänzlich oberflächliche
Berührung, wie ein zufälliger Kuss,
mehr bedeuten als tausende und tausende klar ausgesprochener und klar
gehörter Worte? Und warum kann
das, was wir nicht sehen, mehr bedeuten als das, was wir sehen?
Die Lehre vom Tastsinn
Wie bei jeder Theorie stand am Anfang Aristoteles. In seinem Buch Über
die Seele erwähnt Aristoteles, dass der
Mensch „bei anderen Sinnen hinter
vielen Tieren zurückbleibt“, aber dass
er sie, was die Berührung angeht, in
vielerlei Hinsicht gerade im Grad der
Empfindlichkeit dieses Sinnes überragt3. Und aus dieser Beobachtung
heraus schließt – für uns heute ungewöhnlich, wenn nicht sogar widersprüchlich – Aristoteles, dass gerade
deswegen der Mensch das vernünftigste Lebewesen ist. Die Haptik, oder
später – die Haptologie, befasst sich
RELA
TIONS
mit der Berührung und dem Berühren, der Haut als „Wahrnehmungsorgan“, taktilen Formen des menschlichen Wirkens und seines Selbstausdruckes. Nach Mikhail Epstein, dem
zeitgenössischen russischen Philosophen, der als Grundlage seiner Philosophie des Körpers gerade die Haptik
nimmt, setzt sie in ihrer Grundlage
eine Interaktion des Menschen mit
der Umwelt voraus, das menschliche Wirken, das durch die Haut als
Tastorgan vermittelt wird. In zweieinhalbtausend Jahren, von Aristoteles
bis heute, bewegte sich die menschliche Zivilisation in eine Richtung,
die den Menschen von der Berührung als primären und allumfassenden Kontakt mit der Welt trennte.
Die Übertragung von Informationen
mittels Berührung wurde während
der menschlichen Entwicklung immer
weniger wichtig – sowohl im Sinne
von Ontogenese als auch im Sinne
von Phylogenese. Kleine Babys sterben ohne Berührung, die Zivilisation lehrt uns nicht nur, ohne sie zu
überleben, sondern zwingt uns zu
Unterdrückung und Verzicht. Repressive Gesellschaftsnormen weisen
uns darauf hin, dass Berührungen in
alltäglichen Situationen „unpassend
und unangemessen“ sind. Unangebrachtes Benehmen, in letzter Linie
unmoralisch. Stellen Sie sich vor, Sie
hätten am Bankschalter den Wunsch,
den Bankangestellten oder die -angestellte zu berühren?
Sie müssten versuchen, Ihre Hand
durch den winzigen Schlitz, der die
Glas- oder Kunststofftrennwand von
der horizontalen Fläche teilt, zu zwängen. Selbstverständlich, wenn Sie einen „persönlichen Banker“ haben,
werden Sie ihm am Anfang und am
Ende des Treffens die Hand schütteln. Aber Sie werden nicht versuchen, ihn – sogar wenn Sie ihn auch
privat kennen – im Kontext eines
Aristoteles: Über die Seele, Naprijed, Zagreb 1987.
Vgl. Epstein, S. 46; ebenso: Aristoteles: Über die Seele, Naprijed, Zagreb 1987.
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geschäftlichen Termins zu küssen.
Ein großer Kredit ist Ihnen genehmigt worden? Sie können vor Freude
Luftsprünge machen wollen, aber die
Kodierung des Dankbarkeitszeichens
verlangt die Grimasse eines breiten
Lächelns, ein dankbares Kopfnicken
und ein eventuelles Höflichkeitsgeschenk. Blumen und eine Pralinenschachtel, immer vor einer Umarmung und einem Kuss. Am Busbahnhof gibt es keinen Zentimeter
Freiraum zwischen Abtrennung und
Pult: Der Schalter ist so gebaut, dass
es einen Klangverstärker gibt, mit
dessen Hilfe Sie an der anderen Seite gehört werden, und in den Pult ist
ein zweigeteiltes Tablett eingelassen.
In einen Teil legen Sie das Geld oder
die Kreditkarte, im zweiten erhalten
Sie die erstandene Fahrkarte und die
Quittung.
Ja, ich weiß, Gründe der gesundheitlichen und diversen anderen Sicherheiten entscheiden über solche
entwürfliche Entscheidungen in den
Gebäuden öffentlicher Ämter. Nicht
küssen, nicht berühren, Masken tragen und Hände waschen, das haben
wir den ganzen Herbst lang gehört,
belagert von der aggressiven pharmazeutisch-medizinischen Kampagne gegen die Schweinegrippe. Mit
Grippe oder ohne, Westeuropa ist die
Gesellschaft mit dem niedrigsten Berührungsindex zwischen den Menschen. Einige nationale Kulturen,
wie etwa die französische, schreiben
dennoch eine immense Menge gesellschaftlicher Küsse am Tag vor. Eine
Untersuchung in den achtziger Jahren, auf die sich auch Epstein beruft,
hat erwiesen, dass sich in einem Pariser Café die Menschen durchschnittlich – im Laufe einer Stunde – über
hundert Mal berühren, während Sie
gleichzeitig in einem britischen Pub
stundenlag ohne die kleinste Berührung schmachten können.
4
Essay
Die Entwicklung der Haptik oder
der Lehre vom Tastsinn bewegte sich
jedoch in den letzten Jahrzehnten
in eine andere Richtung. In jenem
Bereich, in dem es keine wirklichen
Empfindungen und Sinne gibt, im
Bereich der künstlichen Intelligenz
und virtuellen Wirklichkeit, wurde
der Tastsinn zum Schlüssel für zeitgenössische Forschungen. Was sagen
uns eigentlich über die Entwicklung
der Technologie und die Transformation unserer Sinne Erfindungen wie
der Bildschirm, den man berührt und
der die klassische Tastatur ersetzt,
der neue iPad, der unlängst auf dem
Markt erschienen ist und der gerade
deshalb in den höchsten Tönen gelobt wird, weil er die Kommunikation und die Information mithilfe
der „Berührung“ erledigt? Wir verbinden das, was ultimativ natürlich
ist, den primären Sinn, aus dem sich
alle anderen entwickelt haben, mit
den besten Errungenschaften neuer
Technologien der Informatik. Wir
berühren den Bildschirm. Fühlen
wir? Wir senden und empfangen Informationen, wir kommunizieren.
Ob wir fühlen, ich wiederhole meine Frage. Ich bin nicht sicher, aber
wir fühlen etwas auch in dieser Art
der Berührung. Der Tastsinn ist die
komplizierteste Aufgabe in der Erschaffung der vollständigen Illusion
virtueller Empfindungen. Vielleicht
ist das gar nicht so schwierig, wenn
es sich um relativ messbare Empfindungen handelt: warm/kalt, hart/
weich, grob/glatt...
Wieder Aristoteles, an gleicher Stelle, Über die Seele, 422b: „Es scheint,
als ob jeder Sinn, nur der Sinn eines
Paares von Gegensätzen ist, wie z. B.
das Sehen von Weiß und Schwarz,
das Hören von Hoch und Tief, das
Schmecken von Bitter und Süß. Doch
im Tastbaren gibt es viele Gegensätze:
warm und kalt, trocken und feucht,
147
hart und weich und so weiter. [...]
es ist unklar, was die gemeinsame
Grundlage beim Tastsinn ist, wie es
beim Gehör der Klang ist.“
Wenn es um die Berührung als Empfindung von sei es Behagen oder
Unbehagen geht, ist nichts einfach.
Insbesondere bei der Berührung des
Behagens, die Sicherheit schafft oder
der Berührung als Ort, an dem es
zum Genuss, dem erotischen Genuss,
kommt, da versagen alle Messinstrumente. Ich weiß eigentlich weder warum oder seit wann, aber ich schließe
schon ziemlich lange jede meiner privaten Mails kurz mit: Umarmung, a.
(Umarmung Komma a Punkt). Vielleicht gerade, weil in der Virtualität
der elektronischen Kommunikation
eigentlich jegliche Empfindung ausbleibt, vielleicht ersetze ich sie alle
deshalb mit dem ursprünglichen: der
Berührung. Der Berührung, die ausblieb, oder aber auch nicht.
Die Berührung, die wir nicht
wollen, Berührungsterror
In Wortspielen sind, wenn es sich um
die Berührung handelt, zwei semantische Felder ausgesprochen interessant. Das erste bezieht sich auf die
Beziehung der Bedeutung der Adjektive „taktil“ und „taktisch4“ (Epstein
34). Trotz der gleichen Wurzel, aus
dem lateinischen Verb tango, tangere
– berühren, ertasten, bezieht sich
„taktil“ auf Berührung und Kontakt,
auf die direkte Kommunikation, die
den Tastsinn voraussetzt.
„Taktisch“ andererseits bezieht sich
auf Distanz, die Trennung der Subjekte – von denen einer darauf achtet, den anderen nicht zu verletzen,
am häufigsten im Raum der sozialen
Kontakte, aus denen die Kommunikation mittels Berührung schon ausgelöscht wurde. „Taktisches“ Benehmen können wir mit dem Beispiel
Aus dem angeführten Beispiel lässt sich ersehen, dass es sich in der deutschen Sprache um den Ausdruck taktvoll handeln soll, was jedoch dem
gewünschen „Wortspiel“ der Autorin nicht entsprechen würde (Anm. d. Übersetzerin).
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148
Andrea Zlatar: Berührungen, Berührungen
einer Situation belegen, in der Sie
einen Arbeitskollegen treffen, von
dem Sie wissen, dass er letzte Woche
geschieden wurde, das aber nicht
erwähnen, weil Sie nicht in „seine
Privatsphäre“ eindringen möchten.
Ob es besser wäre, ihn zu umarmen,
begleitet von einer angemessenen
Schimpftirade über den Sinn des Lebens, ist eine andere Frage. Taktvoll
wäre es keineswegs.
Weitere Bedeutungsumkreise – aber
auch Nicht-Übereinstimmungen –
ergeben sich aus der griechischen
Wurzel im Verb „hapto“, das auch
greifen bedeuten kann, aber nicht
im Sinne einer Berührung, die wir
als angenehm empfinden, sondern
im Sinne von ergreifen, beziehungsweise festnehmen. Im Ausdruck „In
Haft nehmen“ hallen gerade diese semantischen Beiklänge wider.
Von allen Formen der Gewalt hat
die physische Gewalt am Körper eine Vorrangstellung. Jemandem das
Recht, über seinen eigenen Körper zu
bestimmen, zu nehmen (einkerkern,
festnehmen, einschließen), physisch
den Körper eines anderen zu malträtieren (Tortur und Folter, medizinische Experimente, sexuelle Gewalt),
jemandem das Leben nehmen – seinem Körper das Leben nehmen, all
das sind Ausführungen ein und desselben Musters, der ungewollten Berührung eines anderen Körpers. Eine
ungewollte Berührung kann auch in
einer überfüllten Straßenbahn stattfinden, manchmal ist das so schwer
zu ertragen, dass Sie an der nächsten Haltestelle aussteigen müssen.
Bestrafung in der Familie und in
Bildungsanstalten, sexuelle Belästigung sind Anfangsstufen dieses Weges. Aber der Körper behält alles in
Erinnerung, reagiert auf alles, obwohl er in vielen Situationen keine
Möglichkeit eines wirklichen physischen Widerstands hat.
5
Ethik und Erotik der Berührung
Ich fürchte mich, sage ich, und drücke deine Hand. Ich habe Angst, sagst
du, und erwiderst meinen Händedruck. Ich will dich, sage ich, und
nähere mich. Du küsst mich. Ich erwidere den Kuss – nein, ich kann es
nicht sagen. Ich kann nicht sagen,
wer wer ist im Kuss, ebenso, wie ich
nicht mehr weiß, wer wen bei der
Hand hält, ich dich oder du mich.
Wir sehen uns nicht an, wir sprechen nicht, ich glaube nicht, das wir
irgendetwas hören. Wir fühlen alles: Vollständigkeit, Verschmelzung,
Umschmelzung; die Haut zweier, die
miteinander verschmolzen sind.
Ich kann meine Augen schließen,
ich kann meine Ohren stopfen, ich
kann mir mit den Fingern die Nase
zuhalten und durch den Mund atmen und so auch den Geruchsinn
unterdrücken, aber ich kann nicht,
auf keine Art kann ich, würde Epstein sagen, mir die Haut vom eigenen Leibe reißen. Mein Fleisch, meine Haut, mein Körper und ich, wir
sind ein und dasselbe. Eine Stimme
erklingt außerhalb von mir. Manchmal ist die Stimme nicht „Ich“. Die
Berührung ist immer „Ich“. Wenn
wir sprechen, unterscheide ich meine und deine Stimme, ich kann nicht
deine Stimme sein. Wenn wir uns
hören, hören wir die Unterschiede
zwischen uns, wir hören einander.
In allen Beziehungen der Erkenntnis
und der Kommunikation benehmen
wir uns wie zwei getrennte Subjekte, so oft (sowohl ungewollt als auch
unbewusst) auch in hierarchiesierten Beziehungen von Subjekt und
Objekt.
Und ich weiß, dass ich nicht mit einer
anderen Stimme sprechen kann und
ich kann nicht mit anderen Augen sehen, als mit meinen eigenen, aber in
der Berührung der Haut kann ich uns
nicht trennen. Entferne ich oder nä-
RELA
TIONS
here ich mich dann mir selbst? Gerade die Berührung, als ständige Wechselseitigkeit, als ständige Umkehr der
Wahrnehmung und der Wirkung,
schafft eine Möglichkeit der Nähe.
Oder habe ich Levinas falsch verstanden?5 In Freundschafts- und Liebesbeziehungen, dort, wo das Taktile angebracht ist, dort, wo wir nicht
müssen, oder noch klarer gesagt, wo
wir nicht taktvoll sein dürfen. Dort,
wo wir umarmen möchten. Dort, wo
wir umarmen. Umarmung, a.
Ablehnung
Ablehnung, Ablehnung sollte das
erste Wort dieses Textes sein. Warum
zuerst Ablehnung? Weil sie das erste
ist im französischen Wörterbuch des
Körpers: abjet, abjection? Weil ich sie
am meisten spüre? Weil sie notwendig ist, damit ich eine Distanz herstelle – eine Relation von Abscheu und
Widerwillen – als Möglichkeit, um
über den Körper zu schreiben? Weil
sie der erste Reflexmechanismus der
Sinne im Kontakt mit dem anderen
ist – eine Art der Verteidigung, wörtlich der Selbstverteidigung, der Abkapselung. Das „Ich“ lehnt eigentlich
jeden anderen und jedes andere ab.
Jeder andere Körper, der nicht mein
Körper ist, ist ein fremder Körper. Die
Welt ist abstoßend. Das Ablehnen
des anderen entsteht aufgrund von
Sinn/Empfinden der Ablehnung gegenüber diesem Anderen: Er gefällt
mir nicht, ich mag ihn nicht, ich will
(ihn) nicht sehen, ich will nicht, dass
er in der Nähe meines Körpers ist.
Ablehnung, die zu Ekel wird – der
Moment, wenn sich die Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen
verwischt, wenn ich alles, aber auch
alles, verabscheue, wenn mir alles widerwärtig ist, ich mich vor allem ekle.
Wenn ich nicht in die Straßenbahn
einsteigen kann, wenn ich meinen
Blick nicht heben möchte, um nicht
Epstein, 45: „Levinas spricht vom Berühren-Liebkosen, im Gegensatz zum Berühren-Ertasten. Der Unterschied ist bedingt. Gerade die Berührung als Umkehr der Wahrnehmung und Wirkung schafft die Möglichkeit zum Liebkosen.“
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TIONS
einem fremden Blick zu begegnen.
Die höchste Form der Ablehnung
und des Abscheus: das Verabscheuen
seiner selbst, der Punkt, in dem das
Subjekt entdeckt, dass alle Objekte
nur auf dem einleitenden Verlust ruhen, der sein eigenes Wesen auseinander
nimmt (Kristeva 1989, 11). Darüber
schreibt die allmächtige Kristeva in
der Studie Pouvoir de l’horreur: essais
sur l’abjection. Deutsche Übersetzung:
Die Macht des Grauens.
„Das innere Grauen“ von dem Kristeva spricht, beginnt, wenn die Grenze verletzt wird, die unseren Körper
vor der Außenwelt schützt, wenn
die Grenze innen/außen aufgehoben
wird: „Als ob die Haut, diese zerbrechliche Hülle, nicht mehr die Integrität des ‚Eigenen‘ garantiert, sondern, abgezogen oder durchsichtig,
unsichtbar oder gespannt dem Ausscheiden der Inhalte aus dem Körper
nachgibt“ (daselbst, 65). Das, was
der Körper ausscheidet, ist gleichzeitig das, was man verabscheut: Urin,
Blut, Samen, Kot. Es handelt sich um
einen kulturellen Abscheu, der sich
in der einzelnen Erfahrung widerspiegelt, auf die Art, dass der Einzelne ihn vor allem als persönliches
Erlebnis empfindet, und die Tatsache des kulturellen Erlernens der
hygienischen sozialen Matrize lässt
sich nur in der Distanz erkennen,
im Kennenlernen des unterschiedlichen und anderen Verhältnisses.6
In einer Reihe von Studien, die die
amerikanische Anthropologin Mary Douglas dem semantischen Feld
von Reinem und Schmutzigen in verschiedenen Gesellschaften gewidmet
hat, ist das Bewusstsein betont, dass
Schmutz oder Verunreinigung als
Problem auftauchen, d. h. dass die
Gesellschaft sie als Gefahr sieht, in
jenen Kulturen, in denen die „kosmische oder gesellschaftliche Struktur klar definiert“ ist. Dort, wo es
6
Essay
eine Grenze zwischen Innen und
Außen gibt, zwischen Reinem und
Schmutzigen, dort gibt es eine klare Bipolarität von Gut und Böse,
des sozial Nützlichen und des sozial
Unannehmbaren. Warum, fragt sich
Kristeva, stellt gerade der körperliche
Abfall, und insbesondere die Monatsblutung und der Kot, eine ausgesprochene Gefahr für die symbolische Gesellschaftsordnung dar? Weder Tränen noch Samen, betont sie,
stellen eine Gefahr dar, obwohl sie die
Grenzen des Körpers übertreten, aber
nicht die Kraft der Schändung haben
(84). In der Analyse, die die patriarchalische Ordnung als wirkliche und
symbolische Machtordnung identifiziert, gesteht die männliche Macht,
„dass sie von der asymmetrischen,
irrationalen, schlauen Kraft, die sie
nicht kontrollieren kann, gefährdet
ist“ (daselbst). Die Kraft der Gefahr,
die die Monatsblutung darstellt, entspringt daraus, dass sie eine Gefahr
ist, die von innen kommt, aus dem
Inneren der gesellschaftlichen oder
geschlechtlichen Identität (85), womit die Grundlage der gesellschaftlichen Beziehung zwischen den Geschlechtern gefährdet ist. Die Gefahr
der Krankheit und Ansteckung, die
mit Kot verbunden werden, werden
auf die Monatsblutung übertragen
und damit, in der westlichen Kultur
vom biblischen Code, wird die archaische Angst vor der weiblichen Macht
des Gebärens bestätigt.
Anziehungskraft
Eine Berührung, die du noch nicht
kennst. Die du erwartest und nicht
weißt, dass sie dich erwartet. Wenn
sie dich plötzlich berührt, wenn sie
sich an deine Schulter lehnt, gleitet diese Berührung (ehemals einer
fremden, nun schon ein wenig deiner
Hand) leicht mit den Fingern über
deinen Nacken, dort wo das Haar
149
immer allmählich einen lockigen
Abschluss in Form des Buchstabens
„V“ bildet, weiche Locken, wenn das
Haar hoch gesteckt ist, an diesem
empfindlichen Teil des Halses, den
man nicht sieht, wenn das Haar länger ist, und der zum Berühren treibt.
Mit dem du, ohne dass du es weißt,
den anderen einlädst.
Also zuckst du. Wirst rot. Ich hätte
dich nicht berührt, wenn ich gewusst
hätte, dass du so reagierst, sagt er. Und
das Unbehagen vergeht nicht. Und
der Genuss beginnt. Ich war in einen
Schal eingehüllt und wollte mich verstecken. Gleichzeitig wollte ich enthüllt werden, hervorgezogen aus der
aus eigener Unsicherheit geflochtenen Puppe. In dieser Decke der Ängste, ständig von der Furcht durchzogen, dass wir, wenn wir diesen
Schutzmantel ablegen, verwundet
werden. Der Körper wird verwundet.
Das Innere wird zum Äußeren.
Sehnsucht, Begierde, Verlangen, Genuss, Leidenschaft, Bedürfnis. Es gibt
keine regelmäßige Ordnung, es kann
auch mit Ablehnung beginnen. Begierde ist schwer zu stillen, Genuss
ist kurzlebig, hat die Sehnsucht überhaupt ihr reales Objekt? Das Verlangen hat es sicherlich: Jedes Mal, wenn
wir nach etwas verlangen, versuchen
wir auch, es zu erreichen. Automatische Alltagshandlungen, ich lange
nach einem Glas Wasser, nach einem
Keks aus der Dose, die neben mir
steht, ich ziehe mir eine Jacke über,
wenn mir kalt ist. Eine Reihe von intentionellen Handlungen, wenn wir
wissen, was das Ziel ist: ergreifen, erlangen, erreichen. Ich rufe dich mit
dem Handy an, wenn ich deine Stimme hören möchte, ständig die gleiche
Frage: Wo bist du? Räumliche Gegenwart, Nähe, Verbundenheit. Das
Wissen, dass dein Körper irgendwo da
ist. Aber ich kann nicht viel mehr als
das: ich kann dich nicht haben, sogar
Über das Verständnis von Schmutzigem und Reinen, vgl. Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Algoritam, Zagreb 2004.
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Andrea Zlatar: Berührungen, Berührungen
wenn ich dich haben möchte. Hier
eröffnet sich der Raum des Spiels, der
Unsicherheit und der Übergänge, der
unklaren Grenzen, aber des klar verlangten Objekts: Du.
Wenn sich das Genießen in jener Form
verwirklichen würde, in der es das
Verlangen will, schreibt Epstein in
dem Kapitel über den Eros, könnte
unsere Zivilisation explodieren und
meint, ganz wie Bataille: aber es geht
darum, dass das Verlangen im Genießen stirbt (175). Und erneuert sich
in diesem Tod, füge ich hinzu: Die
Erneuerbarkeit des Verlangens, seine
Unersättlichkeit, ja sogar auch seine
langweilige Wiederholbarkeit, markieren den Weg vom Verlangen zum
Genuss und zurück zum Verlangen.
Erotismus ist, solch einem Weg der
Analyse folgend, jener Aspekt der
Sexualität, der nicht an die Funktion der Reproduktion gebunden ist
und entzieht sich damit der sozialen
Ordnung. Deshalb stellt die Erotik in
reinem Sinne einen Exzess dar, denn
sie stellt nichts anderes dar und erfüllt
keine andere Funktion.
Sexueller Genuss, erotischer Genuss
überwindet Hindernisse, die die Isoliertheit des Körpers von der Welt
in den Weg stellt. In der Begegnung
zweier Körper, in ihrer Verflechtung
erlischt die Grenze zwischen Körper
und Welt, zwischen zwei Körpern.
Die Grenze ist nicht mehr wichtig.
Aber dafür beginnt hier als Schlüsselorgan unsere Haut zu funktionieren, genauer gesagt, im erotischen
Wortschatz – unser Fleisch – genannt. Fleisch, Fleischlichkeit. Mehr
als Haut. Epstein fährt fort: „Sich
verflechten bedeutet: sich gegenseitig umschlingen, einander umfassen, beziehungsweise gleichzeitig innen und außen sein“ (Epstein, 186).
Darin liegt die Quelle des unendlich
vervielfältigbaren Genießens. Umarmen und in sich das aufnehmen,
worin du dich selbst befindest – gera7
de dieser Formulierung bedient sich
Epstein als Finale seiner Analyse der
erotischen Berührung.
Es ist schwer, die ausgesprochen maskuline Perspektive, aus der Epstein
das Kapitel über Erotik in seiner Philosophie des Körpers schriebt, nicht zu
bemerken, eine Perspektive, die auf
dem Paradigma des klassischen heterosexuellen Akts beruht. Eine Frage,
die nicht nur linguistischer Natur
ist und die so häufig in sprachlichen
Konstruktionen gestellt wird: wer besitzt wen im Liebesakt. Für gewöhnlich heißt es, dass die Männer die
Frauen besitzen – „er hat sie gehabt“
– obwohl im wörtlichen physischen
Sinne, bemerkt Andrea Dworkin in
der Studie Intercourse, die Frau im
Geschlechtsakt den Mann besitzt.7
Trotzdem habe ich dich. Oder ist es
egal, wer wen hat, Gleichgewicht in
der Beziehung „ich bin in dir und du
bist in mir“. Die Liebe als greifbares
Absolut bestimmend weist uns Epstein wieder auf die Berührung hin:
wir haben einander. Wenn ich mit
meinem ganzen Körper nicht nur
die Berührung des anderen spüre,
sondern durch diese Berührung auch
mich selbst spüre. Die Etymologie
des Verbs sich verflechten, verbunden mit der Symbolik des Ringaustausches als gegenseitiges Beschenken
von Verlobten-Liebenden, schafft ein
Bild der erotischen Beziehung als ununterbrochene Reihe von gegenseitigem
Ringaustausch. Obwohl ihm auch ein
paar patriarchalischere Metaphern
ausrutschen (Liebesumklammerung),
sind die anderen verführerisch, wie
die „Wellentheorie“ des Genießens,
ebenso wie die semantische Analyse
der Präposition „in“ und ihre gewisse
Ontologisierung.
Frau Haus
„Femme-maison“, Frau Haus, ist ein
Syntagma, das an den bildhauerischen
Opus der französischen Künstlerin Lou-
RELA
TIONS
ise Bourgeois gebunden ist. Ich stehe in
der FNAC Buchhandlung, Rue de Rennes, eine ganze Tischhälfte mit Büchern
und Monografien ist Louise Bourgeios
gewidmet. Die „Frau Haus“, die ich
zuerst sehe, ist ein Bild, auf dem Bild
ist ein weiblicher Torso, sinnlich, mit
klar geformten Brüsten und Vagina.
An Stelle des Kopfes steht ein – Haus.
Ein dreistöckiges, insgesamt zehn Fenster, symmetrisch aufgereiht mit Tür in
der Mitte. Ein gewöhnliches Haus, aus
irgendeiner Straße irgendeiner Stadt.
Imaginär also. Das Bild entstand im
Nachkriegszyklus, als der Autorin, wie
sie selbst sagt, die Bedingungen – im
physischen Sinne – fehlten, Skulpturen zu schaffen, also entstanden Bilder. „Ich hatte drei Kinder“, sagt Louise über diesen Zeitraum, „also habe
ich Skizzen und Pläne für Skulpturen
gemacht.“ So entstand die Serie „Frau
Haus“, ich kann nicht widerstehen, ich
kaufe ein Buch mit Essays und eine kleine Bildmonografie. Ich sehe es ja selbst,
das Bild ist flächig, ich weiß, dass es
zum Sehen mehr Raum verlangt, aber
mit der Skulptur, mit dem Körper ist
es anders: er verlangt Raum nach Vorne. Der Körper nimmt Raum ein, und
wie, sogar wenn es nur in den Raum
ragt, wie einige andere Skulpturen der
Louise Bourgeois.
Louise Bourgeois verließ Frankreich
früh, wanderte nach Amerika aus.
Trotzdem treffe ich in Paris auf Bücher über sie, vielleicht weil ich nicht in
Amerika gewesen bin, vielleicht weil gerade diese Buchhandlung, dieser Raum
und diese Zeit, Frühjahr 2008 danach
verlangen, sie zu treffen. Ich bin für
ein paar Tage nach Frankreich gefahren, geschäftlich. Intim bin ich ganz
von zu Hause gegangen, ich wollte so
richtig mal fortgehen, fort, alleine sein.
Und dann treffe ich eine Skulptur aus
weißem Marmor, eine liegende Frau,
rundlich wie bei Rodin, sie liegt auf
dem Rücken und hat statt eines Kopfes ein Haus. Ja, auch ich habe mein
Dworkin, nach Epstein, S. 186.
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RELA
TIONS
Haus mit auf den Weg genommen, all
seine Bewohner, es sind nicht viele, aber
trotzdem, ein Sohn und ein Mann.
Ich rufe abends an und frage, wie der
Tag so war, ich rufe morgens an und
frage, was sie machen und was sie essen werden, ich rufe gegen zwei, drei
an, um zu fragen, ob alles in Ordnung
sei. Einmal, als ich am Morgen angerufen habe und ohne eine gute Ausrede
zu haben (außer der eigenen Einsamkeit), fragte ich „wie geht’s, ist alles in
Ordnung“, hat D. einfach gesagt, offensichtlich war ich anstrengend bis
zum Umfallen, dass alles in Ordnung
sei, denn was soll schon um zehn Uhr
morgens passieren. Wahrscheinlich habe ich ihn auch geweckt. So reist mein
Haus mit, auch wenn ich ihm explizit
entsage, wenn ich von ihm davonlaufen möchte.
***
Eines Abends, als meine Lieben alle
mitsamt eingeschlafen waren, bin ich
in den Keller unseres Hauses hinuntergegangen, dort ist auch eine kleine
Garage, die wir schon mit Büchern,
Papieren und Kleidung, die wir wahrscheinlich nie wieder benutzen werden,
vollgestopft haben. Es war schon spät,
gegen Mitternacht, und ich grauenvoll
nervös, so nervös, dass man hinausgehen und einen Spaziergang machen
muss, einfach sich selbst einatmen. Es
hat geregnet, es war spät, ich war müde,
ich konnte nicht spazieren gehen. Mein
Viertel sieht schon bei Tag nicht besonders aus, aber des Nachts ist es vollkommen unattraktiv. Schlecht beleuchtet, unordentliche Hecken, schmutziger
spätwinterlicher Asphalt. Ich ging in
den Keller hinunter, obwohl es Februar war, war es nicht allzu kalt, ich
habe zwei Bücher, einige CDs und einen CD-Player mitgenommen. Sentimentale Musik aus den Siebzigern, eine
einfache Art, sich zu isolieren und einen
gewissen inneren Frieden zu erreichen.
Man könnte nicht gerade sagen, dass
ich „von zu Hause weggegangen“ bin,
denn ich habe nicht einmal jemandem
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Essay
Bescheid gegeben, ich habe mein Handy
mitgenommen, für den Fall, dass meine Lieben aufwachen und feststellen,
dass ich nicht im Wohnzimmer in den
Fernseher glotze. Es ist wahr, dass ich
mich an jenem Abend über etwas geärgert habe, den ganzen Tag lang stauten
sich Nervosität und Wut und Unzufriedenheit und Unruhe. Ich bin nicht
von zu Hause weggegangen, ich habe
mich nur in einen Raum zurückgezogen, in dem ich ganz alleine sein und
ruhig atmen konnte. Leise habe ich die
Tür zugemacht und schon im Treppenhaus habe ich mich beruhigt, machte
einen Schritt in eine kleine, vorläufige
autonome Zone. Die müssen sein, wenn
wir sie brauchen. Manchmal können
sie nicht nur im Kopf sein, wir brauchen sie physisch.
Unten, in der Garage, setzte ich mich
auf eine Schachtel mit Büchern und der
große Koffer mir abgelegter Kleidung
konnte als vorläufiger Sessel dienen. Ich
habe auch ein altes Sakko hervorgezogen, ein braunes, ich erinnerte mich
daran, wie ich es früher getragen habe, damit es mir, statt einer Decke, die
Knie wärme. Und in diesem Moment
begriff ich, was unsere Garage ist – unser Haus im Kleinen. Tatsache ist, dass
sie nicht eingerichtet ist, sowohl Boden
als auch Wände sind aus Beton, aber es
gibt Licht, so eine Außenbeleuchtung,
sogar einen Stromanschluss, wenn ich
einen gebraucht hätte. Jetzt, da ich dies
schreibe, unter den Bedingungen einer
durchschnittlichen Wohnung in einem
ungepflegten Neubau (das wäre die
kürzeste Beschreibung unserer Wohnumstände), suche ich dieselbe CD,
Françoise Hardy, Tous les garçons et les
filles de mon âge... Ein hässliches Cover
in trüben Rottönen. Ich saß in der Garage, es war so gegen ein Uhr morgens,
vollkommene Ruhe. Ich las einen Roman, nichts Poetisches, nichts Pathetisches und dachte darüber nach, wie ein
Raum zum Raum wird, in dem eine
Person lebt. Wie sehr wir uns an diesen
Raum festkleben. Ein Heim, das eins ist
und wiederum nicht. Zufluchtsort und
151
Falle in einem. Ich begann sogar – so
mit einem Auge – die Länge der Garage
abzumessen, an eine Wand könnte man
eine alte Matratze legen, sie mit einem
dickeren Überzug abdecken; dann die
andere Wand, für Regale und Bücher,
Papiere in den Kisten, damit sie nicht
voller Staub werden. Die Garage ist
nicht feucht, das ist sicherlich ihr Vorteil. Das wäre ein ganz ordentliches
Zimmer zum Alleinsein, etwa wie so
ein „Panikraum“ aus den neuen amerikanischen Filmen. Die Wände würde ich gelb streichen, obwohl das idiotisch klingt, der Boden sollte grün sein.
Damit es wie die Natur ist, ein grünes
Feld und die Sonne. Klare Farben und
saubere Kanten.
Alles in allem war dort unten nicht
länger als fünfundvierzig Minuten,
höchstens eine Stunde. B. hat angerufen, ziemlich außer sich, gebe ich zu.
Ich sagte, ja doch, ich komme. Ja, ich
bin von zu Hause fortgegangen, ich erinnere mich, dass ich ein wenig grausam war. Aber ich hatte keine Schuldgefühle. Für mich dauerte diese Stunde
viel länger, sie war ein Einschnitt in
die Zeit, die so benötigte Veränderung,
ein Bruch mit der Wirklichkeit. B. hat
nicht gefragt, wo ich war, ich nehme
an, er dachte, dass ich einen Spaziergang durch die Nachbarschaft gemacht
habe, was ja, im engeren Sinne, auch
die Wahrheit war.
Am nächsten Tag war alles gleich. Das
Buch über Louise Bourgeois stand weiterhin an einem sichtbaren Ort, gleich
neben dem Laptop. So dass ich etwas
daraus abschreiben könnte. Zum Beispiel den Satz über die Erinnerung:
„Ich brauche deine Erinnerungen, sie
sind meine Dokumente.“ Und einen
anderen: „Es sind nicht nur unsere
Erinnerungen, sondern auch unsere
Räume untergebracht“, sie existieren
im Raum, als ob „unsere Seele eine
Art Aufenthalt“ ist. Und wenn wir
uns an unsere „Häuser“ und unsere
„Zimmer“ erinnern, lernen wir eigentlich uns in uns selbst aufzuhalten. Bilder des Hauses erstrecken sich
30.4.2011. 17:53:05
152
Andrea Zlatar: Berührungen, Berührungen
in zwei Richtungen: sie sind in uns
ebenso wie wir in ihnen sind. Diese
Gedanken hatte sich Jean Frémon, als
er über Louise Bourgeois schrieb, von
Gaston Bachelard ausgeliehen. Er hat
keinen Quellennachweis angegeben,
aber es ist fast sicher, dass sie aus Bachelards Die Poetik des Raumes stammen. Also leihe ich sie von allen dreien,
Bachelard, Frémon, Louise Bourgeois.
Ebenso wie ihre Arbeit vom Anfang
der Neunziger, ein paar Jahrzehnte
früher entstanden, Die Orangenepisode, die an ein Kindheitstrauma anknüpft. Louises Vater pflegte nach dem
Mittagessen zu zeigen, wie man in eine
Orangenschale den weiblichen Körper
einritzen kann, bestehend aus Kopf,
Brüsten, Hüften, Beinen (das Schambein ergab sich von selbst). Nachdem
der Vater sorgfältig die Schale von dem
Fruchtfleisch geschält hatte, erschien in
der Mitte des „Schalenkörpers“ ein weißer Faden, der den Penis darstellte. Auf
diese Weise wurde der weibliche Körper zum männlichen. Die Arbeit von
Louise Bourgeois Die Orangenepisode hat eine antropomorphe Form, es
handelt sich um eine Orangenschale,
die sorgfältig an eine weiß gestrichene
Pappe genäht ist und der Körper stellt
das Dilemma dar, das der Vater aufgestellt hatte: ist sie Louise oder Louison,
wie er sie nannte. Denn Louise hat da
unten nichts.
Die autobiographische Unterlage der
Arbeiten von Louise Bourgeois erschien
relativ spät, sie fing an, darüber zu
sprechen, als sie siebzig wurde. Noch
bevor sie offen über ihre Traumata gesprochen hatte, ließen diese sich in den
Arbeiten, die sie „ Die Zerstörung des
Vaters“, „Er verschwand in vollkommener Stille“ und „Die Zelle“ (Hysteriebogen) nannte. Louises Zellen hatten ihre
Namen, sie stellten verschiedene Arten
des Leidens dar: das körperliche, psychische, mentale. Und in jeder setzen
wir uns mit einer Angst auseinander.
In einer der Installationen der Zellen
sind ein weißes verwaschenes Kleid aufgehängt, ein weites Damenhemd, wie
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ein Nachthemd, ein Unterrock. Links
ist ein Schrank, daneben ein Modell
eines verkleinerten – doch großen –
grauen Gebäudes. Lebt jemand in diesen Räumen? Wer lebt darin? Louises
Erinnerungen, sie hält sich persönlich
darin auf.
***
In jener Nacht, unten in der Garage,
schuf ich meine Zelle, einen Raum, in
dem ich mich mit mir selbst auseinandersetzen kann, mit der Angst, mit der
willentlich gewählten Einsamkeit. Mit
dem inneren Trieb nach Einsamkeit.
Ich habe vor, sie herzurichten. Die Garage. Wirklich. Mich nicht. Nichts zu
kontrollieren, alles zu lassen. Nicht zu
fixieren, nicht festzuhalten. Ich muss
aus einem Raum in den anderen durchgehen können, ich muss woanders sein
können, dort, wo ich gerade nicht bin.
Unwirkliche Reisen, sie helfen mir,
eine Bewegung zu erreichen. Wirkliche Reisen zwingen mich, ständig
mein Haus mitzunehmen, in meinem
Kopf, in meinem Körper, in Worten.
Und immer zu viele Sachen, die ich
von zu Hause mitnehme. Physische
Last und die Unmöglichkeit Abstand
zu schaffen.
B., wenn er irgendwohin verreist, beziehungsweise, wenn er ankommt, muss
sofort mit sich selbst den Raum markieren, in dem er sich aufhalten wird, auch
wenn es nur für eine Nacht, ein paar
Stunden, ist. Er muss zunächst einen
passenden Platz für seine Armbanduhr
finden, neben die Armbanduhr legt er
seine Brieftasche und die Schlüssel. Die
Brieftasche und die Schlüssel müssen
zusammen sein, es geht gar nicht darum, dass er Angst hat, sie zu verlieren,
zu verlegen. Die Uhr symbolisiert Zeit,
die Brieftasche die persönliche Identität
und den Besitz. Seinen mobilen Besitz,
sagen wir das mal so. Der Schlüssel bewahrt seine Immobilie, er nimmt sein
Haus mit. Ja, er nimmt auch sein Haus
mit, wenn er irgendwohin verreist. Die
Zeit ist jedoch trotzdem das Wichtigste.
Die Uhr, mit der er die Zeit des Ver-
RELA
TIONS
bleibens misst, die Zeit zwischen dem
An- und dem Abreisepunkt, der sofort
zur Rückkehr wird, ohne dass du dir
dessen überhaupt bewusst bist.
Als ich das erste Mal Barthes’ imaginäre Autobiographie gelesen habe, Über
mich selbst, verblüffte mich die Tatsache, dass er in seinen beiden Räumen,
dem städtischen und dem ländlichen,
zwei absolut gleich eingerichtete Arbeitstische hatte, mit Gegenständen, die
auf die gleiche Art aufgestellt waren.
Und außerdem identisch. Das erschien
mir damals, als ich es gelesen habe, ein
wenig verrückt. Ich fragte mich, wozu
er dass denn nötig hätte. Aber heute
beneide ich ihn. Er musste sein Haus
nicht mitnehmen. Es erwartete ihn immer dort, wohin er ankam.
Die versäumte Verabredung
Christine Angot lesen, ist, wie Zeit
mit einer Freundin verbringen, der es
nicht gut geht, sagt eine französische
Kritikerin. Ihr zuzuhören, wie sie
hartnäckig über alles spricht, was ihr
widerfahren ist, in Details gehend,
die wir vielleicht nicht hören möchten. Das Zuhören wird anstrengend,
sie gibt nicht auf, zwanghaft das Sezieren ihres intimsten Lebens fortsetzend. Rendez-vous ist ein Roman
über so eine obsessive Geschichte, in
der sich das Geschehen der Liebe mit
dem Schreiben über sie verflicht. So
eine Prosa nennt die Literaturtheorie
meist Autofiktion und ohne zu zögern
können wir sagen, dass Christine
Angot mit einer Reihe ihrer Romane eine der führenden Literaten der
französischen autofiktionellen Prosa ist, wenigstens seit 1998, als sie
einen Roman unter dem Titel Sujet
Angot (Thema Angot) veröffentlichte. Obwohl Angot selbst dieses Etikett ablehnt, es bleibt Tatsache, dass
ihre Romane – und Rendez-vous ist
der dreizehnte in Folge – das Verbinden von fiktionellem und autobiographischem Erzählen auszeichnet,
da sich die Heldin in den Schlusskapiteln als „Schriftstellerin Christine
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TIONS
Angot“ enthüllt, die das Leben, das
ihr widerfährt, durch Schreiben einzufangen, fast zu zähmen versucht,
eine Liebesgeschichte, die sie nicht
kontrollieren kann.
Rendez-vous, oder wie wir in der Übersetzung Die Verabredung sagen könnten, ist eigentlich die Geschichte über
eine versäumte Verabredung, über eine Reihe von Stelldicheins, denen es
nicht gelingt, die Einheit eines Liebesverhältnisses zu schaffen. Es handelt sich um einen Roman, in dem,
unter dem Fluss des schrittweisen Erzählens und minutiöser Beschreibungen, die tief liegende Nervosität des
Körpers tickt, der ununterdrückbare
Rhythmus der Sexualität und Sinne,
die von Zeit zu Zeit, wie ein Vulkan
an die Oberfläche des Textes ausbrechen. Den erzählerischen Auslöser
im Roman stellt eine Verabredung
mit einem Banker dar, einer Figur,
die nur nach seiner sozialen Funktion benannt ist, und mit dem sie eine
Reihe liebend-sexueller Sequenzen
anfängt, in denen Christine Angot
Schlüsselthemen von Liebesbeziehungen eröffnet, unter denen körperliche Abneigung und körperliche
Anziehung dominieren. Das soziale
Tabu, über den Inzest zu sprechen,
verfolgt die Romankarriere Angots
seit ihrem gleichnamigen Roman Inzest (L’Incest, 1999), im Roman Rendez-vous taucht es als sich wiederholendes Motiv auf, was die Möglichkeit einer „glücklichen Liebesbeziehung“ noch unsicherer macht. Doch
Angot ist keine Autorin, die sich mit
der Destruktion des Mythos über die
glückliche Liebe befassen würde, ihr
Erzählen ist weit über dem Niveau
des Allgemeinen und ist immer auf
das Private und Persönliche gerichtet.
Deshalb ist Rendez-vous ein ausgesprochen komplexer Roman, einfach
weil die menschliche Persönlichkeit,
mit all ihren mentalen, körperlichen,
Gefühls- und Sinneswahrnehmungen ausgesprochen kompliziert und
empfindlich ist. Wir sind taktil und
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Essay
reaktiv, würde Angot sagen: wir reagieren aufeinander. Deshalb, wenn
der Körper ja sagt, sagt der Kopf nein,
und wenn unser sozialisiertes und rationelles Ich ja sagt, weigert sich der
Körper, sich zu beugen. „Intensiv,
taktil, reaktiv, allumfassend“ – vier
Schlüsselbegriffe des Romanendes.
Die allumfassende Berührung nach
der wir streben, ist der Ausgangs- und
Endpunkt des Romans, als Verlangen am Anfang und als Ausbleiben
am Ende.
Das Schlüsselpaar körperlicher Empfindungen, Abneigung – Anziehung,
taucht in der Beziehung der Heldin
mit einem älteren Banker, der, dank
der Tatsache, dass er als Ersatzvaterfigur funktionieren kann, direkt das
Thema Inzest heraufbeschwört. Im
Roman Rendez-vous entwickelt sich
die Anziehungskraft aus anfänglicher Abneigung: die unausgewogene „Wippe“ der Anziehung und Abneigung rhythmisiert das Erzählen
im ganzen Text. Wenn also im ersten Teil des Romans die Erzählerin
die ist, die anzieht und Abneigung
empfindet, im zweiten Teil, wenn
den Platz der männlichen Figur der
Schauspieler Éric einnimmt, spürt
sie die Anziehung, wird aber nicht
angenommen.
Die Heldin des Romans Rendez-vous
gibt ihr Verlangen nicht auf, aber
das Verlangen nach einer wirklichen
Liebesbeziehung ersetzt sie durch
Schreiben darüber. Deshalb ist der
Schlussteil des Romans zwanghaftes
Erzählen und ein ebenso zwanghaftes Verlangen, Éric möge ihre Handschrift lesen, denn auf diese Weise,
mittelbar, würde ihre Beziehung eine, obwohl nur als Ersatz, Form der
Wirklichkeit bekommen. Es geht
hier nicht um das Verlangen nach Besitz, Eifersucht, Possesivität, hier geht
es um einen Versuch, durch Schreiben die Integrität seiner selbst zu erreichen, das im konkreten und wirklichen Leben in die Brüche gegangen
ist. Rendez-vous ist ein Roman über
153
die Zerrissenheit der Persönlichkeit,
da die Zivilisation, in der wir leben,
zerrissen ist, ein Roman der Autoanalyse, ein Roman darüber, dass „die
Dinge nicht so funktionieren“, wie
wir das gerne hätten. Insbesondere,
wenn dieses „Ding“ – Liebe ist:
„Als ich geschrieben habe, habe
ich zu mir selbst gesagt: Wer würde sagen, dass das nicht funktioniert. Es war so unglaublich, ich
habe so sehr geglaubt, dass ich
jemanden Einzigartigen kennen
gelernt habe, dass es sich um die
Begegnung meines Lebens handelt, und es hat nicht funktioniert.
Es hat mich wahnsinnig gemacht,
ich wusste nicht mehr ein und aus.
[...] Nachdem wir das erste Hindernis aus dem Weg geräumt hatten, sind wir einfach stehen geblieben. Mit Leugnen in der Art ‚ichbin-nicht-verliebt-aber-ich-weißdass-du-mir-nicht-glaubst-wennich-dir-das-sage‘, gab es Momente,
in denen mich Verzweiflung übermannte, in denen ich vollkommen
die Hoffnung verlor, ich fühlte
mich in diese Geschichte eingefangen, ich spürte, dass ich nicht
entkommen kann. Wenn das Liebe ist...“
Un-Liebesgeschichte
Vor ein paar Jahren, 2006, erhielt Joyce Carol Oates, eine amerikanische
Schriftstellerin, geboren 1938, den
Literaturpreis der Chicago Tribune
für literarische Errungenschaften. In
ihrem Fall bedeuteten die „literarischen Errungenschaften“ über hundert veröffentlichte Werke – Kurzgeschichten, Romane, Dramen, Essays,
Kinder- und Jugendbücher, Poesie –
über hundert veröffentlichte Werke
in etwa vierzig Jahren Arbeit. Joyce
Carol Oates lebt wirklich im Schreiben und vom Schreiben: Neben ihrer
schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet
sie als anerkannte und angesehene
Professorin für Kreatives Schreiben
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Andrea Zlatar: Berührungen, Berührungen
an der Universität in Princeton. Als
die Kritik Erklärungen zur Verleihung des Literaturpreises abgab, hörte man Lobgesänge, als ob es sich um
eine Aktivistin in Fragen des Weltfriedens oder der Menschenrechte
handle: J. C. Oates ist eine Kämpferin
für die Wahrheit. Sie ist eine Kämpferin für die Ehre – genauer gesagt, für
den Rest der Ehre, der Rechtschaffenheit und der wahren Werte in der
modernen Gesellschaft. J. C. Oates
ist der Wirklichkeit zugewandt und
setzt sich mit ihr auseinander, spricht
wie eine Heldin aus einem ihrer Romane: Niemand wollte, dass ich weiß.
Nur ich wollte wissen. Vergewaltigung
ist so ein Thema: niemand will wissen, ich muss wissen.
Im Roman Vergewaltigung: eine Liebesgeschichte ist die Suche nach Wahrheit die Grundlage der Handlung:
Die Zeugin der Vergewaltigung ihrer
Mutter ist zunächst die einzige, die
die Wahrheit weiß. Die Mutter, das
erste Opfer, erfährt die Wahrheit allmählich, als sie sich im Krankenhaus
vom Angriff erholt; die lokalen Behörden, die Polizei und die Gerichte
– einige wollen die Wahrheit erfahren, einige nicht. Und natürlich die
Angreifer, eine achtköpfige Bande,
sie wissen, was wirklich passiert ist,
aber wollen nicht, dass es in der Öffentlichkeit bekannt wird. Und die
Öffentlichkeit stellt die Gemeinde eines Provinzstädchens dar, verschlossen, voller Vorurteile und „mit nervösem Finger“, wenn es darum geht,
die Schuld im Voraus auf jemanden
zu wälzen. Das Opfer hat Schuld.
Vergewaltigung: eine Liebesgeschichte
ist ein Roman, der vom Titel an Paradoxe aufstellt. Im Roman offenbart sich Liebe durch Ängste, Unsicherheit, Schmerz – durch Formen
ihres Unglücks, als Angst vor dem
Verlust einer geliebten Person, als
Unsicherheit, ob wir die Wahrheit
ertragen können, als Schmerz bei
der Erkenntnis, dass es nie wieder
so wie früher sein wird. Dieses frü-
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her, die Zeit des glücklichen und
unschuldigen Erwachsenwerdens,
die Zeit des entspannten Lebens, ist
zertreten und zu Fall gebracht worden mit Schlägen, mit denen Teena
Maguire während der Vergewaltigung fast getötet worden wäre. Der
Romanschreiber ist oftmals wie ein
Historiker, sagt J. C. Oates, denn er
sucht nach Wegen, dem, was vergangen ist, eine Stimme zu geben, sogar
wenn es sich um die nächste Vergangenheit handelt, um die Zeit, in der
wir leben und die durch Gewalt als
Antwort auf alle Probleme gebrandmarkt ist. Denn Erinnerung ist, so
die Autorin, ein moralischer Akt. „Ihr
könnt wählen, euch zu erinnern. Ihr
müsst es nicht.“
Die Romane von J. C. Oates sind
in ihrer Erzählart anders, denn jede
der Welten, die sie darstellt, sucht
nach einer eigenen Struktur des Ausdrucks. Obwohl die Leser ihren oftmals herben und unmittelbaren Stil
erkennen können, und insbesondere die zwanghafte Bindung an bestimmte soziale Themen, einzeln und
im Besonderen, die Thematisierung
der Position der Frau, hat für J. C.
Oates jede Geschichte ihre ideale
Form und es ist an ihr als Erzählerin, sie zu entdecken. Im Roman
Vergewaltigung: eine Liebesgeschichte entscheidet die Autorin, die für
Romane selten benutzte Form der
zweiten Erzählperson zu benutzen:
ein Teil der Geschichte ist direkt an
die Figuren selbst gerichtet (Teena,
der Polizeibeamte Dromoor) und
am meisten an das Mädchen Bethel,
Teenas Tochter, die Zeugin des Angriffs. An jene, deren Kindheit endete, als sie zwölf Jahre alt war. Mit
der Berührung, die sie gesehen hatte
und die ihre wurde. Um verletzt zu
werden, muss man dich nicht einmal
im wörtlichen, physischen Sinne berühren. Abneigung beginnt vor der
Berührung, im Blick, Geruch, Urempfinden des anderen als in seiner
Nähe ungewollten.
RELA
TIONS
Das aufgeschobene Leben,
Dystopie des Glücks
Ich sitze am Tisch auf einer mit Klebsamen und Schilf umgebenen Terrasse, etwa fünfzehn Kilometer von Dubrovnik
entfernt, lausche den Vögeln. Der Rechner stößt seine leisen Geräusche aus, von
Zeit zu Zeit lautere – dann, wenn er
sich vorübergehend ausschaltet, was
eigentlich heißt, dass ich weniger denke, oder, überhaupt nicht schreibe.
Diese Vögel, früh morgens, mitten am
Tag, Punkt Mittag, etwas leiser. In der
Nacht, wenn man sie beim zufälligen
Aufwachen hört, als reinen Nachtlaut,
durchdringend, ihr Gesang tritt in die
Seele ein, unmittelbar, ohne irgendein
Hindernis, ohne irgendeine Grenze
zwischen mir und der Welt, zwischen
der Nacht und mir, zwischen der Luft,
dem Klang und dem, was der Körper
sein sollte und, einen Moment lang,
sein Gewicht verliert. Diese unendliche
Einsamkeit und Kraft der Nacht.
Man hat mir den Auftrag gegeben, über
meine Illusionen zu schreiben. Über
„große Illusionen“, wohl wie über „große Erwartungen“, darüber, was der
Mensch erwartet, wenn er dreizehn,
vierzehn, fünfzehn oder einige Jahre
älter ist. Erinnere ich mich an irgendwas? Woran erinnere ich mich?
Ich erinnere mich am meisten an ein
Gefühl, das auch jetzt nicht vergeht, ich
kann es mir herwünschen, es kann von
selbst auftauchen, plötzlich, aber in besonderen Augenblicken. Ich weiß auch
in welchen: Wenn man ins Meer geht
und weit davonschwimmt, eintaucht
und mit offenen Augen zur Oberfläche
zurückkehrt. Ebenso: Wenn du dich am
Gipfel eines sonnenbeschienenen Berges
befindest, auf dem Schnee, in der Sonne,
mit der Möglichkeit, langsam, alleine
in die Eroberung des Raums aufzubrechen. Das ist das Gefühl: Das Gefühl
vollkommener Freiheit, das Gefühl,
dass du und alles um dich herum, diese so genannte Natur, das ihr das selbe
seid, ohne Grenzen dazwischen und
grenzenlos vereint. Dieses selbe Gefühl in
einem Traum: Wir fliegen auf Ballons,
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zwei Freunde und ich, wir schweben
über Feigen- und Kiefernhainen und
Wiesen einer ungennanten nördlichen
Insel, wir schweben in einem Gefühl des
Glücks und dieses Gefühl sagt uns: wir
sind anwesend, wir sind hier, wir sehen
alles. Nichts zieht uns an den Grund,
nicht einmal die Erde unter uns sieht
schwer aus. Wir sind einfach.
Da, das ist die größte Illusion, die ich
als Kind empfunden habe – jemand,
der an der Schwelle des so genannten
ernsthaften Lebens steht. Die Illusion, dass die Welt mir gehört, dass alles
machbar ist, dass die Welt und ich ein
und dasselbe sind, ganz.
Ich träume eigentlich nicht, dass ich
fliege. Das war mein einziger Traum,
so gegen fünfundzwanzig. Ich träume von Blödsinn, vom Alltag bestehend aus einer Mischung von Häusern, Treffen, Streitereien, Einkäufen,
Verwandtschaft, selten etwas Schönes,
etwas Überragendes, etwas, was Metaphysik ist, jenseits der Natur, jenseits
der Schwere von Erde und Körper.
Andersartige Tage, wie sehen die aus.
Sie sind nicht von Luft gekennzeichnet,
sie sind eher von Wasser gekennzeichnet. Flut, Regen, Tränen, Ertrinken.
Die Angst, dass alles schon unreparierbar ist. Die Angst, dass das was ich jetzt
spüre die einzige Wirklichkeit ist, die,
die ich nicht von mir schieben kann,
die abgeschlossene. Die Angst, dass ich
Bedrücktheit gewählt habe, Scheu gewählt habe, Furchtsamkeit gewählt habe. Ich weiß nicht, wann das passiert
ist, ich weiß nicht, wann die Angst Einzug erhalten hat, aber sie ist eingezogen
und sie ist hier. Die Grenze ist aufgestellt, ich selbst bin die Grenze.
Ich sehe Dinko an, er wird in ein paar
Monaten vierzehn, wie er einfach in
seinem Leben existiert, wie ihn das
Existieren und das Leben überfluten,
wie eingenommen er davon ist, sich
nicht einmal bewusst ist, dass es etwas
zwischen ihm und dem Leben gibt.
8
Essay
Alles erscheint ihm natürlich, er spürt
nicht einmal, dass es natürlich ist. Es
gibt keinen Unterschied, keine Grenze zwischen ihm und dem Leben, ihm
und seinem selbst. Für mich ist alles
das Andere. Er wacht einfach ins Leben
auf, er wacht in den Tag hinein auf, er
hungert nach diesem Leben.
Mir hingegen erscheint alles wie hinter
einer Grenze: fern oder abstoßend oder
wie in einem Nebelschleier. Ich bin mir
selbst Grenze, bin mir selbst Gewicht,
bin mir selbst Schwere. Alles ist immer
außerhalb von mir. Lange schon, außer
für einen Augenblick, ein Gefühl der
Erfüllung, des Glücks, dessen, dass ich
mir nahe bin, dass ich dem Leben nahe
bin. Aber schon sehr, sehr lange nicht,
dass ich das ganze Leben bin. Dass ich
aus voller Lunge einatme und sage, das
ist es. Einige Augenblicke der Gemeinsamkeit in der Berührung, das Gefühl
der Ruhe und Macht im Schnee, das
war immer, wie auch die ersten Streifzüge ins Meer, das ist es, woran sich
der Körper erinnert. Aber der Körper,
dieser Körper, erinnert sich an immer
weniger, verlangt immer weniger. Und
im Kopf Tränen. Die Augen rot.
***
Das Leben ist woanders, das ist das
Schlagwort meiner Generation. Nicht
so sehr im Raum, im realen Raum, wir
haben damit aufgehört, uns das Leben
vorzustellen in London, Paris. Oder
Lissabon. Im zeitlichen Sinne: Das Leben ist woanders, einmal woanders
wird auch dieses Leben, das richtige
und ausgefüllte, geschehen. In einer mit
unserer parallelen Welt, die wir uns
auch dann vorstellen, wenn wir denken,
dass wir total in die Realität eingegraben sind. Es wird uns unser, dieses ersehnte, imaginäres Leben zustoßen, in
dem Leben, das es nicht gibt und doch
denken wir irgendwie trotzdem, es
wird, es wird eines Tages. Aufgeschobenes Leben, das ist das richtige Wort.
155
Das ein anderes Mal passieren wird,
irgendwo anders. Wir müssen nur noch
dies und das machen, wir müssen die
Betten machen, wir müssen das Arbeitspensum absolvieren, wir müssen mürrisch sein, wir müssen uns streiten und
dann später unzufrieden sein. Und unglücklich. Oder nicht völlig, weil dieses
„aufgeschobene Leben“ irgendwo auf
uns wartet? Hinter der Ecke des gewohnten Wegs, hinter der Ecke des tödlichen Rituals des Alltags?
Wie es der Zufall will, lebe ich mit einem Mann zusammen, der um einiges
älter ist als ich. Ich weiß, dass niemand
weiß, wie viel Zeit ihm in diesem Leben noch bleibt, aber gleichzeitig weiß
ich ebenso, ganz real, dass wir keine
Zeit für ein aufgeschobenes Leben haben. Dass unser Leben hier und jetzt
ist, jeden Tag aufs Neue. Manche Tage
sind utopisch, andere dystopisch. Vom
Glück zum Hass und zurück.
Utopie, räumliche Utopie, wird so leicht
zu zeitlicher Utopie. Ein goldenes Zeitalter, das allem voranging, Das Paradies, das die Vergänglichkeit unserer
einzelnen wirklichen Leben überwölbt.
Das Fegefeuer, durch das man gehen
muss, wie ein Vorzimmer oder ein großer Warteraum zu Dem Paradies.
Andere und andersartige Räume, die
wir selbst bauen: unsere Fantasie, ein
Bett, das zu einem Schiff wird, ein
Tisch zur Erdkugel. Das sind, würde
Foucault sagen, heterotopische Räume,
Gegenräume der Räume die gegenexistent sind. Heterotopische Räume sind,
wie sie Foucault definiert, Arten lokalisierter Utopien: wir denken immer an
Länder, die nicht ihren Platz haben,
an Städte, die nicht ihren wirklichen
Raum haben, diese Nicht-Orte entstanden in unseren Köpfen, manchmal
aus unserer Angst, manchmal aus der
Leere unserer Herzen8. Gegenräume,
Räume, die den existierenden gegenübergesetzt sind, unterscheiden sich von
klassischen Utopien dadurch, dass sie in
Begriff und Bilder wurden aus Foucaults Vorlesungen „Heterotopien und Utopien“ übernommen, die an der France Culture im Dezember
1966 gehalten wurden.
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Andrea Zlatar: Berührungen, Berührungen
unserem Alltag lokalisiert sind. Für ein
kleines Kind wird so einen Gegenraum
ein dunkler Keller oder Dachboden
darstellen, manchmal auch das große
Elternbett, dessen Decken sich leicht in
Wellen eines gefährlichen Ozeans verwandeln können. Friedhöfe und Asyle,
Gefängnisse und Krankenhäuser stellen
ebenfalls Heterotopien dar, aber ebenso
auch Theater, als durch Geschichte gekennzeichnete Heterotopien oder moderne Bibliotheken und Museen, Archive, die mit ihrer Tendenz, an einem
Ort alles aus jeder Zeit anzuhäufen,
mit ihrer Tendenz, durch eine andere
Strukturierung geschichtlichen Raum
und Zeit auszulöschen, stellen exemplarische Heterotopien des Zeitgenössischen dar. Denn die Kraft der Heterotopie liegt darin, dass sie die Wirklichkeit herausfordert, sich ihr widersetzt,
sie auslöscht. Ich erwähne die Heterotopie immer: wenn ich über die Stadt
schreibe, wenn ich über mich schreibe,
wenn ich über uns schreibe.
***
Irgendwie glaube ich an nichts mehr.
Ich habe das, was ich sehe: den singen-
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den Vogel, die Hand, die mir ein Glas
reicht, den Wasserkrug, das Handy,
das glücklicherweise nicht klingelt, das
zerknitterte Kleid, die Übelkeit vom
Flug letzte Nacht, die Sehnsucht dich
wiederzusehen. Das Haar, das morgen müde sein wird, die Augen, die ich
nicht werde öffnen wollen.
Wenn ich meine Augen fest schließe,
wenn ich atme, zunächst langsam und
seicht, dann immer leiser und tiefer,
kann ich dieses Gefühl bekommen, dass
die Welt und du und ich eins sind. Ich
kann nachts atmen, ich kann in die
Nacht atmen, der Stille lauschen, über
die Einsamkeit, die Vollständigkeit garantiert, wachen. Dieser Raum, den es
nirgendwo gibt, ich kann ihn in mir
unterbringen, in uns.
Auch jetzt hat ein Vogel gesungen. Ich
sage „ein“, denn ich unterscheide ihre
Stimmen nicht, ich kenne nur eine Amsel persönlich, eine große, mit einem
noch größeren Schnabel, die uns letztes
Jahr jede kurz vor dem Reifen stehende
Feige angeknabbert und die wenigen
gelben Trauben weggepickt hat. Ich
glaube, sie macht schon ihre Runde im
Gelände, kontrolliert es, das ist sicher.
RELA
TIONS
Eines Morgens, denke ich, werden wir
sie auf dem Boden unter der Feige finden, mit aufgedunsenem Bauch, auf
dem Rücken, vielleicht glücklich, vielleicht tot. Ich weiß nicht, wie weit das
Gedächtnis bei Vögeln reicht, es ist
unterschiedlich bei unterschiedlichen
Tierarten. Ich denke, dass menschliche Wesen etwa dreißig Prozent ihrer
Gehirnfähigkeiten für das Gedächtnis
nutzen. Wenn wir uns vollkommen
erinnern würden, an alles – ich weiß
nicht, ich würde gerne so ein Leben
ausprobieren.
Oder vielleicht doch, vielleicht glaube
ich doch. Vielleicht glaube ich Foucault, der gesagt hat, dass unsere Heterotopien, dass unsere imaginären und
aufgeschobenen Leben, in unseren Köpfen entstehen, aus Angst oder Leere in
den Herzen. Aus der Leere im Herzen.
Aus Angst.
Aus dem Kroatischen von
Marijana Miličević Hrvić
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TIONS
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Foto: © Višnja Arambašić
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Schattenwelt
[Auszug]
Nenad Popović
N
ach spätestens zehn oder zwanzig Jahren wird der Gastarbeiter zu seinen Leuten zu Hause sagen:
Aber ihr unternehmt ja auch nichts,
um euer Leben zu verbessern; dort
wo ich bin, arbeitet und strengt man
sich viel mehr an. Die Gesellschaft
in der Heimat wird gleichermaßen
erwidern und spotten, da sieht man
es ja, er ist schon ganz wie die Deutschen dort, er redet wie ein echter
Švabo; er hat leicht reden, die dort
werden alle zusammen einfach besser
bezahlt für dieselbe Arbeit.
Die Repliken sind absurd, denn da
reden zwei Invaliden miteinander.
Die eine wie die andere Seite greifen
zu psychologischen Tricks. Sie können sich nicht eingestehen, dass das
Leben tatsächlich weitergegangen ist,
dass der Weggang eines Familienmitglieds oder eines Nachbarn aus der
Straße aus Not erfolgt ist. Dass der
Weggegangene zu einem Gutteil sozial gestorben ist. Durch seinen Weggang wurden Gefühle und Würde beschädigt, das Selbstwertgefühl aller
Involvierten. Der Weggang als Gastarbeiter ist immer ein trauriges Ereignis. Plötzlich bleibt ein Platz leer,
einfach so, ohne dass Tod, Krankheit
oder etwas ähnliches mitgewirkt hätten. Einer verlässt die Szene, geht in
die Garderobe, verschwindet durch
den Hinterausgang. Die Gesamtheit der psychologischen Kompen-
...
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NENAD POPOVIĆ, geboren 1950, ist Verleger (Durieux, Zagreb) und Über-
setzer aus dem Deutschen. Er schreibt auch Kritiken und Essays für
Zeitungen und Zeitschriften in Kroatien, Bosnien und Herzegowina, im
deutschsprachigen Raum und in Ungarn. 2008. erschien sein Buch über
Gastarbeiter „Svijet u sjeni“ (Schattenwelt) im Verlag Pelago, Zagreb. Er
leitet die Literaturzeitschrift Fantom slobode (Phantom der Freiheit). Im
deutschsprachigen Raum hat er zwei Anthologien herausgegeben. Die
Verteidigung der Zukuft, Folio, Wien ... (zusammen mit Freimut Duve); das
Buch wurde mit dem Bruno-Kreisky Annerkennungspreis für das politische
Buch ausgezeichent. Seine Anthologie Kein Gott in Susedgrad. Neue kroatische Prosa“ erschien im Schöffling Verlag, Frankfurt/M. 2008.
sationen gegenüber den Gastarbeitern und dem Gastarbeitertum, die
sich nach dem Weggang verstärken
– Aggressivität, Verachtung, Hohn,
Gefühle und Demonstrationen von
Übermacht, „Mitleid“ usw. – hat
ihren Ausgangspunkt im psychologischen Knoten des Aktes und des
Augenblicks des Weggangs. Denn
das hat alle betroffen, das war eine
kollektive Niederlage, ein grausamer
Blitz der Wahrheit. Und bei den Beteiligten das Bewusstwerden der eigenen Ohnmacht, ein trauriges Ereignis zu verhindern, den Weggang
eines von ihnen. Der Umwelt, die
der Gastarbeiter verlassen hat, bleibt
nichts anderes übrig, als zu verschiedenen Mystikationen Zuflucht zu
nehmen, bis hin zur populären Ethnopsychologie. Der Švabo spart und
isst nichts – nicht wie wir, die wir
ständig Schweinebraten essen und
Gespritze trinken (in der mediterranen Version drehen wir junge Lämmer am Spieß und trinken schweren
Rotwein, legen Fische auf den Grill),
der Švabo ist nur am Arbeiten und
denkt nur ans Geld, aber wir verstehen zu leben, wir sind begabte Bonvivants, die bei der Arbeit ihren Spaß
haben, bzw. Supermänner – wenn es
sein muss, drücken wir aufs Gas, und
das, wozu sie acht Stunden brauchen,
erledigen wir in zwei Stunden. Der
Švabo ist dumm und unfähig, wir
sind klug und fähig.
Štef, der uns am Anfang gefehlt hat,
ist, nun, mit einem Mal ein Idiot geworden. Ein Švabo, ach was,
noch schlimmer, ein Jugošvabo. Guck
dir den Mercedes an und die blöde
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RELA
TIONS
Švabica, die er geheiratet hat. Was
natürlich ein bewusster Selbstbetrug
und eine Lüge ist. Weder haben sich
Jozo und Štef verändert, noch wird
in der Mehrheit der europäischen
Länder „blutig“ malocht. Nämlich
43 Stunden wöchentlich, und in
Frankreich 36, und wer Überstunden macht, kriegt das Doppelte. Aber
von der Arbeit in der Schweiz oder in
Deutschland muss man sagen, dass
sie „blutig“ ist. Um nicht zu sagen,
dass sie normal ist, denn das würde
bedeuten, dass wir vor uns selbst zugeben, dass unsere Arbeit und unser
Leben subnormal sind.
Die Frage aller Fragen: Wer ist normal geblieben? Die, die weggegangen, oder die, die geblieben sind?
Der Gastarbeiter ist jedenfalls kein
dummer Švabo, noch ist der Kroate
ein Supermann. Der Gastarbeiter ist
nur fleißig und gleicht nur die verlorene Zeit und die schlechtere Startposition aus. Aber gerade anhand dieser
Linearität und Eindeutigkeit wird er
sich immer mehr von den Kollegen
unterscheiden, mit denen er in Kroatien gearbeitet hat. Seine Landsleute, die jugoslawisch-kroatischen „Industriearbeiter“ von Bedekovčina bis
Solin, haben sich zu dem entwickelt,
was die Italiener semirurali nennen.
Sie haben sich im Grunde de-industrialisiert, sie sind aus der modernen
Zeit herausgefallen, oder in ihr nie
angekommen. Während der Gastarbeiter Überstunden schiebt, gehen
sie nach der Arbeit aufs Feld oder in
den Weinberg, im Dezember wird
bei ihnen geschlachtet, und hinterm
Haus hält die Hausfrau ihre Hühner,
im Sommer vermieten sie ihr Schlafzimmer. Semirurali und ihr südländischer Trost: Wir trinken unseren
Wein, wir stellen einen Schnaps auf
den Tisch, den wir selbst gebrannt
haben! Das Huhn ist von zu Hause,
die Würste habe ich gemacht, und
auf dem Dachboden, auf dem Dachboden! – versteht sich, da hängt der
Pršut, diesen Schinken habe ich habe
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1960er, 1970er, 1980er
selbst gemacht, der Vater hat an die
Schweine nur das Beste verfüttert.
Während da oben alles ohne Geschmack ist, da scheint keine Sonne,
da wächst nichts, dort ist Pršut kein
Pršut, dort ist Käse kein Käse, dort gibt
es nicht einmal Lämmer (geschweige
denn eigenhändig geschlachtete und
abgezogene), die müssen alles im Supermarkt kaufen, und die Sachen taugen nichts. Das sieht man daran, dass
sie so billig sind.
Arme, erniedrigte Milieus erzeugen
gegenüber entwickelten und reichen
eine spezielle Kompensationsbeziehung, in die sie dann auch ihre Gastarbeiter eingschlossen haben. Die
Kompensierung besteht auch im in
der Umkehrung des Machtverhältnisses. Die evident reicheren Italiener, Österreicher und Deutschen
sind verachtete Gäste, denn sie zahlen
im Restaurant (du streckst ihnen den
Hummer mit Hühnerfleisch), die
Nichtwisser trinken unseren schlechtesten Wein, braten in der Sonne,
während wir ihnen nur die Kohle
abnehmen und, versteht sich, ihre
Töchter vögeln. Jeden Abend. Die
evident ärmeren, aber kulturell höher stehenden Tschechen und Ungarn werden ebenfalls verachtet, aber
wegen ihrer Unterversorgung: Sie
schlagen ihr Zelt in meinem Olivenhain auf, bringen ihre Konserven
mit, schlafen an der Straße, klauen
Kartoffeln. Und auch diesmal vögeln wir die jungen Tschechinnen
und Ungarinnen (dieses Mal von
oben, so wie man einstens junge
Zigeunerinnen gevögelt hat). Diese
überwiegend rassistischen Kompensierungen sind stärker als die politischen Systeme und haben die innere
Xenophobie gegenüber den Gastarbeitern vereint mit der klassischen
in der kompensatorischen, aggressiven Idee von sich selbst und anderen
vereint. Unserem naiven Maler zahlt
der persische Schah-in-Schah Hunderttausende Dollar für ein Ölbild
hinter Glas, wir haben im Zweiten
159
Weltkrieg die Deutschen, die Italiener und die Japaner besiegt, und
gleich danach noch die UdSSR, unser Meer ist das schönste, unsere Flüsse zwischen Biokovo und Durmitor
sind ein Wahnsinn für Rafting. Unser Stepinac, unser Mehmed-paša
Sokolović, unser Ivan Meštrović. Die
in Volk und Staat gehegten Minderwertigkeitskomplexe haben der
Authentizität Jugoslawiens den faschistoiden Originaljargon gegeben
– und die Reitpeitsche haben auch
die Gastarbeiter um die Ohren geschlagen bekommen.
Die Soft-Variante lautet: Auf der
idyllischen Mole eines kleinen Ortes
in Dalmatien sitzen zwei ältere Männer und angeln. Einer ist ein Rückkehrer, der Jahrzehnte in Amerika gearbeitet hat. Der andere hat sein ganzes Leben in dem Ort gelebt. Dialog:
Der Rückkehrer erklärt, wie er sich
sein ganzes Leben hat bei der Arbeit
quälen müssen, er preist sich, dass er
endlich zu Wohlstand und einer Rente gekommen ist und jetzt gelassen
auf der Mole sitzen und angeln kann.
Der andere gibt zurück: Und ich habe mich nicht von hier wegbewegt,
und jetzt sitze ich genauso ruhig hier
mit dir und angele. – Der Kult der
asiatischen Passivität auf der dalmatinischen Mole mittels Verhöhnung
des Arbeiters ist der Ausdruck eines
kranken Bewusstseins bei den Menschen, denen fortschrittlichere oder
glücklichere Zivilisationen zu nahe
sind, an denen die eigene Armseligkeit und Zurückgebliebenheit allzu
messbar sind. Der Einzelne, der die
dünne Membrane bis zur Nachbarzelle durchbrochen hat, muss psychologisch niedergeknüppelt werden. Der Gastarbeiter muss dumm
sein. Dumm auch in seinem Glück,
dass er zurückgekehrt ist und wieder
auf der heimischen Mole sitzt – zumindest belehrt ihn in diesem Sinne
diese Volksanekdote: Was hast du das
alles nötig gehabt. Du hast dein Leben verfehlt.
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Nenad Popovi}: Schattenwelt
Während die Wirklichkeit anders ist:
Vera Kamenko war aus Jugoslawien
suchte nach Arbeit, doch da war gar nichts drin
außer im Westen, da suchten sie noch Fraun.
Sie hatte ein Kind und der Mann war abgehaun.
In Westdeutschland gabs Arbeit, die Sprache unbekannt
Sie suchte bei Männern im Bett, was sie nicht fand
Sehnte sich nach Hause, nach Mutter, Land und Kind
suchte nach Wärme im Leistungslabyrinth.
RELA
TIONS
Ihr Leben aufgeschrieben hat sie für jede Frau
damit die ihre Lage ein bißchen besser sieht
und daß mit ihrem Leben nicht das Gleiche mal geschieht
Manchmal denkt sie an Deutschland
und sehnt sich nicht zurück
Sie hat es aufgegeben, die Suche nach dem Glück.1
Die Arbeit, die sie machte, die war der letzte Dreck
Doch sie war immer pünktlich, das Geld schickte sie weg
nach Hause zur Familie und das, was übrig blieb
bezahlte sie fürs Essen und Wohnheim im Betrieb
Unter vielen Männern schien einer Kavalier
der kam aus der Türkei und dem ging es fast wie ihr
Sie zog in seine Bude, war bißchen primitiv
Der Anfang lief ganz gut, doch dann ging alles schief.
Er hat sie oft geprügelt, wenn es ihm dreckig ging
Sie sehnte sich nach ihrem Sohn, an dem sie schrecklich hing
Da ist sie weggelaufen in eine andre Stadt
und suchte wieder Wärme, die man im Eis nicht hat
Der Mann hat sie gefunden nach ein paar Tagen schon
Wenn sie nur wiederkäme von ihm aus auch mit Sohn
wollt er sie nie mehr schlagen, er brauchte sie so sehr
Doch schon nach einer Weile war alles wie bisher.
Sie nahm am Urlaubsende den Sohn nach Westberlin
Das Kind war viel alleine und voller Eigensinn
Sie arbeitete täglich auch noch nach Arbeitsschluß
und dachte, daß der Junge sie glücklich machen muß
Der Mann schlug all sein Elend in das Gesicht der Frau
Ein Zimmer für drei Menschen, das Kind schlug viel Radau
verstand die fremde Sprache nicht und schien ihr undankbar
Sie konnte nicht ertragen, daß da kein Ausweg war.
Das Kind war ungezogen und machte sie verrückt
Vier Jahre und ein halbes hat sie dafür gekriegt
weil sie das Kind verprügelt hat, bis es still liegenblieb
Sie hat den Sohn erschlagen und hatte ihn doch lieb
Ihr Leben war gelaufen, in ihr war alles tot
da hat Keiner geholfen aus dieser schlimmen Not
Und das passiert mit Menschen, die sind in unsrer Welt
Die machen uns die Dreckarbeit für’n bißchen deutsches Geld.
Sie wurde abgeschoben nach zweieinhalbem Jahr
fand endlich eine Arbeit, wo sie geboren war
Von Montag bis zum Freitag schrubbt sie jetzt auf dem Bau
Nenad Popović
1
Bettina Wegner (1947), bekannteste deutsche Kantsängerin. Nachdem sie 1968 in der DDR gegen die Intervention der Warschauer-PaktStaaten in der Tschechoslowakei demonstriert und 1976 gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann protestiert hatte, wurde
sie 1983 nach zahlreichen Verfolgungen und Schikanen in die BRD abgeschoben. Sie hat zahlreiche Alben aufgenommen und mehrere Bücher veröffentlicht; sie lebt in Berlin.
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RELA
TIONS
In der männlichen Variante sieht der
Gastarbeiter, according to Trumbetaš,
so aus: Er ist männlichen Geschlechts.
Er ist zwischen fünfundzwanzig und
vierzig Jahre alt. Er ist Arbeiter, lebt
in einem bescheidenen Mietzimmer,
unter dem Bett oder auf dem Schrank
hat er einen Koffer, im Portemonaie
ein Foto seiner Familie oder seines
letzten Mädchens, sein privater Mikrokosmos besteht aus einer Kochplatte, einem Wecker, zwei Töpfen
und Tellern, einem Fernseher und ein
paar alten, zehn Mal durchgelesenen
Illustrierten. Er ist das Bild und Gleichnis eines schweigsamen, in Wirklichkeit stummen Einzelgängers, der morgens auf dem Bahnsteig der Vorortsbahn oder an der Haltestelle des Busses steht, der ihn ans Fabriktor bringen wird. Nachmittags kauft er im
nahen Supermarkt schweigend und
uninteressiert zwei, drei Lebensmittel und geht davon in die Welt seiner
stummen Abende. Er legt nicht viel
Wert auf seinen Anzug, aber am Samstag, falls er keine Überstunden macht
oder noch etwas unterwegs erledigt,
auf jeden Fall aber am Sonntag geht
er zum Bahnhof, um ein Wort mit
seinen „Landsleuten“ zu wechseln,
eine Zeitung zu kaufen, vielleicht
geht er zu Mittag essen, ins Kino oder
zu einer Partie Fussball und besichtigt mit jemandem Gebrauchtwagen.
(In Deutschland heißt es von älteren,
verschlissenen Autos, dass man sie
nur noch an Gastarbeiter verkaufen
könne, und für zwanzig Jahre alte
größere Autos gibt es auch die Bezeichnung „Gastarbeiterauto“.)
In zwei monumentalen Grafikserien
aus den achtziger Jahren hat diesen
Archetyp der malende Autodidakt
Dragutin Trumbetaš, auch sonst Beschreiber und Chronist der Gastarbeiterwelt, exemplarisch eingefangen. Seine zentrale Figur ist ein vereinsamter, sich selbst überlassener
Mann inmitten und „am Boden“
einer kalten und depersonalisierten
Zivilisation.
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1960er, 1970er, 1980er
Indessen wäre es gut, wenn es so wäre. Denn die Entfremdung, die Traurigkeit dieser Männer suggeriert auch
eine andere, eine helle Seite. Irgendwo wartet zu Hause eine treusorgende Frau auf sie, und die gute, sonnige
Heimat. Die virile Welt ohne Eros
und die erniedrigende Sexualität im
Gastarbeitrbordell wird sich dort in
einem reichen Spektrum positiver
Emotionen auflösen. Solche Männer werden sich entspannen, ihre
grotesk verkrampften Gesichter werden sich zu einem Lächeln verziehen:
Die erste Woche zu Hause werden sie
auf der Wiese mit den Kindern spielen, einen Spaziergang durchs Dorf
machen und sich herzlich mit den
Nachbarn begrüßen, im Zagreber
Arbeiterviertel werden sich alle um
sein Auto versammeln, das er entspannt wäscht, werden dies oder das
kommentieren, gemeinsam auf einen
gemišt – eine Gespritzten – und nach
dem Mittagessen alle zusammen ins
Dinamo-Stadion gehen, zum Spiel,
zur schönsten Nebensache der Welt.
Der ganz andere Sonntag: Der Gastarbeiter nimmt teil am fussballseligen
small talk, ihm wird die Karte abgerissen wie jedem anderen, und er findet endlich seinen Platz auf der überfüllten Tribüne unter seinen Leuten.
Zehn Minuten vor dem Anstoß wird
die Stimme des Stadionsprechers ihn
und alle anderen mit einem langsamen, erregenden Aufzählen der in
Kürze auflaufenden Dinamospieler
überschwemmen. Da, Kranjčar ist
aufs Feld gelaufen. Mit allen zusammen steht auch der Gastarbeiter
energisch auf und klatscht. Das sind
Unsere, das sind wir. Die Karte hat
ihn fast nichts gekostet, er ist in voller Kraft. Zu Hause, versteht sich,
wartet nach dem Spiel auf ihn die
junge Frau.
Aber die Welt ist nicht Kundera. Die
Vorstellung vom Gastarbeiter, der
seine Abwesenheit als Militärdienst
oder Schwerstarbeit erlebt, ist eine
psychologische Konstruktion, und
161
Dragutin Trumbetaš ist nun einmal
ein politisch engagierter Künstler,
der seine Gründe hat, seinen Protest
und sein Zeugnis extrem und drastisch zu formulieren. Kapitalismus
und kapitalistische Gesellschaft sind
Wörter aus dem ahistorischen staatlich-sozialistischen Diskurs, die nur
durch ein Spiel des Zufalls ihren festen Platz in dem Imaginarium gefunden haben, das sich in dem der hypermoderne marxistische Philosoph mit
Lehrstuhl an der Philosophischen Fakultät und der Viehhirte im abgelegenen dalmatinischen Bergland teilen völlig übereinstimmend – dass in
der kapitalistischen Welt des Westens
der Mensch entfremdet ist. Dragutin
Trumbetaš ist unser einziger Künstler, der sich konsequenterweise nicht
nur über das Gastarbeitertum, sondern über die Arbeiterthematik im
Allgemeinen geäußert hat. Irgendeine Rezeption, außer vereinzelten
Gesten Božo Biškupićs als Herausgeber seiner grafischen Mappen, hat er
nicht erlebt. Sie ist ausgeblieben. Die
Explosivität seines Themas hat einzig
das Theater KPGT Ljubiša Ristićs in
den achtziger Jahren genutzt.
Die suggestiven Zeichnungen von
Trumbetaš erschöpfen das Thema
eben doch nicht. Teils wegen des
männlichen Geschlechts seiner Helden, teils wegen der Assoziation mit
dem Gegenteil, das die Darstellungen vereinsamter Männer suggerieren: Automatisch rufen sie das Bild
der Frau (Mutter, Schwester) herauf, die den Herd hütet, während er
dort ist. Denn, vor allem aus jenen
Teilen Jugoslawiens, wo Emanzipation und Not die patriarchalen Tabus überwunden haben, gehen auch
Frauen zur Arbeit ins Ausland. Das
sind nicht nur Schwestern, Töchter von jemand, der bereits dort ist,
oder Mädchen, die zuerst saisonweise, dann für ständig in den Hotels
aufräumen oder als Kellnerinnen arbeiten werden, Krankenschwestern,
die im Westen wegen der schweren
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162
RELA
Nenad Popovi}: Schattenwelt
Nachtarbeit und der schlechten Bezahlung wie Gold gesucht werden. In
den Sechzigern und Siebzigern wurden – unter Assistenz unserer „Arbeitsämter“ – junge Frauen massenhaft rekrutiert und mit Zügen zur Arbeit an den großen Fließbändern der
Leichtindustrie transportiert. Auch
heutzutage genügt ein Besuch auf
einem größeren Busbahnhof. Mehr
als die Hälfte der Fahrgäste auf den
Gastarbeiterrouten sind Frauen. Ihre Unsichtbarkeit ist von Anfang an
eine zweifache. Frauen sind diskret.
Sowohl beim Weggang – bei ihnen
gibt es nicht jene minimale heroische
Beziehungsweise sie arbeitet, bis sie
heiratet oder maximal, bis sie zum
ersten Mal schwanger wird. Außerdem ist die Unsichtbarkeit der Gastarbeiterinnen auch eine Frage der
Grauzone, in der sie massenhaft beschäftigt werden. Sie bilden das unsichtbare Heer überwiegend illegal
beschäftigter Putzfrauen, Aufräumerinnen, Haushaltshilfen, Frauen, die
sich um Kinder, Ältere und Behinderte kümmern, Tellerwäscherinnen
in Restaurants und Kantinen, Büglerinnen in den Tiefen der chemischen
Reinigungen. Im Vergleich mit ihnen haben die Gastarbeiter vor dem
Nenad Popović
Aufladung, die man eventuell dem
Mann zuschreiben könnte, wenn er
hingeht, um etwas „mit seinen Händen“ zu machen – und bei der Rückkehr. Sie werden vom ersten Tag an
alles tun, um unauffällig zu bleiben.
Und daran werden Gott weiß auch
die Aufnahmeländer arbeiten. Nicht
nur, dass sie für schlechtere Arbeit
auch schlechter bezahlt werden, Unbehagen erweckt auch die Tatsache,
dass sie arbeiten. Zur Zeit des Wirtschaftsbooms im Westen – bis zu
den Neunzigern – arbeitet die Gattin nicht, sie ist Hausfrau, und der
Mann kümmert sich um das Geld.
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Münchner oder Frankfurter Hauptbahnhof zumindest eine Silhouette.
Sie haben nicht einmal das. Von ihnen weiß hier und da eine Nachbarin.
Dabei sind unsere Frauen für häusliche Arbeiten besonders geeignet. Sie
kommen aus ähnlich kodierten Zivilisationen, ihnen braucht man nicht
lange zu erklären, was aufgeräumt
und was für das Kind aufgewärmt
werden muss, ihnen kann man ohne
Probleme gebrauchte Kleidung überlassen, und sie verstehen etwas zu kochen, dessen feiner Geruch abends allen in die Nase steigt. Sie sind nicht
exotisch und leben in ähnlichen Fa-
TIONS
milienstrukturen wie die Hausfrau.
Bravo! Logisch, applaudieren bessere deutsche Damen und national
gesinnte Kroaten, die genau wissen,
dass die Kroaten keine Balkanesen
sind. Die kroatischen Raumpflegerinnen in Mailand und die saisonalen
Zimmermädchen in den Alpenhotels
sind der ultimative Beweis unseres
Europäertums – neben dem historischen unseres Akademikers Nedjeljko Mihanović, dass auch in unseren
Konzentrationslagern die Gefangenen viel musiziert haben. Die Kroatinnen sind die besten im VorhängeAbnehmen und -Waschen, beim Bodenschrubben, sie ziehen verlässlich
die Klospülung (nach sich).
Warum allerdings sollte der Gastarbeiter nicht glücklich sein? Ist nicht
der Augenblick des Ankommens auf
einem unbekannten Bahnhof auch
eine große Erleichterung? Der Weg
der Akulturation muss nichts Tragisches an sich haben. Einschluss in eine weitere Kultur, sich ihr aussetzen,
ist auch Reichtum. Das, was wir geerbt haben, dass was wir sind, muss
ja nicht jeder als Geschenk oder als
Verpflichtung empfinden. Schließlich und ganz persönlich genommen
ist nicht jede Familie aus der man
kommt als solche wunderbar. Noch
weniger alle Dörfer und Städte, „in
denen wir aufgewachsen sind“. Es
gibt Familien, die schlecht sind für
die Kinder, es gibt Liebesverhältnisse, aus denen man besser die Flucht
ergreift. Mit Sicherheit gibt es auch
solche, die, wenn sie in den Gastarbeiterzug steigen, nicht nur Trauer
empfinden. Sondern aufatmen. Ein
Leben von Null an beginnen können,
ist ein großes Privileg. Der Münchner Hauptbahnhof, so schrecklich er
ist, ist in diesem Fall eine unwichtige
Kulisse wie jede andere auch. Besonders für die unglücklichen, malträtierten Frauen, die aus einer im Wesentlichen patriarchalen Gesellschaft
kommen, bedeuten Distanz und Anonymität die Rettung. Ein anständi-
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RELA
TIONS
ges Leben draußen ist ja doch garantiert; im Falle der Frauen ist dieses
Minimum schon ein Haupttreffer.
In diesem reinen Zustand eines Menschen, der aufatmet, wenn er auf dem
Münchner Bahnhof aussteigt, ist der
Gastarbeiter von aller nationalen,
kulturellen und politischen Theologie befreit, er findet sich im Zustand der Laizität wieder. Außerhalb
der Reichweite von Propaganda und
Traditionen, trifft er seine Entscheidungen autonom: wie sich politisch
entscheiden – aber vor allem, dass er
die Politik ignorieren wird, welchen
Typ Privatleben er führen wird, welche Medien er verfolgen wird (beziehungsweise ob sie oder er sich überhaupt von jemandem eine Gehirnwäsche verpassen lässt). Unter dieser sehr wahrscheinlichen Annahme
von einem Gastarbeiter, der genau
nach dem existentialistischen Ideal
als freies und befreites Individuum
entscheidet, erfährt das Kriterium
des materiellen Erfolges als Sinn des
Weggehens und der Arbeit irgendwo
anders seine Relativierung par exellence. Im Mercedes zurückkehren hat
sein Pendant: sein Leben ruhig und
ohne viel Lärm verbringen. Allein,
in der Zufriedenheit der Arbeit, in
der heiligen Stille der Einsamkeit. Es
ist durchaus wahrscheinlich, dass es
Zehntausende Gastarbeiter gibt, die
sich in keinem einzigen Augenblick
gewünscht haben zurückzukehren.
Dass er zu Weihnachten Tränen vergießt und sich all seiner armen Verwandten als einsamer Seelen erinnert, handelt es sich vielleicht nur um
einen großen Irrtum: Warum soll es
nicht Menschen geben, die glücklich
sind, weil sie allein sind und weit weg
in der sogenannten fremden Welt?
Unter der Decke verkrochene Kroaten, denen es völlig reicht, die Stimmen aus der Heimat lediglich übers
Telefon zu hören?
2
1960er, 1970er, 1980er
Home, sweet home ist nämlich eine private und allgemeinmenschliche Kategorie. Sie ist die Existenz
im Persönlichen, die Verlängerung
des Seelischen. Eine gegen die Außenwelt durch Wände verschlossene Schachtel. Sie ist klein und groß,
begrenzt von der Wand einen Meter
neben dem Bett im Untermieterzimmer oder durch eine Gartenhecke, hinter der man Blumen züchtet. Vor dem verschlossenen Hoftor
des Familienhauses in einer ruhigen
Straße stehst du genauso draußen wie
vor der dünnen Zimmertür im Dachgeschoss, an der man nur zu klopfen
braucht, damit der ganze innere, geschützte Raum in sich zusammenfällt. Die Tür: im Kosovo, vor der
Intervention der NATO, sind Polizei und Soldaten in albanische Häuser eingedrungen, nachdem sie mit
Stiefeln die Türen eingetreten hatten,
und haben mit vorgehaltener Waffe Zwangsdurchsuchungen durchgeführt, Hausbewohner abgeführt.
Später, als die Gewalttäter vertrieben
und die Menschen zurückgekehrt
waren, sind Psychosen aufgetreten.
In ihren Zimmern haben die Menschen noch monatelang auf die Tür
gestarrt, vor allem die Frauen.
Es ist nicht so, dass einem Gastarbeiter niemand etwas Böses will. Von
ihm will niemand etwas. Er baut seine Schachtel in Frieden. Die soziale
Pentration ist fern. Ab sechzehn-nullnull herrscht Stille. Der Hauswirt
wird vielleicht einmal jedes halbe
Jahr an die Tür klopfen, wenn überhaupt. Später wirst du ihn jahrelang
nicht sehen – wenn du nicht willst.
Im Briefkasten gibt es auch nicht jene zwei, drei Rechnungen pro Monat. Alles geht automatisch über die
Bank. Geräuschlos. Der Gastarbeiter ist allein, natürlich. Aber er ist
auch in einer besseren Situation als
sein schwedischer Mitbürger, von
163
dem trotz allem in sozialer Hinsicht
etwas erwartet wird. Dass er bei der
freiwilligen Feuerwehr ist, dass er zuschauen kommt, wie sein Kind Fußball spielt, dass er etwas abzweigt,
wenn lokale Wohltätigkeitsveranstaltungen durchgeführt werden, dass
er am Leben der Pfarre teilnimmt.
Nördlich von Wallonien und vom
Main, in der protestantischen Welt,
heißen die Pfarren Gemeinden. Ihre Aktivitäten sind nicht nur religiöser Natur. Die Zugehörigkeit zu
dieser Gemeinschaft beweist man
nicht notwendigerweise durch sein
Erscheinen bei Messe, Gebet und
Gesang. In den protestantischen Kirchen laden Gemeinden und Pfarrer
die Bürger ein, innerhalb der Liturgie Predigten zu halten. Sie müssen
nicht Protestanten sein.
Der Gastarbeiter muss nicht einmal
das. Er ist weder expliziten noch
impliziten Erwartungen ausgesetzt.
Wenn der Schwede Atheist ist – hört
er auf zum Gottesdienst zu gehen,
er informiert den Pfarrer schriftlich,
dass er aus der Kirche ausgetreten ist
und hört auf Kirchensteuer zu zahlen – seine Mitbürger nehmen das
schweigend zur Kenntnis. Für den
Gastarbeiter gilt sogar das nicht. Nur
in der Schule gibt es ein Formular, in
das das Kind sein Glaubensbekenntnis einträgt. Aber nicht, um sich zu
identifizieren, sondern damit es nicht
irrtümlich zum Besuch von Stunden in konfessioneller Religionserziehung gezwungen wird.2
Die Freiheit wird entsprechend der
Persönlichkeit verwirklicht. In der
Schachtel kann alles Mögliche passieren. Die Wohnung kann für den Gastarbeiter nach zwanzig Jahren noch
immer eine Übergangslösung mit
Hotelcharakter sein: wenn er überhaupt nicht angekommen ist. Sie kann
sich auch in den Teil eines kleinen
kommunitären Biotops verwandeln,
Ich (nicht meine Eltern) habe mit vierzehn Jahren ein einfaches gelbliches Formular auf die Bank gelegt bekommen, auf dem es vier Rubriken gab: katholisch, protestantisch, jüdisch und andere. Es wurde vom Klassenlehrer eingesammelt, und fertig. Das war im Herbst 1964 im
Eichendorff-Gymnasium in Koblenz.
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164
Nenad Popovi}: Schattenwelt
wenn sich unter den dortigen Gastarbeitern, Kollegen und „Landsleuten“
aus derselben Stadt ein Netz menschlicher Beziehungen entwickelt, wenn
sich ein Rhythmus von gegenseitigen
Besuchen, Geselligkeiten, gemeinsamen Feiern, Hilfestellungen, Beratungen und Freundschaften einstellt
Die Schachtel, und sei sie auch das
schönste Haus, kann genauso ein Ort
des uwahren Lebens bleiben, auch
der Depression und Trauer – zu zweit,
aber es braucht auch nur ein Ehepartner traurig zu sein, das genügt. Die
völlige Freiheit der existentiellen Wahl
– ein Augenblick, den jeder Gastarbeiter erlebt – führt nicht notwendigerweise zum Biotop persönlichen
Glücks. Zu einem individuellen, von
innenher errichteten Idealtypus: dem
Gastarbeiter, der hinter sich die Tür
geschlossen hat und fernsieht.
Die zweite Heimat ist eine gute Heimat. Alles, was sie ihm geboten hat,
war gut. Ohne Erwartungen zu stellen. Am Gastarbeiter als dem neuen Nachbarn war es, dem Nachbarn zum Gruß zuzuwinken, aber er
konnte auch den Blick ohne Bemerkung zu Boden schlagen (ein „Ausländer“, hat seine Sorgen). Alles was
er in der neuen Umgebung erlebt
hat, ist in eine entleerte Seele gefallen. Aber auf keine „tabula rasa“. Die
neue Umgebung hat der Gastarbeiter
nach einer, die ihr vorausgegangen
ist, beschritten – und nach einer Enttäuschung. Seine psychologischen
Prädispositionen sind Mangel und
Trauer. Die neue Umgebung kann
ihn nicht enttäuschen, er weiß, dass
sie ihm nichts schuldet. Er kann sie
nicht liebgewinnen, aber er wird ihr
nie etwas ernstlich übelnehmen. Man
nennt ihn Gast, aber er weiß, dass
das nicht der Realität entspricht. Er
wurde nicht als Gast aufgenommen,
sondern als Rekonvaleszent. Nach einem Trauma. Nach dem freiwilligen
Weggang, dem schlimmsten.
Der glückliche Gastarbeiter: Hinter
geschlossenen Türen ist vielleicht das
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Glück der Einsamkeit, vielleicht das
Lecken der Wunden, aber auch etwas, von dem der Mensch nur träumen kann. Dass man vielleicht, wenn
es einem schwer ist bis zum Gehtnichtmehr, hinausgehen kann ins
Treppenhaus, an der Nachbartür läuten und sagen kann: Frau Nachbarin, ich würde Sie gern einmal zum
Kaffee einladen, wenn Sie möchten.
– Die Nachbarn werden sich freuen.
Sie werden zusagen. Du hast ihnen
ein Geschenk gemacht. Sie werden
dich kennenlernen.
Denn, was einst gewesen – was er
einst gewesen – ist gewesen. Weit zurück liegen Nostalgie, zerstörerische
Sehnsucht nach der Heimat, Unglücklichsein, das ihn gebeutelt hat
wie ein Fieber. Das Abarbeiten dieser
Leerträume hat ihn ein Jahr, zwei Jahre gequält und seine Seele beherrscht,
doch dann sind sie mit dem ersten
großen Urlaub geplatzt. Als die angesammelte Sehnsucht mit der Realität
zusammengestoßen ist. Dieses Großereignis hat sich lange und minutiös vorbereitet, in einer Atmosphäre
verkrampften Lustigkeit. Wie wird
es mir ergehen? Werde ich überhaupt
im Stande sein zurückzukehren? Und
dann wie ein Blitzschlag. Sonne, Hügel, Wälder, Düfte und Farben der
Erde, die du wie deine Hosentasche kennst, schon an der der Straße
siehst du die Dächer, die kennst, als
wären es deine. (In den Flugzeugen,
beim Landen, beugen sich die Gastarbeiter zu den Fenstern hin um zu
sehen, betrachten nachdenklich Dächer und Straßen, sehen das alte und
suchen mit dem Blick kleine Veränderungen, kommentieren das unterienander.) Warum lebe ich nicht
hier?! Oder Traurigkeit, Depression.
Abschaffung aller Sehnsüchte. Dann
sieht man traurige Bogenlampen,
verwitterte Stadtfassaden, stinkende
Taxis, Schmutz, im Dorf armselige,
verwohnte Häuschen, windschiefe
Zäune, Höfe mit ein paar Hühnern
und hier und da einem Truthahn,
RELA
TIONS
im Stall eine, zwei Kühe. Im aufgeräumten, frisch gebohnerten Wohnzimmer küsst du deine Mutter und
betrachtest parallel dazu, geschockt,
ihr ausgezehrtes Gesicht, die Tränen,
die ihr über die harte, fast lederartige
Haut rinnen, und nicht über weiche,
entspannte Wangen. „Geht es euch
gut?“, fragt sie dich, und dir ist es unangenehm. Nach zwei, drei Minuten
sinnlosen Austauschens von Informationen, wie es wem gehe – wird
die Mutter (oder der Bruder) unterbrechen: „Dass du es weißt, jetzt haben wir auch einen Supermarkt. Er
ist nicht so groß wie bei euch, aber
er hat alles.“
Schwer fällt das Weggehen nach dem
ersten großen Besuch. In zwei, drei
Wochen hast du dich unmerklich
wieder an alles gewöhnt, registrierst
du nicht mehr das, was du bei deiner Ankunft gesehen hast. Die ersten Tage hast du gesagt „hier ist es
heiß“, nach fünf Tagen sagst du „es
ist heiß“. Und dann der Abschied,
der fast noch schwerer fällt als der
ein Jahr zuvor, als du weggegangen
bist. Jetzt gehst du wirklich weg. Du
kehrst zurück. Hierher wirst du nur
noch kommen. Wenn du dem Dorf
den Rücken kehrst, ist die qualvolle
Nostalgie aus den ersten Jahren ausgeheilt. Mit deiner Frau sprichst du
im Flugzeug darüber, wann man zurückkehren solle. Du beginnst über
Zeitabstände von fünf Jahren zu sprechen, ihr sagt zehn Jahre, aber bloß
noch als das denkbar längste, äußerste Maß, das außerhalb des real Vorstellbaren liegt. Während ihr euch
unterhaltet, sitzt eure Tochter teilnahmslos auf ihrem Sitz. Sie denkt
an ihre Freunde aus der Klasse. In
drei Tagen beginnt die Schule.
In dieser Hinsicht trüben die in die
Heimat Zurückkehrenden nur das
Bild, weil sie herausragen. Sie sind
sichtbar und entsprechen den Phantasien der Zeitweiligkeit, des glücklichen Ausgangs, der Lösbarkeit. Aber
die Frage stellt sich, nach jenen die
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TIONS
nicht zurückkehren. Leise, diskret
stehlen sie sich aus dem Horizont
der Erwartung und des existenziellen Genres „Gastarbeiter“. Der Umstand, dass man sie zu Hause dann
auch schrittweise vergisst – die Tante,
die wir in Frankfurt haben, die das
ganze Leben Krankenschwester war;
ojeh, der Vetter in Schweden – für
sie kann das eine Wohltat sein. Die
Sprache ist hier genau: jene Tante,
jener Vetter leben ihr eigenes Leben.
Da die Nation keinerlei Beziehung
zu den Gastarbeitern hat, stellt ihr
die schweigende Mehrheit dafür in
gewisser Weise die Rechnung aus. Sie
sind eigentlich emigriert, nur sind sie
in ihr privates Leben emigriert. Auf
das Schließen der Tür hinter sich, auf
private Ruhe hat jeder ein Anrecht.
Rationalität hat sich vom Augenblick
des Weggehens/des Ankommens fast
auf das gesamtes Innenleben gelegt,
hat ihm/hat ihr das „Recht“ auf tiefe geteilte Emotionen beschnitten.
Es gibt keinen Gastarbeiter-Blues
unserer Tage, auch wenn es das Lebensgefühl gewiss dafür vorhanden
ist. Schließlich ist in den Pariser Banlieues ist ein autochthoner Rap entstanden. Die Erklärung liegt wohl
darin, dass die „Rationalität“ des existentiellen Zustandes als Gastarbeiter
jedoch ganze Bereiche des Innenlebens anästhesiert. Das ausschließlich arbeitsbezogene funktionale Leben schliesst den edlen Glanz tiefer
Emotionen aus. Der Gastarbeiter
bezahlt seinen Heroismus mit einer
auf das Praktische und Seichte reduzierten Seele, indem er sich weder
Sentimentalität noch Selbstmitleid
erlaubt. Selbst Emigranten, Auswanderer nach Übersee haben es auf eine
perverse Weise leichter. Ihr Bruch mit
dem ersten Leben war radikal und
für immer; er bedeutete zugleich den
Beginn eines neuen und anderen: the
second chance. Der Gastarbeiter als
Emigrant in die Nähe lebt hingegen
in ein Netz der Fluiditäten aus Zeitweiligkeit, Halbdistanz, Weggang ge-
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1960er, 1970er, 1980er
fangen, der nicht sofort Bruch oder
Zurücklassen bedeuten muss, aber
ebenso ein Ankommen im anderen
Leben. Alles Wichtige in seinem Leben kann der Gastarbeiter in Anführungszeichen setzen: „Weggang“,
„Zeitweiligkeit“, „anderes Leben“,
„Zurücklassen“, „Heimat“, „Ferne“,
„Rückkehr“, „Dableiben“. Der Gastarbeiter lebt eine Welt ohne Katharsis. Ihn betrifft das Frühere nicht
mehr, ihn betrifft das Jetzige noch
nicht, oder nur technisch. Selbst der
fünfte Akt des Dramas ist ein Gegenstand des Planens: Vielleicht kehre
ich dorthin zurück, vielleicht bleibe
165
re Identitäsarbeit, fast ein Martyrium. Die Eroberung und Aneignung
einer neuen Sprache und neuer Kodes des Alltagslebens und der Kultur
sind alles andere als angenehm und
verlangen totale seelische Anstrengung. Die ganze Zeit heißt das Sich
zügeln, Autokorrekturen und weitreichende Negationen, dessen was
man ist. So weit man das war; so
weit man mit fünfundzwanzig oder
dreißig Jahren geformt ist, wenn zum
Beispiel das letzte Bildungserlebnis in
der Heimat die Ableistung des Militärdienstes war, die JNA, die Jugoslawische Volksarmee. Die neue Kul-
Nenad Popović
ich hier. Aber auch im letzteren Fall
werde ich mich doch dort begraben
lassen. Dort haben wir ein Grab. (Im
Dialekt der Schnulzen kroatischer Musikfestivals: Hier bist du zu Haus.)
Aus dieser Perspektive ist die Situation faktischer Einsamkeit, in der
man die Liebe zu seinen Angehörigen nur noch mittels Geld erweisen
kann als Figur nur logisch. Es ist eien Katharsis, wenn auch in einem
Monodrama.
Denn, als glücklicher Gastarbeiter zu
enden, ist auch verdient. Sie haben
sich abgearbeitet, die Männer und
Frauen. Nicht nur bei ihrem Arbeitgeber. Hinter ihnen liegt eine schwe-
tur und Sprache korrigieren nicht
nur oder verändern – in unserem
Fall füllen sie womöglich erst die
inneren Leerräume. Es gibt einen
neuen Imperativ des eigenen Überlebens und Fortschrietens. An dieser persönlichen Stunde Null arbeitet – im schlechten Fall – allerdings
auch die neue Umgebung: Nachdem
man dort angelangt ist, wo man nun
einmal angelangt ist, als stiller Sklave, der glücklich ist, dass er Arbeit
bekommen hat, ist der Gastarbeiter
auf der Arbeit das am niedrigsten
rangierende Wesen. Sofern er kein
Glück hat, wendet sich der Vorgesetzte an ihn wie an einen Idioten,
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RELA
Nenad Popovi}: Schattenwelt
Nenad Popović
mit einfachen Worten mit Ausrufezeichen. Im präpotenten Befehlston
– die Proletarier- und Arbeitersolidarität sind wahrlich grenzenlos – und
im Dialekt, mit dem er sich dem
Gastarbeiter zuwendet, spiegelt sich
seine Sprachlosigkeit wortwörtlich.
Er kommandiert ihn auf eine Weise,
wie sich Eltern an Kinder wenden,
die noch nicht sprechen können.
Wie seinerzeit in der Kommunikation zwischen Weißen und Schwarzen
werden seine eigenen Ausdrucksversuche verhöhnt: Machen! Kommen!
Arbeiten! Der Vorgesetzte oder Eingeborene ist mit dem Gastarbeiter
per „du“. Du kommen! Du arbeiten!
Du machen! Das Gastarbeiter-Pidgin
hat deshalb teilweise dieselben qualvollen Wurzel wie die Sprache der
Schwarzen oder der Kreolen. Mit
seinen dreißig Jahren wird der hilflose Gastarbeiter am Fließband in den
Zustand eines Kindes zurückversetzt.
Er verfolgt die Lippen, die ihm etwas
unverständliches mitteilen und ihn
herumkommandieren; er traut sich
nicht zu antworten, er kann nicht
antworten – er kann nur parieren.
Eine komische Puppe, die mit dem
Kopf nickt. Da kann schon mal ein
brüllendes Lachen durch die ganze
Halle tosen, wie dumm er ist.
3
Doch in gleicher Weise identitätsmäßig anstrengend ist die positive
Variante: Wollen Sie nicht mit uns
ein Bier trinken? Warum fahren Sie
mit dem Bus, wir finden einen Gebrauchtwagen für Sie? Warum ist
Ihre Frau in Jugoslawien geblieben,
warum holen Sie sie nicht her? Diese
zweite, die trotz allem die Regel ist,
ist auch entscheidend für den „Sieg“
der neuen Identität. Denn: Warum
soll ich nicht mit ihnen ein Bier trinken? Warum soll ich mir nicht ein
Auto kaufen wie sie? Warum soll ich
meine Frau nicht nachholen und sie
ihnen vorstellen?
Daneben ist der Gastarbeiter selbst
das Subjekt seiner Akulturation. Wenn
er sich bewusst für das Weggehen entschieden hat, hat er mit allem hinter
sich gebrochen. Für Romantische ist
dieser selbstgeschaffene neue Niemand tragisch. Aber er ist in Wirklichkeit zum reinen Ich geworden,
ein Niemand im positiven Sinne.
Er ist nicht ein Teil des Kollektivs,
mehr ein wir-Teil. – Was im übrigen für das verlassene Kollektiv
zu Hause bis zum Physischen unerträglich ist: Man bekommt Krämpfe vor Schmerz. In der zeitgenössischen mittelalterlichen Rhetorik ist
der Kroate im Ausland ein Teil des
TIONS
gemarterten Körpers: „ein lebendes,
verwundetes Kroatien“.3
Ein weiterer Antriebsbrennstoff des
Bewusstseins, dass man nur noch Ich
ist: aus Kroatien bekommt der gastarbeiter keine Briefe, in denen steht
„Komm zurück“. An den Gastarbeiter schreibt man: „Wie geht es dir,
wann kommst du zu Besuch?“
Das erzeugt Schmerz.
Dem Gastarbeiter Jozo ist es jedoch
vermutlich längst egal, was er ist: Vetter, Kroate oder Niemand. Vielleicht
hat sich für ihn seine erste Identität, jene sogenannte „tiefe“, die darunter, schon längst als leerer alter
Sack herausgestellt. Warum sollte
ausgerechnet er mit seiner doppelten Erfahrung nicht im Stande sein
zu erkennen, dass alles Identitäten
nur leere Säcke sind? Weil er nicht
studiert hat?
Die beiden Extreme, das künstliche
Ausgrenzen durch Begriffe wie „Diaspora“ ebenso wie das raunende
Beschwören des gemeinsamen nationalen Körpers, sind kulturelle Fehlschüsse. Der Gastarbeiter bewegt sich
in Europa auf die Art und Weise der
einstigen wandernden Handwerksgesellen und Handeslreisenden. Auch
auf dem längsten europäischen Weg
zur Maschine wandert er von Region zu Region. Die ersten sind ihm
nahe. Wenn der Gastrabeiter auch
vom Dorf kommt, weiß er, wo seine (engere oder weitere) Region aufhört. Aus Dalmatien nach Italien
zu reisen und in Ventimiglia nach
Frankreich überzuwechseln bleibt im
Horizont der erwarteten regionalen Fortsetzungen und Unterschiede; über Varaždin nach Wien oder
über Ljubljana nach Bayern (und
nicht nach Deutschland) zu gehen,
ist kein Sprung ins Unbekannte und
verlangt keine Änderung oder tragische Verleugnung der eigenen Identität. Fremdheit, Besonderheit, Andersartigkeit sind ein europäischer
Živko Kustić: Nisu oni „lažna dijaspora“, Jutarnji list, 5. 10. 2007.
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Naturzustand. Die Fahrt mit den
Gastarbeiterzügen, die langen Autofahrten und der Halbschlaf in den
Autobussen sind noch immer Formen des alten Fußwanderns, von
Stadt zu Stadt, von Land zu Land.
Ich bin hier in Deutschland, kann
der Gastarbeiter am Telefon sagen,
ich bin hier in Amerika – nicht. Amerika ist nicht hier.
Virgil Tibbs dagegen erlebt ein großes
Drama, bevor er hinter den Strukturen (eines anderen Staates, der staatlichen Obrigkeit und was dazu gehört)
lediglich eine andersgeartete Region,
eine Fortsetzung und eine Variante
seiner Heimat erkennt. Das widerfährt ihm erst, als er aus dem klimatisierten Express aussteigt, der lautlos dahingleitet und den Kontinent
durchmisst. Freilich sagt sein Gegenspieler, der Sheriff Bill Gillespie: „Du
bist genauso wie ich.“ Gillespie sagt
eigentlich: wie wir alle. Was für Europa normal ist, dass man unterschiedlich und heimatverbunden zugleich
ist, ist in Amerika das romantische
und stark metaphorische Genre einer
Ausnahmesituation. Im Unterschied
von diesem Drama über Territorium,
Staat und Individuum („In der Hitze
der Nacht“), an deren Anfang Sidney
Poitier übrigens auch gebeugt geht,
mit abgerissener Sprache und fahrigen Bewegungen wie auf den Zeichnungen von Trumbetaš, ist der europäische „Yol – Der Weg“ von Yılmaz
Güney eine Komödie.
Die uralte Wanderlust Europas begann sich auch auf auf die Luft zu
erstrecken seit der Einführung von
Charterflügen von Jugoslawien nach
Deutschland. Diese Charterflüge waren nicht keine echten, in Wirklichkeit waren sie Linienflüge der JAT,
der Jugoslawischen Aerotransportgesellschaft, die für Gastarbieter eingerichtet wurden. Und rasch wurden
sie zu einer neuen Form des uralten
volkstümlichen Reisens. Die Szenen
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1960er, 1970er, 1980er
vom Bahnhof übersiedelten auf die
Flughäfen. Es flogen plötzlich nicht
nur die Gastarbeiter, sondern auch
ihre Verwandten, die zu Besuch kamen, ältere Menschen, „Omas und
Opas“, Kinder, Ehefrauen. Der Zagreber Flughafen, bis dahin reserviert für priveligeirte Bürger, Leute
vom Außenhandel und Ausländer,
wurde überflutet von Arbeitern und
Bauern, die bisher auf Eisenbahnstationen und Busbahnhöfe angewiesen waren. Das Markenzeichen
des fliegenden kroatischen Proletariats: bescheidene Kleidung, bei älteren Frauen auch Volkstrachten beziehungsweise schwarze Kopftücher,
billige Koffer, große Reisetaschen,
Unsicherheit in den langen Reihen
beim check-in, Stille an den gates, im
Flugzeug Unbeholfenheit beim Auffinden der Sitznummern, während
des Flugs beklommenes Schweigen,
unterbrochen nur vom Weinen der
kleinen Kinder, beim Landen, vor allem auf dem Rückflug, Händeklatschen für den Piloten und allgemeine Freude, dass das Flugzeug wieder
über den Asphalt rattert. In der Anflughalle vor den automatischen Türen der Ausgänge in die große Halle an die hundert geduldig wartende Verwandte: archaischer Empfang
mit Tränen und Lachen, Umarmen,
Abnehmen von Koffer, Taschen und
Schachteln. Es fehlten nur noch Bassgeige und Akkordeon. Aber das ging
nicht. Nicht vor den Augen der unterbezahlten und halb durchgefrorenen Angestellten hinter den in allen „Weltfarben“ leuchtenden Schaltern der Rent-a-cars, Luftfahrtkompanien und Wechselstuben. Bass und
Akkordeon hätten die Lebenslüge
dieser armseligen Szenografie eines
Entwicklungslandes bloßgestellt, wo
man nicht weiß, wer mehr erniedrigt
ist: der blasse Polizist, der in Zagreb
zur Untermiete wohnt und der mit
Eiseskälte die Reisenden kontrollie-
167
ren muss, der Zollbeamte, der die
komprimierte Traurigkeit des gleichermaßen armseligen wie müden
Reisenden durchwühlen muss (und
obendrein vor dem in der Schlange
wartenden stehenden gutgekleideten, großgewachsenen Deutschen,
der erhobenen Augenbrauen der Szene gegenseitiger Erniedrigung zusieht). Nein, Bassgeige und Akkordeon gingen hier nicht. Denn hier
würde Schnaps fließen, Glücksgefühle würden entstehen, die Gefangenen des Systems würden sich verbrüdern in dieser Revolution, und
auch jener Herr aus Deuschland würde sich betrinken, selbstverständlich.
Die Revolution gegen die perversen
Choreografie, die auf den Schultern
des Gastarbeiters ruht, durfte nicht
stattfinden. Eine Danziger Leninwerft vermittels Bassgeige, Singen
und Jauchzen hätte – und würde
heute noch – die erzwungene kulturelle Traurigkeit als das Mittel zur
Disziplinierung des arbeitenden Volkes aufheben.
Nein, vom Gastrabeiter erwartet man,
dass er innerlich tot und eingemottet ist. Einen Menschen, der ein nur
funktionales Minimum an Anpassung und eine Unterkunft in der Baracke, im Getto akzeptiert. Dass sein
Leben, seine ureiggene biographische
Zeit während im Ausland suspendiert ist. Dass seine Abwesenheit eine
zweifache sei: Abwesenheit von der
Heimat und Abwesenheit vom Ort
des Lebens draußen. Er soll ein unlebender Mensch, ein lebender Toter
sein: Das ist der ideale Gastarbeiter –
erwünscht wie in der Heimat so auch
in Europa. Ohne jede Bindung an das
Milieu, in dem er (nicht) lebt, und
mit der Seele zu Hause geblieben: eine perfekte Maschine zum Geldverdienen und -überweisen.
Aus dem Kroatischen von
Klaus Detlef Olof
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168
Der gefundene Wohlstand
Alltag und Konsumkultur
in Kroatien der 1970er und 1980er Jahre*
Igor Duda
Übungen in Konsumkultur
D
ie Industrielle Revolution hat
zwei deutlich voneinander abgegrenzte zeitliche Abläufe – Arbeitszeit und Freizeit – geschaffen und sowohl die Zeit, als auch den Raum der
Arbeit von der Zeit und dem Raum
des Müßiggangs getrennt.1 Die Arbeitszeit wurde zu jener Zeit, die für
die Produktion, sowie das Verdienen und Erringen von all jenem bestimmt ist, was die Arbeit mit sich
trägt: des Gehalts und anderer Arbeitsrechte, etwa des Rechts auf tägliche, wöchentliche und jährliche
Freizeit. Die Freizeit wurde zur Zeit
des Konsumierens, sowohl des verdienten Gehalts, als auch des Rechts
auf die von jeglicher Form organisierter Arbeit befreite Zeit. Die
Verkürzung von Arbeitstag und Arbeitswoche, sowie die Erhöhung der
Löhne erweiterten die Grenzen und
Möglichkeiten des Verbringens der
Freizeit. Da Massenproduktion ohne
Massenkonsum nicht auskommen
kann, wurde notwendigerweise auch
das Angebot an jenen Inhalten immer reichhaltiger, die den Konsum
ermöglichen und antreiben können.
In der zweiten Hälfte des zwanzigsten
IGOR DUDA (Pula, 1977), Historiker, Junior Researcher an der Universität
Juraj Dobrila in Pula. An der Philosophischen Fakultät in Zagreb studierte
er Geschichte und Kroatistik. Magister- und Doktorstudium in Geschichte.
Aufenthalt an der Universität Oxford dank dem Stipendium OSI/Chevening Scholarship. Mitarbeit am Projekt Tourism and Leisure Cultures
in Socialist Yugoslavia der Universität Graz. Zusammenarbeit mit dem
Lexikographischen Institut Miroslav Krleža in Zagreb. Interessensgebiete:
soziale Geschichte und Alltagsgeschichte in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts. Autor zweier Bücher: U potrazi za blagostanjem. O povijesti
dokolice i potrošačkog društva u Hrvatskoj 1950-ih i 1960-ih (Auf der Suche
nach Wohlstand. Über die Geschichte des Müßiggangs und der Konsumgesellschaft in Kroatien der 1950er und 1960er Jahre, 2005) und Pronađeno
blagostanje. Svakodnevni život i potrošačka kultura u Hrvatskoj 1970-ih
i 1980-ih (Der gefundene Wohlstand. Alltagsleben und Konsumkultur in
Kroatien der 1970er und 1980er Jahre, 2010, Kiklop-Preis für das wissenschaftliche Buch des Jahres).
Jahrhunderts wurde die Freizeit erfolgreich vom Einzelhandelsnetz mit
seinen verschiedenen spezialisierten
Geschäften, Selbstbedienungsläden
und Kaufhäusern ausgefüllt, im Westen seit den achtziger Jahren auch von
großen Handelszentren. Mit Restaurants, Gaststätten, Tavernen, Kaffeehäusern, Bars, Buffets, Bistros und
ähnlichen Orten trumpfte das Gastgewerbe auf. Der Tourismus wurde in
den sechziger Jahren zur müßiggängerischen Massentätigkeit, die wiederum ohne die Errichtung von Hotels,
touristischen Siedlungen und anderen Inhalten undenkbar wäre. Sport
und Rekreation, elitäre und Massenkultur, Printmedien, Rundfunk,
Musik, Film und Unterhaltungsindustrie gehören ebenfalls zu jenen
Inhalten, ohne die die Freizeitgestaltung und die Konsumkultur der
* „Srednja Europa“, Zagreb, 2010
Siehe Duda, Igor, Auf der Suche nach Wohlstand. Über die Geschichte des Müßiggangs und der Konsumgesellschaft in Kroatien der 1950er und
1960er Jahre, Srednja Europa, Zagreb, 2005, 24-29, sowie die dort angeführte Literatur.
1
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TIONS
zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts undenkbar wären.2
Für das Auskosten der Inhalte des konsumorientierten Müßiggangs blieb
den kroatischen Arbeitern der siebziger und achtziger Jahre genügend
Zeit übrig, jedenfalls in jenem Maße, in dem die halbstündige tägliche
Pause während der Arbeitszeig, die
42stunden-Woche und der beinahe
einmonatige jährliche Urlaub das
zuließen. Die Fülle an Inhalten und
die Menge an finanziellen Mitteln,
mit denen diese Zeit auszufüllen war,
entsprachen gewiss nicht jedermanns
Bedürfnissen, es gab aber Möglichkeiten, etwas Anderes oder Besseres
im näher oder weiter gelegenen Ausland zu finden und die Bezahlung zu
verschieben oder in mehrere Raten
zu zerteilen. Die Arbeit war wichtig, der Konsum jedoch war noch
wichtiger, sodass er aus der Freizeit
in die Arbeitszeit überlief. Davon
zeugt auch eine Titelseite der Zeitung VUS aus dem Jahr 1975 mit
der Aufschrift Wer spaziert während
der Arbeitszeit in der Stadt herum?,
während sich der dazugehörige, auf
journalistischer Beobachtung und
den Untersuchungen des Zagreber
Instituts für Arbeitsproduktivität begründete Artikel mit der besorgniserregenden Einschätzung befasst, der
zufolge die Arbeitnehmer die Hälfte
ihrer Arbeitszeit am Arbeitsplatz oder
anderen Orten mit Müßiggehen verbracht haben.3 Die damalige Untersuchung hatte gezeigt, die „Sprünge“
wohin und wann immer es nötig war
– zum Beispiel zum Einkaufen, zum
Friseur, zur Autowerkstatt, auf einen
2
3
4
5
6
7
8
1960er, 1970er, 1980er
Kaffee oder zwecks Erledigung von
etwas, was am Nachmittag wegen
der Arbeit verschiedener Behörden
oder dem Aufpassen auf die eigenen Kinder nicht möglich sein wird
– zu einer Gewohnheit wurden, die
die Vorgesetzten nicht beunruhigte, da sie auch selbst auf diese Weise
verfuhren, während die Arbeit daran keinerlei Schaden nahm, da die
niedrigere Produktivität durch den
Überschuss an Angestellten gedeckt
wurde. Im Unterschied zu den Beschwerden bezüglich des nächtlichen
Vergnügungsangebots, war dies mit
im täglichen Gastgewerbe nicht der
„Wer spaziert in der Arbeitszeit
durch die Stadt?“, VUS, 1975.
Fall: die Cafés erstreckten sich über
sonnige Terrassen, wurden zu Treffpunkten und übernahmen die soziale Rolle der städtischen Corsos, was
zu einer Überfüllung der Innenstädte in den späten Vormittagsstunden
169
führte, während der Arbeitszeit verschiedener Angestellter, deren Büros
sich in unmittelbarer Nähe befanden.4 So dauerte der Arbeitstag für
manche nicht acht, sondern Schätzungen zufolge vier bis sechs Stunden.5 Soziologen hatten ausgerechnet, die Arbeiter würden nicht konstant arbeiten, würden nötigenfalls
auch Übersunden machen, sich ansonsten aber an die Devise „werden
wir schon erledigen“ halten. Ferner seien die Arbeiter nicht Teil der
modernen industriellen Arbeitskultur, sondern ließen sich vom vorindustriellen Arbeitsethos leiten, der
dem zwischenmenschlichen Kontakt
mehr Bedeutung zukommen lässt als
der Arbeitsdisziplin.6 Bei der Arbeit
im Ausland verhielten sie sich nicht
so, zu Hause jedoch akzeptierten sie
die westeuropäischen Regeln nicht,
sondern beriefen sich auf den Ausspruch: Ich kann nicht so wenig arbeiten, wie wenig sie mich bezahlen können.7 Die nicht zufriedenstellenden
Gehälter trieben viele dazu, zusätzlich außerhalb des Arbeitsplatzes zu
arbeiten, sodass der Nebenverdienst
oft Ursprung eines problematischen
konsumorientierten Verhaltens war:
„Wir wollen innerhalb einer einzigen
Generation in rasendem Wettlauf
an die Spitze der konsumorientierten Zivilisation gelangen und das ist
der Hintergrund unserer enormen
Tüchtigkeit. Dabei haben sich von
uns unser übernommenes bäuerliches Durchhaltevermögen und die
Ungeduld und Habsucht von Emporkömmlingen vereinigt!“8 Jenseits
jeglicher Arbeitsdisziplin blieb den
Siehe z. B. Prost, Antoine, Gérard Vincent, Hrsg., A History of Private Life. Riddles of Identity in Modern Times, The Belknap Press of Harvard
University Press, Cambridge (Massachusetts), London (England), 1991; Marwick, Arthur, The Arts in the West since 1945, Oxford University
Press, Oxford, 2002.
„Wer spaziert während der Arbeitszeit in der Stadt herum?: Aus dem Café zum Friseur...“, VUS, 16. Juli 1975.
„Panoptikum in den Cafes“, Start, 8. April 1970; „Das triste, nächtliche Zagreb“, Start, 14. März 1973.
„Arbeitszeit: Mitten in der Arbeit – ohne Arbeit“, VUS, 28. Mai 1977.
„Arbeiten wir etwas zu viel?“, VUS, 24. September 1975.
„Kürzere Arbeitszeit – ja oder nein?“, Radničke novine (RN), 18. Juli 1988. Vgl. auch Goldstein, Hrvatska 1918.-2008., EPH und Novi Liber,
Zagreb, 2008, 595; Radelić, Zdenko, Hrvatska u Jugoslaviji 1945.-1991. Od zajedništva do razlaza, Hrvatski institut za povijest – Školska knjiga,
Zagreb, 2006, 506.
„Arbeiten wir etwas zu viel?“, VUS, 24. September 1975.
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170
Igor Duda: Der gefundene Wohlstand
Arbeitern, die die Zeit zwischen sieben und fünfzehn Uhr bei der Arbeit
verbracht hatten, genügend Zeit übrig, die sie ohne schlechtes Gewissen als Freizeit verbringen konnten.
Seit 1983 die Sommerzeit eingeführt
wurde, schien der Tag länger, sodass
es auch mehr Zeit für Aktivitäten
gab, die vom Tageslicht abhingen.
Andererseits waren die nachmittäglichen Spaziergänge durch die Innenstädte im Licht der Auslagen und
Leuchtaufschriften wahrscheinlich
beeindruckender, wobei der Einkaufsund Schaufensterbummel 1997 von
14 Prozent aller Befragten in Kroatien, vornehmlich jener im Alter zwischen 18 und 34 Jahren, als wichtigste Freizeitaktivität genannt wurde.9
Dies lag zwar unter dem gesamtjugoslawischen Durchschnitt von 20 Prozent, aber deutlich über jenem kroatischen aus dem Krisenjahr 1984, als
nur 8 Prozent der Befragten in die
großen gläsernen Schaufenster blickte – allerdings immer noch 1 Prozent
mehr als auf Bundesebene.10 Dort,
wo es keine Schaufenster gab, etwa
in den neuen Wohlsiedlungen von
Neu-Zagreb, verspürten die Konsumenten, wie etwa der 25jährige
Präzisionsmechaniker Stjepan Ilijaž,
nur Leere: „Es gibt keine Geschäfte
und keine Auslagen, denn diese ziehen die Menschen an und beleben
die Stadt. Natürlich ähnelt hier dann
alles überdimensionalen Schlafstädten.“11 Hinter den Schaufenstern lagen die Geschäfte, deren Arbeitszeit
ebenfalls heftig diskutiert wurde. Es
war üblich, dass die Lebensmittelgeschäfte den ganzen Tag auf hatten, während die übrigen oft in zwei
9
10
11
12
13
14
15
16
Schichten arbeiteten, zum Beispiel
von acht bis zwölf und von siebzehn
bis zwanzig Uhr, oder aber von sieben bis dreizehn und von siebzehn
bis neunzehn Uhr. Die ganztägige
Arbeitszeit war einer der Vorzüge,
mit denen 1971 die Warenhauskette „Nama“ in Zagreb, Bjelovar und
Sisak ihre Kundschaft umwarb: „Die
Warenhäuser arbeiten ununterbrochen von 7 bis 20 Uhr und können
Ihnen mit ihrer Auswahl aus über
46.000 Gebrauchsartikeln sowie ihrer 25jährigen Tradition ungefähr
dasselbe Assortiment bieten, wie jedes beliebige Kaufhaus in Europa.“12
Samstagnachmittags und sonntags
hatten nur wenige Lebensmittelgeschäfte offen, während alle anderen
geschlossen waren. Eine Plage war
dies 1976 für die Zagreber Pharmazeutin Mira Helman, die den Sonntag mit dem Entdecken und Kaufen
neuer Erzeugnisse verbringen wollte: „Im Laufe der Woche eile ich immer zur Arbeit und habe auch andere Verpflichtungen. Sonntags würde
ich gerne Geschäfte besuchen und
einkaufen. An diesem Tag habe ich
es nicht eilig, könnte in Ruhe kaufen, was ich benötige, aber auch das,
wovon ich gar nicht weiß, dass es in
unseren Geschäften existiert, weil ich
keine Zeit habe, mir deren Angebot
anzusehen.“13 Genauso dachte auch
die Angestellte Štefica Vistrička: „Es
wäre viel praktischer, wenn sonnund feiertags in den größeren Städten
statt nur einiger Selbstbedienungsläden auch ein Kaufhaus offen hätte, in
dem es auch andere Dinge zu kaufen
gäbe las nur Lebensmittel.“14 Es gab
Konsumenten, die nachts einkaufen
RELA
TIONS
wollten, diese Möglichkeit zählte jedoch zu den Ausnahmen, die nur
in den Hauptstädten der jugoslawischen Teilrepubliken anzutreffen waren. Mitte der siebziger Jahre konnte
in Belgrad und Skopje nachts eingekauft werden, sodass die Zagreber
Meiden beklagten, dass die Unikonzum-Selbstbedienung in der neueröffneten Passage beim Zagreber Hauptbahnhof nur vom fünf bis dreiundzwanzig Uhr offen hatte, obwohl
man am Abend dort kaum noch einen freien Einkaufskorb bekommen
konnte, aber eine derartige Arbeitszeitenregelung stand mit der Gesellschaftlichen Übereinkunft zwischen
der Wirtschaftskammer, dem Gemeinderat und der Handelsgewerkschaft in Einklang.15
Wenn auch nicht nachts, so waren
die Einkaufsmöglichkeiten nach der
Zahl der Geschäfte gemessen tagsüber
immer größer. Zwischen 1970 und
1990 hatte sich das Einzelhandelsnetz in Kroatien um 50 Prozent vergrößert.16 1970 umfasste es 15.651
Geschäfte, 1975 17.776, während
die Zahl der Geschäfte bis 1980 auf
18.313 angestiegen war. Das langsamere Wachstum in der ersten Hälfte
der achtziger Jahre führte bis 1985
zu nur 18.980 Geschäften, wurde
aber bis Ende des Jahrzehnts ausgeglichen, sodass es 1989 20.262 und
1990 sogar 22.088 Geschäfte gab.
Außer in gewöhnlichen Geschäften
konnte – wenngleich diese Möglichkeit schwächer entwickelt war – auch
über Kataloge, wie dem deutschen
Quelle, oder aber in Konsignationslagern einheimischer Außenhandelsbetriebe, sowie zollfreien Geschäf-
Die gewohnte Art der Freizeitgestaltung, Tržišne informacije (TRIN), 1-2, 1979., 50-51; Gewohnheiten und Aktivitäten der Bevölkerung nach
Altersstruktur, TRIN, 1-2, 1979, 55.
Sabol, Vesna, „Wie verbringt man Freizeit“, TRIN, 3, 1985, 69-76.
„Sie fragen – wir antworten: Komfortable Wohnungen oder nur Schlafstätten?“, VUS, 7. Mai 1975.
„Auswahl aus dem reichhaltigen Assortiment der Nama-Warenhäuser“, Vikend, 17. Dezember 1971.
„Konsumentenschutz: Nachtarbeit für Geschäfte verboten!?“, VUS, 11. Dezember 1976.
Ebenda.
„Manche mögen es Nachts (nicht)“, VUS, 10. Juli 197.; „Konsumentenschutz: Nachtarbeit für Geschäfte verboten!?“, VUS, 11. Dezember
1976.
Statistisches Jahrbuch der Republik Kroatien (SGH), Kroatisches Statistikamt, Zagreb, 1991, 79.
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TIONS
ten eingekauft werden.17 Zur statistisch erarbeiteten Gesamtzahl der
Geschäfte zählten auch Warenhäuser, die seit dem neunzehnten Jahrhundert als Tempel der Konsumkultur galten, sowie Selbstbedienungsläden, eine amerikanische Erfindung
die nach dem Zweiten Weltkrieg in
Europa eingeführt wurde. In beiden
Fällen wickelte sich der Einkauf zum
Teil durch die Selbstbedienung des
Käufers ab, der auf diese Weise den
Erzeugnissen näher kommen, sie in
die Hand nehmen und begutachten
konnte, und schließlich mehr ausgab als ursprünglich geplant war,
unbewusst, dass er von bestimmten
Techniken der Platzierung von Erzeugnissen in bestimmten Teilen des
Verkaufsraums, bzw. auf bestimmten
Teilen der Regale beeinflusst war,
worüber auch in der einheimischen
Presse berichtet wurde.18
Sowohl Warenhäuser als auch Selbstbedienungsläden verzeichneten in
Kroatien ein ständiges Wachstum:
die Zahl von 607 Selbstbedienungen
im Jahr 1970 hatte sich bis 1980 auf
1.194 verdoppelt und stieg bis 1990
zusätzlich auf 1.835 an; die Zahl
von 13 Warenhäusern 1970 stieg bis
1980. auf 60 und bis 1990 sogar auf
151 an. Zu diesem Anstieg trug am
Ende der achtziger Jahre auch die
private Initiative bei. Zu den gesellschaftlichen Selbstbedienungen gesellte sich so auch das erste, Anfang
1988 in Savska Ves bei Čakovec eröffnete private Selbstbedienungsgeschäft.19 Dieses war werktags von 8
bis 21 Uhr geöffnet, sonn- und feiertags von 8 bis 12 Uhr. Die vollen
Regale und um bis zu zehn Prozent
niedrigeren Preise erfreuten die Käufer, die sogar als Varaždin oder Zagreb
angereist kamen. In den ersten Mo17
18
19
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21
22
1960er, 1970er, 1980er
naten waren die Verkäufer zufrieden,
der Eigentümer, Miro Vucković, besorgte notfalls mit dem Wagen Brot
aus Slowenien und hatte nur die gesetzliche Einschränkung zu beklagen,
der zufolge er nicht mehr als vier Personen anstellen durfte.
Die Ausweitung des Handelsnetzes
in den siebziger und achtziger Jahren verlief schneller als der Zuwachs
der Bevölkerung, sodass sich immer
weniger Konsumenten vor den Regalen der Geschäfte drängeln mussten: 1970 entfielen auf ein Geschäft
283 Einwohner, 1980 251 und 1990
214. Dem größeren Verkaufsraum
und der höheren Zahl der Konsumenten auf der Seite der Nachfrage
folgte auf der Seite des Angebots eine
Erhöhung der Produktion von Massengebrauchswaren, deren Ausmaß
zwischen 1970 und 1990 verdoppelt
wurde, zum größten Teil in den siebziger Jahren, da die späteren Veränderungen eher gering waren.20 Trotz
eines derartigen Wachstums in Handel und Leichtindustrie, wurde im
Einzelhandelsumsatz kein ständiges
Wachstum verzeichnet.21 Während
der siebziger Jahre stieg der Verkauf,
vor allem zwischen 1976 und 1979,
als der jährliche Zuwachs sogar an die
zehn Prozent betrug, sodass der Warenumsatz am Ende des Jahrzehnts
rund 60 Prozent über jenem an dessen Anfang lag.
1979, nur ein Jahr nach dem höchsten realen Gehaltswert, wurde – getragen durch den in diesen Verhältnissen entstandenen Konsumoptimismus, sowie die Zugänglichkeit
von Verbraucherkrediten – der Höhepunkt des Einzelhandelsumsatzes
im zwanzigjährigen Zeitraum 19701990 verzeichnet. Der Zuwachs wäre
noch höher gewesen, hätte man den
171
im Ausland realisierten Konsum dazugezählt. Nach 1980 befinden sich
das reale Gehalt und der Handelsumsatz auf niedrigeren Ebenen und
werden hauptsächlich in geringeren
Steigerungen und Senkungen verfolgt, die Werte von 1979 sind jedoch nicht übertroffen worden, sodass das Jahrzehnt mit einem rund
fünfzehn Prozent geringeren Umsatz endete. Es ist trotzdem interessant, dass die Wirtschaftskrise mehr
Einfluss auf den realen Gehaltswert
ausgeübt hat, als auf den Handelsumsatz, dessen Sinken nicht so ausgeprägt gewesen ist, wie jenes der Gehälter. Die Konsumgewohnheit war
nicht mehr auszuschalten.
Vielleicht waren es gerade die Stagnierung des Verkaufs und die leichte
Senkung der Gehälter zwischen 1974
und 1975, die zur Diskussion über
die ersten großen saisonbedingten
Ausverkäufe geführt hatten, an die
die Konsumenten nicht gewohnt waren. In Zagreb wurde nämlich 1974
zum ersten Mal von achtundvierzig
Arbeitsorganisationen ein Selbstverwaltungsabkommen über den Verkauf von Waren zu ermäßigten Preisen unterzeichnet, demzufolge der
Sommerausverkauf im August und
Anfang September stattfand und der
Winterausverkauf im Januar und Anfang Februar.22 Die ersten Versuche
waren von einer zaghaften Werbung
begleitet, während die Preisermäßigungen zwischen 20 und 90 Prozent
lagen, manchmal für über sechs Jahre
alte Waren. Die Konsumenten waren
misstrauisch. Marija Dejanović, eine
vierzigjährige Hausfrau, nahm keine
Rücksicht auf die Preisermäßigungen: „Ich halte nicht viel von Preisermäßigungen. Wenn ich etwas brauche, kaufe ich es, koste es, was es wol-
Quelle, VUS, 16. April 1975; „Konsignationen statt Triest“, Danas, 7. Dezember 1982.
„Katze im Sack nach eigener Wahl“, VUS, 25. Juli 1973.
„Alles für den Käufer“, RN, 15. Februar 1988.
SGH-91, 72.
SGH-91, 79.
„Erste Schritte der Zagreber Ausverkäufe: Alles Hereinspaziert, aber langsam...“, VUS, 14. Juli 1974.
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172
le.“23 Ausverkäufe besuchte auch der
24jährige Maschinenschlosser Ivica
Pavlek nicht: „Diese Ware ist nicht
von hoher Qualität, meist stand sie
lange irgendwo und ist heute aus der
Mode geraten. Wir Jungen aber mögen, was modern ist. Jedes Jahr gibt es
etwas Neues. Lieber kaufe ich etwas
Modernes und von guter Qualität,
und kann es dann drei Jahre lang problemlos tragen.“ Langfristige Modeplanung betrieb auch die 40jährige
Zahnarztassistentin Bosiljka Riha,
schreckte aber auch vor Ausverkäufen nicht zurück: „Manchmal kaufe
ich T-Shirts und Blusen zu ermäßigten Preisen. Sie sind praktisch, egal,
wie lange sie dauern, und der Preis ist
auch nicht hoch. Das, was bei Ausverkäufen angeboten wird, ist meist
aus der Mode geraten und kann anders nicht mehr verkauft werden. Ich
kaufe mir lieber teurere Schuhe. Sie
sind modern und ich trage sie lange.
Wir haben bei Varteks auch Kredite, sodass ich mir ein Kleid für siebzig Tausend gekauft habe. Wo ich
schon diese Möglichkeit habe, kaufte
ich etwas solides, es ist auch besser,
als wenn ich solche Sachen im Ausverkauf kaufen würde.“ Vorsicht erweckte das Konzept der Ausverkäufe
und Preissenkungen bei jenen Konsumenten, die damit rechneten, sie
würden alte oder beschädigte Waren
erhalten, sodass sie als sparsame Käufer – das Sprichwort „Wie viel Geld,
so viel Musik“ befolgend – von den
Konsumgütern eine gewisse Dauerhaftigkeit erwarteten. Qualität kaufen, die dauert, Kleidung und Schuhe
im Voraus besorgen und diese tragen,
bis die Not einen nicht zwingt, neue
zu kaufen, das waren die bekanntesten Konsumdevisen Ende der achtziger Jahre. Untersuchungen hatten
ergeben, dass die Erwartungen der
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27
RELA
Igor Duda: Der gefundene Wohlstand
Konsumenten bereits seit 1980 immer niedriger wurden, dass sie erwarteten, derselbe Mantel würde fünf bis
sechs, dieselben Stiefel mindestens
vier Jahre dauern. 61 Prozent der Jugoslawen hatte nur ein bis zwei Paar
Schuhe, „das Schlimmste aber war,
dass beinahe drei viertel von ihnen
der Meinung war, mehr hätten sie
auch nicht nötig“.24
Lutrija Hrvatske, Danas, 1982.
Gleichzeitig gesellten sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zum
Handelsnetz auch zollfreie Geschäfte, bzw. Duty Free Shops hinzu. Diese populären Geschäfte, deren Ziel es
war, den Zufluss an Devisen zu fördern, wurden ab 1986. nur für Ausländer und im Ausland angestellte
einheimische Arbeiter eröffnet, da
das Angebot aber hauptsächlich auf
Zigaretten, Getränke und Parfüms
beschränkte, waren ihre Einkünfte
nicht besonders hoch.25 Gewöhnliche einheimische Konsumenten, die
sich etwas aus dem Angebot derartiger Läden wünschten, nutzten dazu ihre Bekanntschaften zu Touris-
TIONS
ten, die dem Ambiente des bekannten hauseigenen Touristikgewerbes
ohnehin durch Geschenke aus dem
Ausland beitrugen. 1898 blühte der
zollfreie Handel auf, teils wegen des
europäischen Trends zur Verbesserung des mediterranen Tourismus,
wobei auch Jugoslawien nicht zurückbleiben wollte, teils wegen der
inneren Handelsliberalisierung, die
besagte Geschäfte auch den einheimischen Käufern zugänglich machte.26 Die Regale waren voller verschiedener importierter Waren, die
Bürger kauften für ihre Devisen alles,
von Getränken, über Süßigkeiten bis
hin zu Videorecordern, und genossen die Tatsache, dass sie jetzt, wenn
auch in einer Art Zwischenraum, all
das kaufen Konnten, was zu früheren Zeiten nur im Ausland zugänglich war. Die 25jährige Verkäuferin
Sonja Becić wunderte sich über den
Andrang: „Die meisten haben kaum
genug Geld zum Überleben, jene
wenigen, die es haben, wissen offensichtlich nicht wohin damit. Jeden
Tag kommen viele Menschen zu uns
in den Free Shop, es wird viel eingekauft und meine Kolleginnen sagen
auch, sie hätten alle Hände voll zu
tun. Und sehen sie doch nur, wie
viele wir sind, an jeder Straßenecke
ein Geschäft. Gekauft wird alles: Parfüms, Getränke, Schmuck, Zigaretten, Kaffee, Technik. Aber wer kauft
das alles!?“27 Ihren Beitrag zu dieser
Praxis leistete gewiss auch die Fremdenverkehrssaison 1988, als mehr
Ausländer denn je das Land besuchten. So wurden auch mehr Devisen
verdient bzw. gewechselt, während
die Gehälter bis 1989 real um zwanzig Prozent anstiegen und endlich
wieder jene von 1976 erreichten, die
ein sehr angenehmes Ende der siebziger Jahre eingeleitet hatten, sodass
„Wir fragen – Sie antworten: Bürger, nutzt ihr Ausverkäufe?“, VUS, 5. Februar 1975.
„Entbehrungen wollen wir nicht entbehren“, Vikend, 10. März 1989.
„Wer kauft im Free-Shop“, Danas, 2. September 1986.
„Luxus oder Bedürfnis“, Vikend, 3. März 1989; „Wie passt man sich dem Markt an“, Vikend, 10. März 1989.
„Entbehrungen wollen wir nicht entbehren“, Vikend, 10. März 1989.
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Optimisten auch jetzt etwas Ähnliches erwarten konnten.
Der Anstieg des Verkaufs hing von
der Zahlungskraft der Käufer ab und
diese konnte sich durch Zahlungsverschiebung und Ratenzahlung an den
Verkäufer so gut wie fiktiv erhöhen.
Auf der Suche nach Regelmäßigkeiten in der Verwaltung finanzieller
Mittel, könnte grob gesagt werden,
die Aufmerksamkeit der Medien haben in erster Linie die Ersparnisse
auf sich gezogen, danach wurden
diese durch Kredite und schließlich
durch Checks verdrängt, während
Kreditkarten in geringerem Ausmaß
die ganze Zeit über anwesend waren.
Während die Zagreber Kreditbank
1974 in ihren Werbeanzeigen ihren
Kunden mitteilte: „Sparen Sie ihr Geld,
um es ausgeben zu können“, bzw.
„Mit dem bei der Zagreber Kreditbank investierten Geld erfüllen Sie
ihre schönsten Wünsche“ und die
Jugobanka der Hauptbuchhalterin
im Haushalt anlässlich des Tages der
Frau ein Sparbuch anbot, denn: „Die
ökonomisch bewusste Hausfrau verwaltet ihr Budget zur Zufriedenheit
ihrer Hausgenossen. Sie spart und
ökonomisiert mit jedem Dinar. Der
Überschuss wird auf die Seite gelegt.
Sie hat ein Sparbuch...“, kamen Journalisten voller Zufriedenheit zum
Schluss, es gäbe keinen Grund zur
Sorge, denn die Kreditverschuldung
der Bürger sei geringer, als die Beträge auf ihren Sparbüchern.28 Kredite
wurden meistens direkt bei Banken
aufgenommen, unter besonderen Bedingungen über den Arbeitsplatz, ihr
häufigster Zweck war die Ausstattung
des Wohnraums mit Möbeln und
Elektrogeräten. Sie waren leicht zu28
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1960er, 1970er, 1980er
gänglich, denn sie waren z. B. Ende
der siebziger Jahre im Dienste der
staatlichen Maßnahmen zur Belebung des Konsums, deren Ziel es
war, die mit unverkaufter Ware überfüllten Lagerhäuser zu leeren: „Ende
vergangenen Jahres hatte die jugoslawische Wirtschaft z. B. 50 Prozent der jugoslawischen Produktion
gelagert. Spekulativ betrachtet bedeutet das, dass wir unsere Geschäfte für sechs Monate hätten schließen,
uns in den Schatten legen und wie
Hamster oder Eichhörnchen an unseren Vorräten zehren können. Und
dass dabei nichts Nachteilhaftes passiert.“29 Die Kredite waren günstig
und billig, da die Inflation während
des Zeitraums der Abbezahlung die
Höhe der Rate senkte. Anfang der
achtziger Jahre zahlte jeder zweite
Haushalt einen Kredit ab, Familien,
die 25 bis 35 Tausend Dinar verdienten, bzw. ca. zwei Durchschnittslöhne, zahlten 4.700 Dinar an monatlichen Kreditverpflichtungen ab.30
Höhere Einkünfte bedeuteten zugleich höhere Verschuldung, also,
auch größere Konsumappetite. Die
Nachfrage nach Krediten rief demzufolge negative Reaktionen hervor,
vor allem wegen ihrer nicht zweckgemäßen Verwendung, die nicht zu
rechtfertigen war und auf der Übertragung der spärlichen gesellschaftlichen Mittel in die Hände von Privatschuldnern beruhte.31 Die Bedingungen wurden daraufhin verschärft und
die Bürger gewöhnten sich – neben
der bereits bewährten Unterstützung
durch die Eltern, der Landwirtschaft
und der Schwarzarbeit – an eine neue
Art des Zahlungsaufschub, bekannt
als Scheck mit Aufschub.
173
Die Schecks lebten nach 1981 auf,
als die Arbeitsorganisationen damit
aufhören müssten, Löhne in Lohntüten zu packen und begannen, sie
stattdessen über Sparbücher und laufende Konten auszuzahlen.32 Viele
verstanden damals nicht, dass ein
laufendes Konto die bessere Wahl sei
und entschlossen sich für das Sparbuch, während jene Arbeiter, denen
vom Arbeitgeber ein laufendes Konto
zwecks Gehaltsauszahlung eröffnet
wurde, gingen zur Bank und hoben
den ganzen Betrag auf einmal ab, ohne den Wunsch, ihr Geld in der Bank
zu lassen, oder sich für Schecks und
permanente Zahlungsaufträge zu interessieren. Übertrieben interessiert
waren sie auch nicht an den großen Plänen des Bankensystems, den
Zahlungsverkehr durch bargeldlose
Zahlungen zu beschleunigen und
billiger zu machen, sowie die Geldmenge zu reduzieren: „Ein derartiges Arbeitssystem sieht die Einführung von Bankomaten voraus,
die, mit Bargeld gefüllt, in Banken,
Wechselstellen und Postämtern aufgestellt werden, um von den Bürgern
selbst benutzt zu werden, die mittels
Geldkarte die von ihnen benötigten
Beträge abheben.“33 Zu den Bankomaten, die anhand von Fotografien
des westdeutschen „Geldautomaten“
noch 1978 den kroatischen Lesern
vorgestellt wurden, hätte sich in dieser futuristischen Vision gegen Mitte
der achtziger Jahre sogenannte POS-Terminale zur mittellosen Zahlung
in Geschäften dazugesellen sollen.34
Für die Besitzer laufender Konten
wurden jedoch gerade um die Mitte des Jahrzehnts Schecks besonders
interessant. Sie hatten nämlich be-
Kreditbank Zagreb, VUS, 4. Dezember 1974; Jugobanka, VUS, 6. März 1974.; „Immerhin sparen wir mehr, als wir schuldig sind“, VUS, 20.
November 1974.
„Käufer an den Konsum verkauft“, Start, 10. Dezember 1978.
„ZIT/CEMA: Kredite ohne Motive“, Danas, 15. Februar 1983.; „ZIT/CEMA: Kredite ohne Kontrolle“, Danas, 26. April 1983.
„ZIT/CEMA: Kredite ohne Kontrolle“, Danas, 26. April 1983.
„Ohne Banknoten im Verkehr“, Vikend, 10. Januar 1986.
Ebenda.
„Non-stop Geld“, Start, 14. Juni 1978; „Ohne Banknoten im Verkehr“, Vikend, 10. Januar 1986.
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Igor Duda: Der gefundene Wohlstand
griffen, der Scheck brauche eine gewisse Zeit, um zur Einlösung zu gelangen und begannen, ihn zur Eigenkreditierung zu gebrauchen, ja sogar
zum gesetzwidrigen Ausstellen ungedeckter Schecks, also zum Ausgeben
des kommenden Gehalts, im Wissen, dass zum Zeitpunkt der Ausstellung oder Einlösung des Schecks die
notwendigen Mittel auf dem Konto
nicht verfügbar sein werden.35 Während auf mündlichem Wege, vor allem unter den Konsumenten, gute
Nachrichten über die Geschäfte umgingen, die Schecks langsamer einlösten und sich ihre Ware mit mehreren
Schecks bezahlen ließen, fanden die
Banken an dieser Art zinsloser Kreditierung und verantwortungslosem
Handeln ihrer Klienten wenig Gefallen.36 Nachdem der Bundesexekutivrat Mitte 1989 die Schecks auf
Aufschub eingestellt hatte, waren die
Bürger wegen dieses Beschlusses der
Bundesregierung verbittert, da eine
Fertigkeit, von der, wie es scheint,
Frauen am meisten Gebrauch machten, auf einmal jeglichen Wert verloren hatte. Besorgt gab sich der Bauarbeiter Stjepan Bjenić, angestellt bei
der Arbeitsorganisation Zagreb-Grič:
„Ich komme durch selbstständige Arbeit in der Freizeit aus, die den meisten als „Pfusch“ bekannt ist. Mein
Gehalt deckt gerade mal die Stromkosten. Bei größeren Einkäufen rettete mich bisher meine Frau, die
wusste, wie man mit solchen Schecks
umgeht, sodass wir irgendwie auskamen. Jetzt weiß ich nicht mehr weiter. Am meisten besorgt bin ich um
die Zukunft meiner Kinder. Solange
ich gesund bin und den ganzen Tag
35
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42
arbeiten kann, schaffen wir es gerade noch, ich fürchte aber, ich könnte
erkranken oder in andere Nöte geraten.“37 Ähnlich dachte auch Zvonko
Kota, Angestellter der Verlagsdruckerei Naša djeca aus Zagreb: „Ich
bin der Meinung, es war dumm, die
Bezahlung durch Schecks auf Raten
einzustellen. Wir können doch ohne
Kredite nicht mehr leben! Neulich
habe ich ganz gewöhnliche Lebensmittel für drei Schecks gekauft. In
meiner Firma kaufen alle auf Kredit und zwar alles. Vom Gehalt lässt
es sich überhaupt nicht mehr leben.
Angeblich wird um unsere Zukunft
gekämpft, dabei sind wir es, die alles austragen müssen.“38 Derselben
Meinung war auch Josip Kovačević,
Informationsreferent der Volkshochschule Slunj: „Persönlich habe ich
von den Schecks auf Aufschub nicht
Gebrauch gemacht, dafür war meine
Frau spezialisiert. Sie und ihre Kolleginnen hätten bereits Doktortitel
im Ankämpfen gegen die meist unsinnigen Maßnahmen der Regierung
erhalten können. Jeder gibt sich um
den arbeitenden Menschen besorgt,
man verspricht ihm einen besseren
Sozialismus, und dann werden ihm
die Schecks eingestellt. Ohne Kredit geht es nun mal nicht. Die neuen Kredite werden nicht mehr so
günstig sein.“39 Die bevorstehenden
Ereignisse werden zeigen, dass ohne
Schecks auf Aufschub und günstige
Kredite der Sozialismus selbst nicht
mehr lange leben wird, nicht einmal
mit Hilfe von Kreditkarten, die bereits seit zwanzig Jahren ein zwar seltenes, dafür aber legales Mittel bargeldloser Zahlung waren.
RELA
TIONS
Durch ihre Arbeit mit ausländischen
Touristen dazu bewogen, führten
kroatische Fremdenverkehrsagenturen als erste Kreditkarten in Jugoslawien ein. Generalturist war seit
1969 Vertreter des Diners Clubs,
während Atlas 1972 einen Vertrag
mit American Express abschloss. Es
sollten weitere folgen, sodass die slowenische Agentur Kompas Eurocard
und die serbische Centroturist Carte
blanche vertrat, letztere jedoch ohne
Recht auf die Ausstellung von Kreditkarten. Die Jugobanka arbeitete
mit Visa, allerdings nur als Debitkarte.40 Den Kreditkartenverkehr seit
Anfang der siebziger Jahre beobachtend, meldete die Behörde für gesellschaftliche Buchhaltung, Kreditkarten würden „in der Wirtschaft eines
Landes eine wichtige Rolle spielen,
da sie die Geldmasse in den Banken
zurücklassen, die diese mehrfach benutzen kann“, während Journalisten
zum Schluss kamen, Kreditkarten
würden „die Geldbörsen der Jugoslawen unaufhaltsam überfluten“.41
Das war ein ziemlich euphorischer
Standpunkt, da der Diners Club 1973
in Jugoslawien an die dreitausend
und American Express lediglich dreihundert Mitglieder hatte.42 Alle Werbebotschaften richteten sich an den
modernen Menschen, der ohne Einschränkungen leben will: „Bewahren
Sie Ihr Geld auf der Bank – bezahlen Sie für Ihre alltäglichen Bedürfnisse mit Ihrer Unterschrift!“; „Die
Diners Karte ist mehr als Geld – sie
ist der Beweis für die Rationalität
des modernen Menschen“, „Diners
– der Personalausweis des modernen
Geschäftsmanns!“, „Mit einer Diners
„Der Scheck, der Leben bedeutet“, RN, 5. Juni 1989.
„Schecks erlösen“, RN, 18. Juli 1988.
„Mini-Umfrage: Wie ohne Kredite?“, RN, 28. August 1989.
„Mini-Umfrage: Wie ohne Schecks auf Aufschub?“, RN, 31. Juli 1989.
Ebenda.
„Jugoslawien auf der Kreditkarte“, Start, 24. Oktober 1981; „Wie mit der Unterschrift bezahlen“, Vikend, 27. Dezember 1985; „Unser Test,
Ihre Wahl“, Start, 29. November. 1986.
„Kreditkartenflut“, VUS, 14. November 1973.
„Bargeld ist Vergangenheit“, Start, 9. März 1977.
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Karte können Sie bereits heute das,
was sie sonst erst viel später könnten.“43 Der Markt reagierte, sodass
1981 von den rund 70 Tausend Kreditkartenbenutzern in Jugoslawien
31 Tausend auf Diners entfielen, was
noch immer 4 Tausend mehr bedeutete als bei American Express.44 Die
Kreditkarten hatten ihre „Effektivität
im einheimischen und ausländischen
Zahlungsverkehr zugunsten unseres
Landes“ endgültig bewiesen, wobei
lediglich ein halbes Prozent der Nutzer ihre Rechnungen nicht regelmäßig beglich, die gegen sie eingeleiteten Gerichtsverfahren warteten allerdings wegen der „Überbelastung
der Gerichte“ lange auf ihre Erledigung.45 Bis 1985 hatte beinahe jedes
Geschäft einen Vertrag mit mindestens einer Kreditkartenanstalt, die
Zahl der Kreditkarten wuchs indessen auf rund hunderttausend.46 Die
Bereits im nächsten Jahr veröffentlichten Resultate deuteten auf einen großen Andrang auf American
Express hin, der mit 90 Tausend
Mitgliedern die Zahl der 37 Tausend Diners-Nutzer sichtlich übertraf, größtenteils wegen seiner niedrigeren Gebühren.47 Im Jahr 1986,
als das Durchschnittsgehalt in Kroatien 90.995 Dinar betrug, betrug
die Einschreibegebühr bei American
Express 5 Tausend und der Mitgliedschaftsbeitrag 7.000 Dinar, während
man bei Diners 15 Tausend Dinar
Einschreibegebühr und 5 Tausend
Dinar Mitgliedschaftsbeitrag zahlen
musste.48 Ende 1988 hatte Ameri43
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52
53
1960er, 1970er, 1980er
can Express in Jugoslawien sogar 140
Tausend Nutzer. Aus der Zagreber Filiale wurde bekanntgegeben: „Wenn
die Leute aus der American-ExpressZentrale unseren Anstieg sehen, sind
sie sprachlos! Wir sind das einzige sozialistische Land mit aktiver Karte.“49
Sogar die Hälfte der Anwärter musste wegen nichterfüllter Bedingungen
abgewiesen werden, was früher nicht
der Fall war. Die Inflation und der
deutlich niedrigere Lebensstandard
hatten das Ihrige getan, die Kreditkarte blieb als einzige Möglichkeit
die Zahlung aufzuschieben, sodass
es immer mehr Transaktionen gab.
Die zu bezahlenden Beträge auf den
Konten wurden jedoch immer niedriger, denn viele kamen aus Lebensmittelgeschäften.
Neben der verschiedenen Arten der
Zahlung mit Aufschub, gewannen in
den achtziger Jahren Glücksspiele an
Beliebtheit, eine weitere Konsumpraxis, deren Stärkung die Senkung des
Lebensstandards beigetragen hatte.
Die hoffnungsvollen Blicke waren
jetzt auf Lotterielose gerichtet, ebenso suchte man darin sein Lebensglück.50 Da es anders anscheinend
nicht mehr ging und die zahlreichen
Preise in der Tages- und Revuepresse schon keinen Wohlstand bringen
konnten, träumten die Spieler davon,
gerade im Lotto die verlorene lichte
Zukunft wiederzufinden. Die Kroatische Lotterie war eine der neun
jugoslawischen Lottoorganisationen
und war z. B. 1983 mit einem Einkommen von 2,6 Millionen Dinar
175
die führende im Land, ihr 26prozentiger Anteil am Einkommen auf
Bundesebene war jedoch niedriger
als der 48prozentige Anteil am Gesamtverkehr, der von den vier serbischen Lotterien gemeinsam erzielt
wurde.51 Im selben Jahr verdiente
der Arbeitnehmer im Durchschnitt
17.317 Dinar, während der durchschnittliche Lottogewinn bei 5/36
als populärstem Spiel 280 Tausend
Dinar, bzw. sechzehn Monatslöhne
betrug, es blieben aber auch Gewinne in Erinnerung, die reichten, um
eine Dreizimmerwohnung zu kaufen.52 Die Arbeit der Kroatischen
Lotterie, als Hauptorganisator von
Glücksspielen, wurde seit 1973 statt
durch ein Bundesgesetz durch das
neue Landesgesetz über Glücks- und
Unterhaltungsspiele geregelt.53 Unter dem Slogan „Kroatische Lotterie
– ein Spielsystem“ stand eine ganze
Palette von Spielen im Angebot, an
denen Mitte der achtziger Jahre mit
ihren Einzahlungen Schätzungen zufolge rund 12 Prozent der Bevölkerung teilnahm und dadurch einen
Fond bildete, aus dem die Hälfte der
Mittel durch Gewinne an die Spieler zurückgegeben wurde, ein Fünftel für die Kosten der Kroatischen
Lotterie übrigblieb, während ein beträchtlicher Anteil dem Wohle der
Gemeinschaft zugute kam, wie es
auch in der Werbung erörtert wurde: „Lose, Express-Lotterie, Sportprognose, Lotto, Tombola, Spielautomaten... bilden das einheitliche
Spielsystem der Kroatischen Lotte-
Diners Club, Start, 18. Oktober 1978, 15. November 1978., 10. Dezember 1978.; Diners Club, SAM, Oktober 1978.
„Jugoslawien auf der Kreditkarte“, Start, 24. Oktober 1981.
Ebenda.
„Nutzer kreditieren die Kreditorganisation“, Vikend, 13. Dezember 1985.; „Wie die Mitglieder vertreiben“, Vikend, 20. Dezember 1985.
„Unser Test, Ihre Wahl“, Start, 29. November. 1986.
„Nutzer kreditieren die Kreditorganisation“, Vikend, 13. Dezember 1985.; „ Unser Test, Ihre Wahl „, Start, 29. November 1986.
„Unerschöpfliche Kaufinspiration“, Danas, 14. November 1989.
„Gibt es Glück im Leben“, Danas, 10. Mai 1983; „Schlangen vor den Glücksgeschäften“ RN, 18. November 1985. mehr zur Lotterie der Achtziger siehe in: Bahtijarević, Štefica, Hrsg., Osnovna obilježja igrača i vrste igara na sreću, IDIS, Zagreb, 1991.
„Gibt es Glück im Leben“, Danas, 10. Mai 1983; „Wer handelt mit Glück“, RN, 1. Oktober 1984.
„Gibt es Glück im Leben“, Danas, 10. Mai 1983.
„Glücksspielgesetz“, Narodne novine (NN), 31/73; „Glücks- und Unterhaltungsspielgesetz“, NN, 33/83; „Wer handelt mit Glück“, RN, 1.
Oktober 1984.
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176
Igor Duda: Der gefundene Wohlstand
rie – das Spiel ist ein Bedürfnis des
Menschen. Aber die Glücksspiele
der Kroatischen Lotterie sind auch
Spiele für den Menschen: neben den
persönlichen Gewinnen unserer Mitspieler, unterstützt die Lotterie soziale und humane Projekte, die gesellschaftliche Fürsorge für Kinder und
Jugendliche, sowie die physische und
technische Kultur, als gemeinsamen,
weiteren Gewinn für uns alle.“54 In
Zusammenarbeit mit der Tageszeitung Večernji list startete die Lotterie das Spiel Veldo, eröffnete Hallen mit Spielautomaten und übernahm ab 1984 auch die Kontrolle
über dem restlichen Teil der privaten
Spielautomaten in Gaststätten und
Vergnügungsobjekten, der in Kroatien vor der Verabschiedung dieser
gesetzlichen Bestimmung an die 5
Tausend betrug.55 Bunte Druckwerbung der Kroatischen Lotterie, darunter auch Fotografien von Modellen,
die in Venedig aufgenommen wurden, lockte mit Behauptungen, der
Gewinn komme „stets zur rechten
Zeit“, die Express-Lotterie sei eigentlich „der Augenblick der glücklichen
Wahl“ und Lotto einfach „die Freude des Miteinanders“.56 Lotto brachte in den Achtzigern vielen Menschen Freude und war das beliebteste
Spiel, im Unterschied zu den Siebzigern, als die Sportprognosen diesen
Platz einnahmen.57 Der Beliebtheit
der gelben Trommel, aus der einmal
wöchentlich Kügelchen mit Zahlen
hervor purzelten, trugen zum Teil
auch die Moderatorinnen der Fernsehziehungen bei.58 Auch kroatische
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Zuschauer wurden bei den Lottoziehungen aus dem Belgrader Studio
von Suzana Mančić, einer blonden
„glückhändigen“ Schönheit, die es
verstehe, „die Stimmung zu heben“,
zu den Bildschirmen und zum Spiel
gezogen.59 Es gab aber auch andere
Kommentare, die infolge des riesigen Interesses an Lottogewinnen zur
Nüchternheit ermahnten: „Im Hintergrund von Suzana Mančićs magischen Bewegungen und ihres eisigen
Lächelns existieren zahlreiche Geschichten: von jener, die Glückspiele als gesellschaftlich gerechtfertigt
erscheinen lässt, bis zu jener, die sie
ebenso schädlich macht. Die Krise
drückt alldem ihren Stempel auf.“60
Auf ähnliche Weise wurde die Krise der Werte von der Barbie-Puppe
verkörpert, die, „unmenschlich und
leblos“ in ihrer Vollkommenheit, zusammen mit verschiedenem Zubehör und ihrer gesamten Familie in
Kommissionsgeschäften erstanden
werden konnte.61
Das Kokettieren mit der Körperlichkeit, vor allem jener weiblichen, war
nicht nur Teil der Lottoziehungen,
sondern tauchte auch auf anderen
Gebieten auf und bestätigte auf diese Weise die Beliebtheit schöner Gesichter und Körper in der Konsumkultur. Nur ab und zu kam es zum
Moralisieren und Ironisieren, das der
in der Revuepresse ohnehin spärlich
vertretenen sozialistischen und feministischen Kritik nur eine schwache Hilfe war. 1971 wurde über die
körperliche Ausnützung jener Mädchen geschrieben, die als Hostessen
RELA
TIONS
bei Messeveranstaltungen arbeiteten, deren Engagement dabei aber
nicht aufhörte, sondern sich auch
auf die Begleitung bei abendlichen
Vergnügen, teure Geschenke und
ungewollte Schwangerschaften ausdehnen konnte: „Sie aber müssen
allein entscheiden, ob sie nur Informatorinnen bleiben, oder sich als
ausgestellte Ware benehmen wollen.
Sie müssen sich darüber im Klaren
sein, wo die Grenzen des Charmes
liegen.“62 Die Warnung wurde ausgesprochen, aber die Art der Arbeit
war auch weiterhin Sache der Mädchen und der Vertreter der sozialistischen Wirtschaft. Zugleich konnte
man auf den Zagreber Straßen Abiturientinnen in sehr kurzen „Hotpants“ sehen, die gut aufgenommen
wurden, sodass ein entsprechender
Zug der einheimischen Textilindustrie und des dazugehörigen Handels
erwartet wurde: „Große Gruppen
junger Mädchen gingen selbstsicher
im letzten Schrei der Mode auf unseren Straßen spazieren und wurden
vom Publikum äußerst gut aufgenommen. Vor allem vom männlichen.“63 Dasselbe Publikum verfolgte mit Interesse zahlreiche Schönheitswettbewerbe, von der Wahl zur
Miss irgendeiner Sommerterrasse bis
hin zu den großen Veranstaltungen,
bei denen die Schönheitsköniginnen Jugoslawiens oder gar der Welt
gewählt wurden. So wurde 1972 die
19jährige Zagreberin Anđelka Božić
wegen ihrer „Direktheit, Heiterkeit
und Herzlichkeit, ihrer guten Englischkenntnisse und natürlich ihres
„ Schlangen vor den Glücksgeschäften „, RN, 18. November 1985.; Kroatische Lotterie, Start, 16. Juni 1984 (Zit.).
Veldo, Danas, 12. August 1986.; Kroatische Lotterie, Danas, 19. August 1986.; „Wem nützen Automaten“, Danas, 2. Oktober 1984.; „Wer
handelt mit Glück“, RN, 1. Oktober 1984.; „Industrie der Hoffnung und des Vergnügens“, Danas, 2. Juli 1985; „Glücks- und Unterhaltungsspielgesetz“, NN, 33/83, Art. 78.
Kroatische Lotterie, Danas, 30. März 1982., 14. August 1984.; Kroatische Lotterie, Vikend, 4. mai 1984.
„Gibt es Glück im Leben“, Danas, 10. Mai 1983.
Titelseite, Vikend, 27. März 1981; Kroatische Lotterie, Vikend, 4. Mai 1984.
Titelseite, Vikend, 20. Dezember 1985; „Suzana hebt die Stimmung“, Vikend, 20. Dezember 1985.
„Schlangen vor den Glücksgeschäften“, RN, 18. November 1985.
„Spielzeug ist eine ernste Sache“, Danas, 11. Dezember 1984.
„Die gefährliche Grenze des Charmes“, VUS, 5. Mai 1971.
„Wen wärmen Hotpants, VUS, 26. Mai 1971.
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Charmes und ihrer Schönheit“ in Tokio zur „Miss Young International“
gewählt, was den bis dahin größten
jugoslawischen Erfolg bei internationalen Wettbewerben darstellte.64
Zwei der populärsten jugoslawischen
Schönheitsköniginnen hatten Anfang der achtziger Jahre erfolgreich
die Medien erobert: die Kroatin Ana
Sasso 1982 und die Slowenin Bernarda Marovt 1983.65 Die erste – bis dahin als hawaiianische Strandkönigin
aus Split und nachher für die Fernsehwerbung für das von Dalmacijavino aus Split hergestellte Getränk
Pipi bekannt – wurde bei einer Veranstaltung in Banja Luka vor rund
sechstausend Zuschauern in erhitzter
Atmosphäre gewählt, da einige Bewerberinnen Beschuldigungen hinsichtlich Favorisierung und Resultatfälschung hervorbrachten: „Eigentlich hat keine Chancen gegen Ana
Sasso und ihr gepflegtes Image: Haar,
Gang, Selbstgefälligkeit und einige
kleine Tricks machen das Spliter-hawaiianische Sternchen zur absoluten
Favoritin der Generalprobe und des
morgigen Wettbewerbs.“66 In der Jury saßen unter anderem Saša Zalepugin, Ćiro Blažević und Fahreta Jahić
alias Lepa Brena, die neben Zdravko
Čolić, Miroslav Ilić und Meri Cetinić
auch als Sängerin die Bühne betrat.
Die Mädchen trugen Schuhe der
Fabrik Borovo aus Vukovar, beide
Begleiterinnen waren ebenfalls aus
Kroatien: Asja Brešan aus Split und
Elizabeta Vidas aus Rijeka. Die muskulösesten Männer wurden bei klei64
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69
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1960er, 1970er, 1980er
Ana Sasso, Vikend, 1982.
neren Wettbewerben gewählt, über
die schönsten urteilte jedoch nicht
die Jury, sondern aufgrund von Zeitungsumfragen entstandene Charts,
wie jene der Zeitung VUS aus dem
Jahr 1971, als tausend Frauen beschlossen, die attraktivsten Jugoslawen seien wie folgt: Mića Orlović,
Nikola Pilić, Arsen Dedić, Ljubo
Jelčić, Vice Vukov, Oliver Mlakar,
Ivica Šerfezi, Boris Buzančić, Relja
Bašić usw.67 Über die Charakteristiken ihrer Landleute wurden in ähnlichen Umfragen auch prominente
Frauen wie Helga Vlahović, Josipa
Lisac oder Mija Oremović befragt.68
Die Revuepresse verfolgte die Trends
der Damen- und Herrenmode und
kürte Mirjana Rakić zur best- und
Neda Ukraden zur schlechtgekleidetsten Frau, bzw. Frano Lasić zum
best- und Ivo Pogorelić zum schlecht-
177
gekleidetsten Mann.69 Geschrieben
wurde über Herren- und Damenfrisuren, Frisuren für Junge, sowie die
„Top-Frisur“ der Schauspielerin Linda Evans, Star der amerikanischen
Seifenoper Denver Clan, die unter
den einheimischen Zuschauern außerordentlich beliebt war.70 Vorgestellt wurde ferner Damen- und Herrenkosmetik einheimischer und ausländischer Hersteller, so auch das
Haarshampoo Go Gay, das, durch
seinen Namen an Lebendigkeit erinnernd, beschädigtem Frauenhaar
seine Schönheit zurückgab.71 Männern wurde suggeriert, „Aussehen,
Geruch, Benehmen und Stil seien
bei ihnen genauso wichtig und obligatorisch wie bei Frauen [...] und dass
sie sich dieser Transformation wegen nicht wie Schwule fühlen müssen“.72 Die Nachfrage nach Männerkosmetik stieg, sogar in den einheimischen Verhältnissen, in denen
„im Volk auch sonst eine sonderbare,
geradezu mystische Angst vor Wasser herrscht“, der wachsende Verkauf
war jedoch den Frauen zu verdanken,
die Männern Kosmetikerzeugnisse
als Geschenke kauften.73 In der Atmosphäre befreiter Sexualität wurde
auch die Zeitschrift Erotika reklamiert und gelesen, geschrieben wurde auch über erotische Zeitschriften
für Frauen, als neuem westlichem
Trend.74
In diesem Zusammenhang sprach
man auch von einer porno-bürokratischen Gesellschaft, als Folge pornografischer Freiheit und ideologisch-
„Miss World“, VUS, 9. August 1972.
„Bernarda Marovt Miss Jugoslawiens“, Start, 10. September 1983; „Fünfzig Tage der Bernarda Marovt“, Start, 8. Oktober 1983; Titelseite,
Vikend, 23. September 1983.
„Schönheitsmesse in Banja Luka“, Start, 11. September 1982; Titelseite, Vikend, 17. September 1982.
„Mister delija rmpalija“, VUS, 30. Juni 1971; „Die attraktivsten Jugoslawen“, VUS, 13. Januar 1971.
„Frauen antworten – wie sind die Jugoslawen so?“, VUS, 27. Februar 1974.
„Die zehn best- und schlechtgekeleidetsten Jugoslawen“, Start, 10. Januar 1987.
„Frisuren für Jugendliche“, Vikend, 7. Januar 1983; „Frauen mit Top-Frisuren“ Vikend, 7. Januar 1983.
Go Gay, VUS, 29. August 1973.
„Gebrauch des behaarten Körpers“, Danas, 22. Dezember 1987.
„Zeit des männlichen Körpers“, Danas, 20. Juni 1989 (Zit.); „Rebus männlicher Düfte“, Start, 17. November 1971; „Gebrauch des behaarten
Körpers“, Danas, 22. Dezember 1987.
Erotika, Vikend, 25. April 1986.; „Magazin für Frauen – Untergang der Männerwelt?“, Start, 4. Dezember 1974.
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Igor Duda: Der gefundene Wohlstand
politischer Disziplin.75 Für den Fall
des Falles hatte man Androgel, Tabletten aus natürlichen Bienenerzeugnissen, ein Medikament, das „die allgemeine Kondition verbessert, aber
auch die Potenz steigert.“76 Die Sorge um die Gesundheit wurde zum
Teil der Konsumkultur: in Artikeln
über Lebensdauer und Organalterung versuchte man, die Frage nach
dem Jungleiben zu beantworten, geschrieben wurde über die ersten Saunen und privaten Fitnessstudios, reklamiert wurden Fitnessgeräte, sowie
der Aerobic-Bestseller der amerikanischen Schauspielerin Jane Fonda.77
Bei soviel Werbung für verschiedene Produkte stellt sich die Frage, ob
die Überfüllung des medialen Raumes durch ökonomische Propaganda überhaupt das Übel war? Hatte
sie eine falsche Welt geschaffen und
unbegründet die Entwicklung einer übertriebenen Konsummentalität vorangetrieben? In Anbetracht der
Überhäufung der westlichen Medien
und Straßen mit Werbung, der Entwicklung einer speziellen Werbeindustrie, ja sogar der Unterbrechung
von Filmen durch gesendete Werbung, was im Zagreber Fernsehen
nur kurze Zeit im Rahmen der Serie Peyton Place Anfang der siebziger
Jahre der Fall war, käme man zum
Schluss, die Situation in Kroatien
sei anders gewesen und von einem
Werbeterror hätte nicht die Rede
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
sein können.78 Dennoch hat die einheimische Werbeindustrie existiert.
Diese auf wissenschaftliche Weise
betrachtend kam der kroatische Marketingexperte Fedor Ross 1978 zum
Schluss, das „Konzept der Marktorientierung (Marketing) sei in unserer
Theorie und Praxis dominant“, fügte
aber 1982 hinzu, es sei nicht genug
getan worden, um die Marktorientierung zur Gänze zu verwirklichen
und dass die Praxis „noch immer mit
veralteten, verlassenen und nichteffektiven Klischees des geschäftlichen
Umgangs mit dem marktorientierten
Handeln“ zu kämpfen hat.79
Die Akzeptanz des Marketings befand sich in ihren Anfängen und
blieb erheblich hinter den westeuropäischen Ländern zurück, den Unternehmen aber wurde klar, dass sie
vom Erfolg auf dem Markt abhängen, dem sie Ware anzubieten haben,
die auch Käufer finden wird, sodass
sie, mehr spontan als bewusst, zum
Marketing-Konzept neigten.80 Wirtschaftsexperten warnten, im System der Selbstverwaltung und der
Gemeinschaftsarbeit sei Marketing
„ein unausweichliches Instrument
der Verbindung zwischen Produktion und Nachfrage auf dem Markt.“81
Unter derartigen Umständen verfolgte die Werbeindustrie westeuropäische und nordamerikanische
Trends und passte sie dem spezifischen Umfeld des einheimischen
RELA
TIONS
Sozialismus an. Deshalb konnte sie
nicht zum Beispiel osteuropäischer
Propaganda werden, in der das Bedürfnis dem Wunsch übergeordnet
war.82 Die Wünsche waren nicht außerhalb des Gesetzes, das Ideal jedoch war eine rationale, praktische,
bildungsbezogene und zuverlässige
Werbung, die zu keinen Träumen
von Luxus in einer gänzlich unrealen Welt verleitet.83 In der Mitte oder
irgendwo dazwischen seien erforderte Balance und gelegentliches Erforschen eines möglicherweise verbotenen Terrains, sodass man – während
die Propagandisten um die Anerkennung ihrer Profession kämpften
und versuchten, die Wirtschaftsleute davon zu überzeugen, dass Werbung nicht jedermanns Sache ist –
versuchte, jenseits jeglicher Zweifel
festzustellen, wo die Grenzen ökonomischer Propaganda verlaufen: „Die
einen halten Werbung in der modernen Produktion und für notwendig,
die anderen reden von ihrer gefährlichen Aufdringlichkeit, der durch
sie angetriebenen Konsummentalität, ihrer Unangemessenheit in der
Gesellschaft, der wir angehören.“84
In der Abteilung für Marktforschung
und Propaganda der Zeitungsverlags
Vjesnik wurde 1975 behauptet, wir
würden „unsere negative Einstellung
der Werbung gegenüber fälschlicherweise als gesellschaftlich angemessene Stellungnahme auffassen.“85
Igor Mandićs Standpunkt in: „Beratung über den Ideenkampf in den Bereichen Kultur und Schaffen“, Naše teme, 7-8, 1984., 165. Nach: Čale
Feldman, Lada, „Bijela knjiga, nepoćudna književnost u kulturnostudijskoj perspektivi“, Devijacije i promašaji. Etnografija domaćeg socijalizma,
Lada Čale Feldman, Ines Prica, Hrsg., Institut za etnologiju i folkloristiku, Zagreb, 2006, 60.
Androgel, Medex Ljubljana, Start, 5. Dezember 1981.
„Wie jung bleiben?“, Start, 1. Januar 1975; „Die sonderbaren Wonnen der Sauna“, Start, 8. März 1972; „Üben bei Luka!“, Vikend, 16. Dezember 1988.; Buch über Aerobic, Danas, 5. Juli 1983.
„Werbung ist ernst, verrückt und unumgänglich“, Start, 18. Juni 1975.; „Werbung – ein modernes Übel?“, Start, 17. Dezember 1975; „Von
der Irritation bis zur wertvollen Information“, Danas, 14. August 1984.
Rocco, Fedor, Osnove tržišnog poslovanja, Informator, Zagreb, 31983., VII-VIII. Beurteilungen des Autors aus dem Vorwort zur zweiten und
dritten Auflage. Dieses Universitätslehrbuch bekam 1975 von der Ökonomischen Fakultät in Zagreb den Mijo-Mirković-Preis für das beste
wissenschaftliche Werk.
Siehe ebenda, 6, 8, 19.
Ebenda, 13, 24.
Siehe Patterson, Patrick Hayder, „Truth Half Told: Finding the Perfect Pitch for Advertising and Marketing in Socialist Yugoslavia, 1950-1991“,
Enterprise and Society, 4, 2003, 179-225.
Ebenda.
„Werbung – ein modernes Übel?“, Start, 17. Dezember 1975.
Ebenda.
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Auch die Parteiideologen waren sich
über die Schädlichkeit und Nützlichkeit der Werbung nicht im Klaren,
sodass die Kommission des Exekutivkomitees des Präsidiums des Zentralkomitees des Bundes der Kommunisten Kroatiens im Zeitraum zwischen
den Kongressen 1974 und 1978 auf
der Suche nach Antworten über „die
ideologisch-politischen Probleme und
den Charakter unserer Wirtschaftspropaganda“ diskutierte und mehrere Male eine grundlegende Analyse
einiger Informationsmittel initiierte.86 Die Kommission machte darauf
aufmerksam, dass Wirtschaftspropaganda durch Kopieren des westlichen Modells, das „einen aufdringlichen, der Konsumpsychologie eigenen Überredungscharakter aufweist“
und dessen Werbung „einziges Ziel
es ist, ohne Rücksicht auf die Qualität der Erzeugnisse zum Kauf zu
verleiten“ nicht möglich ist, sondern
als Form wirtschaftlichen Informierens wahr und dem „selbstverwaltenden sozialistischen Informieren, sowie
dem System als Ganzem“ dienlich
sein soll.87 Das Rezept für ökonomische Propaganda war folgendes:
„Sie muss dem objektiven Informieren, sowie der Unterdrückung von
kleinbürgerlichem Geschmack, Konsummentalität, illoyaler Konkurrenz
und der Täuschung der Käufer beitragen.“ Ferner kam die Kommission zum Schluss, es dürfe weder Zugeständnisse an die kleinbürgerliche
Mentalität geben, denn diese „widersetze sich unserer sozialistischen
Moral“, noch sei es zulässig, dass
„aufgrund kommerzieller Aspekte
86
87
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91
92
1960er, 1970er, 1980er
ökonomischer Propaganda die moralischen Prinzipien unserer selbstverwaltenden Gesellschaft vernachlässigt werden“. Einen Teil der Verantwortung von sich weisend, oder
vielleicht den weiteren Verlauf der
Ereignisse suggerierend, betonte die
Kommission dennoch hilflos, dem
Konsumenten „bleibe leider nichts
anderes übrig, als die angebotenen
Inhalte zu schlucken“, stellte aber
fest, es gäbe seitens der Konsumenten immer häufiger Reaktionen auf
inakzeptable Werbung.
Čokolino, Vikend, 1976.
Diese Werbungsschlucker hegten jedoch keine allzu großen Zweifel, sodass 1976 in einer Umfrage sogar 52
Prozent der jugoslawischen Befragten eine positive Einstellung gegenüber der ökonomischen Propaganda
äußerten. Vierzehn Prozent standen
ihr negativ gegenüber, während sie
für 34 Prozent gleichgültig war, in
179
der Woche vor der Umfrage hatten jedoch lediglich 37 Prozent in Fernsehen eine interessante Werbebotschaft
bemerkt.88 In den darauffolgenden
Jahren erhöhte sich die Akzeptanz der
Werbung und betrug 1982 74 Prozent, 1985 jedoch nur 67, 1986 73,
1987 76 und 1989 78 Prozent. Die
Wende fand auf Kosten der gleichgültigen statt, deren Anteil bis Ende
der Achtziger Jahre auf acht Prozent
gesunken war, während sich der Anteil der negativ eingestellten im selben Zeitraum zwischen 10 und 19
Prozent bewegte.89 Vom jugoslawischen Durchschnitt wichen nur die
dem Marketing zugeneigten Slowenen, Mazedonier und Wojwodiner
ab. Das schwindende Interesse an
Werbung zwischen 1982 und 1985
war eine der Folgen der schlimmsten
Jahre der Wirtschaftskrise, als wegen
der Knappheit zahlreicher Artikel,
sowie dem Werbeverbot für Kaffee
und Zigaretten auch die Sende- und
Veröffentlichungsfrequenz, sowie die
Qualität der Werbebotschaften abnahmen.90 Doch sogar damals waren mehr als zwei Drittel der Konsumenten der Überzeugung, sie seien
notwendig und nützlich, mehr Zuneigung als andere zeigten wiederum
gebildetere, arbeitende und jüngere
Bevölkerungsschichten.91 Seher und
Hörer säuselten Melodien aus Rundfunkwerbesendungen, die Kinder sahen sich das Werbeprogramm wie
Zeichentrickfilme an.92 Bereits in
der ersten Sekunde des Werbespots
konnten sie erkennen, um welches
Erzeugnis es sich handelte. Es gab allerdings Einwände, die Struktur der
„Bericht über die Arbeit des Bundes der Kommunisten Kroatiens und seiner Organe zwischen dem siebten und achten Kongress“, Osmi kongres
Saveza komunista Hrvatske. Stenografske bilješke, knjiga I., Branka Počuča, Hrsg., CK SKH, Zagreb, 1978, 230.
Über die Rolle und die Probleme der wirtschaftlichen Propaganda in unsere Gesellschaft“, Sitzung der Kommission des Exekutivkomitees des
Präsidiums des ZK BKK für informativ-propagandistische Tätigkeit 15. März 1977, IP, 9, 1977., 31-32.
Ökonomische Propaganda, TRIN, 1, 1976., 35.
Kroflin Fišer, Vlasta, „Grundlegende Indikationen für das Verfolgen der Massenmedien in Jugoslawien, sowie der ökonomischen Propaganda
in diesen Medien“, TRIN, 3-4, 1990, 150-158.
Kroflin Fišer, Vlasta, „Was bedeutet uns Werbung!?“, TRIN, 4, 1985, 119-125; „Von der Irritation bis zur wertvollen Information“, Danas,
14. August 1984.
Kroflin Fišer, „Was bedeutet uns Werbung!?“.
„Werbung – ein modernes Übel?“, Start, 17. Dezember 1975.
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Fernsehwerbung würde die wirklichen Bedürfnisse nicht widerspiegeln
und „keine wirklichen und wahren
Informationen über die Charakteristiken vom Ware und Leistungen
geben.“93
Wofür wurde also in der ersten Hälfte der achtziger Jahre geworben und
wodurch das Bild der eigentlichen
Bedürfnisse verklärt? Es scheint, Tourismus und Gastronomie hätten sich
nicht an der Spitze der Konsumprioritäten finden sollen. In der beobachteten Woche wurde im ersten
Fernsehprogramm für rund zwanzig
Arten Produkte geworben und es
wurden insgesamt 28 Werbespots für
touristische Dienstleistungen ausgestrahlt, 22 für Bücher, hauptsächlich
Kochbücher, je 15 für Schallplatten,
Süßigkeiten und alkoholfreie Getränke, 13 für Kleidung, während
die übrige Ware schwächer vertreten war.94 Zur Beliebtheit des kulinarischen Angebots trug gewiss Podravkas gesponserte Sendung bei, in
der Oliver Mlakar und der Koch Stevo Karapandža „kleine Geheimnisse
großer Küchenmeister“ lüfteten und
den Speisen stets einen Löffel Vegeta
beigaben.95 Die Messer der eigentlichen Bedürfnisse waren wahrscheinlich auch in der zweiten Hälfte der
achtziger Jahre nicht zufrieden. zwischen 1987 und 1989 verfolgte rund
drei viertel der jugoslawischen Bevölkerung täglich das Fernsehprogramm, am häufigsten jene gebildeteren, mit höheren Einkünften, im
Alter von 35 bis 44 Jahren. Fernsehwerbung sahen sich neun von zehn
Zuschauern an, denen wiederum vor
allem Werbung für alkoholfreie Getränke (Coca-Cola, Pepsi, Fructal und
93
94
95
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97
98
99
RELA
Igor Duda: Der gefundene Wohlstand
Cedevita), Kleidung (meistens Levi’s)
und Lebensmittel (Bronhi Bonbons
usw.) auffiel.96 Gleichzeitig verfolgten rund achtzig Prozent der Hörer
die Radiowerbung, jene in der Tagespresse rund die Hälfte der Leser,
in Kroatien 148 auf je Tausend Einwohner, während ebenfalls der Hälfte
der Leser Werbung in Zeitschriften
auffiel, wobei populäre Revuen von
sogar zwei Dritteln der Bevölkerung
gelesen wurden. Das Publikum war
zahlreich und offensichtlich bereit,
eine noch größere Menge Werbebotschaften zu empfangen.
Die Marktforschung richtete sich
nicht nur auf das Verfolgen wirtschaftlicher Propaganda, sondern auch
der Qualität der Erzeugnisse in der
Werbung und in den Regalen der
Geschäfte. Laut einer Umfrage aus
dem Jahr 1982 war die Zufriedenheit mit einheimischer Ware in Kroatien geringer als in allen anderen
jugoslawischen Teilrepubliken: völlig zufrieden waren nur 13 Prozent
Vegeta, Vikend, 1972.
TIONS
der Konsumenten, 60 Prozent waren
teilweise zufrieden, 27 Prozent waren unzufrieden, während die durchschnittlichen jugoslawischen Daten
in dieser Frage 24, 59 und 17 Prozent betrugen.97 Am sensibelsten waren fest angestellte im Alter zwischen
35 und 45 Jahren mit höherem und
hohem Bildungsgrad, sowie höheren Einkünften, die Hauptgründe
für ihre teilweise Unzufriedenheit
waren hohe Preise, schlechte Qualität, die kleine Auswahl gleichartiger Erzeugnisse sowie die häufigen
Versorgungsengpässe. Letztere waren
charakteristisch für die frühen achtziger Jahre, als sogar achtzig Prozent
der Konsumenten die Knappheit an
Kaffee und Waschmitteln zu spüren bekam. Dreißig Prozent spürte
die Knappheit an Öl, zwanzig Prozent an Milchprodukten, dann folgten Fleisch und Gefrierkost, Zucker,
Südfrüchte, Damenstrümpfe, Watte,
Benzin, Baumaterial, Ersatzteile, Nägel, Farben, Glühbirnen, Landwirtschaftsmaschinen, Werkzeug und andere Waren.98 Es gab aber auch eine
Reihe langfristiger Schwierigkeiten
auf dem Gebiet des Handels. Da sich
die Konsumenten an der Arbeitszeit des Einzelhandelsnetzes störten,
die den Bedürfnissen aller Käufer
nicht angepasst war, leisteten ihnen
die Medien, nach dem Grundsatz
„der Konsument hat Vorrang“, Unterstützung in der Forderung nach
längerer oder sogar nächtlicher Arbeitszeit der Geschäfte: „Das ist eine Komponente der Konsumgesellschaft, die gewiss akzeptabel ist, im
Unterschied zu anderen Komponenten, die wir akzeptieren obwohl sie
nicht so gut sind.“99 Während viele
„Von der Irritation bis zur wertvollen Information“, Danas, 14. August 1984.; Kroflin Fišer, „Was bedeutet uns Werbung!?“, 124 (Zit.).
„Von der Irritation bis zur wertvollen Information“, Danas, 14. August 1984.
Titelseite, Vikend, 26. März 1976.; „Wenn man mit Herz kocht...“, Vikend, 26. März 1976.
Kroflin Fišer, „Grundlegende Indikationen für das Verfolgen der Massenmedien“.
„ZIT/CEMA: Fette Preise schlechter Ware“, Danas, 16. März 1982.
Bizjak, Zdenko, „Was umfasst und wie lange dauert die Knappheit“, TRIN, 4, 1982., 80-87; Milekić, Vesna, „Wie erlebt die Bevölkerung die
Versorgungsprobleme“, TRIN, 2, 1983., 11-23; „ZIT/CEMA: Lange Liste der Mängel“, Danas, 3. Mai 1983.
„Konsumentenschutz: Nachtarbeit für Geschäfte verboten!?“, VUS, 11. Dezember 1976.
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slowenische Erzeugnisse, aber auch
der kroatische Taschenrechner von
Digitron Buje, Krašs Slatka tajna
und einige in den Werften von Pula, Rijeka und Split gebaute Schiffe,
ihres Designs wegen gelobt wurden,
existierte auch eine ganze Reihe visuell schlecht geformter Erzeugnisse,
die dazu noch in schlecht produzierten Verpackungen auf den Markt kamen.100 Nicht alle Hersteller hatten
begriffen, dass gute Verpackung wie
ein Magnet wirkt, sodass die Verpackung von exportierter Ware nicht
selten den ausländischen Importeuren überlassen wurde, während in
der einheimischen Fernsehwerbung
die Produkte nicht verpackt gezeigt
wurden, was den Käufern die Suche
nach neuen Waren in Selbstbedienungsgeschäften erschwerte.101 Diese Problem wird aufs Vortrefflichste
durch das Beispiel eines Speiseeises illustriert, dessen Geschmack sich mit
dem Stehen im Kühlschrank veränderte: „Wie soll man ein Eis von guter
Qualität auf dem westlichen Markt
anbieten, wenn es den schlechten Geschmack seiner Kartonverpackung
hat, die dazu noch hässlich ist?“102
Die Art der Verpackung war dem
Hersteller überlassen, aber beim Beeindrucken des Konsumenten war
auch jenes Verhältnis von sensibelster
Wichtigkeit, das beim Kauf zwischen
dem Käufer und dem Verkäufer entstand. Der Käufer wurde in Fleischereien, auf Fischmärkten, in Obstläden betrogen, ferner an den Kassen
verschiedenster Geschäfte und an
den Zeitungsständen. Die staatliche
Behörde, die sich in den Raum zwischen Verkäufer und Käufer einmi100
101
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105
106
1960er, 1970er, 1980er
schen und dem Konsumenten Schutz
bieten konnte, war die Marktinspektion. Die Inspektoren bemängelten,
dass sie zu wenige seien, weswegen
sie nicht immer und überall zur Stelle
sein konnten, und da sie in Kroatien
sogar bei einem Drittel ihrer Begutachtungen Unregelmäßigkeiten feststellten, mangelte es nie an Arbeit.103
Manche Aktionen der Marktinspektion wurden 1987 von Journalisten
der Zeitschrift Vikend begleitet, die
in ihren Reportagen alle Geschäfte
anführten, in denen betrogen wurde,
sowohl aber auch die Namen der Verkäuferinnen, die Art des Vergehens,
sowie die dafür verhängte Strafe. Es
kam vor, dass Fleisch regelwidrig in
dickeres Papier eingewickelt wird,
dessen Gewischt auf der Waage zu jenem des Fleisches dazugezählt wurde
und zusätzlichen Gewinn einbrachte.104 Hackfleisch wurde nicht in Gegenwart des Käufers vorbereitet, andere Produkte waren lange nach Ablauf der Aufbrauchfrist noch im Handel erhältlich, die angegebenen Preise
entsprachen nicht den wirklichen,
ein Preisschild für Käse war dem
Käufer zugewandt, ein anderes dem
Verkäufer, Eier der Kategorien A und
B wurden zusammen zum höheren
Preis verkauft, Zigaretten und andere
Erzeugnisse wurden unter den Pulten
gehortet und warteten auf Stammkunden, während andere sie nicht
kaufen konnten, die Beträge wurden
oft höher abgerundet, manchmal waren auf den Waren keine Preise angeführt, sodass die Kassiererinnen
diese aufs Geratewohl festsetzten,
was die ohnehin häufige Möglichkeit
willkürlichen oder unwillkürlichen
181
Eintippens eines falschen Preises in
die mechanische oder elektronische
Kasse zusätzlich erhöhte.105 Da Kassen mit Barcode-Lesegeräten und der
Möglichkeit, die Bezeichnung der
Ware auszudrucken, noch Sache der
Zukunft waren, hatten es die Käufer
schwer, ihre Rechnungen zu kontrollieren, vor allem beim Kauf in kleineren Geschäften, denn dort waren
die Preise nicht auf den Waren aufgeklebt wie in Selbstbedienungsläden.
Die Aufklärung der Konsumenten
über ihre Rechte stieß jedoch nicht
immer auf Akzeptanz, denn auch sie
schienen sich der vorherrschenden
Atmosphäre zu fügen: „Es ist in unserem Bewusstsein, dass wir benachteiligt werden, und fast niemand erhöht
mehr den Ton, wenn er Betrug feststellt. Das ist gefährlich und trägt der
weiteren Entwicklung dieses benachteiligenden Klimas bei, frei nach dem
System: heute bin ich benachteiligt,
morgen benachteilige ich jemand anderen.“106 Auf die schwache Reaktion
der Konsumenten auf diverse Ungerechtigkeiten Machte 1977 der Direktor des Kroatischen Preisinstituts
Ettore Poropat aufmerksam und hob
zugleich die Wichtigkeit der Händler
in der Kette der Errichtung von Vertrauen gegenüber dem Staat hervor:
„Die Qualität der Dienstleistung, das
Ansehen der Arbeitsorganisation, das
gute Verhältnis zum Konsumenten...
all diese Kategorien sind noch ziemlich abstrakt für einige unserer Händler [...] Symbolisch ausgedrückt, sowohl der Verkäufer, als auch der Fleischer sind politische Arbeiter, solange
sie am Arbeitsplatz sind. Von ihnen
hängt die Zufriedenheit der Bürger
„Die ersten 25 des YU Designs“, Start, 4. April 1987.
„Bilderbuch der Kultur(losigkeit): Wen kümmert’s!“, RN, 24. September 1984.
Ebenda; Ledo, Danas, 16. März 1982.
„Ein wenig ich, ein wenig du – alle bestohlen“, RN, 22. Februar 1988.
„Betrug bei Gewicht und Preisen!“, Vikend, 6. Februar 1987.
„Konsumentenschutz: Sie bestehlen mich, na und?“, VUS, 18. Juni 1977; „Betrug bei Gewicht und Preisen!“, Vikend, 6. Februar 1987; „Skandal in der Dežman-Straße“, Vikend, 13 Februar 1987; „Warum gibt es keine Lord-Zigaretten’?“, Vikend, 20. Februar 1987; „Ein wenig ich, ein
wenig du – alle bestohlen“, RN, 22. Februar 1988.
„Konsumentenschutz: Sie bestehlen mich, na und?“, VUS, 18. Juni 1977.
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182
Igor Duda: Der gefundene Wohlstand
mit den gesellschaftlichen Formen
und ihrem Funktionieren ab.“107 In
Serbien wurde die Qualität der Produkte von Zentrum für Konsumenten des Instituts für Haushaltsökonomik kontrolliert, dass Verzeichnisse
der schlechten Artikel veröffentlichte und auf diese Weise den Konsumenten Schutz bot, da die Handelsunternehmen es ablehnten, schlecht
bewertete Ware zu bestellen. In Kroatien jedoch gab es ein Konsumentenschutzzentrum noch nicht einmal
1989, als diese in allen Teilrepubliken
mit Ausnahme von Montenegro gegründet wurden.108
Die Verfassung der Sozialistischen
Republik Kroatien sah Mechanismen zum Schutz der Konsumenten
vor: „Die arbeitenden Menschen und
Bürger als Konsumenten und Nutzer von Dienstleistungen haben das
Recht, ihre Rechte und Interessen
unmittelbar zu schützen, durch ihre
Organisationen, durch Teilnahme an
der selbstverwaltenden Verständigung
und dem gesellschaftlichem Übereinkommen, sowie durch die Organe der Inspektion und des Schutzes
von Rechten und Interessen.“109 Den
Bürgern hätten so die Konsumentenräte der Gemeindekonferenzen des
Sozialistischen Verbandes der arbeitenden Bevölkerung Kroatiens (SSRNH) zu Hilfe eilen sollen, sowie
die Konsumentenräte, die bei den
meisten Ortsgemeinden tätig waren,
also auf unterster Ebene der Vereinigung der Bürger, derer es Anfang
der siebziger Jahre in Kroatien rund
dreitausend und Anfang der achtziger Jahre rund viertausend gab. Das
107
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Šljivovica Badel, VUS, 1970.
Recht der Bürger als Konsumenten
auf selbstverwaltendes Organisieren
„zum Zweck des Einflusses auf die
Entwicklung der Produktion und
der Dienstleistungen, durch die ihre
Bedürfnisse befriedigt werden, der
Verhinderung des Monopols, bzw.
des Missbrauchs monopolistischer
Stellungen und des Schutzes anderer Interessen“ war durch das Gesetz über gemeinschaftliche Arbeit
(ZUR) vorgesehen.110 Laut Verfassung, ZUR und dem Gesetz über
den inneren Waren- und Dienstleistungsverkehr im Warenverkehr sollten die Produktions- und Handelsunternehmen die Vereinigung der
Konsumenten „zwecks Erforschung
und Ergründung ihrer Bedürfnisse
und Interessen“ fördern, wobei ein
Teil der Zusammenarbeit zwischen
beiden Seiten, dem Angebot und der
Nachfrage, die Festlegung des Assortiments und der Qualität der Ware,
RELA
TIONS
sowie die Unterzeichnung selbstverwaltender Übereinkommen betreffend Versorgung, Angebot, Preise
und anderer Fragen sein sollte.111
Das Gesetz über ortsgemeinschaften
regulierte die Gründung der Konsumentenräte, aber auch die Erledigung der Bedürfnisse und Interessen
der Bürger bei Vereinigungen von
Konsumenten und Dienstleistungsnutzern, Mietern in großen Wohnhäusern, Arbeitern und Bürgern.112
In Einklang mit dem Delegationssystem wurden die Mitglieder der
Räte von den genannten Vereinigungen delegiert und zwar bei Wahlen
in Organisation der örtlichen Konferenz des Sozialistischen Verbands
der arbeitenden Bevölkerung, ferner von gesellschaftlichen Organisationen, sowie Organisationen gemeinschaftlicher Arbeit, die sich auf
dem Gebiet der Ortsgemeinschaft mit
den Verkehr von Waren und Dienstleistungen befassten.113 Solche Räte
schlossen selbstverwaltende Übereinkommen ab, bestellten Inspektionen, beurteilten deren Berichte und
gaben ihre Meinung über den Verleih von Geschäftsräumlichkeiten an
Handels-, Gastwirtschafts-, Gewerbe- und Serviceorganisationen an die
zuständigen Gemeindeorgane weiter.114 Derartige Einvernehmen waren jedoch oft nur Formalität, sodass
in einer Ortsgemeinschaft in der Zagreber Innenstadt durchaus vorkommen konnte, dass mehrere Geschäfte
entgegengesetzt den Wünschen der
Bevölkerung bzw. ihrer Konsumentenräte zu Duty Free Shops umfunktioniert werden.115 Die Bürger waren
„Konsumentenschutz: Piraterie in den Auslagen“, VUS, 19. Februar 1977.
„Konsumentenschutz: Glanz und Elend des schwarzen Körnchens“, VUS, 2. Oktober 1976; „Konsumentenschutz: Embargo fürs Über-den-Tisch-ziehen“, VUS, 30. April 1977.; „Gut, aber billig“, Vikend, 8. September 1989.
„Verfassung der Sozialistischen Republik Kroatien“, NN, 8/74, Art. 278.
„Gesetz über gemeinschaftliche Arbeit“, Službeni list (SL), 53/76, Art. 23 (Zit.); „Gesetz über den inneren Waren- und Dienstleistungsverkehr
im Warenverkehr“, NN, 32/77, Art. 101-107, 103 (Zit.).
„Verfassung der Sozialistischen Republik Kroatien“, NN, 8/74, Art. 43; „Gesetz über gemeinschaftliche Arbeit“, SL, 53/76, Art. 23 (Zit.).
„Gesetz über Ortsgemeinschaften“, NN, 19/83, Art. 38, 60, 73, 76.
Ebenda, Art. 74.
Ebenda, Art. 75.
„Gut, aber billig“, Vikend, 8. September 1989.
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über die Tätigkeit der Räte meist
uninformiert oder an ihr nicht interessiert, sodass diese, so sehr sie sich
auch bemühten, nicht viel bezwecken konnten. Die Bürger verwandelten sich nur mit Mühe in organisierte Konsumenten und es scheint
die Räte für Konsumentenschutz seien lediglich Statisten gewesen.116 Mit
ihrer Arbeit zeigte sich Milka Šormaz,
Angestellte bei der Gemeinde Bjelovar, unzufrieden: „Ich habe als Konsumentin sehr schlechte Erfahrungen
und glaube, dass auch andere sie haben. Auf dem Markt drehen uns die
Händler schlechtes Obst an, betrügen an den Kassen, sodass die Kassiererinnen dann sagen, die Kasse hätte
sich vertippt, oder es handle sich um
die Rechnung vom vorherigen Käufer. Die Waren sind teuer, schlecht,
zum Beispiel Damenstrümpfe – die
Maschen beginnen nach nur einem
Waschen zu laufen... Vom Konsumentenrat hatten wir keinerlei Nutzen, ich weiß nicht, ob sie überhaupt
etwas getan haben. Ich glaube nicht,
dass wir so bald eine Organisation
haben werden, die dem Konsumenten effektiv Schutz bieten könnte.“117
Die Studentin der Zagreber Fakultät für politische Wissenschaften
Renata Jurčević war der Meinung,
der Schutz könne auch besser sein:
„Ich glaube, bestimmte Aktionen der
Konsumentenräte beim Kontrollieren
von Produkten haben doch geholfen. Aber dann müsste man öffentlich bekanntgeben, welches Produkt
116
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122
1960er, 1970er, 1980er
und von welcher Firma den Grundkriterien nicht entspricht, sodass die
Hersteller, wenn sie einen schlechten
Ruf bekommen, auch darüber nachdenken, was sie da herstellen. So wird
alles verkauft und niemand macht
sich darüber Gedanken.“118 Im März
1988 versuchte die Aktion Konsummonat das Konsumentenbewusstsein
zu wecken, während der in Kroatien zum ersten Mal der 15. März als
Weltkonsumententag begangen wurde.119 In Zagreb wurde damals auf
jugoslawischer Ebene die Konferenz
Konsument und Handel abgehalten,
im Jahr darauf wurde ebenfalls in Zagreb die Zeitschrift YU-Konsument
als erste jugoslawische Zeitschrift für
Konsumenten gegründet.120 Im letzen Jahr, in dem Sozialismus und
Konsum koexistierten, wurde in dem
Medien ein Brief unter dem Titel Wie
schützt man Konsumenten veröffentlicht, adressiert von der Bundeskonferenz des SSRNJ an den Koordinationsausschuss des Jugoslawischen
Konsumentenrats, in dem die Aktivierung des Systems zum Schutz
der Konsumentenrechte gefordert
wurde: „Die jetzige wirtschaftliche
Situation charakterisieren veraltete
und konkurrenzunfähige Produktionsprogramme, eine schlechte Arbeitsorganisierung, sowie die drastische Verschlechterung der Produktionsbedingungen. All das führt zu
Erzeugnissen von schlechter Qualität, während die Hersteller derartige
Umstände durch ihre Preise beglei-
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chen. So fällt alles auf den Rücken der
Konsumenten, die eigentlich doppelt
Schaden nehmen. Einerseits zahlen
sie einen hohen Preis, andererseits erhalten sie Erzeugnisse von schlechter
Qualität, die oft sogar gesundheitsschädlich sind.“121 Es ist klar, dass
das Problem nicht ausschließlich im
System des Konsumentenschutzes
lag, sondern auf viel breiterer Ebene, im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen System, das
zur Gänze einstürzte. Bereits ein Jahr
nach diesem Brief entledigte sich
die Konsumkultur in Kroatien des
Rahmens des jugoslawischen selbstverwaltenden Sozialismus, die neue
Zeit aber brachte neue angenehme
und unangenehme Herausforderungen mit sich. Die im Dezember stattfindenden Märkte mit vielen Ständen und einem breit gefächerten Angebot von Massengebrauchswaren
heißen nicht mehr Neujahrsmärkte, Väterchen Frost beschenkt am
Tag der Kinderfreude keine Kinder
mehr und in der Werbung werden
die Herren anlässlich des Tages der
Frau wohl kaum mehr eine Flasche
Slibowitz als Geschenk auswählen.122
Flaschen, Schokolade, Pralinen und
Kaffee werden an den Kassen der
Geschäfte immer seltener in dünnes,
weißes Papier eingewickelt. Man übt
die Regeln einer neuen, öffentlichen
Konsumkultur.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Boris Perić
„März – Monat der Konsumenten“, Vikend, 11. März 1988.
„Mini-Umfrage: Käufer, wer schützt euch?“, RN, 10. Juli 1989.
Ebenda.
„März – Monat der Konsumenten“, Vikend, 11. März 1988.
„Gut, aber billig“, Vikend, 8. September 1989.
„Gut, aber billig“, Vikend, 8. September 198.
Slibowitz Badel, VUS, 4. März 1970; Neujahrsmesse, Zagreber Messe, Vikend, 14. Dezember 1973.
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Foto: © Višnja Arambašić
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Spiegelverkehrte Liebhaber
Wenn Verliebtheit, wie manche be-
haupten, eine vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit ist, von der
man mit der Ehe geheilt wird, was
ist dann ehebrecherische Verliebtheit, die nicht mit einer vor dem
Gesetz gültigen Verbindung endet?
Womit wird ehebrecherische Verliebtheit geheilt?
Der große Zyniker der westlichen Literatur Oscar Wilde meinte in einem
seiner beliebten Aphorismen, dass
die Treulosen den Genuss der Liebe
kennen lernen, während die Treuen
die Tragödie der Liebe kennen lernen. Er hat nicht mit hartnäckigen
Ehebrechern gerechnet: sie sammeln
beide Erfahrungen – am Anfang der
Liebesbeziehung sind sie Akteure einer leidenschaftlichen Liebe, wenn
sie jedoch hartnäckig bleiben – holt
sie die Tragödie ein. ☺ Hmmm, oder
zu so einem Schluss kommen wenigstens die (die Minderheit, sagt man)
Treuen und trösten sich damit, dass
sie nichts verpasst haben.
Wir bitten darum, von der Anstiftung
zum Ehebruch freigesprochen zu werden, aber nachdem Sie diese zwei Romane über die eheliche Untreue gelesen haben – einer geschrieben aus
der weiblichen, der andere aus der
männlichen Perspektive, schließen
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Sie vielleicht, dass sich Ergebenheit
nicht lohnt. Die Liebe belohnt nämlich trotz allem ihre Protagonisten,
was auch immer die gesellschaftlichen
Normen darüber sagen mögen.
Die Protagonistin des Romans von
Mirjana Dugandžija Ein paar Tage im August („Nekoliko dana kolovoza“) ist einer reife Frau, die die
Erwartungen in allen Rollen, die
sie gewählt hat oder die ihr das Leben zugespielt hat, erfüllen möchte:
Journalistin im Kultursektor, die verantwortungsbewusst und professionell ihre Arbeit macht; geschiedene
Ehefrau und Mutter, die sich um ihren einzigen Sohn kümmert; Tochter, die ihren Vater, die Familie und
das Familienerbe respektiert; selbstlose Freundin, die immer bereit ist
zu helfen; Kaufsüchtige, die Hilfe
braucht... Doch all ihre Identitäten
sind gezeichnet und in großem Maße bestimmt durch ihre langjährige
Liebesbeziehung zu einem verheirateten Mann. Ihre Leidenschaft, ab
und an fatal und selbstzerstörerisch,
bietet ihnen Genuss in Fülle, stürzt
sie aber auch in Verzweiflung – denn
sie sind nicht imstande die Folgen ihrer Beziehung zu bewältigen.
Drago Glamuzina hat schon mit dem
Titel – Drei („Tri“) – angedeutet, dass
ihn die Verhältnisse in einer Dreiecksbeziehung interessieren werden.
In einer sorgsam konstruierten Geschichte, die zu einem großen Teil
aus Großaufnahmen einer Liebesbeziehung besteht, die voller Lust und
Eifersucht, Grausamkeit und Zärtlichkeit, Geben und Nehmen, Selbstsucht und Großzügigkeit, Besessenheit und Nachgiebigkeit ist – sind
die Protagonisten Gefangene ihrer
Beziehung, unfähig aus dem Teufelskreis auszubrechen. Die Ehefrau, die
Dritte, ist das Maß ihres Glücks.
Liebe lässt sich nicht mit Liebe vergleichen – denn jede ist einzigartig
und anders, so sehr es dem oberflächlichen Auge auch scheinen mag,
dass dafür nur zwei nötig sind. Am
häufigsten bringt jeder auch seine
Dämonen und Engel mit in die Beziehung ein. Doch, wie Baudrillard
sagen würde: „Sobald Sie ‚ich liebe
dich‘ gesagt haben, haben Sie sich
schon in die Sprache verleibt, was
andererseits eine Form der Trennung
und der Untreue ist.“
Jandranka Pintarić
Aus dem Kroatischen von
Marijana Miličević Hrvić
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Ein paar Tage im August
Mirjana Dugandžija
VI. Schlaflose Nächte in Saloniki
D
u sagst, du könntest das Gedicht nicht entschlüsseln. Natürlich nicht, denn das kann nur ich.
Jene Nacht, die du im Gedicht beschreibst, in der du neben einer unbekannten Frau im Bett lagst, bin
ich ins Sax gegangen, habe mich auf
einen Barhocker gesetzt, die Beine
übereinandergeschlagen, als sich ein
Typ neben mich setzte und mich
fragte:
„Wo kann man heutzutage guten
Jazz hören?“
Später sagte er: „Glauben Sie, dass es
dumm wäre, nach Ihrer Telefonnummer zu fragen?“
Es wäre dumm gewesen, aber das
Gedicht wäre dadurch besser geworden. Das konnte ich nicht wissen damals, und so habe ich sie ihm nicht
gegeben.
Mein Gespräch mit Boris im Auto.
Über ein Gedicht, das er geschrieben
hat, es ist schon eine Weile her – ein
Gedicht über einen Mann und eine
Frau, die sich nicht kennen und sich
ein Hotelzimmer teilen müssen. Weil
es keine freien Zimmer mehr gibt.
Aber wo kann denn so etwas passieren, frage ich, in welchem Hotel?
Das Gedicht ist nicht schlecht. Das
heißt, sobald ich es durchgelesen
hatte, kam mir das erotische Potenzial darin kindisch vor, aber doch irgendwie auch konkret fühlbar. Das
Gedicht nervte mich.
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MIRJANA DUGANDŽIJA wurde am 7. Juni 1960 in Požega geboren. An der
Philosophischen Fakultät Zagreb absolvierte sie Komparatistik und Philosophie. Sie arbeitet als Kulturjournalistin in der Wochenzeitschrift Globus. Zuvor war sie, ebenfalls als Kulturjournalistin, bei der Tageszeitung
Vjesnik und dem Wochenblatt Nacional tätig. Ein paar Tage im August ist
ihr erster Roman.
Denn in diesem Gedicht lagen eine
Frau und ein Mann nebeneinander,
sie telefonierte mit ihrem Freund,
er mit seiner Freundin, beide flüsterten zärtlich und verführerisch ins
Telefon, wie man es zu vorgerückter
Stunde eben macht, doch im Grunde waren sie nur auf die Anwesenheit jener unbekannten Person neben
sich im Bett konzentriert. Sie lagen
zu nahe beieinander, um davon unberührt zu sein.
Jetzt will Boris es zu einem Buch
umarbeiten.
„Ich weiß nicht, ob mich die Pointe
restlos befriedigt“, sagt er mit leichtem Stirnrunzeln.
„Aber in welchem Hotel kann denn
so etwas passieren?“, antworte ich
jetzt schon ziemlich genervt. „Kennst
du jemanden, dem das passiert ist?“
„Nicht dass ich wüsste“, sagt Boris.
„Aber ich weiß es“, insistiere ich. „So
etwas gibt’s nicht.“
Schließlich habe ich im Hôtel du Louvre in Paris übernachtet, im Helmsley
in Manhattan, auf Schloss Mcely mit
zehn verschiedenen Champagnern,
irgendwo in den Jahrhunderte alten
Wäldern in der tschechischen Pampa? Ich muss es wissen.
„Kennst du, bitte schön, auch nur
eine einzige Person, der das passiert
ist?“, frage ich wieder. Diesmal keine
Antwort. Eine böse Vorahnung ergießt sich flutartig über mich.
„Na gut“, kommt es zögernd. „Mir
ist es passiert!“
Es passierte... in Frankfurt, vor ein
paar Jahren. Sie gehörte zu seiner
Gruppe, aber er hatte sie erst an jenem Tag auf der Buchmesse kennen
gelernt. Sie hatten angefangen, sich
zu unterhalten, einfach so, über die
Arbeit. Es ging um Bücher. Und wie
groß war ihre Überraschung, als sie
sahen, dass es ein Zimmer zu wenig
gab! Und dann fanden alle es irgendwie in Ordnung, dass gerade sie beide
sich das letzte freie Zimmer teilten.
Und nichts weiter. Nichts.
„Nichts ist passiert, Ksenija. Meiner
Frau habe ich es sofort erzählt, aber
dir konnte ich es nicht, weil du so
durchgeknallt bist!“
Mein Magen fühlte sich auf einmal
leer an, fast wie an dem Tag, als ich
zum ersten Mal die Kriegssirenen
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hörte, an einem Sonntag auf unserem
Berg, nachdem ein Militärflugzeug
den Zagreber Nachmittag zerfetzt
hatte. Ja klar, verstehe, mir konnte so
etwas natürlich nicht passieren, denn
ein Journalist reist alleine, einsam wie
ein Nashorn, aber doch mit der verdammten Herde seiner Redaktionskollegen! Da ist alles anders.
Und klar doch, Boris ging das alles
auf die Nerven, mein Gewimmer
und Pathos, denn einmal schrie er
mich an: „Geh nach Hause, heul
doch, renn doch mit dem Kopf gegen
die Wand... ich kann nicht mehr!“
Ich steige aus dem Auto, vergesse den
Aufzug, gehe die Treppe hoch zu meiner Wohnung, alle paar Augenblicke
durchzieht mich ein Schauer, dass
sich mein Körper zusammenkrümmt,
als müsste ich niesend in Tränen ausbrechen, aber... stell dir vor, siehst du,
es war also doch ein unglaublicher
Zufall, schade nur, dass mir jetzt
schon die Einzelheiten jenes Abends
im Sax entfallen sind, wenn es denn
überhaupt im Sax war, und überhaupt ist es jetzt schon ein bisschen
spät für all das, nun ja, irgendwie so
wird es wohl gewesen sein. Während
du in Frankfurt warst. Oder du warst
mit deiner Arbeit beschäftigt, mit
furchtbar wichtigen Besprechungen.
Oder du warst in deinem Haus am
Meer, wo du mit deiner Familie Urlaub machst und von wo aus du mich
anrufst, wissend, wie verheerend der
Sommer in der entvölkerten Stadt
auf mich wirkt, wissend, dass die Wut
eitrige Blüten in mir treibt wie Tuberosen und wozu ich alles in der Lage
bin, wenn mich der Horror vacui
überkommt. Fahr du nur ans Meer,
Liebster, dort ist es ja so langweilig.
Ich betrete die Wohnung, setze mich
aufs Sofa, greife nach dem Telefonhörer. Ich habe die Beine angewinkelt. Vielleicht sollte ich dir alles erzählen, damit wir das endlich hinter
uns bringen.
Ich denke, du weißt, wie so etwas
läuft. Es ist ein Abend wie dieser. Ei-
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Prosa
ne Frau läuft einsam in ihrer Wohnung umher, die Tage sind schon
recht kurz, die Wohnung ist erfüllt
von ihrem Tremor, sie geht hinaus auf
den Balkon, der Herbsthimmel lastet
auf den Dächern, sie ist unglücklich,
in ihrem Unglück wütend, in ihrer
Wut machtlos, in ihrer Machtlosigkeit böse, angezogen legt sie sich aufs
Bett und klopft mit der Hand ihres
ausgestreckten Arms auf die Bettdecke, ihre Kleider engen sie ein und
kneifen, der Vigor mortis all dessen,
was du immer schon wolltest, alles
Mögliche geht ihr durch den Kopf,
aber sie kann nichts machen, denn
ihr Leben verläuft schon lange in völliger Abhängigkeit von deinem, aber
du bist jetzt nicht da, und so reibt sie
sich ihre Hände mit Duftöl ein und
macht sich auf den Weg, sagen wir
mal, ins Kino, während sie in der
Straßenbahn sitzt, gleiten die Lichter
der Stadt an ihr vorbei, irgendwann
biegt sie ab und steigt ein paar Stufen in ein Lokal hinunter, aus dem
Musik nach draußen dringt.
Du liegst zur selben Zeit in einem
Zimmer neben einer unbekannten
Frau.
Hättest du zu jenem Zeitpunkt gewusst, was passierte, in jenem Herbst,
als der Typ sich neben mich setzte
und anfing, über Jazz zu reden, du
hättest gedroht, mich sitzen zu lassen.
Du würdest gesagt haben, jetzt sei
Schluss, bis ich anfinge, wie ein Schatten durch die Straßen zu streichen.
Damals wären das nicht einfach nur
leere Worte gewesen. Was später daraus wurde, das ist eine andere Geschichte. Aber damals war das alles
ein blutiges Knäuel, an dessen beiden
Enden wir uns festgebissen hatten.
Natürlich zankten wir uns später
auch, aber eher einfach so, aus Lust
und Laune. Jetzt dauerte alles viel
kürzer, denn inzwischen hattest du
so richtig Gefallen daran gefunden.
Du hast Kraft, du kannst das aushalten. Deine Kraft wird ständig größer,
187
als würdest du durch mich immun,
denn immer entlockst du mir etwas,
irgend ein längst vergangenes Bildchen, das deine Fantasie entfacht,
oder du schubst mich in etwas hinein,
um dich später wie ein über alles erhabener Pathologe aufzuspielen, der
selbst nicht richtig im Kopf ist und
sich entzückt am Anblick verkeilter
Gliedmaßen, die es mit dem Skalpell
voneinander zu trennen gilt.
Allein der Gedanke an eine andere Frau, einen Eindringling macht
mich zu einem unglücklichen Häufchen aus Fleisch und Knochen. Ich
kann das nicht ertragen, ich weiß nur
nicht, warum ich mir einbilde, dass
sich deshalb nichts zwischen uns ändert. Wohl deshalb, weil du das sagst.
Deine Worte beweisen, dass unsere Liebe sich nur scheinbar im Ungleichgewicht befindet, bestehend
aus mir angeblich zugestandenem
Verhalten, das dich nicht stört, und
dir nicht zugestandenem Verhalten,
da es mich stört, dass sie sich in Wirklichkeit aber in einem ungetrübten
Schwebezustand befindet, wie eine
weiße Kugel, festgehalten von goldenen Schnäbeln an zwei schwarzen
gebogenen Hälsen.
Zum Zeitpunkt, als sich das Gespräch ernsthaft um die in New Orleans verhafteten Wurzeln der Preservation Hall Jazz Band zu drehen
begann, quälte mich immer wieder
der Gedanke, dass du eines Tages begonnen hast, das zu tun, was du dir
immer gewünschst hast.
Du hast dir immer etwas gewünscht?
Ich dachte, wir allein wären das,
was man sich immer hätte wünschen
können.
Immer wieder kam ich zu dem Schluss,
dass du mich nicht einfach so würdest
verlassen können, du solltest es schon
sehen, du solltest dein blaues Wunder erleben. Um ehrlich zu sein, ich
hatte keine Ahnung, wie und wann,
bis... du weißt doch, wie das ist, wenn
eines Abends völlig unvorhergesehen
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188
Mirjana Dugand`ija: Ein paar Tage im August
zwei Menschen zusammenfinden,
die nichts Größeres vorhatten.
Keine Sorge, ich will jetzt nicht über
die Traurigkeit reden, von der an meinem ganzen Körper verkrustete Eiterknötchen wie Sahnebaisers sprießen.
Hundertmal hast du das schon gehört, es hängt dir zum Hals heraus,
zum Kotzen findest du das. Aber
Drohungen müssen verwirklicht werden, ebenso wie Versprechen.
Und jetzt würdest du sicherlich schon
sehr gerne wissen wollen, was ich eigentlich gemacht habe, als an jenem
Tag die Dämmerung früh anbrach, es
sieht immer so trostlos aus, es fehlte
nicht viel, und das Wasser käme von
allen Seiten herbeigeströmt. Aber ich
werde dir nichts sagen. Nicht jetzt,
während ich mit angewinkelten Beinen auf dem Sofa sitze. Ich sage nichts
mehr. Ich denke, wir würden wahrscheinlich auch jetzt wieder Streit
anfangen, aber das ginge schnell wieder vorbei.
Dabei könnte die Geschichte etwa so
beginnen. Ich habe mich auf einen
hochbeinigen Stuhl gesetzt. Als der
Typ mich ansprach, habe ich nicht
geantwortet, bin aber auch nicht
weggegangen, eine Hand lag auf meinem Knie, mit der anderen hielt ich
meinen Martini, der Typ setzte seinen Ellenbogen neben meinem auf
den Tresen und sagte: „Vielleicht
doch lieber Southern Comfort?“
„Wir sind weit weg von New Orleans“, entgegne ich.
„Wusste ich’s doch, dass Sie keine
echte Blondine sind“, sagt er.
Ein Lächeln zittert in den Mundwinkeln des Barkeepers.
Der Typ fängt an zu lachen: „Sorry,
aber das war jetzt doof...“
Es war ihm unangenehm, ins Fettnäpfchen getreten zu sein.
Ich sage dir nichts, denn noch hätte
ich meinen Satz nicht beendet, und
du würdest schon fragen: Seid ihr aus
dem Sax weggegangen?
Nun... wir sind hinausgegangen.
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Davor habt ihr aber wohl noch etwas getrunken? Du konntest doch
nicht einfach so mit dem Typ hinausgehen.
Davor haben wir uns an jenen niedrigen Tisch gesetzt, um den ein paar
klebrige rote Sesselchen herumstehen,
und auf ihnen saßen ein paar Leute.
Und?
Die Leute sahen ziemlich merkwürdig aus, muss ich sagen, als wären sie
an den Sesseln festgeklebt gewesen
und gleichzeitig irgendwie ins Schaukeln geraten, merkwürdig, nicht wahr,
doch wie es kam, dass mein Bein auf
seinem Knie lag, das wüsste ich jetzt
wirklich nicht. Und wie sein Kinn
an meinem Fußknöchel zu liegen
kam, wird ebenso schwierig zu enträtseln sein. Und wie sich, später, seine Hand auf meinen mit Flaum bedeckten Hals legte – gönnen wir uns
den Glauben, dass es der Hals war...
nein, diesbezüglich würde ich dich
nicht in die Irre führen wollen.
Was? Wann seid ihr gegangen?
Wir sind gegangen.
Du bist widerstandslos mit ihm weggegangen? Wie sah er denn aus?
Er war jung, nicht übermäßig groß,
ungewöhnlich von sich eingenommen übrigens, wie mir damals auffiel,
denn den ganzen Abend lang drehte
er sein glatt rasiertes Gesicht weder
nach links noch nach rechts, gönnte niemandem an den Nebentischen
auch nur einen Blick.
Hat euch jemand gesehen, als ihr
durch die Stadt gegangen seid?
Das weiß ich nicht, aber es gab sie
natürlich, die nächtlichen Gassigeher, die Wärter, die wichtige Gebäude bewachten, wie den Musikpavillon im Zrinjevac-Park, in dem
manchmal Sonntagskonzerte abgehalten werden und die in mir stets
die Erwartung auslösen, dass von irgendwoher ein kleiner, reifentreibender Junge im Matrosenanzug auftauchen könnte. Gays waren anzutreffen, die in den Gebüschen von Zrinjevac Zuflucht suchten, aber auch
RELA
TIONS
ein Mann und eine Frau, er kniete
auf einmal vor ihr nieder und strich
ihr mit den Handflächen über die
Waden. Dann ein kleiner sommersprossiger Iswoschtschik in Hochwasserhosen...
Ein Iswoschtschik?
Ja, nicht nur einer, sondern viele!
Mit Schirmmützen auf dem Kopf,
überbrachten sie geheimnisvolle Botschaften von einem Ende der Stadt
ans andere. Dann ein Mann, der eine
Postkutsche lenkte.
Eine Postkutsche?
Ja, eine Postkutsche, die langsam
über steile Wege dahinrollte, während die Klänge des Posthorns widerhallten und Zitronenbäume den
Duft ihrer Früchte verströmten, in
einer Landschaft also, die von den
Deutern jenes Buches, in dem ebenfalls ein Postkutscher vorkommt, als
imaginäres Neapel entschlüsselt wurde. Ferner Milchmänner und Taxifahrer...
Hat sich der Taxifahrer nach euch auf
dem Rücksitz umgedreht?
Der Taxifahrer? Der Taxifahrer war
mit allen Wassern gewaschen und
hatte zweifellos eine gewisse Übersicht über die Lageentwicklung von
Punkt A nach Punkt B, und sicher
gibt es ihn heute noch, am Taxistand
am Hauptbahnhof, oder beim Archäologischen Museum, vielleicht
am Kaptol...
Ich war ein paar Mal so am Arsch,
dass wenig fehlte und ich dir all das
erzählt hätte. Will sagen, du warst
es, der mich so fertiggemacht hat.
„Erinnerst du dich, Liebling, an den
Abend, als du da und da warst... und
ich war – ja, also ich war im Kino...?“
Eine Frau, die einem Mann hinterherrennt, trifft auf ihrem Weg immer noch einen, stimmt’s? Ich meine, wenn wir nicht gerade eingestehen wollen, dass all das passierte, um
eines Tages eingelöst zu werden für
einen Augenblick deiner Aufmerksamkeit, ein Krümelchen deiner Zuwendung...
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RELA
TIONS
Du nervst... Ihr seid also in die Wohnung gekommen.
Hier war er ein bisschen verunsichert,
weil ich nicht wollte, dass er das Licht
anmacht, wir wollen doch nicht von
außen gesehen werden, die Stadt ist
voller merkwürdiger Menschen, nicht
wahr, stecken ihre Nase in Dinge, die
sie nichts angehen, sagte ich, obwohl
mir ganz andere Gedanken durch den
Kopf gingen. Er wurde nur vom Licht
der Parklampe draußen beschienen,
trotzdem konnte ich erkennen, an seinem Oberkörper, als er sich das Hemd
aufknöpfte, dass er noch sehr jung
war. Ständig stieß er gegen die herumstehenden Kartons, die ich immer
noch nicht ausgepackt hatte, obwohl
mein Einzug schon ein, zwei Jahre
zurücklag. Schließlich fand er mit
Mühe einen Platz zum Sitzen auf dem
Sofa, das unter einem Berg von Klamotten lag, die ich kurzerhand aus
dem Koffer geschüttelt hatte, erst ein
paar Tage zuvor war ich von irgendwoher zurückgekommen und hatte
überstürzt nach etwas zum Anziehen
gesucht. Da hielt er es nicht mehr aus
und fragte, ist das Ihre Wohnung,
denn auch ich stieg nur langsam zwischen den Kartons umher, als hätte
ich all das vorher nie gesehen, die
aufgestapelten Bücher und den offen
stehenden, durchwühlten Koffer, bis
ich innehielt, denn das Handy klingelte, dein Anruf aus Frankfurt.
Du hast ihn abgeschleppt, was soll
das jetzt?
Wenn du meinst, Liebster, dass man
das so grob umschreiben kann, o.k.
Ich würde das lieber als nächtliche Intrige bezeichnen. Du bemühst dich,
deiner Stimme einen träumerischen
Klang zu verleihen, dort in der Stadt,
die die Freiheitsphilosophie hervorgebracht hat, Marcuse, Horkheimer
und Adorno, ja, du seist schon im
Bett, sagst mir Gute Nacht. Wir erobern uns die Wohnung Schritt für
Schritt, zwischen Wälzern der Lexikografischen Verlagsanstalt und alten
Nummern von Vanity Fair.
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Prosa
Und jetzt wäre ein günstiger Augenblick, deinem stecken gebliebenen
Gedicht einen Ruck zu geben. während in der Ferne das sonntägliche
Glockengeläut einsetzt, zur Feier seiner Wiederauferstehung.
Will sagen, nun müsste man entschlüsseln, warum er fragte, während
er sich das Hemd zuknöpfte – glauben Sie, dass es dumm wäre, nach
Ihrer Telefonnummer zu fragen? Ich
würde hier wirklich gern eine Pointe
aufdecken, doch wäre dir das gut genug, und würde dich das eigentlich
zufriedenstellen?
Es sei denn, wir könnten uns vielleicht auf jenen Augenblick berufen,
in dem er seine Hand an meine Wange legte, wenn es denn überhaupt so
geschah, wenn nicht ich selbst es war,
die ihm dabei half, ihn führte, seine
mit glatten Härchen bedeckte Hand
ergriff, ihm die Zigarette abnahm,
damit er seine Finger entkrampfen
konnte, lange Finger mit elastischen
Gelenken, die eine weiche Handfläche freigaben, und wenn ich nicht
mein Gesicht in dieser Hand vergrub
und ihn dabei regungslos anstarrte.
Habe ich ihm vielleicht selber gezeigt, was er mit ihr machen solle,
indem ich nach dem fein geschnittenen Gesicht dieses jungen Mannes
ausholte, das sich aber auch in diesem
Augenblick weder nach links noch
nach rechts drehte? Es ist wie immer
eine undankbare Sache zu sagen, wer
als Erster angefangen hat, außerdem
holten bald nur noch seine Hände
nach mir aus, nachdem er sich mit
gespreizten Beinen, das linke Knie
an meiner rechten Hüfte, das rechte Knie an meiner linken Hüfte, auf
mir niedergelassen hatte und Worte aussprach, die ich jetzt aber nicht
wiedergeben möchte. Wahrscheinlich waren es Worte.
Er hat dich geschlagen?
Nein, ich glaube eher, es ist so, dass
ich in der Position war, über mir, im
Licht, das man von draußen bereits
erahnen konnte, eine Zeit lang sein
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fest verschlossenes Kinn zu betrachten, auf dem das schwarze Barthaar
so schnell nachwuchs, dass es in den
paar Stunden, die wir zusammen verbrachten, blauschwarz schimmerte.
Währenddessen fuhren seine Hände
fort, mit präzisen Bewegungen auf
meine Wangen niederzusausen, und
irgendwann musste ich meine Arme
heben und meinen Kopf in ihnen
vergraben...
Hast du Angst bekommen?
Nein, eher fragte ich mich, warum er
manchmal aufstand, um laut schnaufend ein paar Schritte zu machen,
und ob ihn all diese Dinge um uns herum frustrierten, ihn daran hinderten, in die Küche zu gehen, das Licht
anzuknipsen und sich dort unter dem
Küchengerät irgendein Hilfswerkzeug auszusuchen für sein Unterfangen, das schon ein wenig anstrengend
wurde. Seine Stirn war feucht, ich
spürte es, wenn er sich erneut neben
mir niederließ, denn natürlich hatte er nicht versucht etwas zu holen,
er beugte sich immer wieder zu mir
herunter und bog sanft meine vor
dem Gesicht erhobenen Unterarme
auseinander, die unablässig in dieselbe Haltung zurückkehrten, und so
musste ich in einem Moment doch
versuchen, seinen Körper mit den
Füßen wegzustoßen...
Du hast nach ihm geschlagen?
Nein, es war eher der Versuch, das
Ganze für einen Augenblick zu unterbrechen, um mir unsere Bewegungen
irgendwie bewusst zu machen, sie
nach Merkmalen einzuordnen, da ich
nicht mehr wusste, woher sie kamen
und welchen Zweck sie hatten, wenn
auch mein Versuch vielleicht nicht
optimal aufgefasst wurde, denn jetzt
waren immer mehr Beine und Arme
im Spiel, Beine und Arme für mehrere Körper auf einmal, die mich umschlangen und sich mit der Geschwindigkeit eines Aliens multiplizierten.
Tat es weh, mein Herz?
Nun... immerhin war es für mich das
Beste, unter diesem Körper, der üb-
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Mirjana Dugand`ija: Ein paar Tage im August
rigens sehr delikat gebaut war, möglichst regungslos liegen zu bleiben.
Tat es weh?
Nein, es war eher ein Rauschen in
den Ohren, eine rauschende Leere,
das Gefühl, dass durch diese Ohren
nichts mehr in meinen Kopf würde
dringen können, doch als er sagte, dir
gefällt das, stimmt’s, begriff ich, dass
ich mich getäuscht hatte, ich hörte
ausgezeichnet. Er schien von seiner
eigenen Stimme aufgerüttelt worden
zu sein und hörte mit allem auf, nur
sein Körper bewegte sich noch eine
Zeit lang, dann hörte auch das auf.
Für einige Augenblicke herrschte
Stille.
„Glauben Sie, dass es jetzt dumm
wäre, nach Ihrer Telefonnummer zu
fragen?“ fragte der Junge, dessen links
gescheiteltes dunkles Haar die rechte
Kopfhälfte bedeckte.
Es wäre dumm gewesen, ja, aber das
Gedicht wäre besser geworden.
Es war schon Morgen, und ich musste ihn bitten zu gehen, ich aber lag
noch einige Augenblicke wach und
schlief dann ein. Ich verbrachte noch
ganze zwei Tage zuhause, dann wusch
ich mir die Haare, ließ sie mir ins
Gesicht fallen und ging in eine Parfümerie, in der ich mir verschiedene Make-ups, teure Make-ups anschaute, und als ich mir schließlich
eines ausgesucht hatte, überreichte
mir die Verkäuferin das Päckchen
wie einen Tombolagewinn. Als du
zurückkamst, konntest du nur mein
ausgeruhtes Gesicht bewundern, in
dem einige Stellen, unsichtbar für jedermann, den distinguierten Farbton
eines Amethysts annahmen.
Und ich habe dir nichts davon erzählt, ich hatte Angst, du würdest es
mir mit gleicher Münze heimzahlen.
Du würdest irgendwohin verschwinden, und wer weiß, wie das Ganze
enden würde. Um ehrlich zu sein,
grauste es mir allein schon bei dem
Gedanken, du könntest auch nur
das Geringste ahnen. Und so endete
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mein Besuch im Sax als lächerlicher
nächtlicher Ausflug. Natürlich ging
es dabei ums Fremdgehen. Um Rache. Liebe, Verrat, Rache. Rache, bei
der etwas schiefgelaufen war. Rache,
die keine war, denn du weißt ja gar
nichts davon. Rache muss heiß gegessen werden, Heiß, wenn man den Mut
hat, die Konsequenzen zu tragen.
Aber jetzt, da ich mit angewinkelten Beinen auf dem Sofa sitze und
eh alles schon egal ist, werde ich dir
nichts erzählen. Ich weiß, wie sich
diese Geschichte noch einmal gegen
mich kehren könnte. Ich kann es
förmlich hören, wie du ihr die Knochen brichst und sie in deiner Hand
zerbröselt wie mürber Eiweißteig.
Alles, was mir je passiert ist, habe
ich dir schon gebeichtet. Der Doktor. Der einarmige Geigenlehrer, getarnt als Tennislehrer; der Torten backende Minister mit seinen weißen
Armen und dem schwarzen Muttermal auf dem Handrücken. Der
flachsblonde Norweger, ein Nachfahr Leif Erikssons, der Glückliche
genannt, vielleicht aber auch seines
Bruders Thorvald, dessen Drachenschiff mit dem weit geöffnetem Rachen ihn bis vor die Küste von Hvar
brachte, wobei er sich an Vogelflug
und Wellengang orientierte und des
Nachts die Hauksbók studierte. Später sind wir besudelt vom Blut seines
Schwertes und übersät von violetten
Blütenblättern, die durch die Flucht
des verängstigten Volkes aufgewirbelt
wurden. Er verschwand mit der ersten Brise, die sein Rahsegel blähte,
und trug alles mit sich fort, was es
auf der Insel an Schätzen gab.
Der Schlitzer, Alpha-Fleischer und
Bezirksbeschäler. Hinter dem Ladenraum wälzt er Schulterstücke und
Keulen. Wenn er wieder nach vorne
kommt mit seinem Messer in der
Hand, dessen Klinge eine verdickte
Spitze hat und wie aufgegeilt nach
oben gebogen ist wie der Phallus des
Hermes, jenes Gottes, der die Seelen
RELA
TIONS
der Toten in die Unterwelt begleitet
sowie Reisenden und Betrügern seinen Schutz gewährt, entfährt jedem
Anwesenden ein Seufzer der Bewunderung. Die Kundschaft ätzt ihn,
widerliche Weiber mit fettigen Haaren, umweht vom Mief ihrer durchgeschwitzten Kissen, Frauen in den
Vierzigern mit über dem Bauch spannenden Turnhosen, die sich zum Fleischer aufgemacht haben, der Schafen
und Rindern mit der bloßen Hand
das Genick bricht.
„Können Sie’s mir auch so machen?“,
gurrt heute eine, als sie sieht, wie er
Fleischstücke durch den Wolf dreht,
nachdem ich Hack verlangt habe.
„Na, vielleicht ähnlich... aber genau
so bestimmt nicht“, murmelt er.
„Ich meinte, alles zusammen, damit’s
schneller geht...“, sie hat begriffen.
Ich gehe.
Ein, zwei Minuten später im Aufzug erblicke ich im Spiegel entsetzt
mein bleiches Gesicht über dem Kragen des roten Mantels, der nur von
dem breiten roten Gürtel aus Siena
zusammengehalten wird. Ich senke
meinen Blick um ein paar Millimeter,
wie Clive Owen in einer der letzten
Szenen von Closer.
Meine Geschichten finden sich in
deinen Texten wieder.
„Sind das nicht meine Geschichten?“, frage ich.
„Ich dachte, das sind unsere Geschichten“, antwortest du. Umso schlimmer.
Du verbreitest sie auf dem CvjetniPlatz, enthüllst die zarten Geheimnisse meiner Eifersucht. Du trägst sie
in das Halbdunkel der Cafés. Du
kommst herein, als wärst gerade du
jener hünenhafte Centurio aus Triest,
der mit den schwarzen Haaren und
dem schwarzen Schnurrbart, der auf
einer Harley Davidson in die Stadt
geritten kam, dann mir seinen Helm
mit dem quer stehenden Helmbusch
aufsetzte, damit ich sicher durch die
neu eroberte Provinz galoppieren
konnte, während seine Flanken mei-
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RELA
TIONS
nen Leib abschirmten. Du trittst an
den Tisch heran, gefolgt von den Blicken der anderen, ja, du trägst das
Gladius hispaniensis, das längste aller
Schwerter. Davon soll Scipio bei den
karthagischen Schmieden sogar hunderttausend Stück für seine Soldaten
bestellt haben, mit dem Versprechen,
Karthago niemals zu zerstören.
Die karthagischen Schmiede schmiedeten hunderttausend Schwerter für
das Heer des Scipio Africanus.
Das wurde Karthago zum Verhängnis.
Ich habe vor dir längst keine Geheimnisse mehr. In mir ist nicht das kleinste Quäntchen Gift zu finden, selbst
wenn mein Leben davon abhinge.
So hatte ich mir das früher nicht vorgestellt. Du sprachst anders mit mir.
Ich spüre um mich herum die Gegenwart dieser anderen Frauen, denen
du erlaubt hast, in unsere Geschichte
einzudringen. Sie bewegen sich darin, als wäre es ihre eigene.
Du hast sie herbeigerufen in jener
Nacht, als es passierte. In jener Nacht.
An vielen Tagen. Du hast sie herbeigelockt mit der Beschreibung deiner
Rippe. Andere Frauen werden aufgereizt durch den Klang deiner Stimme,
wenn sie das Wort Fotze ausspricht.
Fotze. Nun kommt es ihnen vor, als
hätten sich die Schweißperlen in deinen Achselhöhlen nur für sie gebildet. In jenem schäbigen Hotel.
Als hättest du extra für sie den Gürtel aus schmalen Kupferplättchen
getragen, an dem nur ein Dolch befestigt war.
Die Existenz unserer Geschichten hat
Raum gemacht für eure. Du hast sie in
meine Seele blicken lassen. Jetzt wollen sie ihre Seele vor dir ausbreiten.
Schon lange warten sie darauf, dass
jemand in ihnen nach etwas sucht,
das es dort gar nicht gibt, mein Lieber. Du bist ja schon ganz erstarrt
unter diesen Ergüssen, wie Väterchen
Frost mit von Zuckerwatte bedecktem Gesicht.
Wusste ich es doch, dass sich all das irgendwie gegen mich kehren würde.
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Prosa
Pigmentlose Gesichter schweben über
uns. Augen, trocken wie Zunder, sind
über unserem Bett. Augen, blind wie
die einer Ratte, wässerig wie Brandblasen, trüb wie nässende Schwielen,
treiben auf dich zu. Du hast sie verhext mit dem Anblick deiner Lende,
die sich in ihrer ganzen Länge meinem Schoß nähert.
Dir ist klar, was vor sich geht, aber
was kannst du schon dafür? Das Innerste des einen drängt dem des anderen zu, dem Gesetz kommunizierender Gefäße folgend.
Sie spüren, dass du sie verstehst. Zwischen euch ereignet sich das Wunder
gegenseitigen Verstehens.
Du redest.
Geschwüre rekeln sich in den Säften
ihrer Eingeweide.
Du hörst zu.
Die Gewebekapseln ihrer Innenorgane vernarben, während im Inneren verschleppte Entzündungen schwelen.
Du schaust.
Meine Seele flackert leise wie eine
kleine Kerze.
Wie eine kleine Kerze, eine Flamme,
ein Licht, ein Grablicht, so nennt
man das.
Dir nähert sich ein tätowierter Rüssel.
Wie eine Flamme.
Ihre Eckzähne wachsen unablässig,
während der grüne Pilzbelag auf ihren Zungen nur in jenem offenbarungsähnlichen Sekundenbruchteil
aufblüht, in dem die Exkremente
aus dem Körper auszutreten beginnen, der sich aber jeglicher Begriffsbestimmung entzieht.
Wie ein Licht.
Eure Nasenflügel weiten sich, um
freigesetzte Duftmoleküle aufzunehmen, die sich dann einnisten und
zu ganzen Molekültrauben heranreifen.
Wie ein Grablicht.
Ihre Körperöffnungen lassen schmatzende Geräusche vernehmen.
Deine Hand ruht auf dem Einband
eines Buches, auf der Lehne eines
Stuhls.
191
Wie ein Licht, ein Grablicht, das man
einmal im Jahr anzündet, zum Sonntag der Toten.
Ihr habt euch noch etwas zu sagen.
Ihre Zähne durchstoßen die Oberlippe und reichen mit den Rändern an
die Augenlider heran. Die Lider sind
fest verschlossen beim Ausstoßen der
letzten Laute, kurz bevor die Finsternis der Jahrhunderte ein Bronzeblatt
zwischen sie wirbelt.
Du lachst.
Wie ein kleines Licht, das an einem
fernen Ort verlischt.
Ihre Körperhaare wachsen inwärts
in den durchlöcherten Hals ein. Gase treten aus den Milchdrüsen aus.
Der eingeringelte Schwanz kehrt in
die Bauchhöhle zurück. Im Boden
bleibt eine Mulde von einem Körper zurück, der sich in dem, was er
gestern noch zu sich genommen hat,
herumwälzte.
Auf unbekannten Gräbern.
Ihr schweigt.
Ihr Köpfe triefen von Fett, und ihre
Ohrmuscheln streifen den Boden,
während sie an den Hinterbeinen
herabhängen. Ihre Mägen ist in drei
Hälften unterteilt.
Ihr steht auf.
Aus den Mägen entleeren sich Eicheln, winzige Wirbeltiere, prall gefüllte Würste, ein Hühnerflügel und
Klauen.
Winzige Würmer rieseln aus den Falten zwischen ihren Zehen hervor.
Ihr geht.
Ihre Borsten brodeln neben dir wie
Weingulasch auf dem Kirchweihfest.
Beckenknochen, Knorpel und Säuren kreisen unter dem herumrührenden Huf des Kochs, dessen Körper bis
in das entfernteste Teil prallvoll mit
Blut ist. Vaginen und Arschlöcher,
die bis vor kurzem noch ein Schmatzen verlauten ließen, verdampfen im
Kessel, in dem Seife gesiedet wird.
Ja... fast hätte ich dich beschuldigt,
mir meine Liebhaber, mein Leben
und meine Geschichten weggenommen zu haben. Richtig ist aber, dass
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192
Mirjana Dugand`ija: Ein paar Tage im August
Ich rufe dich nicht an.
Diesmal nicht, denn jetzt weiß ich,
dass ich dir die ganze Zeit beim Verrat
an mir selbst geholfen habe.
Ich sitze auf dem Sofa mit angewinkelten Beinen, während du nach
Hause unterwegs bist und dich immer noch darüber ärgerst, dass ich
die triviale Tatsache nicht ertragen
kann, dass du eine Nacht lang, während ich in der Stadt umherirrte, in
deinem Zimmer neben einer unbekannten Frau lagst.
In meinem Zimmer herrscht Stille,
nur gedämpfte Motorengeräusche
von Autos, die unterm Fenster vorbeifahren, sind zu hören. Darin sind
Menschen, die von der Arbeit zurückkehren. Darin ereignen sich beruhigende, unerhebliche Dinge.
per, der seine kindliche Gestalt bewahrt hat, schmal wie eine Pflanze,
umschleicht zögernd sein Bett, ein
Glas in der Hand. Eine kleine weiße
Tablette nähert sich der Zunge. Der
Körper legt sich aufs Bett. Dann
durchfährt ihn eine Bewegung.
„Nein, heute Nacht werde ich nicht
einschlafen.“
Gewöhnlich setzten wir uns ins Auto und suchten einen Ort, der noch
belebt war.
„Ksenija, das kann nicht gut gehen“,
sagtest du.
„Okay, lass das jetzt... wenn man es
mir am Morgen nur nicht ansieht“,
antwortete ich lachend.
Am Morgen musste das Kleid fließend den Körper umspielen, und so
war es auch, denn in der Nacht war
ohnehin jedes überflüssige Gramm
daraus abgesaugt worden.
Erotica insomniae. Pavor nocturnis.
Du schlürftest meine Hilflosigkeit
auf wie eine Katze, der man Innereien vorsetzt. Lass die Finger von einer
Frau, die nachts nicht schlafen kann,
wollte ich dir sagen, so eine ist zu allem fähig. So eine hat in die Hölle
geschaut. Sie hat sie erlebt. Da gibt
es keine Abhilfe, deswegen ist ihr alles egal. Alles ist erlaubt. Nur wenige
Sachen sind nicht erlaubt.
Solange sie denken kann, will sie möglichst so sein wie die anderen, aber
immer kommt etwas dazwischen.
Aber gut, mein Lieber, da wir es nun
schon mal angesprochen haben, da
es um dich und um mich geht, womit wir in Zukunft aber vorsichtiger
umgehen müssen, jetzt besprechen
wir noch das hier, und dann ist Schluss.
Du wusstest gar nicht, dass es so etwas wie Schlaflosigkeit gibt, bevor du
mich kennen gelernt hast. Schlaflosigkeit, das ist, als würden Nichtschlafende von Untoten heimgesucht
und streckten diesen einfach ihren
Hals entgegen. Du warst ehrlich überrascht, mein Lieber, als du gesehen
hast, in was für ein Ritual sich Schlaflosigkeit verwandeln kann. Ein Kör-
Wie alt warst du, Ksenija, als du
zum ersten Mal zum Arzt gebracht
wurdest, damit er dir etwas gibt,
Herrgott nochmal, und du endlich
einschlafen kannst? Siebzehn. Du
warst in Griechenland unterwegs und
nachts, in deinem Zimmer im Hotel Kapsis, lauschtest du den Geräuschen von Saloniki, das unter deinem Fenster dröhnte. Das Morgenrot drang durch die Vorhänge herein.
Du konntest nicht schlafen.
Ermattet von den schlaflosen Nächten in Saloniki, badetest du im Swimmingpool auf dem Dach deines Hotels in Athen, während dir die weiß
ich dir mein altes Tagebuch, das über
den verfickten Arzt, selbst gegeben
habe. Hier, Liebster, mein Leben.
Für dich. Möchtest du’s lesen? Wirklich? Ich möchte es auch. Die anderen
hast du dir selber genommen. Aber
gut, geschehen ist geschehen. Doch
auch das hat uns nicht gereicht. Hat
dir nicht gereicht. Sagen wir mal,
dass danach Dinge passiert sind, die
schlecht für mich waren. Wem von
uns hat das nicht gereicht? Wir fingen an, uns neue Dinge auszudenken, waren immer schärfer drauf. So
waren wir eben.
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RELA
TIONS
leuchtende Stadt zu Füßen lag. An
der Rezeption gab man dir eine Adresse. Ein Dienstmädchen öffnete
die Tür. Du tratest ein in die dämmrige Wohnung des Arztes, in der
schwarz lackierte, mit funkelndem
Glas gefüllte Vitrinen und hohe Vasen standen und Teppiche die Schritte dämpften. Die plötzliche Stille ließ
dich innehalten, nur wenn die Kerzenleuchter ihre Kristallfunken versprühten, war so etwas wie Knistern
zu hören, als würden irgendwo unsichtbare Flügel von einer Flamme
angesengt. Dann hörtest du Schritte. Er kam aus der Tiefe des Zimmers
und war ganz in Schwarz gekleidet,
hatte eisige, lange Finger.
„Why are you so afraid of the night...
Xenia? Night is made for love...“
Du hättest schwören können, dass
ein Wölkchen dampfenden Atems
seinem Mund entströmte, so kühl
war es in der Wohnung.
„So, you don’t sleep... Why is it a
problem?“
„I feel so tired... so guilty in the morning.“
Er kommt einen Schritt auf dich zu.
Hebt mit den Fingern dein Kinn
an, um dich daran zu erinnern, dass
du seinem Blick standhalten musst.
Aber sie blenden dich, die schnellen Tode, die kleinen Hinrichtungen
rings um dich her, und du musst mit
der Hand deine Augen bedecken.
„Like I have to be awake, not to miss
something... something that is happening.“
„But you would like to sleep anyway?
In spite of missing something?“
„I would...“
„When you come home, see your
doctor. Until then...“
Er streckt seine Hand nach der funkelnden Lackoberfläche des Tisches
aus und schaut dir dabei weiterhin
geradewegs in die Augen, als würde
das, wonach er sucht, von selbst in
seiner Hand erscheinen.
„Tonight, you will take one, next day,
you will cut it.“
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RELA
TIONS
Cut. Blutleere Finger schnippen vor
deinen Augen durch die Luft. Sie
verströmen den Duft von Kölnisch
Wasser und Apothekengeruch, und
ein Hauch von Kälte entweicht aus
dem Inneren seines Hemdes, das sich
vom Körper gelöst hat.
Dann geht er, hoch aufgerichtet, entfernt sich mit schnellen Schritten,
und du erkennst, dass er ein Bein
nachzieht.
Geräuschlos erscheint das Dienstmädchen und geleitet dich auf den
Korridor zurück, entlässt dich dann
auf die Straße, wo dich erneut das
Tageslicht bestürmt. Am nächsten
Morgen gehst du träge zum Hafen
hinunter, betäubt von dem, was er
dir durchs Blut hat strömen lassen.
Auf dem Schiff sind viele junge Leute, die mit Schlafsäcken unterwegs
sind. Die Nacht verbringen sie unter freiem Himmel, lassen sich von
Düften aus der Vergangenheit in den
Schlaf wiegen. Früher war das auch
dein Leben gewesen, aber jetzt gehörst du nicht mehr dazu.
Denn dein Leben zerfiel damals in
zwei Teile, doch du vermochtest keinen dieser Teile zu verstehen. Die
Zeit vor der Schlaflosigkeit. Die
Schlaflosigkeit.
„Tatsächlich, ich habe nie darüber
nachgedacht. Aber sag mal, wie fühlt
es sich an, wenn man nicht schlafen
kann“, wolltest du wissen.
Als ob alle Dinge keinen Schatten
mehr hätten, weder lichte Schatten
noch dunkle Schatten. Ich bewege
mich zwischen entblößten, hässlichen Dingen. Siehst du denn nicht,
wie hässlich auch ich bin?
Und jetzt ist bereits klar, sagt Alfred Adler in seiner Individualpsychologie, dass der Personentyp, der
an Schlaflosigkeit zu leiden beginnt,
mit „bestürzender Sicherheit“ beschrieben werden kann: Misstrauen
in die eigenen Kräfte, hochgesteckte, ehrgeizige Ziele, Angst vor Entscheidungen; zugleich die Neigung,
den Selbstwert herunterzuspielen,
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Prosa
193
aber auch Selbstsucht, wie bei hypochondrischen und melancholischen
Zuständen.
Schlaflosigkeit ist ein klassisches psychologisches Symptom, eine Konversion im weiteren Sinne. Palliative Medikamente haben manchmal
Wirkung, mitunter aber auch nicht.
Schlaflosigkeit ist für Adler ein Bindeglied in der Kette jeder nervösen
Lebensmethode. Sie ist ein Hemmnis im Leben des Patienten, sie behindert ihn in allem, aber er fühlt,
dass er keinerlei Verantwortung für
sie trägt. Der Schlaflose schätzt den
Schlaf sehr. Kein Arzt, so Adler weiter, wird die Bedeutung des Schlafs
unterschätzen, „wer aber Selbstverständliches so breitspurig in den Vordergrund stellt, darf wohl um seine
Absicht gefragt werden“.
Schlaflosigkeit – ein Meisterwerk des
nervösen Charakters.
Das Ziel der Behandlung ist, die
Schlaflosigkeit als Mittel und nicht
als rätselhaftes Schicksal zu erkennen.
Daran, mit welchen Gedanken du
einschlafen kannst, mit welchen auf
gar keinen Fall. Du darfst nur nicht
dein Herz zu sehr an etwas hängen.
Es vollzieht sich eine Umwertung
aller Werte – auf der Suche nach
ein bisschen Schlaf. Wichtige Dinge,
solche, die du für wichtig gehalten
hast, Ideen und Ambitionen, müssen eines nach dem anderen wegfallen. Denn du kannst dir selbst nicht
mehr trauen.
Du lernst gehen. Mit 17 Jahren. Diese Person bist nicht mehr du.
„Aber das bedeutet vielleicht nur,
dass dein Leben nicht banal sein
wird, wie das Leben so vieler anderer
um dich herum“, sagt Vater.
Im Herzen fröstelt es dich vor so vielen Erwartungen.
Deine Schlaflosigkeit wird zum Familiengeheimnis. Und du weißt nie,
wann du einen raschen, verstohlenen
Blick erhaschen wirst, den die Erwachsenen tauschen, wenn sie glauben, dass du nicht hinschaust.
Manchmal erschreckt dich das, was
du liest, so sehr, dass du das Buch
hinter Vaters Regal wirfst, hinein
ins tiefste Dunkel. Dann holst du
es wieder hervor, die Bücher stapeln
sich auf dem Tisch, sie verlocken und
schrecken dich gleichermaßen. Aber
irgendwie versäumst du es immer zu
enträtseln, was dir die Schlafosigkeit
sagen wollte.
Die Angst vor der Nacht bringt dein
Leben durcheinander, doch dann
fügt sich das Leben wieder zusammen, ganz aus Teilchen bestehend, so
richtig crooked. Dein neues Leben.
In deinem neuen Leben gibt es nur
selten einen Tag, an dem du erholt
und fröhlich die Augen öffnest.
Ein andermal wälzt sich die Schwere
des Vortages nur in den nächsten hinein. Du ziehst den Rollladen hoch,
schiebst die Vorhänge auseinander,
und der Tag draußen hockt da wie
ein Rabe auf einem Ast.
Du lebst in den Tag hinein. Passt dich
an die neue Ordnung der Dinge an.
Doch dann, mit den Jahren, wenn
am Fenster der eisige Morgen sichtbar wurde, begriff ich, dass es einen
Moment gab, der wie geschaffen war,
dass mich die milchige Leere des
Schlafs überkam.
„Ksenija, du kannst die Nacht nicht
zum Tage machen“, sagt man mir.
Aber jetzt ist es zu spät. Ich habe
schon gelernt, worin die Kraft der
Schwachen liegt und wie man davon
profitieren kann.
Ja, es gibt Wesen, fast Menschen,
die durch die Nacht wandeln gerade so wie durch das Leben am Tag,
nicht wissend, wohin sie aufgebrochen sind, erleichtert darüber, nirgendwo anzukommen.
Und so habe ich meine Lebenserfahrungen um eine weitere bereichert. Der Mann, mit dem ich eines
Tages zusammen leben werde, muss
derjenige sein, an dessen Seite ich
einschlafen kann. Du bist das niemals gewesen. Du hast viel gefordert.
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194
Mirjana Dugand`ija: Ein paar Tage im August
Dir galten meine Wutausbrüche, die
nächtliche Raserei zur Notapotheke,
die Getränke, die ich mir zusammenbraute. Und diese Auflösung vor deinen Augen, du konntest dein Glück
kaum fassen, als sei dies nur für dich
bestimmt gewesen. Vielleicht war es
auch so, aber vorher musste man nur
der eigenen Seele ein Leben lang aus
dem Weg gehen.
Ich fing an, die Kerle in solche für
tagsüber und solche für nachts zu
teilen.
„Für tagsüber und für nachts?!“ fragtest du.
Der Mann, an dessen Seite ich werde einschlafen können, wird derjenige sein, der keine Forderungen an
mich stellt.
„Dir ist es doch völlig egal, was jemand von dir fordert, dir geht es doch
einzig darum, was du von jemandem
forderst“, sagst du lachend.
„Lass das... hör mir doch zu“, antworte ich.
„Na gut, o.k.... Kerle für nachts?“
Sie mussten ihre Unruhe auf mich
übertragen, wie die Stierkämpfer in
Pamplona... lache ich zurück. Doch
sie mussten rechtzeitig wieder abhauen... kapierst du?
Nur gelang es mir nicht immer, sie
loszuwerden, im alles umhüllenden
Aschgrau der Morgendämmerung.
Nicht immer? Nie. Das war eine
Angelegenheit für eine Nacht, nur
dass sie angedauert hat... wie lange
eigentlich?
Ich meine, du.
Ja, hätte ich dir beinahe gesagt, Hände weg von einer Frau, die nicht
schläft. Ich tat es aber nicht. Denn
niemand hat es je so genau getroffen und gewusst, worauf ich warte,
während ich warte, dass zwischen den
Vorhängen der Morgen aufscheint,
wie der längliche Bauch eines zum
Trocknen aufgehängten Fisches.
„Du wartest darauf, nicht mehr wach
zu sein?“ sagst du, dich zu mir wendend.
„Ja“, sage ich, ohne mich zu rühren.
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XII. Die Wahl der Waffen
Ich kaufte mir blau lackierte Herbstschuhe mit sehr hohen Absätzen.
Vielleicht weil ich sonst nichts anderes gekauft hatte, lief ich leichten Schrittes, trotz der Absätze, die
wirklich so hoch waren, dass man
mir manchmal hinterherpfiff und
ich Kommentare hörte wie, vierzehn
Zentimeter, juhuuu! Ich lief wie auf
einem Teppich. Oder einem Teppich
aus Blättern, wie an jenem lange zurückliegenden Tag, als ich meinem
Uniprofessor begegnete; ich mochte
ihn, er war schon sehr alt, wir schlenderten unter der Baumreihe in der
Vukovarska-Straße dahin, da sagte er
plötzlich, ganz der typische Dalmatiner, der er war: „Dieser wunderbare
Zagreber Herbst...“
Ich musste an dich denken, keine
Ahnung, warum, vielleicht weil ich
in dieser Zeit ohnehin an nichts anderes dachte, ich hatte dich ein paar
Monate zuvor kennen gelernt, und
ich musste lachen: „Ja, dieser wunderbare Zagreber Herbst.“
Boris und ich trafen uns immer nach
der Arbeit am Cvjetni-Platz. Ich kam,
als wäre eine sehr lange Zeit vergangen, dabei war ich nur ein, zwei Wochen weggewesen. Noch vor kurzem
war mir hier alles auf die Nerven gegangen, aber jetzt nahm ich um mich
herum das normale Stimmengewirr
von Leuten wahr, die hier Kaffee
tranken.
Oder ich bummelte durch die Stadt,
setzte mich in ein Café, vor dem herumrollende Kastanienfrüchte lagen.
Wenn die Zeit kam, mich mit Boris zu treffen, zahlte ich beim Ober,
der mich anlächelte, und ging. Eines
Nachmittags, in der Redaktion, fiel
mein Blick auf einen Stoß abgelegter
Zeitungen und eine alte Notiz, die
besagte, dass ein Mamet-Film, den
ich mochte, auf DVD erschienen sei.
Ich war sehr überrascht, als ich die
Notiz sah; das war vor etwa einem
Monat gewesen. Der Film war aus
RELA
TIONS
dem Ende der Achtziger, es schien,
als wäre er schön längst vergessen.
Und den ganzen Monat schon wollte ich ihn kaufen, vergaß es aber immer wieder. Jetzt starrte ich auf die
Notiz, als sähe ich sie zum ersten
Mal, und wollte den Film sofort haben. Ich musste ihn noch am selben
Abend sehen. Im Computer ließ ich
ein unvollendetes Interview zurück.
Ich würde nicht mit der Straßenbahn
bis zum Jelačić-Platz fahren, sondern
zwei Haltestellen früher aussteigen,
beim Theater, und dann die Abkürzung über den Cvjetni-Platz nehmen
und so zu dem Geschäft gelangen.
Dann könnte ich mich irgendwo
hinsetzen und auf Boris warten, mir
blieben noch eineinhalb Stunden bis
zu unserer Verabredung.
Während ich die Masarykova-Straße entlanglief, schien mir die Sonne
warm auf den Kopf, ich verlangsamte meinen Schritt, um diese Berührung länger genießen zu können. Am
Cvjetni-Platz waren viele Menschen,
und hier geriet ich schon ins Stocken,
schloss für einen Moment die Augen.
Die wohlige Stimmung dieses Nachmittags war so ungewöhnlich, so
überwältigend, dass es den Eindruck
erweckte, als gäbe es ihn gar nicht.
Hier saßen viele Bekannte von mir,
auch die fächerförmige Theatertussi. Sie rauchte, das Haar rann ihr in
dünnen Strähnen vom Scheitel und
die Wangen hinunter, und ich schloss
daraus, dass sie es vielleicht gar nicht
sehen konnte, als ich ihr zunickte.
Sie schaute, wenn ich so sagen kann,
hinter den Haaren hervor und führte
ihre Zigarette an die Lippen.
Ich ging den Film holen und als
ich zurückkam, saß sie immer noch
in derselben Haltung da. Ihr Blick
war starr wie der einer Blinden auf
denselben Punkt gerichtet, Richtung
Preradovićeva-Straße, sodass auch
ich unwillkürlich den Kopf hob. Etwa zwanzig Schritte vor mir erblickte ich Boris. Er war soeben um die
Ecke gekommen.
30.4.2011. 17:53:08
RELA
TIONS
Ich dachte, er ginge auf mich zu,
ich wollte ihm zuwinken, aber dann
begriff ich, dass er mich überhaupt
nicht sah, seine am Körper anliegenden Arme schlenkerten langsam, als
bewegte er sich im Wasser, sein Kopf
war nach links gedreht, und seine
Augen suchten die an den Tischen
sitzende Menge ab.
Durch das breite Lächeln der Fächerförmigen gerieten ihre Gesichtsfältchen in Bewegung wie die Flügel einer
Windmühle, ich begriff, dass auch
sie dich erblickt hatte, und verschwand
schnell in der ersten Hofeinfahrt. Ein
kurzes Nicken, in ihrem Gesicht flackerte es noch einmal auf, dann erlosch es, woraus ich schloss, dass
nicht sie es war, die du suchtest. Ich
werfe nochmals einen kurzen Blick
aus der Hofeinfahrt und an einem
Tisch in unmittelbarer Nähe, so nah
an mir dran, dass ich jäh innehalte,
erblicke ich ein orangenes Wölkchen.
Die Orangene saß allein, das Haar nach
hinten geworfen, den Kopf ebenfalls
nach hinten gelegt. Sie hielt die Augen verschlossen, sonnte sich.
Ohne ein Wort setzt du dich zu ihr.
Sie öffnet die Augen, und ihre Finger
mit den langen, durchsichtigen Nägeln greifen nach dem Glas, ebenfalls
ohne ein Wort. Dann sagt sie etwas,
und schon unterhaltet ihr euch, ohne viele Bewegungen. Ich sehe euch
beide im Profil. In den Dreiecken
eurer geöffneten Lippen gleitet der
Herbstnachmittag an euch vorbei.
Ihr sprecht in den ruhigen Sätzen
zweier Menschen, die keiner großen Erklärungen bedürfen. Wenn
sie nach dem Glas greift, scheint das
Licht durch ihre Fingernägel hindurch, dann lacht sie auf, wirft mit einem leichten Seufzer den Kopf nach
hinten und schließt erneut die Augen. Du sprichst weiter, während sie
mit den Händen über den Hinterkopf streicht und die Haare anhebt,
als wolle sie sich strecken oder die
Haare aufstecken, und sie verbleibt
in dieser Haltung, den Kopf in die
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Prosa
Hände gestützt, während ihr Gesicht
leuchtet wie eine Sonnenscheibe.
Dann verschwand die Sonne, die
Menschen um euch herum streiften
sich Jacken über. Du sahst kurz auf
die Uhr und als du begriffst, dass ich
schon eintreffen oder mich bei dir
melden müsste, schwiegst du eine
Weile, dann blicktest du erneut auf
die Uhr und begannst dich umzuschauen. Da trat ich an euch heran.
Unvermittelt, denn aus der Hofeinfahrt waren es nur ein paar Schritte.
„Ich habe dich gar nicht kommen
sehen...“
„Ich war den Film holen.“
„Setz dich“, du bietest mir einen Sessel
an. „Das hier ist Vanda... Ksenija.“
Eine Sekunde lang Schweigen.
„Campari?“
„Nein, ich muss gehen. Es ist später,
als du denkst“, sage ich lachend.
„Wie hast du den Tag verbracht?“
„Mit Bummeln. Dieser wunderbare
Zagreber Herbst“, antwortete ich.
Wir erhoben uns, gingen gemeinsam
los und setzten uns dann ins Auto.
„Hast du nicht gesagt, dass du für
morgen Fleisch brauchst?“ fragtest
du, als wir in meinem Wohnviertel
ankamen.
„Jetzt? Die haben schon geschlossen.“
„Der Metzger ist noch da, ich habe
ihn durchs Schaufenster gesehen.“
„Wenn du meinst...“
Ich gehe zur Eingangstür der Metzgerei, klopfe an, bleibe eine Sekunde stehen und gehe dann zum Auto zurück.
„Er hat schon geschlossen, hat mir
aber zugewinkt und gezeigt, dass ich
zum Hintereingang kommen soll.
Warte auf mich.“
Der Metzger öffnet die Hintertür,
und ich sehe ihn in einem kleinen
Raum stehen, neben einem Tisch,
auf dem viele Messer mit verschiedenen Klingen und ein paar Hackbeile
verstreut liegen. Er setzt die Zigarette
am Aschenbecher ab, öffnet die Tür
des Kühlraums. Er schaltet das Licht
ein und lässt mich an seiner Seite in
die krustige Kälte eintreten. Ich be-
195
wege mich zwischen herabhängenden Fleischstücken, aber diesen Gang
kenne ich bereits, du schlängelst dich
hindurch, tastend, suchend.
„Das hier“, sage ich mit dem Finger
zeigend.
Über meine Schulter hinweggreifend, nimmt er das Fleisch vom Haken, tritt an den Tisch heran und beginnt ihn bedächtig von kleinen weißen Hautstückchen zu säubern.
Ich nehme ihm das Messer aus der
Hand.
„Dieses Messer hier... wofür ist es eigentlich?“
„Ein Messer... zum Schneiden“, antwortet er ein bisschen verwirrt.
Ich gebe ihm das Messer zurück, und
er setzt seine Arbeit fort.
Dann legt er es beiseite, tritt an mich
heran, hält inne, greift nach einem
durchsichtigen Papier, erneut als befände es sich irgendwie hinter mir,
dann nimmt er eine Tüte und beginnt das Fleisch einzupacken. Ich
nehme ein anderes Messer, eines, das
an einen Körperteil des Seelenbegleiters in der Unterwelt erinnert.
„Das hier?“
„Um die Haut abzuziehen.“
„Das hier?“
„Zum Sortieren.“
„Und das...“
„Ein Stechmesser mit Mittelrinne...
Zum Entbluten.“
„Das alles brauchen Sie?“
„Aber nein, das habe ich heute zufällig hier... weil...“
„Ein Hackmesser, ein beidseitig geschliffenes, haben Sie nicht?“
„Meinen Sie so etwas...?“
„Ja, beidseitig geschliffen“, sage ich.
„Nein. Früher waren sie mehr in Gebrauch, heute weniger. Die sind gefährlich.“
„Nur einseitig geschliffene?“
„Ja... so eins, und dieses größere...
Ein Sägemesser...“
„Was sägen Sie denn damit?“
„Knochen...“
„Das hier... mit der hornförmigen
Spitze?“
30.4.2011. 17:53:08
196
Mirjana Dugand`ija: Ein paar Tage im August
„Ein Spezialmesser... aber warum fragen Sie?“
„Sssst... Das hier?“
„Ein Streichmesser... ist aber kein
richtiges Messer.“
„Streichmesser. Und das hier?“
„Ein Entbeinungsmesser... Vorsicht!“
„Entbeinungsmesser, was bedeutet
das?“
„Zum Herauslösen der Knochen.“
„Ein skandinavisches Modell.“
„Ein amerikanisches Modell.“
„Ein... gewöhnliches Modell.“
„Eins mit gezahnter Klinge.“
„Mit Holzgriff.“
„Noch eins... mit Plastikgriff.“
„Zum Abhäuten... von Lämmern.“
„Zum Herausschneiden von Schnitzeln... aus der Keule.“
„Möchten Sie sich vielleicht die Hände waschen? Die Messer waren nicht
sauber...“, sagt er abschließend.
Während ich am Waschbecken stehe, tritt er von hinten an mich heran und beobachtet mein Gesicht im
Spiegel, bis ich mich umdrehe und
zum Gehen anschicke.
Dann verlasse ich den Laden. Ich betrachte dich durch die Autoscheibe.
Du siehst mich nicht kommen. Die
schwere Tasche lege ich mir unter die
Beine, auf dem Schoß halte ich das
Haus der Spiele. Hinter der Scheibe
gleiten Gebäude vorbei, die bis vor
kurzem hinter dichtem Grün verborgen lagen, doch der Laubfall hat
unvermittelt eingesetzt. Andere Autos gleiten vorbei, der Spielplatz ist
voller Kinder. Wir hören nichts davon, wir sitzen geschützt im Gehäuse
des Autos wie in einem Zustand der
Gnade. Vollkommene Stille umgibt
uns, und das Rauschen wird immer
lauter. Dein Blick ist seitwärts gerichtet, dein Kopf ist leicht, vielleicht bist
du noch geblendet von der Sonnenkugel, auch ich bin irgendwie schwerelos, ich habe überhaupt nicht das
Gefühl, dass wir uns fortbewegen,
als stünde selbst die Zeit fast still. Als
würde ich schauen, ohne zu sehen, so
wie du, der du in den letzten Tagen
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Gott weiß was für Zaubern ausgesetzt
warst, vielleicht dem Sonnenschauer
von 24 Faubourg, dessen Duftwolke
dich einhüllte, vielleicht funkelndem Burgunder, dessen Tropfen feine Ohrläppchen zierten.
Als sähe auch ich in den Anblicken
um mich herum keine Kinder, keine
Bäume mehr, sondern als würden daraus: ein Blütenteppich aus Grünen
Knollenblätterpilzen, eine zwischen
den Drüsen der Bauchhöhle eingenistete Tätowierung, gespreizte Frauenschenkel, die einst frohlockend in den
bewölkten Himmel über sich blickten und auf die Kornblumen unter
sich, denen jetzt aber, mit dem Ende
dieses federleichten Tages, ohnehin
die Zeit langsam abläuft, und es naht
der Moment, da ihnen sacht Gase und
Säuren zu entweichen beginnen.
Diese Frauen werden nun aus unserer
Geschichte verschwinden.
Aus der beerenförmigen Spitze, die
in den Nasenlöchern herangereift ist,
wird bald Most hervorfließen, während das Stechmesser weich in den
glatten Hals eindringt. Danach kommen andere Waffen zum Einsatz. Sie
werden an der mit Smaragden gefüllten Galle vorbeigleiten, hin zu der
mit Perlmutt ausgekleideten Innenwand des Magens. Über ihre Leiber
werden sich die Schatten der Rächer
beugen, Haralds des Schönhaarigen
und des noch grausameren Thorvald,
ihre Finger werden über die Schlange
aus den knöchernen Perlen der Wirbelsäule streichen, und in dem Augenblick, da sie sich wieder aufrichten, werden sie gewahr werden, wie
durch befreiten Flügelschlag die Luft
in Bewegung gerät und roter Regen
jeden Halm, jede Rispe benetzt.
Mein Kleid wird das Blut wie eine
Käseschnitte aufsaugen, es wird bleischwer werden, und wenn ich mich
endlich aufrichte, um zu gehen, wird
sein verkrusteter Saum, durch meine
Schritte in Bewegung versetzt, wiegend meine Waden umspielen. Meine purpurrote Erscheinung wird auf
RELA
TIONS
den weißen Parkwegen eine kaum
sichtbare Veränderung in dem mir
bekannten abendlichen Verkehr herbeiführen. Auch mein Lächeln wird
purpurrot sein, wird das Kind auf der
Schaukel einhüllen, und das Kind
wird seine Beine geradestrecken und
noch höher fliegen wollen, noch weiter weg von der Erde.
Ich werde nach Hause kommen.
Ich weiß auch, was weiter mit ihnen
geschehen wird.
Ist die Außenhülle ihres Körpers erst
einmal von dem tüchtigen Faustmesser bearbeitet, bleibt nur noch eine
frische, weiße Oberfläche zurück.
Doch das Weiß wird bald angefressen
werden von Salz, Feuer und Rauch,
es wird schwarz werden, und du wirst
sie nie mehr wieder berühren wollen.
Ihre glänzenden Kupferborsten werden rings um dich herum auf die Erde fallen und bald werden sie alles
zudecken, wenn du auch den Eindruck haben magst, es sei Herbstlaub, das deine Schritte dämpft. Der
Widerhall über den Städten wird anschwellen, Winde werden aufkommen, Regenschauer sich ergießen,
das Haar wird sich zu unfruchtbarer
Erde wandeln.
Schleimhäute, die sich mit einem
Schmatzen vernehmen ließen, Nägel so rosig wie Zirkushonigkuchen,
flüssiger Bernstein aus den Gedärmen, all das nimmt eine neue Gestalt an und kreist in unaufhörlichem
Wandel, Lymphe wird zu Nebel, Nebel an der Fensterscheibe zu Moos,
Moos zu Finsternis, doch bei diesem
Kreisen werden dich ihre Augen nie,
nie mehr wiederfinden.
Und die Dämpfe aus dem Kessel,
in dem Seife gesiedet wird, werden
verweht werden von den Herbstgerüchen des Hofes, des Kirschbaumzweiges, der Früchte des Apfelbaums,
neben dem Brunnen, auf dem der
Blechhahn schon in Schlaf versunken ist.
Aus dem Kroatischen übersetzt von
Silvia Sladić
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TIONS
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Foto: © Višnja Arambašić
RELA
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Drei
[Romanauszug]
Drago Glamuzina
1. Es ist drei Uhr morgens
und das Telefon klingelt
E
s ist drei Uhr morgens und das
Telefon klingelt. Ich lege die Zigarette in den Aschenbecher, nehme
einen Schluck Kaffee und sage zu Rita: Da, das ist er.
Ich lasse das Telefon klingeln, ich
bin mir sicher, dass es nicht aufhört,
bevor ich mich melde. Rita soll begreifen, mit wem ich es zu tun habe.
Dann schlage ich ihr vor, sie solle den
Hörer abnehmen. Sie nimmt ihn ab
und legt ihn nach ein paar Augenblicken wieder auf.
Was hat er gesagt?, frage ich.
Dass ich eine Hure bin ... und dass
er dafür sorgen wird, dass das alle
wissen, sagt Rita, dann lächelt sie
etwas ratlos und schüttelt ungläubig
den Kopf.
Du siehst, dass ich nicht übertrieben
habe, sage ich.
Aber weshalb tut er das?, fragt Rita.
Wie zumeist weiß ich nicht, was ich
auf diese Frage antworten soll, obwohl
ich weiß, dass sie immer kommt.
Deshalb, weil er verrückt ist, sage ich
schließlich.
Aber wie ist er gerade auf dich gekommen?
Anstatt zu antworten ziehe ich mir
das Laken über den Kopf. Dann
spüre ich ihre Finger, wie sie sich um
mein Gesicht sammeln, dort ein we-
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DRAGO GLAMUZINA, geboren 1967 in Vrgorac/Kroatien. Studierte Kompara-
tistik und Philosophie an der Philosophischen Fakultät in Zagreb. Arbeitet
als Chefredakteur im Verlagshaus Profil. Mitbegründer und Programmdirektor der Zagreber Buchmesse. Veröffentlichte die Gedichtbände Mesari
(Die Fleischer, 2001) und Je li to sve (Ist das alles, 2009). Für den Band
Mesari wurde ihm der Vladimir Nazor-Preis für das Buch des Jahres und der
Kvirin-Preis für den besten Gedichtband eines Autors unter 35 verliehen.
Der Gedichtband Mesari wurde ins Slowenische (2001), Mazedonische
(2004) und Deutsche (Wieser Verlag, Klagenfurt, 2008) übersetzt sowie in
Serbien veröffentlicht (2009). Mit seinem ersten Roman Tri (Drei, 2008.)
gewann er den Preis von T-Portal für den besten kroatischen Roman des
Jahres. Seine Gedichte fanden Eingang in ein Dutzend Anthologien zeitgenössischer kroatischer Dichtung im In- und Ausland.
nig innehalten, verkrampfen und das
Laken zerknautschen.
Das ist eine Geschichte, die ich nur
erzähle, wenn ich mich bei jemandem interessant machen möchte, sage ich und sehe Rita an, etwa so, wie
ich ihr im Spiegel zusehe, wenn sie
mir mit der Hand über das gerade
rasierte Kinn fährt.
Das macht Rita öfter, als es nötig ist.
Wenn es überhaupt nötig ist. Wenn
ich darauf warte, an die Reihe zu
kommen, sehe ich immer zu, wie sie
anderen die Haare schneidet. Und
zähle, wie oft sie ihnen mit der Hand
übers Gesicht fährt. Ich bin mir nie
ganz sicher, auch jetzt nicht, wo ich
ihr dabei zusehe, wie sie es sich auf
dem Bett bequem macht, dass sie
mich anders berührt als die anderen.
Als wüsste sie, woran ich gerade denke, legt sie mir die Hand aufs Gesicht
und sagt: Erzähl’.
Ich liebe deine weiche Berührung,
sage ich.
Nicht das, erzähl mir von dem Typen, der dich ständig anruft. Weshalb tut er das?
Ich war mit seiner Frau zusammen, sage ich und drücke mit meiner Hand
das Händchen, das gerade über meine
Augen gefahren ist. Nicht zu warm,
nicht zu kühl. Nur weich, mit langen geschickten Fingern, die nicht
zu ihrem gerundeten und immer
unbeweglicheren Körper zu gehören scheinen.
Und?
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RELA
TIONS
Er war wahnsinnig eifersüchtig. Er
wollte jeden Augenblick wissen, wo
sie war und was sie tat. Jeden Tag
kontrollierte er sie übers Telefon, und
wenn sie nach Hause kam, konnte
es sein, dass er von ihr verlangte, sie
solle ihr Höschen ausziehen, dann
schnüffelte er daran und suchte nach
Spermaspuren.
Ein Verrückter, presst Rita durch die
Zähne und versucht die Knie unters
Kinn zu ziehen, als hätte sie für einen
Augenblick vergessen, dass in ihrem
Bauch ein Baby heranwächst. Dann
dreht sie sich auf den Rücken und
zündet sich eine Zigarette an.
Ich schweige und sehe ihr zu, wie sie
rauchte. Ich versuche zu erraten, was
sie im folgenden Moment sagen wird.
Aber auch sie schweigt hartnäckig,
bis ich ihr die Zigarette aus der Hand
nehme und selbst einen Zug mache.
Jetzt dreht sie sich zu mir um und
sagt: Ich muss dir etwas gestehen. Seit
mich Joško verlassen hat, höre ich
solche Geschichten gern. Über Männerschweine. Damit ich im Bett,
während ich aufs Einschlafen warte,
sagen kann: – Bestimmt wäre er auch
so ein Schwein gewesen.
Du hast noch gar nichts gehört, sage ich, gebe ihr die Zigarette zurück
und fahre fort: Die richtige Scheiße
kam erst, als sie die Scheidung verlangte. Darüber wollte er überhaupt
nicht reden. Er war überzeugt, dass
an ich allem schuld sei und dass sie,
hätte er mich erst einmal aus ihrem
Leben geschafft, wieder die Seine
sein würde.
Wieder klingelt das Telefon. Ich stehe auf, rücke das Nachtschränkchen,
auf dem es gewöhnlich steht, von der
Wand und ziehe den Stecker heraus.
Warum hast du das nicht getan, bevor ich gekommen bin, fragt Rita.
Er hätte sowieso von dir erfahren. Er
ist immer irgendwo in der Nähe und
weiß alles. Sei nicht überrascht, wenn
er morgen tatsächlich deine Chefin
anruft und zu ihr sagt, sie habe eine
Hure eingestellt, sage ich und strei-
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Prosa
chele, mich ein bisschen an ihrer
ungläubigen Miene weidend, ihren
gespannten Bauch.
Du redest scheiß.
Nein, nein, das hat er schon getan, sage ich und frage: Saft oder Wodka?
Rita bläst bekümmert den Rauch zur
Seite und dreht mit dem Finger nervös in ihrem Haar. Dann richtet sie
ihn auf den Badel-Wodka mit Melonenaroma.
Ich trinke auch aus deinem Glas,
sage ich und gieße es halb voll. Ich
reiche es Rita und lasse mich aufs
Bett fallen.
Ich wollte, dass dir gleich klar ist,
auf was du dich einlässt, murmele
ich ins Kissen.
Das hättest du mir sagen müssen,
bevor ich gekommen bin, faucht sie
wütend.
Dann wärest du nicht gekommen,
gebe ich zurück.
Auch so weiß ich nicht, was mir da
eingefallen ist, sagt sie, und nach einem Augenblick der Stille fragt sie:
Warum hast du mich erst jetzt zu
dir eingeladen, wo ich so rund geworden bin.
Mir ist plötzlich klar geworden, dass
du bald nicht mehr da sein wirst
und dass ich dich ein ganzes Jahr
lang nicht sehen werde, antworte
ich aufrichtig, drehe mich zu ihr um
und schmiege mich an ihren großen
Leib. Ich wollte sehen, ob ich mich
im Bett auch so entspannt fühle wie
auf dem Stuhl bei euch, wenn du mir
die Haare schneidest.
Argwöhnisch dreht sie den Kopf hin
und her, dann stürzt sie sich wieder
auf den Verrückten am Telefon.
Glaubst du, dass er weiß, wer ich bin?
Vermutlich weiß er es noch nicht.
Aber wenn du weiterhin zu mir
kommst, wird er es bald wissen.
Bestimmt hast du ihm übel mitgespielt. Hast du Angst vor ihm?
Nicht mehr, aber eine Zeit lang war
es mir gar nicht egal. Mit jedem Tag
wurde er verrückter. Er hat sogar
Freunde engagiert, damit sie uns in
199
der Stadt verfolgen, und als er mitkriegte, dass wir uns immer weniger
sahen, aber immer öfter miteinander
telefonierten, fing er an, unsere Gespräche mitzuhören.
Ja, kann man das denn so einfach,
fragt sie. Was?
Gespräche mithören.
Die Zeitungen sind voll mit Anzeigen für solche Anlagen. Für 200 Kuna kriegst du einen Apparat zum Aufnehmen von Gesprächen, der sich
automatisch einschaltet, sobald jemand den Hörer abhebt. So eine
Wanze kostet gerade mal 50 Kuna.
Es reicht, wenn du sie einem ins
Mantelfutter hakst oder in die Tasche wirfst, und dann kannst du am
Radioempfänger alles mithören, was
wir sagen, antworte ich und flüstere:
Selbst das Flüstern.
Du nimmst mich auf den Arm.
Nein, wirklich.
Glaubst du, dass er das getan hat?
Einmal hat sie eine Kassette gefunden, auf der unsere Telefongespräche
aufgezeichnet waren. Mehrmals hat
er genau gewusst, worüber wir in einem Café gesprochen hatten. Wenn
sie nach Hause kam, wiederholte er
vor ihr ständig die wenigen Worte, die
er gehört hatte. Er schleppte sie ins
Badezimmer, verschloss die Tür, damit sie nicht weglaufen konnte, drückte sie gegen die Wand und drohte ihr
stundenlang Auge in Auge. Er brüllte, sie sei eine stinkende Hure, die
gerade vom Ficken komme, und ihr
Haar sei voller Sperma. Manchmal
drängte er sie in die Wanne und zwang
sie zu duschen, denn so schmutzig
könne sie nicht sein Kind berühren.
So hielt er sie die ganze Nacht fest,
bis sie ihm versprochen hatte, sich
nie mehr mit mir zu treffen.
Was für eine Bestie, murmelt Rita,
steht auf und watschelt zum Klo. Sie
setzt sich auf die Toillette, ohne die
Tür zu schließen, und sagt: In letzter Zeit sitze ich mehr auf dem Klo
als auf dem Stuhl. Dieser Druck im
Bauch ist schrecklich.
30.4.2011. 17:53:08
200
Als sie ausgeplätschert hat, rufe ich:
Bei manchen Frauen stört mich diese aggressive Intimität. Dass du nicht
die Tür zumachen kannst und ich mit
anhören muss, wie du pinkelst.
Ja, was ist damit?
Heißt das, dass du dir nichts aus mir
machst, dass es dir völlig egal ist, was
ich darüber denke, oder muss ich zufrieden sein, weil du in meiner Gegenwart so ungezwungen und natürlich bist? Ihre Antwort, wenn es eine
war, geht im Rauschen des Wassers
aus dem Spülkasten unter. Dann höre ich das Plätschern des Wassers im
Waschbecken und ihre Frage: Warum hat sie das ertragen?
Ich warte, bis sie ins Bett zurückgekehrt ist und uns eine Zigarette angezündet und den schweren Kristallaschenbecher auf meinem Nabel eingenistet hat. Dann antworte ich.
Er wollte nicht in die Scheidung einwilligen. Allen erzählte er, dass seine
Frau ein widerliches verlogenes Flittchen sei, aber er erlaubte ihr nicht zu
gehen. Sie schliefen nicht im selben
Zimmer, sie aßen nicht am selben
Tisch, aber er verlangte weiterhin,
dass sie ihm über jede fünf Minuten
Rechenschaft ablegt. „Solange du
in meinem Hause bist, hast du dich
an eine Ordnung zu halten“, waren
seine ständigen Worte. Er war überzeugt, dass es anhalten würde.
Aber warum hat sie nicht einfach ihre
Sachen genommen und ist gegangen?
Sie wollte nicht ohne das Kind gehen, damit aber, wem es zugesprochen werden würden, befassten sich
die Damen vom Sozialamt und das
Gericht. Jahrelang. Zwischen einer
Verhandlung und der nächsten lagen
oft bis zu sechs Monate. Er zog es in
die Länge, er erschien nicht zum Termin, und wenn er erschien, quälte er
sie auch dort. Sie behauptete, er sei
ein Irrer, der sie misshandele, und er,
dass sie eine Hure sei und lüge. Und
dass er sich um das Kind kümmere,
während sie herumhure.
So ein Schweinekerl.
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RELA
Drago Glamuzina: Drei
Sie dachte auch daran, mit der Kleinen zu ihren Eltern zu flüchten, aber
am Schluss nahm sie immer davon
Abstand, denn sie war sich sicher,
dass er ihr tatsächlich die Scheiße antun würde, die er ihr immer androhte.
Es würde genügen, die Tochter nach
der Schule abzupassen und sie mit zu
sich nach Hause zu nehmen, und sie
hätte zu ihm zurückkehren müssen.
Ich bin dieser Geschichte schon müde, aber Rita lässt nicht locker. Wie
abwesend spielt sie mit meinem Geschlecht – als würde sie mit den Fingern eine Streichholschachtel drehen
– und stellt hartnäckig immer neue
Fragen. Eine Menge Fragen.
– Nein, sie wollte nie aufhören. Jeden Tag kam sie zu spät nach Haus,
und jeden Tag hörte sie, wie er schrie,
dass sie nie wieder zu spät kommen
dürfe, sonst würde er ihr eine große
Scheiße antun. Einige Male verabredeten wir, uns seltener zu sehen, aber
schon nach drei, vier Tagen war wieder alles beim alten.
– Mich rief er an, sobald sie das Haus
verlassen hatte. Wenn ich mich nicht
am Telefon meldete, glaubte er, ich sei
mit ihr zusammen. Damit er sie nicht
quälte, wenn sie nach Hause kam,
sprang ich aus der Dusche oder vom
Klo auf und rannte zum Telefon.
– Manchmal legte er nur den Hörer
auf ... Wenn er sehr erregt war, drohte er. Er schüttete einen ganzen Sack
Beleidigungen aus und sagte dann, er
würde mir die Fresse polieren, wenn
ich sie jemals wiedersehen würde,
und ähnliches.
– Ständig schmiss er mit Gemeinheiten um sich. Nach fünf Minuten
brüllte er in den Hörer: Ich weiß, dass
ihr miteinander vögelt. Ich weiß, dass
ihr miteinander vögelt ... Das waren
seine ständigen Worte.
– Er rief auch meinen Chef an und
sagte zu ihm, in seiner Firma arbeite
ein Haufen Scheiße, der seine Familie zerstört habe.
– Zu meinen Eltern sagte er, sie hätten einen Haufen Dreck aufgezogen
TIONS
und keinen Menschen ... Und dass
er sie so lange anrufen werde, bis ich
seine Frau in Ruhe lasse.
– Für mich war das gar nicht komisch. Es war gar nicht leicht, ihnen zu erklären, worum es sich dabei handelte.
– Wir kämpften um jede fünf Minuten. Wir sahen uns fast jeden Tag,
oft auch mehrmals täglich, aber immer nur kurz. Wenn es nicht anders
ging, verabredeten wir, wann sie von
der Arbeit losgehen würde, und ich
wartete dann an der Haltestelle und
war mit ihr die halbe Stunde zusammen, die die Straßenbahn bis zu ihrem Viertel brauchte.
– Vermutlich deshalb, weil ich sie geliebt habe. Nächtelang bin ich durchs
Haus gegangen und habe in Gedanken diese dreißig Minuten wiederholt, die wir an dem Tag zusammen
verbracht hatten. Ich erinnerte mich
an jedes Wort, jeden Blick, ich spürte wieder jede Berührung. Wieder
antwortete ich auf alle ihre Fragen,
mehr als ich es an diesem Tag vor ihr
getan hatte, und stellte einen Haufen neuer.
– Auch er hat behauptet, dass er sie
liebt.
– Auch ich war nicht ganz gesund.
Wenn immer ich zu ihr ging, krampfte sich in mir alles zusammen.
War sie schön?, fragt Rita jetzt mit
einer Stimme, in der nicht nur Neugierde mitschwang.
Nicht so schön wie du, antworte
ich bereitwillig, und sie schlägt mir
leicht auf den Kopf und zischt: Du
Schmeichler.
Es ist ja wirklich nicht leicht, einer
Frau, die dir gefällt, zu erzählen, wie
sehr du in eine andere verliebt gewesen bist, sage ich und setze hinzu: Sie
hatte etwas Beunruhigendes.
Ja?
Ja. Sie schien keinen Anfang und kein
Ende zu haben, so als könnte man sie
nicht in Sätze fassen, die sie erklären
würden ... Sie war zart, depressiv und
verängstigt, aber niemand konnte sie
30.4.2011. 17:53:09
RELA
TIONS
aufhalten, wenn sie sich an jemanden angehängt hatte. Dann wurde
sie mutig, frech, schamlos ...
Du redest wie ihr Mann, fällt Rita
nervös ein.
Aber nein ... Sie kokettierte gern,
von allen ihren Talenten war das ihr
größtes, aber ich habe darin nichts
Schlechtes gesehen. Sie war immer
bereit für eine neue Leidenschaft, die
sie bis an die Nägel versengen und alles unwichtig machen würde, worauf
die Menschen gewöhnlich bedacht
sind, aber mich hat das nicht gestört,
sondern geradezu fasziniert.
Rita schweigt, und ich deutet ihr
Schweigen als gespannte Erwartung
und fahre fort: Sie liebte dieses Gefühl, das eigene Ich zu zerbröseln.
Sie liebte es, sich mit mir zu zeigen.
Es kümmerte sie nicht, was die Leute über sie dachten. Wir hielten uns
an der Hand und spazierten durch
die Ilica beim dichtesten Gewühl.
Wir trafen ihre und meine Freunde.
Manchmal auch die Freunde ihres
Mannes. Dabei wollte sie vor Angst
fast sterben, aber sie ließ nicht locker.
Aber wenn wir in einem Café zehn
Minuten länger blieben, als wir es
ihrer Meinung nach hätten dürfen,
fing sie an zu zittern. Kaum hatten
wir uns getrennt, lief sie los. Immer
blieb mir die Luft weg, wenn ich sie
so hergerichtet, im Mini und mit
hohen Absätzen, wie ein Kind nach
Hause laufen sah. Ich nannte sie die
Frau, die läuft.
Rita lacht.
Dann sagt sie: Und jetzt eine praktische Frage. Wo habt ihr gevögelt.
Ich meine: mit Rücksicht auf all diese Agenten, die euch verfolgt haben,
und auf den Umstand, dass ihr euch
in der Straßenbahn getroffen habt.
In Cafés, auf Parkplätzen, auf fremden Autos, auf den Marktständen
in der Opatovina, im Krankenhauskeller, vor der Tür zum Atomschutzbunker, in der Toilette der Uni-Bibliothek ... ich bin bereit, alles aufzuzählen, bis mich Rita unterbricht.
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Prosa
Zu jeder Tageszeit, fast jeden Tag.
Im Schnee, bei minus zehn, stehend,
ohne die Mäntel abzulegen und zitternd, beim Theaterausgang, zehn
Meter vom Haupteingang, hinter
einem armseligen Busch, dabei die
Leute im Ohr, die die gerade gesehene Vorstellung kommentieren ...
He, mal langsam. Du bildest dir
wohl was drauf ein? – fällt Rita ein
und stößt mir ihren Ellbogen in die
Rippen.
Nein, ich antworte nur auf deine Frage. Wir hatten keine Zeit fürs Bett,
und so mussten wir mit der Straße
vorlieb nehmen. Aber das hat uns dann
auch etwas gebracht, was uns erregte.
Um beim nächsten Mal noch mutiger zu sein, oder noch verrückter.
Rita schüttelt den Kopf und zischt leise: Okay, sag mir, was ist daran so anregend, es auf der Straße zu machen?
Zuerst sehe ich sie lange prüfend an,
mir dessen bewusst, dass das, was
mir wichtig ist, als lächerlich ausfallen kann, aber als sie mich bittend
auf den Handrücken küsst, fahre ich
fort: Die Gefahr. Ständig hatten wir
Angst, dass jemand kommen könnte, das Adrenalin spritzte nur so, aber
wir lernten mit der Zeit an dem Fieber, das uns befallen hatte, Gefallen
zu finden. Außerdem lag eine gewisse Befriedigung auch darin, dass wir
trotz aller Hindernisse überhaupt
miteinander vögeln konnten.
Du meinst, wie bei diesen Computerspielen, je schwieriger das bewältigte Niveau, desto besser der Spieler,
meint Rita wieder ätzend.
Nein, mit dem Anwachsen der Hindernisse wuchs auch das, was zwischen uns war. Auf die Weise kämpften wir für unsere Beziehung.
Gut, wo habt ihr am meisten gekämpft. Darauf werde ich nicht antworten, denn du wirst mir wieder
vorwerfen, dass ich übertreibe
Nein, tue ich nicht. Sag es bitte.
Ich schweige noch immer, so dass sie
sich jetzt zu mir neigt, mich flüchtig
küsst und flüstert: Versprochen.
201
In Cafés. In einem regelmäßig, das
ganze erste Jahr. Wir verabredeten
unsere Treffen in diesem Café, wie
sich andere in einem Hotelzimmer
verabreden.
Aber geh, ich glaube nicht, dass ihr
in einem Café gevögelt habt. Ich habe noch nie gehört, dass das jemand
getan hätte.
Ich sagte ja, dass du mich der Lüge
bezichtigen wirst, sage ich, stelle den
Aschenbecher neben mich und versuche aufzustehen, aber Rita nimmt
meinen Arm und zieht mich zurück
ins Bett.
Ich beschuldige dich doch nicht. Es
fällt mir nur schwer, es zu glauben.
Gut, gut, lass mich. Ich lege eine Musik auf, sage ich und lächle.
Sie wartet, bis ich ins Bett zurückgekehrt bin, setzt den Aschenbecher
wieder auf meinen Bauch und sagt:
Erzähl weiter.
Dieses Café war auf dem Weg von
ihrem Haus zu ihrer Arbeitsstelle, so
dass wir nicht viel Zeit verloren, und
im ersten Stock war fast nie jemand,
vor allem nicht zwischen neun und
zehn Uhr morgens.
Nein, ich glaube nicht, dass ihr dass
getan habt, fällt Rita wieder ein, und
ich sehe, wie sich ihre Lippen, während sie das sagt, zu einem Lächeln
verziehen. Dann sagt sie rasch: Entschuldige, ich werde dich nicht mehr
unterbrechen.
Wir hatten es immer eilig, aber es gab
auch Tage, an denen wir nicht aufhören konnten. Dann vögelten wir auch
mal eine ganze Stunde, horchten die
ganze Zeit auf die Geräusche aus dem
Erdgeschoss und versuchten herauszuhören, ob jemand die Treppe heraufkam ... Wir waren nervös, aber
das konnte uns nicht hindern. Mit
der Zeit kümmerte uns nicht mehr,
ob jemand mitkriegte, was wir dort
trieben, aber wir hatten Angst, dass er
uns unterbrechen könnte. Wenn ein
Eindringling die Stufen heraufkam,
hatten wir uns bereits getrennt und
saßen jeder auf seinem Stuhl. Rot ge-
30.4.2011. 17:53:09
202
worden, außer Atem, zerdrückt, aber
jeder auf seinem Stuhl. Die Leute taten so, als würden sie nichts bemerken, vielleicht schüttelte mal einer
den Kopf, aber das war auch alles.
Dafür sahen wir sie böse an. Wir sahen zu ihnen hin, wie sie langsam
ihr Getränk tranken, und hassten
sie ... Sie bat mich, sie zu vertreiben,
ihnen zu sagen, dass sie gehen sollen. Manchmal knutschten und fummelten wir so intensiv, dass es ihnen
tatsächlich unangenehm wurde und
sie gingen, und manchmal fuhr sie
mir, vor ihren Blicken durch meinen
Körper geschützt, mit der Hand in
die Hose.
Ich halte inne in Erwartung eines Kommentar, aber Rita bläst nur Rauchwolken unter die Decke.
Das liebte sie, antworte ich auf die
Frage, die sie nicht gestellt hat. Sie
schien darin mehr Genuss zu finden als ich. Und dann führte sie ihre Hand zur Brust und verrieb das
Sperma in der Mulde am Halsansatz,
um mich bei der Arbeit den ganzen
Tag in den Nasenlöchern spüren zu
können.
Aber wie habt ihr es gemacht, saß sie
auf dir, oder was, fragt Rita jetzt doch.
Meistens habe ich gekniet, und sie
saß auf einem Stuhl.
Da hast gekniet? Auf den Knien?
Ja, worauf sonst? Meine Knie waren
ständig abgescheuert.
Jetzt steht Rita auf und geht wieder
zum WC.
Als sie zurückkommt, versucht sie ihren Körper in dieselbe Lage zu bringen, in der er kurz zuvor gewesen
ist. Nachdem sie sich eine Zeitlang
gedreht und gewunden hat, fragt sie
mich: Wenn du heute an sie denkst,
welches Bild kommt dir als erstes. Du
denkst doch wohl nicht nur daran,
wie du sie gevögelt hast.
Lass uns von etwas anderem reden.
Ich habe genug.
Nein, bleibt Rita hartnäckig. Mach
die Augen zu und erinnere dich an
etwas. Und dann erzähl es mir.
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RELA
Drago Glamuzina: Drei
Ich schließe die Augen und erinnere mich an den ersten sonnigen
Nachmittag, als wir beide gerade eine
Grippe überstanden hatten.
Wir hielten uns an den Händen und
schlenderten durch die Opatovina.
An den Bänken vorüber, auf denen
wir nachts gevögelt hatten. Auf dieser
haben wir, auf dieser nicht, haben wir
auf der dort?, ich denke, ja, und auf
der da auch ... so hatten wir unseren
Spaß, glücklich, dass wir wieder zusammen waren.
Rita schweigt, bis ich sie schließlich frage: Ist es das, was du hören
wolltest?
Das heißt, ihr habt auch im Park gevögelt, konstatiert sie.
Und ich habe gedacht, dich interessieren andere Dinge, etwa wie glücklich wir waren, als wir uns endlich
wiedersahen.
In welchem noch?
Ich verstehe nicht.
In welchem Park noch?
Am meisten im Ribnjak. Dort ist es
am dunkelsten.
Wann?
Den ersten Winter. Es schon gegen
fünf dunkel, gerade zu der Zeit, wenn
sie von der Arbeit kam.
Dort hast du auch gekniet.
Manchmal, aber meistens habe ich
auf der Bank gesessen, in den Büschen an der rückwärtigen Mauer
der Kathedrale, und gewartet, dass
sie sich auf mich setzt ... Ihr Mantel bedeckte uns vollständig, aber
das konnte die Spanner vom Dienst
nicht abhalten. Ständig spazierten
sie herum, die Hände in den ausgebeulten Taschen, und schielten zu
uns herüber. Eigentlich brauchten
wir nur dort keine Angst zu haben,
dass jemand kommen könnte. Wir
wussten, dass sie nicht störte, was
wir taten.
Gehst du noch immer auf die Knie
vor ihr?, fragt Rita jetzt. In ihrer
Frage ist im Unterschied zu den vorangegangenen nicht nur Neugier
und Stichelei, sondern auch Angst,
TIONS
Zärtlichkeit und Interessiertheit. Das
bringt mich total zurück in dieses
Zimmer, neben diese Frau, der ich
gefallen will.
Nein, jetzt kniet ihr Mann neben ihr,
hält ihre Hand und versucht ihr einzureden, dass ich an allem schuld sei.
Das Gericht hat ihm die Kleine zugesprochen, und sie musste zwischen
ihr und mir wählen und hat sich natürlich für das Zusammenleben mit
ihr entschieden. Er hat ihr verziehen,
aber an mir tobt er sich noch aus.
Wie konnte das passieren?, fragt Rita.
Seine Mutter ist mit dem Richter in
eine Klasse gegangen, antworte ich
lakonisch. Ich werde langsam nervös
und will diese Geschichte so rasch
wie möglich zu Ende bringen.
Aber Rita hört nicht auf: Und wie
hast du darauf reagiert?
Gar nicht, ich sehe sie nicht mehr.
Aber warum ruft ihr Mann dich noch
immer an?
Ich weiß nicht. Vielleicht genießt er
es, sage ich und lösche meine und
Ritas Zigarette. Dann stelle ich den
Aschenbecher weg, entferne mit der
Hand ein paar Flöckchen Asche von
meinem Bauch und flüstere ihr kaum
hörbar ins Ohr: Diese Leidenschaft
hat ihn erfüllt, und Erfülltheit ist ein
Zustand, der den Menschen auch
dann gefällt, wenn er schmerzhaft
ist, nicht wahr?
Aber warum lässt du zu, dass er dich
quält?, bleibt Rita hartnäckig, entschlossen, die Sache bis zum Ende
zu treiben.
Manchmal, wenn er anruft, höre ich,
wie sie etwas zu der Kleinen sagt. Ich
stelle mir gern vor, dass sie das deshalb tut, weil sie weiß, dass ich an der
anderen Seite der Leitung bin, sage
ich und bitte dann Rita, mir den Rücken zuzukehren.
Ich schmiege mich mit all meiner
Zärtlichkeit an sie, lege den Arm
über ihre Hüfte und streichele ihren
großen runden Bauch.
So wird es dir weniger weh tun, sage ich.
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RELA
TIONS
2. Wer ist diese Frau
– Wer ist diese Frau? – fragte sie
nur wenige Sekunden, nach dem ich
mich von ihr herunter aufs Bett gewälzt hatte.
– Welche Frau? – sagte ich, noch immer keuchend und um Luft ringend.
– Die Frau aus deiner Geschichte?
– Na du.
– Nicht ich. Die andere.
– Es gibt keine andere.
– Die Friseuse. Wer ist die Friseuse?
... diese Rita. Warum hast du mir nie
etwas von ihr erzählt.
– Es gibt keine Friseuse. Es gibt niemanden außer dich, mein Liebes –
sagte ich und beugte mich wieder
über sie. Ich versuchte sie zu küssen
und die Geschichte abzuschließen,
aber sie wich mir aus, wie immer in
solchen Situationen. Eine Zeit lang
begleitete ich mit dem Kopf die Bewegungen ihres Kopfes und wartete
auf den richtigen Moment, mich auf
ihre Lippen zu senken, aber am Ende
gab ich auf.
– Lüg nicht. Ich weiß, dass alle deine Figuren auch in Wirklichkeit existieren – sagte sie, stand rasch auf
und ging ins Vorzimmer, zum Kühlschrank mit den Getränken.
Draußen war es heiß, Sommer, Juli, und es war uns lieb, dieses Mal
kein lauwarmes Wasser aus der Leitung trinken zu müssen. Der Mann
an der Rezeption verlangte schon
seit Monaten keinen Ausweis mehr
von uns, und heute hatte er uns ein
Appartement angeboten, in das die
Sonne nicht hinein brennt, mit einer
Mini-Bar. „Es kostet Sie genauso viel
wie das kleine Zimmerchen. Das ist
unser Bonus für Stammgäste“, hatte
er verschwörerisch gesagt.
Jetzt hockte sie vor dem Kühlschrank
im Vorzimmer und füllte Getränke in
die Gläser auf dem Boden, und ich
starrte wie immer, wenn ich sie in dieser Stellung sah, auf ihre gespreizten
Beine. Erst als sie sie wieder schloss,
rief ich, um den Fernseher zu übertönen: – Vielleicht gibt es ein fernes
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Prosa
Muster, dass sich in dieser Geschichte
hundert Mal verkehrt hat. Aber das
ist eine Geschichte! Eine Geschichte! Und Geschichten sind, wie du
weißt, Fiktion! Bist du etwa bei deinem Mann geblieben? Das muss ich
doch dir nicht erklären!
Aber sie ließ sich nicht beirren: –
Okay, gut, wer ist dieses ferne Muster in diesem Fall?
– Meine Friseuse.
– Wieder lügst du. Was willst du
trinken?
– Was nimmst du?
– Wodka mit viel Juice.
– Okay, bring mir auch einen. Warum glaubst du, dass ich lüge?
– Du veränderst bei ihnen doch immer den Beruf, du willst nicht, dass
man sie erkennt.
– Dieses Mal nicht. Ich habe auch
ihren Namen nicht geändert. Diese
Figur ist genau genommen unwichtig, ich habe nicht angenommen,
dass es jemanden interessieren wird,
wer sie tatsächlich ist – setzten wir
unsere Zurufe fort, denn die Fernbedienung lag auf dem Boden neben
dem Bett, und ich hatte keine Lust
aufzustehen und den Fernseher leiser zu drehen.
– Sie ist also wirklich Friseuse – sagte
sie, dieses Mal leiser, und kehrte mit
zwei Gläsern ins Zimmer zurück.
– Wirklich – antwortete ich und
streckte die Hand nach ihrem Bauch
aus. – Jetzt bist du hilflos, mit den
Gläsern – sagte ich und zwängte meine Hand zwischen ihre Beine.
– Und? – schien sie meinen Vorstoß
nicht bemerkt zu haben.
– Was und?
– Und was ist zwischen euch gewesen?
– Nichts.
– Aber warum hast du sie dann in die
Geschichte mit hineingenommen?
– Jetzt hör schon auf! Komm, leg
dich neben mich, und lass uns von
etwas anderem reden. Sag mir, warum hat dich heute Morgen Josip
angerufen?
203
– Nein, solange du mir nicht erklärst,
wer diese Frau ist – sagte sie, stellte
das Glas auf das Nachtschränkchen
und ließ sich aufs Bett fallen.
– Das denkst du doch nicht im Ernst?
– Mir gefällt die Geschichte nicht.
– Warum? Alle sagen, dass sie gut
ist, und der Redakteur, der sie veröffentlicht hat, will schon eine neue
von mir.
– Deshalb weil du in der Geschichte
sie vögelst und nicht mich. Du erzählst von mir, um sie zu erobern.
Du machst sie an, indem du ihr erzählst, wie wir gevögelt haben. Du
tust dich wichtig mit deinem großen Herzen.
– Nein, umgekehrt, sie ist nur ein
Mittel, sie existiert nur, damit ich
leichter deine Geschichte erzählen
kann – sagte ich und fügte nach einigen Augenblicken der Stille, die nur
von ihren Schlucken unterbrochen
wurde, nervös hinzu: – Ich kann nicht
glauben, dass wir darüber reden.
– Aber sie existiert. Dieses Mittel arbeitet in deiner Nachbarschaft – blieb
sie hartnäckig.
– Es gibt eine Friseuse, die mir die
Haare schneidet, aber zwischen uns
beiden gibt es nichts – presste ich
durch die Zähne. Jetzt war ich schon
müde und ärgerlich, aber sie nahm
es nicht zur Kenntnis.
– In der Geschichte schreibst du, dass
du es genießt, wenn sie dir die Haare schneidet.
– Ich habe die kleinen zufälligen
Zärtlichkeiten genossen, in der Entspanntheit, die ich auf dem Frisierstuhl empfand, im rhythmischen Klappern ihrer Schere.
Sie ging über Schere und Stuhl hinweg und sagte: – Beschreib mir diese kleinen Zärtlichkeiten. Und dreh
bitte den Fernseher leiser.
– Das war eine kleine reine und interesselose Befriedigung – warf ich wie
beiläufig ein und stand auf.
Ich drehte den Ton leiser und kehrte
mit der Fernbedienung in der Hand
ins Bett zurück, und sie fuhr fort: –
30.4.2011. 17:53:09
204
Und der Satz, dass sie dich immer
streichelt, wenn sie dir die Haare geschnitten hat?
– Das habe ich erfunden.
– Ich glaube dir nicht, ich glaube dir
gar nichts.
– Und was soll ich tun? – fragte ich
und zappte so schnell durch die Kanäle, dass ich überhaupt nicht mitkriegte, was auf welchem lief, bis sie mir die
Fernbedienung aus der Hand wand
und wieder auf den Boden warf.
– Ich weiß nicht – antwortete sie,
als sie sich wieder neben mich gestreckt hatte, und dann schwiegen
wir lange und sahen zu, wie die grünen Vorhänge vor den Fenstern mit
der Dunkelheit verschmolzen und
schwarz wurden.
Aus der Erstarrung weckte uns erst
das Ächzen aus dem Nachbarzimmer.
– Die sind wieder am Ficken – sagte
ich. Sie gab keine Antwort, aber ich
sah, wie sie versuchte, das Stöhnen zu
hören, genauer, die Frau, die immer
lauter wurde.
Wir hörten sie, bis sie den Fernseher aufdrehten, und dann drehte
sich Hana auf die Seite, legte ein
Bein über meinen Oberschenkel und
sagt: – Du bist ganz zugewachsen,
du könntest dir morgen die Haare
schneiden lassen. Daraufhin bewegte
sie ein paar Mal das Becken vor und
zurück und fragte: – Hat sie sich auch
so an dir gerieben?
Ich gab keine Antwort, aber ich hob
mein Bein ein wenig an, um es besser zu spüren.
– Aber ich komme mit. Ich will sehen, wie sie dich berührt – fuhr sie
fort, ohne den langsamen Rhythmus
ihrer Hüften zu unterbrechen.
– Du kommst mit nach Travno nur
um zu sehen, wie sie mir die Haare
schneidet?
– Hmmm, ja – murmelte sie.
– Aber dort könntest du meiner Frau
begegnen.
– Das riskieren wir.
– Wegen einer solchen Dummheit?
– Ja.
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RELA
Drago Glamuzina: Drei
Ich schwieg, sie schwieg, und dann
fasste ich sie am Haar, im Nacken,
und drückte kräftig zu. Genauso,
wie ich sie kurz zuvor gehalten hatte, beim Vögeln.
– Okay, morgen gehen wir hin, und
jetzt wirst du mir sagen, warum dich
Josip gestern angerufen hat.
– Aber ich habe dir doch gesagt, er
hat sich nach dem Journalisten erkundigt, der ein Interview von ihm
wollte – antwortete sie rasch.
– Was hat er dich noch gefragt?
– Weiter nichts.
– Hat er nicht verlangt, dass ihr euch
wieder seht?
– Nein, aber er hat gesagt, dass er
morgen in die Redaktion kommt,
um den Text zu autorisieren – sagte
sie, während sie mit der Hand hinter
dem Rücken nach der Schachtel mit
den Zigaretten tastete.
Ich fühlte, wie ich zu zittern begann.
Wie immer, wenn von irgendwo einer
ihrer ehemaligen Liebhaber auftauchte oder jemand, von dem ich annahm,
dass er ihr etwas bedeutete. Oder dass
er ihr etwas bedeuten könnte.
– Was hast du? – fragte sie, als sie das
Zittern meines Körpers unter ihrem
bemerkte.
– Du triffst dich mit ihm?
– Nein. Was ist mit dir?
Ich hätte gern gesagt, dass mir kalt ist,
aber im Zimmer war es warm, und so
sagte ich schließlich: – Morgen werde ich den ganzen Tag unruhig sein.
Was hat er noch gesagt?
– Aber warum? Ich werde ihn nicht
sehen, und ich will ihn nicht sehen.
– Was hat er noch gesagt?
– Ich bitte dich, hör auf. Du weißt,
dass wir uns seinetwegen immer streiten – sagte sie, zog langsam ihr Bein
zwischen meinen Beinen heraus und
drehte sich auf den Rücken.
– Aber wie konntest du mit so einem
Typen vögeln?
– Goran, das war vor drei, vier Jahren – antwortete sie.
– Glaubst du, dass er damals besser
war als jetzt.
TIONS
– Nein, aber es ist lange her, und ich
möchte nicht darüber reden – sagte
sie und zündete sich eine Zigarette
an. – Es langweilt mich. Außerdem
habe ich dir gesagt: Er hat mich am
Arm genommen und weggeführt. Er
hat mich nicht gefragt, ob ich mitgehen möchte.
– Und weshalb hast du ihn nicht zum
Teufel geschickt!
– Deshalb weil es mir gefallen hat.
Ich kannte die Geschichte gut. Er
war in ihre Gesellschaft geraten, unter Leute, von denen er wusste, dass
sie ihn verachteten, hatte sie am Arm
gefasst und weggezogen, obwohl sie
bis dahin noch nie ein Wort miteinander gewechselt hatten. Ich lag neben ihr auf dem Bett und versuchte
mir, die Szene wieder vorzustellen.
Die Art, wie er sie am Arm hält und
zu den Männern ringsum sagt – Entschuldigen Sie ... Zu ihr kein Wort.
Ich versuchte in den Augen dieser
Männer zu lesen, die ebenfalls ein
Recht auf sie zu haben glauben, ich
versuche mir vorzustellen, wie sie
sich fühlt, als sie den Saal verlassen.
Doch dann presste ich hervor: – Ich
ertrage es nicht.
– Und ich möchte nicht mehr darüber sprechen. Das ist ein Typ, der
mich eine Zeit lang erregt hat, aber
auch damals habe ich nicht viel von
ihm gehalten.
– Ja, aber wieso hat es dich nicht gestört, dass dich ein Typ erregt, der auf
Tuđman steht.
– So ein Idiot ist er nun auch wieder nicht.
– Glaubst du! Auch heute ist er das!
– Liebling, weshalb reden wir über
ihn? Es ekelt mich.
– Deshalb weil du ein Jahr lang zu
ihm in sein Kabinett gerannt bist!
Deshalb weil du auf seinen Knien
gesessen bist, während er am Telefon
mit Tuđman sprach.
– Aber das ist so lange her!
– Aber ich kann es nicht ertragen,
dass die Frau, die ich liebe, mit einem
solchen Typen zusammen war.
30.4.2011. 17:53:09
RELA
TIONS
– Ich war immer der Meinung, dass
er ein Idiot ist.
– Und was hast du dann bei ihm gemacht!
Wir fingen an zu schreien, und ich
stand auf und drehte den Fernseher
lauter. Das schien sie zu beruhigen,
und sie fuhr, als ich zurück im Bett
war, ganz leise fort.
– Ich fand die Geschichte interessant.
Es lag etwas Perverses darin, dass ich
jeden Tag an seiner Sekretärin vorüberging, darin, dass diese Frau wusste, dass wir da drinnen vögeln, und
dass sie niemanden in sein Kabinett
ließ. Er musste manchmal für fünfzehn Minuten zu einer Sitzung, und
ich wartete nackt auf der Couch, sicher dass niemand hereinkommt,
dass sie mich schützt. Wir haben nie
über irgend etwas miteinander geredet, wir haben nur dienstlich miteinander kommuniziert, aber ich fühlte
mich irgendwie auf seltsame Weise
mit ihr verbunden.
– Jetzt wirst mir noch sagen, dass du
ihretwegen hingegangen ist – sagte
ich, während sie sich hinüberbeugte, um die halb gerauchte Zigarette
auszudrücken.
– Aber einmal haben wir uns sogar getroffen, im Kleinen Café am
Hauptplatz – erzählte sie. – Sie hatte
mich eingeladen, und ich hatte zugesagt. Es hat mich interessiert, was sie
von mir wollte. Vielleicht wollte sie
mir etwas sagen oder etwas über ihn
verraten. Mir näherkommen. Aber
wir hatten nicht den Mut, wir tranken Kaffee und redeten über Dummheiten. So wie du und ich jetzt über
Dummheiten reden – sagte sie und
kroch wieder auf mich und senkte ihre Lippen auf meine. Dann wich sie
zurück, zwängte mir ihre Finger in
den Mund und begann meine Zähne
abzutasten. Einen um den anderen,
vom linken Weisheitszahn bis zum
rechten, mit Daumen und Zeigefinger, von beiden Seiten, dabei meine
Zunge umgehend, die sich unaufhörlich zwischen sie drängte.
Relation 1_2011.indd 205
Prosa
***
Am nächsten Morgen half alles Sträuben nichts. Anstatt im Büro zu sein,
standen wir um halb elf in der Tür
des Friseursalons und spähten nach
links und rechts. Sie wartete um zu
sehen, an welche Dame ich mich
wenden würde, und ich drehte den
Kopf nach allen Seiten und suchte
Rita mit dem Blick.
– Welche ist es? – fragte sie mit unterdrückter Stimme und presste sich
an mich.
– Sie ist nicht da, vielleicht arbeitet sie
am Nachmittag – antwortete ich.
– Vielleicht ist sie im anderen Raum,
dort wo die Frauen frisiert werden –
sagte sie und zeigte zum Gang, der in
den anderen Teil des Salons führte.
– Vielleicht – antwortete ich und
drehte mich weiterhin nervös auf
der Stelle, noch immer wütend, dass
ich ihr erlaubt hatte, mich hierher zu
verschleppen. Ich wollte mich schon
dem Ausgang zuwenden, als die Chefin plötzlich neben uns stand, eine
stets muntere, aber redselige Frau.
– Ja wo stecken Sie denn? Ich war
schon besorgt, Ihnen könnte etwas
zugestoßen sein – ließ sie einen Wortschwall heraus, nahm mich bei der
Hand und führte mich zum Sessel.
Dieser herzliche Griff blieb Hana natürlich nicht verborgen, sie glaubte,
das war mir sofort klar, es handelte
sich um Rita.
– Wo ist Rita? – fragte ich deshalb
rasch.
– Ach Rita, Rita ist krank geschrieben
ihr Kleiner ist krank. Aber wir haben
eine würdige Vertretung für sie gefunden, er war zwei Jahre zur Spezialisierung in London, ein wahrer Meister, ich werde ihn gleich rufen – stieß
sie in einem Atem hervor und ging in
den anderen Raum. Ich setzte mich
und sah im Spiegel, wie sie mit einem
hoch gewachsenen, hageren, schwarzhaarigen Mann zurückkam, der sich
stärker in den Hüften wiegte als sie.
Er kriegte den Mund ebenso wenig zu
wie seine Chefin, aber Rita war mir
205
gerade deshalb lieb, weil sie nicht redete, während sie die Haare schnitt.
Sie erlaubte mir, im Sessel zu versinken, es zu genießen, nichts zu tun,
nichts zu reden. Sie fuhr mir mit den
Fingern durchs Haar, strich mir über
das Kinn, entfernte mit den Fingerkuppen die Härchen, die mir unter
die Augen geflogen waren und mich
zum Grimassieren zwangen, und ich
konnte im Spiegel zusehen, wie ihre geschickten Finger um mein Gesicht tanzten, hörte die Schere, wie
sie klapperte, oder schloss die Augen
und überließ mich meinen Gedanken, die ziellos kamen, so wie man
früher Fahrrad fuhr, hier entlang,
dort entlang durchs Viertel und dann
in den Wald, ohne Ziel. Ich wusste,
dass ich eine halbe Stunde dazusitzen
hatte, und dass ich dabei nichts tun
konnte, und das beruhigte mich.
Jetzt saß ich auf diesem Stuhl, wütend auf Hana und wütend auf mich,
und der Friseur aus London berührte
mich ebenso sanft und vorsichtig wie
Rita. Aber anstatt mich zu entspannen, wurde ich immer verkrampfter,
und in dem Augenblick, als er sich
mit seinem Schritt an meinen Handrücken lehnte, fühlte ich die Wut in
mir hochkommen und sich über den
Spiegel genau auf Hana entladen. Ich
sah im Spiegel, wie sie lachte, und
verzog ärgerlich das Gesicht.
„Sei doch nicht so primitiv. Rita lehnt
sich doch auch ab und zu an deine
Schulter, vielleicht muss er das tun,
um an alles heranzukommen. Lass
dich nicht von solchen Kleinigkeiten stören“, sagte ich mir, während
er sanft meine Ohren verdrehte und
sich mit der Schere hinter ihnen zu
schaffen machte. „Was heißt das, dass
er schwul ist. Schließ die Augen, entspanne dich und genieße seine Berührungen wie die Ritas“, begann ich
mit dem autogenen Training.
Ich schloss die Augen, aber seine Berührungen waren mir auch weiterhin
unangenehm. „Damit sie angenehm
werden, muss ich sie mir wünschen,
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206
wie bei Rita ... das gibt Hana also
recht, dass mir Rita gefällt ... aber
nicht genug, dass ich irgendwann
auch nur die geringste Mühe in diese Beziehung investieren würde ... warum lasse ich mich so malträtieren ...
der hier ist wirklich hartnäckig, wie
komme ich nur weg von ihm ... an Rita bin ich immer näher herangerückt
...“ Ich spulte den Film im Kopf immer schneller ab und starrte, immer
unzufriedener mit dem Benehmen des
Friseurs, mit meiner neuen Frisur und
mit Hanas Gewaltakt, in den Spiegel.
Draußen regnete es, ich würde zu
spät zur Arbeit kommen, ich runzelte die Brauen und presste die Zähne
zusammen, während mir Hana im
Spiegel zuzwinkerte, die Hände rang
und mich anflehte, ihr zu verzeihen.
Sie zog mit den Fingern ihre Lippen
breit und bedeutete mir zu lächeln.
Sie bewegte die Lippen, und ich las:
„Nicht böse sein.“ Aber ich war böse und machte ein finsteres Gesicht.
Selbst als sie kurz ihren Mini hob und
mir für einen Augenblick ihr Miniaturhöschen zeigte.
Dann schwiegen wir und sahen einander im Spiegel an, ohne Worte,
ohne Zeichen. Und dann nahm sie
eine Strähne ihres Haars und legte
sie sich über die Lippen zu einem
Bart und hob die Oberlippe, um ihn
gegen die Nase zu pressen. Aber er
rutschte ab, und sie versuchte es noch
einmal. Und wieder. Beim dritten,
vierten Mal gelang es endlich. Der
Schnurrbart stand, gehalten nur von
der Oberlippe. Jetzt hob sie den Finger in die Luft und winkte drohend
mit ihm. Und ich lächelte.
3. Sag, dass nichts passiert ist
Ich stand vor der Mitteltür der Straßenbahn, und sie beschwor mich einzusteigen und sie ein paar Stationen
zu begleiten. Du weißt, dass sie in
der Redaktion auf mich warten. Ich
wiederholte diesen Satz und zeigte
auf das Handy, das schon wieder läu-
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RELA
Drago Glamuzina: Drei
tete. Sie ließ nicht locker, aber ich
drehte unnachgiebig den Kopf linksrechts, bis sie sich umdrehte und auf
einen freien Platz zuging. Ich sah, wie
sie sich hinsetzte, sich umdrehte, mir
zuwinkte, und ging dann auch selbst
und stieg – einen Augenblick bevor
die Straßenbahn wieder über die Schienen ratterte – durch die hintere Tür
ein. Sie sah mich nicht, sondern blätterte in der Zeitung. Ich wartete einen Augenblick, bis sich die Leute
verteilt hatten, dann arbeitete ich
mich langsam zu ihr vor. Ich blieb
hinter dem Rücken einer etwas fülligeren Dame mit großem Hut stehen,
über dessen Rand hinweg ich Hana
sehen konnte. Hinter ihrem Kopf
konnte ich rasch wieder untertauchen,
sollte sie sich zufällig umdrehen.
Immer habe ich sie gern beobachtet und bin in der Stadt hinter ihr
gegangen. Was auch einmal unangenehm sein konnte. Wenn sie auf
der Straße einem gemeinsamen Bekannten begegnete, wechselte ich
rasch auf die andere Seite, damit er
nicht auf die Idee käme, ich würde
sie begleiten. Meistens wusste sie,
dass ich hinter ihr war. Während wir
eine Straße hinuntergingen, ließ ich
einfach ihre Hand los und ließ mich
ein paar Schritte zurückfallen, ging
hinter ihr und sah, wie ihr Rücken
aufragte und wie sich die spindelförmigen Wadenmuskeln spannten, wie
Männer und Frauen auf ihre Schuhe
mit den hohen Absätzen sahen, die
oft eine Neigung zum Gefährlichen,
Perversen erkennen ließen, aber nie
vulgär waren. Sie hatte ein hervorragendes Gespür für diese Grenze und
überschritt sie nie. Manchmal machten wir es auch anders. Wir trennten
uns, ich sagte, ich ginge nach Hause,
und dann machte ich kehrt und ging
ihr nach. Nicht etwa weil ich eifersüchtig gewesen wäre, nicht deshalb
bin ich ihr nachgegangen, jedenfalls
nicht damals. Ich liebte es einfach, sie
heimlich zu beobachten, denn dann
war auch sie gelöster. Einmal beob-
TIONS
achtete ich sie, wie sie die Tür zu ihrem Gebäude aufschloss, und als ich
die Art sah, wie sie da stand und die
Schlüssel in der Tasche suchte, wie
sie sich zur Tür vorbeugte, wie sie sie
hinter sich zuzog, obwohl sie völlig
allein in der Straße war, dachte ich:
Sie verführt auch das Gebäude, die
Tür, Autos ... Ich liebte es, mit ungestörtem Genuss ihr Gesicht zu beobachten, während sie eine Auslage
mit Kleidern betrachtete, diese völlige Hingegebenheit zu bewundern,
zu sehen, wie sie mit den Händen wedelte, wenn sie einem Bekannten etwas erklärte, den sie zufällig auf der
Straße getroffen hatte, oder – unbemerkt – fast ihre Finger zu berühren,
die in der Straßenbahn den Haltegriff umklammert hielten. Oder ich
saß hinter ihr und beobachtete im
Widerschein des Straßenbahnfensters ihre immer besorgte Miene, an
der deutlich abzulesen war, das dahinter ein schwerer Film ablief. Und
fuhr dann auf ihr hysterisches Zucken hin zusammen, dem das nervöse Durchwühlen der Handtasche auf
der Suche nach dem Handy und das
fieberhafte Eintippen einer Nummer folgten.
Wen ruft sie an???
Erleichtert atmete ich auf, wenn das
Handy in meiner Tasche zu vibrieren begann.
So sah ich auch heute, aus meinem
Versteck im Rücken der Dame mit
dem Hut, wie sie in der Straßenbahn
saß, ununterbrochen mit dem Finger
eine Haarlocke eindrehte und nachdachte. Vielleicht über die Reise nach
Paris, die sie am nächsten Morgen erwartete. Und schon dachte ich, dass
es an der Zeit wäre, zu ihr zu treten
und sie zu küssen, unverhofft, von
hinten, als sie sich abrupt umdrehte
und aus dem Fenster sah.
Auch ich drehte mich um.
Auf der Ilica ging der Volleyballtrainer ihrer Tochter.
Genau in diesem Augenblick kam
eine Straßenbahn aus der Gegen-
30.4.2011. 17:53:09
RELA
TIONS
richtung und verdeckte ihn, aber sie
wandte noch immer den Kopf nach
ihm. Sie drehte sich fast vollständig
auf ihrem Sitz um, in der Erwartung,
dass die Straßenbahn vorbeifahren
würde und sie ihn wieder sähe.
Mit ihm war sie in dem Jahr zusammen gewesen, als Petra zum Training
ging. Mehrere Male waren wir ihm
gemeinsam begegnet, aber sie hatte
ihn nicht einmal gegrüßt. Auf meine Frage nach dem Grund sagte sie,
dass er sie nicht interessiere. Weder
er noch die übrigen. Denn das sei in
einer anderen Zeit, das sei eine andere Hana gewesen.
– Ich schulde ihnen nichts, sie bedeuten mir nichts, ich brauche sie nicht
auf der Straße zu grüßen – waren ihre
Worte gewesen.
Die Straßenbahn fuhr vorüber, aber
auch unsere Straßenbahn hatte sich
schon eine beträchtliche Strecke von
dem Trainer entfernt, trotzdem sah
sie noch immer hinter ihm her. Endlich drehte sie sich um und kehrte zu
ihrer Zeitung zurück.
An der nächsten Haltestelle stieg ich
aus und rief sie am Handy an.
– Du fehlst mir schon – sagte sie, sobald die Verbindung hergestellt war.
– Bist du in der Redaktion?
– Nein, ich bin noch auf der Straße.
Was gibt es bei dir Neues?
– Ich denke an Paris. Ich habe lange
um dieses Interview gekämpft, und
jetzt bin ich nervös.
– Hast du jemanden getroffen.
– Nein.
– Ich habe gesehen, wie du ihm
nachsiehst?
– Wem?
– Ihm.
Ich spürte, wie sie von Panik gepackt
wurde und fieberhaft überlegte, was
sie antworten solle.
– Deinem ehemaligen Liebhaber.
– Ja, ich habe ihn aus der Straßenbahn gesehen. Wieso weißt du das? –
fragte sie unter leisem Lachen, das ihre Beunruhigung kaschieren sollte.
– Ich stand hinter dir.
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Prosa
– Und warum hast du dich nicht gezeigt, Liebling.
Ich schwieg. Und überlegte, wie ich
es sagen solle.
– Du behauptest, dass du nie nach
anderen Männern siehst, und bist
bereit, mir die Augen auszukratzen,
wenn ich mich nach einer Frau umdrehe – presste ich schließlich hervor.
– Ich sehe doch niemandem nach.
– Aber ich habe gesehen, wie du ihm
nachsiehst.
– Na ja, ich habe ihn lange nicht gesehen, da habe ich eben sehen wollen, wie er aussieht.
– Ja, du hast gewartet, dass die Straßenbahn vorbeifuhr, und dich auf
deinen Platz vollständig umgedreht,
du hast dir fast den Hals verrenkt, um
ihn noch einmal zu sehen.
– Ja, Liebling, aber das hat nichts zu
bedeuten.
– Ich weiß ja, dass es nichts zu bedeuten hat, aber du behauptest ständig,
dass es etwas bedeutet.
– Aber ich habe nicht ...
– Okay, okay, es ist alles in Ordnung,
du hast ihm nachgesehen, du hast einem Mann nachgesehen, mit dem
du einmal gevögelt hast. Das würde
jeder tun. Ich bin dir nicht böse. Wir
hören uns später. Jetzt bereite dich auf
deine Reise vor. Du hast viel zu tun.
Eine halbe Stunde später rief sie von
zu Hause an. Sie weinte.
– Entschuldige bitte.
– Aber ich bin dir überhaupt nicht
böse. Du musst dich nicht entschuldigen. Und es tut mir leid, dass ich
dich angerufen und dir gesagt habe,
dass ich gesehen hätte, wie du ihm
nachsiehst. Ich wäre zufriedener mit
mir, wenn ich das für mich behalten hätte.
– Ich weiß nicht, warum ich ihm
nachgesehen habe.
– Liebling, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, es ist alles in Ordnung. Eigentlich habe ich dir nur sagen wollen, dass du selbst dich nicht
so benimmst, wie du es von mir verlangst. Aber so kann sich auch nie-
207
mand verhalten. Wir können nicht
jede Spur von Interesse an anderen
Menschen in uns unterdrücken.
– Nein, es ist nicht in Ordnung. Ich
bin schrecklich beunruhigt. Und jemand anders interessiert mich nicht.
– Es ist nichts Schreckliches passiert.
– Ich bin dir treu, ich bin dir schrecklich treu.
– Ich weiß.
– Ich sollte mich für die Reise vorbereiten, aber ich kann nicht. Ich weiß
nicht, warum ich das getan habe.
– Vielleicht deshalb, weil ich dich
damit aufgezogen habe, der Typ habe den Gang eines Fickers, und das
wolltest du nachprüfen.
– Vielleicht. Sag, dass nichts passiert ist.
– Okay, es ist nichts passiert.
4. Und wenn ich sie ein
bisschen mehr spreize
Wir lagen am Nudistenstrand, er
war hässlich, ungepflegt und voller
Spanner, die sich um die zwei, drei
Frauen herum gruppiert hatten, die
es, zusammen mit ihren Männern,
gewagt hatten, sich in diesen Wichserpfuhl zu begeben. Wir lagen da,
hielten uns an den Händen und linderten die Folgen des Streits vom
Vorabend, der mit dem Zerreißen der
Bücher einer Kollegin von uns und
dem Hinauswerfen ersterer aus dem
Fenster des fahrenden Autos geendet
hatte. Denn diese Bücher hat sie, und
warum habe ich sie mir dann nicht
von ihr geliehen.
– Ich kann das nicht verstehen ... du
hast Psychologie studiert, du schreibst
oft über Obsessionen, die den Menschen das Leben zerstören, aber deines hast du so angelegt, dass es keine Chance für dich gibt, ein guter
Mensch zu werden – sagte ich und
sah zu den Wolken hinauf, die über
den Jarun segelten.
– Ja?
Das war alles, was sie sagte, und
so wiederholte ich nach kürzerem
30.4.2011. 17:53:09
208
Warten:
– Ja. wenn du die Frauen hasst, mit
denen ich zusammen arbeite, obwohl
du weißt, das sie mir nicht gefallen,
wenn du Lexaurin nimmst, wann
immer ich auf Reisen gehe, und versuchst, mir diese Reise auszureden,
wenn du jede Telefonnummer in
meinem Handy überprüfst, hast du
keine Chance, ein gutes Mädchen
zu werden.
– Meinst du?
– Meine ich.
– Aber du quälst mich auch. Du
fragst mich nach den Leuten aus,
die ich interviewe. Ich muss dir von
jedem sagen, ob er gut aussieht, wie
alt er ist, ob er interessant ist – entgegnete sie und sah ebenfalls irgendwohin hinauf, in die Wolken.
– Ja, aber ich verlange nicht, dass du
dich nicht triffst mit diesen Leuten,
ich behindere dich nicht bei der Arbeit, eventuell gehe ich dir ein wenig mit meiner Eifersucht auf die
Nerven.
– Ein wenig? – sagte sie so leise, dass es
kaum zu hören war, und fügte dann
nur wenig lauter hinzu: – Als ich dir
von Josip erzählte habe, hast du mich
tagelang nicht atmen lassen.
– Deshalb weil ich nicht hinnehmen
konnte, dass du dich mit ihm getroffen hast. Das passte nicht zu dem
Bild, das ich mir von dir gemacht
hatte. Und es tat weh. Mich hat wirklich der Gedanke vernichtet, dass die
Frau, die ich liebe, mit einem Typen
zusammen sein konnte, der alles darstellt, was ich verachte. Und was sie
verachtet. Nur bin ich mir bewusst,
dass uns ein solches Verhalten vernichten wird, du hingegen verhältst
dich so, als ob es so sein müsste ...
Du glaubst, dass etwas nicht in Ordnung ist, wenn ich nicht eifersüchtig
bin, und manchmal kommt es mir so
vor, dass du mir auch alle diese Geschichten über ehemalige Liebhaber
nur deshalb erzählst, um meine Eifersucht zu schüren, während ich gegen
diese Eifersucht ankämpfe. Vielleicht
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RELA
Drago Glamuzina: Drei
nicht gerade erfolgreich, aber ich
kämpfe. Das ist der Unterschied.
– Ach komm, du hast darauf bestanden, dass ich dir alles erzähle. Du
hast ausdrücklich darauf bestanden.
Du hast ständig gesagt, du willst alles über mich wissen.
– Ja, du wirfst mir einen Knochen
hin und wunderst dich, wenn ich
mich auf ihn stürze. Hättest du gewollt, hättest du alles verschweigen
können, und ich hätte keine Chance
gehabt, etwas zu erfahren.
– Gut, gut, ich mag darüber nicht
reden, nicht dieses Mal – sagte sie,
mit ein wenig mehr Energie in der
Stimme, aber noch immer faul in der
Sonne schmelzend.
Beleidigt schwieg ich.
Nach einigen Augenblicken drehte
sie sich zu mir um, sah mich an und
sagte: – Okay, sag mir, wie kämpfst
du gegen die Eifersucht?
– Dieser Mann, der unter deinen
Füßen liegt.
– Ja?
– Schon eine Stunde lang tut er, als
würde er schlafen, und starrt durch
seine Sonnenbrille auf deine Muschi.
Ich habe es gesehen, und ich denke, du auch, aber ich habe dir nicht
gesagt, dass du die Beine schließen
sollst. Wenn dich das nicht stört,
oder wenn du ihn reizen willst, warum nicht, tu das. Danach werden
wir nach Hause gehen und ihn nie
wieder sehen. Am Anfang hat mich
die Frage gequält, ob du es absichtlich tust, aber dann habe ich mich
beruhigt und bin zu dem Schluss
gekommen, dass es egal ist, dass ich
mich nicht ärgern werde.
– Ich habe nicht gesehen, dass jemand unter mir liegt. Und es fällt mir
überhaupt nicht ein, irgendwem irgend etwas zeigen zu wollen – schnitt
sie das Gespräch ab und schloss die
Beine. Dann schwiegen wir. Nach
zehn Minuten fing sie wieder an.
– Du bist dir sicher, dass er mich angesehen hat.
– Ja.
TIONS
– Wie?
– Er hat einen Ständer gekriegt. Ich
habe gesehen, wie er ihn in Position
gebracht hat.
Kurzes Schweigen. Dann fragte sie:
– War er groß?
– Sehr.
– Und du bist nicht böse?
– Nein.
– Du lügst.
– Ich lüge nicht.
– Aber wenn ich die Beine wieder
spreize, wirst du böse.
– Nein.
Sie spreizte sie, und der Mann unterhalb von uns bezog rasch wieder
seine Stellung.
– Sieht er her? – fragte sie.
– Er sieht her – sagte ich.
– Du bist böse.
– Ich bin nicht böse.
– Und wenn ich sie ein wenig mehr
spreize?
– Ich werde nicht böse sein.
Sie spreizte sie, als wollte sie beweisen, dass ich Blödsinn redete und
dass ich schon im nächsten Augenblick wütend werden würde. Aber
ich war bereit, sie alles tun zu lassen,
was ihr einfiel, sie sogar mit diesen
Typen reden zu lassen, die nur deshalb an den Strand kamen, um den
Frauen zwischen die Beine zu linsen.
Ich hoffte, dass danach auch sie etwas anders reagieren würde. Aber ich
begriff rasch, dass es mir nicht leicht
fallen würde. Scheinbar zufällig, um
eine Fliege zu vertreiben, senkte sie
die Hand zwischen die Beine und ...
ließ sie dort liegen. Langsam fuhr sie
mit der Hand über die Härchen und
legte sie dann zufrieden auf meine.
Der Typ reagierte. Mit Keuchen.
Und ich hörte auf zu atmen. Ich
glaubte, das sie jetzt aufhören würde, aber sie ging weiter. Zuerst befeuchtete sie mit der Zunge die Lippen, dann strich sie ein paar Mal mit
der Hand über die Innenseite der
Schenkel. Angelegentlich, absichtslos, während sie mir das Buch nacherzählte, das sie gerade las.
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RELA
TIONS
Als ich hinunter sah, kam es mir so
vor, als wären ihre Beine noch mehr
gespreizt als vorher.
Das Keuchen wurde schneller.
In dem Moment richtete sie sich
plötzlich auf und drehte sich zu dem
Typen um, der erstarrte, als er begriff, dass die Worte, die sie sagte,
ihm galten.
– Würden Sie ein wenig zur Seite rücken. Sie verdecken mir die Sonne.
Aber das war nicht leicht, auf der einen Seite lagen die Abfallreste eines
nächtlichen Saufgelages, auf der anderen war stacheliges Gras. Und würde er das überschreiten, würde er den
paradiesischen Winkel verlassen, den
ihre gespreizten Beine beschlossen.
Fieberhaft sah er sie an und überlegte, ob sie wohl wegen seines Linsens
protestierte, oder ob es sie tatsächlich störte, dass er ihr die Sonne verdeckte. Dann stand er auf, legte sein
Handtuch über die Unkrautbüschel
und streckte sich, innerlich strahlend
vor eigener Findigkeit, selbstzufrieden darauf aus. Jetzt hob sie das rechte Bein, als wollte sie seine Opferwilligkeit belohnen, und lehnte die Wade an mein aufgestelltes Knie.
In den nächsten zehn Minuten versuchte ich das Geilheitsdrama, dass
sich unter uns abspielte, nicht zu sehen und mich meiner Zeitung zu
widmen, aber kaum hatte ich sie sinken lassen, stand der Mann auf, trat zu
mir, und bat mich, sie ihm zu leihen.
Ich fragte mich, ob das der Versuch
sein sollte, einen konkreteren Kontakt herzustellen. Dann fragte ich das
auch sie, und sie gab zur die Antwort:
– Ist mir egal. Ich wünsche keinerlei
Kontakt mit ihm.
Aber der Typ ließ nicht locker. Er
setzte sich an oberen Rand seines
Handtuchs, genau genommen auf
seinen rechten Fuß, bog das linke
Bein im Knie ab, stützte nachlässig
den Ellbogen aufs Knie und breitete,
nachdem er sich so gegen den Rest
des Strandes abgeschirmt hatte, die
Zeitung bis unmittelbar an ihren Fuß
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Prosa
aus. Sein Kopf war fast zwischen ihren Beinen. Er blätterte in der Zeitung, vor, zurück, raschelte, seufzte und beruhigte sich wieder. Als
ich hinuntersah, sah ich, dass er am
Wichsen war. Ich beugte mich zu ihr
und flüsterte es ihr zu, worauf sie ein
Stöhnen herausließ. Das sie freilich
später hartnäckig leugnete.
Ich wunderte mich über seine Frechheit und Aufdringlichkeit, ich sah ihr
ruhiges Gesicht und ihre geschlossenen Augen und fragte mich, was
wohl in ihr vorging. Und was ich
tun solle.
Ich beugte mich zu ihr und flüsterte
wieder: – Stört es dich nicht?
– Nein, solange er mich nicht berührt, ist mir völlig egal, was er tut.
Ein paar Minuten lang schwiegen
wir, dann drehte sie den Kopf zu
mir und sagte: – Sag mir, wenn er
fertig wird.
– Sieh doch selbst hin, wenn es dich
interessiert.
– Ich möchte ihn nicht ermuntern.
– Und du meinst, ich darf ihm zusehen, das ist keine Ermunterung?
– Okay, dann lass es.
Aber wir brauchten ohnehin nicht
hinzusehen, wir hörten es. Das Keuchen kam immer rascher und lauter.
Ich sah in ihr Gesicht um zu sehen,
ob sie zu zittern begänne, wenn sie
erkannte, dass er fertig gemacht hatte. Aber auch darüber konnten wir
uns nicht einigen.
Als er aufstand und ins Wasser ging,
um sich abzuwaschen, sprangen wir
auf und packten rasch unsere Sachen
zusammen. Wir wollten uns davonmachen, bevor ihm der Gedanke
käme, sich uns zu nähern. Angewidert sahen wir die milchigen Tropfen
gut dreißig Zentimeter von seinem
Handtuch entfernt, und auch die
Zeitung, die er neben unsere Tasche
geworfen hatte, stieß ich angewidert
mit dem Fuß zur Seite und schob
zwei Steine darauf, damit sie nicht
über den Strand geweht würde. Erst
jetzt bemerkte ich, das sie sich mit
209
einem Papiertaschentuch den Unterschenkel abwischte.
Wir schwiegen bis zum Auto, und
dann fingen wir wie verrückt an zu
lachen. Über sein verzerrtes Gesicht,
sein Keuchen und Schnaufen, sein
Liegen im Gestrüpp.
Zwei Stunden später, geduscht und
erfrischt, saßen wir auf der Terrasse
der Pizzeria „Maslina“ und warteten
auf unsere Gnocchi mit Krabben.
Und natürlich lachten wir noch immer über den Typen, der am Strand
gekeucht hatte.
Am Nachbartisch saßen ein älterer
Herr und eine junge Frau. Alle Augenblicke beugte er sich vor und bedeckte ihre Hand mit seiner. Die Frau
war nervös und tanzte ständig mit
den Beinen unter dem Tisch, schloss
sie und spreizte sie. Dann legte sie ein
Bein auf das Knie des anderen, ließ es
einen Augenblick so liegen und setzte
es dann rasch wieder auf den Boden.
Aber schon nach wenigen Augenblicken legte sie wieder ein Bein über
das andere.
Ich sah, wie sich dabei ihr kurzes rotes Kleid an der Hüfte hochschob,
und fragte mich, ob sie nur nervös
war, oder ob sie das im Grunde für
mich tat. Während er sie oben an der
Hand hielt und sie ihn verliebt ansah, spreizte sie unterm dem Tisch
die Beine und zeigt mir ihre nackten Schenkel.
– Was guckst du? – fragte mich Hana jetzt in ihrer gefährlichen abrupten Art.
Noch immer gut gelaunt, überzeugt,
dass ich nach allem, was dieser Tag gebracht hatte, erzählen konnte, welch
harmloser Verdacht mir im Kopf herumging, deutete ich mit dem Kopf
zu der Frau am Nachbartisch. Sie
drehte sich um und sah sofort ihre
Beine, die sie in diesem Augenblick
ruhig hielt.
– Was? – wiederholte sie.
– Schau nur.
– Was?
– Ihre Beine.
30.4.2011. 17:53:09
210
Und tatsächlich, nach ein paar Augenblicken begannen sich die Schenkel zu öffnen und das Kleid hinaufzurutschen.
– Was glaubst du, ist sie nervös oder
provoziert sie mich.
– Diese Schlampe – presste sie jetzt
hervor und erbleichte.
– Aber was hast du denn, du hast heute viel schlimmere Sachen getan.
– Diese Schlampe, diese Schlampe
... – wiederholte sie wie ein Automat, dann gab sie sich plötzlich einen Ruck, drehte sich zu mir um und
zischte durch die Zähne: – Ich habe
gar nichts getan!
– Ich habe keine Ahnung, ob sie irgend etwas tut, aber ich bin mir sicher, dass du sehr gut gewusst hast,
was du tust – antwortete ich, auch
selbst schon ein bisschen wütend.
Aber sie hörte mich nicht mehr. Sie
war aufgestanden und schon unterwegs zu dem Mädchen, und ich sprang
ihr rasch nach. Während ich sie vom
Nachbartisch wegzuzerren suchte,
entwand sie sich, drehte sich um und
rief: – Schämst du dich nicht?
Ich zog sie zum Ausgang von der
Terrasse, die Leute drehten sich nach
uns um und versuchten mitzukriegen, was passiert sei. Als ich sie bis
zum Auto gebracht hatte, riss sie sich
los und rannte zurück. Nach erneutem Ringen schob ich sie ins Auto,
fuhr los und fing an zu brüllen. – Bist
du normal! Nie im Leben ist mir etwas unangenehmer gewesen. Du bist
verrückt!
– Mir tut es nur leid, dass du mich
nicht hast zurückgehen lassen. So eine Ohrfeige hätte ich ihr verpasst –
gab sie zurück.
– Aber weshalb?
– Deshalb weil sie eine Hure ist.
– Du bist eine Hure, nicht sie. Wie
kannst du jemanden angreifen wegen
etwas, was du selber auch tust.
– Aber ich liebe dich, und ich kann
es nicht ertragen, dass du andere ansiehst – war sie jetzt schon am Weinen. – Warum hast du sie angesehen?
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RELA
Drago Glamuzina: Drei
– Aus reiner Neugier.
– Warum hast du sie angesehen?
– Und warum hast du heute diesem
Typen deine Muschi gezeigt?
– Deshalb weil du es verlangt hast.
– Ich habe gar nichts verlangt. Ich
habe nur gesagt, dass du tun sollst,
was du willst.
– Warum hast du zu ihr hingesehen
... warum hast du zu ihr hingesehen
... – wiederholte sie.
– Ich habe nicht zu ihr hingesehen
– sagte ich, mir meiner Niederlage
völlig bewusst.
Dann schwiegen wir eine Zeitlang,
und dann verlangte sie, ich solle ins
Restaurant zurückgehen und ihre Tasche und ihre Strickjacke holen.
– Wie soll nach einer solchen Scheiße wieder dahin zurückgehen – explodierte ich.
Gut, dann gehe ich – sagte sie, rührte
sich aber nicht.
Ich stieg aus dem Auto, ging hinauf
auf die Terrasse, nahm Tasche und
Jacke und ließ 200 Kuna neben dem
Teller zurück, auf dem die Gnocchi mit den Krabben kalt wurden.
Dann drehte ich mich zu dem noch
immer entsetzt blickenden Paar am
Nachbartisch um, hob die Schultern und breitete die Arme ... und
verschwand.
Als ich wieder im Auto war, legte ich
ihr die Sachen in den Schoß. Dann
sagte ich zu ihr, sie solle sich die Lippen nachziehen, drehte den Schlüssel und fragte: – Wo werden wir zu
Abend essen?
5. Der alte Herr,
der sie gevögelt hat
– Und wie ist er – fragte sie, sobald
sie im Auto saß.
– Alt.
– Ich habe dir ja gesagt, dass er alt ist.
Das war vor fünfzehn Jahren, und
schon damals war er alt.
– Okay, aber trotzdem hat er dich
heute Morgen angerufen – sagte ich
und versuchte mich in die Kolonne
TIONS
in der Ilica einzureihen. – Er glaubt
noch immer, dass er dich haben kann.
– Er hat mein Bild in der Zeitung
gesehen. Und offensichtlich hat er
sich an einige Dinge erinnert – gab
sie zur Antwort und setzte dann besorgt hinzu – Was für ein Verkehr,
wer weiß, wie lange wir bis zum Jarun brauchen.
– Ja, er hat sich erinnert, wie du ins
Krankenhaus gerannt bist, um zu
ihm ins Bett zu kriechen.
– Ha, vielleicht – stieß sie durch die
Zähne hervor und kramte, ein wenig
abwesend, in ihrer Tasche. Dann sagte sie noch: – Ich habe nicht viel Zeit,
Petra kommt bald heim.
– Was genau hat er zu dir gesagt?
– Das habe ich dir doch heute Morgen schon gesagt.
– Wiederhole – insistierte ich.
– Dass ich auf dem Foto zerzaust aussehe – kam die Antwort, während sie
Buchstaben ins Handy tippte.
– Das war lasziv gemeint?
– Vielleicht.
– Du warst tatsächlich zerzaust.
– Wir haben die Aufnahmen bei dem
Maler auf dem Balkon gemacht, und
es war windig – erklärte sie.
– Was noch?
– Lass mich nur kurz Petra eine Nachricht schicken – murmelte sie nervös. Sie wartete das Signal ab, dass
die Nachricht übermittelt sei, und
wandte sich dann mir zu – Ich verstehe nicht. Was hast du gefragt?
– Was hat er noch gesagt?
– Dass ich zu ihm kommen soll.
– Und du?
– Ich habe gesagt, dass ich nicht kann
– sagte sie und legte das Handy in
den Schoß.
– Hat er gefragt warum?
– Er hat nicht nachgefragt. Wir haben uns fünfzehn Jahre nicht gesehen, und vermutlich hat er selbst nicht
erwartet, dass ich kommen würde.
– Aber trotzdem hat er angerufen.
– Da ist sie – sagte sie und las die
Nachricht auf dem Handy, die sie
gerade bekommen hatte.
30.4.2011. 17:53:09
RELA
TIONS
Dass sie abwesend war und nicht mit
mir darüber reden wollte, konnte
mich nicht aufhalten. Nicht in einer
solchen Situation. Kurz zuvor hatte ich noch in seinem Wartezimmer
gesessen und darauf gewartet, dass
er herauskommen sollte, ich wollte
sehen, wie dieser Doktor aussah, zu
dem sie vor vielen Jahren gekrochen
war, so dass er noch heute glaubte, es
würde genügen, den Hörer abzuheben und sie anzurufen.
Ich saß dort und ließ das Revue passieren, was sie mir erzählt und was
ich in ihrem Tagebuch gelesen hatte.
Wie eines Sonntags das Telefon klingelt, nachmittags, 1985 oder 1986,
und wie die kleine Studentin vor
den erschrockenen Eltern vom Tisch
aufspringt, den Stuhl umwirft und,
nachdem sie den Hörer aufgelegt hat,
zu ihm rennt, wie sie wütend ist, dass
die Straßenbahn nicht kommt, wie
sie den Berg zum Krankenhaus hinaufgeht, und wie sie zittert, wie sie im
Wartezimmer auf ihn wartet, wie er
sie die Treppe hinaufführt, zu seinem
Zimmer im Dachgeschoss.
Wie er dort, in den Sessel gefläzt,
verlangt, dass sie den Rock hebt und
sie ihm zeigt ... Während ich auf den
Straßenbahngleisen die stehende Kolonne überholte, mir durchaus bewusst, was ich da tat, schwirrte mir
ein Haufen Fragen durch den Kopf,
die ich ihr stellen wollte.
– Hat er anders geklungen als früher,
als er dich angerufen hat?
– Nein, er hat alles genauso ablaufen
lassen, wie er es immer gemacht hat.
Nach ein paar Sätzen sagte er – Morgen habe ich Dienst, komm zu mir,
wenn es dunkel wird.
– Jedenfalls ziemlich selbstbewusst.
– Er war immer so. Und er wusste,
dass mir das gefällt.
– Und etwas anderes hat er nicht
gesagt?
– Als ich ihm sagte, dass ich nicht
kann, dass ich zu viel zu tun habe,
sagte er, er werde mich in zehn Tagen wieder anrufen, dass ich dann
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Prosa
vielleicht mehr Zeit habe. Das war
alles.
Mir gefiel gar nicht, was ich da hörte, und so fragte ich ein wenig böse:
– Aber was ist das für eine Antwort,
dass du nicht kommen kannst, weil
du zu viel zu tun hast? Warum hast du
ihm nicht gesagt, dass du nicht kommen kannst, weil du verliebt bist?
– Und warum soll ich ihm etwas
beichten?
– Warum hast du dann nicht gesagt,
dass du nicht kommst, weil du es
nicht möchtest?
– Das ist mir eben zuerst eingefallen.
– Das ist dir nicht eingefallen – ächzte ich wütend – sondern du wolltest
absichtlich nicht alle Türen zuschlagen, du wolltest die Möglichkeit offen lassen, doch zu ihm zu gehen.
Du hast ihn überhaupt nicht abgewiesen! Du hast nur gesagt, dass du
heute nicht kannst.
– Bist du noch normal! Der Mensch
ist über sechzig!
– Aber offensichtlich glaubt er, dass
er noch immer gut fickt!
– Goran, ich werde nicht zu ihm
gehen, was ist mit dir! Hätte ich es
gewollt, hätte ich dir nicht gesagt,
dass er angerufen hat, oder? Aber ich
möchte, dass du alles weißt. Ich verheimliche nichts vor dir, und mich
interessiert nichts außer dir.
– Aber dann hättest du ihm sagen
müssen, dass er dich nicht mehr anrufen soll.
– Aber warum soll ich ihn verletzen? Es genügt, dass ich nicht zu
ihm gehe.
– Ach komm. Du hast nie so mit einem Schluss gemacht, dass du ihn für
alle Zeiten abgehängt hättest.
– Nein, gerade umgekehrt, ich bin
nie zu meinen Verflossenen zurückgekehrt. Aber warum sollte ich mich
von ihnen im Streit trennen, wenn
ich es leicht bewerkstelligen konnte,
dass es einfach vorbei war. Ich habe mich auf ihre Anrufe hin einfach
nicht mehr gemeldet, bis sie begriffen
hatten, dass es keinen Sinn hat, wenn
211
sie mich weiter anrufen. Oder ich habe mich gemeldet und einen Grund
erfunden, aus dem ich mich mit ihnen nicht treffen kann. So werde ich
es auch dieses Mal machen, sollte er
mich wieder anrufen.
– Du bist unglaublich, bei dir weiß
man nie, woran man ist. Immer
schlüpfst du einem durch die Finger – sagte ich, nahm ihre Hand und
setzte dann müde hinzu: – Und wann
werden endlich diese Anrufe aus deinen ehemaligen Leben aufhören?
Sie sagte nichts, sie hob nur meine
Hand und führte sie an ihren Mund.
Danach schwiegen wir lange. Die ganze Horvaćanska hinunter fuhren wir
in der Stille, aber wir wussten beide,
dass es noch nicht zu Ende war. Wir
waren schon unmittelbar am Jarun,
als der Wurm, der in mir bohrte, wieder seinen Kopf hervorstreckte.
– Ich habe ihn dort gesehen und
konnte nicht glauben, dass der Alte der Mann ist, in den du verliebt
warst, zu dem du zwei Jahre gelaufen bist, sobald er dich anrief. Der in
seiner Praxis auf dich gewichst hat.
Der dich gelehrt hat, das zu mögen.
Über den du in deinem Tagebuch
geschrieben hast.
– Ich habe dir gesagt, dass er mich
erregt hat, aber ich war nie in ihn
verliebt. Er war gebildet, ein Primar, Professor an der medizinischen
Fakultät, aber zugleich war er roh,
direkt, primitiv ... er hat nie viel
Umstände gemacht. Er konnte sich
nicht kontrollieren, ja, das hat mich
erregt.
– Wenn einer kein Schwein ist, gehe
ich immer mit einem unguten Gefühl zu einem Termin. Ich frage mich
immer, wie werden wir da Liebe machen – deklamierte ich.
– Wovon redest du? – fragte sie.
– Das steht in deinem Tagebuch.
Und ich habe es mir gut gemerkt ...
Und da steht, dass du verrückt nach
ihm warst. Und das hat er nicht vergessen. Du warst so willig und bereit,
allen seinen Wünschen zu willfahren,
30.4.2011. 17:53:09
212
dass er noch immer glaubt, er könne
dich anrufen, wann immer er will,
und dass diese fünfzehn Jahre nichts
geändert haben.
– Jetzt übertreib’ nicht! Ich war es,
die ihn verlassen hat.
– Nein, du hast es, so wie immer, offen gelassen. Bis heute. Außerdem,
wie oft hast du mir im Bett erzählt,
wie du deine Wange an seine Hose
gelehnt hast, das erste Mal, als du ihn
gesehen hast. Dieses Bild erregt dich
noch immer.
– Wenn du aber doch verlangt hast,
dass ich es dir erzähle. Das macht
dich an, und ich wollte dich zufrieden stellen, wie immer.
– Ich verlange nicht, dass du mir das
deshalb erzählst, weil es mich anmacht, sondern deshalb, weil es die
einzige Möglichkeit ist, deine Geheimnisse zu erfahren. Diese Situationen, in denen deine Stimme tiefer wird und die Augen feucht, die
Vorgehensweisen dieser Leute, alles
das erregt dich noch heute, und in
diesem Zustand bist du bereit auch
das zu sagen, was du sonst nie sagen
würdest. Darum geht es. Natürlich
fällt es mir schwer zu hören, zu was
allem du für diese Männer bereit
warst, aber das ist die einzige Möglichkeit, mir dein Leben einzuverleiben ... Mir fällt es schwer zu akzeptieren, dass es eine Zeit gegeben hat,
in der du nicht mit mir zusammen
warst. Oder dass ich hinter dir gesessen habe bei einer Promotion und
deinen freien Rücken gesehen habe,
während du, ohne meine Existenz
zur Kenntnis zu nehmen, mit einem
Typen kokettiert hast ... Ich versuche
das wettzumachen.
Während ich redete, piepste wieder
ihr Handy, aber sie sah so lange nicht
auf das Display, bis ich fertig war.
– Aha, du opferst dich im Bett, um etwas über mich zu erfahren. Also wirklich, – sagte sie schließlich und schob
das Handy in die Tasche zurück – als
ob ich nicht spüren würde, wie du auf
diese Geschichten reagierst.
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RELA
Drago Glamuzina: Drei
– Wie oft haben wir uns beim Sex
gestritten, weil ich dich gefragt habe,
wie viele Monate du mit einem Typen
zusammen warst, ob dein Mann davon erfahren hat, warum ihr Schluss
gemacht habt. Glaubst du etwa, dass
mich das anmacht? – fragte ich und
sagte dann, ohne auf ihre Antwort zu
warten: – Nein, das war die einzige
Möglichkeit herauszufinden, zu was
du fähig bist.
– Okay, vielleicht hat es auch das
gegeben, aber ich habe dir oft etwas
vorgelogen, manches habe ich dir nur
deshalb erzählt, weil ich gesehen habe, dass dich das anmacht.
– Und dann hast du mir nach sechs
Monaten dieselbe Geschichte noch
einmal erzählt, mit allen Details. Ich
zweifle, dass du dich an manche dieser Lügen so gut erinnert hättest.
– Ja, weißt du denn, wie aggressiv und
hartnäckig du bist, bei einigen Leuten hast du mich direkt gezwungen
zu sagen, dass ich mit ihnen zusammen gewesen bin, obwohl sie mich
nie angefasst haben, und jetzt willst
du mir einreden, dass du das deshalb
getan hast, weil du mich liebst.
Ich antwortete nicht. Ich war ans Ende der schmalen asphaltierten Straße gekommen und suchte nach einer geeigneten Zufahrt zum Jaruner
Wäldchen, aber überall ringsum war
Matsch. Langsam kämpfte ich mich
durch den Schlamm, der am Auto
hochspritzte, suchte eine verdeckte
Bucht, in der ich parken konnte.
– Wollen wir wieder unter diesem
Baum?
– Hier ist es dreckig, sieh nur den Haufen Taschentücher und Kondome.
– Ja, aber dort hinten wird der Matsch
immer tiefer. Ich habe Angst, dass ich
stecken bleibe und dass ich wieder jemanden aus dem Auto holen muss,
damit er mich rausschiebt.
– Du würdest das nie tun. Die Schuhe anziehen und aus dem Auto steigen, um einem Menschen, den du nie
zuvor gesehen hast zu helfen, dass er
TIONS
rechtzeitig nach Hause kommt, zu
seiner Frau.
– Als ich bei ihm an die Scheibe
klopfte, hatte ich Angst, dass er mich
anfällt. Aber es gibt auch gute Menschen, nicht alle sind Schweine – sagte ich und setzte sogleich nach: – Von
einigen von diesen Schweinen wolltest du mir es deshalb nicht zugeben,
weil ich sie kenne und weil du dachtest, es würde mir weh tun.
– Und dann wärest du noch hartnäckiger gewesen.
– Deshalb weil ich gefühlt hätte, dass
du mir etwas verheimlichst.
– Aber du kannst nicht verlangen,
dass ich dir etwas erzähle, und mich
dann deswegen angreifen – argumentierte sie nervös, während sie sich aus
dem Mantel zu schälen versuchte.
– Das habe ich zu Anfang getan, aber
das tue ich schon lange nicht mehr
– sagte ich, während ich an der Klimaanlage herumfummelte.
– Das heißt, dass du nicht mehr daran
interessiert bist – fragte sie und stieg,
ohne auf die Antwort zu warten, aus
dem Auto, um auf den Rücksitz zu
wechseln.
– Nein, sondern dass ich mich allmählich daran gewöhnt habe – rief
ich, damit sie mich draußen hörte,
und fügte dann hinzu. – Hier gibt es
wenigstens Gras, so dass du aus dem
Auto steigen kannst.
– Es gefällt mir nicht – sagte sie und
kam wieder herein.
Als ich mich aus dem Auto gewunden
hatte, spähte ich um mich, um zu sehen, ob wir allein wären, und setzte
mich dann neben sie. Das Höschen
hatte sie schon ausgezogen. Sie warf
es aus einer Hand in die andere, als
wüsste sie nicht, was damit tun, bis
ich es nahm, daran roch und es dann
in die Tasche der Rückenlehne stopfte. Die Bluse hatte sie aufgeknöpft,
aber nicht ausgezogen. Damit wir
nicht völlig nackt waren, wenn jemand kommen sollte. Als ich mich
zwischen ihre Beine hinunterließ,
sagte ich mir – „Stell dieses Mal kei-
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ne Fragen“, aber sobald ich ihre Haut
an meiner spürte und ihre Zunge in
meinem Mund, verlangte ich, dass
sie mir erneut erzählte, was geschehen war, als sie das erste Mal zu diesem Doktor kam.
– Ich habe es dir doch gesagt. Ich
musste zu einer Operation, meine Eltern kannten ihn und brachten mich
zu ihm, und er brachte mich zu seinem
Kollegen, der mich operieren sollte.
– Und?
– Was und?
– Erzähl.
– Und während ich vor diesem Kollegen saß und auf seine Fragen antwortete, stand er hinter mir.
– Und?
– Und ich spürte, dass er sehr nahe stand.
– Wie nahe?
– Gleich neben meinem Kopf. Ich
spürte, dass er ihn direkt neben meinem Scheitel hatte, dass er mich fast
berührte. Vielleicht hat er mich auch
berührt, ich weiß es nicht.
– Und?
– Und ich drehte den Kopf ein wenig
zur Seite, zu ihm, als wollte ich ihn
etwas fragen ...
Ein paar Augenblicke schwiegen wir,
so als würden wir warten, wer als
erster etwas sagen würde, und dann
sagte sie: – Und da legte ich meine
Wange an seinen Schwanz.
– Vor dem anderen Doktor?
– Ja.
– Hat es dieser andere Doktor bemerkt?
– Er konnte sich gar nicht wieder
einkriegen vor Verblüffung.
– Hat es dich erregt?
Sie schwieg.
– Dass er sich nicht zurückhalten
konnte, dass er ihn an dich gedrückt
hat vor diesem Typen.
– Ja. Es hat mich erregt, dass er so
schamlos war.
– Und wann hat er dich gevögelt?
Wenn uns in diesem Moment je-
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Prosa
mand gesehen hätte, hätte er überhaupt nicht bemerkt, dass wir am Ficken waren. Ich bewegte mich kaum
in ihr. Und das nur, wenn ich meine
Frage stellte, danach verhielt ich und
wartete auf die Antwort. Das war
meine kleine Erpressung, ich rührte mich nicht, bevor sie nicht geantwortet hatte.
– Und wann hat er dich gevögelt? –
wiederholte ich meine Frage und zog
mich aus ihr zurück.
– Den ersten Tag, als sie mich im
Krankenhaus aufgenommen hatten.
Er kam am Nachmittag in mein Zimmer. Und führte mich in seines.
– Und nach der Operation.
– Schon nach ein paar Tagen kam er
mich holen.
– Aber du konntest nicht vögeln.
– Nein, aber ich konnte andere Sachen machen.
– Okay, nicht weiter.
– Okay, dann nicht.
Zwanzig Minuten später saßen wir
auf dem Rücksitz, nackt und müde.
Von allem, was an diesem Tag geschehen war. Sie zündete sich eine
Zigarette an, zog den Rauch ein und
gab sie mir.
– Eigentlich ist mir nicht klar, wie
dir das alles gelungen ist – fragte ich
und blies den Rauch zum Fensterspalt hin.
– Was?
– Immer gleichzeitig mit mehreren
zusammen zu sein.
– Leicht. Nur an einem war mir wirklich gelegen.
– Aber warum bist du dann mit den
anderen zusammen gewesen?
Sie schwieg und zog sich den Rock
an, dann die Stiefel, und antwortete
erst, als sie den Reißverschluss hochgezogen hatte.
– Deshalb, weil ich schwach war, weil
ich Angst hatte, dass sie mich verlassen oder betrügen.
Dann lachte sie: – Mit den anderen
war ich präventiv zusammen. So ha-
213
be ich diese Anspannung in mir verringert, diese große Angst, die mich
immer total gepackt hat.
– Präventiv?
– Ja.
– Und mit wem bist du jetzt präventiv?
– Mit niemandem. Das mache ich
nicht mehr. Ich bin es müde. Ich liebe
dich und bin dir mehr als irgendwem
sonst ergeben, du Verrückter – sagte
sie und küsste mich ungeduldig auf
die Schulter. – Was wartest du, zieh
dich an.
Sie war schon angezogen, ich hingegen saß noch immer nackt da. Ich
wollte nirgends hin. Ich wollte mit
ihr reden in diesem warmen, mit unserem Schweiß und unserem Schleim
getränkten Auto. Es gab noch so Vieles, was ich wissen wollte.
– Und du erwartest, dass ich das
glaube?
– Ich denke, du siehst, wie ergeben
ich dir bin.
– Aber gerade hast du mir gesagt,
dass du die Menschen um so mehr
betrogen hast, je mehr du sie geliebt hast.
– Präventiv – lachte sie wieder.
– Aber jetzt behauptest du mir gegenüber etwas anderes?
– Mit dir ist es anders.
– Wie?
Aber in diesem Moment läutete ihr
Handy. Ihre Tochter war aus der
Schule gekommen und rief an um
zu fragen, wo sie sei.
– Mama kommt gleich, mein Lieb
– sagte sie. Als sie das Handy sinken
ließ, sah sie mich flehend an. – Beeil dich bitte.
Ich brachte sie nach Hause, anschließend fuhr ich den Wagen in eine
Waschanlage. Um den Matsch und
die Spuren abzuwaschen.
Aus dem Kroatischen von
Klaus Detlef Olof
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Foto: © Višnja Arambašić
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Was ist in Wirklichkeit
„wirklichkeitsbezogene“ Poesie?
Damir Šodan
In literary criticism we are constantly using terms, which we cannot
define, and defining other things by
them. We are constantly using terms
which have intension and an extension which do not quite fit: theoretically they ought to be made to fit;
but if they cannot, then some other
way must be found of dealing with
them so that we may know at every
moment what we mean.
T. S. Eliot, „Experiment
in Criticism“ (1929)1
J
edem, der die kroatische Literaturszene seit den neunziger Jahren des
vergangenen Jahrhunderts bis heute
kennt und verfolgt, ist wohlbekannt,
dass man um die Jahrtausendwende
anfing, der Begriff „wirklichkeitsbezogen“ als universellen Nenner für
gewisse realistische, mimetische sogar existenzialistische „Abweichungen“ in der kroatischen Prosa und Poesie zu benutzen. Der Begriff „wirklichkeitsbezogen“ selbst wird, wie
Zvonimir Mrkonjić in seiner letzten
Anthologie Zeitgenössische kroatische
Dichtkunst – neue Texte (1970 – 2010)
(„Suvremeno hrvatsko pjesništvo –
novi tekstovi [1970 – 2010]“) angibt,
1
2
Robert Perišić zugeschrieben, Schriftsteller und Kritiker, der ihn nach eigenen Angaben erstmals benutzte, als
er über das Gedichtband von Tatjana
Gromača, Stimmt was nicht? („Nešto
nije u redu?“, 2000)2 schrieb. Perišić
selbst sagt, dass er den Begriff eher als
thematische Richtlinie oder Bestimmung einer „Einstellung“ gewählt
hat, und nicht als einen ultimativen
Gattungsstempel eines Genres im
Entstehen. Jedoch, wie es nun mal
mit Begriffen so ist, übertrug sich die
Attribution „wirklichkeitsbezogen“
sehr schnell in das Prosalager, wo sie
sofort in der Bestimmung ähnliche,
wenn schon nicht gleichartige Wurzeln schlug, da sie mehr oder weniger präzise einige neuere Neigungen in der so genannten kroatischen
jungen Prosa widerspiegelte, die anfing, sich immer intensiver von der
ehemals sehr populären Metafiktion
zu entfernen und sich etwas näherte,
was man am ehesten „Neorealismus“
taufen könnte. Man muss Neorealismus sagen, denn die kroatische
Literatur hat, diachronisch gesehen,
schon vor langer Zeit die Phase des
historischen Realismus hinter sich
gelassen, und zwar gegen Ende des
19. Jahrhunderts. Deshalb stellen,
gelinde gesagt, diese neuen, im realistischen Schlüssel geschriebenen
Milleniumspoetiken – sowohl die
prosischen als auch die poetischen –
eigentlich die zweite Ankunft des Realismus (wenn nicht sogar die „dritte“
oder „vierte“, wenn wir die soziale
Literatur zwischen den Weltkriegen
und den nachkrieglichen agitpropagandistischen Sozrealismus mitrechnen) auf die kroatische Literaturszene
dar. Es ist interessant, dass die Anforderungen der „wirklichkeitsbezogenen“ Prosaisten vom Ende des 20.
Jahrhundert sogar in gewissem Maße mit denen der Realisten vom Ende des 19. übereinstimmen: Soziale
Thematik, die Wahl des Schreibstoffes aus dem modernen Leben, sowie
das Beobachten der unmittelbaren
Wirklichkeit werden favorisiert.
Die Realisten dieses letzten Fin-de-siècles suchten zu einem großen Teil
ihr Vorbild in Raymond Carver (1938
– 1988), dem „amerikanischen Čechov“, Erzähler und Dichter, Minimalisten und hervorragendem Stilisten, aber auch Alkoholiker mit Arbeiterbackground und chaotischem
Privatleben. Die Frage, wie sich die
„In der Literaturkritik bedienen wir uns ununterbrochen mit Begriffen, die wir nicht definieren können und mit deren Hilfe wir andere Dinge
definieren. Wir benutzen ununterbrochen Begriffe, deren Absicht und Umfang nicht gerade passend sind: theoretisch müsste man sie passend
machen, aber wenn dies nicht zu erreichen ist, dann muss ein anderer Weg gefunden werden, damit wir uns mit ihnen befassen, damit wir in
jedem Augenblick wissen, an was wir denken.“ T. S. Eliot, Experiment in der Kritik, (1929)
Tatjana Gromača, Stimmt was nicht?, Edition Thanhäuser, 2003, dt. Übersetzung Klaus Detlef Olof (Anm. d. Übersetzerin)
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Schriftsteller der kroatischen jungen
Prosa der Neunziger in Carvers deklassiertem Proletariat aus dem unzugänglichen amerikanischen Norden, in der winzigen Intelligenz, die
zu Sentimentalismus, dem Gläschen
und Selbstzerstörung neigt, den heruntergekommenen Akademikern
und wahnsinnigen Schornsteinfegern,
all diesen lieben, akuten Losern und
verstoßenen Kindern des amerikanischen Traums wiedererkannt haben,
wird die einheimische Literaturwissenschaft mit der Zeit kompetent,
wollen wir mal hoffen, beantworten.
Das, was hier wichtig ist, ist die Tatsache, dass dank der realistischen
Galvanisierung zwischen den damaligen jungen einheimischen Schreibern der Begriff „wirklichkeitsbezogene Prosa“ sehr schnell das literarische Bürgerrecht erhalten hat, sogar
etwas früher in den literarischen Umlauf gelangte als das schwesterliche
Syntagma „wirklichkeitsbezogene Poesie“, das, wie die Akteure der Szene
behaupten, ihm wahrscheinlich „historisch“ voranging.
Man muss betonen, dass Raymond
Carver zweifelsohne auch als Dichter die einheimische „wirklichkeitsbezogene“ Poesie beeinflusst hat, beziehungsweise wenigstens ihren harten Kern, den Autoren wie Drago
Glamuzina, Tomica Bajsić, Tatjana
Gromača, Krešimir Pintarić oder Bojan Radašinović bilden, da in den
Neunzigern zwei integrale Gedichtbände von Carver in der Übersetzung
zugänglich wurden, was ein Kuriosum an sich ist, denn bei uns, es sei
denn es handelt sich um eine wirklich
außergewöhnliche Gelegenheit, werden keine gesammelten Gedichtbände übersetzt veröffentlicht, sondern
meist eine Auswahl.
Dieses plötzliche literarische Interesse an der „Wirklichkeit“ hat wahrscheinlich ihren Grund vor allem
in irgendwelchen außersprachlichen
3
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Damir Šodan
Begebenheiten historischen Charakters, wie das zu Fall bringen des alten
politischen Rahmens, die soziale Zersetzung der Gesellschaft, sowie der
Krieg als, gelinde gesagt, radikal negative kollektive Erfahrung. Gegenüber einer solchen Hypertrophie der
grausamen und drohenden sozialen
Wirklichkeit konnte, so scheint es,
die Literatur keineswegs gleichgültig bleiben. Es handelt sich in erster Linie um eine Art existenzialistischen „Reflex“, der „spontan“ seinen Weg in die Schrift gefunden hat
und erst danach um einen mehr oder
weniger bewussten kollektiven Widerstand gegenüber den gebräuchlichen künstlerischen Praktiken und
Trends. Denn es war, als ob die Literatur plötzlich eine Art Wirklichkeitsepiphanie erlebte, wonach sie
das Gesehene – das eine bis zu jenem
Maße erschütternde, wenn nicht gar
traumatische, Spur hinterlassen hatte, dass es zur Genesung mit allen zur
Verfügung stehenden kreativen Mitteln zu antworten gab – nicht mehr
ignorieren konnte.
Die schwierige Kriegsthematik eröffnet am authentischsten Tomica Bajsić
im Buch Kreuz des Südens („Južni
križ“, 1998), er rechnet aber ausschließlich mit der eigenen Lebenserfahrung ab, beziehungsweise vermittelt sie künstlerisch und schreibt
nicht schreckliche und „spektakuläre“ Figuren des „Wirklichen“ in den
Text oder gar leere und pathetische
patriotische Beschwörungen ab. Man
muss jedoch unterstreichen, dass die
Kriegsrealität keineswegs der einzige Inhalt dieses außergewöhnlichten
und geradezu betörenden Buches ist.
Denn Bajsić ist kein „Kriegsdichter“,
wie das manche ad nauseam gerne
betonen, sondern einfach ein „Dichter, der im Krieg war“. Seine Poesie bewohnen nämlich gleich effizient Abenteuergeist, die Exotik ferner
Länder, Vignetten aus dem alltägli-
TIONS
chen und familiären Leben, der sozial-politische Kommentar oder aber
der romantische Glaube an die sühnende Macht der Kunst.
Des weiteren sind da ganze Trauben
naturalistischer, durch den Krieg inspirierter oder erlebter Verse in den
Bänden von Tomislav Čadež, ebenso
wie das „im Charakter“ geschriebene
Buch von Boris Dežulović Gedichte
aus Lora („Pjesme iz Lore“, 2005)3,
das mit einem aggressiven in-yer-face
Emulieren von Diktion und Aktion
der „bösen Jungs aus der Nachbarschaft“ als Nebeneffekt das Untergraben der kleinbürgerlichen Poesier
lebnistästhetik als Domizil des nicht
in Frage gestellten Feinsinnes hat.
Čadežs und Dežulovićs „wirklichkeitsbezogene“ Verse tauchen zwar
etwas später auf, mit einem gewissen
zeitlichen Abstand zu den traumatischen Geschehnissen, was teilweise
ihre Rezeption erleichtert, aber keineswegs ihre Aktualität oder ihren
expressiven Wert mindert.
In diesem Kontext ist als Übergangsgeste ebenso die kräftige und überaus
beeindruckende Sammlung von Delimir Rešicki Buch über Engel („Knjiga o anđelima“, 1997) wichtig, die,
obwohl sie nach einem ungefähren
neoexpressionistischen Modell geschrieben wurde, direkt den Kern
des kroatischen Kriegs- und Nachkriegstraumas apostrophiert. In den
„Engeln“ kann der Wissenschaftler
Tvrtko Vuković im Geiste von Lacan „die Metapher aller annonymen
Opfer, der Heimatlosen, der ungeordneten Schicksale, der verlorenen
Angehörigen usw.“ herauslesen. Von
diesem Buch an wird Rešicki immer
häufiger eine empathische und engagierte Haltung einnehmen, wird
dies jedoch immer auf eine subtile,
nicht-pamphletistische und künstlerisch glaubwürdige Art tun.
Neben der Kriegsthematik Ende der
Neunziger, genauer gesagt um die
Boris Dežulović, Gedichte aus Lora, Drava Verlag, 2008, dt. Übersetzung Klaus Detlef Olof (Anm. d. Übersetzerin)
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Jahrtausendwende, taucht auch die
sozial-existenzielle Lyrik auf, am besten verkörpert in dem oben erwähnten Band von Tatjana Gromača Stimmt
was nicht?. Nach mehr oder weniger
überzeugenden bezeichnerischen Exhibitionen der Off-Leute und der
Quorum’schen post-modernistischen
Dezentrierung des dichterischen Subjekts im permanenten (Selbst-)Ausbau, gelang es Tatjana Gromača das
lyrische Subjekt – diesen „zerteilten
Orpheus“, wie der Theoretiker Ihab
Hassan sagen würde – zu reintegrieren und es dem „Cogito“ des Autors
zu nähern, wenn schon nicht seinem
so genannten bürgerlichen Ich, und
es als abgerundete Einheit bar aller
konstitueller Risse anzubieten. Gromača belebt gleichermaßen auch den
Glauben an die sprachliche Representation wieder und zeigt ganz klar,
dass Poesie auch als lesbarer Ort des
Erkennens funktionieren kann und
nicht ausschließlich als Raum eines
hybriden verslichen Intellektualisierns
oder gar „vitalistischen“ textuellen
Possenreißertums.
Radikale Ausfälle in den Raum des
Privaten, das Zuschaustellen der Intime als „Extime“, sowie das Forcieren des emotional-libidalen Dramas
durch ewig intrigante Szenen aus dem
Eheleben erleben ihr Crescendo im
ausgezeichneten und preisgekrönten Buch von Drago Glamuzina, Die
Metzger („Mesari“, 2001)4. Es ist jedoch interessant, dass dieser Autor
in seiner „wirklichkeitsbezogenen“
Orientierung nicht nur ein Muster verfolgt, sondern seine – wie er
selbst sagt – „Aufzeichnungen“ des
Alltäglichen, wo unter anderem die
blinden Mächte von Eros und Thanatos herrschen, zusätzlich mit der
Anlehnung an analoge Beispiele aus
der Literatur und der Medienkultur
durchschichtet, so dass man ruhig
sagen kann, dass Intertextualität und
Intermedialität Reservesubstrate sei4
Poesie
ner dichterischen Strategie sind, was
letztendlich so eine Schreibweise von
der trockenen darstellerischen Flächigkeit freispricht.
Die Neunziger haben in der Poesie
auf formaler Ebene eigentlich den
kleinen Tod der Metapher herbeigeführt, im Auge behaltend, dass Dichter sich immer mehr auf die Metonymie verlassen, die nach Jakobsons
Dichotomie als Baufigur eigentlich
für die Prosa reserviert ist, weil sie
sich nach der Nachbarschaftlichkeit
richtet und nicht wie die Metapher
nach der Ähnlichkeit. Es ist dann nicht
ungewöhnlich, dass die Narrativität
auf „natürliche“ Weise der effizienteste Part der Realisierung des neuen
dichterischen Kurses wird, was vielleicht am sichtbarsten in der urbanen
Lyrik des Krešimir Pintarić oder Bojan Radašinović ist, wobei auch reifere Autoren der disparateren Poetik
wie zum Beispiel Jozefina Dautbegović oder Mile Stojić nicht weit von
ihnen entfernt sind. Außerdem sind
viele „wirklichkeitsbezogene“ Dichter, die in diese Auswahl aufgenommen wurden (Jergović, Bukovac, Čadež, Dežulović, Lucić, Glamuzina,
Prtenjača, Bodrožić, Štiks...) ebenfalls auch Prosaschriftsteller oder Journalisten, so dass der lyrische Diskurs
nicht der einzige ist, innerhalb dessen
sie es gewohnt sind zu operieren.
Den Moment des „wirklichkeitsbezogenen“ Schismas oder die symbolische Registrierung und das Erscheinen in der Öffentlichkeit der
„wirklichkeitsbezogenen“ Literatur
als neues Phänomen, d. h. ihre Veräußerlichung, wie die Philosophen sagen würden, ja, auch ihre Medientaufe, stellt auf alle Fälle die Entstehung
des Festivals der alternativen Literatur (Festival alternativne književnosti
– FAK) dar, das im Jahr 2000 Borivoj Radaković ersann und realisierte
und zu dem sich alsbald viele andere
gesellten. Das FAK hat kurz gesagt
217
die Literatur demokratisiert und den
Markt mobilisiert, indem es das Buch
als eine relativ einträgliche Ware mitmodifizierte.
Für die Poesie bedeutete dies das
symbolische Auseinandergehen mit
den so genannten Bezeichnungspraktiken, die ein intellektuelles aber auch
wirkendes Erbe des (Post-)Strukturalismus waren, sowie den Anfang der
Umkehr zum Metonymischen und
Mimetischen, die Symptome des erneuerten Glaubens an die soliden repräsentatorischen Möglichkeiten der
Sprache sind. Was keineswegs verwunderlich ist, wenn schon nicht aus
anderen dann aus praktischen Gründen, denn das eventuelle Lesen einer
Poesie der so genannten sprachlichen
Erfahrung in vivo ist weder eine einfache noch eine dankbare Aufgabe.
Als er die erreichten und die „verfehlten“ Ziele der Dichtergeneration
der Neunziger ganz allgemein kommentierte, behauptete der Dichter
und Kritiker der Generation um das
Quorum Krešimir Bagić in seinem
Text Die dichterische Generation der
Neunziger („Pjesnički naraštaj devedesetih“), dass die Neunziger nicht so
richtig der Poesie geneigt waren, da
deren erste Hälfte durch den Krieg
gekennzeichnet war und die zweite durch die Wirtschaftskrise, sowie
dass alte Wertesysteme eingestürzt
und neue noch nicht geformt waren.
Er führt an, dass die Gedichtbände
in den Neunzigern „wichtige Erfahrungen der kroatischen Dichtkunst
in den letzten paar Jahrzehnten kritisch beleuchtet haben und dass sie
die narzisstische Vereinsamung des
Subjekts, das stilisierte ‚Abschreiben‘
alltäglicher Szenen, die intertextuelle und intermediale Gestualität,
die Genremimikry, die Fragmentalität und die Kolloquisierung des lyrischen Idioms als Ausgangspunkt
neuer dichterischer Praktiken in den
Vordergrund gedrängt haben“, wobei
Drago Glamuzina, Die Metzger, Wieser Verlag, 2008, dt. Übersetzung Christine Okresek (Anm. d. Übersetzerin)
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die postmoderne „Gleichgültigkeit“
stärker war als die wirklichkeitsbezogene Apokalypse. Einige der Charakteristiken der „wirklichkeitsbezogenen“ Poesie sind nach Bagić „die verführerische Narrativität, die Geistreichigkeit der Thematisierung und
die ausgesprochene Kommunikativität des Textes“. Bagićs fachliche Bemerkungen über die Generation der
Neunziger sind im Ganzen gesehen
auf alle Fälle maßgebend, wenn wir
diese Poesie als einen Durchschnitt,
ein kollektives Unterfangen ansehen, aber wenn wir einen Teil der
Poesie der Neunziger aus dieser zeitlichen Distanz in ihren hochwertigsten und künstlerisch kraftvollsten interpretatorischen Teilen und
Leistungen betrachten – deren ihrer
vielleicht nicht übermäßig viele sind,
aber es gibt sie – und wenn wir den
Fokus nur ein wenig zu den Milleniumsjahren lenken, dann kann
man auch völlig andere Schlussfolgerungen ziehen. Denn es ist zweifelhaft, inwiefern es in der Poesie von
Tomica Bajsić, Drago Glamuzina
oder Tatjana Gromača „verführerische Narrativität“, „Geistreichigkeit“
oder „Gleichgültigkeit“ gibt, da in
ihrer „wirklichkeitsbezogenen“ Planierung von Textes und Welt, d. h.
im Schreiben von Versen ohne den
bequemen Schutzschirm der Theorie
und dem Verzicht auf das so genannte
dezentrierte lyrische Subjekt, das am
ununterbrochenen Aufschieben der
eigenen Eingliederung ein Parasitendasein fristet, wir letzten Endes sogar
etwas vom „bitteren Erfahrungssatz“
des Danilo Kiš oder aber – insbesondere bei Bajsić – starke Schichten einer Merton’schen gelebten Spiritualität erkennen können.
Es ist eigentlich schwierig, nicht zu
bemerken, dass ein Teil unserer hochgeschätzten Wissenschaftler und kompetenten Kritiker die „wirklichkeitsbezogene“ Poesie gewissermaßen „Platon(i)sch“ ablehnt als eine „abschreibende“ Kunst und womöglich „nie-
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Damir Šodan
dere“ Gattung, beziehungsweise eine
gewöhnliche Version jener anderen,
wohl „wirklichen“ Poesie, die – im
„Fachjargon“ ausgedrückt – elegant
die repräsentatorischen Begrenzungen transzendiert.
So analysiert Sanjin Sorel in seiner
eigentlich gründlichen und tadellosen Studie über die Dichtkunst der
Neunziger-Generation bis ins Detail die Poesie von Drago Glamuzina aus der Sammlung Die Metzger
und bezeichnet sie als emblematisch
für die „wirklichkeitsbezogenen“ Abweichungen in der zeitgenössischen
kroatischen Poesie, lässt sie jedoch
als „minderwertig“ aus der beigefügten Anthologieauswahl aus. Ebenso meint Ervin Jahić in seiner unlängst veröffentlichten Anthologie
der kroatischen Dichtkunst, wenn
er über den „Dichter der Neunziger“ schreibt, dass „die Diktatur der
praktischen Wirklichkeit in Co-Habitation mit den massenmedialen
und hochtechnologisierten Artefakten die Fantasie seiner Rede entscheidend bestimmt hat“, dabei hinzufügend, dass „in den Neunzigern so ein
Mischmasch die Dominanz der so
genannten wirklichkeitsbezogenen
Poesie in der jungen/jüngeren kroatischen Dichtkunst zur Folge hatte,
eine in ihrer Bezeichnung problematische, in ihren ästhetischen Leistungen schwächliche dichterische Strömung oder vielleicht eher Strategie
und operatives Modell.“
Der Antagonismus, der sich bei uns
zwischen der, bedingt gesagt, semiotischen modellativen Matrize, ja, auch
der früheren gnoseologischen, wie
sie Cvjetko Milanja evidentiert hat,
und dieser zeitgenössischen „wirklichkeitsbezogenen“ oder metonymischen, wenn wir sie so nennen dürfen, ahnen lässt, ähnelt bis zu einem
gewissen Grade dem Zweikampf, der
in der (west)deutschen Poesie der
frühen Siebziger stattfand, als die
Dynamik der dortigen Dichterszene groß von der Teilung in Anhänger
TIONS
und Praktizierende der politisch parteinehmenden und sozial bewussten
Neuen Subjektivität und Anhänger
der weniger transparent eingestellten
Hermetisten diktiert wurde.
Ervin Jahić beleuchtete die Ursachen
des Phänomens genannt „wirklichkeitsbezogene“ Dichtkunst und konstatiert weiter, dass der „Hyperrealismus in der jüngeren kroatischen Poesie der Neunziger [...] zweifelsohne
[...] eine rebellische Antwort auf den
Hypermetaphorismus der Achtziger
war. Die Wirklichkeit im dichterischen Text der Neunziger ist sicherlich ein Aufstand gegen die Flucht
vor ihr in der vorangehenden ‚Gesangsschule‘“.
Diese Qualifizierung ist in jedem
Fall richtig, denn wenn wir all das
betrachten, was im Sinne von Strömung, Schule oder gar Lagerbildung
um eine Zeitschrift der „wirklichkeitsbezogenen“ Poesie voranging,
werden wir feststellen, dass die letztere eine gewisse Suche nach einem
„neuen Weg“ ist, beziehungsweise
das Ausprobieren eines Musters oder
Modells, das vielleicht besser oder adäquater einem dichterischen Aktualisieren der „neuen“ Wirklichkeit, in
der wir uns als Gesellschaft in einem
bestimmten historischen Moment
befanden, entsprechen würde. Und
ungeachtet dessen, dass uns Michael Riffaterre schon in den Achtzigern
darauf hinwies, dass der poetische
Diskurs auf nichts Anderes hinweist
als auf sich selbst, und trotz der Tatsache, dass uns die Postmodernisten und Dekonstruktionisten wie
zum Beispiel Jean Baudrillard beziehungsweise Jacques Derrida ständig
daran erinnerten, dass die „Wirklichkeit“ ein virtuelles Konstrukt ist
(wenn nicht gar ein völliges Simulakrum) und dass nichts „Intertextuelles“ überhaupt existiert, griffen
die „wirklichkeitsbezogenen“ Dichter, gleich wilden Surfern der Mimesis, trotzdem sehr entschlossen
gerade nach der Wirklichkeit, die-
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TIONS
sem groben Abdruck Platons, und
suchten gerade darin Inhalte, die ihrem dichterischen Ausdruck und ihrer Sensibilität den angebrachtesten
Ankerpunkt bieten würden.
Rückblickend können wir feststellen,
dass seit den siebziger Jahren, und
dass vor allem in der Tradition der
„Bezeichnungspraktiken“, die einstmals eine Gruppe von Autoren um
die Zeitschrift Pitanja promovierte,
der alte Reflex der Avantgarde wie ein
Eidechsenschwanz weiterhin im Stillen wirkt, der jedoch in anderen Kulturen und Umfeldern gänzlich entfernt oder als längst konsumierte Ware neutralisiert wurde. Das Insistieren
auf der herstellerischen Materialität
der Sprache als einem Zeichen, das
durch geduldiges und hartnäckiges
kreatives Umschlichten andersartige
und frischere Bedeutungen bringen
könnte, findet einen seiner Anfänge
noch in der russischen literarischen
Avantgarde, deren einige Mitglieder
glaubten, dass es möglich sei, eine
autonome dichterische Sprache zu
schaffen, mit eigenen Bedeutungen,
die auf dem „klanglichen“ Symbolismus beruht.5 Das Bestehen auf
der Autonomie der Dichtersprache
können wir beispielsweise von da ab
schön verfolgen, zwar auf etwas anderen Wegen und in anderen Ausführungen, bis hin zu den Arbeiten der
Theoretikerin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva, nach deren poststrukturalistischen Untersuchungen
gerade die Dichtersprache mit ihren
Möglichkeiten der Semiotisierung
einen Schutz vor den aufdringlichen
und totalisierenden Kräften der symbolischen Ordnung bietet.
Ein großer Verehrer des „russischen
Ansatzes“ ist bei uns sicherlich der
ingeniöse Dichter Josip Sever (1938
– 1989), der tiefe Spuren in der zeitgenössischen kroatischen Poesie hin5
Poesie
terlassen hat, vor allem dank seiner
charismatischen Persona, aber auch
weil einige wichtige Schriftsteller Ende der Siebziger und Anfang der
Achtziger wenigstens in einer Phase
ihres Schaffens seine leidenschaftlichen Jünger, wenn nicht gar unverhohlene Epigonen waren.
Diachronisch gesehen haben die Poetiken und Modelle, die der Erscheinung der „wirklichkeitsbezogenen“
Poesie vorangegangen sind, mit allem gebührenden Respekt gegenüber ihrem tiefen philosophischen
Durchdenken des Wesens und der
Funktion der Poesie, letztendlich die
Poesie in eine Art philosophischen
„Ping Pong“ verwandelt, d. h. eine
streng intellektuelle und selbstgefällige Disziplin, der allein der Gedanke an eine potentielle Annäherung
an die „unschuldige“ außerfachliche
Leserschaft ein irritierender Ballast
darzustellen schien.
Die Poetiken, die um die Zeitschrift
Off strukturiert waren, infiziert mit
radikalem Antimimetismus, der unausweichliche Semantkonkretismus
des Branko Maleša (1949) mit seinem Insistieren auf dem verminderten Anteil des „Sinns“ im Konstruieren eines Textes, das Bestehen
auf dem „Unterschied“ der verschiedengattigen dichterischen Praktiken
der so genannten schwachen Subjekte, die um die Zeitschrift Quorum
versammelt waren, die Ressurektion
des poetischen Einfalls als Variante
des Konkretismus (Mazur, Kvesić,
Igrić), der sonettliche Neomanierismus (Maroević, Mrkonjić, Paljetak,
Stamać), der persiflagenhafte Barockismus, der gelehrte Ludismus oder
aber der neomodernistische Spiritualismus des Projekts Insulae, scheinen
es trotz ihrer großen und unleugbaren Verdienste im Ausbau der Zikkurat der kroatischen dichterischen
219
Modernität nicht geschafft zu haben,
die Poesie vom ununterbrochenen
Stolpern über das Sprachgewebe als
eigenes Ausdrucksmittel oder aber
von der Neigung zur Theorie als allkontrollierende und legitimisierende
Kraft zu „befreien“.
Ununterbrochene „Distanzierungen“
gegenüber der unvermittelten Erzählung, exaltiertes Manierisieren, narzissoide Ziererei im Konstruieren des
dichterischen Subjekts, das Schutzsuchen in der intensiven Kontrolle
des „Über-Ichs“ der Theorie, ebenso wie die programmierte Flucht vor
dem betonter überwiesenem „Sinn“
scheinen die kroatische Poesie mit
der Zeit „klüger als sie selbst“ gemacht zu haben, wie ein Zeitgenosse
sagen würde, so dass diese das Ende
des 20. Jahrhunderts, aus einer Distanz von etwa zehn Jahren gesehen,
im Zustand einer gewissen Erschöpfung, wenn nicht gar einer Art Burnout, erlebt hat.
Eine der Neuheiten, die die „wirklichkeitsbezogene“ Poesie mit sich
gebracht hat, beziehungsweise ihre
metonymische modellative Matrize,
ist letztendlich ein gewisser Hauch
von Erleichterung im Sinne der Rezeptionszugänglichkeit der Lyrik, die
auf den eventuellen Leser nicht mehr
von ihren olympischen Höhen als einen gewöhnlichen „Gnom“ herabgesehen hat, sondern begann, ihm
empathisch die Hand zu reichen wie
einem gleichberechtigten Mitreisenden im – sagen wir mal – Abenteuer
des Textes und des Lebens.
Bezeichnend ist, dass viele wichtige,
wenn nicht gar kanonische Autoren,
während des letzten Jahrzehnts anfingen, ihr Schreiben dahingehend
anzupassen, oder noch besser, einzurichten, dass sie es so schmerzlos
und elegant wie möglich in das neu
entstandene mimetische Modell ein-
Die Dichter Krutschonych und Chlebnikow (Manifest Slovo kak tekovoe aus dem Jahr 1913) versuchen die phonetische Schicht der Sprache
als neues Ausdrucksmittel und Bedeutungsträger zu autonomisieren, so schafft Krutschonych seine transmentale Sprache Zaum und Chlebnikow seine Sternensprache.
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gliedern können, denn sie fühlten intuitiv oder aber bewusst, dass doch
etwas zu ändern sei. Es genügt nur, in
die letzten Werke von Branko Čegec,
Delimir Rešicki, Ervin Jahić, Evelina
Rudan oder Miroslav Kirin hineinzublicken, um völlig klar zu bemerken,
dass es trotz allem zu einem spürbaren Umschwung gekommen ist.
Ist die Rede von der Definition der
„wirklichkeitsbezogenen“ Poesie als
solchen, dann ist es vielleicht am
besten und opportunsten, die serbische Dichterin Radmila Lazić zu zitieren, die im Vorwort ihrer unlängst
veröffentlichten Anthologie der serbischen urbanen Poesie behauptete,
dass solche „Dichter nicht auf dem
Medium Sprache bestehen, wie das
die Dichter der ‚Poetik der Stille‘
tun, oder sprachliche Dichter. Ihr
poetisches Feld ist die Existenz, die
unmittel- oder mittelbare, abhängig
von der Position, die das Subjekt in
ihrer Poesie einnimmt. Ihre Poesie ist
in großem Maße wirklichkeitsbezogen (Jeder gute Dichter war ein Realist, sagte Bodler), denn sie dichten
über das Wirkliche und Mögliche,
ohne Mystifikationen und Mystifizieren – letztendlich, ohne Mythologisieren, was uns zur Beobachtung
von Olga Friedenberg bringt, dass
das lyrische Gedicht eigentlich einen Wandel vom mythologischen
zum realistischen Blick auf die Welt
darstellt“.
Außer den oben registrierten Charakteristiken gilt es an dieser Stelle
auch das typische „wirklichkeitsbezügliche“ Entfernen von der Metapher zu erwähnen, diesem taktilsten
und unbestreitbaren „G-Punkt“ der
Dichtkunst, der schon seit Aristoteles der Garant der (dichterischen)
Genies ist und der Hauptkonstituent
der Dichtersprache, die M. H. Abrams
zufolge notwendig metaphorisch ist,
denn sie enthüllt mit ihren sprachlichen Figuren die Einheit hinter
anscheinend unterschiedlichen Erscheinungen. Mit anderen Worten,
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Damir Šodan
die Metapher war schon immer das
ein und alles des dichterischen Ausdrucks, oder wie es Milko Valent so
schön zusammengefasst hat: „Ohne
Metapher kannst du dir nicht einmal
eine Zigarette anzünden.“
Aber die Dichter selbst haben sich
die Geschichte hindurch gegen den
übermäßigen Gebrauch dieser Figur
aufgelehnt und sind für eine „natürlichere“ Diktion und eine Wende zur
Metonymie im Aufbau eingetreten.
David Lodge hat über eine Reaktion bei den englischen Romantikern
geschrieben, die, wie er meint, versucht haben „eine nicht authentische
Weise des Schreibens in Metaphern
(nach Coleridge ‚Einbildungskraft‘)
mit einer anderen, kräftigeren Weise (‚Fantasie‘), die sich nicht immer
mit einer Fülle von Metapherfiguren
hervortut“ auszutauschen: William
Wordsworth beispielsweise bemühte sich, die englische Dichtersprache
zu „klären“ durch „eine Zwangsdrängung dieser Sprache zurück zum metonymischen Lager – von daher ruht
im Vorwort der Lyrischen Balladen
Lodges Behauptung, dass es keinen
wesentlichen Unterschied zwischen
Poesie und Prosa gäbe...“
Das Metaphernlager hat jedoch, allseits
bereit, zurückgeschlagen: Cleanth
Brooks hat 1948 darauf hingewiesen, dass „kurz gefasst, die moderne
dichterische Technik die Metapher
wiederentdeckt hat, und ist ihr vollständig ergeben“.
Der einflussreichste moderne Theoretiker der Metonymie, Roman Jakobson, hat jedoch, wie schon erwähnt, zwei äußerst unterschiedliche
Modalitäten der literarischen Widergabe der „Wirklichkeit“ gefunden.
In seiner Schrift Zwei Aspekte der
Sprache und zwei Typen aphasischer
Störungen identifizierte Jakobson in
diesem Sinne zwei Lager, oder Pole,
das metonymische und den metapherliche, und behauptete, dass das
erste für die Prosa charakteristisch sei,
das zweite für die Poesie.
TIONS
Anfang der Achtziger erreicht uns eine neue Erschütterung der Metapher,
die bis dahin einzig Privileg und Pläsier der Dichtersprache war, aus dem
Lager der kognitiven Linguistik, vor
allem dank des agilen George Lakoff,
dem es gelang, den Ansatz über die
Metapher als ausschließlich linguistischem Konstrukt zu zerschlagen.
Lakoff behauptete nämlich, dass die
Metapher eine konzeptuelle Konstruktion ist und dass sie als solche
für die Entwicklung des menschlichen Denkens essenziell ist. Er zeigte durch zahlreiche Beispiele und
funktionelles Klassifizieren der Metaphern, dass unsere konzeptuellen
Systeme, mit deren Hilfe wir denken und überhaupt funktionieren,
in ihrem Wesen selbst metaphorisch
sind. Aber die Menschen bemerken
die Metaphern im Alltag überhaupt
nicht, vor allem deswegen, weil sie
in der Sprache seit langem „tot“ und
„versteinert“ sind, so dass man ihre
Herkunft nicht mehr erkennt. Für
Lakoff ist die Evolution des menschlichen Denkens überhaupt eigentlich
ein langer und mühsamer Entwicklungsprozess immer besserer und adäquaterer Metaphern.
In diesem Kontext muss auch die gegensätzliche Einstellung des Philosophen Donald Davidson erwähnt werden, der ungefähr zur gleichen Zeit
(1978) mit einer sehr originellen und
„revolutionären“ These ankam, dass
Metaphern eigentlich keine „übertragene“ Bedeutung außer der buchstäblichen hätten. Die Metapher ist
nach Davidson die Traumarbeit der
Sprache, deren Interpretation von
der „Kollaboration“ auf der Linie
Interpret – Schaffer abhängt. Das
Verständnis einer Metapher ist ein
ebenso kreativer Akt wie das Bilden
einer Metapher, wobei beide Prozesse nur minimal durch irgendwelche
Regeln reguliert sind.
Wenn wir von der entmetapherisierten Sprache als einem der Kriterien
zur Detektierung des „wirklichkeits-
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TIONS
bezogenen“ Ansatzes innerhalb der
kroatischen poetischen Modernität
nach dem Zweiten Weltkrieg ausgehen, werden wir sehen, dass ihn
als einer der ersten Milivoj Slaviček
(1929), Angehöriger der Generation des Krugovi 6-Kreises, gebrauchte. Slaviček hat mit tagebüchlicher
Beflissenheit, mit betonter Denotativität, sorgfältig die Verbrauchbarkeit des Lebens als Form des urbanen Seins festgehalten, ohne sich in
seinem Schreiben so sehr auf die Literatur und das Wissen zu verlassen
wie auf existenzielle Zeugnisse. „Sein
privates, bürgerliches Ich lässt sich
fast mit dem lyrischen Subjekt gleichsetzen“, meint Cvjetko Milanja. Der
Grund, warum er nicht in diese Auswahl eingereiht wurde, liegt vor allem
darin, dass die Wirklichkeit, auf die
sich seine „Methodologie“ bezieht,
eigentlich längst verschwunden ist,
so dass sein Aufnahme eher ein Memento an eine Technik wäre, als die
Aktualisierung der Thematik, über
die hier die Rede sein soll.
Einen ähnlichen Kurs verfolgte sporadisch auch Antun Šoljan (1932 –
1993), beispielsweise in seinen nun
schon anthologischen Gedichten
Abendliche Sinnlosigkeiten („Večernje
besmislice“), Der Beamte liest Cesarić
(„Činovnik čita Cesarića“) oder Auf
dem hl. Ivan („Na Sv. Ivanu“), in denen er mit einfacher Diktion, ohne
Überheblichkeit und „Schnörkelei“,
mit leicht melancholischem Ton, einige menschliche gar zu menschliche,
durch Erfahrung beglaubigte und
glaubhafte „Wahrheiten“ vortrug.
Auf einer ähnlichen Spur waren in
den Sechzigern und Siebzigern die
Gründerväter der so genannten Macker-Poesie oder Jeans-Poesie, Zvonimir Majdak, Branislav Glumac und
Alojz Majetić, denen die Einführung
der urbanen Thematik, sowie des
Stadtjargons und des Rotwelschen in
die Poesie zu verdanken ist. Im Nach6
Poesie
wort eines von Majetićs Büchern
meint der Dichter Branimir Bošnjak,
dass „sich Majetić gemeinsam mit einigen dichterischen Gleichgesinnten
in etwas stürzte, das wir das Abenteuer einer parallelen Sprache nennen könnten [...] einerseits ist jedoch
immer noch Verachtung gegenüber
allem ‚Modernen‘ als etwas ‚Abstoßendem‘ und für die Kunst der neuen
Zeiten Unnötigem und sogar Schädlichen anwesend, andererseits machte eine Art philosophischer Purismus,
mit dem zu jener Zeit in der Poesie
nur äußerst schicksalsträchtige und
existenzielle Themen besungen werden durften, Majetićs Experimente
mit dem Slang zweideutig und ‚nicht
rechtgläubig‘“.
Ungefähr ein Jahrzehnt nach dem erwähnten „Tolle-Kerle-Experiment“,
brachte der einflussreiche und produktive, aber auch einsiedlerische
Liedermacher und Bandleader der
Rockgruppe Azra, Branimir „Johnny“ Štulić (1953) die Jugendsprache und den Slang, überhaupt die
Sprache der Straße, der damaligen
„Jugend“ wieder näher, als legitimes
Mittel des künstlerischen Ausdrucks,
wenigstens innerhalb des Idioms der
Rockmusik, aber auch in einem weiteren Umfeld. Faszinierend ist die
Tatsache, dass trotz seiner physischen
Abwesenheit, sein Einfluss auf die
neuesten Generationen um nichts
weniger geworden ist als er damals
auf die Generation der Achtziger
und Neunziger war. Man könnte eigentlich ohne Übertreibung sagen,
dass die kroatische und jugoslawische
Kultur in Štulić ihren Bob Dylan bekommen hat, und dass sein wirklicher Einfluss bis zum heutigen Tage
nicht zur Gänze adäquat soziologisch
Bearbeitet wurde.
Es ist interessant, dass es auch in der
Poesie von Zvonko Maković (1947)
zu gewissen „wirklichkeitsbezogenen“
Abweichungen, die Kritiker „Reis-
221
mus“ nannten, gekommen ist, d. h.
eine Umkehr zur gegenständlichen
Realität des unmittelbaren intimen
Umfelds des lyrischen Subjekts, in
welchem es versucht, Relationsanalogien für seine oftmals aufwühlenden
und nicht beneidenswerten inneren
Zustände zu finden. Maković führte
wirklich eine Befreiung von der Metapherlichkeit ein, sein Vers ist entpoetisiert und ohne Sentimentalität,
obwohl manche seinen Stil wegen der
auffallenden Hypersensibilität des
lyrischen Helden auch die „Ästhetik
der Irritation“ nannten. Trotz der
Tatsache, dass es sich um einen abgerundeten und kanonischen dichterischen Opus handelt, ist Makovićs
Wankelmütigkeit in Fragen des Modells, beziehungsweise sein „Schreibnomadismus“ einer der Gründe, warum er aus dieser Auswahl ausgelassen
wurde, ebenso wie die Unmöglichkeit, so gut es geht, präzise festzustellen, in welchem Maße sein Ausdruck
wirklich die „wirklichkeitsbezogene“
Wende in der modernen kroatischen
Dichtkunst beeinflusste.
Andererseits ist Boris Maruna (1940
– 2007) allen Merkmalen seiner Poesie zufolge unumstritten der einzige wirkliche Vorgänger, wenn nicht
gar geistiger Vater der zeitgenössischen kroatischen „wirklichkeitsbezogenen“ Dichter, doch leider konnte er nicht wesentlicher Einfluss auf
ihre Formung ausüben, da er, nicht
nur nach eigenem Willen, dreißig
Jahre im Exil in Süd- und Nordamerika sowie in Spanien verbrachte. Aber es ist anzunehmen, dass
aufgrund ihrer „Deutlichkeit“ seine
Poesie, die sich vollständig außerhalb
des nationalen Korpus entwickelte,
höchstwahrscheinlich auch weiterhin sehr elegant älter werden wird,
denn sie spricht von der unmittelbaren menschlichen Erfahrung mit
einer einfachen nicht manipulierten
Sprache, was eine Errungenschaft ist,
Literarischer Zirkel um die einflussreiche Zeitschrift Krugovi aus den fünfziger Jahren, der den nachkrieglichen Agitprop-Sozrealismus demontierte.
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die langwierig an anglo- und lateinamerikanischen – gewiss nicht kroatischen – dichterischen Modellen
geschleift wurde.
Würde man aber die „Stunde Null“
der wirklichkeitsbezogenen Poesie
suchen, im Sinne von urbanem und
existenziellem Inhalt, Demetapherisiertheit und Denotativität, müsste
man auf alle Fälle das paradigmatische Gedicht von Branko Čegec
Der Stand der Dinge 7 („Stanje stvari“) aus dem „fernen“ 1988 heranziehen. Dieses Gedicht ist vollständig denotativ, „gebaut“, wie Tvrtko Vuković sagt, „aus dem präzisen
Nachzählen des Alltags“ (wenn der
Alltag „nachzählbar“ ist!?). Das einzige, was Čegecs konsequent durchgeführte Taxonomie der Existenzialien stört, ist der sich wiederholende
Refrain „draußen regnet es“ und diese plötzlich eingeführte „Dunkelheit
aus Emilijas Augen“ – ein Bild, das
Čegec auffallend gegen Ende des Gedichts einführt, fast als Vorahnung
eines riesigen und dunklen Ereignisses, das ein paar Jahre später auch
auf dem historischen Horizont eintreffen wird und dessen Resultat die
Realität, d. h. die „Wirklichkeit“ ist,
die wir heute in diesen Gegenden leben. Was eigentlich nur beweist, dass
man auch ohne groß zu mystifizieren zum Schluss kommen kann, dass
wirkliche Dichter als Individualisten
eine gewisse Art Medizinmänner des
Kollektivitätsschicksals sind.
Beim Ausroden des exaltierten Bezeichnungsgestrüpps und dem Zügeln der Dichtersprache, diesen primären Meliorationseingriffen, mit
denen der Zugang zum „wirklichkeitsbezogenen“ Modell in der kroatischen Poesie erst möglich wurde, haben sich natürlich, inter alia,
auch das Chanson-Dichtertum der
Allgemeinpraxis von Arsen Dedić,
7
8
9
RELA
Damir Šodan
der Neoexistenzialismus von Dalibor
Cvitan, der „heitere“ Phänomenologismus von Danijel Dragojević oder
aber in letzter Zeit der „historische“
Melancholismus von Mile Stojić verdient gemacht.
Was ist dann letzten Endes „wirklichkeitsbezogene“ Poesie: eine thematische Richtlinie oder ein seperates
„Genre“ oder ist hier vielleicht die Rede von der „Dichtkunst des Bezeichneten“, der „Prosa im Lied“8, dem
metonymischen Gesang, Mimetismus, Realismus, Neorealismus, dem
urbanen „Narrativismus“, der Dichtkunst, die (gezwungenermaßen) die
Außenrealität kooptiert, der Poesie,
die die Grenze zwischen lyrischem
Subjekt und dem „Ich“ des Autors
löscht, der Poetik der Erdwesen, oder
aber einer Poesie, in der, Käte Hamburger paraphrasierend, der Gegenstand des Erlebnisses nicht hinter
dem Erlebnis des Gegenstandes zurückbleibt, u. s. ä., u. s. ä?
Ich fürchte, dass eine feste und eindeutige Antwort auf diese Frage im
Sinne der „klassischen“ Definition
an dieser Stelle ausbleiben wird, das
alles nur, damit der wissenschaftlichen Kritik die Möglichkeit gegeben
sei, mit einer endgültigen Lösung
aufzuwarten, denn diese Einleitung
stellt in diesem Sinne nur eine „Geländeaufnahme“ dar, oder eine Handvoll Anmerkungen des weiter unten
signierten Anthologisten, keineswegs
Theoretikers, sondern eher eines Praktikers des Handwerkers, der sich deshalb freiwillig vom Aussprechen einer endgültigen Urteils enthalten
und nur so im Spaß hinzufügen wird,
dass die „wirklichkeitsbezogene“ Poesie jener „Typ“ der Poesie ist, die,
um mit den Worten der großen amerikanischen Dichterin Marianne Moor
zu sprechen – „erfundene Gärten mit
richtigen Fröschen darin“ – bietet!
TIONS
Vielleicht ist es eigentlich letzten Endes noch angebrachter, die Meinung,
dass der Hader zwischen der „wirklichkeitsbezogenen“ und „nicht-wirklichkeitsbezogenen“ Poesie gar nicht
so „wirklich“ ist, zu lizitieren, denn
„theoretisch“ gesehen sind beide Diskurse gleich fingiert und mangelhaft,
wenn schon wohl bekannt ist, dass
die Sprache, ganz wie Achill in Zenons Paradoxon über Achill und die
Schildkröte, sowieso nie bis zum Ende die Welt erreichen und umfassen
kann. Mit anderen Worten, alle Wahrheit lässt sich, wie uns Jacques Lacan
erinnerte,9 bei aller Liebe nicht aussprechen, denn Signifikanten repräsentieren sowieso nur ein Subjekt für
einen anderen Signifikanten, während
sich das Signifikat hartnäckig zurückzieht und die Bedeutung ständig
aufschiebt.
Vielleicht ließe sich schließen, dass
das Aufhalten der „Hysterie“ der Signifikantenkettenbildung eine Art
Zeichen der „Heilung“ ist, wenn nicht
gar der „Reife“ der Poesie. Denn weniger ist manchmal wahrlich mehr,
sowohl in der Kochkunst als auch
in der Literatur. Vielleicht lässt sich
das nicht leicht erreichen, denn jeder, der sich wenigstens einmal mit
ihr befasste, weiß, dass die Herstellung sprachlicher Zeichen zu literarischen Zwecken irgendwie eher zur
„Bulimie“ neigt als zur „Anorexie“.
So ähnlich lässt sich, nehme ich an,
auch der relativ unlängst verfasste
Schluss von Tonko Maroević in der
Zeitschrift Poezija verstehen, dass „es
von der Parodie und der Persiflage bis
zur Würde der Rede – kein leichter
Weg sei“.
Die Frage, ob die kroatische Poesie mit ihrem „wirklichkeitsbezogenen“ Dämmen der Flut von Bezeichnungspraktiken in eine neuere und
„reifere“ Phase gekommen ist, oder
Branko Čegec, Melancholische Chronik („Melankolični ljetopis“), IC Rijeka, 1988, S. 77-78.
„Prosa im Lied“ ist ein geistreiches Syntagma von Arsen Dedić.
Jacques Lacan im Dokumentarfilm Psychoanalyse 2 (1974), DVD, Žižek!, /20:55-20:75/, Zeitgeist Video, 2005.
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TIONS
ob es sich nur um ein temporäres
Kreuzen der Sprache und der Welt
handelt, ist von dieser kurzen zeitlichen Distanz aus schwer kategorisch
zu beantworten. Insbesondere, wenn
man im Auge behält, dass ein Großteil der hier aufgenommenen Autoren sich bis jetzt mit nur einem oder
zweien Gedichtbänden hervorgetan
hat. Doch das, was wichtig ist, ist die
Tatsache, dass die „wirklichkeitsbezogene“ Poetik als Poetik des „neoexistenzialistischen Vorzeichens“ –
wie Sanjin Sorel mit Recht betont
– eigentlich die „‘Archipoetik‘ der
ganzen Generation“ der Neunziger
ist, beziehungsweise, „dass sie in den
Grundfesten aller anderen Erfahrungen liegt“ und „die Bedingung“ ihrer „Realisierung“ ist. „Mit anderen
Worten, sie hat den ‚Geist der Zeit‘
detektiert und ihn an die Generation
überwiesen“.
Ist nicht so eine Schlussfolgerung der
beste Beweis, dass die „wirklichkeitsbezogene“ Poesie als neuer Abschnitt
des poetischen Ausdrucks einen prominenten, wenn nicht gar den zentralsten Platz innerhalb des Korpus der
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Poesie
zeitgenössischen kroatischen Dichtkunst eingenommen hat?
Es ist vielleicht an dieser Stelle angebracht, daran zu erinnern, dass viele
große Dichter des 20. Jahrhunderts,
wie zum Beispiel Kavafis, Brecht,
Brodsky, Walcott, Auden, Miłosz,
Herbert, Zagajewski, O’Hara, Simic, Ginsberg, Montale, Parra, Bukowski, Carver, Hikmet, Enzensberger oder Cardenal... keine „Sprachwissenschaftler“ oder „Konkretisten“
waren und sich trotzdem einen nicht
in Frage zu stellenden Status im Pantheon der Weltdichtkunst verdient
haben.
Wie dem auch sei, die Absicht dieses
anthologistischen – seiner Definition
nach undankbaren – Unterfangens
war vor allem als Versuch gedacht,
mit einem ziemlich umfangreichen
synchronischen Durchschnitt, oder
Schnitt, auf die unumstößliche Tatsache hinzuweisen, dass es auch in
der kroatischen Literatur endlich eine Poesie gibt, die, mit der einfachen
Sprache der Straße gesprochen, sehr
wohl „etwas mit dem Leben zu tun
hat“.
223
Dabei wollte man ebenfalls die Aufmerksamkeit auf die Änderung des
Paradigmas in der zeitgenössischen
kroatischen Poesie lenken, die im
Laufe der letzten zwei Jahrzehnte das
dichterische „Aus-führen“ ins „Aufführen“ umwandelte und sich dabei
dem Leser großherzig öffnete, nicht
ohne einen gewissen Wunsch nach
gegenseitigem Erkennen auf der empathischen Linie oder dem durchlebten Erlebnis.
Mit so einem Ansatz scheint die zeitgenössische kroatische Dichtkunst
die Worte des kanadischen Barden
von Lied und Vers, Leonard Cohen, zu bestätigen und zu verinnerlichen, der einstmals gesagt hatte:
„Die Poesie ist nur eine Aufzeichnung des Lebens. Wenn Ihr Leben
schön brennt, dann ist die Poesie nur
seine Asche.“
Damir Šodan,
Split, November 2010
Aus dem Kroatischen von
Marijana Miličević Hrvić
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Poesie
DALIBOR CVITAN
TIONS
[1934 – 1993]
Das gespreizte Foto
Dieses Pornofoto ist mir heiliges Andenken
nie wird dies dralle Fleisch faulen
und die Haare, und der Schleim...
Das wie eine Ikone über dem Rauchfass
gespreizte Foto
gießt das gelbe Licht des Körpers auf mich.
In was hast du dich, mein Gott, verwandelt?
Aber so ist halt das Leben
auch ich habe mich verwandelt
in einen Greifkäfer
in einen Tentakelkriecher...
Ich klimme auf den Altar Leib und Scheid
und Poback und Schlack und Lust und Brust
und da ging mein Gott
aus meinem Leben fort.
Der chinesische Pavillon
Auf dem Messegelände steht der Chinesische Pavillon,
in dem die Chinesen in einem Jahr ausstellen, im anderen nicht,
abhängig von den Beziehungen.
Man sieht ihn von weitem, grüngoldene Keramik,
Spitzbögen, ach, so richtig chinesisch.
Einen Lesenden erinnert er an Mishimas „Goldenen Tempel“.
Februar. Es regnet in Strömen.
Aus der Straßenbahn sehe ich den Chinesischen Pavillon an,
in die graue Stadt geknallt wie die Faust aufs Auge,
wie die Zypresse in der Wüste.
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TIONS
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Poesie
Was, was, was sollen wir tun mit dem chinesischen Pavillon,
mit seinen Bögen, mit seinen Drachen?
Was, was sollen wir mit ihm,
beraten sich die aufgeregten Putzfrauen
in blauen Arbeitskitteln, die jeden Morgen
den Staub von nirgendwoher wegfegen, aus China...
Was mit der grünen Glasur,
was mit der Fayence,
was mit den Lampions,
was mit den Vögeln, Löwen, Greifen?
Im Chinesischen Pavillon haust nur trockenes Laub,
wohnt die Maus,
verweilt die Taube,
gurrt die Putzfrau.
Foto: © Višnja Arambašić
Uns befiehlt,
besiegelt unsere Hölle
der Grüne Drache.
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RELA
Poesie
DANIJEL DRAGOJEVIĆ
TIONS
[1934]
Im Wartesaal des Bahnhofs
Im Wartesaal des Bahnhofs beobachtete ich arme Leute, die sich
um die Heizung drängen, die einzige Wärme, die ihnen geblieben ist.
Menschen gingen an ihnen vorbei, eilten, ohne sie zu beachten.
Hier ist, dachte ich, was Historisches oder etwas Ähnliches an einem Ort.
Nach Hause gekommen bitte ich die Worte, dass wir etwas sagen,
dass sie etwas über jene Szene sagen. Es ist kalt und regnet,
und trotz unzähliger Züge werden diese Elenden nirgendwohin fahren,
die Welt ist verschlossen. Ich dränge sie, lasst uns, so viel wir können, die Wärme vermehren,
so wie es Gebete tun. Sie schweigen. Sie schweigen, so dass ich nicht weiß, wohin, auf
welche Seite ich meine Bitte richten soll. So viele Male haben sie sich spontan gereiht, ob
es um meine Dinge und eingebildete Missgeschicke, Freuden, Schweigen und Ähnliches
ging. Es wird so aussehen, als ob wir nichts gesehen hätten, als ob sich nichts ereignet hätte.
Blindheit, eine Art Schläfrigkeit wird alles verschlucken. Wie soll ich sie überreden?
Beklommenheit, Öde und Unglück, angefangen durch jene Szene, wachsen. Die Worte
fliehen. Obwohl zweifellos in einem Zentrum, sind wir (die Worte und ich) verloren in
der Leere. Wieder kann ich etwas nicht gut und ausreichend. Kälte, Regen, Züge kommen
und gehen, statt der Worte bellen die Hunde etwas, die Vokale ihrer Stimme breiten sich
in unbekannter Richtung aus. Jeden Tag ist ein bisschen Weltuntergang.
In den Park gehen
In mir schaukelt es wie beim Unwetter.
Ich muss mich sammeln. Auf alle Fälle muss ich
mich sammeln. Sie hat zwei große Augen,
die mich drei Jahre zuvor nicht angesehen haben.
Mein Gott, sie sieht mich an!
Es stimmt, ich bin ihr Vater,
halte sie an der Hand und gehe mit ihr
in Richtung Park. Wenn sie mich etwas fragt,
weiß ich, was ich sagen werde,
alles was auftaucht, traf ich schon viele Male.
Ich weiß, was sie von diesem Morgen,
von der Straße, dem Park, von mir, der ich sie
an der Hand halte und deren Vater ich bin, verlangt.
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Poesie
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Ich muss alles im Gleichgewicht halten.
Darf keinen Fehler machen. Ich muss zeigen, dass ich
an die Straße glaube, die gute Freundin von jederlei.
Jedes Ding ist an einem Platz,
der sein Platz ist. Auch ich habe
eine Form, die meine Form ist,
mein Wissen, mein Eigentum, meine Überzeugung.
Ich bin keine Katze, bin nicht unglücklich
oder ein Kaktus. Wen ich kenne,
grüße ich, die anderen nicht.
Ich darf meinen Kopf nicht in die Hände vergraben.
Dann rauscht Regen in meinem Kopf,
oder es rennen nur Mäuse in der Welt herum.
Ich werde den Kopf heben. Sie könnte merken,
dass in mir die Geburt schaukelt,
ganz Korčula. Sie könnte merken,
dass ich keinen Namen habe. Wenn mich
Gott, Menschen, die Dinge rufen möchten,
sind sie in großer Verlegenheit.
Auch ich rufe sie nicht, öffne nur den Mund
und bringe einen unechten Laut hervor.
Wenn sie neben mir ist,
bin ich freundlich zu ihnen
wie bei einer Festlichkeit.
Und wenn ich unabsichtlich aufschreie?
Nein, das werde ich nicht. Ich bin gut gekleidet,
habe Geld für Schokolade, spreche leise,
setze Punkte und Kommas an die richtige Stelle.
Ich bin klug, lese Bücher,
viele Bücher. Alles ist in Ordnung.
Wenn ich Lust bekomme, mich auf der Erde zu wälzen,
werde ich sie nur ansehen, ihr übers
Haar streichen, lachen
und es nicht tun.
Die Liebe hält die Form aufrecht, das ist klar.
Die ganze Welt, dabei denke ich auch
an ihre Freunde die Ameisen,
wird mit mir zufrieden sein.
Es wird bestimmt noch ein
relativ glücklicher Tag sein.
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RELA
Poesie
ARSEN DEDIĆ
TIONS
[1938]
Ein literarisches Abendessen
ein literarisches Abendessen in der Region
Schnee bis zum Hals
ein Apotheker und
ein Frauenarzt
eine zarte Bibliothekarin, die auch
Ortsschriftstellerin ist
Autorin
mehrerer Bilderbücher,
einiger Kalender,
als auch Aufkleber
verbittert ist die Dichterin
gefühllos
und hässlich
sie beobachtet wie eine Ringelnatter
den Dichter-Jungen
der nichts damit zu tun hat
Weihnachten ist nah
seltene Verheißungen und
ein Hermelin im Esszimmer
Eine Liste unliebsamer Ereignisse, Begriffe,
Personen und Dinge, die mit Musik zu tun haben
Ein Schlagzeug im morgendlichen Restaurant bedeckt mit einem karierten Tischtuch.
Betrunkene Sängerinnen, mit denen es bergab geht.
Schallplatten, die niemand kauft.
Schallplatten, die alle kaufen.
Sätze wie:
Meine Musik mögen auch die jungen Leute.
Die jungen Leute kehren doch zur Melodie zurück.
Das Akkordeon wird früher oder später wieder ein Comeback haben.
Oder Sätze wie:
Ach, wenn ich alle diese Erfolge im Ausland gehabt hätte.
Sie sind für mich eigentlich ein Dichter.
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TIONS
Poesie
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Schauspielerinnen, die falsch singen und Typen, die ihnen beteuern,
dass das richtig charmant sei – in der Hoffnung, dass sie mit ihnen schlafen werden.
Der in London gekaufte Anzug für einen Auftritt in Bugojno.
Hitparadensänger-Kryptonationalisten.
Musiker-Parteigänger, die sich über die Partei ärgern,
da sie kein Neujahrsengagement haben.
Rockkritiker mit zwei Jahren Geigenunterricht
im Landesinnern.
Klavierstunden bei Nonnen.
Harfenstunden bei Engeln.
Intellektuelle mittleren Alters, die hoffnungslos bei Rockern schleimen.
Typen, die sich für das, was sie spielen, schämen.
Ansehnliche Orientschlagersängerinnen ohne Backenzähne.
Musikschreiber ohne musikalisches Gehör.
Schallplatten ohne Loch in der Mitte.
Chansoniers, die stricken.
Über Nacht erreichter Misserfolg.
Bestechliche Redakteure.
Talentlose Typen mit glänzender Ausrüstung und Idioten mit wunderschönen Stimmen.
Ausgezeichnete Dichter mit schäbigen Schlageraufträgen.
Textschreiber im Allgemeinen und überhaupt.
Unbezahlte Tourneen in südlichen Gegenden der Heimat.
Dritter Preis der Fachjury für die sympathischste Sängerin.
Lebenslange Chorsänger; ewig beleidigt, weil sie keine Solisten sind.
Das Singen von Cowboyliedern in Tschechisch, Slowenisch und Deutsch.
Nächtlicher Gulasch in Novska.
Orientierung, kurz vor Karriereende, auf Evergreens.
Garderobe Pflicht.
Neukomponierte Oldies.
Erste Stimme und Miss Jagdtourismus.
Typen, die verheimlichen, dass sie nicht Noten lesen können.
Conférence.
Conférencier in Volkstracht.
Revolutionäre Lieder in Rock-Bearbeitung.
Regime-Rock.
Glatzköpfige Rocker, die geschmackvolle modische Mützchen tragen.
Und so weiter und so weiter ...
Und zum Schluss:
Moralischer Sieger beim Festival der Unterhaltungsmusik.
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RELA
Poesie
BORIS MARUNA
TIONS
[1940 – 2007]
The New Left
So traf ich einmal eine Blondine
Von etwa dreißig Jahren
Um zwei Uhr nachmittags
Den Rest des Tages verbrachten wir Tee trinkend
Auf einer Terrasse mit Blick aufs Meer;
Am Abend führte ich sie aus ins beste
Restaurant der Stadt
Sie stellte sich vor als Tochter
Eines ukrainischen Tuchhändlers,
Eines Juden aus Brooklyn,
Intellektueller Typ:
Sie hatte einen Ph. D. und angeblich die größten Brüste
Nördlich des Grand Canyon
Ich bearbeitete sie die ganze Nacht
Und erinnere mich nicht, einen Funken herausgeschlagen zu haben.
Pausenlos zitierte sie mir
C. Wright Mills und behauptete,
Wegen ihres Ehetraumas und der kürzlichen Scheidung
Sei sie noch nicht
Prädisponiert
Es regnete, als ich morgens einschlief
im Hotelzimmer mit sieben Kerzen
Interessant ist, dass ich als Katholik
Keine religiösen Probleme hatte
Beim Abschied überließ sie mir
Eine halbe Flasche Bahamasrum, ein paar
Einige Monate alte progressive Zeitschriften
Die Originalausgabe
von Macdonalds Buch The Root is Man
Und eine gewisse Geschlechtskrankheit
Mit der ich regelmäßig zum Strand ging
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RELA
TIONS
Poesie
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Etwa zwanzig Tage lang
Und sie in der Zwischenzeit weitergab
Wie den Stafettenstab des Genossen
Tito
Nie hat sie sich richtig eingenistet
Unser Arzt erklärte mir später
Dass die Immunität meines Blutes eng verbunden ist
Mit historischen Gegebenheiten
Der Türkenzeit
Und unserem nationalen Unglück
Ich weiß nicht.
Es liegt mir nichts daran, etwas zu verneinen
Aber ich denke, dass sich alles zusammen
Mit der Tatsache erklären lässt
Dass es auch in der Neuen Linken Situationen gibt, in denen
Sie nicht möglich sind
weder Liebe
Noch Tragödie.
Das Ende des 2. Weltkriegs in Westwood
Einer meiner Professoren ein Schüler Hegels
Kierkegaards und Martin Heideggers
Behauptete, er sei nicht Gott weiß was
Da er die erste amerikanische Generation sei
Erzeugt auf dem Rücksitz eines Autos
Da ich das letzte kroatische Geschlecht bin
Erzeugt auf dem Gipfel des Velebit
Glaubte ich ihm
Als er mit sechzehn Jahren nicht aufgenommen wurde
Ins amerikanische Heer heuerte er mit gefälschten Papieren
bei der kanadischen Königlichen Marine an
Und es gelang ihm unter anderem
Fast den ganzen nordamerikanischen Kontinent
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Poesie
RELA
TIONS
Vor den Deutschen zu schützen
Für Fortschritt und Demokratie
Und gleichzeitig so manche Vergewaltigung älterer Seebären zu ertragen
Um wie das im Leben oft so geht
Nachträglich festzustellen
mit einer gewissen alles verheerenden Resignation
dass das eigentlich nicht seine Pflicht gewesen war
Aber wie ich schon sagte war der Kontinent schon verteidigt worden
Und er kehrte zurück mit zwei tätowierten Armen
Einigen Narben zwischen den Sommersprossen seiner
walisischen Abstammung
Und mit einem Gehirn für das Washington
ein ganzes Vermögen ausgab
und bezahlte
Zuerst sein Studium in Freiburg und Kopenhagen
Und danach in Hollywood und Beverly Hills deutsche Psychiater
Die sich vergeblich bemühten
Das Dasein und das Knäuel der Ariadne
in seinem Kopf abzuspulen:
Der Mensch sah überall den Minotaurus
Worin ich mit ihm ebenfalls übereinstimmte
Es war eine höllische Art des Seins, sagte er manchmal zu mir
Woraufhin ich antwortete: Ich weiß, Jack
Auch ich war als Kind im Krieg
Und kam besiegt aus ihm heraus
Mehr oder weniger so wie du gesiegt hast
So wie er war, konnte er, obwohl Katholik,
Nicht lange mit meinen Jesuiten die
als echte Bolschewiken nur irischen Whiskey tranken
Aristoteles’ Logik des Thomas von Aquin anerkannten
Die geistlichen Übungen des Ignatius
Und die apokryphen Leben der Heiligen
Er ging zur UCLA und schenkte mir zum Abschied
Eine seltene Anthologie der amerikanischen Literatur
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RELA
TIONS
Poesie
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Dort erkannte er bald
Dass eigentlich niemand in Vietnam umkommen möchte
Dass mexikanische Studenten weder Davy Crockett noch Alamo vergessen
Dass die Japaner wenn sie mit Honolulu fertig sind Los Angeles kaufen werden
Und dass ihm die jüdischen Muttersöhnchen den Rest seiner Nerven zerstören werden
mit ihrer Bereitschaft Israel zu verteidigen
bis zum letzten Nachkommen der Southampton-Passagiere
Und so ist dieser Professor der vergleichenden Literatur
Zweifellos ein Verehrer von Dostojewski und Camus
Ein Liebhaber der europäischen Zivilisation und der keltischen Mythologie
Zum Großteil ein Freund des deutschen Geistes
Eines Tages buchstäblich am Herzen gestorben
Zurück blieb auf dem Bürgersteig in Westwood seine Tasche
Mit einigen unfertigen Manuskripten
Mit sich aber nahm er eine Unmenge unbearbeiteter Bilder
Das Ende eines Krieges wie ein Labyrinth ohne Ausgang
Und ein wunderschönes Paar Brüste einer Minderjährigen
Die auf mein Zureden zustimmte
Im Nebenzimmer für uns nackt zu tanzen
Auf einer Party in Manhattan Beach
Zu der ich ihn mitgenommen hatte
Denn an jenem Abend wollte er wieder einmal
Oder konnte nicht seiner Frau gegenübertreten
Und den eigenen Kindern
Heute denke ich an ihn wann immer ich
Abraham Lincoln lese: Men are not flattered by being shown
that there has been a difference of purpose
between the Almighty
and them.
Was etwa bedeutet: Den Menschen schmeichelt es nicht wenn ihnen
gezeigt wird, dass es einen Unterschied der Bestimmung gab
zwischen ihnen
und dem Allmächtigen. (Brief an Thurlow Weed, 15. März 1865)
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RELA
Poesie
JOZEFINA DAUTBEGOVIĆ
TIONS
[1948 – 2008]
Flüchtlingslied
Endlich die Illusion von Freiheit
Die Wohnungseigentümer sind verreist
übers Wochenende
um sich auszuruhen
Wir werden alleine zu Mittag essen
Im Kühlschrank steht die Konserve kalt
mit einer Zubereitungsanleitung
in einer uns unbekannten Sprache
Die Leine ist frei zum Aufhängen
von Wäsche oder ...
Die Leine ist übrigens manchmal frei
Wir besitzen Flüchtlingsscheine wir können verreisen
in einen anderen Stadtteil nach Maksimir zum Beispiel
und zusehen wie sie fressen
die Tiere
Zum Abendessen gibt es schlechte Nachrichten aus der Heimat
und Milchpulver
Vielleicht wird es besser als gestern
Gestern haben wir überhaupt nicht gegessen
denn die Polizei prüfte unsere Identität
und tadelte uns streng
Es ist unwichtig dass Sie Kroaten sind
Sie befinden sich in einem fremden Land
und Sie dürfen nicht so oft beim Bürgeramt anrufen
wegen des Heimatscheins
Wir haben eine Lösung sagen wir
und denken dabei an die Leine
Sie gehen
Das Milchpulver ist von der Feuchtigkeit verklumpt
egal
Es ist gesund manchmal das Abendessen zu überspringen
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RELA
TIONS
Poesie
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Liebe in Sarajevo
Zwischen zwei Granaten
die vorläufig ihr Ziel verfehlten
spute ich mich
Du kannst dich sehnsüchtig und unvorsichtig auf den Weg machen
der Heckenschütze jedoch wartet auf die
die sich vergessen
Wir müssen uns schnell lieben
solange unsere Knochen noch
eine gefällige Form bilden
Wir haben wenig Zeit
Zwischen zwei fremden Schreien verlängern wir das Leben
mit einer Umarmung
Später auf einem improvisierten Bett
rauchen wir etwas was einer Zigarette ähneln sollte
und ziehen den Schluss dass der Heckenschütze sicher
impotent ist
Wir haben sehr wenig Zeit
Wir müssen vor den letzten Nachrichten zurückkehren
in denen gibt der Sprecher ihn bekannt
unseren Tod
Zagreb, 26. Juni 1994
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RELA
Poesie
MILE STOJIĆ
TIONS
[1955]
Der Weg über Kreševo
Solch einen Anfang haben wir alle erwartet, aber er überraschte uns
Vom Berg aus wurde zuerst der TeVau-Sender auf dem Hügel beschossen
Kurz danach die Zentralen von Unioninvest und dem E-Werk
Kugeln aus dem Maschinengewehr rissen Porzellanstücke im Trafohäuschen ab
Betrunkene in Marindvor drehten sich vor doppeltem Entsetzen
Die Serben, diese verdammten Hunde, schrie einer, wieder schlachten sie die Moslems
Im Auto, das mit hundertfünfzig Stundenkilometern raste, sagte ich, wir werden ihn finden,
Einen Weg. „Nie werden wir hier herauskommen“, sagtest du.
Die Sirene des in Flammen stehenden Feuerwehrautos heulte
Du lieber Himmel, die Post brennt, das Theater brennt, der Herzog-Putnik-Kai brennt
Morgen fahren wir nach Dalmatien, auf eine Insel in den Schatten einer Palme,
die Wellen ansehen
Aber alle Brücken sind zerstört und wir sind auf einer brennenden Insel
Mach dir keine Sorgen, ich kenne einen geheimen Weg über Kreševo,
Ihn zeigte mir ein Mädchen, mit dem ich vor langer Zeit anbandelte
Aber die sind Blödmänner, die werden alles vernichten, den Ast absägen, auf dem sie
Auch selbst sitzen. Nie werden wir hier herauskommen
Das Gesicht wird starr, während die Gebäude um uns herum zu Brandstätten werden
Es wird Winter und unser Blut gefriert im Schnee. Um uns herum
Sprießen Krater, in denen alle Geschichte und Philosophie verschwindet,
Alle Literatur. Auf einer mit einem Hirtenmesser geschnitzten Flöte
Auf gespannter Lammhaut und Rosshaar spielt Belzebub
Und Verliebte umarmen sich zum letzten Mal in schlammigem Graben
Und die Lieben verlassen senkrecht unsere Stadt
In eine gefühllose friedlichere und schmerzlosere Welt
(Fragment aus dem Jahr 1992)
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TIONS
Poesie
VOJO ŠINDOLIĆ
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[1955]
Feedback
Schmetterlinge in meinem Bauch.
Heißer Senf in den Mundwinkeln.
Rivalisierende Mittelschüler
in den Stadtbussen.
Damen mit umgehängten pelzigen Toden.
Raureif an starren Strümpfen, die trocknen
auf den Balkonen der Hochhäuser-Kasernen.
Nackte Körper in Zeitungskiosken.
DAS, WAS ICH WEIß, IST DAS, WAS ICH FÜHLE!
Ich esse ein Sandwich
mit Schinken, Käse und Mayonnaise,
liege im Bett
und verfolge eine TV Bildungssendung:
einen Kondor, der einen
Pferdekadaver hackt,
den Vogel Karakara, der die Jungen
im weißbekoteten Nest
mit Aas füttert.
Visionen der Gemeinschaft,
entstellt in der
Menschenmasse der Stadt.
8. Januar 1984
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RELA
Poesie
BRANKO ČEGEC
TIONS
[1957]
Sexualitäts- und Schlammlandschaften
auf den straßen war nicht einmal mehr ein hund:
flugzeuge bombardierten die stadtrandsiedlungen,
die gärten waren voll quecken und löwenzahn, den letzten resten der pädagogik,
aus der du in einem knöchellangen röckchen hinaustratest
mit frisch depilierten waden, und viele sätze sagtest über
apfelsinen und wladiwostok,
über drachenkopf in wein und den staub des balaton,
über kühne liegestütze und die hochebenen des pazifik
oder eines anderen meeres, über blumenkohl, barmherzige schwestern
und bier aus karlovac.
mein gott, was für ein durcheinander! – wiederholte ich im stillen
immer den gleichen satz mit blick
auf deine knie und die komischen zähne in barocker anordnung.
grob und gerührt zugleich, wie in der jugend eines künstlers, eines philanthropen,
fuhr ich hinab am spalt des körpers mit der erfahrung des überlebens.
mann, nichts ist auf den straßen.
feuchtigkeit im mund, rohes texas ins doppelläufige gewehr gepflanzt,
freude, die schlaftrunkene stimme eines hirten auf einer symbolischen weide.
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2003-4-20
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TIONS
Poesie
MIROSLAV MIĆANOVIĆ
239
[1960]
job
(die kroatische poesie der neunziger)
ich sagte zu ihm: dich wird die dunkelheit
auffressen aus emilijas augen
Branko Čegec: Der Stand der Dinge
er, der kroatische dichter,
tritt ins zimmer und heftet vorsichtig
klebstreifen an die fenster,
zuerst ein kreuz, dann gleichmäßige viertel,
die sonne bricht in leuchtenden pfeilen,
er prüft die ränder und
drückt sie fest an
seine frau tritt ein, setzt ruhig einen Fuß
vor den anderen, es ist schön, dass wir heute
nicht hinuntergehen mussten, sie wagt nicht
zu fragen, wie man auf englisch luftschutzkeller
sagt. die völlige dunkelheit des zimmers bedeckt
das bett. er möchte zu ihr sagen, schlaf,
hat aber angst, auf der anderen seite sind ihre
offenen augen
alles, was ich habe, erwarb ich sehend,
jetzt aber ist verdunkelung
er möchte gedichte schreiben, in denen namen
wie ein hot dog im mund einer schwarzen klingen
...
das uns aus der ganzen tiefe
deiner himmlischen finsternis berührt
gott, endlich ruhe.
wo ist diese welt. nimm die finger
aus diesen wunden, ungläubiger Thomas.
dunkelheit.
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RELA
Poesie
DELIMIR REŠICKI
TIONS
[1960]
Ansteckung
Es gibt keine tiefere Trauer als eine Fahrt durch Slawonien
am Samstagnachmittag.
Denn die Trauer in diesen etwa anderthalb Wegstunden
eben hier, gerade mir, zeigt sie nicht
eine einzige Spur ihrer Herkunft.
Man sieht, völlig klar, nur einen oberflächlichen Schnitt,
den man mit einem Stückchen Watte heilt,
das man in jemandes fremden Worten fand,
in jemandes fremdem Telefonbuch,
im übervollen Aschenbecher des Kupees,
das leer blieb
wie der Stich einer schmutzigen Ahle.
Ich kannte ein Kind
es wollte Kostümbildner werden,
grundlos blieb es nur einmal im Tau sitzen,
den es sich voller Angst
im Haar verrieb.
Ich möchte wirklich erkranken.
Dieser Kult. Diese Trauer.
Dieser Satyr aus Hartriegel, Asche und Staub.
Diesen Tau mit einem goldenen Strohhalm
inmitten eines gestorbenen Wirbelwinds trinken.
Das Ostergebet mit Händen voll
dunkel gewordenen Silbers sprechen
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RELA
TIONS
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Poesie
MILOŠ ĐURĐEVIĆ
[1961]
Seekrank
Foto: © Višnja Arambašić
Leicht wie ein Hahn, wenn die Sonne mich weckt,
denk an den Sommer ’95 ich.
Auf dem Schiff von Rijeka, auf ’ne Bank hingestreckt,
bis Split, an den Inseln entlang – erinnre ich mich.
Das Radio quietschte, es drohte das Meer,
da fand Rettung ich einzig am Schank.
Die Menge dort schaukelte hin und her,
nach dem ersten Glas in Träume ich sank.
Auf einmal verschwandst du, warst einfach weg,
vielleicht standst am Bug du und warst erbost.
Alles nach Zadar war nur noch ein Fleck:
ich weiß, du wirst sagen, du warst nicht bei Trost.
Runde auf Runde, wie konnt’s anders sein,
und später da kotzte jeder allein.
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Poesie
KREŠIMIR BAGIĆ
TIONS
[1962]
Der Markt in Dubrava
wir bauten den Markt in Dubrava
das kann ich euch heute sagen
Ribe Andjelko Šime und ich
kneteten Ton formten Ziegel
keiner konnte uns etwas anhaben
wir bauten den Markt in Dubrava
das kann ich euch heute sagen
morgens pflanzten wir Verkaufsstände und Mauern
mittags begossen wir sie
damit sie sich aufrichten und Blätter treiben
auf der Wiese im Wasser und im Schlamm
bauten wir den Markt in Dubrava
als wir fertig waren
tauchten zehn Dalmatiner auf
und luden uns zu einer Partie Boccia ein
wir gingen mit spielten und gewannen
Ribe Andjelko Šime und ich
nach einem Jahr kehrten wir auf den Markt zurück
die Dalmatiner verkauften dort
Stockfisch Mandeln und Mangold
wir kauften Zeitungen tranken ein Bier
Andjelko sagte: wir haben den Markt gebaut
und Ribe: das ist nicht wichtig wir sind Dalmatiner
Šime und ich sagten nichts
wir bestellten Kaffee und spielten eine Partie Darts
am nächsten Tag begann Ribe Standgeld zu kassieren
Andjelko wurde zu seiner rechten Hand
heute reden die Leute aus Zagorje und aus Bosnien sie mit „Herr“ an
bieten ihnen Salat zum Mittagessen und Obst zum Nachtisch
die Dalmatinern laden sie zum Bier ein
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RELA
TIONS
Poesie
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es bauten den Markt in Dubrava auch Šime und ich
jetzt kaufen wir dort Stockfisch Mandeln und Mangold
Šimes Haus in Dalmatien ist abgebrannt und ich wurde
Professor in Zagreb wann immer sie Zeit finden
spielen Ribe und Andjelko eine Partie Darts mit uns
Der Hof meiner Mutter
In den Hof meiner Mutter
kommen oft schlechte Nachrichten.
Während sie schweigt, wachsen sie,
wie Rebstöcke
verdecken sie Himmel und Gedanken.
Während sie spricht, wachsen sie,
verflechten und vergrößern sich
im schwindelnden Spiel von Blicken und Worten.
Gäste und Ungebetene bringen sie mit
– Nachbarinnen und Fremde,
Elektriker und Journalisten.
Meine Mutter behält sie,
der Panzer aus Angst und Einsamkeit
wird immer fester und fester,
der Hof ballt sich zu einem Punkt,
der von traurigen Vaterunsern genährt wird.
In den Hof meiner Mutter
kommen oft schlechte Nachrichten.
Schwere Krankheiten fangen Unheil ab,
Diebe und Lügner beherrschen die Welt,
niemandem kann man glauben.
Tatsachen sind immer auf ihrer Seite
– Namen, Zahlen und Orte
als stumme Zeugen einer Tragödie,
schweben sie auf dem schwarzen Vorhang der Erzählung.
Meine Mutter spricht sie
langsam, mit leiser Stimme;
ein unhörbarer Flügelschlag nimmt den Hof ein,
besiedelt den Schritt, dringt in den Körper
oder zerschlägt sich einfach am Rande des Atems.
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RELA
Poesie
TIONS
Foto: © Višnja Arambašić
Manchmal verirrt sich auch eine gute Nachricht
in den Hof meiner Mutter.
Kommt sie ihr entgegen, breitet die Mutter ihre Arme aus,
schiebt die Reben zur Seite,
die Sonne beschattet Himmel und Gedanken.
Wenn sie sie umarmt, ein Lächeln auf ihren Lippen,
in ihrem Blick Beklommenheit;
die Worte zögern wie Vögel
zwischen Lied und Geschoss.
Meine Mutter weiß besser als irgendjemand,
die schrecklichsten Geschichten sprießen
zwischen Feldblumen,
in blinder Freude, die nicht an morgen denkt.
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TIONS
Poesie
BORIS DEŽULOVIĆ
245
[1964]
Meine Heimat
Sie gehen mir auf den Sack
die Serben, Albaner und Bosnier
Ungarn, Tschechen und Slowenen
die blockfreien Schwarzen
und Makedonier
die Juden, Araber und ausländischen Studenten
die Kinder afrikanischer Diplomaten
die Japaner, Chinesen und Asiaten
und alle diese schmutzigen Beduinen
wegen denen wir Kroaten
aussehen irgendwie wie primitive
wasweißich Chovos
und Xe
Xephob
wie sagt man
ja, das.
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RELA
Poesie
PREDRAG LUCIĆ
TIONS
[1964]
Simonides, König von Pentapolis
Als Matrose im Perikles gelangte ich
Zur Heiligen Sophia
Am Vorabend von allem
Im Jahre sechsundachtzig
Als Gower ich begleitete
Der dem Grab entstiegen war
Wir überlebten Antiochias Gräuel
Überstanden des Meeres Stürme
Und dann
Inmitten des Ritterspiels
In Pentapolis
An König Simonides Hof
Hielt alles still
In einem Augenblick
Die Vorstellung
Das Ritterspiel
Shakespeare
Und die Welt
Simonides
König von Pentapolis
Miloš Tripković
Ausgezeichneter Schauspieler
Trennte plötzlich sich von der Gestalt
Verlor Handlung und Text
Umsonst Souffleuse Beba
Umsonst Höflinge und Ritter
Umsonst Taida die Schöne
König Simonides’ Tochter
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TIONS
Poesie
247
Der König stockt
Er stockt
Er schweigt
Und ich
Neunzehn Jahre später
Suche etwas vor der Kirche der heiligen Sophia
Ich weiß nicht was ich suche
Aber schließlich begreife ich
Dass ich das gleiche Schweigen suche
Und überlege wie es wäre
Wenn König Simonides wir nicht
Um jeden Preis zurückgeführt hätten
In die Handlung
In die Vorstellung
In den Text
Wenn wir ihn hätten schweigen lassen
Neunzehn Jahre gar
Wenn nötig
Vor der Heiligen Sophia
Wenn alles gestockt hätte
Vorstellung
Schauspieler
Publikum
Alles
Simonides
König von Pentapolis
Miloš Tripković
Leben würde der Schauspieler
Weder Shakespeare
Noch die Heilige Sophia
Hätten erlaubt
Dass er stirbt wie ein Hund
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RELA
Poesie
MIROSLAV KIRIN
TIONS
[1965]
Es ist früh am Morgen,
als eine nackte Frau auf dem Küchenboden kniet und betet
Es ist früh am Morgen, als eine nackte Frau auf dem Küchenboden kniet und betet.
Der Rauch aus dem Fernheizwerk steigt völlig senkrecht hoch.
Der Sopran aus Schnittkes Madrigal vermischt sich mit der Stimme eines
Kartoffelverkäufers auf der Straße, die von unten heraufdringt.
Die Kälte senkt sich vertikal hinab zur Wurzel einer vergessenen Balkonpflanze.
Als der Verkäufer gegangen ist, wiederhole ich jenes Madrigal, und die Stimme der
Frau scheint mir unerträglich einsam zu sein. Noch kurz vorher war sie mit ihm
zusammen, doch schon hat er sie verlassen.
Als wenn plötzlich die Stütze ihrer aufrechten Haltung verschwunden wäre,
zerbricht ihre Stimme,
ziellos
verliert sie sich waagerecht irgendwohin, völlig gleichgültig.
Warum betete die nackte Frau an einem Wintermorgen?
Ihre aufrechte Haltung in der Küche ist doch vollkommen ausreichend.
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RELA
TIONS
Poesie
IRENA MATIJAŠEVIĆ
249
[1965]
Der Schornsteinfeger
der schornsteinfeger war gekommen.
zuerst ein junger
er sah gründlich den boiler nach
sie haben das nicht, was denn
fragte ich. egal, sagte er
jetzt seh ich dass sie einen turbo-boiler haben
das bedeutet dass er alleine Luft rauslässt und reinholt
dann ging er und sagte es käm ein anderer,
ein kollege, ich solle unterschreiben.
ein kleiner rothaariger
mit hellen augen. ich behielt gut
seine gesichtszüge da ich ihn
ansah: er erzählte zwei witze.
aber zuerst fragte er mich sind sie allein
ich sagte, sonst nicht
aber jetzt ja.
dann fing er an:
von Štef der betrunken nach
hause kam. und wie er anklopfte
und Bara zu ihm sagte säufer, nichtsnutz
dann klopfte er wieder und an dieser stelle
klopfte er mit seiner schwarzen hand an die tür
und dann wieder: Štef, du kannst mich mal, du kommst nicht rein
und so ging das noch ein paar mal. dann sagte am ende
der Štef: aber ich klopf nicht mit der hand
da ließ Bara ihn rein.
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RELA
Poesie
TIONS
ich hab noch einen
sagte er nachdem ich
die klinke runtergedrückt hatte aber
dann kam noch einer: Ivica kommt nach hause und papa und mama
wollten sex haben da schicken sie Ivica, er soll
passanten zählen, für jeden bekommt er eine kuna. papa, da kommt
ein leichenzug,
das wird dich viel kosten, sagt Ivica, diese fickerei wird aber teuer
Foto: © Višnja Arambašić
er sagte, jetzt sind sie was rot geworden
nehmen sie’s mir nicht übel, ich mach gern spaß
aber zuerst die arbeit, die arbeit zuerst
vor der tür wartete
der junge schornsteinfeger, der schon an den chef gewöhnt war
obwohl er sich etwas wegen ihm schämte. wir wechselten einen blick.
dann gingen beide, der rote redete noch was
aber ich hörte nicht mehr zu
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TIONS
MILJENKO JERGOVIĆ
Poesie
251
[1966]
Ein Mensch singt nach dem Krieg
An den Tag, als ich aus dem Krieg kam, erinnere ich mich wegen der
Wanne voll heißen Wassers
Im alten Hotel an der dalmatischen Küste
Der Zimmerschlüssel hing an einem Messinggewicht, auf dem ein
Willkommensgruß stand
Auf den Gängen spielten Flüchtlingskinder, ein blonder Junge saß
Auf einem rosa Plastiktöpfchen, direkt neben meiner Zimmertür
Das könnte ein Engel sein, dachte ich dann ohne Zuneigung und Wärme,
Ich wollte keine Engel, ich wollte ein ordentliches Bad nehmen
In der Wanne voll heißen Wassers spürte der Körper solch einen Schmerz,
Der mich bei anderer Gelegenheit erschreckt hätte, aber ich wollte singen
So wie man das im Badezimmer tut, ein Lied, das wie jeder Zufall
Den Rest des Lebens bestimmen kann, ich hätte etwas anderes tun können
Die Pulsadern aufschneiden in der Wanne des alten Hotels an der dalmatischen Küste
Genau an dem Tag, als ich aus dem Krieg kam
Und niemand hätte sich nach den Gründen gefragt, es ist normal sich umzubringen
Nachdem das Leben nur noch dir gehört, ist es normal zu gehen
Wenn ich schon nicht singen werde, wird es morgen zu spät sein
Denn morgen ist nicht jener Tag
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RELA
Poesie
SIMO MRAOVIĆ
TIONS
[1966 – 2008]
***
Foto: © Višnja Arambašić
Gestern wurden Schüsse gewechselt in der Stadt.
Die Kugel traf Marko in den Kopf.
Er hatte keine Freundin.
Er war kränklich.
Und hartnäckig.
In seinem Leben.
Er hinterließ eine Mutter Garešnica.
Und uns paar Freunde.
Was sollen wir jetzt ohne unseren Marko tun.
Wir werden uns volllaufen lassen wie Schweine.
Und versuchen, alles zu vergessen.
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RELA
TIONS
Poesie
DAMIR RADIĆ
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[1966]
März 1944, japanisches Lager
australischer Gefangener
wegen tropengeschwüren
wurden vielen die beine
amputiert.
eines abends gab es
ein konzert;
ein schöner anblick: 12 einbeinige männer
sangen waltzing matilda und andere Lieder.
maden wurden ihnen auf die wunden gelegt,
die das tote fleisch fraßen.
die menschen waren bedeckt
mit erdöl und schmutz,
vier tage auf dem floß
und drei jahre in japanischer gefangenschaft.
mir fehlen die worte, um ihnen zu danken,
ich wünsche ihnen alles glück der welt,
und dass die japaner bekommen was sie verdienen
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RELA
Poesie
DRAGO GLAMUZINA
TIONS
[1967]
Frösche
Noch immer lieben sie sich. Obwohl schon viele Jahre vergangen sind.
Und viele Streitereien.
Nichts hat sich verändert, sagt er.
Nur dass wir jetzt ein Auto haben und wir müssen nicht
in Parks frieren, antwortet sie.
Sie sahen einen Film, in dem Frösche vom Himmel fielen,
ein richtiger Froschregen, der durch die Autodächer drang,
während er sie an der Hand hielt.
In der anderen Hand hielt er das Handy, bereit auszusteigen,
sobald seine Frau anriefe. Und in der Stille des Flurs zu lügen,
dass er noch nicht fertig sei mit der Arbeit.
Später, im Auto, sagte er,
das sei nicht in Ordnung. Mit ihr ins Kino zu gehen,
und in der Hand krampfhaft das Handy zu halten.
Seine Frau zu belügen.
Zu warten, dass Frösche herunterfallen.
Aber sie hörte nicht, was er sagte.
Sie wühlte in der Tasche und suchte krampfhaft ihr Handy.
Als sie es gefunden hatte, stotterte sie: Mama kommt bald,
mein Liebling, ... ich weiß, dass du keine Angst hast.
Und dann gingen sie zum See
und parkten zwischen zwei Bäumen.
Als er sich auf sie legte, sah sie auf die Uhr, griff
nach der Tasche und begann darin zu wühlen, aber er ließ sich nicht beirren.
Nicht einmal als sie eine Lexaurin herausnahm und sie schluckte.
Diesmal wird mich nichts hindern,
dachte er. Und presste sich in sie hinein.
Nicht einmal als am Fenster zwei Voyeure auftauchten
mit ausgestreckten Zungen und aufgeknöpften Hosen.
Er dachte, er hielte Frösche in den Händen,
hörte aber nicht auf, sich hineinzupressen
in sie. Aber dann klingelte
sein Handy. Ich bin auf dem Nachhauseweg,
sagte er. Aber er hörte nicht auf,
sich in sie hineinzupressen.
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RELA
TIONS
Poesie
TOMICA BAJSIĆ
255
[1968]
Kardinal Kuharić
am Telefon 9827
Es ist Heiligabend
und eine Bande von Säufern degustiert Šipon und
Silvaner im illegalen Weinkeller auf dem Friedhof
Plastik- und Glasflaschen aller Dimensionen werden gefüllt
und Autos stürzen über Straßenränder
heute Abend wenn die gläsernen Knochen der Alten rauschen
in der Kirche ist Durchzug denn jemand ließ
die Tür auf
die alten Weiber ärgern sich zu Recht
es wird gezählt wer mehr Lämpchen anzündete
würde ich auch wenn ich alt wäre
Lämpchen anzünden und mich
dumm stellen
man sagt dieser vorweihnachtliche
Konsumrausch
sei vom materialistischen Westen eingeführt worden
und es ginge verloren der Sinn
jenes heiligen Tages als das Wort zu Fleisch wurde
doch mir scheint am schlimmsten ist es
dem Geflügel ergangen das reihenweise
geköpft wurde
vor sechs Jahren fütterte man uns
mit gebratenen Ochsen
und jetzt bereitet man uns ein Massenspektakel
mit kostenlosen Würsten
und Popstars
auch Tito fütterte uns
mit einem Schweinskopf den er
vom Speicher gestohlen hatte
und davon tat uns noch lange
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256
RELA
Poesie
TIONS
Foto: © Višnja Arambašić
der Bauch weh
es beginnt zu schneien und auch ich
bin betrunken wie alle anderen ehrlichen
Kroaten
unser Weg in die Zukunft heißt
Nationalhumanismus
– Stillleben
mit Schweinskopf
– der Pharao
atmet tief im Frieden
seines Winterpalastes
erwägt vielleicht wieder einen Racheakt
und Kardinal Kuharić ist am Telefon 9827
– nur die Aufnahme einer Weihnachtsbotschaft –
antwortet nicht auf Fragen.
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RELA
TIONS
Poesie
TOMISLAV ČADEŽ
257
[1969]
Unterwegs nach Perjasica
Die dürre Alte ließen sie im Bett liegen,
Tattergreise sind nicht für die Flucht,
sie ist schwerer als sie wert ist.
Ich stieg vom Panzer,
dem lärmenden 55-er,
fiel ins Haus,
sie schiss vor Angst,
da stank sie noch mehr,
zerfressen von der Zeit,
in den besten Jahren war sie gewesen während
des Massakers im vorigen Krieg.
Ich lese in ihrem gläsernen Blick,
der sendet das Geschichtsprogramm:
Ödland, das blutige Kleid,
Kleid, Grenzgebiet,
Mehos Zustand während des Schlachtens der Ustaschas
und die orthodoxe Kirche von Glina
und Gudovci und Gradiška Stara
und Hrvatski Blagaj
und Šaranova jama,
Jadovno, Jadovno, Jadovno,
Jasenovac,
Pag,
ag,
g.
Sie glaubt mir nicht ...
„Mütterchen, ich bin kein Ustascha,
und wenn ich auch einer wär, ich würd dich nicht abschlachten,
alles wird gut, Mütterchen.“
Ich bin bewaffnet, stinke nach verschossener Munition,
fühle mich ungemütlich, habe ein Messer im Gürtel,
ich lasse ihr eine Feldflasche mit Wasser zurück, wer weiß,
ob sie bis zum Winter noch leben wird,
mit gefrorenem Herzen
auf einem Kissen verbrannter Heimat.
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258
RELA
Poesie
ROBERT PERIŠIĆ
TIONS
[1969]
Die Rückkehr des Drachens
Vor etwa fünfzehn Jahren
meldete er sich zum ersten Mal
im Karateklub an,
denn er mag es nicht, wenn ihn jemand
im Vorübergehen anrempelt,
das geht ihm wirklich auf den Wecker,
aber
nach ein paar Trainingsstunden
verliert er immer wieder die Lust,
dann wird er faul,
kommt nicht wieder,
bezahlt die zweite Rate
nicht mehr
Alle zwei, drei Jahre versucht er es von Neuem,
und so erscheint er auch diesen Oktober
mit dem Kimono in einer Sporttasche,
die früher mal in war
Seit langem
hat er einen guten Draht zum Trainer,
sie sind etwa gleich alt,
und der treibt ihn nicht an,
reine Freizeitgestaltung,
Herbstanfang
Der Saal in der Vorstadt
riecht nach Leere, es hallen
Rufe
Noch immer hat er den weißen Gürtel,
vielleicht, darum
ich weiß nicht, warum,
bekommt er eine Sparringpartnerin,
eine Kleine mit großen Titten
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Die ganze Zeit passt er auf,
dass er sie nicht schlägt
auf die Titten,
sie aber hat ihn
einmal,
zweimal,
dreimal
wirklich was auf die Fresse gegeben
Füße und Fäuste
der Kleinen mit den großen Titten
treffen ihn
durch die Hohlorgane
bis er verzichtete
auf die zweite Rate
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RELA
TIONS
IVICA PRTENJAČA
Poesie
259
[1969]
Donauwellen
Es ist Samstag und
meine Nachbarin verheiratet ihre Tochter.
Unbekannte und fröhliche Leute erobern
alle Durchgänge
zu meiner Wohnungstür,
nehmen alles, womit sich meine
Einsamkeit nährte,
das Rauschen der Schatten
Gerüche, den Zufall, alles was
etwas wert ist
in diesem Gebäude.
So wird auch sie mir genommen werden.
So etwa denke ich
über die Heirat meiner Nachbarin
Tochter.
Jemand klingelt, und im Guckloch
dehnt sich ein bekanntes Gesicht.
Herr Nachbar,
etwas Kuchen,
Donauwellen,
die Großmütter brachten ...
Ich sage nicht danke,
schließe die Tür und halte in der Hand
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den kleinen Kristallteller,
im Treppenhaus Musik,
Stimmengewirr und ein Volkslied, das,
da bin ich sicher, obwohl ich es nicht sehe,
meiner Nachbarin Tränen
in die Augen steigen lässt.
Ich bringe die Wellen ins Zimmer,
die Wintersonne bricht sich im Kristall,
verwundert
über die Schönheit der Szene,
spüre ich wieder
Angst
Schrecken
Tod
ich blicke auf die Strudel der Donau,
als wenn jemand sehr rasch
eine Tasse schlechten Kaffees rührt,
und stehe auf der Brücke und warte,
dass er sich auflöst,
der Zucker des Augenblicks,
dass die Hochzeitsgäste in die Kirche gehen,
dass die Kinder die zertretenen Bonbons
auf dem Parkplatz aufsammeln.
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260
RELA
Poesie
TVRTKO VUKOVIĆ
TIONS
[1969]
Kartographie
Ich lag auf einem langgestreckten bronzefarbenen Felsen.
Die azurblauen Küsten meines Todeskellers
Wurden besucht von winzigen Madonnen mit großen
Milchigen Brüsten, während ich, der ich kein Geld hatte
Für kleine süße gottgefällige Perversionen,
Kohlen auslud für Arme und Reiche,
Tag und Nacht an den Schlund dachte, der mich
Vor dem ausgebreiteten topographischen Bild meines
Gehirns verschlucken würde. Die Bisse der Großen Mutter
Rochen nach schimmligem Staub,
der von der Zimmerdecke auf uns fiel,
Die sich enthaltenden Schüler von Körper und Tod
Wahrlich, jene Jahre waren ein kartographisches
Handbuch für Reisende, die nicht wussten,
Wohin sie sich wenden sollten, denn das Grauen lauerte
in allen schleimigen Löchern des Alls.
Der eine oder andere fleckige Augenblick der Einsamkeit
Wurde unterbrochen von des Trainers Ruf
Oder dem Tosen der Tribünen, das den Ohren entgeht,
Solange bis der Schiedsrichter das Spiel abpfeift.
Ich lag auf dem Bett,
Unter dem Arm wuchs mir
Eine Kiefer, deren Nadeln bedeckten
Die ununterbrochenen Angriffe Marias.
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RELA
TIONS
261
Poesie
ERVIN JAHIĆ
[1970]
Gebet
Jetzt schläft in der Wiege Iman, voll des
Glaubens an den Schlaf. Mirza schlich sich
Unter das Haar und die Hände, nahm sich die Liebe
Mamas. Aida sorgt auch im Schlaf sich
Kümmert sich um alles.
Ich, Wirt des Daches, betrachte sie zu später
Nachtzeit und bitte den hehren
Gott um Gnade
Foto: © Višnja Arambašić
Gegenüber Seinen
Statthaltern auf Erden.
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RELA
Poesie
SLAĐANA BUKOVAC
TIONS
[1971]
Die Tage, an denen wir Tabak ernteten
Wir mussten so früh aufstehen,
dass man sich schwer vorstellen konnte, dass es um diese Zeit die Welt überhaupt gab
obwohl sich die Erde von Amts wegen um die Sonne drehte
konfrontiert mit Pflanzen, die sich in ordentlichen Reihen
irgendwo am Horizont verlieren
fühlten wir uns wie angeschmiedet, gebrandzeichnet
und außerordentlich günstig gekauft
und dann verfrachtet in dieses Klima
das so ungerecht ist, dass es verhinderte,
dass wir flockige Baumwolle pflücken
sondern stattdessen Tabak
von dessen Blättern voller Teer
wir schon nach einer halben Stunde klebrig und schwarz waren,
bereit, uns zu federn und verbrennen zu lassen
die Hitze brach wieder halbe Jahrhundertrekorde
und wir konnten sie schon gar nicht mehr zählen,
die geleerten Flaschen Bier
wir schütteten uns Eimer voll Wasser über den Kopf
manchmal zischte es
als wenn man ein Schnitzel in heißes Öl legt.
Nach einigen Stunden, in denen es schien als könnten wir es nicht aushalten
so durchgeistigt und unnütz,
befanden wir uns in einem hypnoseähnlichen Zustand
bemerkten nichts mehr außer Blättern, die gelb genug sind,
dass die Hand nach ihnen griff
wir verneinten völlig den Schmerz im Rücken
die Sonne, die keine Eile hat
die Erde, die rissig geworden war und auf Regen wartete.
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RELA
TIONS
Poesie
263
Dann fuhren wir im Anhänger des Traktors zum Haus des Plantagebesitzers
wo eine Mahlzeit auf uns wartete
eine Suppe in einer, für diese Gelegenheit, Schüssel aus Porzellan,
riesige Scheiben Brot,
Fleisch, Kartoffeln, Tomaten, Gurken
und wieder Bier.
Nach der Auszahlung des Tagelohns
schleppten wir uns mit Hilfe des Mondscheins zur Insel im Fluss
wo wir sämtliche Kleider auszogen
zu müde und zu vertraut für Konventionen,
wir sammelten Zweige in der Umgebung
für den Mais den wir nebenbei gestohlen hatten
und begannen dann eine gründliche Säuberung
der Teer mochte besonders
die Haare am Kopf und an den Armen
die sich zusammen mit ihm vom Körper lösten
und dabei einen starken Schmerz hervorriefen.
Nachdem alles fertig war
und wir noch ein, zwei Kilometer geschwommen waren
setzten wir uns nackt ums Feuer
in dem die Maiskolben schon fast gebraten waren
und zündeten uns jeder eine Zigarette an.
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264
RELA
Poesie
TATJANA GROMAČA
TIONS
[1971]
Am wichtigsten ist es, Ruhe zu bewahren
Als ich die Straße entlang ging,
sah ich einen Typen aus dem Auto steigen
mit einem Revolver in der Hand.
Er steckte ihn in die Tasche seiner Trainingshose.
Genau in dem Augenblick
schnallte er, dass ich ihn beobachtete.
Er sah mich bösartig an,
so: dich werd ich auch umbringen, Schlampe.
Schnell blickte ich fort.
Ich tu so, als hätte ich einen Blumenstrauß gesehen,
und keine richte Pistole.
Am wichtigsten ist es, Ruhe zu bewahren.
Im nächsten Augenblick war es mir egal.
Ich wartete, dass mir die Kugel in den Rücken fliegt.
Als wenn mich etwas gejuckt hätte,
und sie mich nur kratzen würde.
Ich blickte auf den Mond oben am Himmel.
Es war Vollmond.
Die Zeit war völlig O. K. zum Sterben.
Ich fühlte mich irgendwie so, als ob ich abgeschlossen hätte
mit meinem Leben.
So ausgeglichen, gebadet und mit geputzten Zähnen,
vor dem Schlafengehen.
Die Leute trugen Fernseher und alte Möbel vors Haus.
Eine richtige Invasion schwitzender Typen
in Unterhemden und Hauslatschen,
die schweigend alles auf dem Rasen abluden,
all das rostige verzinkte Eisen, das verchromte Aluminium
und Anderes.
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RELA
TIONS
265
Poesie
Es sah so aus,
als ob auch sie mit ihrem Leben abgeschlossen hätten.
Sie mussten nur noch den alten Kram aus den Wohnungen werfen,
dann kann der Typ mit dem Revolver in der Trainingshose kommen,
um sie alle der Reihe nach abzuknallen.
Wahrscheinlich hat der Kerl Mitteilungen an
die Hausverwalter verschickt
Ich morde bei Ihnen zu Hause.
Vor dem Tod sind alle alten Möbel aus den Wohnungen zu werfen.
Foto: © Višnja Arambašić
Dort hinten,
beim zweiten Hochhausblock,
spielen die Kids Verstecken.
Sie ahnen überhaupt nicht, dass hinter mir
ein Onkel mit ’ner Knarre in der Unterhose rumläuft.
Wen findest du besser, Martina oder Mirela?
Fragt ein Mädel ein anderes,
während sie rennen, um sich zu verstecken.
Ich hörte nicht, was die andere antwortete.
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266
RELA
Poesie
KREŠIMIR PINTARIĆ
TIONS
[1971]
Was Danijel Dragojević sagte
als die aufnahme fertig war,
lud Dragojević uns – Krešimir
Zlatko und mich –
zu einer tasse kaffee ein.
ich glaube es gelang mir
relativ normal auszusehen
obwohl ich ausgesprochen nervös war
und gründlich unausgeschlafen.
mit anderen worten:
vollkommen unfähig für irgendein gespräch.
ich hoffte dass das als schweigsamkeit ausgelegt würde
und nicht als unhöflichkeit.
als ich nach hause zurückgekommen war
legte ich mich sofort ins bett.
trotz müdigkeit
konnte ich nicht einschlafen.
ununterbrochen erinnerte ich mich an teile des gesprächs.
nach einiger zeit gab ich es auf:
ich erhob mich
setzte mich an den tisch
und beschloss aufzuschreiben was Danijel Dragojević gesagt hatte.
er sagte
ein kluger mensch hat keine angst vor
dummheit.
er sagte
die angst vor dummheit ist immer größer
in kleineren orten.
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RELA
TIONS
Poesie
267
er sagte
es ist am schwierigsten ein gedicht zu schreiben
das jeder schreiben könnte.
er sagte
in den meisten texten unserer autoren fehlt die wirklichkeit
und das rührt daher weil es in diesen gegenden sehr wenig davon gibt.
er sagte
es ist ganz normal dass man langeweile empfindet
wenn man beginnt literaturkritik zu lesen.
er sagte
erfolg ist nicht etwas wonach wir
streben sollten
sagte er.
in einem moment spürte ich dass ich einschlafen könnte
also ging ich zurück ins bett.
ich schloss die augen und sah
Dragojević Krešimir Zlatko und mich
am tisch sitzen:
sie sehen aus wie drei normale personen die sich unterhalten und kaffee trinken
auch ich trinke meinen kaffee und rauche – eine nach der anderen – Zlatkos zigaretten.
dann fiel mir das interview ein das Peter Bogdanovich
mit John Ford aufgenommen hatte
und ich lachte lautlos.
danach
verschwand das bild allmählich
und kurz bevor ich einschlief
hörte ich eine bekannte stimme die sagte
Danijel
du bist zu geduld verurteilt.
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268
RELA
Poesie
EVELINA RUDAN
TIONS
[1971]
Ich backe Brot
Jeden Tag backe ich Brot.
Zuerst knete ich es durch
und beobachte, wie meine Hände im Mehl versinken,
im Mehl und im Wasser.
An meinen Nägeln,
an ihrer Innenseite,
entsteht während des Knetens, Quetschens und wieder Knetens
ein dünner Teigrand.
Der dünne Teigrand, einem winzigen, schmalen Halbmond ähnelnd,
presst sich zwischen Nägel und Haut
und wohnt dort, bis ich sie wasche.
Ich habe begonnen, diese Zeit zu verlängern,
die Zeit zwischen dem Kneten und dem Händewaschen:
ich setze mich an den Tisch, während der Teig aufgeht,
und warte.
Dann knete ich ihn wieder und warte wieder
und fette die Form ein
und lege ihn hinein
und schiebe ihn in den Backofen.
Und noch kratze ich das getrocknete
dünne Rändchen nicht ab.
Ich kratze es nicht ab, denn es erinnert sich an mich.
Es erinnert sich an mich, so wie angeblich das Wasser sich erinnert,
so wie der Morgen sich erinnert,
so wie die duftenden Kräuter sich erinnern,
auf denen ich lag,
bedeckt mit einer blauen Jacke.
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RELA
TIONS
TOMISLAV ZAJEC
Poesie
269
[1972]
das lied von žana
das lied von žana ist ein trauriges lied, denn žana ist ein trauriges mädchen. sie lebt
mit einer pistole unter dem kopfkissen und hat angst vor tropenmäusen. die vororte
südafrikas können gefährlich sein – schreibt sie mir in briefen, in denen ich weder
anfang noch ende erkenne. ihre aufzeichnungen sprechen von trauer und einsamkeit
und dass ihr als kleines mädchen nur figuren aus sand gefielen. žana ist missionarin in
afrika, oder sagte ich das schon? sie heilte pablo, sie half müden soldaten, sie tränkte
gazellen und schrieb lange briefe, länger als zagorkas romane. und als tolstois. briefe,
so traurig wie zerstörte kirchen in addis abeba, halb versiegte tränken für nilpferde,
ein leeres erste-hilfe-schränkchen. žana, ich werde dir gaze schicken ... o, wenn du nur
wüsstest, wie die nächte in afrika fließen und wie die sonne unendlich lange untergeht und
wie ihr widerschein tagelang auf den gesichtern meiner kleinen schwarzen andauert, wenn
du nur wüsstest, wie. danach blieb alles still, danach regnete es bei uns viel, während
in der steppe trockenheit und tiersterben herrschten. da dachte ich, sie sei gestorben,
als sie den grauen zebralein ihre letzte feldflasche wasser gab, die fleischfressenden
pflanzen umarmte. und alles erledigten wir, ihre schwestern und ich. die messe und
die schnittchen – wie das schon so geht. aber dann kam noch ein brief – lieber tomo,
wieder bin ich traurig, blablabla ...
oh. und in jenem augenblick wusste ich, dass alles in bester ordnung ist. fast
unverschämt super.
GERADEZU PHANTASTISCH!
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RELA
Poesie
DORTA JAGIĆ
TIONS
[1974]
Weibliche Schreibe
es wurde allmählich zeit, meiner braunen freundin den schirm zurückzugeben,
leider ungelesen.
ich rief sie an, ging dann in den Maksimir
und setzte mich auf jemandes träne.
während ich auf sie wartete, ließ ich mir durch die löchrigen lider
ihre bleiernen tittchen reisen,
die ich mir an allerseelen unter die zunge ordne,
damit sie mir im laufe des jahres nicht hölzern ist.
schließlich ist auch sie gekommen.
ungeschminkt und ganz wie eine geröstete kastanie.
beim zeichen des ersten stares
zogen wir rasierklingen unserer kerle aus der tasche
und ritzten uns plaudernd ins handgelenk. bis zum morgengrauen.
mit den fingern schrieben wir aufs morgengrauen:
um zu spüren, dass ich lebendig bin, und schliefen ein.
am morgen stieg aus der sonne so kalt
der rauch in die kleinen häuser der psychiatrie,
dass wir auch jetzt schwarze streifen über die augen kleben,
voir selbstmörder in den zeitungen,
bibeln.
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RELA
TIONS
OLJA SAVIČEVIĆ IVANČEVIĆ
Poesie
271
[1974]
***
es ist sonntag, und sie kommt. die oma aus der stadt. sie hat einen goldzahn.
sie hat ein schönes kleid. sie hat weiches haar. duftendes.
sie hat einen spitzigen büstenhalter. sie hat durchsichtige strümpfe.
alle sagen: deine oma ist eine schönheit. das erste mal heiratete sie mit siebzehn,
das zweite mit sechsundzwanzig.
ich höre das erste klappern des absatzes auf der treppe. und dann flink über die
vierzig stufen unseres hauses.
nie sage ich zu ihr: ich mag nicht.
ich mag es, wenn man mir sagt: du hast omas lächeln. und ein muttermal
auf der rechten wange.
***
es ist altweibersommer, ich trage meine tochter in den park. ihre füße hängen schon
unter meinen knien, aber ich gebe nicht auf. wir gehen nach sustipan, zum alten
friedhof, eichhörnchen suchen. wenn ich müde werde, lasse ich sie runter, sie lief
auch früher schneller als ich.
ich vergöttere diese tochter, ihr seidenköpfchen, die fülle an kindheit, die straßen
breiter als die, in denen ich rennend aufwuchs, die welt mit mehr bewegungsfreiheit,
eine reichere.
der altweibersommer beginnt mit einer langen reihe von nachmittagen vollgestopft
mit zeit für uns.
die gemeinsamen jahre erstrecken sich träge unter meinen Knien.
erlaube mir, dich zu tragen, bis du den boden berührst. du bist zweifellos die schönste.
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RELA
Poesie
BOJAN RADAŠINOVIĆ
TIONS
[1975]
***
mein vater hieß marko
und er starb 1982
ich ging mit meiner mutter
ein paar mal zu seinem grab
und sie wollte es mir
so leicht wie möglich machen
wir hatten einen ocker renault 12
und aßen spanferkel
in lasinja
von allem erinnere ich mich am deutlichsten
an den orthodoxen friedhof
mit kyrillischen inschriften
und äpfeln auf den grabmalen
und den mit gras überwucherten grabhügeln
auf die wir hingewiesen wurden
es seien gräber
die verwandte zeigte mir
fotografien meines toten vaters und des leichenschmauses
und meine mutter ärgerte sich über sie
weil sie mich aufregte
der fußboden im haus
bestand aus gestampfter erde
vaters mutter hatte merkwürdige zähne
und sprach merkwürdig
den teller trug sie mit beiden händen
und ging langsam dabei
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RELA
TIONS
BOJAN ŽIŽOVIĆ
Poesie
273
[1975]
Der Freund aus Sarajevo
Ich habe einen Freund in Sarajevo
Igor Banjac
Wir treffen uns selten
Und sehen uns noch seltener
Ich schulde ihm einen Kasten Bier
Ich erinnere mich an seine Erzählung
Gedenkzentrum Miljenko Jergović
Eine sehr gute Erzählung
Einmal bewirtete mich Igor
In Sarajevo
Bei einem literarischen Empfang
Damals lernte ich auch seine Frau Fernala kennen
Mit der ich nichts hatte
Igor führte mich ins Baybook
Um mir zu zeigen dass Sarajevo eine Buchhandlung hat
In der man trinken kann
Ich hoffe dass man das noch immer kann
Wir gingen auch Ćevapi essen
Tranken türkischen Kaffee
Sprachen über kluge Dinge
Darüber wie ich in Pula lebe
Und er in Sarajevo
Und wie groß die Entfernung zwischen den beiden Städten ist
Luftlinie
Igor sagte mir es gäbe einen Morgenzug
Nach Zagreb
Er fährt morgens
Vom Hauptbahnhof ab
Der Morgen in Sarajevo überraschte mich
Und dann betranken wir uns
Er kam zu schnell
Ich blieb im Bett
Dann schrieb Igor für die Zeitschrift
Žiža verpasste den Zug
Ich wollte ihm sagen dass man mich Žižo nennt
Und nicht Žiža
Aber ich brachte es nicht übers Herz
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274
RELA
Poesie
TIONS
Poetisches Treffen in Bijelo Polje
In Bijelo Polje
In Montenegro
War ein poetisches Treffen
Du setzt dich ins Flugzeug in Ljubljana
Steigst aus in Podgorica
Zum ersten Mal reist du mit dem Flugzeug
Also weißt du nicht wo du dein Gepäck abholst
Läufst über die Piste
He, wohin
Ruft der Gendarm mit dem Maschinengewehr in der Hand
Mein Gepäck holen
Komm, da rein
Da ist das Gepäck
Du nimmst die Tasche
Die Sporttasche
Die richtig poetische
Verlässt den Flughafen
Und wartest
Dann erscheint Goran
Und stellt sich vor
Du setzt dich ins Auto das er fährt
Er fährt als wäre er bei einer Rallye
Zweihundert Stundenkilometer
Du hältst in einer Straßenkneipe
Trinkst ein Bier
Dann ein zweites und das dritte halb
......... und fährst weiter
Zweihundert Stundenkilometer
Eine Kurve nach der anderen
Du denkst, ein Flugzeug ist besser als der alte Golf
Vielleicht auch nicht
Die Tafel der Stadt Bijelo Polje
Endlich
Und in der Stadt wohnt Bürgermeister Tarzan
Er reicht dir die Hand
Tarzan Milošević
Aber nicht jener Milošević
Und lacht
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RELA
TIONS
SAŠKA ROJC
Poesie
275
[1977]
Das kleine Mädchen, das sie befummeln
Foto: © Višnja Arambašić
ihr alle seid in der pubertät während des sommers gewachsen. nur die jungen und ich
sind kinder geblieben. warum springen die jungen auf euch herum wie die irren, drei, vier
auf eine? warum schimpft ihr und kreischt, macht manchmal ein weinerliches gesicht,
sagt es aber nie der klassenlehrerin oder pädagogin? ich werde sie bei der pädagogin
verpetzen. ich werde sie verpetzen, alle werde ich sie verpetzen! sie wird denken, dass
ich auch ein kleines mädchen bin. das sie befummeln.
jeden abend werde ich mein ganzes wachsen auf die titten richten.
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276
RELA
Poesie
IGOR ŠTIKS
TIONS
[1977]
Die Anlegestelle
Die Überschwemmung ist dir nachgelaufen
Du sahst, wie sie an einem trüben Frühlingstag
in das schöne haussmannsche fünfstöckige
Gebäude auf dem Boulevard Saint-Michel drang
Du riefst den Leuten zu, sie sollten sich in Sicherheit bringen,
sie wäre da
sie sollten Sand in Säcke füllen,
sie sollten sofort auf die Dächer steigen
und in Richtung Pont Mirabeau blicken,
von der sich Celan hinunterwarf
mit Erinnerungen aus der Bukowina
statt mit Steinen in der Tasche
Du verbreitetest Panik,
deine Stimme auf Französisch
klang, als gehöre sie nicht dir,
aber du fuhrst fort wirr zu reden
Später wurdest du mit Pastis
und feuchten Tüchern beruhigt
Ein Mädchen aus dem Komitee
zum Schutze mündlicher Überlieferung
hielt deinen Kopf zwischen ihren Händen
und erzählte dir Geschichten von bretonischen Nächten,
bis du einschliefst
Dabei warst du dir der Wellen nicht bewusst,
die unermüdlich auch an diesem Ufer nagen.
Etwas Ähnliches ereignete sich
mitten in einer Nacht in Chicago
Du hörtest die Feuerwehr
Du hörtest das Zivilschutzauto
Der Michigan-See schaukelte gefährlich
Die Sirenen waren bis weit zu hören,
bis zu den gelben Feldern von Midwest
und der Lutherkirche auf dem Berg in Iowa
Du wusstest, dass jemandem
das Wasser bis zum Hals steht,
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RELA
TIONS
Poesie
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aber du schliefst ruhig weiter
auf dem höchsten Stockwerk
Du wusstest, dass du noch einige Tage Zeit hast
und riefst nicht 911 an
du wolltest niemanden retten
wie damals in Paris
Das W