Masterarbeit - Zentrum für Genderforschung

Transcrição

Masterarbeit - Zentrum für Genderforschung
Tochter-Vater-Beziehungen in der Oper
dargestellt am Beispiel von Richard Wagners Walküre und
Richard Strauss‘ Elektra
Masterarbeit
zur Erlangung des Grades
Master of Arts
im interuniversitären Masterstudium Musikologie
Karl-Franzens-Universität Graz
vorgelegt von
NADINE SCHARFETTER
am Institut für Musikästhetik
Universität für Musik und darstellende Kunst Graz
Betreuerin: Priv.-Doz. Dr.phil. M.A. Christa Brüstle
Graz, 2013
Kurzfassung
Obwohl in unzähligen Opern Tochter-Vater-Konstellationen zu finden sind, wurden
diese in musikwissenschaftlichen Studien bisher nur wenig thematisiert. Im Hinblick
auf das 19. Jahrhundert beschränken sich Forschungen diesbezüglich meist auf die
Werke Verdis. In der vorliegenden Arbeit werden die Tochter-Vater-Beziehungen in
Richard Wagners Walküre und Richard Strauss‘ Elektra analysiert. Es wird erörtert, wie
die Beziehungen zwischen Vätern und Töchtern dargestellt werden, und inwiefern diese
Beziehungen die Verhältnisse zu anderen Figuren beeinflussen. Für die Erarbeitung der
Fragestellungen werden zunächst die Textebene und die musikalische Ebene getrennt
voneinander analysiert, um festzustellen, wie die Beziehungsverhältnisse jeweils
dargestellt werden. Hierbei werden die textliche Umsetzung mittels Aussagen,
Handlungen und Gesten sowie die musikalische Umsetzung mit Hilfe von Motiven und
anderen kompositorischen Mitteln betrachtet. Um ein vollständiges Bild zu erhalten,
werden die beiden Analysen im Anschluss verglichen und zusammengeführt.
Abstract
So far, little attention has been paid to daughter-father relationships in musicological
research, although it is often subject of operas. Regarding the 19th century, most studies
are restricted to operas by Verdi. Therefore, the present paper analyses father-daughter
relationships in Richard Wagner’s Valkyrie and Richard Strauss’s Elektra. The paper
discusses the representation of relationships between fathers and daughters and to what
extent they influence relationships to other characters. To work out the aims of this
paper, in a first step, text level and musical level are analysed separately, to determine
each representation of the relationships individually. For this purpose, textual realisation
via statements, actions and gestures, as well as the musical realization by means of
musical motifs and other compositional means are considered. In a second step, both
analyses are finally compared and combined.
1
Inhaltsverzeichnis
Kurzfassung ...................................................................................................................... 1
Abstract ............................................................................................................................. 1
1
Einleitung .................................................................................................................. 4
2
Richard Wagners Walküre ...................................................................................... 12
2.1
Entstehungsgeschichte ..................................................................................... 12
2.2
Analyse der Textebene ..................................................................................... 14
2.2.1
2.2.1.1
Wotan ................................................................................................ 14
2.2.1.2
Brünnhilde ......................................................................................... 19
2.2.1.3
Die Beziehung zwischen Wotan und Brünnhilde ............................. 26
2.2.2
Die Walküren .................................................................................... 37
2.2.2.2
Sieglinde ............................................................................................ 42
Fricka ........................................................................................................ 44
Analyse der musikalischen Ebene ................................................................... 47
2.3.1
Aspekte zur Einführung ............................................................................ 47
2.3.2
Musikalische Analyse ............................................................................... 50
2.4
3
Wotans andere Töchter – Brünnhildes Schwestern .................................. 37
2.2.2.1
2.2.3
2.3
Brünnhilde und Wotan ............................................................................. 14
Zwischenfazit ................................................................................................... 64
Richard Strauss‘ Elektra.......................................................................................... 66
3.1
Entstehungsgeschichte ..................................................................................... 66
3.2
Analyse der Textebene ..................................................................................... 68
3.2.1
Elektra....................................................................................................... 69
3.2.2
Chrysothemis ............................................................................................ 77
3.2.3
Agamemnon und seine Töchter ................................................................ 79
3.2.4
Die Beziehung beider Schwestern zueinander ......................................... 81
3.2.5
Die Beziehungen der Schwestern zu anderen Personen ........................... 85
2
3.3
3.2.5.1
Klytämnestra und ihre Töchter .......................................................... 85
3.2.5.2
Orest und seine Schwestern............................................................... 89
Analyse der musikalischen Ebene ................................................................... 91
3.3.1
Aspekte zur Einführung ............................................................................ 91
3.3.2
Musikalische Analyse ............................................................................... 93
3.4
Zwischenfazit ................................................................................................. 108
4
Fazit ....................................................................................................................... 110
5
Literarturverzeichnis ............................................................................................. 115
Verzeichnis der verwendeten Partituren ................................................................... 123
3
1
Einleitung
Neben den realen Tochter-Vater-Beziehungen, wie auch immer diese tatsächlich
ausgesehen haben mögen, findet man in der Kunst des 19. und beginnenden 20.
Jahrhunderts Werke, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen. Sucht man
beispielsweise in der Oper nach Werken, welche die Beziehung zwischen Vater und
Tochter thematisieren, stößt man unweigerlich auf Giuseppe Verdi. In Rigoletto führt
die Liebe des Vaters zu seiner Tochter Gilda so weit, dass er sie im Haus verborgen
hält, um sie zu schützen und die Kontrolle über ihr Leben zu behalten. Sein
Besitzanspruch gegenüber Gilda führt am Ende sogar so weit, dass sich Gilda aus Liebe
zum Herzog von Mantua in den Tod stürzt, um diesen zu retten. Getötet wird sie dabei
von dem Mann, den Rigoletto beauftragt hatte, um den Herzog von Mantua zu töten, da
dieser Gilda entehrt hat. Die titelgebende Tochterfigur Luisa Miller wird damit
konfrontiert, sich zwischen dem Mann, den sie liebt, und ihrem Vater zu entscheiden.
Schließlich muss sie ihre Liebe verleugnen, um ihren eingesperrten Vater vor dem Tode
zu retten. Auch in Albert Lortzings Der Waffenschmied begegnet man einer TochterVater-Konstellation. Hier versagt der Waffenschmied seiner Tochter aus Trotz die
Vermählung mit dem Mann, den sie liebt, und will sie stattdessen, nur um eine Wette zu
gewinnen, mit einem anderen Mann verheiraten. Nach einer List lässt er sich am Ende
schließlich doch erweichen.
Obwohl es durchaus musikalische Werke gibt, in denen eine Tochter-Vater-Beziehung
thematisiert wird, gibt es nur wenige wissenschaftliche Beiträge, welche sich mit dieser
Thematik auseinandersetzen. In der vorliegenden Arbeit soll deshalb die Tochter-VaterBeziehung in Richard Wagners Walküre und Richard Strauss‘ Elektra untersucht
werden. Erörtert wird zum einen, welche Beziehung die Väter und Töchter in den
beiden Werken zueinander aufweisen, und zum anderen, ob und inwiefern diese ihre
Beziehung zu anderen Personen beeinflusst. Um die Fragestellungen ausführlich
erarbeiten zu können, wird zunächst die Textebene herangezogen. Dabei wird überprüft,
in welcher Art und Weise sich die Tochter-Vater-Beziehung und die Beziehung zu
anderen Personen in den Aussagen, Handlungen und Gesten der Protagonisten und
Protagonistinnen direkt, aber auch indirekt äußeren. Anschließend wird anhand von
musikalischen Analysen erörtert, inwiefern die Beziehungskonstellationen musikalisch,
4
durch Motive, Instrumentierung und so weiter, umgesetzt und dargestellt werden.
Abschließend werden die Ergebnisse der Text- und Musikanalyse zusammengeführt,
um festzustellen, ob die Darstellungen der Tochter-Vater-Beziehung in den beiden
Ebenen übereinstimmen, gemeinsam erst ein vollständiges Bild ergeben oder
möglicherweise gar kontrastieren.
Beschäftigt man sich mit Familienstrukturen und dem Leben von Kindern innerhalb
einer familiären Gemeinschaft im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, kann man
unmöglich von einer vorherrschenden Struktur sprechen. Auch wenn eine lokale
Eingrenzung auf den deutschsprachigen Raum vorgenommen wird, findet man aufgrund
regionaler (Stadt, Land) und schichtsspezifischer (Bauern, Arbeiter, Bürgertum etc.)
Unterschiede vielfältigste Formen familiären Zusammenlebens. Dennoch soll, als
Einleitung und Rahmung der vorliegenden Arbeit, versucht werden aufzuzeigen, mit
welchen Lebensumständen die Kinder – insbesondere Mädchen – innerhalb der Familie
konfrontiert waren, und inwiefern sich dies in ihrer Erziehung und ihrer Beziehung zu
ihren Eltern – vorrangig den Vätern – äußerte.
In den bäuerlichen Familien musste, um die Sicherung von Nahrung und anderen
materiellen Bedürfnissen zu gewährleisten, die gesamte Familie zum Lebensunterhalt
beitragen. So mussten auch die Kinder – männlich und weiblich – entweder am
elterlichen Hof tätig sein oder in anderen Haushalten gegen Bezahlung mit
Nahrungsmitteln arbeiten.1 Außerdem stand den Kinden kein eigenes Zimmer zur
Verfügung, sie mussten sich zum Schlafen einen Raum, beziehungsweise auch oft ein
Bett, mit dem Gesinde teilen. In finanziell besser gestellten Bauernfamilien mit
größeren Höfen ändert sich dies jedoch im Laufe des 19. Jahrhunderts.2 Diese
finanziellen Schwierigkeiten, mit denen bäuerliche Familien zu kämpfen hatten,
beeinflusste die Einstellung zu ihren Kindern maßgeblich. Zwar galten Kinder als
zukünftige Arbeitskräfte und als Absicherung der Eltern im Alter, bis dahin waren sie
1
2
Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 11f.
Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 108.27.
5
aber vor allem ein zusätzlicher Kostenfaktor, den man sich nicht leisten konnte – dieser
Aspekt wurde besonders mit der aufkommenden Schulpflicht für Kinder noch
massiver.3 Kinder galten als „kleine Erwachsene“4 und wurden bereits im Alter
zwischen fünf und sieben Jahren in die Arbeitswelt eingeführt. Individuelles Eingehen
auf den/die Einzelne/n, der Austausch von Zärtlichkeiten und Zuwendung musste hier
zurückgestellt werden, was auch die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern
kennzeichnete.5 Die frühe Einführung der Kinder in die Arbeitswelt geschah jedoch
nicht ausschließlich aus finanziellen und materiellen Notlagen heraus, sondern
entsprach auch den erzieherischen Vorstellungen bäuerlicher Familien im 19.
Jahrhundert. Es ging „nicht um die Entfaltung von Anlagen und Individualität […],
sondern um den Erwerb von (oft lokalem) Wissen und Techniken und um das Einfügen
der Kinder in eine bestehende Ordnung“6. Eine geschlechtsspezifische Differenzierung
im Bezug auf Kinderarbeit wurde hier nicht vorgenommen. Erst zu einem späteren
Zeitpunkt, als die Kinder bereits älter waren, kam es zu einer unterschiedlichen
Behandlung von Jungen und Mädchen. Während Jungen eine Ausbildung ermöglicht
wurde, mussten Mädchen entweder weiterhin auf dem elterlichen Hof mitarbeiten oder
durch eine andere Tätigkeit Geld verdienen, um die Ausbildung ihrer Brüder zu
finanzieren.7 Die Zeit der Jugend endete für Bauernkinder offiziell mit ihrer Heirat. Von
diesem Tag an hatten sie den Status von Erwachsenen. Wenn sie bis dahin am
elterlichen Hof gelebt haben, waren sie der Autorität ihres Vaters unterstellt – wie auch
alle anderen am Hof lebenden Personen, egal ob Familienmitglieder oder Gesinde.8
Jugendliche hatten aber das „festgelegte Recht, an den sozialen Aktivitäten der ledigen
Jugend teilzunehmen“9.
3
Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 108.39f.
Reinhard Sieder, Besitz und Begehren, Erbe und Elternglück. Familien in Deutschland und Österreich,
Frankfurt a.M. 1998 S. 267.
5
Vgl. Reinhard Sieder, Besitz und Begehren, Erbe und Elternglück. S. 267.
6
Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 37.
7
Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 108.
8
Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 41.
9
Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 108.42.
4
6
Ein ähnliches Bild wie in den bäuerlichen Familien zeigt sich in den Arbeiterfamilien.
Die Löhne der Arbeiterschicht waren derart gering, dass nicht nur Frauen durch
Heimarbeit – außerhäusliche Lohnarbeit von Frauen war hingegen verpönt – zum
Lebensunterhalt beitragen mussten, sondern auch Kinder.10 Kinder arbeiteten vor allem
im Textilgewerbe – zu einer Arbeitsschutzbestimmung für Kinder kam es jedoch erst
gegen Ende des 19. Jahrhunderts. So wurde 1891 das Mindestalter für Fabrikarbeit von
Kindern auf 13 Jahre und eine maximale Arbeitszeit von zehn Stunden pro Tag für
Jugendliche unter 16 Jahren festgelegt, eine Bestimmung für Heimarbeit gab es
hingegen erst ab 1911.11 Wie in den Bauernfamilien wurde auch hier bei der
Kinderarbeit kein Unterschied zwischen Mädchen und Jungen gemacht. Mädchen
mussten jedoch auch in dieser Gesellschaftschicht zu Gunsten ihrer Brüder auf Schulund Berufsausbildung verzichten und arbeiten, um die Ausbildung der Jungen zu
finanzieren.12 Ebenfalls findet man in Arbeiterfamilien eine ambivalente Haltung
gegenüber den Kindern als zukünftige Arbeitskräfte und finanzielle Unterstützer
einerseits und Kostenfaktoren andererseits. Auch hier hat sich die Einstellung
gegenüber Kindern und die finanzielle Notlage der Familie auf dieselbe Weise auf die
Beziehung zwischen Eltern und Kindern ausgewirkt wie in bäuerlichen Familien.13
Aufgrund der langen Arbeitszeiten hatten Jugendliche aus Arbeiterfamilien nur begrenzt
die Möglichkeit, „jugendeigene[.] Lebensformen“14 zu entwickeln. Auch verbrachten
Jugendliche ihre meiste Freizeit in und mit der Familie, jedoch traten Jungen im
Gegensatz zu Mädchen Vereinen bei und verbrachten so Zeit außerhalb der Familie.15
Die Situation änderte sich jedoch im Zuge der Industrialisierung, zumindest für einen
Teil der Arbeiterschicht. Männer hatten nun durch neue Industriezweige die
Möglichkeit, als Facharbeiter in Fabriken ein höheres Einkommen zu erhalten. Die
finanzielle Besserstellung dieser Familien hatte auch eine Veränderung ihrer familiären
Strukturen zur Folge. Von nun an galt der Mann als Alleinverdiener, was eine
Ablehnung von Frauenarbeit mit sich brachte, welche in dieser Phase der
Industrialisierung auch meist außerhäuslich ausgeführt wurde. Die Frau hatte sich von
nun an ausschließlich mit der Erziehung der Kinder und der Erledigung ihrer
haushaltlichen Pflichten zu beschäftigen, außerhäusliche Arbeit war hiermit nicht
10
Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 108.15f.
Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 40f.,45.
12
Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 40, 108.
13
Vgl. Fußnote 5.
14
Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 45.
15
Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 45f.
11
7
vereinbar.16 Es kam „zu einer besonderen Betonung der Vorstellung vom moralischen
Wert der Mutterschaft, wonach die Sorge für die Kinder und die Haushaltsführung die
würdigsten, befriedigendsten Aufgaben der Frauen seien“17. Der Mann, als
Familienvorstand, beteiligte sich hingegen nicht im Haushalt und bei der Betreuung und
Versorgung der Kinder, da diese Arbeiten als unmännlich galten. Auch wenn die Frau
einen finanziellen Beitrag durch Heimarbeit leistete, änderte dies nichts an der Position
des Mannes. In dieser geschlechtsbedingten Arbeitsteilung und Rollenzuweisung folgte
die Arbeiterschicht vorherrschenden bürgerlichen Familienstrukturen.18
Bürgerliche Familien unterschieden sich wesentlich von Bauern- und Arbeiterfamilien.
Ein Aspekt bestand darin, dass bürgerliche Frauen bereits im 18. Jahrhundert nicht mehr
arbeiteten und der Mann der Alleinverdiener in der Familie war.19 Des weiteren kam es
im 19. Jahrhundert, „durch eine deutliche Trennung von Kernfamilie und Gesinde“20, zu
einer Privatisierung der bürgerlichen Familie. Außerdem wurden Räumen spezifische
Funktionen zugeschrieben, wie Arbeitszimmer, Kinderzimmer, Schlafzimmer und so
weiter.21 Diese Änderungen gingen einher
„mit einer verschärften Betonung der unterschiedlichen Geschlechtscharaktere von Mann und
Frau. Passivität, Emotionalität und Mütterlichkeit galten als typisch weibliche Merkmale,
während für Männer Aktivität, Rationalität und Berufsorientierung kennzeichnend sein
sollten.“22
Zudem wurde versucht, die sozialen Unterschiede zwischen Mann und Frau „als
biologisch verankerte Geschlechtsmerkmale nachzuweisen […], [um] die alten
patriarchalischen Familienstrukturen und Rollenzuweisungen“23 zurückzugewinnen und
zu untermauern. Es kam auch zu einer veränderten Einstellung gegenüber Kindern,
seitdem unter anderem in pädagogischen, philosophischen und medizinischen Schriften
der Familienerziehung für die Entwicklung der Kinder große Bedeutung zugeschrieben
wurde und die Mutter hierbei als zentrale Figur für die Erziehung der Kinder genannt
16
Vgl. Jack Goody, Geschichte der Familie, München 2000, S. 181, 215.
Jack Goody, Geschichte der Familie, S. 215.
18
Vgl. Reinhard Sieder, Besitz und Begehren, Erbe und Elternglück. S. 274.
19
Vgl. Jack Goody, Geschichte der Familie, S. 215.
20
Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 20.
21
Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 20f.
22
Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 5f.
23
Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 6.
17
8
wurde.24 „Der Geschlechtscharakter der Frau wurde maßgeblich über ihre mütterlichen
Funktionen und Fähigkeiten gegenüber Kindern und Männern festgeschrieben, die Frau
dazu verpflichtet, vor allem Mutter und mütterlich zu sein.“25 Während Frauen aus
wohlhabenden Häusern früher ihre Säuglinge von Ammen auf dem Land versorgen und
erziehen ließen, war es ihnen nun ein Anliegen, sich selbst um ihre Kinder zu kümmern.
Frauen stillten ihre Kinder selbst, gaben ihnen Nähe und Zärtlichkeit, beschäftigten sich
mit den Entwicklungphasen von Kindern und ihrer körperlichen Pflege. Liebe wurde
von nun an als Basis für Ehe und Familie gesehen und das (Klein-) Kind ins Zentrum
des Familienlebens gestellt. Dieses intensive Eingehen auf das Kind und seine
Entwicklungsphasen, sowie pädagogische Förderung dieser, blieb jedoch lange Zeit ein
Privileg wohlhabender Schichten, denn nur diese standen nicht unter dem finanziellen
Druck, dass alle Familienmitglieder zum Lebensunterhalt beitragen mussten und
Kleinkinder deshalb nicht als finanzielle Bedrohung angesehen wurden.26 Dies führte
aber auch dazu, dass Kinder unter dem Aspekt der ‚kindgerechten Erziehung‘ immer
stärker „aus der Lebenswelt der Erwachsenen ausgegliedert“27 wurden. Durch
Kinderzimmer, Kindermöbel, Spielzeug und Kinderliteratur wurde eine Welt für Kinder
geschaffen.28 Doch nicht nur Kindheit, auch Jugend wurde als eine entscheidende Phase
in der Entwicklung angesehen. Hierbei ging es darum, Jugendliche durch Ausbildung
auf
ihre
(berufliche)
Zukunft
vorzubereiten
und
zur Selbstständigkeit
und
Leistungsbereitschaft zu erziehen. Dies führte immer wieder zu Generationenkonflikten,
vor allem zwischen Vätern und Söhnen, denn die „Anforderung der Entwicklung
selbstständigen Denkens und Handelns stand […] die immer längere Fremdbestimmung
in
Schule
und
Ausbildung
und
vor
allem
die
mangelnde
wirtschaftliche
Selbstständigkeit gegenüber“29. Doch gerade im Bürgertum, wo so viel Wert auf
Entwicklungsförderung und Ausbildung von Kindern gelegt wurde, zeigte sich ein
erheblicher Unterschied im Umgang mit Mädchen und Jungen. Denn Wissen und
Bildung galten als unweiblich und blieben den Jungen vorbehalten. Die Vermittlung
von Wissen und Bildung beschränkte sich bei Mädchen darauf, was sie in ihrer
24
Vgl. Barbara Friebertshäuser, Michael Matzner, und Ninette Rothmüller, Familie: Mütter und Väter,
Wiesbaden 2007, S. 180f.
25
Reinhard Sieder, Besitz und Begehren, Erbe und Elternglück. S. 269.
26
Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 36 und Reinhard Sieder,
Besitz und Begehren, Erbe und Elternglück. S. 268f.
27
Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 38.
28
Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 38.
29
Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 43.
9
zukünftigen Rolle als Ehefrau, Mutter und Hausfrau wissen mussten.30 Diese
Wissensvermittlung folgte einem Erziehungsplan, für dessen Umsetzung in der Familie
die Mutter zuständig war. In der Schule bildeten bei Mädchen Fächer mit dem
Schwerpunkt Handarbeit die Grundlage, noch vor dem Erlernen von Lesen und
Schreiben.31 Handarbeit wurde nicht nur als Mittel gesehen, um sexuelle Triebe zu
unterdrücken und Mädchen zur Sittlichkeit zu erziehen, durch „ökonomisch sinnlose,
ästhetische Arbeiten [konnten sie auch] den von ihnen geforderten bürgerlichen Fleiß
und ihre Klassenzugehörigkeit zeigen“32. Als Vorbild für die Mädchen diente demnach
die Mutter. Es zeigt sich aber, dass Mädchen, welche sich stark mit ihrem Vater
identifizieren konnten, aus den vorherrschenden Rollenkonventionen ausbrechen
konnten. Dies gelang vor allem Mädchen, die als erstes Kind der Familie geboren
wurden. Zu einer allgemeinen Aufhebung der Benachteiligung von Mädchen
bezüglicher ihrer Bildungsmöglichkeiten kam es jedoch erst im 20. Jahrhundert,
hauptsächlich ab den 1960er Jahren.33
So unterschiedlich die Familienstrukturen in den Schichten auch waren, hatten sie alle
gemein, dass sie patriachalisch organisiert waren, der Vater die Funktion des
Haushaltsvorstands einnahm, und alle im Haushalt lebenden Personen seiner Autorität
unterstanden.34 Die Vorstandsposition des Mannes wurde im alltäglichen Leben etwa
beim Essen ersichtlich. Während die Frau die Aufgabe hatte „zu kochen und zu
servieren, [saßen die] Männer […] am Kopfende des Tisches, schnitten das Fleisch,
teilten es zu und sollten angeblich auch mehr davon essen, weil sie die Ernährer der
Familie seien“35. Dies lässt sich in allen Gesellschaftsschichten finden und diente
gleichzeitig dazu, Kindern vorherrschende geschlechtsspezifische Rollenbilder zu
vermitteln.36 Die Frage, welches Verhältnis Väter in den unterschiedlichen Schichten zu
ihren Kindern aufbauten, wie sie sich ihren Kindern gegenüber verhielten und ob Vater-
30
Vgl. Melanie Unseld, »Man töte dieses Weib!«. Weiblichkeit und Tod in der Musik der
Jahrhundertwende, Stuttgart u.a. 2001, S. 56.
31
Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 106.
32
Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 107.
33
Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 107.
34
Solche Definitionen von ‚Vaterschaft‘ finden sich in Lexika noch bis in die 1970er Jahre des 20.
Jahrhunderts (vgl. Barbara Friebertshäuser, Michael Matzner, und Ninette Rothmüller, Familie: Mütter
und Väter, S. 182).
35
Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 39.
36
Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 39.
10
Kind-Beziehungen erkennbar waren, wurde in der Forschung bis zu diesem Zeitpunkt
noch nicht hinreichend untersucht.37 Es lassen sich jedoch
„sowohl für den abwesenden, strengen oder gar brutalen Vater als auch für den präsenten und
liebevollen Vater für jede Epoche und Gesellschaft entsprechende Belege finden. Insgesamt
kann man feststellen, dass Väter in früheren Zeiten oft präsenter für ihre Kinder waren und eine
größere Bedeutung für sie hatten. Vaterschaft in Nordamerika und Europa hatte einen
‚janusköpfigen Charakter‘ indem die Väter oft strenger, andererseits jedoch auch präsenter
waren als viele Väter des 19. und 20. Jahrhunderts.“38
Eine allgemeine Aussage über die Tochter-Vater-Beziehungen im 19. und 20.
Jahrhundert ist nicht möglich und wird aufgrund der regionalen und schichtsbedingten
Unterschiede und der individuellen Situationen der einzelnen Familien auch in Zukunft
nur bedingt möglich sein.
Es stellt sich die Frage, ob die dargestellten realen Familienverhältnisse in der Kunst
widergegeben oder auch ins Gegenteil verkehrt wurden. Inwiefern dies in Richard
Wagners Walküre und Richard Strauss‘ Elektra der Fall ist, wird im Fazit dieser Arbeit
diskutiert. Zudem wird erörtert, welche möglichen Schwierigkeiten der Vergleich von
realen Familienstrukturen und Rollenbildern, mit den Darstellungen in den Werken von
Wagner und Strauss aufwerfen kann.
37
Vgl. Barbara Friebertshäuser, Michael Matzner, und Ninette Rothmüller, Familie: Mütter und Väter,
S. 183.
38
Barbara Friebertshäuser, Michael Matzner, und Ninette Rothmüller, Familie: Mütter und Väter, S. 182.
11
2
Richard Wagners Walküre
2.1 Entstehungsgeschichte
Wagners Arbeit am Ring des Nibelungen, bei welchem er sowohl als Librettist als auch
Komponist wirkte, erstreckt sich über einen Zeitraum von 26 Jahren. 39 Als Quellen für
die Studie im Blick auf das der Tetralogie zugrunde liegende Sujet führt Wagner das
Nibelungenlied, die Edda, Wilhelm Grimms Deutsche Heldensaga, Franz Joseph
Mones Untersuchungen zur Geschichte der teutschen Heldensage und eine Übersetzung
der Völsungasaga an.40 Wagner nutzte diese Quellen nicht als direkte Vorlage, sondern
bediente sich der darin vorkommenden Personen, Handlungen und so weiter, um diese
in ein neues Verhältnis zueinander zu bringen. Egon Voss formuliert Wagners Umgang
mit den verwendeten Quellen folgendermaßen: „Nahezu alles, was im Ring vorkommt,
hat eine nachweisbare Quelle. Doch kaum etwas tritt so auf, wie es in den Quellen steht,
oder in dem Sinne, den es dort hat.“41
Als Wagner im Oktober 1848 mit der Prosafassung zu Siegfrieds Tod begann,
dachte er noch nicht daran, daraus ein solch umfangreiches Werk zu machen, zu
welchem es letzten Endes werden sollte.42 Erst als er im August 1850 mit den
Kompositionsarbeiten begann, war er mit Siegfrieds Tod dermaßen unzufrieden, dass er
die Arbeiten abbrach und seine Heldenoper im Mai 1851 durch Der junge Siegfried
erweiterte.43
1851 entstand Wagners
Idee,
das
Doppelwerk zur Tetralogie
39
In einem Brief an Karl Gaillard, am 30. Januar 1844, begründet Wagner, warum er seine Libretti selbst
schreibt. Zwar sei dies ursprünglich nur aus einer Notwendigkeit heraus entstanden, weil ihm niemand ein
gutes Libretto schreiben konnte, doch ist es ihm mittlerweile unmöglich geworden einen fremden Text zu
komponieren. Dies hat einerseits damit zu tun, dass ihn ein Sujet nicht nur dichterisch sondern auch
musikalisch ansprechen muss, andererseits gestaltet er während seiner Arbeit an den Versen bereits im
Kopf die musikalischen Motive. Wenn die Verse fertig sind, ist es demnach auch die Musik, welche er
anschließend nur noch schriftlich festhalten muss (vgl. Richard Wagner, Richard Wagners Briefe, Bd. 1,
Leipzig 1925, S. 134). In seiner Mitteilung an meine Freunde geht Wagner auf die Vorteile ein, die seine
Tätigkeit als Dichter und Musiker mit sich bringt. Zwar arbeitet er an seinen Werken zunächst als Dichter
und dann als Musiker, jedoch war er ein „Dichter, der des musikalischen Ausdrucksvermögens für die
Ausführung seiner Dichtung sich im voraus bewußt war“ (Richard Wagner, Dichtungen und Schriften.
Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, Bd. 6 Reformschriften 1849-1852, Frankfurt a.M. 1983, S. 295).
40
Vgl. Brief an Franz Müller vom 9. Januar 1856 (Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. VII März 1855
– März 1856, Leipzig 1988, S. 334-337 und Richard Wagner, Mein Leben, München 1976, S. 356f.). Für
eine detaillierte Auflistung der Quellen vgl. Egon Voss, Der Ring des Nibelungen: Einführung, Kassel
2012, S. 332f.
41
Egon Voss, Der Ring des Nibelungen: Einführung, S. 333.
42
Im selben Jahr entstand der Aufsatz Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage und der
Prosaentwurf Die Nibelungen-Saga (Mythus), welcher unter dem Titel Der Nibelungen-Mythus. Als
Entwurf zu einem Drama gedruckt wurde (vgl. Peter Wapnewski, Musikdrama, Stuttgart 1986, S. 270).
43
Vgl. Carl Dahlhaus, 19. Jahrhundert IV. Richard Wagner – Texte zum Musiktheater, Laaber 2004,
S. 208.
12
auszuweiten.44 In den Jahren 1851 und 1852 fertigte Wagner die Prosaentwürfe und
Versdichtungen zu Raub des Rheingoldes (später Das Rheingold) und Walküre an und
überarbeitete Der junge Siegfried (später Siegfried) und Siegfrieds Tod (später
Götterdämmerung). Am 15. Dezember 1852 hatte er die Dichtung des Ring des
Nibelungen abgeschlossen und ließ 1853 auf eigene Kosten 50 Exemplare drucken.45
Die Kompositionsarbeit erfolgte, sieht man von den Kompositionsskizzen zu
Siegfrieds Tod im Jahr 1850 ab, in werkchronologischer Reihenfolge. So entstanden
zwischen 1853 und 1857 die Kompositionen zu Rheingold, Walküre und der 1. Aufzug
von Siegfried. Im Juli 1857 brach Wagner seine Arbeit mitten im 2. Aufzug von
Siegfried ab, setzte diese 1864/65 fort und unterbrach sie daraufhin gleich wieder für
mehrere Jahre, um an Tristan und Isolde und Die Meistersinger von Nürnberg zu
arbeiten. Im März 1869 nahm er die Arbeit am Ring des Nibelungen wieder auf und
konnte sein Werk nach der Fertigstellung von Siegfried und der Komposition der
Götterdämmerung schließlich am 21. November 1874 abschließen.46
Das Rheingold und die Walküre wurden auf Anordnung von König Ludwig II
bereits vor den ersten Bayreuther Festspielen, gegen Wagners Willen, am Königlichen
Hof- und Nationaltheater in München uraufgeführt.47 Zu einer vollständigen
Aufführung des Ring des Nibelungen und gleichzeitigen Uraufführung von Siegfried
und der Götterdämmerung kam es erst bei den ersten Bayreuther Festspielen im Jahr
1876.48
44
In seinem Brief an Theodor Uhlig vom 3. November 1851 spricht er diese Idee an. In einem weiteren
Brief an Uhlig, am 12. November 1851, geht er ausführlicher darauf ein und begründet außerdem seine
Ergänzung von Siegfrieds Tod durch Der junge Siegfried (vgl. Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. IV
Briefe der Jahre 1851 – 1852, Leipzig 1979, S. 161-163, 173-176).
45
Vgl. Hans-Joachim Bauer, Richard Wagner. Einführungen in sämtliche Kompositionen, Hildesheim
u.a. 2004, S. 217f.
46
Vgl. Hans-Joachim Bauer, Richard Wagner, S. 218-221.
47
Das Rheingold wurde am 22. September 1864, die Walküre am 26. Juni 1870 uraufgeführt. Teile von
der Walküre wurden bereits 1856 in Zürich und 1862 in Wien konzertant aufgeführt (vgl. Egon Voss, Der
Ring des Nibelungen: Einführung, S. 334f.).
48
Das Rheingold wurde am 13. August, die Walküre am 14. August, Siegfried am 16. August und die
Götterdämmerung am 17. August aufgeführt. Teile aus der Götterdämmerung wurden bereits am
25. März 1875 im Musikverein in Wien unter der Leitung von Wagner aufgeführt (vgl. Egon Voss, Der
Ring des Nibelungen: Einführung, S. 335).
13
2.2
Analyse der Textebene
2.2.1 Brünnhilde und Wotan
Die wohl wesentlichsten Figuren im Ring des Nibelungen, wenn man sich mit der
Thematik der Tochter-Vater-Beziehung beschäftigt, sind Wotan und Brünnhilde.
Obwohl die beiden nur in der Walküre aufeinandertreffen, wird ihr Verhältnis
zueinander nicht nur deutlich erkennbar, sondern erfährt auch einen entscheidenden
Einschnitt, von ihrem ersten Aufeinandertreffen in der ersten Szene im zweiten Aufzug,
bis hin zu ihrem endgültigen Abschied in der dritten Szene im dritten Aufzug. Um die
Tochter-Vater-Beziehung von Brünnhilde und Wotan besser erörtern zu können, werden
die beiden Figuren vorab unabhängig voneinander dargestellt.
2.2.1.1 Wotan
Die Figur Wotans ist der germanisch-altnordischen Mythologie entnommen und
entspricht dem Gott Odin beziehungsweise Wuotan.49 Er repräsentiert das Oberhaupt
der Götter und stellt „the dynamic force and the ruling will of the universe“50 dar.
Wagner schreibt an seinen Freund August Röckel über Wotan: „[S]ieh Dir ihn recht an!
er gleicht uns auf’s Haar; er ist die Summe der Intelligenz der Gegenwart […].“51 Dieter
Schickling veranlasst Wagners Aussage zu der Schlussfolgerung, dass Wotan für
Wagner „kein mythischer Gott und schon gar kein alter Germane [ist], sondern innigster
Ausdruck der eigenen Zeit, er besitzt jegliche Aktualität: der Mensch als Verbrecher“52.
Schicklings Charakterisierung des ‚Menschen als Verbrecher‘ erscheint etwas drastisch
und verallgemeinernd – dass Wotan diese Eigenschaft repräsentiert, das stimmt jedoch.
Wotan zeichnet sich vor allem durch seine teils fragwürdigen Moralvorstellungen und
sein widersprüchliches Handeln im Bezug auf seine eigenen Ideologien aus. Bereits im
Rheingold wird man mit einigen Ereignissen konfrontiert, welche die Persönlichkeit
Wotans deutlich zutage treten lassen. Sein erster moralischer sowie rechtlicher Fehltritt
beginnt mit dem Abschluss des Vertrages mit den Riesen, wodurch den Riesen Freia als
49
Für ausführlichere Erläuterungen über Wuotan beziehungsweise Odin vgl. Udo Bermbach, Wotan – der
Gott als Politiker, Stuttgart u.a. 2001, S. 30-32.
50
Elizabeth Magee, Richard Wagner and the Nibelungs, Oxford u.a. 1990, S. 175.
51
Brief an August Röckel vom 25./26. Januar 1854 (Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. VI Januar
1854 – Februar 1855, Leipzig 1986, S. 69).
52
Dieter Schickling, Abschied von Walhall. Richard Wagners erotische Gesellschaft, Stuttgart 1983,
S. 50.
14
Lohn für den Bau von Walhall zugesichert wird. Der moralische Fehltritt53 liegt darin,
dass er Freia, die Schwester seiner Frau Fricka, skrupellos einsetzt, um seine Burg zu
bekommen. Als Fricka ihm deshalb Vorwürfe macht, gibt er ihr die Schuld am Bau von
Walhall.54 Der rechtliche Verstoß – welcher gleichzeitig auch einen moralischen
Fehltritt beinhaltet – liegt darin, dass Wotan einen Vertrag abgeschlossen hat55, welchen
er nie einzuhalten im Sinn hatte.56 Als die Riesen schließlich kommen, um ihren Lohn
entgegenzunehmen, versucht Wotan, sich mit aller Gewalt aus dem bestehenden Vertrag
herauszuwinden: Er beginnt zunächst damit, dass er sich scheinbar nicht daran erinnere,
bereits einen Lohn vereinbart zu haben57, versucht die Riesen anschließend davon zu
überzeugen, dass er kein Recht hätte, Freia als Lohn einzusetzen58 und tut
schlussendlich den ganzen Vertrag als einen Scherz ab59. Als Wotan die Möglichkeit
erhält, Freia zu retten, indem er für die Riesen das Gold von Alberich stiehlt, äußert er
plötzlich moralische Bedenken: „Seid ihr bei Sinn? Was nicht ich besitze, soll ich euch
Schamlosen schenken?“60 Wenn man bedenkt, wie unbedacht und skrupellos er zuvor
Freia als Lohn eingesetzt hat, kann dieser Aussage nur wenig Glaubwürdigkeit
abgerungen werden. Als Wotan schließlich doch den Schatz und den Ring von Alberich
stiehlt, weigert er sich, den Riesen den Ring zu geben und ist stattdessen im Begriff,
Freia endgültig zu opfern. Erst nachdem Erda Wotan vor den Folgen, die der Fluch des
Ringes mit sich bringt, warnt, übergibt Wotan den Riesen – nicht den Rheintöchtern,
wie es Erda geraten hat –, den Ring und rettet dadurch Freia.61
53
Die Rechtslage kann hierbei, aufgrund mangelnder Informationen, nicht erörtert werden. Da im Ring
des Nibelungen jedoch häufiger Frauen ohne ihre Zustimmung Männern als Ehefrau zugesprochen
wurden, wird davon ausgegangen, dass hierbei kann rechtlicher Verstoß vorliegt.
54
Wotan zu Fricka: „Gleiche Gier war Fricka wohl fremd, als selbst um den Bau sie mich bat?“ (Richard
Wagner, Die Musikdramen, München 1971, S. 536).
55
Darauf, dass Wotan den Vertrag nicht alleine abschloss, gibt es mehrere Hinweise im Libretto, jedoch
liegt die Entscheidungsmacht, als Oberhaupt der Götter, letzten Endes bei ihm. Fricka zu Wotan: „Wußt‘
ich um euren Vertrag, dem Truge hätt ich gewehrt; doch mutig entferntet ihr Männer die Frauen, um taub
und ruhig vor und allein mit den Riesen zu tagen: so ohne Scham verschenktet ihr Frechen Freia […]“
(Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 536). Als Freia ihre Brüder zu Hilfe ruft, entgegnet ihr Fricka
Folgendes: „Die im bösen Bund dich verrieten, sie Alle bergen sich nun!“ (Richard Wagner, Die
Musikdramen, S. 538).
56
Noch bevor die Riesen erscheinen, um ihren Lohn zu erhalten, sagt Wotan zu Fricka: „[…] Freia, die
gute, geb ich nicht auf, nie sann dies ernstlich mein Sinn“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 537).
57
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 539.
58
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 539.
59
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 540.
60
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 547.
61
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 570-572.
15
Hier wird erkennbar, dass Wotan zwar ein Rechtssystem mit Verträgen haben möchte
und auch aufstellt62, jedoch die Verträge nicht als für ihn selbst bindend ansieht. Udo
Bermbach hat dafür folgende Erklärung: „Solche Rechtsdefizite, die auch moralische
Defizite sind, resultieren bei Wotan aus seinem nahezu ungezügelten Hang zur
Macht.“63 Von anderen erwartet Wotan nicht nur, dass sie sich an die aufgestellten
Verträge halten, sondern er verlangt von ihnen ein moralisches Handeln, welches er
selbst nicht zu leisten im Stande ist. Etwa verlangt er von Loge das Versprechen zu
halten, einen Weg zu finden, um Freia nicht den Riesen geben zu müssen. Außerdem
macht er Loge dafür verantwortlich, dass er, Wotan, dazu eingewilligt hat, Freia als
Lohn bereitzustellen.64 Bei der Begegnung mit Alberich in der vierten Szene im
Rheingold wirft Wotan Alberich vor, den Ring sein Eigen zu nennen, obwohl er ihn
gestohlen hat – dies geschieht vor dem Hintergrund, dass Wotan selbst mit der Absicht
gekommen ist, den Ring zu stehlen, und zwar nicht, um ihn den Rheintöchtern
zurückzugeben, sondern um ihn selbst zu behalten. Wotan wirft demnach Alberich ein
Vergehen vor, welches er selbst im Begriff ist zu begehen.
Dietrich Mack fasst Wotans Auftreten im Rheingold folgendermaßen
zusammen:
„[E]in erhabener Gott ist er keineswegs. […] Im Rheingold ist Wotan präsent und erbärmlich wie
in keinem anderen Werk. Er verwechselt kleinliches Spekulieren, Taktieren und Manövrieren
mit Herrschen. Von Anfang an ist er in der Defensive. Wortbrüche (den Riesen gegenüber) und
räuberische Handlungen (gegen Alberich) kennzeichnen den ewigen Gott. Von edlen Taten ist
im Rheingold wenig zu merken.“65
62
Dieter Schickling weist auf Wotans Hang zu Verträgen auf recht radikale Weise hin: „Wotans ganze
Existenz also besteht aus nichts als Verträgen: ein menschliches Monstrum. Wotan selbst wird dieser
Zusammenhang erst viel später bewußt: als er in der ‚Walküre‘ den geliebten Sohn Siegmund, den er für
große Pläne vorgesehen hatte, opfern muß, weil das von ihm selbst geschaffene Vertragsrecht (das
‚Gesetz‘) es so verlangt. Nun entdeckt er, daß durch Verträge zu herrschen zugleich Fesselung durch
Verträge bedeutet“ (Dieter Schickling, Abschied von Walhall, S. 52).
63
Udo Bermbach, Wotan – der Gott als Politiker, S. 37. Wie stark Wotans Hang zur Macht ist, wird noch
einmal zu Beginn der Götterdämmerung deutlich, wo man aus dem Gespräch zwischen den Nornen
erfährt, dass Wotan sogar sein Auge opferte, um vom Quell der Weisheit trinken zu können, und einen
Ast von der Weltesche abbrach, um daraus seinen Speer zu fertigen (vgl. Richard Wagner, Die
Musikdramen, S. 753f.).
64
Wotan zu Fricka über Loge: „Der zum Vertrage mir riet, versprach mir Freia zu lösen: auf ihn verlaß
ich mich nun“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 538). Später sagt Wotan zu Loge: „Arglistig
weichst du mir aus: mich zu betrügen hüte in Treuen dich wohl! […] Da einst die Bauer der Burg zum
Dank Freia bedangen, - du weißt, nicht anders willigt ich ein, als weil auf Pflicht du gelobtest zu lösen
das hehre Pfand?“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 542).
65
Dietrich Mack, Zur Dramaturgie des Ring, Regensburg 1971, S. 58.
16
Auch in der Walküre66, Siegfried und der Götterdämmerung erscheint Wotan in keinem
besseren Licht.67 In der Walküre wird nicht nur seine Untreue gegenüber seiner Frau
Fricka68 thematisiert, es wird auch deutlich, dass er sich im Fall von Erda sogar eines
Liebeszaubers bedient hat, um sie sich ihm gefügig zu machen.69 Wotan bricht aber
nicht nur Verträge mit anderen und blendet diese mit Täuschungen, er schafft es
mithilfe seiner Intrigen beinahe auch, sich selbst zu täuschen. Er hilft Siegmund,
schmiedet ihm ein Schwert, zu welchem er ihn hinführt, damit Siegmund in weiterer
Folge die Götter vom Fluch des Ringes befreien kann.70 Vor Fricka will er seinen
Einfluss auf Siegmund abstreiten und behauptet, Siegmund handle ohne göttlichen
Schutz und Einfluss, doch Fricka führt ihm die Wahrheit vor Augen, bis er sie sich
schließlich selbst eingestehen muss.71 So gesteht er vor Brünnhilde ein:
„Wild durchschweift ich mit ihm die Wälder; gegen der Götter Rat reizte kühn ich ihn auf: gegen
der Götter Rache schützt ihn nun einzig das Schwert, das eines Gottes Gunst ihm beschied. Wie
wollt ich listig selbst mich belügen? So leicht ja entfrug mir Fricka den Trug: zu tiefster Scham
durchschaute sie mich!“72
Sein Scheitern, Siegmund als Erlöser der Götter einzusetzen, lässt ihn erkennen: „[D]er
durch Verträge ich Herr, den Verträgen bin ich nun Knecht.“73 Doch auch wenn Wotan
durch seinen Fehler, in Siegmunds Schicksal einzugreifen und ihm zu helfen, die
Möglichkeit auf Erlösung vertan hat, begeht er letztendlich in Siegfried denselben
Fehler. Nun versucht er Siegfrieds Weg zu lenken, indem er beispielsweise Mime den
entscheidenden Hinweis gibt, wie es gelingt, Nothung zu schmieden, wodurch Siegfried
in den Besitz des Schwertes kommt.74 Oder indem er Alberich scheinbar vor dessen
Bruder Mime und Siegfried warnt und ihn dabei gegen Mime aufzuhetzen versucht, um
ihn von Siegfried abzulenken.75 Und wie zuvor bei Siegmund streitet Wotan auch bei
66
Auf die Walküre wird vor allem im Kapitel 2.2.1.3 Die Beziehung zwischen Wotan und Brünnhilde
eingegangen.
67
Mit all den erwähnten negativen Charakterzügen steht Wotan im Ring des Nibelungen jedoch nicht
alleine da. Er teilt sie mit einigen anderen männlichen Figuren: Etwa wollten die Riesen Freia nur haben,
um die Götter zu vernichten, da sie ohne Freia keine Äpfel mehr hätten, die sie jung halten (vgl. Richard
Wagner, Die Musikdramen, S. 540f.); Alberich stahl das Gold von den Rheintöchtern, um daraus einen
Ring zu schmieden, welcher ihm maßlose Macht verleiht (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen,
S. 534); und Mime wollte Siegfried benutzen, um an Fafners Schatz zu kommen und ihn anschließend
töten (vgl. Siegfried, erster Aufzug, dritte Szene).
68
Bereits im Rheingold spricht Fricka Wotans Untreue an (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen,
S. 536f.).
69
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 613.
70
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 594-597.
71
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 607-610.
72
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 615f.
73
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 614.
74
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 679f.
75
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 695-697.
17
Siegfried seinen Einfluss auf dessen Lebensweg ab, so betont er vor Alberich, dass
Siegfried ohne sein Zutun handelt.76 Als Wotan auf Siegfried trifft, scheinen die Fragen,
die Wotan ihm stellt, wie ein Versuch der Selbstbestätigung dafür, dass Siegfried ohne
sein Einwirken das Schwert geschmiedet, Fafner getötet, den Ring und die Tarnkappe
geholt und schließlich den Weg zu Brünnhilde gefunden hat.77
Schließlich resigniert Wotan vor der durch ihn selbst verursachten Situation.
Nachdem er zuvor vergebens versucht hat, durch Siegmund den Fluch des Ringes zu
beenden, legt er es nun allein in die Hände Siegfrieds – und Brünnhildes –, die Erlösung
zu erzielen. Wotan wirkt von nun an nicht mehr als Herrscher, sondern streift als
Wanderer durch die Wälder. Dietrich Mack beschreibt Wotans Resignation als eine
Kapitulation in drei Stufen: 1) Durch Fricka wird Wotan mit seiner eigenen Ideologie
und deren Fragwürdigkeit konfrontiert. Im darauf folgenden Gespräch mit Brünnhilde
wird deutlich, dass er sich dessen durchaus bewusst ist.78 2)
„Wotans Weg nach innen, vollzieht sich im Abschied von Brünnhilde. […] Hier wird Wotan
[…] mit der Hoffnung auf eine neue Menschlichkeit [konfrontiert], die Brünnhilde durch ihre
Liebe zu Siegmund und ihr Mitleid mit Sieglinde geweckt hat. An dieser Tat, die die
Möglichkeit einer Erlösung verheißt, hat Wotan keinen Anteil. Er muß vielmehr erkennen, daß
er das Ende zwar wollen, aber es nicht bringen kann. Dem Gott kann nur ein Mensch helfen. […]
Wotan hat dieses System zwar verschuldet, [er erkennt aber] die Morbidität dieser Ideologie und
tritt als Herrscher ab. […] ‚Größer jetzt im Entsagen als je da er begehrte‘, schreibt Wagner an
Ludwig II.“79
3) Die letzte Stufe ist die „Proklamation des Abschieds“80: Nach dem Abschied von
Brünnhilde zieht Wotan als Wanderer umher. Als ihm Siegfried auf dem Felsen als
Gegenspieler gegenüber tritt, versucht sich Wotan gegen Siegfried zu stellen und wird
von ihm geschlagen.
Als Oberhaupt der Götter befindet sich Wotan in einer außerordentlichen
Machtposition. Er stellt Gesetze auf und schließt Verträge, an die sich andere halten
müssen, welche er für sich selbst jedoch nicht als bindend erachtet. Es zeigt sich, dass
Wotans Verhalten gegenüber anderen sich nicht durch einen respektvollen und
wertschätzenden Umgang auszeichnet. Es gibt jedoch auch keine Person, in welche er
genug Vertrauen hat, um sich ihr gegenüber zu öffnen und seine Ängste und Sorgen
76
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 695.
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 722f.
78
Vgl. Dietrich Mack, Zur Dramaturgie des Ring, S. 58f.
79
Dietrich Mack, Zur Dramaturgie des Ring, S. 59f.
80
Dietrich Mack, Zur Dramaturgie des Ring, S. 60.
77
18
preiszugeben – mit Ausnahme von Brünnhilde, worauf später eingegangen wird.81
Wotans Persönlichkeit stellt sich demnach als narzisstisch, selbstgerecht und
rücksichtslos gegenüber anderen dar. Ob nun Wotans Beziehung zu anderen seine
Persönlichkeit prägt, oder vielmehr Wotans Persönlichkeit seine Beziehung zu anderen
beeinflusst, ist fraglich. Es erscheint jedoch naheliegend, dass eine Wechselbeziehung
zwischen beiden Aspekten vorherrscht und sie sich gegenseitig beeinflussen.
2.2.1.2 Brünnhilde
Anders als bei Wotan kann die Darstellung von Brünnhilde erst ab dem ersten
Aufeinandertreffen der beiden, in der ersten Szene im zweiten Aufzug der Walküre,
begonnen werden, da Brünnhilde hier das erste Mal die Bühne betritt. In der Walküre
wird jedoch hauptsächlich die Beziehung zwischen Brünnhilde und Wotan thematisiert,
weshalb für die Darstellung von Brünnhilde Siegfried und die Götterdämmerung von
überwiegender Bedeutung sein werden.82
Brünnhilde ist die Tochter von Wotan und Erda (der „Urwala“83, „der Welt
weisestes Weib“84, der „Allwissende[n] […] Urweltweise[n]“85). „Brünnhilde ist
mütterlicherseits also eine Schwester der schicksalskundigen Nornen. Sie verbindet die
geistige Kraft und den Willen des Vaters mit der naturhaft-unergründlichen, aber
passiven Weisheit der Mutter.“86 Als Walküre bringt sie, zusammen mit ihren acht
Walküre-Schwestern, die auf dem Schlachtfeld gefallenen Helden nach Walhall wo sie
die Götter gegen Alberich verteidigen sollen.
Bei der Analyse der Figur Brünnhildes wird in der Literatur immer wieder der Wandel,
den Brünnhilde vollzieht, diskutiert und hervorgehoben. Wenngleich die Ansichten
vieler WissenschaftlerInnen dahingehend übereinstimmen, dass ein Wandel stattfindet,
81
Siehe Kapitel 2.2.1.3 Die Beziehung zwischen Wotan und Brünnhilde.
Da sich Brünnhildes Persönlichkeit stark in Abhängigkeit von anderen Personen darstellt und wandelt,
wird versucht, ohne den folgenden Kapiteln allzu sehr vorzugreifen, eine Charakterisierung Brünnhildes
vorzunehmen.
83
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 571.
84
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 613.
85
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 717.
86
Ulrike Kienzle, Brünnhilde – das Wotanskind, Stuttgart u.a. 2001, S. 83.
82
19
sind die Argumentationen darüber, in welcher Weise und zu welchem Zeitpunkt dieser
erfolgt, oft uneinheitlich. Laut Ulrike Kienzle etwa beginnt die
„Entfaltung von Brünnhildes Charakter […] mit einer Erfahrung der Liebe (zu Wotan und den
Wälsungen), führt durch das Leiden der Wahrhaftigkeit (im Trotz gegen Wotans Gebot,
Siegmund zu töten, und in ihrem Affekt der Rache an Siegfrieds Verrat) bis zur Freiheit in
einem höheren, metaphysischen Sinn“87.
An einer anderen Stelle weist sie jedoch darauf hin, dass Brünnhildes innere Wandlung
an der Stelle einsetzt, als sie durch Siegmund mit Liebe und „rückhaltlose[r] Hingabe an
den geliebten Menschen“88 konfrontiert wird. Brünnhildes Wandlung definiert sie als
Emanzipation, das heißt, der Loslösung aus Unselbstständigkeit und Fremdbestimmung.
Nach Sabine Henze-Döhring vollzieht sich Brünnhildes Wandel in einem
Identitätswechsel „vom Götterkind und Alter ego Wotans zum – so Wagner – sich
‚opfernde(n)
Weib‘“89.
Brünnhildes
Bewusstsein
für
ihren
Identitätswandel
beziehungsweise die Hinnahme von diesem, vollzieht sich jedoch noch nicht mit dem
Schlaf, in den sie Wotan versetzt, und auch noch nicht in dem Moment, als sie von
Siegfried wachgeküsst wird. Es dauert noch eine Weile, bis Brünnhilde bewusst wird,
dass sie keine Walküre mehr ist und sie sich ihrem neuen Schicksal fügt. Erst zu Beginn
der Götterdämmerung wird Brünnhildes vollzogener Identitätswandel auch in ihrem
Handeln erkennbar, da hier ihr Wissen und ihre kriegerische Stärke verloschen sind.90
Hermann von der Pfordten nennt zwei Szenen, welche für Brünnhildes
Wandlung von wesentlicher Bedeutung sind, wonach sich diese quasi in zwei Etappen
vollzieht und nicht durch eine Situation, beziehungsweise ein Erlebnis ausgelöst wird.
Als erste Szene nennt er die in der Literatur immer wieder so bezeichnete
Todesverkündungsszene91, in welcher Brünnhilde Siegmund mit nach Walhall nehmen
möchte, dieser sich jedoch weigert, ohne seine geliebte Sieglinde mitzukommen. Von
der Pfordten schreibt dazu Folgendes:
„Überwältigt von solcher Treue, der sie noch nie begegnet ist, fällt ihm Brünnhilde im Sturm des
heftigsten Mitgefühls in den Arm. Eine jähe Wandlung geht in ihr vor: mitleidige Liebe läßt sie
87
Ulrike Kienzle, Brünnhilde – das Wotanskind, S. 84.
Ulrike Kienzle, Brünnhilde – das Wotanskind, S. 87.
89
Sabine Henze-Döhring, „Liebe – Tragik“: Zur musikdramaturgischen Konzeption der BrünnhildeGestalt, Schneverdingen 2004, S. 137.
90
Vgl. Sabine Henze-Döhring, „Liebe – Tragik“: Zur musikdramaturgischen Konzeption der BrünnhildeGestalt, S. 139-141.
91
Walküre zweiter Aufzug, vierte Szene.
88
20
alles vergessen. Hingerissen von dem übermächtigen neuen Gefühl beschließt sie, Wotans
Gegenbefehl zu trotzen […].“92
Der zweite entscheidende Moment für Brünnhildes Wandlung ist die Szene, in welcher
Siegfried sie mit einem Kuss erweckt: „Brünnhilde aber erfährt nun die entscheidende
Wandlung in ihrem ganzen Wesen: aus der Walküre, der spröden, unnahbaren Jungfrau,
wird ‚das wild wütende Weib‘.“93
Im Folgenden soll eine neue Darstellung von Brünnhildes Wandlung angestellt werden,
welche die These vertritt, dass sich ihre Wandlung nicht nur in unterschiedlichen
Phasen vollzieht, sondern dabei gleichzeitig von unterschiedlichen Arten von Liebe und
Graden autonomen Handelns begleitet wird.94
In ihrem ersten Auftritt in der Walküre95 erscheint Brünnhilde „in voller
Waffenrüstung“96, ihre optische Erscheinung weist demnach bereits auf ihre
kämpferische Tätigkeit als Walküre hin.97 Als Walküre führt sie Wotans Befehle aus,
auch wenn sie seine Entscheidungen nicht immer nachvollziehen kann – zum Beispiel
als er ihr aufträgt, Siegmund im Kampf gegen Hunding nicht zu schützen.98 Brünnhilde
kann Wotans Anordnung nicht nachvollziehen, da sie um seine Gefühle gegenüber
Siegmund Bescheid weiß: Er liebt Siegmund und hat auch ihr „gelehrt“99 ihn zu lieben.
Zu diesem Zeitpunkt kennt Brünnhilde zwar dieses Gefühl platonischer Liebe, wie es
92
Hermann von der Pfordten, Einführung in Richard Wagners Werke und Schriften, Bielefeld u.a. 1921,
S. 61.
93
Hermann von der Pfordten, Einführung in Richard Wagners Werke und Schriften, S. 64.
94
Auf die unterschiedlichen Kategorien von Liebe, die bei Brünnhilde zu tragen kommen, weist auch
Barry Emslie hin: Eine Kategorie stellt jene Art von Liebe dar, die Brünnhilde schon vor der
Todesverkündigung kannte. Sie ist losgelöst von christlichen Vorstellungen von Schuld und sexueller
Repression und ist vom Wesen her fröhlich und sorglos. Außerdem ist sie mit Wissen verbunden. Die
zweite Kategorie von Liebe, mit welcher Brünnhilde in der Todesverkündigung konfrontiert wird, ist
anders – es handelt sich um heterosexuelle, körperliche Liebe. Durch Siegmund tritt Brünnhilde ihrem
eigenen sexuellen Erwachen einen Schritt näher. Im letzten Aufzug, in der letzten Szene von Siegfried
wird ihr sexuelles Erwachen vollzogen (vgl. Barry Emslie, Richard Wagner and the Centrality of Love,
Woodbridge 2010, S. 85).
95
Siehe Walküre, zweiter Aufzug, erste Szene.
96
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 603.
97
Nach Robert Donington zeigt uns Wagner „Brünnhilde zuerst als die unentwickelte Walküre, die sie
anfangs ist“ (Robert Donington, Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und seine Symbole. Musik und
Mythos, Stuttgart 1976, S. 111).
98
Siehe Walküre, zweiter Aufzug, zweite Szene.
99
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 617.
21
etwa ein Vater gegenüber dem Sohn, oder die Schwester gegenüber dem Bruder100
verspürt, ihr Handeln ist jedoch noch so stark von Wotan abhängig, dass sie auszieht,
um seinem Befehl Folge zu leisten und entgegen ihrer eigenen Wertvorstellungen, zu
agieren.
Als Brünnhilde auf Siegmund trifft101, geschieht das noch mit dem Vorhaben,
Wotans Befehl Folge zu leisten, Siegmund sterben zu lassen und ihn mit nach Walhall
zu nehmen. Siegmund weigert sich, Sieglinde alleine zurück zu lassen, und Brünnhilde
kann zunächst nicht verstehen, wie er „ewige Wonne“102 ausschlagen und stattdessen
den Tod mit Sieglinde wählen kann. Als Siegmund gegen Brünnhilde den Vorwurf
erhebt „So jung und schön erschimmerst du mir: doch wie kalt und hart erkennt dich
mein Herz! Kannst du nur höhnen, so hebe dich fort, du arge, fühllose Maid!“103,
spiegeln seine Worte genau das wider, wozu Brünnhilde als Walküre erzogen wurde.
Wotan selbst beschreibt, nach welchem Vorbild er seine Walküren erzog: „Erzog ich
euch kühn, zum Kampfe zu ziehn, schuf ich die Herzen euch hart und scharf […].“104
Im selben Moment sieht sich Brünnhilde jedoch durch Siegmund mit einer Art von
Liebe konfrontiert, die sie zuvor noch nicht erlebt hat – es ist eine bedingungslose,
aufopfernde Liebe, die jedoch nicht mehr platonischer, sondern sexueller Natur ist.
Auch wenn Brünnhilde selbst diese Art von Liebe noch nicht erfahren hat und es auch
in diesem Moment nicht tut, wird etwas in ihr ausgelöst, was sie das erste Mal nicht nur
autonom, sondern auch gegen den Willen Wotans handeln lässt – sie sichert Siegmund
ihren Schutz im Kampf gegen Hunding zu. Laut Dieter Schickling ereignet sich hier ein
Durchbruch: „[Z]um ersten Mal widersteht Liebe offen dem Gesetz.“105 Auch als Wotan
wütend in den Kampf eingreift, bringt Brünnhilde Sieglinde in Sicherheit.106 Dieser Akt
des freien und unabhängigen Handelns währt jedoch nicht lange, da Brünnhilde ihre Tat
vor Wotan verantworten und schließlich die Konsequenzen dafür tragen muss.
Brünnhilde versucht ihre Entscheidung zu rechtfertigen und hofft auf das Verständnis
Wotans, doch dieser kann ihr Verhalten nicht entschuldigen und bestraft sie. Brünnhilde
scheint zwar zu verstehen, dass Wotan nicht anders handeln kann, und sie ist auch in der
100
Die Vorstellung von platonischer Liebe zwischen Geschwistern wird im Ring des Nibelungen durch die
Liebesbeziehung von Sieglinde und Siegmund untergraben. Auch die Liebe zwischen Brünnhilde und
Siegfried ist von inzestuöser Natur.
101
Siehe Walküre, zweiter Aufzug, vierte Szene.
102
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 625.
103
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 625.
104
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 639f.
105
Dieter Schickling, Abschied von Walhall, S. 153.
106
Siehe Walküre, zweiter Aufzug, fünfte Szene.
22
Lage, die Art der Strafe zu einem gewissen Grad zu beeinflussen, doch ist sie in diesem
Augenblick wieder vollkommen von Wotan abhängig und verliert ihre zuvor
gewonnene Autonomie.
Als Siegfried Brünnhilde mit einem Kuss erweckt107, scheint ihr, obwohl ihr
Wotan ihr Schicksal verkündet hat, zunächst nicht klar zu sein, was dies für sie bedeutet
– nämlich, dass sie nun Siegfrieds Frau ist. Voller Freude darüber, dass er sie aus ihrem
Schlaf befreit hat, spricht sie davon, dass sie ihn schon immer geliebt habe. Gemeint ist
hier jedoch keine sexuelle Liebe, sondern eine platonische Liebe dem Kind gegenüber,
dessen Mutter und Vater sie zu schützen versuchte: „Du warst mein Sinnen, mein
Sorgen du, Dich Zarten nährt ich, noch eh du gezeugt, noch eh du geboren, barg dich
mein Schild. So lang lieb ich dich, Siegfried!“108 Erst als sie ihre Rüstung neben sich
liegen sieht109, die sie nun nicht mehr schützend am Körper trägt, wird ihr bewusst,
welche Folgen ihr Erwecken durch Siegfried hat: „Verwundet hat mich, der mich
erweckt! Er erbrach mir Brünne und Helm: Brünnhilde bin ich nicht mehr.“ 110 Sie
merkt, wie ihr die Kräfte und das Wissen, welche sie als Walküre besaß,
abhandenkommen und versucht Siegfried von sich wegzustoßen.111 Erst als Siegfried
noch einmal intensiv auf sie eingeht und ihr seine Liebe gesteht, wird sie zur liebenden
Frau und stürzt sich in seine Arme.112
Zu Beginn der Götterdämmerung wird Brünnhildes Wandlung von der
kämpferischen Walküre zur bedingungslos liebenden Frau deutlich erkennbar – zum
ersten Mal erfährt sie selbst die Art von Liebe, die auch Siegmund und Sieglinde geteilt
haben. Als Siegfried ihr Alberichs Ring gibt, sie sich „voll Entzücken“ 113 den Ring
ansteckt (den sie von nun an „als einziges Gut“114 geizt) und Brünnhilde Siegfried im
Gegenzug ihr Pferd Grane überlässt, wird deutlich, dass sie mit ihrem Dasein als
Walküre abgeschlossen hat. Während Siegfried zu neuen Taten aufbricht, bleibt
Brünnhilde alleine auf dem Felsen zurück und wartet auf seine Rückkehr. Ihr neues
107
Siehe Siegfried, dritter Aufzug, dritte Szene.
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 731.
109
Siegfried hat ihr den Helm und die Brünne abgenommen bevor er sie wachküsste. Dadurch wurde ihre
Wandlung von der kämpferischen Walküre zum liebenden Weib bereits visuell vollzogen, noch bevor
sich Brünnhilde selbst dessen bewusst war (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 728).
110
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 733.
111
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 734f.
112
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 735-738.
113
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 759.
114
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 759.
108
23
Leben als liebende Frau hat sie zwar in Distanz zu Wotan, aber im selben Zug in die
Abhängigkeit von Siegfried gebracht. Nun hat sie nicht nur die Möglichkeit zum
selbstständigen Handeln aufgegeben, sondern die Möglichkeit zum Handeln generell.
Brünnhilde befindet sich in keiner agierenden Rolle mehr, sondern in einer untätigen,
indem sie auf dem Felsen zurückbleibt und auf die Rückkehr Siegfrieds wartet. Es
ergibt sich eine Art Paradoxon, da die Art von Liebe, die Brünnhilde durch Siegmund
kennengelernt und sie erstmals zum selbstbestimmten Handeln – losgelöst von Wotans
Befehlen – motiviert hat, sie nun in die völlige Abhängigkeit von einem Mann bringt.
Als Waltraute auf den Felsen zurückkehrt und Brünnhilde bittet, den
Rheintöchtern den Ring, welchen sie von Siegfried bekommen hat, zurückzugeben, um
Wotan und Walhall zu retten, wird deutlich, wie stark sich Brünnhilde bereits von den
Göttern und sogar von Wotan distanziert hat.115 Brünnhilde weigert sich, ihr
„Liebespfand“116 zur Rettung Walhalls herzugeben, zu wichtig ist ihr Siegfrieds Liebe:
„Mehr als Walhalls Wonne, mehr als der Ewigen Ruhm ist mir der Ring […] Denn selig
aus ihm leuchtet mir Siegfrieds Liebe, […] Die Liebe ließe ich nie, mir nähmen sie die
Liebe, stürzt auch in Trümmern Walhalls strahlende Pracht!“117 In einem Brief an
August Röckel schreibt Wagner über Brünnhildes Abwendung von den Göttern
Folgendes:
„Erlebtest Du nicht, dass Brünnhilde sich von Wodan [sic!] und allen Göttern geschieden um –
der Liebe willen, weil sie – wo Wodan Plänen nachhing – nur – liebte? Seit vollends Siegfried
sie erweckt, hat sie kein andres Wissen mehr als das Wissen der Liebe. Nun – das Symbol dieser
Liebe ist – da Siegfried von ihr zog – dieser Ring: da ihn Wodan von ihr fordert, tritt ihr nur noch
der Grund der Trennung von Wodan entgegen (weil sie aus Liebe handelte), und nur eines weiss
sie jetzt noch, dass sie allem Götterthume entsagt hat um der Liebe willen.“118
Eine erneute Wandlung in Brünnhildes Verhalten findet statt, als sie den
Betrug
119
durch Siegfried erkennt und dadurch aus ihrer hingebungsvollen Liebe zu ihm
gerissen wird. Sie kann den Betrug, durch den Mann, dem sie ihre ganze Liebe
zuteilwerden ließ, nicht hinnehmen und will diesen durch Siegfrieds Tod rächen. Als ihr
Hagen zusichert, den Verrat an ihr zu rächen, verrät Brünnhilde ihm sogar die einzige
115
Siehe Götterdämmerung, erster Aufzug, dritte Szene.
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 774.
117
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 775.
118
Brief an August Röckel vom 25./26. Januar.1854 (Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. VI Januar
1854 – Februar 1855, S. 70f.).
119
Durch den Tarnhelm in der Gestalt Gunthers auf dem Walkürenfelsen erscheinend, nimmt Siegfried
Brünnhilde den Ring weg, steckt ihn sich selbst an und nötigt sie sexuell. Als Brünnhilde später bei den
Gibichungen den Ring an Siegfrieds Finger sieht, wird ihr klar, dass nicht Gunther, sondern Siegfried auf
dem Walkürenfelsen war (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 776-778, 788).
116
24
Stelle, an der Siegfried verwundbar ist.120 In dem Augenblick der Erkennung des
Betruges wandelt sich Brünnhilde von der hingebungsvoll liebenden, hin zur wild
wütenden, nach Rache sinnenden Frau. In dieser Situation handelt sie zwar nicht selbst
und ermordet Siegfried, bringt aber Hagen121 und Gunther dazu, dies für sie zu
erledigen.122
Erst nach Siegfrieds Tod erfährt Brünnhilde vom Trank, den Siegfried von
Hagen erhalten hatte, und welcher ihn dazu brachte Brünnhilde zu vergessen. 123 Die
Kenntnis darüber lässt sie von der wild wütenden Rächerin, zur „wissenden
Erlöserin“124 werden.125 Brünnhilde musste „der Reinste verraten, daß wissend würde
ein Weib“126. Von ihrer Wut auf Siegfried befreit erkennt Brünnhilde, dass sie das Ende
herbeiführen muss, um den Fluch des Ringes zu beenden und Erlösung zu erlangen.127
Sie nimmt den Ring von Siegfrieds Finger und lässt den Scheiterhaufen, auf dem er
liegt, entzünden. Brünnhilde steckt sich den Ring an ihren Finger und folgt Siegfried,
auf dem Rücken von Grane, in die Flammen. Die Rheintöchter erhalten den Ring
zurück, und die Flammen erfassen schließlich Walhall, wo die Götter versammelt
120
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 794.
Die Tatsache, dass Hagen Siegfried nicht um ihretwillen ermordet hat, sondern nur, um den Ring zu
bekommen, wird Brünnhilde später bewusst (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 810).
122
Laut Eva Rieger zeichnet Wagner in „Brünnhilde eine Frau, die stets von männlichen Autoritäten
abhängig ist, […] die keine feste Identität hat und die ihre kämpferischen Fähigkeiten verliert, um ein
liebendes Weib zu werden. Doch ist sie ungehorsam, und daraus wächst ihr Stärke zu. Zum einen
verweigert sie dem Vater die Ausführung seines Befehls, zum anderen rächt sie Siegfrieds Untreue und
ihre Vergewaltigung. Beide Male ist sie aber in einen patriarchal-bürgerlichen Rahmen eingebunden
[…]“ (Eva Rieger, „Die Liebe ist ‚das ewig Weibliche‘ selbst“. Richard Wagners
Weiblichkeitskonstruktionen am Beispiel von Brünnhilde, Wiesbaden u.a. 2003, S. 155).
123
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 762f., 766, 811.
124
An August Röckel schrieb Wagner (am 25./26. Januar 1854): „[…] das leidende, sich opfernde Weib
wird endlich die wahre wissende Erlöserin: denn die Liebe ist eigentlich ‚das ewig Weibliche‘ selbst“
(Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. VI Januar 1854 – Februar 1855, S. 68).
125
Laut Eva Rieger findet eine „Zweiteilung Brünnhildes in die kämpferische Walküre und die
tugendhafte Liebende“ statt, die zwei Seiten werden jedoch ausschließlich nacheinander, niemals
zeitgleich präsentiert. „Die neue Brünnhilde ist nur um den Preis der alten zu haben“ (Eva Rieger, „Die
Liebe ist ‚das ewig Weibliche‘ selbst“, S. 156). Zu diesem Zeitpunkt hat es jedoch den Anschein als wäre
sie weder die eine noch die andere – sie ist keine kämpferische Walküre, welche die Befehle anderer
ausführt, und auch keine tugendhafte Liebende, welche sich in die völlige Abhängigkeit eines Mannes
begibt. Es ist zwar erkennbar, dass sie Siegfried noch liebt, jedoch handelt sie nun selbstbestimmt.
126
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 813.
127
In Eine Mitteilung an meine Freunde schreibt Wagner im Bezug auf den Fliegenden Holländer: „Als
Ende seiner [gemeint ist der Holländer] Leiden ersehnt er […] den Tod; […] Erlösung kann der Holländer
aber gewinnen durch – ein Weib, das sich aus Liebe ihm opfert: die Sehnsucht nach dem Tode treibt ihn
somit zum Aufsuchen dieses Weibes; dies Weib ist aber nicht mehr die heimatlich sorgende […] sondern
es ist das Weib überhaupt, aber das noch unvorhandene, ersehnte, geahnte, unendlich weibliche Weib, sage ich es mit einem Worte heraus: das Weib der Zukunft“ (Richard Wagner, Dichtungen und Schriften,
Bd. 6 Reformschriften 1849-1852, S. 238). Laut Dieter Schickling hat Wagner das Weib der Zukunft in
der Figur Brünnhildes umgesetzt (vgl. Dieter Schickling, Abschied von Walhall, S. 151). Eva Rieger weist
darauf hin, dass Wagner Mathilde Wesendonck als Vorbild für die Figur Brünnhildes verwendet hat (vgl.
Eva Rieger, „Die Liebe ist ‚das ewig Weibliche‘ selbst“, S. 158f.)
121
25
sind.128 Zu diesem Zeitpunkt vereint Brünnhilde erstmals Liebe und autonomes
Handeln. Ihr gelingt, woran die männlichen Figuren im Ring des Nibelungen, aus
unterschiedlichen Gründen, gescheitert sind: die Erlösung.
Ulrike Kienzle fasst Brünnhildes Wandlung wie folgt zusammen:
„Am Schluß hat Brünnhilde den gesamten Kreislauf göttlichen, menschlichen und sogar
dämonischen Lebens durchschritten: von der unberührbaren göttlichen Jungfrau über die
menschlich liebende Frau hinab bis zur tiefsten Demütigung, von dort wieder hinauf über die
furiengleiche Rächerin bis zur großen Trauernden, zur allwissenden Vollstreckerin des
Weltendes. Brünnhilde hat den gesamten Reichtum an Erfahrungen in sich versammelt, den die
Tetralogie umfaßt. In ihrem Schicksalsweg ist alles Leid und alle Liebe konzentriert, von denen
die übrigen Figuren immer nur Teilaspekte erfahren haben.“ 129
2.2.1.3 Die Beziehung zwischen Wotan und Brünnhilde
Für die Darstellung der Beziehung zwischen Wotan und Brünnhilde bietet sich aus dem
Ring des Nibelungen Zyklus lediglich die Walküre an. Nur hier treffen die beiden
Figuren aufeinander und können direkt miteinander kommunizieren und interagieren. In
Siegfried und der Götterdämmerung kann die Beziehung der beiden zueinander nur
mehr indirekt, durch Gespräche mit anderen oder Handlungen gegenüber Dritten,
dargestellt werden. Aus diesem Grund wird in diesem Kapitel vorwiegend die Walküre
zur Analyse herangezogen.
Brünnhilde ist, wie bereits erwähnt, eine Walküre und hat in ihrer Tätigkeit130
als solche Wotan zu dienen, für ihn zu kämpfen und seinen Befehlen Folge zu leisten.
Doch gleichzeitig ist sie mehr als das, sie ist Wotans Lieblingswalküre131, und das hebt
sie von ihren Walküre-Schwestern ab. Die beiden verbindet eine enge Beziehung – die
Beziehung zu Brünnhilde ist wohl die tiefste und innigste, die Wotan zu einer anderen
Person aufbaut. Aus diesem Grund öffnet Wotan sich Brünnhilde und vertraut ihr an,
was er sonst keiner anderen Person sagen kann – nur ihr kann er all seine Taten und die
128
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 813-815.
Ulrike Kienzle, Brünnhilde – das Wotanskind, S. 100.
130
„Brünnhilde wird gezeugt und geboren als Machtinstrument Wotans: zur Rekrutierung ‚kühner
Kämpfer Scharen‘ gegen ‚Alberichs Heer‘, zur Abwehr des ‚Endes‘“ (Sabine Henze-Döhring, „Liebe –
Tragik“: Zur musikdramaturgischen Konzeption der Brünnhilde-Gestalt, S. 126). Dieter Schickling
bezeichnet Brünnhildes Aufgabe als Walküre als eine untergeordnete, in welcher sie als Sendebotin,
Schutzengel und Leichentransporteurin fungiert (vgl. Dieter Schickling, Abschied von Walhall, S. 152).
131
Nach Barry Emslie resultiert ihr privilegierter Status daraus, dass Erda ihre Mutter ist und sie Wotan
naturgemäß am besten versteht (vgl. Barry Emslie, Richard Wagner and the Centrality of Love, S. 83f.).
Laut Sabine Henze-Döhring vereint Wotans Lieblingstochter „auf ‚natürliche‘ Weise Wotans Wille mit
der Weisheit Erdas, ihrer Mutter“ (Sabine Henze-Döhring, „Liebe – Tragik“: Zur musikdramaturgischen
Konzeption der Brünnhilde-Gestalt, S. 126f.).
129
26
daraus resultierenden Folgen ehrlich offenlegen und seine Fehler eingestehen. 132 Mit
seiner Aussage „mit mir nur rat ich, red ich zu dir“133, wird deutlich, dass Brünnhilde
nicht nur seine Lieblingstochter, sondern ein integraler Bestandteil seiner selbst ist. Für
Udo Bermbach stellt Wotans Liebe zu Brünnhilde demnach eine Form der Selbstliebe
dar.134 Gleichzeitig schreibt Bermbach:
„[D]och gibt es eine Person135 im Ring, die Wotan, der Machtversessene und Liebesbedürftige,
wirklich liebt, wenngleich in eigener Weise: Brünnhilde […]. Es ist ein unvergleichbares
Verhältnis zwischen den beiden, aber ob inszestuöse [sic!] Wünsche Wotans dieses Verhältnis
mitbestimmen, ist nicht zu entscheiden, bleibt Spekulation. Wohl eher handelt es sich um eine
außerordentlich enge Tochter-Vater-Beziehung, die aber zugleich den Gott von einer Seite zeigt,
welche der Stratege und Politiker sonst erfolgreich verbirgt.“ 136
In einem Brief an Franz Liszt äußerte Wagner Bedenken über den zweiten
Aufzug der Walküre und speziell auch über die Szene zwischen Wotan und Brünnhilde
in der zweiten Szene im zweiten Aufzug. Wie wir aus dem Brief erfahren, waren diese
Bedenken jedoch nicht von langer Dauer:
„Für den inhaltschweren zweiten Akt bin ich besorgt: er enthält zwei so wichtige und starke
Katastrophen, daß dieser Inhalt eigentlich für zwei Akte genug wäre; doch sind beide so
voneinander abhängig, und die eine zieht die andere so unmittelbar nach sich, daß hier ein
Auseinanderhalten ganz unmöglich war. […] In entmutigten, nüchternen Stunden hatte ich die
meiste Furcht vor der großen Szene Wodans [sic!] und namentlich vor seiner
Schicksalsenthüllung gegen Brünhilde [sic!]; ja in London war ich bereits einmal so weit, die
Szene ganz verwerfen zu wollen […].“137
132
Wotan erzählt Brünnhilde alles, vom Vertragsbruch mit den Riesen, über seine List mit der er den
Ring von Alberich gestohlen hat, bis zu seinem Eingeständnis, dass Siegmund nicht frei von Götterhand
wirkt (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 611-616). Nach Carl Dahlhaus handelt es sich hierbei
nur scheinbar um einen Dialog, eigentlich stellt die Szene, in der sich Wotan Brünnhilde anvertraut, einen
Monolog dar (vgl. Carl Dahlhaus, 19. Jahrhundert IV, S. 238).
133
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 612.
134
Vgl. Udo Bermbach, Wotan – der Gott als Politiker, S. 44.
135
Die hier vorgenommene Betonung, dass es eine Person gibt, welche Wotan wirklich liebt, scheint
legitim. Zwar betont Brünnhilde immer wieder Wotans Liebe zu Siegmund (vgl. Richard Wagner, Die
Musikdramen, S. 617, 644), jedoch scheint es, als fungiere Siegmund lediglich als Wotans Werkzeug.
Nicht aus Liebe kümmert er sich um Siegmund, sondern deshalb, um ihn auf den richtigen Weg zu
bringen, damit er den Fluch des Ringes beendet. Nach dem Tod Siegmunds trauert er nicht um den
verlorenen Sohn, sondern um die verlorene Möglichkeit auf Erlösung.
136
Udo Bermbach, Wotan – der Gott als Politiker, S. 44. Auch Barry Emslie verweist auf den Aspekt des
Inzestuösen in der Beziehung zwischen Wotan und Brünnhilde. Hier geschieht dies jedoch aus der
Perspektive von Fricka: „Like many wives and mothers, Fricka distrusts the emotional attachment
between her husband and the daughter. The fact that Brünnhilde is not her own biological offspring only
makes it easier for her to voice her certainty that Wotan’s deep and loving attachment to Brünnhilde (and
we might also infer Brünnhilde’s deep and loving attachment to him) is incestuous” (Barry Emslie,
Richard Wagner and the Centrality of Love, S. 120).
137
Brief an Franz Liszt vom 3. Oktober 1855 (Richard Wagner, Richard Wagners Briefe, Bd. 1, S. 361f.).
Als die zwei von Wagner angesprochenen ‚Katastrophen‘ benennt Dahlhaus „Wotans verzweifelte
Entsagung und Siegmunds Tod“. Ihre Abhängigkeit voneinander sieht Dahlhaus „eher [als] gedanklich
und im Zusammenhang der ganzen Tetralogie als dramatisch und in der sichtbaren Handlung“ (Carl
Dahlhaus, 19. Jahrhundert IV, S. 238).
27
Trotz aller Unsicherheiten kam Wagner jedoch zu folgendem Entschluss: „Für den
Gang des ganzen großen vierteiligen Dramas ist es die wichtigste Szene und findet als
solche wahrscheinlich bald auch die nötige Teilnahme und Aufmerksamkeit.“138
Doch nicht nur durch Wotan, sondern auch durch Brünnhilde wird ihre besondere
Beziehung zueinander deutlich. Nachdem Fricka Wotan verlassen hat und Brünnhilde
sich ihrem Vater nähert, bemerkt sie sofort seinen leidvollen Zustand und sorgt sich um
ihn. Sie will wissen, was ihn bedrückt, schließlich ist sie sein „Wille“139. Brünnhildes
Bezeichnung von sich selbst als ‚Wotans Wille‘ verdeutlicht die Besonderheit ihrer
Beziehung zueinander, sie ist nicht nur sein „Kind“140 sondern auch sein ‚Wille‘. Fricka
unterstreicht Brünnhildes Sonderstellung bei Wotan bereits vorher, indem sie diese als
„Wunsches Braut“141 Wotans bezeichnet. Diese Selbstdarstellung Brünnhildes wurde in
der Literatur immer wieder aufgegriffen und als Ausgangspunkt für diverse
Interpretationen von ihrem Verhältnis zu Wotan herangezogen.142 Für Sabine HenzeDöhring etwa scheint Brünnhildes „Existenz […] untrennbar mit derjenigen Wotans
verbunden“143. Nach Udo Bermbach ist Brünnhilde
„der Reflex Wotans, sie ist der Spiegel seiner Wünsche und Befehle, sein altera pars und seine
‚anima‘, deshalb auch integraler Teil des Vaters selbst. Mehr als bloße Tochter, mehr auch als
Fricka, kennt sie zunächst keine individuelle Eigenständigkeit, sondern nur Einheit in der
Zweiheit – das aber verschafft ihr von Anfang an eine Sonderstellung unter allen Walküren, auch
gegenüber Fricka.“144
138
Brief an Franz Liszt vom 3. Oktober 1855 (Richard Wagner, Richard Wagners Briefe, Bd. 1, S. 362).
In seiner Schrift Publikum und Popularität berichtet Wagner, dass sich ein von ihm „hochgeschätzter
würdiger alter Herr von freundlichster Lebensgesinnung“ bei einer Aufführung der Walküre in Bayreuth
„über die von ihm als unerträglich empfundene Länge der Scene zwischen Wotan und Brünnhilde“ im
zweiten Akt beklagte. Seine Frau „eine ehrwürdige, häuslich sorgsame Matrone“ hingegen bedauerte nur
„die tiefe Ergriffenheit von ihr genommen zu sehen, in welcher sie die Klage dieses Heidengottes über
sein Schicksal gefesselt hielte“. Wagner selbst bezeichnet den Vorfall als ein Beispiel dafür, dass „die
natürliche Empfänglichkeit für unmittelbare Eindrücke von theatralischen Vorstellungen und den ihnen
zugrunde liegenden dichterischen Absichten eben so ungemein verschieden ist, wie die Temperamente
überhaupt, ganz abgesehen von den verschiedenen Graden der Bildung, es sind“ (Richard Wagner,
Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 10, Berlin u.a. 1914, S. 72).
139
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 611.
140
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 611.
141
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 607.
142
In der Walküre finden sich noch weitere Aussagen Brünnhildes und Wotans, die Brünnhildes
Beziehung zu ihrem Vater verdeutlichen. Es wird angenommen, dass demnach, bei den im Folgenden
zitierten Quellen, für die Darstellung der Beziehung Brünnhildes zu Wotan nicht lediglich Brünnhildes
eigene Bezeichnung als ‚Wille Wotans‘ herangezogen wurde.
143
Sabine Henze-Döhring, „Liebe – Tragik“: Zur musikdramaturgischen Konzeption der BrünnhildeGestalt, S. 126.
144
Udo Bermbach, Wotan – der Gott als Politiker, S. 44f.
28
Bermbach lehnt sich hier an die Interpretation Robert Doningtons an, welche
Brünnhilde als Repräsentantin von „Wotans innere[r] Weiblichkeit“ 145 und „Anima“146
schildert. Ulrike Kienzle bezeichnet Brünnhilde als „Spiegel und Echo von Wotans
Gedanken“147. Hermann von der Pfordten beschreibt sie als „Wotans Lieblingskind, die
Verkörperung seines innersten Wesens und Wollens“148. Dieter Schickling stellt eine
deutlich andere Interpretation von Brünnhildes Bezeichnung von sich selbst als ‚Wille
Wotans‘ an: „Wotans ‚Wille‘ nennt sie sich, und das ist denn schon beträchtlich mehr,
als einer Tochter oder einer Frau überhaupt sonst zusteht. Es klingt so, als bestimme sie,
was Wotan entscheidet.“149 Die Tatsache, dass Wotan Siegmund trotz Brünnhildes
Einwand töten lassen will, widerlegt Schicklings Annahme.
Die Beziehung zwischen Brünnhilde und Wotan äußert sich jedoch nicht nur verbal,
sondern auch körperlich. Besonders Brünnhildes Gestik weist auf ein vertrautes
Verhältnis zu ihrem Vater hin. Wagner schreibt in den Anmerkungen etwa: „Brünnhilde
wirft erschrocken Schild, Speer und Helm von sich und läßt sich mit besorgter
Zutraulichkeit zu seinen Füßen nieder“150, und „Sie legt traulich und ängstlich Haupt
und Hände ihm auf Knie und Schoß“151. Wotan erwidert ihre Gesten: „Wotan blickt ihr
lange in das Auge; dann streichelt er ihr mit unwillkürlicher Zärtlichkeit die Locken.“152
Doch bei aller Vertrautheit und gegenseitiger Zuneigung ist Brünnhilde trotz
allem eine Walküre und muss Wotans Befehlen Folge leisten. Daran wird man erinnert,
als sie sich – Wotan zuliebe153 – weigert, Siegmund sterben zu lassen, und Wotan ihr
145
Robert Donington, Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und seine Symbole, S. 128. Robert
Donington bezeichnet die ‚innere Weiblichkeit‘ beim Mann (bei der Frau ist es die ‚innere Männlichkeit‘)
als Vermittlerrolle, wenn das Ich einer Person zu einem gewissen Vorgehen entschlossen ist, welches
jedoch nicht die tatsächlichen Interessen der Person widerspiegelt.
146
Robert Donington, Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und seine Symbole, S. 128.
147
Auf den Begriff der Spiegel-Metapher geht Kienzle noch genauer ein: „Der Spiegel-Metapher kommt
im ganzen Ring große Bedeutung zu; sie umschreibt die Ergänzung von Ich und Du zum ‚vollkommenen
Menschen‘, der sich nach Wagners Überzeugung in der Beziehung zwischen Liebenden – zwischen
Siegmund und Sieglinde, zwischen Siegfried und Brünnhilde –, aber auch hier – im innigen
Einvernehmen von Vater und Tochter – verwirklicht“ (Ulrike Kienzle, Brünnhilde – das Wotanskind,
S. 86).
148
Hermann von der Pfordten, Einführung in Richard Wagners Werke und Schriften, S. 61.
149
Dieter Schickling, Abschied von Walhall, S. 152.
150
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 611.
151
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 611.
152
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 611.
153
Brünnhilde zu Wotan: „Du liebst Siegmund: dir zulieb, ich weiß es, schütz ich den Wälsung“ (Richard
Wagner, Die Musikdramen, S. 617).
29
sogar droht, seinen Zorn gegen sie zu wenden154, wenn sie es wagt, gegen seine
Anweisungen zu handeln. Brünnhilde ist wegen Wotans Wutausbruch „erschrocken und
betäubt“155, doch auch, wenn sie seine Entscheidung nicht nachvollziehen kann, muss
sie ihm dennoch gehorchen.156
Wotans und Brünnhildes Beziehung soll jedoch schon bald eine Wandlung erfahren –
konkreter formuliert resultiert diese aus Brünnhildes Wandlung157, die sie aufgrund der
Erfahrung der Liebe Siegmunds zu Sieglinde vollzieht. Als Brünnhilde beschließt,
Siegmund im Kampf gegen Hunding zu schützen, stellt sie sich erstmals gegen den
Befehl Wotans. Wesentlich hierbei ist, dass sie zwar gegen seinen Befehl handelt,
jedoch nicht gegen seinen eigentlichen Willen.158 Sie kennt Wotans innerstes Sinnen159
und weiß, dass sein Befehl nicht seinem Willen entspricht – als ‚Wotans Wille‘ scheint
es demnach ihre Pflicht, seinem Befehl zu trotzen. Auch als Wotan in den Kampf
eingreift und mit seinem Speer Siegmunds Schwert zerstört, lässt sich Brünnhilde nicht
beirren und rettet Sieglinde.160 „Damit sagt sie sich von Wotan los; es bedeutet nicht
einmaligen Ungehorsam, sondern endgültige Scheidung. Denn die Welt, in der der
154
Wotan zu Brünnhilde: „Ha, Freche du! Frevelst du mir? […] Kennst du, Kind, meinen Zorn? […]
Wehe dem, den er trifft! Trauer schüf ihm sein Trotz! Drum rat ich dir, reize mich nicht! Besorge, was ich
befahl: Siegmund falle! Dies sei der Walküre Werk!“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 618).
155
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 618.
156
Gegenüber Fricka versucht Wotan die Tatsache, dass Brünnhilde allein nach seinen Befehlen handelt
zu verleugnen, doch Fricka lässt sich von ihm nicht täuschen. Fricka: „[…] die Walküre wend auch von
ihm [Siegmund]!“ Wotan: „Die Walküre walte frei.“ Fricka: „Nicht doch! Deinen Willen vollbringt sie
allein: verbiete ihr Siegmunds Sieg!“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 609).
157
Auf Brünnhildes Wandlung wurde bereits zu einem früheren Zeitpunkt eingegangen (siehe Kapitel
2.2.1.2 Brünnhilde).
158
Auf den Zwiespalt zwischen Wotan’s Befehl und Brünnhildes Handeln weißt auch Elizabeth Magee
hin: „Brünnhilde has challenged Wotan’s will; but will is not the only operative factor in choice. As well
as the dynamic force of the will there is the affective power of desires, from which spring whishes. […] In
defending Siegmund, now, Brünnhilde is acting contrary to Wotan’s orders, yet in accordance with his
desires. […] Brünnhilde is acting for Wotan in her capacity of wish-fulfiller, against him in her role as
agent of his will. It is not her fault if the two roles are incompatible” (Elizabeth Magee, Richard Wagner
and the Nibelungs, S. 175f.). Magee’s Aussage stimmt mit der in diesem Text postulierten insofern nicht
überein, als sie Wille mit Befehl gleichsetzt und Brünnhilde demnach gegen Wotan’s Befehl – sprich
Willen – handelt, aber in Übereinstimmung mit seinem Wunsch. In diesem Text wird jedoch die These
vertreten, dass Wotan’s Befehl und Wille nicht übereinstimmen, sondern sein Wille seinen eigentlichen
Wunsch repräsentiert. Demnach handelt Brünnhilde zwar gegen seinen Befehl, aber in Übereinstimmung
mit seinem Willen – sprich Wunsch. Möglicherweise sind Wotans Befehl und Wille bis zu diesem
Zeitpunkt immer miteinander konform gegangen, hier ist dies jedoch nicht der Fall.
159
Sein innerstes Sinnen besteht darin, mithilfe von Siegmund dem Fluch zu entrinnen und Erlösung zu
finden.
160
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 629. Nach Sabine Henze-Döhring tritt Brünnhilde, wenn
sie Wotan Ungehorsam leistet, ihm nicht mit einer eigenen Identität gegenüber, sondern lediglich mit dem
„besseren, von ihm unterdrückten Teil seines Ichs“ (Sabine Henze-Döhring, „Liebe – Tragik“: Zur
musikdramaturgischen Konzeption der Brünnhilde-Gestalt, S. 128).
30
Göttervater gebietet und Brünnhilde bis dahin lebte und wirkte, weiß nichts von Liebe
und Mitleid.“161 In der Tat hat Brünnhildes Ungehorsam die Scheidung von der
Götterwelt zur Folge, diese Entscheidung trifft sie jedoch nicht selbst, sondern Wotan.
Wotans Reaktion und verbaler Wutausbruch über Brünnhildes Tat folgt sofort,
nachdem Brünnhilde mit Sieglinde verschwunden ist und Wotan Hunding ermordet hat:
„Doch Brünnhilde! Weh der Verbrecherin!“162 Wotan zieht auch gleich eine
Konsequenz aus ihrem Ungehorsam: „Furchtbar sei die Freche gestraft […]!“163 Als
Wotan später „in höchster zorniger Aufgeregtheit“164 auf dem Walkürenfelsen eintrifft,
äußert sich seine Wut auf Brünnhilde noch stärker – er bezeichnet sie als „Verbrecherin
[…], ewig Verworfene[.]“165 und „Treulose“166. Seine Aussagen gegenüber den
Walküren offenbaren, dass Wotans Entrüstung über Brünnhildes Tat aus zweierlei
Gründen entfacht wurde: 1) Sie hat als Walküre sein „herrschend Gebot offen
verhöhnt“167, weshalb er die Integrität seiner Befehlsmacht als Gott untergraben sieht.
2) Wotan zeigt sich persönlich verletzt und enttäuscht, war es doch gerade Brünnhilde –
die sein „innerstes Sinnen“168 und den „Quell [seines] Willens“169 kannte und seines
„Wunsches schaffender Schoß“170 war –, welche nun den „seligen Bund“171 zwischen
den beiden brach. Dieser Aspekt scheint von noch größerer Bedeutung und wird
verdeutlicht, als er Brünnhilde aufzählt, was sie alles für ihn war („Wunschmaid […],
Schildmaid […], Loskieserin […], Heldenreizerin […] [und] Walküre“172) und jetzt
nicht mehr ist und was sie vorher gemeinsam unternommen haben und nun nicht mehr
können („[…] das Trinkhorn nicht reichst du traulich mir mehr; nicht kos‘ ich dir mehr
den kindischen Mund […]“173). Wotan ist wütend und auch verletzt darüber, dass sich
Brünnhilde – so sieht er es zumindest – mit dieser Tat von ihm lossagte. Er zieht daraus
die Konsequenz Brünnhilde zu bestrafen.174 Gleichzeitig will er aber die Verantwortung
161
Hermann von der Pfordten, Einführung in Richard Wagners Werke und Schriften, S. 61.
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 629.
163
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 629.
164
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 639.
165
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 639.
166
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 640.
167
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 640.
168
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 640.
169
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 640.
170
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 640.
171
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 640.
172
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 640f.
173
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 641.
174
Die Interpretation darüber, wen oder was Wotan tatsächlich bestraft, zeigt sich in der Literatur
vielseitig. Nach Robert Donington wendet sich Wotans Zorn nicht nur gegen Brünnhilde, sondern
162
31
für diese Entscheidung von sich abstreifen, indem er Brünnhilde selbst dafür
verantwortlich macht: „Nicht straf ich dich erst, deine Strafe schufst du dir selbst.“175
Die Strafe176 trifft Brünnhilde hart, und sie „sinkt mit einem Schrei zu
Boden“177. Dennoch, oder gerade deshalb beginnt sie ihre Tat vor Wotan zu verteidigen.
Ihre Verteidigungsrede zeigt zum einen, dass sie hinter ihrem Handeln steht, zum
anderen zeigt sie aber auch, dass Brünnhilde trotz Wotans Wut darauf hofft, dass er sie
versteht, wie auch sie ihn versteht und dadurch erkennt, dass sie nur aus ihrer Empathie
für ihn so gehandelt hat. Brünnhilde plädiert dafür, dass Wotans Befehl, Siegmund nicht
zu schützen, nicht seinem eigentlichen Wunsch entsprach, sondern er dabei von Fricka
beeinflusst wurde. Doch Brünnhilde wusste um den „Zwiespalt“178, der Wotan hierbei
quälte. Aus ihren Worten wird deutlich, wie gut sie Wotan kennt und dass sie über seine
wahren Gefühle Bescheid weiß. Es wird aber auch ersichtlich, dass sie in ihrer Tätigkeit
als Walküre seinen Befehlen nicht nur blind folgt, sondern diese hinterfragt und ihnen,
wenn notwendig, auch entgegenwirkt179, um Wotan in gewisser Weise ‚vor sich selbst
zu schützen‘. Wie richtig sie mit ihrer Einschätzung über Wotans Gefühlswelt und
ausweglose Situation lag, bestätigt Wotan selbst: „So tatest du, was so gern zu tun ich
begehrt; doch was nicht zu tun, die Not zwiefach mich zwang!“180 Umso paradoxer
scheint sein Eingeständnis vor dem Hintergrund, dass er nichtsdestotrotz an seinem
Beschluss, Brünnhilde zu bestrafen, festhält. Denn obwohl sie zwar seinen Befehl
verweigert, aber damit seinen eigentlichen Wunsch verteidigt hat, hat sie sich in seinen
Augen dadurch von ihm losgesagt.181 Doch ist es in Wahrheit nicht Brünnhilde, welche
sich von Wotan losgesagt hat, genau das Gegenteil ist der Fall – Wotan hat sich von
Brünnhilde losgesagt. Auch wenn er erkennt und auch eingesteht, dass er genau so
gleichzeitig gegen seine ‚Anima‘ (vgl. Robert Donington, Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und
seine Symbole, S. 128). Auf die Tatsache, dass Donington Brünnhilde als Wotans ‚Anima‘ bezeichnet,
wurde bereits früher eingegangen (siehe Kapitel 2.2.1.3 Die Beziehung zwischen Wotan und Brünnhilde,
S. 29). Ulrike Kienzle weist darauf hin, dass es Wotan mit Brünnhildes Bestrafung nicht nur auf die
„Vernichtung ihrer Göttlichkeit, sondern auch ihres Selbstbewußtseins als Frau“ abzielt (Ulrike Kienzle,
Brünnhilde – das Wotanskind, S. 87).
175
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 640.
176
Wotan verkündet die Strafe, durch welche sie auf dem Walkürenfelsen schlafend, dem Mann, der sie
erweckt, zur Frau gegeben wird (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 642).
177
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 642.
178
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 644.
179
Brünnhilde hat zwar, bereits als ihr Wotan seinen Gegenbefehl verkündet hat, bemerkt, dass dieser
nicht seinem eigentlichen Wunsch entspricht, die Fähigkeit gegen diesen zu handeln erlangte sie jedoch
erst durch ihre Wandlung. Die Wandlung die sie durch Siegmunds Liebe zu Sieglinde erfahren hat, wurde
bereits mehrmals angesprochen und erläutert (siehe u.a. Kapitel 2.2.1.2 Brünnhilde, S. 22f.).
180
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 645.
181
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 646.
32
handeln wollte, wie es Brünnhilde getan hat, dies jedoch nicht konnte, ist es ihm nicht
möglich, sie von ihrer vermeintlichen Schuld loszusprechen.182 Wenn Brünnhilde dies
als „starre[n] Trotz[.]“183 bezeichnet, durch welchen er sein „trautestes Kind“184
verstößt, scheint ihr Vorwurf nicht ohne Berechtigung. Hierin erkennt man die
Doppelseitigkeit ihrer Beziehung – sie sind nicht nur Vater und Tochter, sondern auch
Gott und Walküre. Trotz seiner Liebe zu ihr als Tochter kann er über ihren Ungehorsam
als Walküre – als welche sie seinen Befehlen Folge zu leisten hat – nicht hinwegsehen,
was mit seinem verletzten Stolz als Gott und Herrscher zu tun hat. Es scheint demnach
als würde er bei der Bestrafung ihre Beziehung zwischen Gott und Walküre
voranstellen. Einen zentralen Aspekt bei seiner Ablehnung Brünnhilde gegenüber dürfte
auch ihre Fähigkeiten zu Mitleid und Liebe, welche sie durch Siegmund erworben hat,
einnehmen. Diese Annahme geht aus einigen Aussagen Wotans hervor:
„Wo gegen mich selber ich sehrend mich wandte, aus Ohnmachtsschmerzen schäumend ich
aufstoß, wütender Sehnsucht sengender Wunsch den schrecklichen Willen mir schuf, in den
Trümmern der eig’nen Welt meine ew’ge Trauer zu enden: - da labte süß dich selige Lust;
wonniger Rührung üppigen Rausch enttrankst du lachend der Liebe Trank, als mir göttlicher Not
nagende Galle gemischt?“185
und „Du folgtest selig der Liebe Macht: folge nun dem, den du lieben mußt!“186 Ob
Wotans Ablehnung dessen schlicht daher rührt; 1) dass die Welt der Götter schlichtweg
von Mitleid und Liebe nichts weiß;187 oder 2) es daran liegt, dass Brünnhilde das Gefühl
von Liebe gerade zu einem Zeitpunkt entdeckt, als er selbst vor „den Trümmern der
eig’nen Welt“188 steht und er ihr es deshalb nicht gönnen beziehungsweise es vielleicht
auch nicht nachvollziehen kann; oder 3) ob vielleicht doch die These der inzestuösen
Gefühle Wotans zu Brünnhilde189 berücksichtigt werden muss, weshalb er es vielleicht
nicht ertragen kann, dass ein anderer Mann als er dieses Gefühl bei Brünnhilde
ausgelöst hat – auch wenn Siegmunds Liebe nicht Brünnhilde galt und Brünnhilde
182
Robert Donington beschreibt Wotans Reaktion und Zustand folgendermaßen: „Wotan tut genau das,
was jeder in seinem gegenwärtigen verblendeten Zustand höchstwahrscheinlich tun würde – er projiziert
seine eigenen feindseligen Absichten auf die andere Person, anstatt sie in sich selbst zu sehen. Dadurch
kann er die andere Person höchst selbstgerecht genau des Vergehens bezichtigen, das er selbst begeht.
Brünnhildes Eingreifen in jene Angelegenheit, die er unterschwellig selbst gern gefördert hätte, hat all die
Bitterkeit ausgelöst, die er selbst als ursprünglicher Anstifter des ganzen fehlgeschlagenen Versuchs hätte
akzeptieren müssen, befände er sich in einem weniger verblendeten Zustand“ (Robert Donington, Richard
Wagners »Ring des Nibelungen« und seine Symbole, S. 130).
183
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 643.
184
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 643.
185
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 646.
186
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 647.
187
Diese Aussage Hermann von der Pfordtens wurde bereits zu einem früheren Zeitpunkt zitiert (vgl.
Fußnote 161).
188
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 646.
189
Diese Thematik wurde bereits zu einem früheren Zeitpunkt angesprochen (vgl. Fußnote 136).
33
Siegmund zwar liebte, aber nicht auf sexuelle Art190; – welche Motivation hinter seiner
Reaktion steht, kann hier nicht beantwortet werden.
Nachdem Brünnhilde es nicht geschafft hat, Wotan zum Einlenken zu bewegen
und von ihrer Strafe abzusehen, versucht sie ihm klar zu machen, welche Konsequenzen
ihre Bestrafung für ihn selbst hätte: „[D]ie eig’ne Hälfte fern von dir halten, - daß sonst
sie ganz dir gehörte […]. Dein ewig Teil nicht wirst du entehren, Schande nicht wollen,
die sich beschimpft! Dich selbst ließest du sinken, sähst du dem Spott mich zum
Spiel!“191 Nicht nur Brünnhilde würde Wotans Strafe treffen, sondern – davon ist sie
überzeugt – auch Wotan selbst. Wie recht Brünnhilde damit hat, wird sich später zeigen.
Doch auch jetzt verkennt Wotan die Lage und weicht nicht von seiner Überzeugung ab.
Wieder versucht er die Verantwortung für Brünnhildes Schicksal von sich zu
schieben.192 Nachdem Brünnhilde Wotan bittet die Art der Strafe nochmals zu
wiederholen, wird an ihrer Reaktion deutlich, dass es ihr nicht mehr darum geht die
Strafe zu verhindern, sondern lediglich darum, sie zu verändern. Ob dies daran liegt,
dass sie eingesehen hat, dass Wotan nicht darauf eingehen würde die Strafe
vollkommen zurückzunehmen, oder ob sie inzwischen ein größeres Ziel verfolgt – was
ihre Erweckung durch Siegfried und die darauf folgende Erlösung der Götter impliziert
– muss hier unbeantwortet bleiben. Brünnhilde will nicht dem „feigsten Manne“193,
sondern einem „furchtlos[en] freieste[n] Held[en]“194 zur Frau werden. Als Wotan
diesen Wunsch verweigert, stürzt sie sich zu seinen Füßen und fleht ihn an, sie nicht
dieser „gräßlichsten Schmach“195 freizugeben und zu ihrem Schutz um den Felsen ein
Feuer zu entfachen. Erstmals, seitdem Brünnhilde gegen Wotans Befehl gehandelt hat
und so ihr „selige[r] Bund“196 gebrochen wurde, erbarmt sich Wotan Brünnhildes und
bringt ihr wieder offen seine Zuneigung entgegen. Er zeigt sich „überwältigt und tief
ergriffen […] erhebt sie von den Knien und blickt ihr gerührt in das Auge“197. Erst jetzt
scheint er von der Tatsache, dass er diejenige, die er liebt, sein „kühnes, herrliches
190
Wotan hat Brünnhilde sogar ‚gelehrt‘ Siegmund zu lieben (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen,
S. 617). So hat sie geliebt, den auch Wotan geliebt hat (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 646).
191
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 646f.
192
Wotan sagt zu Brünnhilde: „Von Walvater schiedest du – nicht wählen darf er für dich“ (Richard
Wagner, Die Musikdramen, S. 647).
193
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 648.
194
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 648.
195
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 649.
196
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 640.
197
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 649.
34
Kind“198, seines „Herzens heiligste[n] Stolz“199 verliert und sie von nun an nicht mehr
in seinem Leben sein wird, emotional ergriffen. Trotz der starken Bindung der beiden
zueinander, die hier durch Wotan wieder ersichtlich wird, schafft er es aber auch jetzt
nicht, die Strafe von ihr abzuwenden. Doch er erfüllt ihre Bitte: Nur dem ‚freiesten
Helden‘ soll es gelingen, das Feuer zu durchqueren und Brünnhilde zur Frau zu
bekommen.200 Ob Wotans Entscheidung wirklich nur aus Liebe zu Brünnhilde getroffen
wurde, oder ob dahinter (zusätzlich) ein politisches Kalkül201 steckt, weil er dadurch
wieder Hoffnung auf Erlösung hat, sei dahingestellt.202 Brünnhilde „sinkt gerührt und
begeistert an Wotans Brust“203, sie ist noch immer voller Liebe zu ihrem Vater und
scheint zu verstehen, dass er nicht anders handeln kann und sie bestrafen muss.204
Wotans letzte Worte sind voller Reminiszenzen an die gemeinsame Vergangenheit.
Schließlich nimmt er ihren Kopf in seine Hände und küsst die Gottheit von ihr. Er ruft
Loge, um das Feuer zu entfachen. Wotan fällt der Abschied schwer, mehrmals dreht er
sich um und blickt auf Brünnhilde, bevor es ihm gelingt, den Felsen zu verlassen.205
„Wotan […] muß mit ihr sein Liebstes opfern; er ist durch eigene Schuld vernichtet. Wenn er ihr
Begehren erfüllt und Loge herbeiruft, um den ‚Feuerzauber‘ zu entzünden, wenn er sie unter der
großen Tanne auf beide Augen küßt und die Entschlummernde mit ihren Waffen bedeckt, wenn
er nach ergreifendem Abschied mit dem Hinweis auf ihren Erwecker die Szene verläßt, so haben
wir den Eindruck: nicht sie erlebt eine Tragödie, sondern er. Er hat alles verloren, sie wird alles
198
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 649.
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 649.
200
„And both she and Wotan know that this has to be Siegfried, already growing in Sieglinde’s womb”
(Barry Emslie, Richard Wagner and the Centrality of Love, S. 86). In der Tat führen Brünnhildes
Aussagen zur Erkenntnis, dass es sich bei diesem Helden nur um Siegfried handeln kann. Zu Sieglinde
sagt Brünnhilde: „Denn Eines wiss‘ und wahr es immer: den hehrsten Helden der Welt hegst du, o Weib,
im schirmenden Schoß!“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 637). Später sagt sie zu Wotan: „[D]er
weihlichste Held – ich weiß es – entblüht dem Wälsungenstamm!“ und „Sieglinde hegt die heiligste
Frucht“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 647). Schließlich bittet sie Wotan, dass nur ein „furchtlos
freiester Held“ sie auf dem Felsen finden kann (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 648). Wotan
erfüllt ihre Bitte indem „Einer nur freie die Braut, der freier als [er], der Gott“ ist (Richard Wagner, Die
Musikdramen, S. 649).
201
Udo Bermbach weist auf Wotans politisches Kalkül in dieser Situation hin: „Wie immer die
emotionale Befindlichkeit Wotans hier sein mag, selbst in dieser Lage kehrt bei ihm alsbald das politische
Kalkül zurück“ (Udo Bermbach, Wotan – der Gott als Politiker, S. 46). Bermbach meint hier Wotans
Einwilligung in Brünnhildes Bitte, sie nicht irgendeinem Mann zu geben, was er mit dem Wissen getan
hat, dass dieser Mann nur Siegfried sein kann und er so wieder Hoffnung auf Erlösung hat.
202
Paradox erscheint nur die Tatsache, dass Wotan, der zuvor nur noch „das Ende“ (Richard Wagner, Die
Musikdramen, S. 616) wollte, jetzt seine neue Hoffnung auf Erlösung ergreift. Sein Verhalten dürfte aber
insofern nicht überraschen, als zuvor bereits gezeigt wurde, dass Wotans Handeln von Widersprüchen
geprägt ist (siehe Kapitel 2.2.1.1 Wotan).
203
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 649.
204
In der Tat ist erst ein Zorn Brünnhildes auf Wotan und über ihre Bestrafung erkennbar, als Siegfried in
der Gestalt Gunthers auf dem Felsen erscheint, und sich Brünnhilde dadurch von Wotan betrogen und
hintergangen fühlt (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 777).
205
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 650f.
199
35
gewinnen; nicht um sie bangt uns, sondern um ihn. Er ist der Unterliegende, ihn wird das
Schicksal ereilen; sie aber wird triumphieren.“206
Darauf, wie stark Wotan der Abschied von Brünnhilde trifft, verweist der hier schon
mehrmals zitierte Brief Wagners an August Röckel:
„Wotan ist nach dem Abschied von Brünnhilde in Wahrheit nur noch ein abgeschiedener Geist:
seiner höchsten Absicht nach kann er nur noch gewähren lassen, es gehen lassen wie es geht,
nirgends aber mehr bestimmt eingreifen; deswegen ist er nun auch ‚Wanderer‘ geworden
[…].“207
In Siegfried und der Götterdämmerung wird deutlich, dass Wotan noch viel stärker an
Brünnhilde hängt als sie an ihm. Brünnhilde kann zwar nach ihrer Erweckung noch
nicht sofort mit ihrem Dasein als Walküre abschließen, doch es dauert nicht lange, bis
sie sich in ihr neues Schicksal als liebende Frau begibt.208 Deutlich wird ihre Loslösung
von Wotan und der Götterwelt, als Waltraute zu ihr auf den Felsen kommt. Brünnhilde
äußert zwar noch kurz ihre Hoffnung darüber, dass Wotan ihr ihre Tat verziehen hat,
doch als Waltraute dies nicht bestätigt, geht Brünnhilde nicht weiter darauf ein. Als
Waltraute ihr berichtet, dass Wotan seit dem Abschied von ihr nur mehr als Wanderer
durch die Welt streifte und jetzt hoffnungs- und tatenlos auf seinem Thron sitzt, weigert
sich Brünnhilde zu seiner Rettung Siegfrieds Ring zu opfern.209 Anders verhält es sich
bei Wotan – obwohl er sich mit der Bestrafung Brünnhildes von ihr losgesagt hat,
gelingt es ihm jedoch nicht, seine Bindung zu ihr zu lösen. Dies zeigt sich in der Szene,
in der er auf Siegfried trifft und ihn – obwohl er seine letzte Möglichkeit darstellt, den
Fluch vom Ring zu beenden – daran hindern will, zu Brünnhilde zu gelangen. Wagner
begründet Wotans Verhalten mit seiner Eifersucht um Brünnhilde:
„Sieh, wie er dem Siegfried im dritten Acte gegenüber steht! Er ist hier vor seinem Untergange
so unwillkürlicher Mensch endlich, dass sich – gegen seine höchste Absicht – noch einmal der
alte Stolz rührt, und zwar (wohlgemerkt!) aufgereizt durch – Eifersucht um Brünnhilde; denn
diese ist sein empfindlichster Fleck geworden.“210
206
Hermann von der Pfordten, Einführung in Richard Wagners Werke und Schriften, S. 62. Sabine
Henze-Döhring schreibt dazu Folgendes: „Wotans Liebesgefühle für Brünnhilde sind nie stärker als im
Augenblick des Abschieds: Sie gelten nicht nur dem Kind, sondern auch ihrer gemeinsamen Hoffnung. In
dem Moment, als er von ihr die Gottheit küßt, nimmt er ihr einen Teil ihrer Existenz, löscht damit aber
auch einen Teil seiner eigenen aus“ (Sabine Henze-Döhring, „Liebe – Tragik“: Zur
musikdramaturgischen Konzeption der Brünnhilde-Gestalt, S. 128f.).
207
Brief von Wagner an August Röckel vom 25./26. Januar 1854 (Richard Wagner, Sämtliche Briefe,
Bd. VI Januar 1854 – Februar 1855, S. 69).
208
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 729-738.
209
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 770-775.
210
Brief von Wagner an August Röckel vom 25./26. Januar 1854 (Richard Wagner, Sämtliche Briefe,
Bd. VI Januar 1854 – Februar 1855, S. 69).
36
Obwohl er die Strafe verhängt hat, scheint es ihm nun, da es soweit ist, nicht möglich zu
sein, Brünnhilde ohne Widerstand in die Hände eines Mannes zu übergeben. Bedenkt
man jedoch Wotans Worte: „Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das
Feuer nie!“211, erscheint die Tatsachen, dass er Siegfried mit seinem Speer
herausfordert, als logische Konsequenz.
2.2.2 Wotans andere Töchter – Brünnhildes Schwestern
Befasst man sich mit Tochter-Vater-Beziehungen im Ring des Nibelungen, darf nicht
außer Acht gelassen werden, dass Brünnhilde nicht Wotans einzige Tochter ist. Neben
Brünnhilde hat er noch acht weitere Walküren-Töchter212 und Sieglinde, welche aus
Wotans Beziehung mit einer menschlichen (nicht-göttlichen) Frau entstanden ist. Im
Folgenden soll einerseits erörtert werden, wie Wotans Beziehung zu seinen Töchtern im
Libretto dargestellt wird, und andererseits, wie sich Brünnhildes Beziehung zu ihren
Schwestern gestaltet.
2.2.2.1 Die Walküren
Wotans Beziehung zu Brünnhilde ist die einzige zu einer seiner Töchter, welche eine
Tochter-Vater-Beziehung erkennen lässt. Sein Verhalten gegenüber den anderen
Walküren213 lässt auf keinen väterlichen Umgang schließen – weder verbal noch non211
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 651.
Ihre Namen lauten: Gerhilde, Ortlinde, Waltraute, Schwertleite, Helmwige, Siegrune, Grimgerde und
Rossweisse. „The names of Brünnhilde and her eight sisters […] are all composites. Schwertleite, for
example, means ‘sword wielder’“ (Jeffrey Peter Bauer, Women and the changing concept of salvation in
the operas of Richard Wagner, Anif/Salzburg 1994, S. 137). Ernest Newman erklärt die Bedeutung des
Wortes ‚Walküre’ wie folgt: „The ‘Wal-‘ of ‘Walküre’ comes from an old German word signifying
battlefield, and the remainder of the word from an old verb ‘küren’ (to choose: cf. the present German
verb ‘erküren’, p.p. ‘erkoren’, to choose, elect)” (Ernest Newman, The Wagner Operas, Princeton 1991,
S. 511). Gerhad Wahrig Definiert den Begriff Walküre folgendermaßen: „Jungfrau, die in der Schlacht
diejenigen auswählt, die sterben u. nach Walhall eingehen sollen {nach a[lt]nord[ischen] Valkyrja; zu
germ[anischen] wala – ‚tot, gefallen‘, auch ‚Schlachtfeld‘ […] + kiesen ‚küren, auswählen‘}“ (Gerhard
Wahrig (Hg.), Deutsches Wörterbuch. Mit einem "Lexikon der deutschen Sprachlehre", München 1982,
S. 4100).
213
Sowohl Jeffrey Peter Bauer, als auch Jonathan Lewsey geben an, dass alle neun Walküren-Töchter von
Wotan und Erda sind (vgl. Jeffrey Peter Bauer, Women and the changing concept of salvation in the
operas of Richard Wagner, S. 136 und Jonathan Lewsey, Who’s Who and What’s What in Wagner,
Aldershot 1997, S. 261). Das Libretto lässt jedoch darauf schließen, dass lediglich Brünnhilde die Tochter
von Wotan und Erda ist. Zum Beispiel sagt Wotan zu Brünnhilde: „[…] mit Liebeszauber zwang ich die
Wala [gemeint ist Erda], stört ihres Wissens Stolz, daß sie Rede nun mir stand. Kunde empfang ich von
ihr; von mir doch barg sie ein Pfand: der Welt weisestes Weib gebar mir, Brünnhilde, dich. Mit acht
Schwestern zog ich dich auf […]“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 613). In Siegfried sagt Erda zu
Wotan Folgendes: „Ein Wunschmädchen [gemeint ist Brünnhilde] gebar ich Wotan […] was weckst du
212
37
verbal, wie zum Beispiel körperliche Zuneigung. Im Gegensatz zu Brünnhilde
bezeichnet er die anderen Walküren nie als seine Kinder oder Töchter, jedoch
bezeichnen ihn die Walküren wiederum als Vater.214 Wie Brünnhilde – aber auch Fricka
und Erda – verkörpern die anderen Walküren Wotans ‚Anima‘, so Robert Donington.215
Wie Brünnhildes, ist es auch die Aufgabe ihrer Walküre-Schwestern, im Auftrag von
Wotan auf dem Schlachtfeld gefallene Helden nach Walhall zu bringen. Jonathan
Lewsey beschreibt die Walküren als asexuell, und ihre einzige treibende Kraft besteht
darin, Wotan zu dienen.216
Die einzigen Stellen im Ring des Nibelungen, die sich anbieten, um die
Beziehung zwischen Wotan und den Walküren sowie Brünnhilde und ihren WalküreSchwestern auszumachen, sind im dritten Aufzug (erste und zweite Szene) der Walküre
zu finden. Bereits bevor Brünnhilde auf dem Felsen eintrifft, auf welchem ihre
Schwestern warten, um gemeinsam nach Walhall zu reiten, wird einerseits erkennbar,
dass sich die Walküren über Brünnhildes Sonderstellung bei Wotan bewusst sind217 –
sie müssen mit ihrer Rückkehr nach Walhall auf Brünnhilde warten, da ihnen Wotan
sonst „grimmigen Gruß“218 entgegenbringen würde. Andererseits lässt sich ihr
Verhältnis zu Wotan hier erstmals erahnen – sie respektieren Wotan und wollen seinen
Anweisungen Folge leisten, eventuell auch, weil sie die Konsequenzen bei Missachtung
dieser fürchten.
Als Brünnhilde auf dem Felsen eintrifft, bringt sie ihre Walküre-Schwestern in eine
prekäre Situation: Brünnhilde „[b]rach ungehorsam […] Heervaters heilig Gebot“ 219, ist
jetzt auf der Flucht vor ihm und bittet ihre Schwestern um Hilfe. Sie benötigt eines der
Pferde ihrer Walküre-Schwestern, um mit Sieglinde weiter fliehen zu können. Doch die
Reaktionen der Walküren darauf sind eindeutig – sie lassen sich nicht zu „rasende[m]
mich, und frägst um Kunde nicht Erdas und Wotans Kind?“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 718).
Wer die Mutter beziehungsweise Mütter der anderen Walküren ist/sind, bleibt hingegen unbekannt.
214
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 635, 639, 642.
215
Vgl. Robert Donington, Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und seine Symbole, S. 128.
216
Jonathan Lewsey, Who’s Who and What’s What in Wagner, S. 261. Ihr, durch Wotan bestimmtes,
Handeln betont auch Elizabeth Magee, wenn sie sagt, dass die Walküren keine eigenständigen
Entscheidungen treffen, sondern lediglich Wotans Befehle ausführen (vgl. Elizabeth Magee, Richard
Wagner and the Nibelungs, S. 173).
217
Laut Jeffrey Peter Bauer ist Brünnhilde die Anführerin der Walküren (vgl. Jeffrey Peter Bauer, Women
and the changing concept of salvation in the operas of Richard Wagner, S. 138).
218
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 632.
219
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 635.
38
Trotz“220 gegen Wotan aufbringen. Helmwiges Aussage: „Dem Vater gehorch ich“221,
drückt die bedingungslose Ergebenheit der Walküren gegenüber, und mit Sicherheit
auch Angst vor Wotan aus, welche die Liebe zu ihrer Schwester Brünnhilde zu
übertreffen scheint. Jedoch muss hier die Tatsache Berücksichtigung finden, dass es
Brünnhilde in ihrer Not – die aus ihrem Ungehorsam gegenüber Wotan entstanden ist –
überhaupt wagt, sich an ihre Walküre-Schwestern zu wenden. Dieser Schritt zeugt von
Brünnhildes Vertrauen und ihrer Hoffnung auf schwesterlichen Zusammenhalt.
Brünnhildes Hoffnung und Vertrauen werden auch nicht enttäuscht, denn, obwohl sich
die Walküren bis zuletzt weigern, sich gegen Wotan zu stellen, verstecken sie
Brünnhilde vor ihm, als er in „höchster zorniger Aufgeregtheit“222 auf dem Felsen
erscheint. Zunächst täuschen die Walküren Unwissenheit über die Geschehnisse vor,
doch als sich Wotan nicht beirren lässt, gestehen sie, dass Brünnhilde in ihrer Not zu
ihnen gekommen ist. Obwohl sie sehen, wie wutentbrannt Wotan über Brünnhildes Tat
ist, beginnen sie für Brünnhilde um Erbarmen zu bitten – er soll seinen Zorn zähmen,
bevor er mit Brünnhilde spricht, damit dieser die Schwester nicht mit voller Härte trifft.
Doch Wotan hat kein Verständnis für das Mitgefühl der Walküren für Brünnhilde und
beschimpft sie als „[w]eichherziges Weibergezücht“223. Nichtsdestotrotz lassen sich die
Walküren nicht von ihrem Mitleid für ihre Schwester abbringen und bringen ihr
Entsetzen über Brünnhildes Strafe zum Ausdruck. Nachdem Wotan die Strafe verkündet
hat, kommen die Walküren in „höchster Aufregung von der Felsenhöhe […] herab und
umgeben in ängstlichen Gruppen Brünnhilde“224. Sie beginnen auf Wotan einzureden:
„Halt ein! O Vater! Soll die Maid verblühn und verbleichen dem Mann? Du
schrecklicher Gott! Wende von ihr die schreiende Schmach! Wie die Schwester träf uns
selber der Schimpf!“225 Als ihnen Wotan dasselbe Schicksal androht, wenn sie den
Felsen nicht sofort verlassen oder es wagen Brünnhilde noch einmal aufzusuchen,
gewinnt letztendlich doch ihre Angst vor Wotan die Überhand, und sie fliehen vom
Felsen.
220
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 635.
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 635.
222
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 639.
223
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 639.
224
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 642.
225
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 642.
221
39
Aufgrund dieser Szenen können einige wesentliche Aspekte in den Beziehungen
zwischen Wotan und den Walküren sowie zwischen Brünnhilde und ihren WalküreSchwestern ausgemacht werden. Zum einen lässt sich die zu Beginn aufgestellte
Aussage, dass Wotan gegenüber den Walküren kein liebevolles, väterliches Verhalten
an den Tag legt, untermauern. Zum anderen wurde aber auch gezeigt, dass die Walküren
– auch wenn sie sich zunächst geweigert haben und sie am Ende doch von Wotan
eingeschüchtert wurden – nicht alle Entscheidungen Wotans gutheißen und sich
gegebenenfalls auch dagegen auflehnen und ihrem Unmut Ausdruck verleihen. Die
innere Gespaltenheit der Walküre-Schwestern Brünnhildes wird in dieser Szene
deutlich: Einerseits sind sie Wotan in ihrer Tätigkeit als Walküren treu ergeben, auch
aus Angst davor, sich gegen ihn und seine Macht zu stellen. Andererseits ist ihre
schwesterliche Verbundenheit zu Brünnhilde so stark, dass sie diese Angst (zumindest
kurzzeitig) überwinden. Im Bezug auf Brünnhilde wurde gezeigt, dass sich die
Walküren, um ihrer Schwester zu helfen, gegen Wotan stellen, was eine starke
schwesterliche Bindung voraussetzt. Angesichts des wütenden Zustandes, in dem sich
Wotan befand und der Tatsache, dass die Walküren üblicherweise Wotans Befehlen
folgen, erhält dies noch einmal mehr Gewicht. Bezüglich Brünnhilde wurde bereits
angemerkt, dass ihr Handeln, ihre Schwestern um Hilfe zu bitten, großes Vertrauen in
ihre Beziehung zu diesen voraussetzt – gerade deshalb, weil Brünnhilde – als Walküre –
weiß, in welchem Verhältnis ihre Schwestern zu Wotan und seinen Befehlen stehen.
Waltraute wird, aufgrund ihres Auftritts in der Götterdämmerung (erster Aufzug, dritte
Szene), als einzige der Walküre-Schwestern Brünnhildes separat betrachtet.226 Setzt
man sich mit der Szene zwischen Brünnhilde und ihren Walküre-Schwestern in der
Walküre und ihrem Aufeinandertreffen mit Waltraute in Siegfried auseinander, lassen
sich signifikante Veränderungen feststellen. Als Waltraute auf dem Felsen erscheint, tut
sie dies nicht, wie sie zu Beginn behauptet, um Brünnhildes Willen. Und ihre Rückkehr
auf den Felsen ist auch nicht, wie es zunächst den Anschein hat, ein mutiges
Aufgebehren gegen Wotans Befehl, Brünnhilde nie wieder aufzusuchen. Auf Walhall
226
Jeffrey Peter Bauer beschreibt den Unterschied zwischen Brünnhilde, Waltraute und den andern
Walküren folgendermaßen: „The Valkyrie Brünnhilde […] will act in her own capacity. Waltraute will
also act on her own (visionary) capacity. All the remaining sisters will act collectively, rather than as
individuals” (Jeffrey Peter Bauer, Women and the changing concept of salvation in the operas of Richard
Wagner, S. 136).
40
hat sich seit Wotans Abschied von Brünnhilde viel verändert – Wotan schickt die
Walküren nicht mehr aus, um gefallene Helden nach Walhall zu bringen, Wotan
durchstreifte als Wanderer die Wälder, er ließ die Weltesche fällen und sitzt nun
tatenlos auf seinem Thron. Wotan regiert nicht mehr, demnach hat Waltraute wegen
ihrem Besuch bei Brünnhilde auch nichts zu befürchten – das Gegenteil ist der Fall:
Waltraute fürchtet sich vor dem, was passiert, wenn sich die Situation auf Walhall nicht
ändert. Waltrautes Aussage „Dürft ich ihn [Wotan] fürchten, meiner Angst fänd ich ein
End!“227 ist für die gegenwärtigen Umstände Wotans und Walhalls bezeichnend. Um
Walhall zu retten, kommt sie zu Brünnhilde und bittet diese, den Ring den
Rheintöchtern zurückzugeben.
Doch auch Brünnhilde hat sich verändert, weshalb sie Waltrautes Bitte nicht nur
ablehnt, sondern sie sogar als „fühllose Maid“ 228 bezeichnet, weil sie von ihr verlangt
„Siegfrieds Liebespfand“229 herzugeben. Für Brünnhilde steht nun die Liebe zu
Siegfried über allem, sogar über der Rettung Wotans, Walhalls und ihrer WalküreSchwestern. Auch wenn Brünnhilde ihre Schwestern in ihrer größten Not beiseite
gestanden haben, kann sie, aufgrund ihrer treu ergebenen Liebe zu Siegfried, jetzt nicht
dasselbe für sie tun. Hier verliert Brünnhildes Aussage: „Oh seid mir treu, wie traut ich
euch war!“230, mit der sie sich in der Walküre an ihre Schwestern gewandt hat, jegliche
Bedeutung. So schickt Brünnhilde „lieblos“231 ihre trauernde Schwester fort.
Die beiden Schwestern haben sich voneinander distanziert und können die
Gefühlswelt der jeweils anderen nicht nachvollziehen und verstehen. Brünnhilde ist
nicht in der Lage die „ängstliche Scheu“232, in der sich Waltraute befindet,
wahrzunehmen und reagiert infolgedessen unangemessen (Brünnhilde spricht „in
höchster freudiger Aufgeregtheit […], [s]ie umarmt Waltraute unter stürmischen
Freudenbezeigungen, welche diese mit scheuer Ungeduld abzuwehren sucht“ 233 usw.)
auf ihr Erscheinen. Ebenso wenig kann Waltraute Brünnhildes Verhalten – gemeint ist
ihre hingebungsvolle Liebe zu Siegfried, welche sie über das Wohl der Götter stellt –
227
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 772.
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 774.
229
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 774.
230
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 635.
231
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 775.
232
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 771.
233
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 771.
228
41
nachvollziehen. Waltraute spricht von einem „Taumel“234, welcher Brünnhilde erfasst
hat. Die Szene in Siegfried zeichnet – bezogen auf die Beziehung zwischen Brünnhilde
und ihren Walküre-Schwestern (beziehungsweise Waltraute) – demnach ein
vollkommen konträres Bild zu dem in der Szene in der Walküre.
2.2.2.2 Sieglinde
Ähnlich wie bei den Walküren ist auch zwischen Wotan und Sieglinde keine TochterVater-Beziehung erkennbar. Auch Sieglinde bezeichnet Wotan nie als seine Tochter
oder sein Kind. Auf Seiten Sieglindes ist es insofern etwas komplizierter, als sie nicht
weiß, dass Wotan ihr Vater ist – aus diesem Grund kann ihre Beziehung zu Wotan nicht
untersucht werden.235 Als Wotan Brünnhilde verbietet Siegmund zu schützen verliert er
kein Wort über Sieglinde, es scheint, als wäre ihm ihr Schicksal gleichgültig.236 Auch
als ihm Brünnhilde später sagt, dass Sieglinde ein Kind von Siegmund erwartet, lässt er
sich nicht für seine Tochter Sieglinde erweichen. Seine Aussage gegenüber Brünnhilde,
„Nie suche bei mir [Wotan] Schutz für die Frau [Sieglinde], noch für ihres [Sieglindes]
Leibes Frucht!“237, macht dies deutlich. Wie bereits zuvor erörtert wurde, könnte seine
negative Reaktion auf Sieglinde und ihr Ungeborenes jedoch auch daran liegen, dass
Wotan hierin eine neue Möglichkeit sieht, den Fluch abzuwehren. Damit Sieglindes
Kind tatsächlich frei von seiner Führung walten kann, verstößt er sie.
Die Beziehung zwischen Brünnhilde und Sieglinde gestaltet sich etwas komplex und
ändert sich von ihrem ersten Aufeinandertreffen bis hin zu Sieglindes Flucht. Sieglinde
weiß nicht, dass Brünnhilde ihre Schwester ist. Bei Brünnhilde ist zwar anzunehmen,
dass sie darüber Bescheid weiß, dass Sieglinde ihre Schwester ist, jedoch bezeichnet sie
diese nie als solche.238 Als Brünnhilde zu Siegmund kommt, um ihm seinen Tod zu
234
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 773.
Aus dem Libretto geht hervor, dass Wotan und Sieglinde sich bereits vor dem Kampf zwischen
Siegmund und Hunding getroffen haben. Es handelt sich hierbei um den Abend an dem Wotan in das
Haus Hundings kam und dort Nothung in den Baumstamm stieß. Sieglinde berichtet hierbei von einem
Fremden, der plötzlich den Saal betrat (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 596f.).
236
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 617.
237
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 647.
238
Auf Siegmunds Frage, ob er in Walhall seinen Vater vorfindet antwortet Brünnhilde: „Den Vater
findet der Wälsung dort“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 623). Das und die Tatsache, dass sie
Wotans enge Vertraute ist, deuten darauf hin, dass sie weiß, dass Siegmund Wotans Sohn ist. Später
235
42
verkünden und ihn mit nach Walhall zu nehmen, nimmt sie hierbei – wie Wotan – keine
Rücksicht auf Sieglinde. Als sich Siegmund weigert, mit ihr nach Walhall zu kommen
ist ihr zunächst vollkommen unverständlich, wie er „das arme Weib“239 „ewige[r]
Wonne“240 vorziehen kann. Schließlich ist sie aber von seiner Liebe zu Sieglinde so
beeindruckt, dass sie anbietet, sich um Sieglinde zu kümmern, wenn Siegmund in
Walhall ist. Letztendlich flieht sie, nach Siegmunds Tod, sogar mit Sieglinde, um sie
vor Wotan in Sicherheit zu bringen.241 Nachdem Brünnhilde zu Beginn nur Siegmunds
Schicksal am Herzen gelegen ist – immerhin hat ihr Wotan nur gelehrt Siegmund zu
lieben, nicht jedoch Sieglinde242 – ist es nun jenes von Sieglinde und ihrem
ungeborenen Kind. Brünnhilde bringt Sieglinde zu den Walküren und bittet sie
Sieglinde zu retten. Als sich die Walküren weigern, Sieglinde zu helfen, bleibt
Brünnhilde zurück, um sich alleine dem Zorn Wotans zu stellen, damit Sieglinde fliehen
und sich und ihr Ungeborenes in Sicherheit bringen kann.243
Auch Sieglindes Einstellung zu Brünnhilde ändert sich im Laufe der Szene auf
dem Felsen. Während Brünnhilde die Walküren anfleht Sieglinde zu helfen, starrt
Sieglinde „finster und kalt“244 vor sich hin. Als „Brünnhilde sie lebhaft – wie zum
Schutze – umfaßt, [fährt sie] mit einer abwehrenden Gebärde auf“245. Sieglinde macht
Brünnhilde Vorwürfe, weil sie sie gerettet hat. Siegmund ist tot, und ohne ihn will auch
Sieglinde nicht mehr leben. Als Brünnhilde Sieglinde von dem Kind erzählt, welches
sie von Siegmund erwartet, schlägt Sieglindes Stimmung plötzlich um. Jetzt bittet auch
sie die Walküre um Hilfe und fleht Brünnhilde auf Knien an, sie und ihr Kind zu
schützen.246 Bevor Sieglinde flieht, wendet sie sich „in größter Rührung“247 an
Brünnhilde: „O hehrstes Wunder[!] Herrliche Maid! Dir Treuen dank ich heiligen Trost!
Für ihn, den wir liebten, rett ich das Liebste: meines Dankes Lohn lache dir einst! Lebe
wohl! Dich segnet Sieglindes Weh!“248 Cosima Wagner schreibt in ihrem Tagebuch
bezeichnet sie Sieglinde als „Siegmunds Schwester und Braut“, was sie folglich zu Wotans Tochter macht
(Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 634).
239
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 625.
240
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 625.
241
Siehe Walküre, zweiter Aufzug, vierte und fünfte Szene.
242
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 617.
243
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 634-637.
244
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 635.
245
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 635.
246
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 636.
247
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 638.
248
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 638.
43
über diese Szene: „Am Morgen singt R. mir das Thema von Sieglinde an Brünnhilde
und sagt mir: ‚Das bist du - -‘, […].“249
2.2.3 Fricka250
Es scheint, für das in dieser Arbeit behandelte Thema, noch von Interesse, die
Beziehung Frickas zu Wotan und Brünnhilde zu betrachten. Speziell im Hinblick
darauf, wie die Beziehung der beiden Frauen zu Wotan, ihr Verhältnis zueinander
beeinflusst, und weshalb.
In einem Brief an August Röckel beschreibt Wagner die Beziehung zwischen
Wotan und Fricka:
„Das feste Band, das beide bindet, entsprungen dem unwillkürlichen Irrthume der Liebe, über
den nothwendigen Wechsel hinaus sich zu verlängern, sich gegenseitig zu gewährleisten, dieses
Entgegentreten dem ewig Neuen und Wechselvollen der Erscheinungswelt – bringt beide
Verbundene bis zur gegenseitigen Qual der Lieblosigkeit.“251
Die ‚Lieblosigkeit‘, die ihre Beziehung bestimmt, zeichnet sich bereits im Rheingold ab.
Wotan nimmt auf die Gefühle seiner Frau Fricka keine Rücksicht. Er setzt Frickas
geliebte Schwester Freia als Lohn für den Bau von Walhall ein, was Fricka in Angst
und Sorge um ihre Schwester versetzt. Außerdem betrügt Wotan Fricka mit anderen
Frauen, dass diese darüber Bescheid weiß und dies nicht gut heißen kann, wird bereits
im Rheingold ersichtlich. Vergebens hat sie gehofft, mit dem Bau von Walhall Wotan
sesshaft machen zu können. Doch Wotan versteht ihre Aufregung nicht und spielt ihre
Vorwürfe wegen seiner Untreue herunter – denn er ehrt doch die Frauen, jedoch „mehr
als [Fricka] freut“252. Lässt sich Fricka im Rheingold in ihrer Diskussion mit Wotan
immer wieder von ihm zurückdrängen, so tritt sie ihm in der Walküre wesentlich
entschiedener entgegen. Fricka bezeichnet sich selbst als „der Ehe Hüterin“253 und hält
den „heiligen Eid“254 der Ehe hoch. Sie klagt nicht nur Wotans Betrug an ihr an –
249
Tagebucheintrag vom 15. März 1874 (Cosima Wagner, Die Tagebücher, Bd. 2 1873-1877, München
u.a. 1976, S. 802). Einige Jahre zuvor sagte Richard Wagner zu Cosima, jedoch scherzend, wie sie selbst
in ihrem Tagebucheintrag vom 29. Oktober 1870 vermerkt: „Du bist Elisabeth, Elsa, Isolde, Brünnhilde,
Eva in einer Person, und ich habe dich geheiratet“ (Cosima Wagner, Die Tagebücher, Bd. 1 1869-1872,
München u.a. 1976, S. 306).
250
Auf Siegmund und Siegfried und ihre Beziehung zu Wotan und Brünnhilde wurde bereits in den
vorherigen Kapiteln eingegangen, weshalb dies hier nicht mehr aufgegriffen wird.
251
Brief von Wagner an August Röckel vom 25./26. Januar 1854 (Richard Wagner, Sämtliche Briefe,
Bd. VI Januar 1854 – Februar 1855, S. 67f.).
252
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 537.
253
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 605.
254
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 605.
44
woraus die Walküren und auch Siegmund und Sieglinde entstanden – sondern auch
Siegmunds und Sieglindes Betrug an Hunding. Siegmunds und Sieglindes Vergehen ist
in den Augen Frickas sogar in zweifacher Weise verwerflich: 1) Sieglinde betrügt mit
Siegmund ihren Ehemann Hunding und 2) Siegmund und Sieglinde sind Geschwister –
bei dieser „Blutschande“255 „schaudert [Fricka] das Herz [und] schwindet [ihr] Hirn“256.
Wie Wotan im Rheingold seinen Betrug an Fricka rechtfertigen wollte, versucht er nun
Siegmunds und Sieglindes Betrug an Hunding zu verteidigen. Er kann eine Ehe, die
zwei Unliebende eint – wie es bei Sieglinde und Hunding der Fall war –, nicht ehren
und sieht deshalb in der Vereinigung zweier Liebender – auch wenn es sich um
Geschwister handelt – nichts Verwerfliches. Fricka zeigt sich davon unbeeindruckt, für
sie steht der Bund der Ehe über Liebe.257
Als Wotan Fricka davon überzeugen will, dass Siegmund frei von göttlichem
Gesetz und Einfluss handelt, lässt ihn Fricka seinen Selbsttrug erkennen: Siegmund
führt nicht seinen eigenen Willen aus, sondern den Wotans – jede scheinbar
‚schicksalhafte Fügung‘, die ihn dort hin geführt hat wo er jetzt ist, wurde durch Wotan
herbeigeführt. Um Frickas „heilige Ehre“258 willen soll Wotan nun nicht Siegmund,
sondern Hunding den Sieg verschaffen.
„[…] indem Fricka Wotan dies zu Bewußtsein bringt, steht sie für mehr als nur eine nörgelnde
Frau […]. Sie steht für einen Teil von Wotans innerer Weiblichkeit, der besser als er selbst weiß,
was er schließlich wissen muß, da es im Grunde wahr und wichtig für ihn ist.“ 259
Anfangs versucht Wotan Frickas Vorwurf noch zu verleugnen, doch schließlich
muss er sich eingestehen, dass „sein moralisches ego, Fricka, im Recht ist“ 260. Aufgrund
der Tatsache, dass Wotan Fricka mehrmals betrogen hat, ist es jedoch fraglich, ob er
den Entschluss, Siegmund im Kampf nicht zu helfen, tatsächlich gefällt hat, um Frickas
Ehre zu verteidigen. Plausibler scheint es, dass, nachdem sich Wotan seinen Selbsttrug
eingestanden hat und ihm bewusst wurde, dass Siegmund nie in der Lage sein würde,
den Fluch des Ringes zu beenden, er in seiner Hoffnungslosigkeit Frickas Forderung
einwilligte.
255
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 605.
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 605.
257
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 604-607.
258
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 610.
259
Robert Donington, Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und seine Symbole, S. 115.
260
Dietrich Mack, Zur Dramaturgie des Ring, S. 59.
256
45
Brünnhilde und Fricka treffen nie, beziehungsweise nur sehr kurz aufeinander, die eine
verlässt jedes Mal die Bühne, wenn die jeweils andere auftritt261. Dennoch ist
erkennbar, dass sich ihre Beziehung zueinander problematisch gestaltet. Dies hat auch
damit zu tun, dass Brünnhildes und Frickas Verhältnis zueinander wesentlich von
Wotan abhängig ist, und zwar in mehrerlei Hinsicht. Zum einen ist Brünnhilde aus
Wotans Ehebruch mit Erda entstanden, ihren Ärger darüber drückt Fricka in der
Walküre aus:
„Die treue Gattin trogest du stets […] und höhnend kränktest mein Herz. Trauernden Sinnes
mußt ich’s ertragen, zogst du zur Schlacht mit den schlimmen Mädchen, die wilder Minne Bund
dir gebar: denn dein Weib noch scheutest du so, daß der Walküren Schar, und Brünnhilde selbst,
deines Wunsches Braut, in Gehorsam der Herrin du gabst.“ 262
Die von ihr vorgenommene Betonung von Brünnhilde als Wotans ‚Wunsches Braut‘,
lässt in diesem Zusammenhang darauf schließen, dass Fricka auch die enge Beziehung
Brünnhildes zu Wotan missfällt. Doch auch Brünnhilde ist Fricka nicht positiver
gesinnt, ist es doch Fricka, die Wotan den ‚Sinn entfremdet‘263 und ihn dazu bringt,
Siegmund den Sieg zu nehmen.
Zum anderen repräsentierten Brünnhilde und Fricka die zwei „entgegengesetzten
Regungen, die in Wotan im Widerstreit miteinander liegen […], [i]st Brünnhilde
Wotans Wille […] so ist Fricka Wotans Gewissen“264. Zumindest als es darum geht,
Siegmund entweder zu schützen oder seinen Sieg zu verhindern, stehen diese zwei
Seiten in einem klaren Widerspruch zueinander und sind somit inkompatibel. Allein
diese Tatsache macht es für Fricka und Brünnhilde unmöglich, ein gutes Verhältnis
zueinander aufbauen können.
261
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 604, 610.
Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 606f.
263
Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 644.
264
Carl Dahlhaus, 19. Jahrhundert IV, S. 237.
262
46
2.3 Analyse der musikalischen Ebene
2.3.1 Aspekte zur Einführung
Für Wagner besaß das Orchester „unleugbar ein Sprachvermögen“265, welches sich in
dessen „Vermögen [der] Kundgebung des Unaussprechlichen“266 zeigt. Die im
Orchester mitwirkenden Instrumente werden hierbei jedoch nicht als eine klanglich
verschmelzende Einheit betrachtet, sondern als „Individualitäten“267, welche die
Fähigkeit zur „individuelle[n] Kundgebung“268 besitzen. Das für die Wortsprache –
diese versteht Wagner als „Organ des Verstandes“269 – „Unaussprechliche“270, kann
mithilfe der Tonsprache, dem „Organ des Gefühles“271, zum Ausdruck gebracht werden
– hierbei handelt es sich um Empfindungen und Gefühle. Um die mitgeteilten
Empfindungen und Gefühle den HörerInnen verständlich zu machen, benötigt die
Tonsprache jedoch die Wortsprache. In Oper und Drama schreibt Wagner dazu:
„Die Musik kann nicht denken; sie kann aber Gedanken272 verwirklichen, d.h. ihren
Empfindungsgehalt als einen nicht mehr erinnerten, sondern vergegenwärtigten kundtun: dies
kann sie aber nur, wenn ihre eigene Kundgebung von der dichterischen Absicht bedingt ist, und
diese wiederum sich nicht als eine nur gedachte, sondern zunächst durch das Organ des
Verstandes, die Wortsprache, klar dargelegte offenbart. Ein musikalisches Motiv kann auf das
Gefühl einen bestimmten, zu gedankenhafter Tätigkeit sich gestaltenden Eindruck nur dann
hervorbringen, wenn die in dem Motive ausgesprochene Empfindung vor unseren Augen von
einem bestimmten Individuum an einem bestimmten Gegenstande als ebenfalls bestimmte, d.h.
wohlbedingte, kundgegeben ward. Der Wegfall dieser Bedingungen stellt ein musikalisches
Motiv dem Gefühle als etwas Unbestimmtes273 hin, und etwas Unbestimmtes kann in derselben
Erscheinung noch so oft wiederkehren, es bleibt uns immer ein eben nur wiederkehrendes
Unbestimmtes, das wir aus einer von uns empfundenen Notwendigkeit seiner Erscheinung nicht
zu rechtfertigen, und daher mit nichts anderem zu verbinden imstande sind.“ 274
265
Richard Wagner, Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, Bd. 7 Oper und
Drama, Frankfurt a.M. 1983, S. 308.
266
Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 7 Oper und Drama, S. 308f.
267
Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 7 Oper und Drama, S. 309.
268
Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 7 Oper und Drama, S. 309.
269
Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 7 Oper und Drama, S. 309.
270
Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 7 Oper und Drama, S. 309.
271
Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 7 Oper und Drama, S. 309.
272
Ein Gegenstand, der einen bestimmten Eindruck auf jemanden macht, bemächtigt sich dessen
Empfindung. Um diese Empfindung mitteilen zu können bedarf es einem Ausdruck beziehungsweise
Gedanken (vgl. Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 7 Oper und Drama, S. 318f.).
273
Aus diesem Grund findet es Wagner auch unzulässig, in der Instrumentalmusik musikalische Themen
als ‚Gedanken‘ zu bezeichnen (vgl. Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 7 Oper und Drama,
S. 321).
274
Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 7 Oper und Drama, S. 321f. In Eine Mitteilung an
meine Freunde spricht Wagner von einer ‚Vermählung‘ von Wort- und Tonsprache (vgl. Richard
Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 6 Reformschriften 1849-1852, S. 296).
47
An diese Überlegung lässt sich mit einer Aussage anknüpfen, welche Wagner in seiner
Schrift Zukunftsmusik festgehalten hat. Laut dieser liegt die Größe eines Dichters gerade
darin, das ‚Unaussprechliche‘ zu verschweigen, der Musiker bringt dies dann mithilfe
der ‚unendlichen Melodie‘ zum Erklingen.275
Diese und noch weitere Überlegungen Wagners haben dazu geführt, dass seine
Werke, insbesondere auch der Ring des Nibelungen, vor dem Hintergrund der
Leitmotivtechnik276 untersucht wurden und werden. Von Wagner selbst sind keine
Leitmotivkataloge oder eine Auflistung der Bezeichnungen der verwendeten Motive
vorhanden. Insgesamt finden sich in seinen Kompositionsskizzen zum Ring des
Nibelungen lediglich elf Motivbezeichnungen.277 Doch auch wenn Wagner selbst keine
Leitmotivanalyse durchführte, gab es zumindest zwei Zeitgenossen von ihm, welche
275
Vgl. Richard Wagner, Zukunftsmusik. An einen französischen Freund (Fr. Villot), Leipzig o.J., S. 59.
Begriffe wie ‚Leitmotiv‘, ‚Musikdrama‘ oder ‚unendlich Melodie‘ finden in der Wagnerliteratur
häufige Verwendung. Unterschiedliche AutorInnen weisen jedoch darauf hin, dass die Definitionen und
Interpretationen dieser Termini oft stark divergieren. Dies wird darauf zurückgeführt, dass die
Ausführungen Wagners fehlinterpretiert werden, ein Begriff zwar von Wagner verwendet, aber nicht von
ihm eingeführt und definiert wurde, oder Wagner diesen Terminus nie verwendet hat und aus diesem
Grund keine eindeutige Begriffsbestimmung vorliegt. Sucht man in der Literatur von und über Wagner
beispielsweise Hinweise über die Herkunft des Begriffes ‚Leitmotiv‘ und dessen Verwendung durch
Wagner, gerät man scheinbar in einen Irrgarten. Nach Hans Joachim Bauer wurde der Begriff ‚Leitmotiv‘
1871 von Friedrich Wilhelm Jähns in Carl Maria von Weber in seinen Werken eingeführt und von
Wagner kaum verwendet (vgl. Hans-Joachim Bauer, Richard Wagner Lexikon, Bergisch Gladbach 1988,
S. 234). Martin Gregor-Dellin verweist bei der Erfindung des Terminus auf Hans von Wolzogen (vgl.
Martin Gregor-Dellin, Richard Wagner. Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München 1983,
S. 866). Auch Hans von Wolzogen gibt an, der erste gewesen zu sein, welcher den Begriff ‚Leitmotiv‘ für
die Analyse von Wagners Werken verwendet hat. Jedoch geschah dies erst nach der Veröffentlichung
seines Thematischen Leitfades, welchen er für die ersten Bayreuther Festspiele 1876 anfertigte (vgl. Hans
von Wolzogen, Musikalisch-dramatische Parallelen. Beiträge zur Erkenntnis von der Musik als
Ausdruck, Leipzig 1906, S. 216). Laut Christian Thorau war es hingegen der Musikhistoriker August
Wilhelm Ambros, welcher den Begriff 1860 erstmals auf Wagner (und Liszt) bezogen verwendete (vgl.
Christian Thorau, Motivtechnik, kompositorische Syntax und Form, Kassel 2012, S. 241). Wolfram
Steinbeck weist sogar darauf hin, dass Wagner den Begriff ‚Leitmotiv‘ selbst so nie verwendet hat (vgl.
Wolfram Steinbeck, Zur Formfrage in Wagners Ring des Nibelungen, Schneverdingen 2004, S. 280).
Zumindest die Aussage von Steinbeck kann widerlegt werden, wenn man Cosima Wagners
Tagebucheintrag vom 31. Januar 1879 Glauben schenkt, dort heißt es: „Am Schluß einer Fuge sagt er
[Wagner]: ‚K.D. [Kanon(ähnliche) Durchführung] das wiederholt sich auch, da kann man sich schon die
Wiederholung meiner Leitmotive gefallen lassen.‘“ (Cosima Wagner, Die Tagebücher, Bd. 3 1878-1880,
München u.a. 1982, S. 300). Um noch einmal auf die Verwendung des Begriffs ‚Leitmotiv‘ in der
Wagnerliteratur einzugehen, sei noch auf Gilbert Stöck verwiesen, welcher, nicht zuletzt wegen der
unterschiedlichen Definitionen des Terminus, dafür argumentiert, stattdessen den Begriff ‚Kennfiguren‘
zu verwenden. Einerseits soll dadurch stärker auf die außermusikalischen Bedeutungen dieser Bezug
genommen werden, andererseits soll der Begriff ‚Motiv‘ abstrahiert werden, um die Grenzen, welche
dieser mit sich bringt, aufzuweichen (vgl. Gilbert Stöck, Das Kennfigur-System als neuer Zugang zu
Richard Wagners „Leitmotiv“-Technik, Wiesbaden u.a. 2003, S. 81-83).
277
Vgl. Christian Thorau, Semantisierte Sinnlichkeit. Studien zu Rezeption und Zeichenstruktur der
Leitmotivtechnik Richard Wagners, Stuttgart 2003, S. 127.
276
48
dies taten und von dessen Arbeiten er wusste. Gottlieb Heinrich Federleins Analysen278,
welche Wagner selbst als „etwas sehr Anerkenneswertes“279 und „sehr Nützliches“280
bezeichnete, waren nach Hans Paul Freiherr von Wolzogen die ersten, in denen der
„Verwendung bestimmter musikalischer Motive ernstlich“281 nachgegangen wurde. Von
Federleins Arbeit wurde Wolzogen im Herbst 1874 zu seiner Analyse des Vorspiels zu
Siegfried motiviert. Liszt war von dieser so begeistert, dass er ihn bei den Vorproben zu
den ersten Bayreuther Festspielen 1875 dazu ermutigte, noch weitere Analysen zu
machen.282 Vom Leipziger Verleger Edwin Schloemp wurde Wolzogen schließlich
gebeten, einen Thematischen Leitfaden für die Uraufführung des Ring des Nibelungen
bei den ersten Bayreuther Festspielen 1876 anzufertigen.283 Während sich Federlein
mehr auf den musikalischen Aufbau der Szenen stützte und die Handlung nur
geringfügig heranzog, ging Wolzogen vom Drama aus und versuchte dessen Handlung
durch musikalische Motive zu erläutern.284 Wolzogen weist darauf hin, dass auch
Wagner erkannt hat, dass der Fokus seiner Analysen auf der „Beobachtung des
poetischen Elements“285 lag und Wagner sich für den gesamten Ring des Nibelungen
eine Analyse gewünscht hätte, welche sich mehr auf die musikalische Ebene stützt –
wie es in den Analysen Federleins der Fall war.
278
Federleins Analysen des Rheingold und der Walküre erschienen 1871 beziehungsweise 1872 im
Musikalischen Wochenblatt (vgl. Peter Rümenapp, Zur Rezeption der Leitmotivtechnik Richard Wagners
im 19. Jahrhundert, Wilhelmshaven 2002, S. 113).
279
Brief von Wagner an Federlein vom 24. Mai 1870 (Richard Wagner, Briefe. Die Sammlung Burrell,
Frankfurt a.M. 1950, S. 808).
280
Brief von Wagner an Federlein vom 24. Mai 1870 (Richard Wagner, Briefe. Die Sammlung Burrell,
S. 808). Den Tagebucheinträgen (vom 23. Oktober 1870 und 21. Mai 1871) Cosima Wagners zufolge
erhielt Richard Wagner Federleins Analysen vor dessen Veröffentlichung (vgl. Cosima Wagner, Die
Tagebücher, Bd. 1 1869-1872, S. 303, 389).
281
Hans von Wolzogen, Musikalisch-dramatische Parallelen, S. 215.
282
Laut Emil Heck klebte er sich die, von Federlein zusammengestellten, Leitmotive aus dem Rheingold
und der Walküre an den jeweiligen Stellen im Libretto ein und brachte dieses zur Vorprobe in Bayreuth
1875 mit, woraufhin Liszt dafür Interesse zeigte. Anschließend machte er – Heckel – Hans von Wolzogen
den Vorschlag, von Siegfried und der Götterdämmerung eine Analyse in der Art von Federleins zu
machen (vgl. Richard Wagner, Richard Wagner an Emil Heckel. Zur Entstehungsgeschichte der
Bühnenfestspiele in Bayreuth, Leipzig 1912, S. 106f.).
283
Vgl. Hans von Wolzogen, Musikalisch-dramatische Parallelen, S. 215f.
284
Vgl. Hans von Wolzogen, Musikalisch-dramatische Parallelen, S. 216.
285
Hans von Wolzogen, Musikalisch-dramatische Parallelen, S. 217. Auf diesen Aspekt weist Wagner
auch in seiner Schrift Über die Anwendung der Musik auf das Drama hin: „[…] ich habe nur des einen
meiner jüngeren Freunde [gemeint ist Hans von Wolzogen] zu gedenken, der das Charakteristische der
von ihm so genannten ‚Leitmotive‘ mehr ihrer dramatischen Bedeutsamkeit und Wirksamkeit nach als (da
dem Verfasser die spezifische Musik fernlag) ihre Verwertung für den musikalischen Satzbau in das
Auge fassend ausführlicher in Betrachtung nahm“ (Richard Wagner, Gesammelte Schriften und
Dichtungen, Bd. 10, S. 185). Obwohl Wagner, wie bereits erwähnt wurde, Federleins Analysen bekannt
waren, nimmt er auf diese hier keinen Bezug.
49
2.3.2 Musikalische Analyse
Laut Sabine Henze-Döhring bleibt auf „der textlichen (vordergründigen) Ebene […]
vieles ungesagt, was auf der musikalischen (hintergründigen) unmißverständlich zum
Ausdruck gebracht wird“286. Im Folgenden soll untersucht werden, ob sich bezüglich
der vorzufindenden Tochter-Vater-Beziehungen in der Walküre mithilfe der Analyse
der musikalischen Ebene Erkenntnisse gewinnen lassen, welche auf textlicher Ebene
nicht erkennbar waren. Auf Basis der durchgeführten Analyse des Librettos konnte
bereits festgestellt werden, dass Wotan lediglich zu Brünnhilde ein väterliches
Verhältnis zeigt. Aus diesem Grund beschränkt sich die musikalische Analyse auf
Szenen zwischen Brünnhilde und Wotan.287
Die erste Szene zwischen Wotan und Brünnhilde ist die erste Szene des zweiten
Aufzugs der Walküre. Bereits bevor sich der Vorhang geöffnet hat, wird Brünnhildes
Präsenz musikalisch durch das ‚Walkürenritt-Motiv‘ verdeutlicht, welches in ff von der
Basstrompete und drei Posaunen vorgetragen wird.288 Durch die Quart- und
Terzsprünge und die unterschiedlichen Notenwerte erhält das Motiv eine prägnante
Klanggestalt. Die Veränderung der Tonhöhe des Motivs um eine Terz in jedem Takt
steigert die Intensität noch zusätzlich.
Walküre Notenbeispiel 1: ‚Walkürenritt-Motiv‘289
286
Sabine Henze-Döhring, „Liebe – Tragik“: Zur musikdramaturgischen Konzeption der BrünnhildeGestalt, S. 129.
287
Da viele Leitmotive bereits im Rheingold oder in anderen Szenen der Walküre eingeführt werden, ist
es für die Erstellung eines Leitmotivkataloges und die Durchführung einer musikalischen Analyse
notwendig, Analysen anderer MusikwissenschaftlerInnen heranzuziehen. Verwendet wurden sechs
vollständige Analysen des Ring des Nibelungen – dies gewährleistet die Möglichkeit nachzuvollziehen,
wo die jeweiligen Leitmotive zum ersten Mal verwendet wurden (vgl. Robert Donington, Richard
Wagners »Ring des Nibelungen« und seine Symbole. Musik und Mythos, Stuttgart 1976, Uwe Faerber,
Ersichtlich gewordene Taten der Musik. Musikalische Ausdrucksbestimmungen in Wagners Ring,
Frankfurt a.M. u.a. 2003, Edmund E. F. Kühn, Richard Wagners Musikdramen. Sämtliche komponierten
Bühnendichtungen, Berlin o.J., Kurt Overhoff, Die Musikdramen Richard Wagners. Eine thematischmusikalische Interpretation, Salzburg 1967, Wolfgang Perschmann, Richard Wagner: „Der Ring des
Nibelungen“. Die optimistische Tragödie. Sinndeutende Darstellung, Graz 1986, Richard Wagner, Die
Walküre. Der Ring des Nibelungen, München 1982). Aufgrund des teilweise enormen Unterschiedes
bezüglich der Anzahl der aufgelisteten Leitmotive, werden lediglich Leitmotive verwendet, welche bei
mindestens drei Analysen beziehungsweise AutorInnen vorzufinden sind. Auf Leitmotive, die verwendet
werden, obwohl sie nicht in mindestens drei Analysen verwendet wurden, wird gesondert hingewiesen.
288
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, Leipzig o.J., S. 174-176.
289
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 174f. (Basstrompete und Posaunen). Das Motiv tritt hier
zum ersten Mal auf. Die abgebildeten Notenbeispiele zeigen das Motiv in seiner jeweiligen ersten
50
Dieser musikalische Vorbote wird im Folgenden verstärkt, indem Brünnhilde
musikalisch in ihrer Rolle als Walküre positioniert wird. Es entsteht ein dichtes Geflecht
aus allen den Walküren zugeschriebenen Motiven.290 Während vokal der ‚Walkürenruf‘
zu hören ist, erklingen die restlichen ‚Walküre-Motive‘ instrumental und bedienen sich
hierbei einer breiten Palette an Instrumentengruppen, welche sowohl Holzblas-,
Blechblas- als auch Streichinstrumente umfassen. Die drei Motive weisen eine sehr
unterschiedliche Gestalt auf: Das ‚Walkürenruf-Motiv‘ besteht aus großen Sprüngen
abwärts und einem kleineren aufwärts. Die ‚Walküren-Motive‘ bestehen aus einem
staccato gespielten Wechsel zwischen zwei Sechzehntelnoten, beziehungsweise in
Halbtonschritten absteigenden Achtelnoten, welche durch einen
Legatobogen
verbunden werden.
Walküre Notenbeispiel 2: ‚Walkürenruf-Motiv‘ (Rahmen mit durchgehender Linie) und
‚Walküren-Motive‘(Rahmen mit unterbrochener Linie) 291
Die Leitmotive repräsentieren jedoch nicht nur Brünnhildes Rolle als Walküre, sondern
gleichzeitig ihre Stellung und Pflichterfüllung gegenüber Wotan. Wotan wird in dieser
Szene von keinen Leitmotiven begleitet, weshalb sein Verhältnis zu Brünnhilde auf
musikalischer Ebene nicht weiter analysiert werden kann.
vollständigen Darstellung im Ring des Nibelungen. In den analysierten Passagen können auch Variationen
von diesem vorkommen.
290
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 178-189.
291
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 178f. (über ganzen Orchesterapparat verteilt auch
Vokalpart). Die Motive werden hier zum ersten Mal verwendet.
51
Nach der Szene zwischen Fricka und Wotan kommt es zum zweiten Aufeinandertreffen
von Wotan und Brünnhilde.292 Noch als Brünnhilde an Wotan herantritt, wird die
Grundstimmung der folgenden Szene und der diesen Unmut verursachende Grund
musikalisch vorgezeichnet, indem eine um zwei Takte verlängerte Variante des
‚Unmuts-Motivs‘ und das rhythmisch variierte ‚Fluch-Motiv‘ erklingen.293 Das ‚UnmutMotiv‘ erhält durch den Triolenvorschlag und die Verwendung vieler unterschiedlicher
Notenwerte einen unruhigen Eindruck. Beim ‚Fluch-Motiv‘ werden, im Gegensatz zum
Notenbeispiel, die hintereinander folgenden Töne auf derselben Tonhöhe nicht
mehrmals angespielt, sondern zu einem größeren Notenwert zusammengefasst. Dadurch
erhält das ‚Fluch-Motiv‘ an dieser Stelle einen ruhigen aber bestimmten Charakter.
Walküre Notenbeispiel 3: ‚Unmuts-Motiv‘294
Walküre Notenbeispiel 4: ‚Fluch-Motiv‘295
Brünnhilde vernimmt sofort die gedrückte Stimmung ihres Vaters, ihre Fähigkeit zur
empathischen Wahrnehmung der Gefühlslage Wotans wird musikalisch durch das
‚Unmuts-Motiv‘ im Violoncello deutlich. Dass Brünnhilde sich nicht getäuscht hat,
wird erkennbar, als auch Wotan von dem ‚Unmuts-Motiv‘, wieder im Violoncello,
begleitet wird. Während das Motiv bei Brünnhilde dreimal erklingt und dabei bei jeder
292
Walküre zweiter Aufzug, zweite Szene.
Das ‚Unmuts-Motiv‘ erklingt im Oktav-Unisono in der Bassklarinette, drei Fagotten und dem
Violoncello, das ‚Fluch-Motiv‘ in drei Posaunen (Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 234).
294
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 220 (Bassklarinette, Fagotte, Kontrabässe). Das Motiv
taucht erstmals in der Szene zwischen Wotan und Fricka auf, als Wotan durch Fricka gezwungen wird,
sich seinen Selbsttrug einzugestehen. Auch wenn er es vor Fricka nicht eingesteht weiß er, dass er
Siegmunds Handeln beeinflusst hat – dies erzeugt seinen Unmut (siehe Walküre zweiter Aufzug, erste
Szene).
295
Richard Wagner, Das Rheingold, Taschenpartitur, London u.a. o.J., S. 564 (Vokalpart). Nachdem
Wotan Alberich den Ring weggenommen hat, verflucht Alberich den Ring mit diesen Worten (siehe
Rheingold vierte Szene).
293
52
Wiederholung um eine (große bzw. kleine) Terz höher versetzt wird, fällt es bei Wotan
um eine kleine Sexte und eine reine Quinte ab.296 Vermittelt der Anstieg bei Brünnhilde
ein Gefühl von Angst über den Unmut Wotans, wird durch den Abfall bei Wotan die
Aussichtslosigkeit der Situation sichtbar. Als sich im Folgenden „Wotans Ausdruck und
Gebärde bis zum furchtbarsten Ausbruch“297 steigern, spiegelt sich dies im Orchester
wider,
durch
die
immer
belebtere
Spielweise
und
die
Steigerung
der
Instrumentenanzahl. Wotan legt vor Brünnhilde seine Hoffnungslosigkeit offen, im
Orchester wird dies durch die mehrmalige Wiedergabe des ‚Verzweiflungs-Motivs‘298
auf unterschiedlichen Tonhöhen unterlegt. Die Anzahl der spielenden Instrumente wird
dabei kontinuierlich gesteigert, was Wotans Verzweiflung zunehmend Nachdruck
verleiht. In der letzten Wiederholung wird das Motiv von der ersten und zweiten Violine
in einer gedehnten Variante vorgetragen, Hörner und Trompeten treten später
aufeinanderfolgend hinzu.299 Durch die crescendierende, aufsteigende Melodielinie und
die staccato gespielten Achtelnoten mit anschließender Triole erhält das Motiv einen
zunehmend angespannten Eindruck.
Walküre Notenbeispiel 5: ‚Verzweiflungs-Motiv‘300
Brünnhilde ist über Wotans Zustand besorgt – sie lässt sich zu seinen Füßen nieder, legt
ihren Kopf und ihre Hände auf seinen Schoß. Sie will wissen, was ihm so große Sorge
bereitet und beteuert ihre Treue zu ihm. Die Aufrichtigkeit ihrer Liebe zu Wotan wird
musikalisch nicht nur bestätigt sondern vielmehr verdeutlicht. Zu ihren letzten Worten
„Brünnhilde bittet“301 wird im Vokalpart das ‚Liebes-Motiv‘ eingeleitet, welches im pp
von der Bassklarinette, über einem ausgehaltenen F bzw. F‘ des Violoncello und
296
Der Tonverlauf der Anfangstöne bei der fünfmaligen Wiederholung des ‚Unmuts-Motivs‘ verläuft wie
folgt: es → g → b → d → G (Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 235).
297
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 236.
298
Das ‚Verzweiflungs-Motiv‘ wird ausschließlich in der Analyse von Uwe Färber als Motiv bezeichnet.
Aufgrund der Häufigkeit mit der es in dieser Szene vorkommt, wird es hier als Motiv behandelt, obwohl
es die oben genannten Kriterien (vgl. Fußnote 288) nicht erfüllt (vgl. Uwe Faerber, Ersichtlich gewordene
Taten der Musik, S. 109).
299
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 236-238.
300
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 236 (Fagotte, Violoncello, Kontrabass).
301
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 240.
53
Kontrabrass, über zehn Takte hinweg solistisch vorgetragen wird.302 In dieser gedehnten
Variante des ‚Liebes-Motivs‘ ist der Sprung zwischen der ersten und der zweiten
abwärtsführenden Bewegung, im Gegensatz zum hier angeführten Notenbeispiel, von
einer kleinen Terz auf eine kleine Septe vergrößert. Außerdem ist die zweite
abwärtsführende Bewegung deutlich verlängert. Der Sprung befindet sich im
Notenbeispiel zwischen dem zweiten und dritten Takt.
Walküre Notenbeispiel 6: ‚Liebes-Motiv‘303
Wotan drückt seine Zuneigung zu Brünnhilde zwar nicht mit einem ‚Liebes-Motiv‘ aus,
aber er vertraut ihr seine Vergangenheit mit all den begangenen Untaten und Fehlern,
und den daraus resultierenden Folgen an, was wiederum sein Vertrauen und seine
Bindung zu Brünnhilde zeigt. Zu Beginn seiner Erzählung – seines Monologs – geben
die Leitmotive lediglich den Inhalt von Wotans Worten wider beziehungsweise voraus
und vermitteln keinen Subtext.304 Erst als Wotan von dem ‚freien Helden‘ erzählt,
welchem es möglich wäre den Fluch abzuwenden, fungiert das Orchester nicht mehr als
Verdoppelung des gesungenen Textes. Wotans Worte werden – bis zu Brünnhildes
Frage, ob Siegmund nicht frei handelt – unterlegt von einem Teppich aus ‚SorgeUnruhe-Motiv‘ und ‚Unmuts-Motiv‘305 und rhythmischen sowie melodischen
Variationen dieser. Durch den Wechsel von punktierten Achtel- und Sechzehntelnoten
und der unregelmäßigen Bewegung nach oben, erhält das ‚Sorge-Unruhe-Motiv‘ einen
unruhigen, hektischen Charakter.
302
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 240.
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 20 (Violoncelli, Kontrabass). Das Motiv wird als Motiv für
die Liebe zwischen Siegmund und Sieglinde eingeführt (siehe Walküre, erster Aufzug, erste Szene).
304
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 242-255.
305
Für Dahlhaus sind die Motive des Unmuts und der Sorge-Unruhe „einer Situation adäquat, in welcher
der Gott keiner ist“ (Carl Dahlhaus, 19. Jahrhundert IV, S. 239).
303
54
Walküre Notenbeispiel 7: ‚Sorge-Unruhe-Motiv‘306
Erklingt diese Motivkombination erstmals nur im Violoncello im pp, wird es in weiterer
Folge zunehmend instrumental verstärkt und erhält, obwohl es weiterhin überwiegend
im p-Bereich bleibt, mehr Gewicht.307 Das Motiv reißt schließlich zu Wotans Worten
„O göttliche Not! Gräßliche Schmach!“308 ab, um noch einmal erneut – wieder mit
zunehmender Instrumentierung – einzusetzen.309 Während Wotans folgendem
Eingeständnis über seinen Selbsttrug und sein bevorstehendes Schicksal, geben die
erklingenden Leitmotive größtenteils den Text wider oder verdeutlichen diesen.310
Brünnhilde ist über Wotans Aussage erschrocken und will von ihm wissen, was er jetzt
von ihr verlangt. Das unbehagliche Gefühl, das sie hierbei empfindet, drückt sich
musikalisch in einer rhythmischen und melodischen Variation des ‚Sorge-UnruheMotiv‘ in Bassklarinette, Fagotten und Violoncello aus.311 Während Brünnhilde Wotans
Entscheidung anzweifelt und er ihr mit seinem Zorn droht, wenn sie diese nicht
ausführt, kommt es zu keiner leitmotivischen oder sonstigen musikalischen
Ausgestaltung, welche die Beziehung zwischen Brünnhilde und Wotan betreffen oder
darstellen würde.312 Jedoch erklingt während Wotans Drohung vereinzelt, wieder
rhythmisch und melodisch variiert, das ‚Sorge-Unruhe-Motiv‘313, welches seine eigenen
Zweifel an der Entscheidung erkennen lassen, was wiederum Brünnhildes
Einschätzung, dass sich Wotan hierbei ihm Zwiespalt befand, unterstützt. Im danach
stattfindenden Instrumentalteil erklingt wieder das variierte ‚Verzweiflungs-Motiv‘314,
306
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 255 (Violoncello). Das Motiv wird hier eingeführt und zeigt
Wotans Sorge und Unruhe wegen seiner Entscheidung und der bevorstehenden Tat.
307
Das Violoncello wird zuerst von erstem und zweitem Fagott verstärkt, dann von Kontrabass, drittem
Fagott, viertem dann zweitem Horn und schließlich von der Bratsche (Richard Wagner, Die Walküre,
Partitur, S. 255-258).
308
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 259.
309
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 259-262.
310
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 263-280. Etwa erklingt das ‚Siegmund-Motiv‘, ‚SchwertMotiv‘, ‚Flucht-Motiv‘, ‚Entsagungs-Motiv‘, ‚Erda-Motiv‘, ‚Rache-Motiv‘ usw.
311
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 280.
312
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 283-291.
313
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 289f. (Fagotte, Violoncello, Kontrabass) und Richard
Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 291 (Bassklarinette, Fagotte, Basstrompete, Violoncello, Kontrabass).
314
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 295 (Bassklarinette, Fagotte, Basstrompete, Violoncello).
55
was sowohl für die momentane Gefühlslage Wotans als auch Brünnhildes bezeichnend
sein könnte.
Als Brünnhilde alleine zurück bleibt, kommt ihre innere Zerrissenheit
musikalisch zum Ausdruck. Sie ist eine Walküre und muss Wotans Auftrag Folge
leisten – diese Seite in Brünnhilde spiegelt das ‚Walkürenritt-Motiv‘315 wider. Ihr
Unbehagen, das dieser Auftrag auslöst, wird durch das ‚Unmuts-Motiv‘316 und später
zusätzlich durch das ‚Sorge-Unruhe-Motiv‘317 ausgedrückt. Wem Brünnhildes Sorge
gilt, wird durch das ‚Wälsungenleid-Motiv‘, das im Violoncello und Kontrabass im p
sehr weich vorgetragen wird, deutlich.318
Walküre Notenbeispiel 8: ‚Wälsungenleid-Motiv‘319
Als Brünnhilde und Wotan beim Kampf zwischen Hunding und Siegmund erneut
aufeinandertreffen320,
passiert
leitmotivisch
beziehungsweise
musikalisch
im
Allgemeinen nichts, was für die Analyse der Beziehung der beiden zueinander von
Bedeutung sein könnte. So wird Brünnhilde musikalisch mit dem ‚WalkürenrittMotiv‘321 dargestellt und zu Wotan erklingt das ‚Speer/Vertrags-Motiv‘322. Vor allem
durch
die,
in
Sekundschritten
abwärtsführenden
Viertelnoten,
erhält
das
‚Speer/Vertrags-Motiv‘ einen kraftvollen und bestimmten Klangcharakter.
315
Das Motiv erklingt wiederholt, auf unterschiedlichen Tonstufen, in der Basstrompete und ab der
dritten Wiederholung auch in der dritten Trompete (Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 298f.).
316
Zunächst zweimal in erster und zweiter Violine, Bratsche, Violoncello und Kontrabass (Richard
Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 297f.), dann in Bassklarinette und Bratsche (Richard Wagner, Die
Walküre, Partitur, S. 299).
317
Die beiden Motive erklingen in gedehnter und variierter Form und zeitlich versetzt jeweils im
Englisch-Horn und Violoncello und Kontrabass (Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 300).
318
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 299.
319
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 29 (Violoncello und Kontrabass). Das Motiv erklingt
erstmals nach Sieglindes Aussage „So bleibe hier! Nicht bringst du Unheil dahin, wo Unheil im Hause
wohnt!“ und steht für die leidvolle Vergangenheit der beiden Wälsungen (siehe Walküre erster Aufzug,
erste Szene).
320
Walküre zweiter Aufzug, fünfte Szene.
321
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 397 (Posaunen) und Richard Wagner, Die Walküre,
Partitur, S. 402f. (Variation davon in Trompeten und Basstrompete).
322
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 398f. (Tenortuben, Basstuben, Kontrabasstuba,
Violoncello, Kontrabass) und Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 404 (Violoncello, Kontrabass).
56
Walküre Notenbeispiel 9: ‚Speer/Vertrags-Motiv‘323
Erst nachdem Wotan Hunding ermordet hat und Brünnhilde mit Sieglinde
verschwunden ist, fungiert das Orchester wieder als Sprachrohr der emotionalen
Befindlichkeit. Sofort nachdem Hunding tot zu Boden sinkt, erklingt im Violoncello
und Kontrabass das ‚Unmuts-Motiv‘ im Oktav-Unisono.324 Wotan beginnt zu begreifen,
was Brünnhilde getan hat und droht mit ihrer Bestrafung. Als er von der Bühne
verschwindet und der Vorhang fällt, erklingt das ‚ Sorge-Unruhe-Motiv ‘ im ff.325
Für die Analyse der Tochter-Vater-Beziehung Wotans und Brünnhildes ist ihre letzte
Begegnung in der Walküre326 von größter Relevanz. Hier stehen, im Gegensatz zu den
anderen Szenen, keine anderen Personen oder Handlungen im Fokus der Konversation,
sondern ausschließlich Wotan, Brünnhilde und ihre Beziehung zueinander. Als die
anderen Walküren den Felsen bereits verlassen haben und Brünnhilde noch zu Wotans
Füßen liegt, etabliert sich ein Motiv, welches für die gesamte Szene, aber speziell für
den Beginn dieser, von Bedeutung sein wird.327 Es handelt sich hierbei um das Motiv
welches später erklingt, während Brünnhilde ihre Tat vor Wotan zu rechtfertigen
versucht. In den herangezogenen Analysen wird dieses Motiv entweder als
‚Verteidigung‘ oder ‚Wälsungenliebe‘ bezeichnet. Da Brünnhildes Verteidigung jedoch
auf ihrer Liebe zu den Wälsungen basiert, scheinen die beiden Bezeichnungen auf
derselben Aussage zu basieren. Aufgrund der späteren Verwendung des Motivs wird in
dieser Arbeit die Bezeichnung ‚Wälsungenliebe-Motiv‘ verwendet. Das Motiv besteht
aus zwei sehr ähnlichen Teilen, wobei der dritte Takt, im Gegensatz zum ersten, um
eine große Sekunde erhöht beginnt. Der vierte Takt beginnt, im Gegensatz zum zweiten,
323
Richard Wagner, Das Rheingold, Taschenpartitur, S. 197 (Violoncello, Kontrabass). Das Motiv
erklingt erstmals zu Frickas Worten „Die Burg ist fertig, verfallen das Pfand“ und steht sowohl für
Wotans abgeschlossene Verträge, als auch für seinen Speer (siehe Rheingold zweite Szene).
324
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 405.
325
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 408 (Bassklarinette, Fagotte, Posaunen, Violoncello,
Kontrabass).
326
Siehe Walküre dritter Aufzug, dritte Szene.
327
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 598 (Bassklarinette, Oboe, Englisch-Horn).
57
um eine große Terz höher und weicht zudem durch die beiden Achtelnoten rhythmisch
ab.
Walküre Notenbeispiel 10: ‚Wälsungenliebe-Motiv‘328
Die gleichzeitig erklingende, variierte Form des ‚Unmuts-Motivs‘ zeigt Brünnhildes
Unbehagen, welches sie trotz der Überzeugung der Richtigkeit ihrer Tat verspürt. 329
Unmittelbar bevor Brünnhilde ihre Rechtfertigung beginnt, erklingt in der
Bassklarinette, an das ‚Unmuts-Motiv‘ angehängt, eine verkürzte Variante des
‚Wälsungenliebe-Motivs‘. Dieselbe Motivvariante erklingt im Anschluss eine Oktave
höher im Vokalpart zu Brünnhildes Worten „War es so schmählich“330, woran das
‚Wälsungenliebe-Motiv‘ in gedehnter Form gehängt wird.331 Doch schon bald bekommt
das ‚Unmuts-Motiv‘ Überhand und erklingt mehrmals wiederholt und variiert in Oboe
und Englisch-Horn zu Brünnhildes Worten „O sag’, Vater! Sieh mir ins Auge, schweige
den Zorn“332. Als Brünnhilde nach ihrer Schuld fragt, wird bei Wotans Antwort „Frag
deine Tat, sie deutet dir deine Schuld!“333 musikalisch erkennbar, worin Brünnhildes
Schuld Wotan zufolge besteht. Denn nachdem in Violoncello und Kontrabass zunächst
eine Kombination aus ‚Unmuts-Motiv‘ und ‚Wälsungenliebe-Motiv‘ erklingt, ist im
Vokalpart dieselbe Motivvariante des ‚Wälsungenliebe-Motiv‘ zu hören, wie zu Beginn
von Brünnhildes Vokalpart. Bei Wotan wird der Sprung am Ende jedoch von einer
kleinen Septime auf eine große Sexte reduziert.334 Wotan sieht Brünnhildes Schuld
genau darin, womit sie zuvor ihre Tat rechtfertigen wollte – die Liebe zu den
Wälsungen. Dass Brünnhilde an ihrer Tat dennoch nichts Falsches erkennen kann,
verdeutlicht das ‚Walkürenritt-Motiv‘ in den Hörnern.335 Das Motiv erklingt jedoch sehr
328
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 618 (Klarinette, Hörner, Oboe, Englisch-Horn). Das Motiv
erklingt bereits zu Beginn der dritten Szene zum ersten Mal, dass Notenbeispiel entstammt jedoch einer
späteren Passage, wo es in mehreren Instrument über längere Zeit zu hören ist.
329
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 598 (Fagotte, Violoncello, Kontrabass, Oboe).
330
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 599:
331
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 599.
332
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 600.
333
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 601f.
334
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 599, 601. Generell weisen die beiden Passagen eine große
Ähnlichkeit auf.
335
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 602. Zu Brünnhildes Worten: „Deinen Befehl führte ich
aus.“
58
verhalten im pp. Für sie entsprach ihr Handeln dem einer Walküre. Im Folgenden
werden Brünnhildes und Wotans Aussagen hauptsächlich vom ‚Unmuts-Motiv‘ und
‚Wälsungenliebe-Motiv‘ begleitet.336
Zu Brünnhildes Worten „Weil für dich im Auge das eine ich hielt“ 337 erklingt in
den Streichern erstmals das ‚Zerrissenheits-Motiv‘, welches über einen längeren
Zeitraum immer wieder zu hören ist.338 Dieses Motiv ist sowohl für Brünnhildes als
auch Wotans Situation der Entscheidung, entweder für oder gegen Siegmund zu
handeln, bezeichnend. Durch die Sechzehntel- und Achtelnoten und den bogenförmigen
Melodieverlauf erhält das Motiv einen unruhigen Klangcharakter. Dadurch wird das
Gefühl der Zerrissenheit klanglich umgesetzt.
Walküre Notenbeispiel 11: ‚Zerrissenheits-Motiv‘339
Das Motiv erklingt fast durchgehend, während Brünnhilde Wotan den Moment
schildert, als sie zu Siegmund kam, um ihn zu töten und sich schließlich dazu
entschlossen hat, anders zu handeln.340 Doch ihre Schilderung endet abermals mit dem
‚Unmuts-Motiv‘ im Violoncello und Kontrabass.341 Als Brünnhilde erneut ansetzt, um
von demjenigen zu sprechen, der ihr die Liebe ins Herz gehaucht hat – Siegmund – und
den sie deshalb unmöglich töten hätte können, ist ihr Gefühl des Unmuts vergessen. Die
Musik bringt ihre Gefühlsregung wieder durch das ‚Wälsungenliebe-Motiv‘ zum
Ausdruck. Dieses Mal erklingt es nicht mehr fragmentarisch in einzelnen Instrumenten,
336
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 603-606 (Violoncello, Kontrabass, Oboe, Englisch-Horn).
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 606f.
338
Das Motiv findet lediglich bei Wolfgang Perschmann eine derartige Berücksichtigung, dass ihm auch
ein Motivname zugewiesen wird. Perschmann bezeichnet es als ‚Zerrissenheits-Motiv‘. Aufgrund der
Präsenz des Motivs und der ausgedehnten Zeitdauer seines Auftretens, wird es auch hier als Motiv
berücksichtigt (vgl. Wolfgang Perschmann, Richard Wagner: „Der Ring des Nibelungen“, S. 134).
339
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 606 (Violine, Bratsche, Violoncello).
340
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 606-617.
341
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 617.
337
59
sondern durchzieht ihren ganzen Vortrag wie ein Geflecht. Das Motiv erklingt jeweils
in zwei beziehungsweise drei Instrumenten gleichzeitig unisono und wird anschließend
von der nächsten Instrumentengruppe weitergetragen. Die Vortragsbezeichnungen p
und dolce bringen den emotionalen Gehalt der Szene zum Ausdruck. Zunächst erklingt
das Motiv in den Holz- und Blechbläsern, bis es schließlich auch im Vokalpart,
Violoncello und Kontrabass aufgenommen wird.342 Eine zusätzliche Steigerung erhält
die Szene, als das Motiv abschließend in Oboen, Englisch-Horn, Klarinetten, Violinen
und Bratschen erklingt und ein letztes Mal an Violinen, Bratschen und Violoncello
weitergegeben wird.343 Nach Brünnhildes Vortrag erhält das ‚Wälsungenliebe-Motiv‘
im Zusammenhang mit Wotan erstmals eine Bedeutungsänderung. Wurde es bei Wotan
zuvor nur verwendet, um Brünnhildes Schuld zu benennen, wird es nun gebraucht, um
Wotans Liebe zu den Wälsungen beziehungsweise zu Siegmund auszudrücken. „So
tatest du, was so gern zu tun ich begehrt; doch was nicht zu tun die Not zwiefach mich
zwang?“344 sagt Wotan, als in Violoncello und Kontrabass das ‚Wälsungenliebe-Motiv‘
erklingt und bei der dritten Wiederholung, nun auch in den Fagotten, sogar eine
rhythmische Intensivierung erfährt.345 Die Qual seiner Entscheidung bringt das
‚Zerrissenheits-Motiv‘ zum Ausdruck, was durch die, zwischen p, mf und f,
schwankende Dynamik noch verstärkt wird.346 Die musikalische Ebene zeigt, dass nicht
nur Wotans und Brünnhildes Gefühlszustände in Hinblick auf ihre Entscheidungen
korrespondiert haben, sondern auch, dass Brünnhilde mit ihrer Einschätzung Wotans –
bezüglich seiner Liebe zu Siegmund und dem Zwiespalt seiner Entscheidung – richtig
gelegen hat. Doch obwohl Wotan im Grunde auch so handeln wollte, wie es Brünnhilde
getan hat, beschließt er trotzdem, sie zu bestrafen. Durch die musikalische Ebene
erfahren wir, dass der Grund dafür paradoxerweise gerade ihre Liebe zu den Wälsungen
ist, indem nach Wotans Vorwurf „von mir sagtest du dich los“347, im Violoncello und
Kontrabass das ‚Wälsungenliebe-Motiv‘ erklingt. Dass sich Wotan aber auch über
diesen Entschluss nicht wirklich sicher ist, gibt dass zuvor klingende ‚ZerrissenheitsMotiv‘ preis.348
342
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 618.
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 619.
344
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 620.
345
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 620.
346
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 621f. (Streicher).
347
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 626.
348
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 625 (Bratsche, Kontrabass).
343
60
Die nächste musikalisch signifikante Stelle ereignet sich, als Brünnhilde Wotan mitteilt,
dass dem Wälsungenstamm der ‚weihlichste Held‘ entblüht und Sieglinde die ‚heiligste
Frucht‘ hegt. Musikalisch wird hier, im Vokalpart und den Hörnern, bereits auf
Siegfried verwiesen.349 Relevant erscheint diese Tatsache jedoch erst später, als
Brünnhilde Wotan bittet, dass es nur dem ‚furchtlos freiesten Helden‘ gelingen soll, auf
den Felsen zu kommen. Als zu diesen Worten in den Hörnern und im Vokalpart erneut
das ‚Siegfried-Motiv‘ erklingt, ist unverkennbar, wer damit gemeint ist.350
Walküre Notenbeispiel 12: ‚Siegfried-Motiv‘351
Dass sich auch Wotan dessen bewusst ist, wird unmissverständlich klar, als zu seiner
Aussage „Denn einer nur freie die Braut, der freier als ich, der Gott!“352 Fagotte, Hörner
und Basstrompete das ‚Siegfried-Motiv‘ wiedergeben. Das anschließend mehrmals
wiederholt in den Bläsern erklingende ‚Wälsungenliebe-Motiv‘ wirkt hierbei
unterstützend.353 Auch als Brünnhilde bereits in den Schlaf gesunken ist, wird
musikalisch noch einmal auf Siegfried verwiesen. Das Motiv erklingt im Vokalpart,
Hörnern und Basstrompete zu Wotans mahnenden Worten „Wer meines Speeres Spitze
fürchtet, durchschreite das Feuer nie!“354. Instrumental zieht es sich in Trompeten,
Posaunen und Kontrabasstuba noch über einige Takte länger hinaus.355
Zwischen diesen Szenen liegen einige wesentliche musikalische Stellen, die noch
erörtert werden müssen. Als Brünnhilde Wotan noch einmal explizit nach der Art ihrer
Strafe fragt, erklingt zu seiner Antwort „In festen Schlaf verschließ ich dich“ 356 zum
ersten Mal das, die Strafe benennende Motiv. Das ‚Zauberschlaf-Motiv‘ erklingt in
allen Instrumenten (außer in der Pauke und im Kontrabass) einmal, im Vokalpart etwas
349
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 634.
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 642.
351
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 535f. (Vokalpart). Das Motiv erklingt zum ersten Mal als
Brünnhilde Sieglinde sagt, dass sie den ‚hehrsten Helden‘ im Schoß hegt (siehe Walküre dritter Aufzug,
erste Szene).
352
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 662f.
353
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 663-667.
354
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 691-695.
355
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 695-699.
356
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 638f.
350
61
verkürzt zweimal hintereinander. Durch die geringe Lautstärke, die Legatobögen und
der überwiegenden Verwendung von halben Noten erhält das Motiv einen ruhigen
Charakter – entsprechend der damit verbundenen Bedeutungszuschreibung.
Walküre Notenbeispiel 13: ‚Zauberschlaf-Motiv‘357
Brünnhilde ist über die Strafe schockiert und fleht Wotan an, sie zu überdenken. Zu
ihrem Flehen erklingt in Violine und Violoncello ein neues Motiv über fast dreizehn
Takte hinweg.358 In den für die Erstellung des Motivkatalogs herangezogenen, Analysen
wird dieses Motiv allgemein mit Brünnhildes Schlaf in Beziehung gesetzt. Sabine
Henze-Döhring, die sich in ihrem Artikel ausführlich mit der Figur Brünnhildes
auseinandergesetzt hat, schreibt das Motiv jedoch zum einen dem „über Wotan
hinausragenden Willen[.] Brünnhildes“ 359 und zum anderen auch „der Liebe Wotans zu
Brünnhilde“360 zu. Gerade bei der Analyse der Tochter-Vater-Beziehung Wotans und
Brünnhildes
führen
die
unterschiedlichen
Zuschreibungen
zu
signifikanten
Unterschieden und müssen daher eingehend abgewogen werden. Da an diesem Punkt
noch keine Entscheidung getroffen werden kann, wird das Motiv als ‚Schlummer /
Wotans Liebe zu Brünnhilde-Motiv‘ bezeichnet. Im ‚Schlummer / Wotans Liebe zu
Brünnhilde-Motiv‘ wird zunächst der erste Takt dreimal vollkommen unverändert
gespielt. Erst im vierten Takt kommt es zu einer Veränderung, indem die Melodie aus
den vorherigen Takten erhöht erklingt. Es werden jedoch nicht alle Töne gleichermaßen
erhöht – die Erhöhungen befinden sich im Bereich einer Sekunde bis zu einer Quarte.
357
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 638f. (große Flöte, Englisch-Horn, Klarinette,
Bassklarinette Fagotte, Violinen, Bratsche, Violoncello, Vokalpart).
358
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 640-642.
359
Sabine Henze-Döhring, „Liebe – Tragik“: Zur musikdramaturgischen Konzeption der BrünnhildeGestalt, S. 135.
360
Sabine Henze-Döhring, „Liebe – Tragik“: Zur musikdramaturgischen Konzeption der BrünnhildeGestalt, S. 135.
62
Walküre Notenbeispiel 14: ‚Schlummer / Wotans Liebe zu Brünnhilde-Motiv‘361
In dem oben beschriebenen Kontext – als Brünnhilde Wotan anfleht, die Strafe zu
überdenken – scheinen beide Assoziationen zulässig. Zum einen könnte das Motiv für
Brünnhildes bevorstehenden Schlaf stehen, über den sie gerade spricht. Zum anderen
könnte sie auch an die Liebe ihres Vaters zu ihr appellieren, die ihn dazu bringen soll,
sie nicht irgendeinem Mann zur Frau zu geben. Als Wotan ihren Wunsch abweist,
erklingt auch hier das ‚Schlummer / Wotans Liebe zu Brünnhilde-Motiv‘ in Violine und
Violoncello, jedoch beginnt es eine reine Quarte tiefer als zuvor bei Brünnhilde.362 Steht
das Motiv für Brünnhildes Schlaf, zeigt es Wotans Entschluss, Brünnhilde zu bestrafen.
Sieht man es als Zeichen der Liebe Wotans zu Brünnhilde, erkennt man hier trotz seiner
harten Worte seine Liebe zu Brünnhilde, und es lässt sich erahnen, dass er sich noch für
seine Tochter erweichen wird. Als Brünnhilde ihn noch einmal anfleht und ihn bittet,
ein Feuer zu entfachen, welches den Felsen umgibt, ist Wotan tief ergriffen, erhebt sie
von den Knien und sieht ihr in die Augen. Als er dies tut, erklingt nicht nur das
‚Schlummer / Wotans Liebe zu Brünnhilde-Motiv‘, sondern auch Fragmente des
‚Walkürenritt-Motivs‘.363 Es scheint, als hätte Brünnhilde für Wotan, entgegen seiner
vorherigen Aussagen, ihren Status als Walküre doch noch nicht verloren. Auch als
Wotan daraufhin von Brünnhilde Abschied nimmt und von ihren gemeinsamen
Aktivitäten spricht, die in Zukunft nicht mehr möglich sein werden, erklingt mehrmals
hintereinander das ‚Schlummer / Wotans Liebe zu Brünnhilde-Motiv‘.364 Genau so
erklingt es auch, als er Brünnhilde in seinen Armen hält und erzählt, wie sehr sie ihn
unterstützt und ihm geholfen hat.365 Entweder spiegelt das Motiv in diesen Passagen die
liebevollen Worte Wotans über Brünnhilde und seine Gefühle zu ihr wider, oder es
zeigt, dass er trotz seiner Liebe zu Brünnhilde an der Strafe festhält. Auch hier scheinen
wieder beide Deutungsweisen des Motivs legitim und angemessen. Das ‚Schlummer /
Wotans Liebe zu Brünnhilde-Motiv‘ erklingt auch noch, teils stark variiert, nachdem
361
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 640 (Violine, Violoncello).
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 643.
363
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 652f.
364
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 656f. (erste und zweite Mal in Klarinetten, Hörnern und
Bratsche, bei der dritten Wiederholung in Englisch-Horn, Fagotten, Hörnern und Bratsche).
365
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 667-672. Die größte instrumentale Ausprägung erhält das
Motiv auf S. 667.
362
63
Brünnhilde in den Schlaf gefallen ist unter anderem, als er sie auf den Mooshügel
legt366; als er die schlafende Tochter betrachtet, ihr den Helm schließt und sie mit dem
Schild bedeckt367; und er sich noch einmal mit einem schmerzlichen Blick zu ihr
umdreht368. In diesen Passagen lässt die Verwendung des Motivs darauf schließen, dass
es sich dabei tatsächlich um die Liebe Wotans zu Brünnhilde handelt.
Als Wotan Brünnhilde in seinen Armen hält erklingt zu seinen Worten „zum
letzten Mal letz‘ es mich heut‘ mit des Lebewohles letzten Kuß“369, im Vokalpart das
‚Abschied-Motiv‘.370 Die hier besungene Handlung folgt jedoch erst später.
Walküre Notenbeispiel 15: ‚Abschieds-Motiv‘371
Als Wotan sie auf die Augen küsst woraufhin Brünnhilde in den Schlaf fällt, erklingt
das ‚Zauberschlaf-Motiv‘.372 Nachdem Wotan Brünnhilde auf einen Mooshügel gelegt
und sie mit ihrem Schild bedeckt hat, wendet er sich von ihr ab und ruft Loge, um das
Feuer zu entzünden. Ab diesem Zeitpunkt erklingen bis zum Ende der Walküre
unterschiedlichste ‚Feuer-Motive‘, auf welche jedoch hier nicht mehr näher
eingegangen wird.373
2.4 Zwischenfazit
Der Vergleich der textlichen mit der musikalischen Ebene hat, im Hinblick auf die
Beziehung zwischen Wotan und Brünnhilde, gezeigt, dass das Verhältnis der beiden
Ebenen zueinander keineswegs konstant und/oder immer vorhersehbar ist. An einigen
Stellen verstärken sich die Ebenen gegenseitig, indem etwa ein Motiv erklingt, das
einen Gefühlszustand zum Ausdruck bringt, welcher sich aus dem Text ableiten lässt.
Dies ist zum Beispiel der Fall, als Wotans Stimmung nach dem Gespräch mit Fricka
366
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 674 (Streicher).
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 675f. (Streicher, Bläser).
368
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 677 (Bassklarinette, Streicher).
369
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 671.
370
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 671.
371
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 671 (Vokalpart).
372
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 673 (großen Flöten, Oboe, Violinen).
373
Die Motive können aus den bereits zitierten Analysen entnommen werden.
367
64
durch das ‚Unmuts-Motiv‘ dargestellt wird. In anderen Passagen besteht wiederum
keine direkte Verbindung zwischen Musik und Sprechtext, hier vermittelt die Musik
eine Art Subtext. Als Brünnhilde etwa ihre Tat vor Wotan rechtfertigt, erklingt nicht nur
das ‚Wälsungenliebe-Motiv‘, sondern auch das ‚Unmuts-Motiv‘, was zeigt, dass sie,
obwohl sie ihr Handeln als richtig empfindet, dennoch unsicher ist. Weiteres wird durch
den Einsatz des ‚Zerrissenheits-Motivs‘ und ‚ Wälsungenliebe-Motivs‘ im Bezug auf
Wotan Brünnhildes Einschätzung über Wotans tatsächliche Gefühlslage bezüglich
seiner Entscheidung, Siegmund zu töten, bestätigt. Es kann aber auch zu einer
Verdeutlichung des Sprechtextes durch die Musik kommen. Als Brünnhilde Wotan
fragt, was sie verbrochen hat, wird seine Antwort „Frag deine Tat, sie deutet dir deine
Schuld!“374 durch das ‚Wälsungenliebe-Motiv‘ verständlich. Auch besteht durch den
Sprechtext Ungewissheit darüber, ob Wotan sich darüber bewusst ist, dass Siegfried
derjenige sein wird, der Brünnhilde erweckt. Durch den Einsatz des ‚Siegfried-Motivs‘
in den entsprechenden Passagen wird der Zweifel daran aufgehoben. An manchen
Stellen, an denen man den Einsatz bestimmter Leitmotive erwarten würde, wird ganz
auf diese verzichtet. Dies ist unter anderem der Fall, als Wotan Brünnhilde mit seinem
Zorn droht, wenn sie seinen Befehl nicht ausführt und Siegmund nicht tötet. An anderen
Stellen wiederum überrascht die Wahl der Leitmotive, weil der Sprechtext nicht darauf
schließen lässt. Nachdem Wotan Hunding getötet hat und sich darüber bewusst wird,
was Brünnhilde getan hat, kommt verbal seine Entrüstung darüber zum Ausdruck und er
droht bereits mit ihrer Bestrafung. Auf der musikalischen Ebene hingegen erklingt das
‚Sorge-Unruhe-Motiv‘, welches einen vollkommen anderen Gefühlszustand offenbart,
als es textlich der Fall ist. Es hat sich gezeigt, dass für eine umfassende Analyse der
Tochter-Vater-Beziehung von Wotan und Brünnhilde sowohl die textliche als auch die
musikalische Ebene herangezogen werden muss. Denn erst durch den Vergleich der
beiden Ebenen und ihre gegenseitige Ergänzung entsteht ein vollständiges Bild.
374
Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 601f.
65
3
Richard Strauss‘ Elektra
3.1 Entstehungsgeschichte
Elektra bezeichnet den Beginn einer fruchtbaren künstlerischen Zusammenarbeit des
Komponisten Richard Strauss und des Schriftstellers Hugo Laurenz August von
Hofmannsthal. Hofmannsthals Drama, welches zunächst für das Theater konzipiert war,
wurde am 4. Oktober 1903 im Kleinen Theater in Berlin uraufgeführt, unter der Regie
von Max Reinhardt mit Gertrud Eysoldt in der Hauptrolle.375 Hofmannsthal gab seinem
Werk den Titel Elektra. Tragödie in einem Aufzug frei nach Sophokles. Ein
Tagebucheintrag von Hofmannsthal vom 17. Juli 1904 gibt Auskunft über die Wahl des
Titels:
„Der erste Einfall kam mir anfangs September 1901. Ich las damals, um für ‚Pompilia‘ gewisses
zu lernen, den ‚Richard III.‘ und die ‚Elektra‘ von Sophokles. Sogleich verwandelte sich die
Gestalt dieser Elektra in eine andere. Auch das Ende stand sogleich da: daß sie nicht mehr
weiterleben kann, daß, wenn der Streich gefallen ist, ihr Leben und ihr Eingeweide ihr entstürzen
muß […].“376
Hofmannsthal veränderte jedoch nicht nur das Ende, sondern er verzichtete auch auf die
Vorgeschichte, welche unter anderem die Opferung Iphigenies durch Agamemnon und
dessen daraus resultierende Ermordung beinhaltet.377
Welche Aufführung Strauss von Hofmannsthals Stück sah, ist nicht bekannt,
1942 erinnerte sich der Komponist jedoch an die Aufführung: „Als ich zuerst
Hofmannsthals geniale Dichtung im ‚Deutschen Theater‘ [in Berlin] mit Gertrud
Eysoldt sah, erkannte ich wohl den glänzenden Operntext (der es nach meiner
Umarbeitung der Orestszene tatsächlich geworden ist) […].“378 Anhand dieser Aussage
lässt sich die mögliche Anzahl der Aufführungen nach Bryan Gilliam auf drei
Aufführungen im Zeitraum vom 21. Oktober bis zum 7. November 1905
einschränken.379 Ungeklärt ist auch, wie Hoffmannsthal über Strauss‘ Interesse an
375
Vgl. Karen Forsyth, Hofmannsthal’s Elektra: from Sophocles to Strauss, Cambridge 1989, S. 19f.
Hugo von Hofmannsthal, Aufzeichnungen, Frankfurt a.M. 1959, S. 131. Nach eigenen Angaben
Hofmannsthals soll er sich während der Arbeit an Elektra auch mit Erwin Rohdes Psyche und Josef
Breuers und Sigmund Freuds Studien über Hysterie befasst haben (vgl. Christoph Khittl,
»Nervencontrapunkt« als musikalische Psychoanalyse? Untersuchungen zu Elektra von Richard Strauss,
Wien 2001, S. 213). Welchen Einfluss diese oder auch andere Werke, als auch geistige Strömungen und
gesellschaftliche Entwicklungen dieser Zeit auf Hofmannsthals Arbeit an Elektra hatten, kann hier nicht
näher diskutiert werden.
377
Für einen eingehenderen Vergleich von Sophokles‘ und Hofmannsthals Elektra vgl. Sonja Bayerlein,
Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, Tutzing
1996, S. 17-27.
378
Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, Zürich 1957, S. 229.
379
Vgl. Bryan Gilliam, Richard Strauss’s Elektra, Oxford 1991, S. 52f.
376
66
seinem Text informiert wurde.380 Mit Hofmannsthals Brief an Strauss, vom 7. März
1906, ist zumindest eine erste Datierung über den Austausch bezüglich Elektras
festlegbar.
„Lieber und sehr geehrter Herr [Strauss],
und wie steht’s mit Ihnen und ‚Elektra‘? Es ist doch die Hoffnung auf keine geringe Freude, die
Sie in mir so unerwartet rege gemacht haben. Wollen Sie mich durch ganz wenige Zeilen wissen
lassen, ob diese Hoffnung wach bleiben darf oder sich schlafen legen soll? Je mehr ich
nachdachte, desto ausführbarer schiene mir’s – Ihnen ging’s vielleicht entgegengesetzt. Ich
werde für die kleine Nachricht, in jedem Fall, dankbar sein.
Ihr herzlich ergebener Hofmannsthal“381
Aus Strauss‘ Antwortschreiben geht hervor, dass er „nach wie vor die größte Lust auf
‚Elektra‘“382 und sich diese auch schon „ganz schön zum Hausgebrauch
zusammengestrichen“383 hat. Gleichzeitig äußert er aber Bedenken darüber, nach
Salome die Kraft zu finden, einen Stoff zu bearbeiten, der dieser so ähnlich ist.
Hofmannsthal versuchte Strauss‘ Zweifel abzuwenden, indem er die Ähnlichkeit
zwischen Salome und Elektra auf wenige Aspekte zu reduzieren versuchte. Diese
Aspekte bestehen darin, dass beide Werke Einakter sind, als Titel Frauennamen tragen,
im Altertum spielen und in Berlin von Gertrud Eysoldt kreiert wurden.384 „[D]er
Wunsch,
dieses
dämonische,
ekstatische
Griechentum
des
6.
Jahrhunderts
Winckelmannschen Römerkopien und Goethescher Humanität entgegenzustellen,
gewann das Übergewicht über die Bedenken […]“385 und Strauss begann mit der Arbeit
an Elektra. Bis ins Jahr 1908 finden sich im Briefwechsel Besprechungen über
Textkürzungen, Szenenumstellungen oder andere Abänderungen.386
380
Nach Karen Forsyth kam es, vom 20. bis 23. November 1905, zu einem gleichzeitigen Aufenthalt von
Strauss und Hofmannsthal in Berlin, wo ein Treffen möglich gewesen wäre und Strauss sein Interesse an
Elektra aussprechen hätte können (vgl. Karen Forsyth, Hofmannsthal’s Elektra: from Sophocles to
Strauss, S. 28). Gilliam hingegen datiert den gleichzeitigen Berlin-Aufenthalt Strauss‘ und
Hofmannsthals auf den 2. Februar 1906 (vgl. Bryan Gilliam, Richard Strauss’s Elektra, S. 55).
381
Brief von Strauss vom 7. März 1906 (Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, Briefwechsel,
Zürich 1978, S. 17).
382
Brief von Strauss vom 17. November 1906 (Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal,
Briefwechsel, S. 17).
383
Brief von Strauss vom 17. November 1906 (Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal,
Briefwechsel, S. 17).
384
Brief von Hofmannsthal vom 27. April 1906 (vgl. Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal,
Briefwechsel, S. 19).
385
Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, S. 230.
386
Auf die Abänderungen des Textes wird hier nicht im Detail eingegangen, jedoch wird in den
folgenden Kapiteln auf einige, für die behandelte Fragestellung relevante Aspekte hingewiesen.
67
Während der Arbeit am Libretto begann Strauss bereits mit der Komposition. Strauss‘
Anstellung an der Berliner Oper und diverse Tätigkeiten als Gastdirigent hatten zur
Folge, dass die Kompositionsarbeit an Elektra immer wieder aufgehalten wurde. Am
25. Januar 1909 wurde Elektra in Dresden unter der Leitung von Ernst von Schuch
uraufgeführt.387
3.2 Analyse der Textebene
In Elektra sind es, neben der namensgebenden Protagonistin, zwei weitere Frauen, die
das Geschehen der Oper im Wesentlichen dominieren. Im Gegensatz zu ihnen rückt die
Präsenz der männlichen Figuren deutlich in den Hintergrund. Selbst Orest, dem
Vollstrecker der Rache, wird verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit zuteil. Doch auch,
wenn die drei Frauen auf der Bühne eine vorrangige Position einnehmen, ist es ein
Mann,
der
ihr
Handeln
beeinflusst.
Der
ermordete
König
Agamemnon,
beziehungsweise die Vergangenheit, die mit seiner Person in Verbindung steht, bilden
die Eckpfeiler des Sujets, woraus sich alle Geschehnisse entwickeln. Im Bezug auf die
Frage nach der Tochter-Vater-Beziehung ergibt sich hier, im Gegensatz zum Ring des
Nibelungen, eine vollkommen andere Ausgangssituation. Es kann zwar untersucht
werden, wie sich die Beziehung der Töchter zu ihrem toten Vater gestaltet und in
welcher Art und Weise diese zum Ausdruck kommt, jedoch nicht umgekehrt. Welches
Verhalten Agamemnon seinen Töchtern gegenüber zeigte, kann nur vermutet werden.
Dies hat zur Folge, dass, anders als zuvor beim Ring des Nibelungen, die Töchter nicht
unabhängig von ihrer Beziehung zum Vater behandelt werden können. Aus diesem
Grund wird zunächst erörtert, inwiefern in Elektras und Chrysothemis‘ Verhalten eine
Beziehung zu Agamemnon erkennbar ist, bevor im Anschluss untersucht wird, ob dies
ihre Beziehung zu anderen Personen beeinflusst. Aufgrund der erheblichen Kürzung des
Opernlibrettos gegenüber dem ursprünglichen Text von Hofmannsthals Sprechtheater
wird, wo es notwendig erscheint, auch der Text des Sprechtheaters herangezogen, um
ein umfassenderes Bild zu erhalten.
387
Für eine genaue Darstellung der Kompositionsarbeit an Elektra vgl. Bryan Gilliam, Richard Strauss’s
Elektra, S. 56-66.
68
3.2.1 Elektra
Wie bereits erwähnt, nimmt Hofmannsthal die Vorgeschichte um Agamemnons
Opferung Iphigenies nicht auf. In Hofmannsthals Elektra „steht die Tat und das
Verhältnis zur Tat im Mittelpunkt: eine Untat wird durch eine Untat gesühnt“388. „[D]as
Grundthema der ‚Elektra‘“389 ist „ein simples und ungeheures Lebensproblem: das der
Treue“390. Dies ist für die hier behandelte Fragestellung insofern wesentlich, als
Agamemnons Ermordung durch Klytämnestra und Ägisth dadurch aus rein sexuellen
Motiven erfolgt391, was wiederum Auswirkungen auf Elektras Verhältnis zur Untat ihrer
Mutter und gleichzeitig auf ihre Beziehung zu ihren Vater hat.392
Elektra projiziert ihre ganze Liebe auf den toten Vater. Nach Michael
Heinemann „gerät der tote König zur väterlichen Überfigur“393 und das, obwohl Elektra
ihn „kaum je gekannt haben kann“394. Elektras Existenz dreht sich ausschließlich um
ihren Vater, sie fühlt sich ihm verpflichtet und will den Mord an ihm rächen. In ihrem
Monolog nach der Magdszene wird deutlich, wie präsent und tief verankert die Gestalt
ihres Vaters und dessen Ermordung in Elektras Handlungen und Gedanken sind. Mit
welcher Obsession Elektra dies auslebt, geben die Mägde gleich zu Beginn der Oper
preis: „Wo bleibt Elektra? Ist doch ihre Stunde, die Stunde, wo sie um den Vater heult
[…].“395 Wie in einem Ritual trauert Elektra jeden Tag zur selben Stunde um
Agamemnon. In ihrem Monolog schildert sie zunächst den Hergang der Ermordung.
Ihre detaillierte Beschreibung erweckt den Anschein, als wäre sie damals Zeugin der
Tat gewesen. Doch während im Libretto kein Hinweis darauf zu finden ist, kommt im
Theatertext heraus, dass Elektra die Ermordung ihres Vaters nicht mit angesehen hat.396
Nach dieser Schilderung wird deutlich, dass Elektras Trauer psychische Auswirkungen
388
Hugo von Hofmannsthal, Prosa III, Frankfurt a.M. 1952. S. 354.
Brief von Hofmannsthal an Strauss Mitte Juli 1911 (Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal,
Briefwechsel, S. 134).
390
Brief von Hofmannsthal an Strauss Mitte Juli 1911 (Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal,
Briefwechsel, S. 134).
391
Klytämnestra und Ägisth töteten Agamemnon, um ihre Liebesbeziehung weiterführen zu können und
keine Konsequenzen durch Agamemnon befürchten zu müssen.
392
Welche Auswirkungen die Darstellung der Ermordung Agamemnons aus rein sexuellen Motiven auf
die Beziehung Elektras zu ihrer Mutter hat wird im Kapitel 3.2.5.1 Klytämnestra und ihre Töchter
diskutiert.
393
Michael Heinemann, Elektras Erwartung, Laaber 2002, S. 149.
394
Michael Heinemann, Elektras Erwartung, S. 148.
395
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 7.
396
Elektra sagt diesbezüglich zu Chrysothemis: „Diesmal will ich dabei sein! Nicht so wie damals.
Diesmal bin ich stark. Ich werfe mich auf sie, ich reiß das Beil aus ihrer Hand, ich schwing es über ihr
[…]“ (Hugo von Hofmannsthal, Dramen II. 1892-1905, Frankfurt a.M. 1979, S. 197). Michael
Heinemann betitelt Elektra dennoch als „Zeugin des Mordes“ (Michael Heinemann, Elektras Erwartung,
S. 148).
389
69
hat. Sie leidet an Wahnvorstellungen, was in ihrer Bitte an Agamemnon, sich ihr zu
zeigen „wie gestern, wie ein Schatten dort im Mauerwinkel“397, zum Ausdruck kommt.
Elektra beendet ihren Monolog mit einem Blick in die Zukunft, indem sie „mit
feierlichem Pathos“398 die Rache an Agamemnons Ermordung beschreibt. Auch ihr
Tanz, der der Ermordung Klytämnestras und Ägisths folgt, wird hier bereits von ihr
thematisiert – Elektra erweist sich so „als eine Frau, die von Anbeginn an dem Ende
verfallen ist“399. Laut Bayerlein ist Elektra so auf das Mordereignis fixiert, dass in ihrem
Zeitempfinden nur zwei Ebenen existieren: „Jene der Bluttat, Elektras einzige
Vergangenheit, die all ihr Reden, ihre Empfindungen und ihre Gebärden durchtränkt,
mit deren immer wieder vor Augen geführter Vergegenwärtigung sie sich zu immer
neuem Haß anstachelt und andererseits die ihr gegenübergestellte Zukunft der visionär
beschworenen und in den Bilderfolgen ihrer Phantasie längst vorweggenommenen
Rachetat, die sie durch Orest zu verwirklichen trachtet“400 – in Elektras Monolog
kommt dies klar zum Ausdruck.
Elektras Nicht-Vergessen-Können wird in Hofmannsthals Theatertext durch ihre
Aussage „[I]ch bin kein Vieh, ich kann nicht vergessen!“401 ausgedrückt. Angesichts der
zahlreichen tierhaften Gesten und Metaphern, die gerade im Zusammenhang mit
Elektra402 immer wieder auftreten, steht Elektras Äußerung dazu im direkten Kontrast.
Laut Jean Starobinski ist sie bei Hofmannsthal „[m]it einer ganzen Seite ihres Wesens
[…] zum Tier geworden“403. Nicht nur zeigt Elektra selbst immer wieder tierhafte
Gebärden404 und wird von anderen als tierhaft beschrieben405, sondern Elektra schildert
397
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal. Musik von Richard
Strauss, Berlin 1908, S. 15.
398
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 15.
399
Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von
Richard Strauss, S. 73. Laut Bayerlein liegt Elektras Größe und ihr Leid darin, „daß sie trotz ihres
Wissens um die Unvermeidbarkeit des Zusammenbruchs unerbittlich ihrem Anspruch auf Rache lebt“
(Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard
Strauss, S. 73).
400
Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von
Richard Strauss, S. 64.
401
Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 195.
402
Auch andere Personen erhalten Tierbezeichnungen oder zeigen tierhaftes Verhalten, worauf hier
jedoch nicht genauer eingegangen werden kann.
403
Jean Starobinski, Die Zauberinnen, München 2007, S. 228.
404
Dies ist gleich zu Beginn der Oper der Fall, als Elektra die Mägde entdeckt und sich diese zu ihr
umdrehen steht in der Szenenanweisung: „Elektra springt zurück wie ein Tier in seinen Schlupfwinkel,
den einen Arm vor dem Gesicht“ (Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von
Hofmannsthal, S. 7). Nach Ernst Hötzl wird Elektra in der Magdszene „als beinahe subhumane Kreatur
vorgestellt, die, gleich einer wilden Bestie, im Hofe ihres Heimatschlosses ihr Dasein zu fristen hat“
(Ernst Hötzl, Richard Strauss – Hugo von Hofmannsthal: Die Elektra – ein Psychogramm der AtridenTrilogie, Anif/Salzburg 1990, S. 125). Auch das Beil gräbt sie „lautlos, wie ein Tier“ aus (Richard
70
sich selbst und ihr Handeln in tierhaften Metaphern406. Im Libretto gehört diese Aussage
Elektras zu den zahlreichen Kürzungen, weshalb die dadurch entstehenden
Diskrepanzen aufgelöst werden. Elektras Unfähigkeit oder auch ihr Unwille, die Tat
ihrer Mutter und Ägisths zu vergessen, zeigt sich auch darin, dass sie aktuelle
Geschehnisse ohne ersichtlichen Grund mit dem Mord an Agamemnon in Verbindung
bringt. So entgegnet Elektra, als Chrysothemis abwehrend die Hände hebt: „Was hebst
du die Hände? So hob der Vater seine beiden Hände, da fuhr das Beil herab und spaltete
sein Fleisch.“407 Als Chrysothemis Elektra erzählt, dass sie durch die Tür gehört hat,
dass Klytämnestra plant, Elektra in einen Turm zu sperren, löst dies bei Elektra erneut
Erinnerungen an die Mordnacht aus: „Mach keine Türen auf in diesem Haus! Gepreßter
Atem, pfui! und Röcheln von Erwürgten, nichts andres gibt’s in diesen Mauern!“408
Nach Carl Dahlhaus handelt es sich in der Oper um die Tragödie derjenigen, „die sich
dadurch innerlich zerstört, daß sie in einer teils schuldbeladenen, teils die
Vergangenheit verdrängenden Umgebung die einzige ist, die nicht vergessen kann“409.
Elektras ausgeprägte Liebe410 und Loyalität dem toten Vater gegenüber und ihr Wunsch
nach Rache haben, neben den bereits geschilderten, noch weitere psychische sowie
Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 51). Als Elektra im Hof
darauf wartet, dass Orest Klytämnestra ermordet, steht in der Szenenanweisung: „Sie läuft auf einem
Strich vor der Tür hin und her, mit gesenktem Kopf, wie das gefangene Tier im Käfig“ (Richard Strauss,
Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 63).
405
Aussagen der Mägde im Bezug auf Elektra sind etwa „Giftig, wie eine wilde Katze“ (Richard Strauss,
Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 8), „Da pfauchte sie wie eine Katze“
(Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 8) und „reckte ihre
Finger wie Krallen gegen uns“ (Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von
Hofmannsthal, S. 10). Klytämnestra sagt, als sie auf Elektra trifft: „Wie es sich aufbäumt mit geblähtem
Hals und nach mir züngelt!“ (Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von
Hofmannsthal, S. 23).
406
Als sie Klytämnestra den Mord an ihr schildert, bezeichnet Elektra sich selbst als Hund, der ihr
hinterher jagen wird (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von
Hofmannsthal, S. 36).
407
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 17.
408
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 18.
409
Carl Dahlhaus, 20. Jahrhundert. Historik – Ästhetik – Theorie – Oper – Arnold Schönberg, Laaber
2005, S. 611.
410
Die Liebe Elektras ihrem Vater gegenüber wurde in der Literatur immer wieder diskutiert. Carl
Dahlhaus etwa spricht davon, dass Elektras Liebe zum Vater und Hass auf die Mutter ein
„selbstzerstörerische[s] Unmaß“ angenommen und die Katastrophe herbeigeführt hätte (Carl Dahlhaus,
20. Jahrhundert, S. 612). Silvia Kronberger bezeichnet die Liebe zwischen Agamemnon und Elektra
sogar als Liebesbeziehung (vgl. Silvia Kronberger, Elektra: stark – allein – hysterisch, Anif/Salzburg
2003, S. 126). Kronbergers Aussage muss insofern kritisch betrachtet werden, als die ‚Liebesbeziehung‘
in der Oper nicht ‚zwischen‘ Agamemnon und Elektra stattfinden kann sondern, wenn überhaupt, eine
einseitige sein müsste, da Agamemnon Elektras Gefühle nicht (mehr) erwidern kann. Auf die mögliche
71
physische Folgen. Hofmannthal spricht davon, dass „[i]n ‚Elektra‘ […] die Person
verlorengegangen [ist], um sich zu retten“411 – „das Individuum [wird] in der
empirischen Weise aufgelöst indem eben der Inhalt seines Lebens es von innen her
zersprengt wie das sich zu Eis umbilden(de) Wasser im irdenen Krug. Elektra ist nicht
mehr Elektra […].“412 Dies äußert sich unter anderem im Verfall ihrer Schönheit und
Weiblichkeit, was auch mit einer Ablehnung der weiblichen Sexualität einhergeht. Dass
Elektra ihr körperlicher Verfall bewusst ist, wird deutlich, als sie um Chrysothemis
wirbt, um sie zur Mithilfe zu überreden. Sie preist die schlanken Füße, biegsamen
Hüften, starken Schultern und jungen Arme ihrer Schwester und bezeichnet gleichzeitig
ihre eigenen Arme als traurig und verdorrt.413 Zwar musste Elektra ihre Schönheit und
weiblichen Triebe opfern, doch geschah dies aus Liebe zu ihrem Vater. 414 Sonja
Bayerlein spricht hier von einem
„unlösbaren Zwiespalt […]: Um ihre königliche Würde, die durch die schmachvolle Ermordung
des Vaters verletzt wurde, wiederherzustellen, macht sich Elektra zum Werkzeug der Rache
ihres Vaters. Gleichzeitig bewirkt die damit verbundene Lebensweise zwangsläufig einen Verfall
aller äußeren Kennzeichen des Königlichen […]. Die innere Erstarrung [im Gefühl des Hasses]
übersteht ihr Äußeres nicht unbeschadet […].“415
Dass Elektra trotz ihrer Treue und Liebe dem Vater gegenüber eine Art von Reue oder
Wehmut über den Verlust ihrer Schönheit und Weiblichkeit empfindet, zeigt sich im
Gespräch mit Orest. Nachdem Elektra ihren Bruder wiedererkannt hat, schämt sie sich
Tochter-Vater-Beziehung zu Agamemnons Lebzeiten wird in Kapitel 3.2.3 Agamemnon und seine
Töchter eingegangen.
411
Hugo von Hofmannsthal, Prosa III, S. 354.
412
Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke VII. Dramen 5, Frankfurt a.M. 1997, S. 416. Im Bereich
der Psychologie stößt man zum Thema ‚Rache‘ auf folgende Definition: „Form der Vergeltung und
Emotion, die das Ziel hat, einen Ausgleich für erlittene Kränkungen und verletztes Ehrgefühl zu schaffen,
der nicht selten auch gewaltsam erfolgt (Blutrache). […] Rachephantasien sind ein Zeichen für
unbewältigte Konflikte“ (Gerd Wenninger (Red.), Lexikon der Psychologie, Bd. 3 M – Ref, Heidelberg
2001, S. 412). Hofmannsthals Aussage deutet an, welches Ausmaß der Aspekt der Rache bei Elektra
annimmt. Elektra will das getane Unrecht an ihrem Vater (welches gewissermaßen auch ihr angetan
wurde, da ihr dadurch der Vater genommen wurde) rächen, indem die VerursacherInnen dasselbe
Schicksal erfahren, welches sie ihrem Vater angetan haben. Ihr Verlangen nach Rache nimmt eine
Besessenheit an, durch welche nicht nur die Opfer ihrer Rache, sondern auch Elektra selbst zerstört wird:
Sie opfert ihre Weiblichkeit; sie ist gefangen in der Erinnerung an die schreckliche Vergangenheit; sie ist
unfähig loszulassen und ihr Leben zu leben; sie kann kein Mitgefühl oder Verständnis für das Leid und
die Wünsche anderer Personen aufbringen; sie ist unfähig ein Beziehung zu einem anderen Menschen als
ihrem toten Vater aufzubauen und ist sogar im Begriff ihr eigene Mutter zu töten. Elektras Verlangen
nach Rache hat sich zu einer extremen Ausprägung entwickelt und ist der ‚Inhalt ihres Lebens‘ geworden,
wodurch ‚die Person Elektra verlorengegangen‘ ist. Ihre Besessenheit nach Rache hat demnach zu ihrer
eigenen ‚Entmenschlichung‘ geführt.
413
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 45f.
414
Für Silvia Kronberger zeigt sich hierin eine „Missbrauchskomponente“ in der Liebe zwischen Elektra
und Agamemnon denn, „[a]ll das, was Elektra jetzt hassen muss, hat sie einst dem Vater geopfert“ (Silvia
Kronberger, Elektra: stark – allein – hysterisch, S. 126).
415
Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von
Richard Strauss, S. 134, 68.
72
vor ihm für ihr Aussehen und bezeichnet sich selbst als „Leichnam [seiner]
Schwester“416. Gleichzeitig spricht sie von ihrer früheren Schönheit und allem, was sie
hat opfern müssen417 – „sie meint kaum mehr Frau zu sein“418. Hierbei handelt es sich
auch um die einzige Szene, in welcher Elektra die Zeit vor Agamemnons Ermordung
thematisiert.419
Elektras Aufopferung ihrer Weiblichkeit420 und allen damit in Beziehung
stehenden Aspekten – Sexualität, Gebären von Kindern, Heiraten – zieht auch eine
Ablehnung der Weiblichkeit aller anderen Frauen nach sich. Elektra zeigt diese nicht
nur gegenüber den Mägden und ihren Kindern421, sondern auch gegenüber ihrer
Schwester. Chrysothemis‘ Sehnsucht nach einem Ehemann und Kindern ruft bei Elektra
nur Verachtung und Spott hervor. Sie hat keinerlei Verständnis für den Wunsch ihrer
Schwester.422 Dies bringt sie sogar gegenüber Orest (vor der Erkennungsszene) zum
Ausdruck: „Geh‘ ins Haus, drin hab‘ ich eine Schwester, die bewahrt sich für
Freudenfeste auf!“423
Der Grund für den Verlust ihrer Weiblichkeit und ihrer Abneigung gegen weibliche
Sexualität wird in der Literatur unterschiedlich dargestellt, im Wesentlichen handelt es
sich entweder um den Mord Agamemnons aus sexuellen Motiven Klytämnestras, die
Unfähigkeit der Frau zur Tat oder die Person Agamemnons – hier kann unter anderem
416
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 59. Auch Orest
ist über ihr Aussehen erschüttert. Er spricht von ihren hohlen Wagen und furchtbaren Augen und fragt,
was sie mit ihren Nächten gemacht haben (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von
Hugo von Hofmannsthal, S. 56).
417
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 59f. Im
Theatertext kommt deutlich heraus, dass Elektra sich an ihrer Schönheit und ihrem weiblichen Körper
erfreut hat (vgl. Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 225). Außerdem vergleicht hier Orest Elektras
früheres Aussehen mit ihrem jetzigen: „Elektra ist groß, ihr Aug ist traurig, aber sanft, wo deins voll Blut
und Haß“ (Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 222).
418
Hugo von Hofmannsthal, Prosa III, S. 355.
419
Diesen Aspekt thematisiert auch Sonja Bayerlein (vgl. Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der
drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 64).
420
Im Folgenden beinhaltet die Verwendung des Terminus Weiblichkeit auch immer die damit in
Verbindung stehenden Aspekte wie Sexualität, das Gebären von Kindern, einen Ehemann, ein weibliches
Erscheinungsbild und so weiter.
421
Zu den Mägden sagte Elektra, laut Aussage der Aufseherin: „Nichts kann so verflucht sein, nichts, als
Kinder, die wir hündisch auf der Treppe im Blute glitschernd, hier in diesem Hause empfangen und
geboren haben“ (Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal,
S. 13).
422
Elektras Verachtung für den Wunsch ihrer Schwester kommt bei ihrem ersten Aufeinandertreffen zum
Ausdruck (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 21).
423
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 56.
73
dessen übermäßige (wenn auch nicht physische) Präsenz in Elektras Leben, seine
Idealisierung durch Elektra oder Ähnliches gemeint sein. So unterschiedlich die drei
Argumentationen auch scheinen, basieren sie alle auf Elektras ausgeprägter Liebe zu
ihrem Vater und dem daran anknüpfenden Wunsch nach Rache. Sowohl Michael
Heinemann als auch Wolfgang Müller-Funk ziehen alle drei Aspekte heran. Beide
gehen davon aus, dass einerseits das sexuelle Mordmotiv Klytämnestras die
Entwicklung von Elektras Sexualität verhindert hat und anderseits Elektras Aufgabe
ihrer Weiblichkeit geschah, um die Rache ausführen zu können.424 Im letzten Punkt
weichen die beiden Autoren voneinander ab. Während Heinemann Elektras Verzicht auf
sexuelle Erfahrung als „Folge einer unzureichend entwickelten und reflektierten
Beziehung zum Vater“425 versteht, macht laut Müller-Funk „der übermächtige tote
Vater […] den Vollzug weiblicher Sexualität unmöglich“426. Sonja Bayerleins Analyse
stimmt mit den ersten beiden Aspekten von Heinemann und Müller-Funk überein, der
letztgenannte findet bei ihr keine Erwähnung.427
Im Folgenden soll gezeigt werden, inwiefern die angeführten Gründe für
Elektras Verfall ihrer Weiblichkeit – sprich Klytämnestras Sexualität, die Unfähigkeit
der Frau zur Tat und Agamemnon – mithilfe des Libretto und Aufzeichnungen
Hofmannsthals bekräftigt oder auch widerlegt werden können. Wie bereits erwähnt, hat
Hofmannsthals Nicht-Wiederaufnahme der Vorgeschichte zur Folge, dass die
Ermordung Agamemnons aus sexuellen Motiven Klytämnestras erfolgte. Im
Theatertext428 gibt es einige Passagen, die zeigen, dass Elektra Sexualität – besonders
die ihrer Mutter – mit der Ermordung ihres Vaters in Verbindung bringt. Nachdem
Chrysothemis sagt, dass sie von diesem Ort weg und einen Ehemann und Kinder haben
will, entgegnet Elektra:
„Pfui, die’s denkt, pfui, die’s mit Namen nennt! Die Höhle zu sein, drin nach dem Mord dem
Mörder wohl ist; das Tier zu spielen, das dem schlimmern Tier Ergetzung bietet. Ah, mit einem
[Agamemnon] schläft sie [Klytämnestra], preßt ihre Brüste ihm auf beide Augen und winkt dem
zweiten [Ägisth], der mit Netz und Beil hervorkriecht hinterm Bett.“ 429
424
Vgl. Wolfgang Müller-Funk, Arbeit am Mythos: Elektra und Salome, Wien 2001, S. 183 und Michael
Heinemann, Elektras Erwartung, S. 149f.
425
Michael Heinemann, Elektras Erwartung, S. 149.
426
Wolfgang Müller-Funk, Arbeit am Mythos: Elektra und Salome, S. 183.
427
Vgl. Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von
Richard Strauss, S. 65-68.
428
Im Libretto wurden diese Passagen gestrichen.
429
Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 194f. Die Passage stellt außerdem ein weiteres Beispiel dafür
dar, das Elektra immer wieder gegenwärtige Situationen mit der Ermordung Agamemnons in Verbindung
setzt.
74
Später, im Gespräch mit Klytämnestra sagt Elektra: „Auf diesem [Klytämnestras] Schoß
bin ich gelegen nackt? Zu diesen Brüsten hast du mich gehoben? So bin ich ja aus
meines Vaters Grab herausgekrochen, hab gespielt in Windeln auf meines Vaters
Richtstatt!“430 Der Ekel, den die Sexualität ihrer Mutter bei Elektra hervorruft, lässt
darauf schließen, dass dies auch zum Verfall ihrer eigenen Weiblichkeit geführt hat.
Über die Unfähigkeit der Frau zur Tat hat sich Hofmannsthal geäußert: „[E]ine
Untat wird durch eine Untat gesühnt, – und diese Sühne ist einem Wesen [Elektra]
auferlegt, das darüber doppelt zugrunde gehen muß: weil sie als Individuum sich fähig
hält und schon als Geschlecht unfähig ist, die Tat zu tun.“431 Diesen Gedanken führt
Hofmannsthal noch weiter aus: „Zwischen ihr [Elektra] und der Tat liegt alles, auch ihre
Individualität: sie meint kaum mehr Frau zu sein, spricht von sich wie von einer Toten –
und vergißt das Beil, denn sie ist doch Frau.“432 Elektra ist aufgrund ihres Geschlechts
demnach nicht nur zur Tat selbst unfähig, sondern auch zur Mithilfe in Form des
Überreichens des Beils. Fraglich ist nun, ob Elektra ihre Weiblichkeit aufgegeben hat,
um zur Tat fähig zu sein – immerhin benennt Elektra selbst (indirekt) Orest als
Vollbringer der Tat.433 Zwar beschließt sie nach seinem vermeintlichem Tod den Mord
an Klytämnestra und Ägisth selbst zu vollbringen, da „ungetan es ja nicht bleiben
darf“434, doch hat sie ihre Weiblichkeit schon lange davor verloren. 435 Ob Elektra ihre
Weiblichkeit schlussendlich tatsächlich geopfert hat, um zur Tat fähig zu sein, kann hier
nicht beantwortet werden. Hofmannsthals zuvor zitierte Aussage zeigt jedoch, dass dies,
falls dem so ist, vergeblich war, weil Elektra letztendlich aufgrund ihres Geschlechts
sogar die Mithilfe versagt blieb.
430
Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 200.
Hugo von Hofmannsthal, Prosa III, S. 354.
432
Hugo von Hofmannsthal, Prosa III, S. 355.
433
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 34. Im
Theatertext wird dies durch eine Aussage von Orests angeblichem Tod verdeutlicht: „Das Werk, das nun
auf uns [Chrysothemis und Elektra] gefallen ist, weil er [Orest] nicht kommen kann […]“ (Hugo von
Hofmannsthal, Dramen II, S. 214).
434
Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 214.
435
Darauf verweist Elektra selbst gegenüber Chrysothemis (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in
einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 46) und Orest (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in
einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. S. 58-60).
431
75
Abschließend soll noch erörtert werden, inwiefern Agamemnon selbst zu Elektras
Verlust der Weiblichkeit beigetragen hat. Aufschlussreich scheint hier eine Aussage
Elektras in der Erkennungsszene:
„Diese süßen Schauder hab‘ ich dem Vater opfern müssen. Meinst du, wenn ich an meinem Leib
mich freute, drangen seine Seufzer, drang nicht sein Stöhnen an mein Bett? Eifersüchtig sind die
Toten: und er schickte mir den Haß, den hohläugigen Haß als Bräutigam.“ 436
Auch wenn sich diese Ereignisse vermutlich nur in den Wahnvorstellungen Elektras
abgespielt haben, wird der Einfluss, den der tote Agamemnon auf Elektra und die
Entwicklung ihrer Weiblichkeit hat, erkennbar. Ihre Aussage lässt außerdem erstmals
darauf schließen, dass ihr Opfer nicht ausschließlich freiwillig, sondern auch unter
Zwang erfolgte, was in einem Widerspruch zu ihrer zuvor geschilderten Haltung zu
ihrem Vater steht.
Die Tat „der Elektra geht aus einer Art Besessenheit hervor“437, schreibt Hofmannsthal
im Jahr 1926 rückblickend. Ihre Besessenheit unterstreicht die Tatsache, dass sie das
Beil, mit dem ihr Vater ermordet wurde, aufbewahrt hat, um es Orest für den
Vergeltungsschlag zu überreichen. Ihre Mutter und Ägisth sollten also nicht mit
irgendeinem Mordwerkzeug getötet werden, sondern mit demselben Beil, mit dem die
beiden Agamemnon ermordet haben. Als Elektra Orest tot glaubt, gräbt sie das Beil aus,
um Klytämnestra und Ägisth selbst hinzurichten. Doch Orest lebt und ist gekommen,
um die Tat auszuführen – in Euphorie darüber verkündet Elektra: „Der ist selig, der
seine Tat zu tun kommt, selig der, der ihn ersehnt, selig, der ihn erschaut. Selig, wer ihn
erkennt, selig, wer ihn berührt. Selig, wer ihm das Beil aus der Erde gräbt, […].“438
Doch im entscheidenden Moment scheitert Elektra an ihrer einzigen Aufgabe: Sie gibt
Orest das Beil nicht. Ihr Versagen drückt sie mit folgenden Worten aus: „Ich hab ihm
das Beil nicht geben können! Sie sind gegangen und ich habe ihm das Beil nicht geben
können. Es sind keine Götter im Himmel!“439 Bedenkt man die Obsession, mit der sie
für diesen Augenblick gelebt hat und die Tatsache, dass sie die einzige Möglichkeit zur
Mithilfe an der Ermordung Klytämnestras und Ägisths nicht genutzt hat, scheint es
436
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 60.
Aufzeichnung vom September 1926 (Hugo von Hofmannsthal, Aufzeichnungen, S. 237). Silvia
Kronberger unterstreicht Hofmannsthals Aussage: „Elektra trauert nicht nur, sondern ihr Hass gegen die
Mutter und Ägisth und ihre Rachgelüste haben wahnhafte Züge angenommen“ (Silvia Kronberger,
Elektra: stark – allein – hysterisch, S. 124).
438
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 62.
439
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 63.
437
76
umso verwunderlicher, dass ihr Versagen nach dem ersten Aufschrei Klytämnestras wie
vergessen scheint. Elektras Triumph wurde durch ihr Versagen nicht erschüttert, dass
Ziel ihres Daseins hat sich erfüllt. Sie trägt nun die „Last des Glückes“ 440 und bricht in
einem „namenlose[n] Tanz“441 tot zusammen. „Für Elektra blieb nichts als der Tod
[…].“442
3.2.2 Chrysothemis
Im Vergleich mit Elektra scheint Chrysothemis der Verlust ihres Vaters nicht zu
bekümmern. Sie opfert weder ihre Weiblichkeit aus Liebe zu ihrem Vater, noch
betrauert sie in einem täglichen Ritual dessen Ermordung. Auch ist sie nicht von
unbändigem Hass erfüllt oder widmet ihr Leben der Rache an Klytämnestra und Ägisth.
In der Tat ist keine Beziehung Chrysothemis‘ zu ihrem toten Vater erkennbar; wie ihr
Verhältnis zu Agamemnon vor dessen Ermordung war, kann nicht festgestellt werden
und bleibt fraglich. Dennoch leidet sie unter der grausamen Vergangenheit und der
durch Agamemnons Ermordung hervorgerufenen Situation – nicht wie ihre Schwester
durch die Trauer um den Vater und Hass auf die Mutter, sondern durch die für sie
unerträglichen Lebensumstände, die daraus entstanden sind. Paul Bekkers Beobachtung
scheint Chrysothemis‘ Haltung gegenüber der Ermordung Agamemnons gut zu
beschreiben, wenn er sagt: „[She is] [m]ore oppressed than indignant over what has
happened.“443
Chrysothemis ist von Ängsten geplagt, sie ist wie getrieben und kann nicht zur
Ruhe kommen.444 Sie fühlt sich wie eingesperrt und vergleicht sich selbst und Elektra
440
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 74.
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 73.
442
Hugo von Hofmannsthal, Prosa III, S. 139. Ernst Hötzl schreibt über Elektras Tod: „Das Ziel ihres
Lebens ist erreicht, sie sieht in ihrem Dasein keine weitere Funktion. Sie ist das letzte Opfer ihres eigenen
Hasses und tanzt sich zu Tode. Dies ist die einzige Möglichkeit, für ihren verstörten Geist Frieden zu
finden. Durch den Tod ist sie auch mit ihrem geliebten Vater vereint“ (Ernst Hötzl, Richard Strauss –
Hugo von Hofmannsthal: Die Elektra – ein Psychogramm der Atriden-Trilogie, S. 131). Jean Starobinskis
Äußerung darüber erklingt im selben Tonfall: „Und im Triumph ihres befriedigten Hasses ereilt sie der
Tod. […] Die Energie, in der Liebe und Haß sich mischten, findet nur noch im eigenen Körper im
Übermaß des Tanzes an den Grenzen von Freude und Zerstörung ihr Ziel“ (Jean Starobinski, Die
Zauberinnen, S. 228, 231).
443
Paul Bekker, Elektra: A Study by Paul Bekker, Princeton (New Jersey) 1992, S. 379. Von Susan
Gillespie verwendete Originalquelle: Paul Bekker, “Elektra. Studie“, in: Neue Musik-Zeitung 14, 16 und
18 (1909), S. 293-298, 333-337 und 397-391.
444
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 19.
441
77
mit Vögeln, die auf der Stange sitzen und den Kopf nach links und rechts drehen. 445 Die
gegenwärtige Situation ist für sie unerträglich. Sie glaubt damit abschließen zu können,
wenn sie nur von hier weg kommt, dann wäre sie auch die Alpträume los, die sie nachts
plagen: „Wär ich fort, wie schnell vergäß ich alle bösen Träume […].“446 Chrysothemis‘
psychische Belastung schlägt sich auch auf ihre mentalen Kräfte nieder. Sie ist nicht in
der Lage ihre Gedanken zu behalten: „Mein Kopf ist immer wüst. Ich kann von heut auf
morgen nichts behalten. Manchmal lieg ich so da, dann bin ich was ich früher war, und
kanns nicht fassen, daß ich nicht mehr jung bin.“447 Diese Aussage Chrysothemis‘
offenbart gleichzeitig ihre größte Angst – den Verlust ihrer Jugend. Obwohl
Chrysothemis noch vor Schönheit und Weiblichkeit erstrahlt 448, ist sie wie gefesselt von
der Vorstellung, diese zu verlieren. Somit steht ihre größte Angst in direktem
Zusammenhang mit ihrem innigsten Wunsch: Chrysothemis ersehnt sich ein
‚Weiberschicksal‘, was einen Ehemann und Kinder beinhaltet.449 Dafür würde sie sogar
einen Bauern heiraten und mit ihm in seiner Hütte wohnen.450 Wie stark sie sich danach
sehnt wird deutlich, als sie von den Mägden zu erzählen beginnt, die schwanger sind,
ihre Kinder gebären und die Kinder schließlich groß werden.451 Gleichzeitig wird ihr
wieder bewusst, wie schnell die Zeit verrinnt, und dass sie Kinder haben muss, bevor ihr
„Leib verwelkt“452. Ihre Aussage: „Nein, ich bin ein Weib und will ein Weiberschicksal.
Viel lieber tot, als leben und nicht leben“453 macht deutlich, wie stark die Aspekte ‚das
Leben leben‘ und ‚Weiberschicksal‘ in Chrysothemis‘ Vorstellung miteinander
445
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 20.
Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 195.
447
Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 195.
448
Dies wird bei Elektras Werben um ihre Schwester erkennbar (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie
in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 45-48).
449
Otto Erhardt bezeichnet Chrysothemis als „liebesdurstig und lebenshungrig, nach Weibes- und
Mutterglück verlangend“ (Otto Erhardt, Richard Strauss. Leben, Wirken, Schaffen, Olten 1953, S. 215).
Kurt Pahlen äußert sich über Chrysothemis folgendermaßen: „Man unterschätze Chrysothemis nicht;
dieses helle Gegenstück zur düsteren Elektra ist, obwohl durch eine warme, schöne lyrische
Sopranstimme charakterisiert, ebenfalls eine Verzweifelte. Nur daß ihre Verzweiflung die am einfachsten
zu fassende ist; dazu bedarf es keiner Psychologie. Sehnsucht nach ein wenig Freude in einem freudlosen
Dasein, Sehnsucht nach Wärme und Liebe, wo nur Haß, Kälte, Angst sie umgibt –, wie menschlich, wie
natürlich ist das! […] Elektras Tragik liegt ihr völlig fern […]“ (Richard Strauss, Elektra. Textbuch,
Mainz 1995, S. 206-208).
450
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 19f. Jean
Starobinski bezeichnet Chrysothemis als „zu sanft und zu menschlich […] für den offenen Aufruhr“,
weshalb sie „fliehen und ein Leben als Frau zu leben beginnen“ möchte (Jean Starobinski, Die
Zauberinnen, S. 226).
451
„[…] Frauen, die ich schlank gekannt hab‘, sind schwer von Segen, mühn sich zum Brunnen, heben
kaum die Eimer, und auf einmal sind sie entbunden ihrer Last, kommen zum Brunnen wieder aus ihnen
selber quillt süßer Trank und säugend hängt ein Leben an ihnen, und die Kinder werden groß […]“
(Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 20f).
452
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 20.
453
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 21.
446
78
verbunden sind. Bei Chrysothemis „steht die weibliche Geschlechtlichkeit im Zentrum
der eignen Person […] für sie [ist] jenseits ihrer ‚weiblichen Bestimmung‘ kein wahres
Leben möglich“454. Aus dem Theatertext geht im Gegensatz zum Libretto hervor, was
hinter Chrysothemis‘ Wunsch nach einem ‚Weiberschicksal‘ steckt:
„Ich will empfangen und gebären Kinder, die nichts von diesem wissen, meinen Leib wasch ich
in jedem Wasser, tauch mich tief hinab in jedes Wasser, alles wasch ich mir ab, das Hohle
meiner beiden Augen wasch ich mir rein – sie sollen sich nicht schrecken, wenn sie der Mutter in
die Augen schaun!“455
Chrysothemis‘ Wunsch ist es, eine neue Generation in die Welt zu setzen, welche
unbelastet von der grausamen Vergangenheit aufwachsen und leben kann.
3.2.3 Agamemnon und seine Töchter
Betrachtet man die unterschiedlichen Reaktionen der Schwestern auf die Ermordung
ihres Vaters, stellt sich die Frage nach der Beziehung von Elektra und Chrysothemis zu
Agamemnon vor dessen Tod. Zwar können darüber nur Vermutungen angestellt
werden, da die Tochter-Vater-Beziehung zu Agamemnons Lebzeiten weder in der Oper
noch im Theaterstück thematisiert wird, doch wird im Folgenden erörtert, wie diese
ausgesehen haben könnte.
Vor allem Elektras Verhalten aufgrund der Ermordung Agamemnons und ihre
ausgeprägte Liebe und Treue zu ihrem toten Vater geben Anlass, um darüber
nachzudenken, woraus ihre starke Vaterbindung resultiert. Eine Möglichkeit besteht
darin, dass Agamemnon und Elektra eine überaus liebevolle Tochter-Vater-Beziehung
hatten, oder sie sein Lieblingskind war, und deshalb am meisten Liebe und
Aufmerksamkeit bekam, was wiederum ihre tiefen Gefühle zum Vater erklärt.456 Eine
andere Theorie besteht darin, dass Elektra über die Affäre der Mutter Bescheid wusste,
und ihr Vater demnach der einzige Elternteil war, zu welchem Elektra noch eine
vertrauensvolle Beziehung aufbauen konnte, nachdem die Mutter im Begriff war, die
Familie durch ihre Liebesbeziehung mit Ägisth zu zerstören. Nach der Ermordung
Agamemnons durch Klytämnestra und Ägisth entfernte sie sich noch mehr von der
454
Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von
Richard Strauss, S. 80.
455
Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 196.
456
Ihre starke Liebe zum Vater und ihre Trauer über dessen Tod kommen vor allem in Elektras Monolog
zum Ausdruck.
79
Mutter und flüchtete sich endgültig in ihre Liebe zum Vater.457 Betrachtet man jedoch
den Dialog zwischen Elektra und Orest, entsteht der Anschein, als hätte sie ihre
Weiblichkeit nicht freiwillig geopfert, sondern als wäre dies unter Agamemnons Zwang
geschehen.458 Dies lässt wiederum auf eine autoritäre Vaterfigur schließen, dessen
Ansprüchen Elektra gerecht zu werden versuchte, um seine Liebe zu erlangen. Auch der
tote Vater hat noch so viel Macht über Elektra, dass sie auch jetzt noch das Gefühl hat,
nicht frei entscheiden zu können. Im Dialog mit Orest spricht sie außerdem von der
Eifersucht Agamemnons, wenn sie sich an ihrer Weiblichkeit erfreute, weshalb er ihr
den Hass als Bräutigam schickte.459 Dies könnte wiederum auf eine inzestuöse
Beziehung zwischen Agamemnon und Elektra schließen lassen.460 Ist dem der Fall,
könnte Elektras negative Beziehung zu ihrer Mutter bereits vor Agamemnons
Ermordung bestanden haben, da Elektra ihre Mutter möglicherweise als Rivalin um den
Vater gesehen haben könnte.
Welche Beziehung Elektra und Agamemnon auch hatten, an der Haltung
Chrysothemis‘ über die Ermordung des Vaters zeigt sich, dass Agamemnons Verhalten
Chrysothemis gegenüber entweder ein anderes war als jenes, welches er gegenüber
Elektra zeigte, oder, dass Chrysothemis auf das Verhalten ihres Vaters anders reagierte
als Elektra. Während Elektras Leben von ihrer Liebe zu und Loyalität gegenüber
Agamemnon geprägt ist, zeigt Chrysothemis kein liebevolles Verhältnis zum toten
Vater. Was auch immer zu diesen unterschiedlichen Haltungen der Schwestern
gegenüber Agamemnon geführt hat bleibt fraglich. Elektra scheint sich jedoch nicht
darüber bewusst zu sein, dass Chrysothemis eine andere Beziehung zu Agamemnon
hatte als sie selbst. Als sie in ihrem Monolog zu Beginn der Oper die Rachetat und den
anschließenden Siegestanz schildert, bezieht sie alle Kinder Agamemnons mit ein – so
auch Chrysothemis.461 Elektra scheint die Tatsache, dass Chrysothemis unter
Umständen ein anderes Verhältnis zu ihrem Vater hatte als sie selbst und ihre Schwester
die Ermordung der Mutter nicht gut heißen könnte und die Rachetat deshalb nicht
zwangsläufig als Triumph erleben würde, gar nicht erst in den Sinn zu kommen.
457
Elektra spricht zwar von der Affäre zwischen Klytämnestra und Ägisth, inwiefern sie jedoch bereits
vor Agamemnons Ermordung darüber Bescheid wusste, ist nicht klar (vgl. Richard Strauss, Elektra.
Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 14).
458
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 60.
459
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 60.
460
Wie bereits vorhin gezeigt wurde, spricht Silvia Kronberger von einer Liebesbeziehung zwischen
Agamemnon und Elektra (vgl. Fußnote 411).
461
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 15f.
80
Wie gezeigt wurde, gestaltet sich die Diskussion um die Tochter-Vater-Beziehungen in
Elektra schwierig. Die Betrachtungsweise des Verhältnisses zwischen Elektra und
Agamemnon ändert sich zwischen Elektras Monolog und ihrem Dialog mit Orest, und
bewegt sich hierbei in einer Reichweite von liebevoll über autoritär bis hin zu inzestuös.
Im Bezug auf Chrysothemis‘ Verhältnis zu Agamemnon kann lediglich davon
ausgegangen werden kann, dass sich dieses in irgendeiner Weise von jenem zwischen
Elektra und Agamemnon unterschieden hat. Wie dieses jedoch ausgesehen haben
könnte, bleibt fraglich.
3.2.4 Die Beziehung beider Schwestern zueinander
Elektra „die dämonische Rachegöttin gegen die Lichtgestalt ihrer irdischen
Schwester“462 – so bezeichnet Strauss die gegensätzlichen Charaktere der beiden
Schwestern. Hofmannsthal selbst hat dazu angemerkt, dass die „heroische Elektra und
die nur weibliche Chrysothemis“463 einen Kontrast darstellen. Dabei kam es ihm aber
darauf an, „daß sie mitsammen eine Einheit bildeten, recht eigentlich eins waren.“464
Michael Walter sieht genau hierin ein Problem:
„Der in sich widersprüchliche und darum dynamische Charakter der Salome wird von Strauss in
Elektra in zwei Figuren aufgespalten: Einerseits Elektra, in der sich der Wille zum Fanatismus
manifestiert. Weil Elektra aber nicht mehr als eine Manifestation ist, die mit der Person Elektras
nicht identisch ist, erscheint sie identitätslos. Anderseits Chrysothemis, die in allem Elektras
Gegenteil ist, und deren Wille zum Hausfrauendasein vom zeitgenössischen bürgerlichen
Publikum wohl zustimmend goutiert wurde und ihre Identität ausmachte. Das Verhältnis der
beiden Figuren ist jedoch nicht dialektisch, sie sind nur als Gegenteile aufeinander bezogen. Als
Einzelfiguren – wie Salome – wären sie nicht denkbar.“465
Diese hat zur Folge, dass beide Charaktere – vor allem aber Elektra – von Anbeginn an
statisch sind und keine Möglichkeit zur Veränderung besteht. Hierzu ist noch
anzumerken, dass laut Walter dieses Problem erst durch die Kürzungen Strauss‘
verursacht wurde.466
In der Tat scheinen Elektra und Chrysothemis in jedem Aspekt das Gegenteil der
jeweils anderen zu verkörpern. Die größte Diskrepanz besteht in ihrem Umgang mit der
Ermordung ihres Vaters. Elektras ganze Liebe und Treue gilt dem toten Vater, weshalb
sie sich in vollen Zügen dem Hass auf ihre Mutter und Ägisth hingibt und auf
462
Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, S. 230.
Aufzeichnung vom März 1922 (Hugo von Hofmannsthal, Aufzeichnungen, S. 234).
464
Aufzeichnung vom März 1922 (Hugo von Hofmannsthal, Aufzeichnungen, S. 234).
465
Michael Walter, Elektra – germanisches Fortissimo und ästhetische Konstruktion, 2005, S.56.
466
Vgl. Michael Walter, Elektra – germanisches Fortissimo und ästhetische Konstruktion, S. 57.
463
81
Vergeltung aus ist. Chrysothemis hingegen ersehnt sich nichts mehr als ein
‚Weiberschicksal‘, sie will die Vergangenheit und die gegenwärtige Situation hinter
sich bringen. Insofern prägt Agamemnon, beziehungsweise die Haltung, die Elektra und
Chrysothemis bezüglich seiner Ermordung einnehmen, ihre ganze Beziehung
zueinander. Alle Konflikte der beiden basieren letzten Endes darauf. Keine der
Schwestern kann die Position der jeweils anderen verstehen, die unterschiedlichen
Motivationen, die ihr Leben bestimmen, entzweien die beiden unüberwindbar. In
Elektras Augen ist Chrysothemis' Weigerung zur Rache an der Mutter Verrat am Vater,
dies macht sie für Elektra zur „Tochter Klytämnestras“467. Ihre Verachtung für
Chrysothemis‘ Haltung bringt Elektra im Theatertext klar zum Ausdruck: „Ich wünsch
dir, wenn du Kinder hast, sie mögen an dir tun, wie du am Vater!“468 Chrysothemis auf
der anderen Seite macht Elektra und ihren Hass für ihre jetzige Lage verantwortlich:
„Du bist es, die mit Eisenklammern mich an den Boden schmiedet. Wärst nicht du, sie
ließen uns hinaus. Wär‘ nicht dein Haß, dein schlafloses unbändiges Gemüt, vor dem
sie zittern, ah, so ließen sie uns ja heraus aus diesem Kerker, Schwester!“469
Chrysothemis ist davon überzeugt, dass Elektra ihr helfen könnte zu entkommen:
„Elektra, hör‘ mich. Du bist so klug, hilf uns aus diesem Haus, hilf uns ins Freie.“470
Ein weiterer wesentlicher Kontrast der Schwestern ist der Umgang mit dem
Vergessen. Elektra ruft sich die Tat und ihren Wunsch nach Rache in ihrem täglichen
Ritual immer wieder ins Gedächtnis.471 Sie will die Ermordung ihres Vaters nicht
vergessen und macht es auch den anderen Personen unmöglich, dies zu tun.472
Chrysothemis hingegen will die Vergangenheit vergessen und endlich ihren Wunsch
nach einem ‚Weiberschicksal‘ erfüllen.473 „Chrysothemis verkennt nicht, dass das von
ihr herbeigesehnte ‚Weiberschicksal‘ nur nach dem Vergessen auszuleben ist […].“474
Eine Aufzeichnung Hofmannsthals liefert eine Erklärung darüber, was der Aspekt des
Vergessens beinhaltet:
467
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 17.
Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 196.
469
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 19.
470
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 47.
471
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 14-16.
472
Immer wieder erwähnt sie vor Chrysothemis (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge
von Hugo von Hofmannsthal, S. 17f, 41-51) und Klytämnestra (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in
einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 35-38) die Tat und die noch folgende Rache.
473
Im Theatertext kommt ihre Verzweiflung darüber, die Vergangenheit endlich vergessen zu können
stärker zum Ausdruck (vgl. Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 195f).
474
Michael Walter, Elektra – germanisches Fortissimo und ästhetische Konstruktion, S. 57.
468
82
„Verwandlung ist Leben des Lebens, ist das eigentliche Mysterium der schöpfenden Natur;
Beharren ist Erstarren und Tod. Wer leben will, der muß über sich selber hinwegkommen, muß
sich verwandeln: er muß vergessen. Und dennoch ist ans Beharren, ans Nichtvergessen, an die
Treue alle menschliche Würde geknüpft. […] So steht […] Elektra gegen Chrysothemis […].
Chrysothemis wollte leben, weiter nichts; und sie wußte, daß, wer leben will, vergessen muß.
Elektra vergißt nicht. Wie hätten sich die beiden Schwestern verstehen können?“ 475
Hofmannsthals Aussage erklärt und begründet die von Michael Walter kritisch
betrachtete Statik der Figuren und deren Unfähigkeit zur Entwicklung. 476 Elektra ist
statisch, weil sie nicht vergessen will. Chrysothemis will zwar vergessen können, wird
aber von ihrem Umfeld – vor allem von Elektra – daran gehindert. Dies blockiert
Chrysothemis‘ Weiterentwicklung oder ‚Verwandlung‘, wie es Hofmannsthal nannte.
Nach dem vermeintlichen Tod Orests kommt es zu einer scheinbaren Annäherung der
Schwestern auf Seiten Elektras. Um Chrysothemis zur Mithilfe zu bewegen, beginnt
Elektra ihre Schönheit und Kraft zu preisen. Elektra versichert Chrysothemis sogar, ihr
bei der Erfüllung ihres ‚Weiberschicksals‘ zu helfen477, obwohl dies bei Elektra zuvor
nur Spott und Hohn hervorgerufen hat.478 In der Literatur wurde und wird diese Szene
des Öfteren zum Anlass genommen, um Elektras homosexuelles Begehren gegenüber
Chrysothemis zu erörtern. So sprach Paul Goldmann bereits 1905 davon, dass „[z]wei
der edelsten Frauengestalten der altgriechischen Dichtung […] in ein lesbisches
Verhältnis zueinander gesetzt“479 worden seien. Nach Wolfgang Müller-Funk ist
„[d]ie erotisch geladene Rede Elektras […] nicht so sehr ein schmerzvolles Eingeständnis eines
Verzichtes auf weibliche Sexualität und Sinnlichkeit, sondern auch ein Begehren der Schwester,
das gleichsam männlich konnotiert ist, ein freies zwischen gleichen. Elektra betrachtet die
Schwester mit den Blicken eines Mannes.“480
Bei Chrysothemis rufen Elektras Worte jedoch nur Angst und Entsetzen hervor, sie
reagiert zunehmend abwehrend.481 Sie weiß, dass sie „mit einer Beteiligung an der
Ermordung der Mutter ihre weibliche Identität, die auf die Verwirklichung ihrer auf
475
Hugo von Hofmannsthal, Prosa III, S. 138f.
Siehe Zitat von Michael Walter auf S. 81.
477
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 45-48.
478
Auf Chrysothemis‘ verzweifelte Bitte ihr zu helfen, damit sie irgendwann Mann und Kinder haben
kann antwortet Elektra höhnisch: „Armes Geschöpf!“, „Was heulst du? Fort! Hinein! Dort ist dein Platz!
Es geht ein Lärm los. Stellen sie vielleicht für dich die Hochzeit an?“ (Richard Strauss, Elektra. Tragödie
in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 20f).
479
Zitiert nach Danielle Buschinger und Wolfgang Spiewok, Richard Strauss und die Antike: Von der
psychologisierenden Opern-Mythe zur mythologisierenden Operette, Anif/Salzburg 1990, S. 115.
480
Wolfgang Müller-Funk, Arbeit am Mythos: Elektra und Salome, S. 184.
481
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 42-50.
476
83
Mutterschaft ausgerichteten Sehnsüchte hin drängt, verlieren würde“482, was ihr die
Ermordung ihrer eigenen Mutter unmöglich macht. Elektra versichert ihr, dass ihr „kein
Tropfen Blut am Leibe haften“483 bleibt und das, was sie „jetzt an Schaudern
überwinde[t] […] vergolten [wird] mit Wonneschaudern Nacht für Nacht […]“484. Doch
Chrysothemis ist sich der Widernatürlichkeit der Tat ihrer Mutter bewusst und weiß,
dass sie dasselbe Schicksal erleiden würde, würde sie Klytämnestra ermorden. 485 Mit
den Worten: „Ich kann nicht!“486 läuft sie davon, woraufhin Elektra sie verflucht. Jetzt
wird deutlich, dass es Elektra nie wirklich um ihre Schwester gegangen ist, sondern
einmal mehr nur um ihren Vater und darum, seine Ermordung zu rächen. Mit
Chrysothemis‘ Weigerung Elektra zu helfen ist diese für Elektra als Schwester und
Bezugsperson nicht mehr existent. Im Theatertext bringt Elektra unverkennbar zum
Ausdruck, dass sie auf Erden keine Person mehr hat, die ihr am Herzen liegt. Orest fragt
(vor der Erkennungsszene): „So hast du nichts auf Erden, was dir lieb ist […]?“487
Elektra entgegnet: „Ich bin nicht Mutter, habe keine Mutter, bin kein Geschwister, habe
kein Geschwister […].“488
Auch nachdem Klytämnestra und Ägisth ermordet wurden, die Ursache für den
Zwiespalt der Schwestern aufgelöst wurde und scheinbar nichts mehr zwischen ihnen
steht, gelingt es ihnen nicht zueinander zu finden. Die Spaltung der Schwestern wird
wieder durch ihre gegensätzliche Haltung zur Situation hervorgerufen. Während
Chrysothemis, welche die Tat jetzt auch befürwortet, ihre Freude und neu erweckte
Hoffnung auf eine bessere Zukunft mit allen – auch Elektra – teilen will, scheint Elektra
die Welt um sich nicht mehr wahrzunehmen und reagiert nicht auf die Rufe ihrer
Schwester.489 Auch in ihrem ‚Duett‘490 gehen die beiden nicht aufeinander ein, sondern
482
Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von
Richard Strauss, S. 231.
483
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 50.
484
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 50.
485
Hofmannsthal beschreibt die Widernatürlichkeit der Tat Klytämnestras: „Die Tat ist für die Frau das
Widernatürliche (so schon Klytämnestra) […] Ihre Tat ist Mutter sein, - wie aber, wenn sie sich an dem
vergeht durch Untat, welcher der Vater ihres Kindes ist?“ (Hugo von Hofmannsthal, Prosa III, S. 354).
486
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 51.
487
Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 220.
488
Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 220.
489
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 70f.
490
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 72f. Hierbei
handelt es sich um eine der wenigen Passagen, in denen Strauss keine Kürzung, sondern eine Ausdehnung
der Verse haben wollte. Strauss schrieb das ‚Duett‘ von Elektra und Chrysothemis betreffend an
84
führen separate Monologe. Chrysothemis wendet sich schließlich von Elektra ab, um
bei Orest zu sein – Elektra beginnt ihren Tanz und bricht schließlich unter der „Last des
Glückes“491 sterbend zusammen.
3.2.5 Die Beziehungen der Schwestern zu anderen Personen
3.2.5.1 Klytämnestra und ihre Töchter
Hofmannsthal sind die „drei Frauengestalten […] wie die Schattierungen eines
intensiven und unheimlichen Farbtones gleichzeitig aufgegangen“492. Silvia Kronberger
fehlt den Frauengestalten, auf denen „[d]rei Aspekte des Weiblichen: Mütterlichkeit,
Sexualität, Aggression [aufgeteilt sind] […] [i]n ihrer Eindimensionalität […] allen
dreien ihre Glaubwürdigkeit“493. Auch Matthew Boyden weist den Figuren in Elektra
ein bestimmtes Attribut zu. Er geht jedoch nicht darauf ein, wie glaubwürdig er die
Darstellung der einzelnen Figuren findet: „Wie Salome ist Elektra eine Tragödie der
Leidenschaften, nicht der Seele. Alle Figuren sind durch ein Gefühl definiert: Elektra ist
Haß, Chrysothemis ist Verlangen, Klytämnestra ist Angst und Orest ist Liebe.“494
Welche ‚Aspekte des Weiblichen‘ oder ‚Leidenschaften‘ man den drei Frauen in
Elektra auch immer zuschreiben mag, es ist offensichtlich, dass sie in der Handlung
unterschiedliche Positionen einnehmen. Welche Beziehung dadurch zwischen
Klytämnestra495 und ihren Töchtern – vor allem im Hinblick auf ihre unterschiedlichen
Positionen, die sie im Bezug auf Agamemnons Ermordung einnehmen – erkennbar ist,
soll im Folgenden untersucht werden.
Hofmannsthal: „Ihre erste Verssendung dankend erhalten; sehr schön, aber etwas wenig. Bitte drücken
Sie noch ein bißchen, es kommen sicher noch etwa 8 Verse für jede heraus, ich muß hier Material haben,
um beliebig steigern zu können. 8, 16, 20 Verse, soviel Sie können, und alles in derselben ekstatischen
Stimmung, immer sich steigernd“. Brief an Hofmannsthal vom 22. Juni 1908 (Richard Strauss und Hugo
von Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 37).
491
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 74.
492
Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke VII, S. 459.
493
Silvia Kronberger, Elektra: stark – allein – hysterisch, S. 124.
494
Matthew Boyden, Richard Strauss. Die Biographie, Wien 1999, S. 324.
495
Für eine ausführliche Analyse der Figur Klytämnestras vgl. Sonja Bayerlein, Musikalische
Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 74-78, 243-268.
85
Elektras ganze Liebe und Loyalität gilt dem toten Vater, Agamemnon – Klytämnestra
hat diesen gemeinsam mit Ägisth ermordet. Elektras Verbundenheit dem Vater
gegenüber hat demnach den Hass auf ihre Mutter zwangsläufig zur Folge. Elektras
„naturgemäße blutsverwandte Bindung zur Mutter“496 wird ausgelöscht – sie will den
Tod ihrer Mutter, um ihren Vater zu rächen. Doch auch Klytämnestra ist Elektra
gegenüber nicht positiver gesinnt. Sie zwingt ihre Tochter bei den Hunden zu essen,
lässt ihre körperliche Misshandlung durch Ägisth zu und droht ihr sogar, sie an Ketten
legen und hungern zu lassen.497 Klytämnestras Ablehnung Elektras rührt daher, dass
diese sie daran hindert, ihre Tat zu vergessen – „denn wie Elektra in der Mutter immer
den fleischgewordenen Frevel vor Augen hat, so begegnet dieser umgekehrt in der
Tochter das fleischgewordene Gedächtnis ihrer Untat“498. Paul Bekker schildert Elektras
und Klytämnestras Verhältnis zueinander wie folgt: „The two complement each other:
the crime of the one determines the character of the other. Klytämnestra’s deed turns
Elektra into a vengeful fury whose fate is fulfilled the moment her victim dies.”499 Ob
ihre Beziehung zueinander vor der Ermordung anders war, wird in der Oper zu keinem
Zeitpunkt thematisiert.
Doch trotz ihrer gegenseitigen Ablehnung sind einige Aspekte zu finden, in
denen die Frauen Ähnlichkeit aufweisen. Ein wesentlicher Punkt hierbei ist ihr
körperlicher Verfall. Wie bereits gezeigt wurde, hat Elektra ihre Schönheit und
Weiblichkeit geopfert. Doch auch Klytämnestras äußeres Erscheinungsbild verfällt, sie
hat ein „fahles, gedunsenes Gesicht“500 und ihre „Augenlider [sind] angeschwollen“501.
Bei Klytämnestra geht dies jedoch mit einem allgemeinen physischen Gebrechen
einher, sie muss sich beim Gehen auf eine ihrer Vertrauten stützen, schafft es kaum ihre
Augen offen zu halten und fühlt sich „lebendigen Leibes wie ein wüstes Gefild“502.
Auch der Aspekt der Widernatürlichkeit der Frau zur Tat verbindet die beiden. Denn
während sich Klytämnestra bereits des Mordes an ihrem Mann schuldigt gemacht hat,
ersehnt Elektra die Ermordung ihrer Mutter herbei. Doch beide führen die Tat nicht
496
Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von
Richard Strauss, S. 63.
497
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 11, 35.
498
Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von
Richard Strauss, S. 78.
499
Paul Bekker, Elektra: A Study by Paul Bekker, S. 378.
500
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 23.
501
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 25.
502
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 23.
86
selbst durch, sondern beauftragen einen Mann, der dies für sie macht.503 Während
jedoch Klytämnestra als Mithelferin beteiligt war504, ist Elektra nicht einmal das
möglich, da sie Orest das Beil nicht gegeben hat505.
Trotz ihrer gegenseitigen Antipathie, der Warnung ihrer Vertrauten und
Schleppenträgerin506 und Klytämnestras eigener Bemerkung: „Sie kennt mich gut. Doch
weiß man nie, was sie im Schilde führt“507, sucht Klytämnestra Hilfe bei Elektra. Sie
erhofft sich, „etwas Angenehmes“508 zu hören, etwas, das ihr hilft, ihre Alpträume
loszuwerden, und sie glaubt, dass Elektra im Stande ist, ihr zu helfen. Elektra weiß um
den Zustand und die Ängste ihrer Mutter Bescheid, sie nutzt die Situation und tut so, als
würde sie nichts von den Träumen Klytämnestras wissen. Im Theatertext behauptet
Elektra Chrysothemis gegenüber gar, dass sie Klytämnestra die bösen Träume
schickt.509 Klytämnestra versucht Elektra näher zu kommen und geht in eine ruhigere
Stimmung über, um ihr das Geheimnis des Opfertieres zu entlocken, das sie von den
Träumen befreit.510 Im Theatertext versucht sie sogar die Härte, die sie Elektra
gegenüber an den Tag legt, zu rechtfertigen.511 Die Stimmung schlägt abrupt um, als
Elektra nach ihrem Bruder fragt, jetzt kommt die Abscheu, die beide füreinander
empfinden, wieder deutlich zum Ausdruck. Klytämnestra droht Elektra, sie an die Kette
zu legen und hungern zu lassen, um zu erfahren, welches Opfer fallen muss. Im
Gegenzug wirft ihr Elektra die grausame Wahrheit ins Gesicht, sagt Klytämnestra, dass
sie selbst das Opfertier ist und schildert ihr den Mordhergang.512 Ihre Schilderung
beendet sie mit den Worten: „[S]ausend fällt das Beil, und ich steh‘ da und seh‘ dich
503
Vgl. Paul Bekker, Elektra: A Study by Paul Bekker, S. 378.
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 14.
505
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 63.
506
Mit Aussagen wie: „Sie meint es tückisch“ und „Sie redet nicht, wie sie’s meint“ versuchen die Frauen
Klytämnestra vor Elektra zu warnen (Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von
Hofmannsthal, S. 24f).
507
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 24.
508
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 26.
509
Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 197f. Im Libretto sind Teile dieser Verse in Elektras
Mordschilderung gegenüber Klytämnestra eingebaut (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem
Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 35f).
510
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 27.
511
„Wenn Eltern hart sind, ist es stets das Kind das sie zur Härte zwingt. Kein strenges Wort ist ganz
unwiderruflich, und die Mutter, wenn sie schlecht schläft, denkt lieber sich das Kind im Ehebett als an der
Kette liegen“ (Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 205f).
512
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 33-37.
504
87
endlich sterben! Dann träumst du nicht mehr, dann brauche ich nicht mehr zu träumen,
und wer dann noch lebt, der jauchzt und kann sich seines Lebens freun!“513
Wie bereits gezeigt wurde, ist an Chrysothemis‘ Verhalten keine Bindung zum Vater
erkennbar. Jedoch folgt aus Chrysothemis‘ Weigerung der Rache an der Ermordung
ihres Vaters nicht gleichzeitig ihre Liebe zur Mutter. Denn, wie zwischen Elektra und
Klytämnestra, ist auch zwischen Chrysothemis und Klytämnestra keine liebevolle
Mutter-Tochter-Beziehung vorhanden. Auch ihr Verhältnis zueinander wird von der
Vergangenheit – der Ermordung Agamemnons durch Klytämnestra und Ägisth –
beeinflusst. Die beiden treffen während der gesamten Oper nie aufeinander, denn
Chrysothemis flieht, bevor ihre Mutter die Bühne betritt, und sie erscheint erst wieder,
als Klytämnestra diese verlässt. Welche Beziehung die beiden zueinander haben, geht
demnach lediglich aus ihren Gesprächen mit Elektra hervor.514 Nach Sonja Bayerlein
kann Chrysothemis aufgrund ihres Kinderwunsches ihre naturgemäße Bindung zur
Mutter nicht so einfach abbrechen wie Elektra. Damit sie aber „den unauflöslichen
Zwiespalt zwischen der Abscheu vor der Tat der Mutter und gleichzeitiger
Kindespflicht zur Mutterliebe nicht austragen“515 muss, versteckt sie sich vor ihr. Denn
der „sich auftuende Konflikt zwischen der Kindespflicht zur Rache als Tochter des
Vaters […] und ihrem Ideal der ‚Mutterrolle‘ […] übersteigt ihre psychischen
Kräfte.“516 Dass Chrysothemis nicht nur einem Zwiespalt aus dem Weg geht, sondern
die Mutter auch aus Angst meidet, wird im Theatertext deutlich. So sagt Chrysothemis
zu Elektra, dass sie Kinder auf die Welt bringen möchte, die keine Angst hätten, wenn
sie ihrer Mutter in die Augen sehen.517 Dass sich auch Klytämnestra über Chrysothemis‘
Angst vor ihr bewusst ist, geht aus folgender Aussage hervor: „Sag du deiner
Schwester, sie soll nicht so wie ein verschreckter Hund vor mir ins Dunkel flüchten.
Heiß sie, freundlich, wie sichs geziehmt, mich grüßen, und gelassen mir Rede stehn.“518
Doch, obwohl Chrysothemis ihrer Mutter aus dem Weg geht und sie diese nicht ständig
513
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 37f.
Wie bei Elektra und Klytämnestra wird auch nicht thematisiert, welche Beziehung Klytämnestra und
Chrysothemis vor der Mordtat zueinander hatten.
515
Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von
Richard Strauss, S. 81f.
516
Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von
Richard Strauss, S. 192.
517
Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 196.
518
Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 207.
514
88
mit dem Mord an Agamemnon konfrontiert, wird auch sie – wie ihre Schwester – aus
dem Haus verstoßen.519
Trotz ihrer negativen Beziehung zueinander gibt es auch zwischen Chrysothemis
und Klytämnestra Übereinstimmungen. Beide wollen die Vergangenheit vergessen und
werden in ihren Träumen immer wieder damit konfrontiert520. Sie haben Angstzustände,
benennen den Grund dafür jedoch nicht521, und beide weisen Zustände der geistigen
Verwirrung auf, was mit ihrem Versuch, die Vergangenheit zu verdrängen,
zusammenhängt522. Zieht man ausschließlich das Libretto heran, sind jene Stellen
gestrichen, in denen Chrysothemis‘ Träume und auch ihre geistige Verwirrung zum
Ausdruck kommen. Ihre Ängste und der Wunsch, die Vergangenheit hinter sich zu
lassen, bleiben jedoch erhalten.
3.2.5.2 Orest und seine Schwestern
Die Beziehung der Schwestern zu Orest kann aufgrund der Tatsache, dass er lediglich
gegen Ende der Oper präsent ist, nur ansatzweise erörtert werden. Die wohl
aufschlussreichste Szene ereignet sich jedoch bereits vor Orests Eintreffen, als
Chrysothemis Elektra über dessen vermeintlichen Tod informiert. Chrysothemis
„heul[t] wie ein verwundetes Tier“523 und wirft sich vor Verzweiflung auf den Boden524.
Im Theatertext kommt ihre Trauer noch stärker zum Ausdruck, indem sie sich fragt, ob
der sterbende Bruder nach seinen Schwestern verlangte und sie darüber aufgebracht ist,
dass sie nicht einmal eine Locke ihres Bruders bekommen.525 Bayerlein argumentiert
dafür, dass Orest für Chrysothemis „nur die Funktion [hatte], ihr den Zugang zum
519
Im Theatertext spricht Chrysothemis an, dass sie bei den Knechten leben muss (vgl. Hugo von
Hofmannsthal, Dramen II, S. 194).
520
Chrysothemis (vgl. Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 195) und Klytämnestra (vgl. Richard
Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 27-29) sprechen ihre
Alpträume Elektra gegenüber an.
521
Chrysothemis spricht lediglich davon, dass sie Angst hat und ihr die Knie zittern (vgl. Richard Strauss,
Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 19). Klytämnestra spricht von einem
‚Etwas‘, das ihre Angst auslöst, ist aber nicht im Stande diese zu definieren und zu benennen (vgl.
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 28).
522
Chrysothemis ist nicht in der Lage, sich Dinge von einem Tag auf den anderen zu merken (vgl. Hugo
von Hofmannsthal, Dramen II, S. 195). Auch Klytämnestra fällt es schwer ihre Gedanken zu ordnen, sie
ist sich nicht mehr sicher darüber, was passiert ist und was nicht (vgl. Hugo von Hofmannsthal,
Dramen II, S. 202f., 206).
523
Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 38.
524
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 39.
525
Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 214.
89
eigentlichen Leben zu ermöglichen […]“526. Ob dem wirklich so ist, bleibt fraglich. Die
oben zitierten Passagen weisen jedoch eher darauf hin, dass ihre Trauer dem toten
Bruder gilt und nicht der verlorenen Möglichkeit auf eine bessere Zukunft.
Im Gegensatz zu Chrysothemis ist bei Elektra keine Trauer über die Nachricht
des toten Bruders erkennbar. Elektra kann zunächst nicht fassen, dass Orest tatsächlich
tot sein soll und streitet es ab. Als sie jedoch wieder in der Lage ist, ihre Gedanken zu
sammeln, gilt ihre erste Sorge der Rache Agamemnons – sie beschließt, die Tat selbst
zu vollziehen. Es scheint, als nehme Orest in Elektras Leben lediglich die Rolles des
Rächers ein, eine schwesterliche Liebe ist hier nicht erkennbar.527 Paul Bekker schreibt
im Bezug auf die Erkennungsszene:
„Her hate engenders love. It is not the brother whom Elektra greets (although a certain sisterly
tenderness may be heard underneath her words). But primarily she sees in him the avenger of the
father, whose appearance awakens feelings in her heart that had seemed forever buried and will
never appear again after this one exalted outburst.” 528
Als die Tat vollbracht ist und Klytämnestra und Ägisth tot sind, denkt Elektra nicht
mehr an ihren Bruder – sie ist vollkommen in ihre eigene Welt versunken,
Chrysothemis hingegen will bei ihrem Bruder stehen.529
Die Beziehung Orests zu seinen Schwestern lässt sich so gut wie gar nicht
erörtern. Orest scheint, als er Elektra erkennt, über ihr Schicksal betroffen530, und will
sie nach der Erkennungsszene auch gleich umarmen, was diese abwehrt531. Über
Chrysothemis verliert er jedoch kein Wort.
526
Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von
Richard Strauss, S. 200.
527
Carl Dahlhaus schreibt diesbezüglich: „Orest ist in Hofmannsthals Drama […] weniger der Täter
seiner Tat als ein Werkzeug Elektras […]“ (Carl Dahlhaus, 20. Jahrhundert, S. 612).
528
Paul Bekker, Elektra: A Study by Paul Bekker, S. 379.
529
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 73.
530
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 56.
531
Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 59.
90
3.3 Analyse der musikalischen Ebene
3.3.1 Aspekte zur Einführung
„Als ich zuerst Hofmannsthals geniale Dichtung […] sah, erkannte ich wohl den glänzenden
Operntext […] und, wie seinerzeit in ‚Salome‘, die gewaltige musikalische Steigerung bis zum
Schluß […]. Beide Opern boten wunderbare musikalische Angriffspunkte […]. Anfangs
schreckte mich aber der Gedanke, daß beide Stoffe in ihrem psychischen Inhalt viel Ähnlichkeit
hatten […]. Beide Opern stehen in meinem Lebenswerk vereinzelt da: ich bin in ihnen bis an die
äußersten Grenzen der Harmonik, psychischer Polyphonie (Klytämnestra Traum) und
Aufnahmefähigkeit heutiger Ohren gegangen.“532
Strauss‘ Aussage, die er 1942 über Salome und Elektra tätigte, beinhaltet Termini, die
zeigen, welchen wesentlichen Stellenwert psychologische Aspekte in
seiner
kompositorischen Arbeit inne hatten. Strauss verstand Musik als „Ausdruck der
menschlichen Psyche“533, was sich auch in den von ihm verwendeten Begriffen wie
Contrapunkt“534,
„seelische[r]
Contrapunkte“
536
widerspiegelt.
537
„Nervencontrapunkt“535
und
„nervöse[.]
Die Anwendung solcher Termini beschränkte Strauss
jedoch nicht nur auf seine eigenen Werke, er gebraucht sie auch im Bezug auf Werke
anderer Komponisten, etwa dem dritten Akt von Wagners Tristan und Isolde.538
Strauss‘ Bezugnahme auf Werke Wagners ist insofern nicht weiter verwunderlich, als
für Strauss die Musik in Wagner ihre „höchste Ausdrucksfähigkeit erreicht“539 hat.
Unter Komponieren verstand Strauss „die Übertragung eines Sinnes- oder
Gefühlsausdruckes in die Symbolsprache der Musik“540. Wesentlich hierbei ist, dass das
532
Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, S. 229f.
Brief an Cosima Wagner vom 30. September 1895 (Cosima Wagner und Richard Strauss, Ein
Briefwechsel, Bd.2, Tutzing 1978, S. 140).
534
Brief an Joseph Gregor vom 8. Januar 1935 (Richard Strauss und Joseph Gregor, Briefwechsel. 19341949, Salzburg 1955, S. 15).
535
Brief an Joseph Gregor vom 8. Januar 1935 (Richard Strauss und Joseph Gregor, Briefwechsel, S. 17).
536
Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, S. 180.
537
Katharina Hottmann weist darauf hin, dass Strauss solche Termini zwar verwendete, sich aber nie
konkret über deren Begriffsbestimmung äußerte (vgl. Katharina Hottmann, Historismus und
Gattungsbewusstsein bei Richard Strauss. Untersuchungen zum späteren Opernschaffen. „Die andern
komponieren. Ich mach‘ Musikgeschichte!“, Tutzing 2005, S. 95). Laut Christoph Khittl lässt die
Verwendung der Begriffe auf „Einflüsse aus der Literatur und Literaturkritik des ausgehenden 19. und
beginnenden 20. Jahrhunderts schließen“ (Christoph Khittl, „Nervencontrapunkt“. Einflüsse
psychologischer Theorien auf kompositorisches Gestalten, Wien u.a. 1991, S. 143). Sonja Bayerlein
äußert sich diesbezüglich konkreter: „Außer [der] eher philosophisch orientierten Beschäftigung mit
Psychologie (neben Nietzsche beschäftigte sich Strauss auch mit Schriften Arthur Schopenhauers) finden
sich bei Strauss keine Zeugnisse einer theoretischen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen
Psychologie oder der Freudschen Psychoanalyse, deren allgemeiner Gehalt ihm jedoch vertraut gewesen
sein dürfte“ (Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“
von Richard Strauss, S. 13).
538
Brief an Joseph Gregor vom 8. Januar 1935 (vgl. Richard Strauss und Joseph Gregor, Briefwechsel,
S. 15).
539
Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, S. 167.
540
Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, S. 47.
533
91
moderne Orchester nicht nur untermalt, erklärt, oder erinnert, denn es „gibt den Inhalt
selbst, enthüllt das Urbild, gibt die innerste Wahrheit“541. Die Entwicklung dieses
modernen Orchesters, welches in der Lage ist, das Urbild zu enthüllen, geht nach
Strauss auf Haydn, Weber, Berlioz und Wagner zurück.542 Die Aufgabe der Musik
bestand für Strauss demnach darin, eine (psychologische und emotionale) Ebene zum
Ausdruck zu bringen und anzusprechen, welche mit dem gesprochenen und
geschriebenen Wort nicht erreicht werden kann. Hierin sah Strauss auch gleichzeitig die
Überlegenheit der Musik gegenüber dem gesprochenen und geschriebenen Wort:
„Was die schönsten Verse der größten Dichter in seitenlangen Umschreibungen der Phantasie
des Lesers oder Hörers allenfalls zu suggerieren vermögen, mit einem Akkord gelingt es der
Musik, die Empfindung selbst auszusprechen: das Gefühl der Liebe, der Sehnsucht, der
Bußfertigkeit, der Todesbereitschaft […].“543
Doch nicht nur Strauss sprach der Musik die Fähigkeit zu, psychologische und
emotionale Vorgänge zum Ausdruck zu bringen, auch Hofmannsthals Meinung
diesbezüglich schien mit der von Strauss übereinzustimmen. In seinem Tagebuch
notierte Harry Graf Kessler eine Aussage Hofmannsthals, in welcher er die Vorteile der
Musik gegenüber der Sprache im Bezug auf Elektra beschreibt:
„In [Elektra] ist zum ersten Mal der Versuch gemacht, in einen tragischen Moment eine ganze
menschliche Psyche zusammenzupressen, sozusagen einen Querschnitt durch eine Seele zu
geben auch mit allen physiologischen Untergründen. […] Allerdings, gerade Dieses, dass [sic!]
so viel Hintergrund in der Elektra ist, das wird erst die Musik herausbringen. Denn das
gesprochene Drama ist auf eine elende Komparserie angewiesen. Wenn diese auch hundertmal
hinter den Kulissen ‚Orest, Orest!‘ ruft, so denkt kein Mensch daran, was da hinten vorgeht. Die
Musik hat ganz andre Mittel. Deshalb glaube ich, dass vielleicht erst die Musik das
herausbringen wird, was an dem Stück wirklich dran ist.“ 544
Vor allem beim Schluss der Oper sah Hofmannsthal die Möglichkeit, dessen Wirkung
durch die Musik im Gegensatz zum Theaterstück zu steigern, was er auch gegenüber
Strauss anmerkte: „Nun wünsche ich Ihnen Kraft und Freude für den Schluß, der ja in
Ihrem Werk viel bedeutungsvoller und wuchtiger sein wird als in der Dichtung.“545
541
Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, S. 91.
Brief an Joseph Gregor vom 8. Januar 1935 (vgl. Richard Strauss und Joseph Gregor, Briefwechsel,
S. 15).
543
Brief an Joseph Gregor vom 8. Januar 1935 (Richard Strauss und Joseph Gregor, Briefwechsel, S. 16).
544
Tagebucheintrag von Harry Graf Kessler vom 7. Dezember 1907 (Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche
Werke VII, S. 430).
545
Brief an Strauss vom 16. August 1908 (Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, Briefwechsel,
S. 46).
542
92
In Strauss‘ Auffassung über Musik finden sich Parallelen zu den Ansichten Wagners:
Beide sprechen der Musik die Fähigkeit zu, Empfindungen und Gefühle auszudrücken,
wozu die Wortsprache hingegen nicht in der Lage ist. Sowohl Wagner als auch Strauss
räumen dem Orchester hierbei einen besonderen Stellenwert ein. Doch während Wagner
davon spricht, dass die Tonsprache die Wortsprache benötigt, um die ausgedrückten
Empfindungen und Gefühle den HörerInnen verständlich zu machen, betont Strauss
lediglich die Überlegenheit der Musik gegenüber dem gesprochenen und geschriebenen
Wort.546 Die Ähnlichkeiten der Ansichten Wagners und Strauss‘ im Bezug auf Musik
und deren Ausdruck von Empfindungen ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass
Strauss Wagners Oper und Drama gelesen und es als das „bedeutendste
wissenschaftliche Buch der Weltgeschichte“547 bezeichnet hat. Eine Aussage Strauss‘
bezüglich Wagners ‚Leitmotivtechnik‘ und seiner Rezeption und Adaption dieser ist
jedoch nicht vorhanden. Dennoch wird Strauss‘ Kompositionstechnik häufig mit
Wagners ‚Leitmotivtechnik‘ in Verbindung gebracht. Laut Joachim Veit hat Strauss
„Wagners Technik in seiner Salome (1905) und Elektra (1908) mit letzter Konsequenz
angewendet und zu einem nicht mehr überbietbaren Endpunkt geführt“548. Ernst Krause
versucht hingegen eine Abgrenzung der Kompositionstechniken beider Komponisten
zueinander, wonach „[i]m Gegensatz zum ‚Leitmotiv‘ Wagners […] Strauss eine
Motivtechnik mehr gefühlsmäßiger als konstruktiver Art eingeführt“549 hat.
3.3.2 Musikalische Analyse
Wie anhand der Analyse des Librettos und Theatertextes festgestellt werden konnte,
zeigt Elektra eine überaus starke Bindung zum verstorbenen Vater und widmet ihr
Leben seiner Rache. Im Gegensatz zu Elektra ist bei Chrysothemis keine Beziehung zu
Agamemnon feststellbar. Zwar wird auch sie von der Vergangenheit beeinflusst, jedoch
äußert sich dies bei ihr nicht im Verlangen nach Rache, sondern in ihrem Wunsch nach
einem ‚Weiberschicksal‘. Im Folgenden soll untersucht werden, ob die Feststellungen,
die aufgrund der Textanalyse getroffen wurden, sich in der Musik widerspiegeln, oder
546
Für die Erläuterungen über Wagner siehe Kapitel 2.3.1 Aspekte zur Einführung
Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, S. 95.
548
Joachim Veit, Art. Leitmotiv, Kassel 1996, Sp. 1092.
549
Ernst Krause, Richard Strauss. Gestalt und Werk, Leipzig 1955, S. 136.
547
93
ob die Musikanalyse neue Erkenntnisse bringt. Die Analyse beschränkt sich, abgesehen
von Elektras Monolog, auf Szenen, die zwischen den beiden Schwestern stattfinden.550
Nach der Magdszene beginnt Elektra ihr tägliches Ritual, die komplexe emotionale
Befindlichkeit, in der sie sich hierbei befindet wird musikalisch offengelegt. Zu Elektras
Wehklage: „Allein! Weh, ganz allein. Der Vater fort, hinabgescheucht in seine kalten
Klüfte“551 erklingt einerseits das ‚Hass-Motiv‘552 und andererseits das ‚Qual über Tod
des Vaters-Motiv‘553. Das ‚Hass-Motiv‘ repräsentiert Elektras Wunsch nach Rache
aufgrund der Ermordung ihres Vaters, und steht somit auch mit ihrer Mutter in
Verbindung. Zu erwähnen ist hier, dass das ‚Rache-Motiv’ aus den Tönen des bitonalen
Elektra-Akkords aufgebaut ist, welcher aus einem E-Dur und Des-Dur Dreiklang
besteht. Das ‚Qual über Tod des Vaters-Motiv‘ spiegelt wiederum ihre Trauer über den
Verlust des Vaters wider. Die Intervallfolge der ersten drei Töne (reine Quarte und
kleine Sexte) des ‚Qual über Tod des Vaters-Motivs‘ entspricht dem ‚AgamemnonMotiv‘, die anschließenden Halbtonschritte abwärts weichen vom ‚Agamemnon-Motiv‘
ab. Durch die musikalische Reduzierung auf die Wiedergabe dieser beiden Motive
treten diese, neben Elektras Gesang, deutlich hervor. Vortragsbezeichnungen wie ff, f,
sfz und espressivo verstärken die akustische Dominanz der Motive noch zusätzlich.
550
Da viele Motive in anderen Szenen, als den hier analysierten, eingeführt werden, ist es für die
Erstellung eines Motivkataloges und die Durchführung einer musikalischen Analyse notwendig, Analysen
anderer MusikwissenschaftlerInnen heranzuziehen (vgl. Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der
drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, Tutzing 1996, Paul Bekker, Elektra: A
Study by Paul Bekker, Princeton (New Jersey) 1992, Heinz Josef Herbort, Ein Gemenge aus Nacht und
Licht – Form zwischen Gesetzt und Intuition in der Elektra bei Hofmannsthal und Strauss, Frankfurt a.M.
2000, Gerd Indorf, Die »Elektra«-Vertonung von Richard Strauss - »ein profundes Mißverständnis« oder
kongeniale Leistung?, 2000, William Mann, Die Opern von Richard Strauss, München 1969, Günther
von Noé, Das Leitmotiv bei Richard Strauss dargestellt am Beispiel der „Elektra“, 1971, Kurt Overhoff,
Die Elektra-Partitur von Richard Strauss. Ein Lehrbuch für die Technik der dramatischen Komposition,
Salzburg 1978 und Richard Specht, Richard Strauss und sein Werk. Zweiter Band: Der Vokalkomponist.
Der Dramatiker, Leipzig 1921). Aufgrund des teilweise enormen Unterschiedes bezüglich der Anzahl der
aufgelisteten Motive, werden lediglich Motive verwendet, welche bei mindestens drei Analysen
beziehungsweise AutorInnen vorzufinden sind.
551
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Mainz 1987, Ziffer (1)35. Die Zahl in Klammer gibt den
Takt vor beziehungsweise nach der Ziffer an, in welchem das Motiv / die Textpassage beginnt. Steht die
Zahl in Klammer vor der Ziffer, ist der jeweilige Takt vor der Ziffer gemeint, steht die Zahl in Klammer
nach der Ziffer, ist der jeweilige Takt nach der Ziffer gemeint.
552
Das Motiv erklingt hier insgesamt dreimal, zweimal hintereinander in den Violinen (Richard Strauss,
Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (3)35) und einmal in Englisch-Horn, Heckelphon, Violinen, Violoncello
(Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 35(5)).
553
Das Motiv erklingt hier insgesamt viermal: In Kontrafagott, Violoncello und Kontrabass (Richard
Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 35(3)), in Bassklarinette und Bratschen (Richard Strauss,
Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (2)36), wie beim ersten Mal in Kontrafagott, Violoncello und
Kontrabass (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 36(1)) und in großen Flöten und Oboen
(Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 36(3)).
94
Elektra Notenbeispiel 1: ‚Hass-Motiv‘554
Elektra Notenbeispiel 2: ‚Qual über Tod des Vaters-Motiv‘555
Elektras folgender zweimaliger leiser Ausruf des Namens ihres Vaters enthält im
Vokalpart das ‚Agamemnon-Motiv‘556. Durch den vokalen Vortrag des Motivs wird
erkennbar, dass sich das Motiv in seiner melodischen Gestalt am Sprachduktus
orientiert. Der Eindruck wird zudem dadurch verstärkt, dass der Sprung abwärts am
Ende, im Gegensatz zum Notenbeispiel, von einer kleinen Dezime auf eine kleine Terz
reduziert wurde. In den Blechbläsern erklingt darüber dreimal das ‚KöniglicheMotiv‘557, wodurch ihre königliche Herkunft und die Position ihres Vaters verdeutlicht
werden. Der fanfarenartige Klangcharakter des Motivs bringt dessen Zuschreibung des
Königlichen zum Ausdruck. Die Verwendung von Blechbläsern verstärkt den Eindruck
zusätzlich.
Elektra Notenbeispiel 3: ‚Agamemnon-Motiv‘558
Elektra Notenbeispiel 4: ‚Königliches-Motiv‘559
554
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 1(5) (Oboen, Violinen). Das Motiv erklingt erstmals
zu Beginn der Magdszene nach der Anmerkung ‚Elektra springt zurück wie ein Tier in seinen
Schlupfwinkel, den einen Arm vor dem Gesicht‘. Erst später wird das Motiv mit Elektras Hass in
Beziehung gesetzt. Die abgebildeten Notenbeispiele zeigen das Motiv in seiner jeweilig ersten
Darstellung in Elektra. In den analysierten Passagen können auch Variationen von diesem vorkommen.
555
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 3(3) (große Flöten, Englisch-Horn). Das Motiv
erklingt erstmals in der Magdszene, als die Mägde Elektras Trauer und Qual über den Tod Agamemnons
und ihr tägliches Ritual ansprechen.
556
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (5)37.
557
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (6)37 (Hörner, Posaunen).
558
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (10)1 (über fast gesamtes Orchester verteilt). Das
Motiv erklingt erstmals zu Beginn der Oper, noch während der Vorhang geöffnet wird. Erst in Elektras
Monolog wird, durch das gleichzeitige Rufen von Agamemnons Namen, die Bedeutung des Motivs klar.
95
In Elektras Aussage „Wo bist du, Vater? Hast du nicht die Kraft, dein Angesicht zu mir
zu schleppen?“560 wird erkennbar, dass sie den Verlust ihres Vaters nie verkraftet hat.
Das mehrmals hintereinander erklingende ‚Qual über Tod des Vaters-Motiv‘561 in
Englisch-Horn, Violinen und Bratschen bestärkt diese Vermutung. Als Elektra die
Mordnacht zu schildern beginnt, werden die Täter im Text nicht namentlich genannt,
jedoch erklingen in der Musik das ‚Klytämnestra‘562 und das ‚Ägisth-Motiv‘563. Durch
die musikalische Reduzierung auf die beiden Motive und den Vokalpart, treten diese
trotz des vorgeschriebenen p deutlich hervor. Als das ‚Klytämnestra-Motiv‘ noch ein
zweites Mal erklingt, wird es vom ‚Hass-Motiv‘ begleitet.564 Beide Motive werden im f
vorgetragen, zusätzlich erklingt lediglich die Gesangsstimme, wodurch die Motive noch
präsenter werden. Durch die Kombination beider Motive werden diese unmittelbar
aufeinander bezogen, wodurch Elektras Hass auf ihre Mutter auch musikalisch
untermauert wird.
Elektra Notenbeispiel 5: ‚Klytämnestra‘565
Elektra Notenbeispiel 6: ‚Ägisth-Motiv‘566
Ihre Racheschilderung beginnt Elektra mit der Heraufbeschwörung Agamemnons, wozu
sich in den Blechbläsern ein Motiv etabliert, welches Agamemnons Geist
beziehungsweise seinen Schatten repräsentiert.567 Trotz der Tonwiederholungen wird,
559
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 17(1) (Oboen, Heckelphon, Horn). Das Motiv wird
in der Magdszene eingeführt, als die fünfte Magd davon spricht, dass sie Elektras Füße küssen will und
diese ein Königskind ist.
560
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)37.
561
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)37.
562
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 39(2) (Fagotte).
563
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 39(4) (Basstuba).
564
Das ‚Klytämnestra-Motiv‘ wird in den Fagotten vorgetragen, das ‚Hass-Motiv‘ in den Oboen und
Violinen (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (3)40).
565
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 39(2) (Fagotte). Das Motiv wird hier eingeführt,
eine exaktere Zuschreibung erhält es erst in der Szene zwischen Elektra und Klytämnestra, worauf hier
jedoch nicht eingegangen wird.
566
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 39(4) (Basstuba). Das Motiv erklingt hier zum
ersten Mal.
567
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 42(5).
96
durch die schnellen Sechzehntel und die Oktavsprünge, ein statischer Eindruck
vermieden. Das ‚Schatten-Motiv‘ erklingt während Elektras Schilderung der Rache
immer wieder in unterschiedlicher Instrumentierung. Hierbei erreicht es, durch große
Instrumentierung und hohe Lautstärke (von f zu ff steigernd), zweimal einen Höhepunkt
an Intensität.568 Zwischen diesen Höhepunkten befindet sich lediglich Elektras Ausruf
des Namen Agamemnons, wodurch der erste Höhepunkt unterbrochen wird.
Elektra Notenbeispiel 7: ‚Schatten-Motiv‘569
Während zu Elektras Aussage „Agamemnon! Vater! Ich will dich sehn, laß mich heute
nicht allein! Nur so wie gestern, wie ein Schatten im Mauerwinkel zeig dich deinem
Kind!“570 eine Vielzahl der bereits eingeführten Motive erklingen,571 wird im Anschluss
daran ein neues Motiv etabliert.572 Es handelt sich dabei um das ‚Liebe zum Vater /
Geschwisterliebe-Motiv‘ welches Elektra hingebungsvolle Liebe zum Vater darstellt.
Dieses Motiv ist im Bezug auf Agamemnon das erste, welches sich über mehrere Takte
zieht und somit eine Melodie entwickeln kann. Durch die Spielanweisungen langsam,
pp und espressivo, die Legatobögen und den Klang der Streicher erhält die Melodie
einen lieblichen Charakter. Der musikalische Ausdruck über Elektras Liebe zu ihrem
Vater wird vom ‚Schatten-Motiv‘573 beendet. Auch wenn das ‚Schatten-Motiv‘ im p
vorgetragen wird, ist der Wechsel, durch die unterschiedlichen Charaktere der Motive,
prägnant.
568
Vgl. Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 44(1) und Ziffer 44(5).
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 42(5) (Fagotte, Posaunen). Das Motiv erklingt hier
zum ersten Mal und repräsentiert den Schatten beziehungsweise den Geist Agamemnons, welchen Elektra
in ihrem Ritual heraufzubeschwören versucht.
570
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 44(3).
571
Es erklingt beispielsweise im Vokalpart das ‚Agamemnon-Motiv‘, in Holz-, Blechbläsern und
Streichern das ‚Schatten-Motiv‘ und in Oboen, Englisch-Horn, Fagotte, Violinen und Bratschen das ‚Qual
über Tod des Vaters-Motiv‘.
572
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (6)46 (Hörner, Streicher). Das Motiv hält sich, teils
verkürzt und variiert bis Ziffer 48(2) fast durchgehend.
573
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 46(1) (Trompete, Basstrompete).
569
97
Elektra Notenbeispiel 8: ‚Liebe zum Vater / Geschwisterliebe-Motiv‘574
Während Elektras anschließender Darstellung der Rache kommt es nicht nur zu einem
häufigen Taktwechsel zwischen 6/4, 2/2 und 9/4 Takt, sondern auch zu einer immer
bewegteren Spielweise.575 Elektra beendet ihre Rachedarstellung mit der Schilderung
des Tanzes, welchen sie im Anschluss an die Tat tanzen wird, was mit einem Wechsel
in den 6/4 Takt einhergeht.576 Der Tanz wird nicht nur textlich, sondern auch
musikalisch vorweggenommen – durch das schwungvolle ‚Tanz-Motiv‘577 aus Elektras
späterem Triumphtanz.
Elektra Notenbeispiel 9: ‚Tanz-Motiv‘578
Immer wieder erklingt das ‚Liebe zum Vater / Geschwisterliebe-Motiv‘579, mit welchem
Elektras Monolog – in Kombination mit dem ‚Agamemnon-Motiv‘ zu Elektras
574
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (6)46 (Hörner, Violinen, Violoncelli). Das Motiv
repräsentiert hier, in seiner ersten Erscheinung, Elektras Liebe zu ihrem Vater. Später steht es aber auch
für die Liebe der Geschwister zueinander, weshalb es als ‚Liebe zum Vater / Geschwisterliebe-Motiv‘
bezeichnet wird. Auf diese Bedeutungsänderung weist auch Bayerlein hin (vgl. Sonja Bayerlein,
Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 138f).
Nach William Mann spiegelt das Motiv Elektras Wunsch „nach Wiedervereinigung der Familie“ wider
(William Mann, Die Opern von Richard Strauss, S. 76). Gerd Indorf bezeichnet es als Motiv der
„Sehnsucht nach der heilen Familie“ (Gerd Indorf, Die »Elektra«-Vertonung von Richard Strauss - »ein
profundes Mißverständnis« oder kongeniale Leistung?, S. 196). Betrachtet man den Kontext, in dem das
Motiv eingebettet ist, scheinen die unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen und Bezeichnungen der
genannten AutorInnen jedoch nicht zwangsläufig als Wiederspruch, vielmehr verweisen sie auf dieselbe
Kernaussage: Elektras Sehnsucht nach dem Vater, ihr Wunsch nach der Wiedervereinigung der Kinder
mit ihrem Vater.
575
Vgl. Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 47(1) bis 56(3).
576
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 56(3).
577
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 57(5) (Violinen).
578
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 57(5) (Violinen). Das Motiv wird hier eingeführt
und erklingt erst wieder zu Elektras Triumphtanz.
579
Zum Beispiel erklingt das Motiv in Oboen, Violine und Bratsche (Richard Strauss, Elektra,
Orchesterpartitur, Ziffer 58(5)), oder in großen Flöten, Oboen, Violine und Bratsche (Richard Strauss,
Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 59(2)) und so weiter.
98
zweimaligem Ruf des Namen ihres Vater580 und einer rhythmisch variierten Form des
‚Schatten-Motivs‘581 – auch endet.582
Die Musikanalyse von Elektras Monolog hat gezeigt, dass sich Elektras starke
Beziehung zu ihrem toten Vater nicht nur in ihrem Handeln und ihren Äußerungen
widerspiegelt, sondern auch in der Musik. So lässt sich bei jedem verwendeten Motiv
im Monolog eine Verbindung zu Agamemnon herstellen. Dies geschieht entweder
indem ein Motiv Agamemnon direkt zugeordnet wird, oder indem eine bestimmte
Kombination aus Text und Musik einen Bezug zu Agamemnon herstellt.
Elektras Monolog wird von Chrysothemis‘ leisem Ruf (‚Anruf-Motiv‘)583 unterbrochen,
worauf Elektra „wie aus einem Traum erwachend“584 erscheint. Wie das ‚AgamemnonMotiv‘ folgt auch das ‚Anruf-Motiv‘ dem Sprachduktus, was durch den vokalen
Gebrauch deutlich wird.
Elektra Notenbeispiel 10: ‚Anruf-Motiv‘585
Nach Elektras Aussage „Was willst du? Rede, sprich, ergieße dich, dann geh und laß
mich!“586 wird zu Chrysothemis Geste, des abwehrenden Hochhaltens der Hände das
‚Abwehrendes Heben der Hände-Motiv‘ eingeführt.587 Mit seinem bogenförmigen
Melodieverlauf stellt das Motiv eine musikalische Nachahmung der Bewegung des
Handhebens dar. Das Motiv erklingt zwar im p, wird aber durch die Spielanweisung
espressivo hervorgehoben. Dies wird zusätzlich durch die musikalische Reduktion auf
Fagotte und Hörner, welche im p Haltetöne spielen, unterstützt.
580
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (3)62 (Vokalpart).
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)62 (Violoncelli, Kontrabass).
582
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 62 (Holzbläser, Streicher).
583
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 64(2).
584
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (3)65.
585
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 64(2) (Klarinette, Fagotte, Vokalpart). Das Motiv
erklingt hier zu Chrysothemis‘ Ruf von Elektras Namen zum ersten Mal.
586
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 65(5).
587
Vgl. Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 66(1).
581
99
Elektra Notenbeispiel 11: ‚Abwehrendes Heben der Hände-Motiv‘588
Sofort greift Elektra dieses Motiv auf589, als sie davon spricht, dass Agamemnon die
Hände so hob, als er ermordet wurde. Außerdem wird Elektras Aussage zusätzlich mit
einem
Fragment
‚Agamemnon-Motivs‘590
des
und
dem
‚Mordbeil-Motiv‘591
angereichert, wodurch auch musikalisch der Bezug zu Agamemnons Ermordung
hergestellt wird. Wie das ‚Abwehrendes Heben der Hände-Motiv‘ stellt auch das
‚Mordbeil-Motiv‘ eine musikalische Nachahmung einer Bewegung dar. Hierbei handelt
es sich um das herabfallende Beil, welches durch die großen Abwärtssprünge dargestellt
wird. Eine anschließende rhythmische Variation des ‚Schatten-Motivs‘ zeigt die Folgen
des herabfallenden Beils. Es erklingt dieses Mal im Vokalpart zu Elektras Worten
„spaltete sein Fleisch“592.
Elektra Notenbeispiel 12: ‚Mordbeil-Motiv‘593
Die restliche Szene ist nicht nur textlich, sondern auch musikalisch ein Spiegeln von
Chrysothemis‘ Ängsten und Wünschen. Zu ihren Worten „Ich hab’s wie Feuer in der
Brust“594 etabliert sich nicht nur vokal, sondern auch instrumental jenes Motiv, welches
Chrysothemis‘ Gefühl des Getriebenseins und Nichtfähigseins, ihr Leben zu leben
charakterisiert. Das Motiv wird zunächst im f eingeführt, decrescendiert aber in weiterer
Folge über mehrere Takte hinweg. In der Melodie kommt es, nach einem anfänglichen
größeren Sprung nach oben (reine Quinte), zu einer steten Abwärtsbewegung in
588
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 66(1) (große Flöten, Violinen). Das Motiv wird hier
zum ersten Mal verwendet und zeigt Chrysothemis‘ Angst und Hilflosigkeit. In weiterer Folge wird das
Motiv auch verwendet, um flehentliches Bitten auszudrücken.
589
Vgl. Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (2)67 (Englisch-Horn, Klarinetten,
Bassetthörnern und Bratschen).
590
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)67 (Fagotten und Hörnern).
591
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 67(1) (Violinen und Bratschen).
592
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 67(3).
593
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 1(1) (Streicher). Das Motiv wird in der Magdszene
eingeführt, als in der Anmerkung beschrieben wird, wie Elektra wie ein Tier zurückspringt.
594
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)75.
100
Sekundschritten. Erst gegen Ende steigt der Melodieverlauf wieder geringfügig. Durch
den Legatobogen, der das ganze Motiv umspannt, erhält die Melodie einen fließenden
Charakter.
Elektra Notenbeispiel 13: ‚Getriebensein-Motiv‘595
Das Motiv durchzieht die gesamte Passage, in der Chrysothemis ihre Unruhe
schildert596, bis eine variierte Form des ‚Qual über Tod des Vaters-Motiv‘597 schließlich
den Grund dafür preis gibt – es ist Elektras Trauer über den toten Vater, welche sie am
Vergessen hindert. Chrysothemis erzählt von ihrem Gefühl der Angst, welches sie Tag
und Nacht verspürt und quält.598 Und wieder wird der Grund für ihre Angst durch das
rhythmisch variierte und verlängerte ‚Qual über Tod des Vaters-Motiv‘ benannt.599
Abgesehen vom Vokalpart und dem Motiv in den Bratschen erhält die Musik an dieser
Stelle, durch die gehaltenen Töne in den Holzbläsern, einen fast statischen Eindruck.
Nach Chrysothemis‘ Vorwurf an Elektra, dass diese an ihrer Situation schuld
sei600 und Chrysothemis‘ abermaligem Ausdruck darüber, endlich von hier fort zu
wollen601, wird ihr innigster Wunsch thematisiert – „äußerst lebhaft und feurig“602
beginnt Chrysothemis die Worte: „Kinder will ich haben, bevor mein Leib verwelkt
[…]“603, dazu erklingt erstmals das ‚Kinderwunsch-Motiv‘ Chrysothemis‘ in Hörnern
und Streichern. Anders als Chrysothemis‘ ‚Getriebensein-Motiv‘ verläuft ihr
‚Kinderwunsch-Motiv‘ nicht in einer Abwärtsbewegung, sondern in auf- und
absteigenden Bögen. Durch die bogenförmigen Melodieverläufe und den starken
Dynamikwechsel erhält das Motiv einen lebhaften Charakter. Die Legatobögen
verleihen dem Motiv zudem eine fließende Klanggestalt.
595
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)75 (Vokalpart, Violinen). Das Motiv erklingt hier
zum ersten Mal.
596
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)75 bis 77(2) (wechselt zwischen fast allen
Instrumenten, zu Beginn auch vokal).
597
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)79 (Posaunen, Violoncelli, Kontrabass).
598
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 79(2).
599
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (8)80 (Bratschen).
600
Vgl. Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 81(1)-(1)85.
601
Vgl. Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)85-86(3). Die Passage wird musikalisch
vom ‚Getriebensein-Motiv‘ in Oboen, Klarinette, Violinen und Bratschen unterlegt.
602
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 86(4).
603
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 86(4).
101
Elektra Notenbeispiel 14: ‚Kinderwunsch-Motiv‘604
Ihre Worte „Hab Mitleid mit dir selber und mit mir! Wem frommt denn solche
Qual?“605, bringen sie von ihrem Wunsch nach einem ‚Weiberschicksal‘ wieder zur
gegenwärtigen Situation zurück. Welche Qual hierbei gemeint ist, beantwortet das
‚Qual über Tod des Vaters-Motiv‘.606 Wieder ist es Elektras Trauer um den toten Vater,
welche Chrysothemis an der Auslebung ihrer Wünsche hindert. Mit dem Ausruf: „Der
Vater, der ist tot“607 und dem ‚Schatten-Motiv‘ in der Basstrompete wird die
Unwiderruflichkeit der Ermordung Agamemnons betont. Chrysothemis‘ Schilderung
des Stillstands ihres Lebens spiegelt sich in einem musikalischen Stillstand, durch über
mehrere Takte gehaltene leise Töne in Bläsern und Streichern, wider.608 Als sie in eine
Darstellung der gebärenden Mägde über geht, welche ihre Kinder aufziehen, wird auch
die Musik wieder lebhafter und lauter.609 Ihr Eingehen auf die Mägde und deren Kinder
wird über einen längeren Zeitraum vom ‚Kinderwunsch-Motiv‘610 begleitet.
Chrysothemis‘ Worte „Nein, ich bin ein Weib und will ein Weiberschicksal“611
beenden ihre lebhafte Schilderung. Das gleichzeitig erklingende ‚Abwehrendes Heben
der Hände-Motiv‘612 bringt jedoch wieder ihre Hilflosigkeit diesbezüglich zum
Vorschein. Es handelt sich hier um eine verlängerte Variante des ‚Abwehrendes Heben
der Hände-Motivs‘, indem der erste Takt des Motivs mehrmals wiederholt wird, bevor
das gesamte Motiv vorgetragen wird. Dynamisch wird das Motiv vom p bis zum f
604
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 86(4) (Hörner, Streicher). Das Motiv wird hier
eingeführt.
605
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)91.
606
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)92 (große Flöten, Bratschen).
607
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)93.
608
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 94(1)-(2)100.
609
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)100-107(1).
610
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 104(1) (erstreckt sich fast über den gesamten
Orchesterapparat).
611
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)108.
612
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 108(1) (Heckelphon, Bratschen, Violoncelli). In den
Hörnern erklingt das Motiv in seiner ursprünglichen Form.
102
gesteigert. Nach ihrer Aussage „Viel lieber tot, als leben und nicht leben“613 erklingt das
Motiv erneut, jedoch wieder in seiner ursprünglichen Form.614 Gleichzeitig bricht
Chrysothemis in heftiges Weinen aus. Elektras Unverständnis für den Wunsch ihrer
Schwester bringt sie durch das ‚Hass-Motiv‘ in den Violinen zu „Was heulst Du?“615
zum Ausdruck. Das Motiv wird im ff vorgetragen und tritt, durch die Reduzierung der
Instrumentierung auf die Haltetöne in den Trompeten und Posaunen, noch stärker
hervor. Zu „Stellen sie vielleicht für dich die Hochzeit an?“616 erklingt Chrysothemis‘
‚Kinderwunsch-Motiv‘ in tiefer Lage, was Elektras Ablehnung von Chrysothemis‘
Wunsch nach einem ‚Weiberschicksal‘ verdeutlicht. Auf eine Darstellung der restlichen
Szene wird verzichtet, da dies von der Fragestellung abweichen würde.
Während in Elektras Monolog ihre Beziehung zu Agamemnon musikalisch
untermauert wurde, konzentriert sich die Szene zwischen den Schwestern auf
Chrysothemis.
Die
Musik
spiegelt
Chrysothemis‘
Wunsch
nach
einem
‚Weiberschicksal‘ und ihr Ängste, von denen sie geplagt wird, wider. Auch auf der
musikalischen Ebene wird deutlich, dass sie keine emotionale Bindung zum Vater hat,
dessen Ermordung und die daraus resultierende Situation jedoch auch ihr Leben
maßgeblich beeinflussen.
Das nächste Mal treffen die beiden Schwestern aufeinander, als Chrysothemis Elektra
die Nachricht von Orests Tod verkündet. Der erste Teil der Konversation wird, da er für
die Fragestellung nicht relevant erscheint, nicht thematisiert. Es wird lediglich der
Zeitpunkt ab Elektras Entschluss zur Tat aufgegriffen, um zu überprüfen, inwiefern sich
Elektras Werben um Chrysothemis auch musikalisch zeigt.
Noch bevor Elektra ihren Entschluss zur Vollbringung der Tat ausspricht, wird
dies durch das ‚Entschluss zur Tat-Motiv‘ verkündet. Das Motiv besteht aus zwei, in
entgegengesetzte Richtungen verlaufende Melodielinien: Eine führt in Achtelnoten in
Halbtonschritten nach unten, die andere führt überwiegend in Terzschritten nach oben,
fällt einmal nach unten ab und verwendet keine konstanten Notenwerte. Das Motiv
613
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 111(1).
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 112(5) (große Flöten, Klarinetten, Bassetthorn,
Violinen, Bratsche).
615
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 114(1).
616
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)116 (Heckelphon, Kontrafagott, Kontrabasstuba,
Solobass und Kontrabass).
614
103
erstreckt sich über 19 Takte617 in den Streichern und wird lediglich zweimal vom
‚Anruf-Motiv‘618 Chrysothemis‘ unterbrochen. Die Kombination von ‚Entschluss zur
Tat-Motiv‘ auf Seiten Elektras und dem ‚Anruf-Motiv‘ auf Seiten Chrysothemis‘ bleibt
über einen längeren Zeitraum erhalten.619
Elektra Notenbeispiel 15: ‚Entschluss zur Tat-Motiv‘620
Erst nachdem Elektra Chrysothemis sagt, dass sie ihre Hilfe braucht, da Ägisth und
Klytämnestra in einem Zimmer schlafen, beginnt Elektra um Chrysothemis zu werben.
Während nach Elektras Aussage „Denn du bist stark!“621 das ‚Entschluss zur TatMotiv‘622 sehr prägnant in f und ff erklingt, und noch einmal ihre wahren Absichten
zeigt, etabliert sich wenig später ein neues Motiv. Bereits bevor Elektra ihre Ansprache
beginnt, um Chrysothemis‘ Kraft und schönen Körper zu preisen, erklingt zweimal
hintereinander das ‚Chrysothemis‘ Kraft-Motiv‘623, welches Elektras schmeichelnde
Worte bekräftigt. Das Motiv setzt zweimal zu einem aufwärtsführenden Bogen an und
erreicht hier im ersten Bogen einen Tonumfang von zwei Oktaven. Der Tonumfang des
zweiten Bogens ist noch um eine reine Quarte größer. Durch die Legatobögen und den
großen Tonumfang der Melodiebögen erhält das Motiv eine ausdrucksstarke Wirkung.
Elektra Notenbeispiel 16: ‚Chrysothemis‘ Kraft-Motiv‘624
617
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)34a-(1)36a.
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (2)35a (Vokalpart) und Ziffer 35a(5) (Vokalpart,
Oboe, Englisch-Horn).
619
Vgl. Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 36a(1)-44a(4). Zwar werden hierbei auch
andere Motive verwendet, jedoch sind diese für die Fragestellung nicht relevant, weshalb darauf nicht
eingegangen wird.
620
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)34a (Streicher). Das Motiv erklingt hier zum
ersten Mal.
621
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (3)51a.
622
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 51a(1) (das Motiv durchzieht fast den gesamten
Orchesterapparat).
623
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)52a (Klarinetten, Violinen, Bratsche) und Ziffer
54a(1) (Violinen).
624
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)52a (Klarinetten, Violinen, Bratsche). Das Motiv
erklingt hier zum ersten Mal.
618
104
Erst nach Elektras Aussage „Du bist voller Kraft, du bist wie eine Frucht an der Reife
Tag“625 kommt es, motivtechnisch betrachtet, zu einem erneuten Eingehen Elektras auf
Chrysothemis. Elektra weiß um Chrysothemis‘ Wunsch nach einem ‚Weiberschicksal‘,
was sich musikalisch in der Verwendung von Chrysothemis‘ ‚Kinderwunsch-Motiv‘626
widerspiegelt, jedoch erklingt zuvor noch das ‚Chrysothemis‘ Kraft-Motiv‘627. Obwohl
das ‚Chrysothemis‘ Kraft-Motiv‘ im Vergleich zum ‚Kinderwunsch-Motiv‘ (f) sehr viel
leiser beginnt (p), treten beide Motive deutlich hervor. Dies gelingt aufgrund der, über
mehrere Takt gehaltenen Töne in den restlichen Instrumenten. Chrysothemis‘ Abwehr
„Laß mich!“628 erfolgt noch während ihres ‚Kinderwunsch-Motivs‘, was Elektras
fehlgeschlagenen Versuch, Chrysothemis durch Preisung ihres Körpers und ihrer Kraft
zur Mithilfe zu überreden, zeigt. Das ‚Entschluss zur Tat-Motiv‘ zu Elektras Worten
„Nein, ich halte dich“629 bringt die Absicht hinter Elektras Handeln wieder zum
Vorschein. Es wird hier jedoch lediglich die obere Melodielinie des Motivs verwendet.
Die Motivkombination von ‚Entschluss zur Tat-Motiv‘630 und ‚Wunsch nach RacheMotiv‘631 zu Elektras Aussage „[…] mit meinem Willen dir impfen das Blut“632 bringt
noch einmal deutlicher heraus, was Elektra bezweckt. Jetzt fällt Chrysothemis‘ „Laß
mich!“633 in das ‚Wunsch nach Rache-Motiv‘ hinein, was ihre Ablehnung der Mithilfe
ausdrückt.
Elektra Notenbeispiel 17: ‚Wunsch nach Rache-Motiv‘634
Dasselbe Szenario erfolgt zu Elektras „Nein, ich laß dich nicht“635 und Chrysothemis‘
darauf folgendem „Elektra, hör mich!“636, was auch wieder mit dem ‚Wunsch nach
Rache-Motiv‘637 unterlegt wird.
625
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 66a(1).
Das Motiv erklingt zuerst in den Hörnern und Streichern, nach drei Takten stimmen auch die
Klarinetten ein (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 68a(1)).
627
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)68 (Klarinetten, Bassetthorn, Hörner, Streicher).
628
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 69a(3).
629
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (3)70a (Basstrompete, Posaune).
630
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)75a (Hörner, Bratschen).
631
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)75a (Bassklarinette, Fagotten, Kontrafagott,
Violoncelli, Kontrabass)
632
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 74a(4).
633
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 75a(2).
634
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)75a (Bassklarinette, Fagotte, Kontrafagott,
Violonelli, Kontrabass). Das Motiv erklingt hier zum ersten Mal.
626
105
Trotz Chrysothemis‘ abwehrendem Verhalten gibt Elektra nicht auf und versucht es
erneut, indem sie Chrysothemis verspricht, ihr eine Schwester zu sein und sie bei der
Erfüllung ihres ‚Weiberschicksals‘ zu unterstützen. Elektras Ausführungen werden
musikalisch vom ‚Liebe zum Vater / Geschwisterliebe-Motiv‘ begleitet. Die
zweideutige Verwendung des Motivs kann hier durchaus zum Tragen kommen, da
Elektra Chrysothemis zwar von ihrer Liebe zu ihr überzeugen will, Elektras Liebe zum
Vater jedoch entscheidend mitspielt. Die Spielanweisung „alle Streicher sehr seelenvoll,
mit sehr viel vibrato“638 verleiht der Passage einen lieblichen Klang.639 Wieder erstreckt
sich das Motiv auch über Chrysothemis‘ Abwehr „Nicht, Schwester, nicht. Sprich nicht
ein solches Wort in diesem Haus“640. Doch auch jetzt reagiert Elektra nicht auf
Chrysothemis’ Widerstand und bietet ihr sogar an, ihr wie eine Sklavin zu dienen, was
durch das ‚Dienen-Motiv‘641 ausgedrückt wird, woran wieder das ‚Liebe zum Vater /
Geschwisterliebe-Motiv‘642
anknüpft.
Das
‚Dienen-Motiv‘
besteht
aus
zwei
abwärtsführenden Linien, die jeweils von einem Legatobogen umspannt werden. Die
erste Linie ist größtenteils aus Halbtonschritten und punktierten Viertel- und
Achtelnoten aufgebaut. Die zweite Melodielinie gestalte sich hingegen unregelmäßiger.
Elektra greift sogar auf das, von Chrysothemis verwendete, ‚Abwehrendes Heben der
Hände-Motiv‘643 zurück, um ihre Schwester auf ihre Seite zu bringen.
Elektra Notenbeispiel 18: ‚Dienen-Motiv‘644
Nach Chrysothemis‘ Bitte „O bring mich fort! Ich sterb‘ in diesem Haus!“ 645 beginnt
Elektra, sie mit einer Todesgöttin zu vergleichen, was sich auch in den verwendeten
635
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (2)76a.
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 76a(2).
637
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 75a(4) (zunächst Oboen, Fagotten, Horn,
Violoncelli, dann wiederholt von Bassklarinette, Fagotten, Kontrafagott, Horn, Violoncelli, Kontrabass).
638
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 82a(2).
639
Die Passage erstreckt sich über einen längeren Zeitraum, das Motiv wird hierbei mehrmals und
abwechselnd in unterschiedlichen Instrumenten wiederholt (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur,
Ziffer 82a(1)-(2)89a).
640
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 88a(3).
641
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 89a(1) (Violinen).
642
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 90a(5) (große Flöten, Violinen).
643
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 96a(1) (Klarinetten).
644
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)16 (Violinen). Das Motiv wird bereits in der
Magdszene eingeführt, als eine Magd schildert, wie Elektra von Klytämnestra und Ägisth behandelt wird.
Als die fünfte Magd daraufhin sagt, dass sie sich vor Elektra niederwerfen und ihr die Füße küssen will,
erklingt das Motiv erneut und wird so mit der Geste des Dienens in Verbindung gebracht.
636
106
Motiven abzeichnet. Auf das Wort ‚zürnen‘ von „Dein Mund ist schön, wenn er sich
einmal auftut, um zu zürnen!“646, erklingt sowohl das ‚Schatten-Motiv‘ in den
Posaunen, als auch die obere Melodielinie des ‚Entschluss zur Tat-Motivs‘ in den
Trompeten.647 Die musikalischen Motive verdeutlichen, was hinter Elektras Worten
steckt. Zu Elektra Worten: „Aus deinem reinen, starken Mund muß furchtbar ein Schrei
hervor sprühn furchtbar wie der Schrei einer Todesgöttin“648, verweist das zweimal
erklingende ‚Hass-Motiv‘649 darauf, welche Art von Schrei gemeint ist. Elektra fährt
weiter fort: „Denn eh‘ du diesem Haus und mir entkommst, mußt du es tun.“650 Auch
hier verdeutlicht erst die Musik, was Elektra meint, denn das rhythmisch gedehnte
‚Orest als Rächer-Motiv‘651 zeigt auf, dass Chrysothemis Orests Aufgabe übernehmen
muss, um frei zu sein und ihr Leben leben zu können. Mit den wiederholenden
Sechzehntelnoten erinnert das Motiv entfernt an das ‚Schatten-Motiv‘.
Elektra Notenbeispiel 19: ‚Orest als Rächer-Motiv‘652
Gegen Ende der Szene erklingt zu Chrysothemis‘ zweimaliger Verteidigung „Ich kann
nicht!“653 das ‚Hass-Motiv‘654. Beim zweiten Erklingen erfährt das Motiv, durch
größere Instrumentierung und der Steigerung vom p zum f, eine Intensivierung.
Während Elektras letztem Versuch die Schwester zu überreden, „Sieh ich lieg vor dir
und küsse deine Füße“655, erklingt zweimal, das ‚Qual über Tod des Vaters-Motiv‘656
und führt noch einmal den Tod des Vater als Grund für ihr Verhalten an. Nachdem
Chrysothemis verschwunden ist, erklingt zwischen Elektras Verfluchung Chrysothemis‘
und dem Entschluss die Tat alleine zu vollbringen in fast allen Blechbläsern im ff das
645
Dazu erklingt das ‚Abwehrendes Heben der Hände-Motiv‘ in Klarinetten, Bassetthörnern und
Bassklarinette (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 97a(4)).
646
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (8)98a.
647
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (2)98a.
648
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 98a(1).
649
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)99a (Oboen, Violinen, Bratschen).
650
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 101a(1).
651
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 101a(1) (Trompeten, Basstrompete).
652
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 216(4) (Fagotte). Das Motiv wird eingeführt als
Elektra Klytämnestra nach ihrem Bruder fragt, kurz bevor Elektra ihrer Mutter deren Tod schildert.
653
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 107a(2) und Ziffer 108a(1).
654
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 107a(2) (Fagotte, Kontrafagott, Violoncelli,
Kontrabass) und Ziffer 108a(1) (Oboen, Fagotte, Streicher).
655
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 107a(4).
656
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (3)108a (Klarinetten, Bassetthörner, Bassklarinette).
107
‚Königliche-Motiv‘.657 Musikalisch zeigt sich, dass sich Elektra nicht mit der Wut auf
ihre Schwester aufhält, sondern sofort wieder der tote Vater ins Zentrum ihrer
Aufmerksamkeit rückt.
Die Musikanalyse macht deutlich, dass Elektra zwar vorgibt, sie würde sich in
die Situation ihrer Schwester hineinversetzen und ihr helfen wollen, ihre tatsächliche
Motivation wird jedoch durch Motive wie ‚Entschluss zur Tat-Motiv‘, ‚Wunsch nach
Rache-Motiv‘ und so weiter preisgegeben: die Besessenheit, Rache für die Ermordung
ihres Vater zu nehmen.
Auch in der Schlussszene nach der vollbrachten Tat ändert sich das musikalische Bild
der beiden Schwestern nicht maßgeblich. Während sich bei Chrysothemis musikalisch
die Freude über die Rückkehr des Bruders und die Liebe zu ihren Geschwistern zeigt,
dominieren bei Elektra auch jetzt jene Motive, welche mit der Figur Agamemnons in
Beziehung stehen.658
3.4 Zwischenfazit
Vergleicht man die Textanalyse mit der Musikanalyse, kann festgestellt werden, dass
gerade dort, wo es darum geht, die Positionen der Schwestern festzulegen, die
verwendeten musikalischen Motive den Text unterstützen und verstärken. So wird
Elektras Monolog vorwiegend mit Motiven unterlegt, welche Elektras Liebe zu
Agamemnon und ihren Hass und gleichzeitige Trauer über dessen Ermordung
ausdrücken. Im ersten Dialog zwischen den Schwestern werden hingegen Motive
verwendet,
welche
Chrysothemis
Ängste
und
ihren
Wunsch
nach
einem
‚Weiberschicksal‘ widerspiegeln. An einigen Stellen offenbart die Musik jedoch, was
textlich nur angedeutet wird. Während in Elektras Monolog im Text die Namen der
MöderInnen Agamemnons nicht genannt werden, werden diese musikalisch durch das
‚Klytämnestra-Motiv‘ und das ‚Ägisth-Motiv‘ benannt. Als Chrysothemis Elektra ihre
657
Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 109a(1).
Da die Positionen der Schwestern, auch im Hinblick auf deren musikalische Umsetzung, bereits
ausführlich dargestellt wurden, wird an dieser Stelle auf eine detaillierte Analyse der Schlussszene
verzichtet. Für eine eingehendere Analyse der Schlussszene vgl. u.a. Sonja Bayerlein, Musikalische
Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 233-241, 269-273
und Kurt Overhoff, Die Elektra-Partitur von Richard Strauss, S. 182-188.
658
108
Unruhe schildert und den Grund dafür nicht benennen kann oder will, geschieht dies
musikalisch durch das ‚Qual über Tod des Vaters-Motiv‘.Erst beim zweiten
Aufeinandertreffen der Schwestern legt die musikalische Ebene offen, was auf der
Textebene verschwiegen und verschleiert werden soll. Elektra versucht auf
Chrysothemis einzugehen und übernimmt teilweise deren musikalische Motive, um sie
zur Mithilfe zu bewegen, doch gleichzeitig zeigt die Musik immer wieder Elektras
wahre
Beweggründe
auf.
Beispielsweise
übernimmt
Elekra
Chrysothemis‘
‚Kinderwunsch-Motiv‘, als sie ihre Schönheit und Weiblichkeit preist, jedoch bringt das
kurz darauf erklingende ‚Entschluss zur Tat-Motiv‘Elektras Motiv für ihr Handeln zum
Vorschein. An manchen Stellen wird Elektras Vorhaben auch musikalisch
vorweggenommen, dies geschieht beispielsweise, als das ‚Entschluss zur Tat-Motiv‘
erklingt, noch bevor Elektra ihren Entschluss ausspricht. Chryosothemis‘ Ablehnung
der Mithilfe wird wiederum musikalisch untermauert und verstärkt, indem ihre Ausrufe
der Abwehr entweder während dem Erklingen von Motiven erfolgt, die Elektra
verwendet, um Chrysothemis zu umwerben, oder während Motiven, die Elektras
Wunsch nach Rache ausdrücken659. Im Vergleich der Textebene mit der musikalischen
Ebene konnte außerdem gezeigt werden, dass sich Elektra, trotz ihres eingehenden
Versuchs, Chrysothemis zur Mithilfe zu überreden, und ihrer Verfluchung
Chrysothemis‘, nachdem diese weggelaufen ist, nicht mit dem Hass auf oder dem Ärger
über ihre Schwester aufhält. Dies zeigt sich auf musikalischer Ebene durch das
‚Königliche-Motiv‘, was verdeutlicht, dass sich Elektra sofort wieder ihrem Wunsch
nach Rache zuwendet. Es hat sich gezeigt, dass die musikalische Ebene und die
Texteben zwar an einigen Stellen übereinstimmen und sich gegenseitig verstärken,
jedoch wird an anderen Stellen musikalisch etwas vermittelt, was aus dem Text nicht
hervorgeht oder bewusst verschwiegen wird. Für eine umfassende und ganzheitliche
Analyse ist es deshalb notwendig, beide Ebenen heranzuziehen.
659
Beispielsweise erfolgt ein Ausruf der Abwehr während das ‚Kinderwunsch-Motiv‘ erklingt (Richard
Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 69a(3)), und ein weiteres Mal während dem Erklingen vom
‚Wunsch nach Rache-Motiv‘ (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 75a(2)).
109
4
Fazit
Abschließend werden die wesentlichsten Aspekte der Analyseergebnisse beider Werke
verglichen, um zu erörten, inwiefern Übereinstimmungen zwischen den Tochter-VaterBeziehungen und den Verhältnissen zu anderen Figuren zu finden sind und wo diese
voneinander abweichen. Im Bezug auf die Tochter-Vater-Beziehung ergeben sich
bereits erste Unterschiede. In Elektra bleibt die Beziehung der Schwestern zu ihrem
Vater, und auch die Einstellung, die sie bezüglich Agamemnons Ermordung und der
damit verbundenen Rache einnehmen, während der ganzen Zeit konstant. Elektra liebt
ihren Vater, betrauert noch immer dessen Ermordung und will Rache. Chrysothemis
hingegen will mit der Vergangenheit abschließen und ein neues Leben beginnen.
Nachdem die Tat vollbracht ist, freut sich Chrysothemis zwar auch darüber, an ihrer
Beziehung gegenüber Agamemnon ändert dies jedoch nichts. In der Walküre hingegen
ist eine Veränderung bezüglich der Tochter-Vater-Beziehung erkennbar. Zu Beginn sind
alle Walküren Wotan treu ergeben und führen seine Befehle aus, so auch Brünnhilde.
Doch gleichzeitig weist Brünnhilde eine viel stärkere und intimere Beziehung zu ihrem
Vater auf, als alle anderen Walküren. Für sie ist Wotan nicht nur eine Autorität der sie
unterstellt ist, sondern auch ein Vater, dem sie sich verbunden fühlt und für den sie das
Beste will. Während also von allen Walküren lediglich Brünnhilde eine besondere
Tochter-Vater-Beziehung zu Wotan aufweist, ist es am Ende gerade sie, welche sich
von Wotan loslöst. Sie zieht die Liebe zu einem Mann der Liebe zu ihrem Vater vor.
Sowohl in der Walküre als auch in Elektra beeinflussen diese unterschiedlichen
Beziehungen der Töchter zu ihren Vätern die Beziehungen der Schwestern zueinander.
Bezogen auf diesen Aspekt lassen sich auch Paralleln zwischen der Walküre und
Elektra herstellen. Zu Beginn – bevor sich Brünnhilde von Wotan loslöst – weisen die
Beziehungen von Brünnhilde, den anderen Walküren und Elektra zu ihren Vätern
Ähnlichkeiten auf, da alle die Treue ihrem Vater gegenüber ins Zentrum ihres Handelns
stellen. Auch wenn der Aspekt der Liebe zum Vater und der Hintergrund der Treue in
allen Fällen unterschiedlich interpretiert werden muss, so stellt Chrysothemis eine
Gegenposition zu den anderen Töchtern dar, da für sie die Erfüllung ihres
‚Weiberschicksals‘ im Mittelpunkt steht. Zum einen kontrastiert dies mit den
Einstellungen der anderen, da für Chrysothemis der Vater keine wesentliche
Bezugsperson darstellt, zum anderen, weil sie ein ‚Weiberschicksal‘ möchte. Dies
ändert sich, nachdem sich Brünnhilde in Siegfried verliebt hat und gleichzeitig die
110
Bindung zu ihrem Vater aufgibt. Jetzt stehen Elektra und Waltraute (sie steht jetzt
stellvertretend für die Walküren) Chrysothemis beziehungsweise Brünnhilde gegenüber,
und sie können die Positionen der jeweils anderen nicht verstehen. Elektra kann
Chrysothemis‘ Wunsch nach einem ‚Weiberschicksal‘ nicht nachvollziehen, und
Chrysothemis kann ebensowenig Elektras Entscheidung, ihr Leben der Rache zu
widmen, verstehen. In derselben Art und Weise versteht Waltraute jetzt nicht, dass sich
Brünnhilde der Liebe zu einem Mann hingibt und sich deshalb weigert, ihrem Vater zu
helfen. Brünnhilde hingegen ist entsetzt darüber, dass Waltraute von ihr erwartet, den
Ring von Siegfried herauszugeben, um Wotan und die anderen Götter zu retten.
Die Beziehungen der Väter zu den Töchtern gestalten sich innerhalb der Opern
unterschiedlich. Wotan zeigt ausschließlich Brünnhilde gegenüber eine ‚echte‘ TochterVater-Beziehung, zu seinen anderen Töchtern (Sieglinde wird hier nicht berücksichtig)
ist lediglich eine Beziehung zwischen Gott und Walküren auszumachen. Doch obwohl
(oder gerade weil) er nur für Brünnhilde väterliche Gefühle hegt, richtet sich sein Zorn
gegen diese, er verstößt sie und gibt sie einem Mann zur Frau. In diesem
Zusammenhang wurde jedoch bereits erörtert, dass, auch wenn sich Wotan eigentlich
von Brünnhilde abwendet, sich letztlich Brünnhilde von ihrem Vater löst, und nicht
umgekehrt, und, dass Wotan darunter leidet. In Elektra kann die Beziehung von
Agamemnon zu seinen Töchtern lediglich aufgrund des Verhaltens von Elektra und
Chrysothemis analysiert werden. Die ausgeprägte unterschiedliche Haltung gegenüber
der Ermordung Agamemnons und der Rache zu Ehren Agamemnons lassen jedoch
darauf schließen, dass auch hier eine unterschiedliche Beziehung des Vaters zu seinen
Töchtern zugrunde liegt und das Verhalten der Töchter hervorruft.
In beiden Werken konnte festgestellt werden, dass die Tochter-Vater-Beziehung
auch Einfluss auf die Beziehung zu anderen Personen hat. In der Walküre ist hier die
Beziehung von Wotan und Brünnhilde zu Fricka zu nennen. Zwar wird die Beziehung
zwischen Wotan und Fricka nicht ausschließlich von Wotans Beziehung zu Brünnhilde
beeinflusst, die Tatsache, dass Brünnhilde aus Wotans Untreue gegenüber Fricka
entstanden ist, und Brünnhildes Position als Lieblingswalküre Wotans, spielen jedoch
wesentlich mit. Im Hinblick auf die Beziehung zwischen Fricka und Brünnhilde sind die
Gegenpositionen, die beide im Bezug auf Wotans Handeln einnehmen, entscheidend.
Fricka will, dass Wotan nach seinen eigenen Verträgen handelt und setzt ihn unter
Druck, Siegmund zu töten. Für Brünnhilde steht Wotans Wohlbefinden im
111
Vordergrund, weshalb sie will, dass Wotan nach seinem eigenen Willen handelt und
Siegmund beschützt, da er ihn liebt. In Elektra hat Elektras Liebe zum Vater den Hass
auf ihre Mutter fast zwangsläufig zur Folge. Dies führt sogar so weit, dass sie ihre
eigene Mutter getötet sehe möchte. Chrysothemis‘ Beziehung zu ihrer Mutter wird zwar
nicht von ihrer Beziehung zu ihrem Vater beeinflusst, aber von der grausamen
Vergangenheit. Chrysothemis hat Angst vor Klytämnestra und versteckt sich vor ihr,
ihren Tod betrauert jedoch auch sie nicht. Klytämnestra zeigt zu keiner ihrer Töchter ein
mütterliches Verhältnis. Während ihr Hass auf Elektra daher rührt, dass Elektra sie
daran hindert, die Vergangenheit zu vergessen, lässt sich ihre negative Einstellung
gegenüber Chrysothemis auf keine spezifische Tatsache zurückführen. Die Beziehung
zu Orest zeigt sich im Verhältnis zur Tochter-Vater-Beziehung nur darin, dass er für
Elektra die Position als Rächer und nicht die des Bruders einnimmt, aus diesem Grund
betrauert sie auch seinen vermeintlichen Tod nicht. Chrysothemis hingegen zeigt noch
schwesterliche Gefühle für ihn. So trauert sie, als ihr der Tod Orests mitgeteilt wird, und
will am Ende ihre Freude mit ihrem Bruder teilen.
Im Bezug auf die musikalische Analyse konnte gezeigt werden, dass die Musik in
beiden Werken unterschiedliche Funktionen erfüllt. Es kann zum Beispiel vorkommen,
dass die (Leit-)Motive den textlich vermittelten Inhalt widerspiegeln und so verstärken.
In andern Fälle vermittelt die Musik hingegen eine Art Subtext. Dadurch offenbart sie,
was textlich entweder verschwiegen werden soll oder nicht eindeutig mitgeteilt werden
kann. Dies hat zur Folge, dass musikalisch ein anderes Stimmungsbild entsteht als
textlich, was wiederum Interpretationen der Tochter-Vater-Beziehung zulässt. Für eine
umfassende Analyse und Untersuchung der Fragestellung ist deshalb eine getrennte
Betrachtung
beider
Ebenen
und
ein
anschließender
Vergleich
und
die
Zusammenführung beider Teilanalysen notwendig.
In der Einleitung wurden die Familienstrukturen der unterschiedlichen Schichten im 19.
und beginnenden 20. Jahrhundert dargestellt. Zwar wurde in diesem Zusammenhang
auch darauf hingewiesen, dass keine Aussagen über Tochter-Vater-Beziehungen zu
dieser Zeit getroffen werden können, weshalb auch nicht analysiert werden kann,
inwiefern die Tochter-Vater-Beziehungen in der Walküre und Elektra mit den realen
112
Gegebenheiten dieser Zeit übereinstimmen oder von diesen abweichen. Es soll jedoch
erörtert werden, ob und inwiefern die Darstellungen der Figuren in den Opern mit den
Familienstrukturen und Rollenbildern der damaligen Zeit korrespondieren oder
kontrastieren. Bei der Betrachtung der Vaterfiguren – zumindest bei der Wotans – zeigt
sich, dass hier die traditionelle Position des Vaters als Familienoberhaupt und
Autoritätsperson widergespiegelt wird. Dies geschieht, indem die Walküren (und auch
alle anderen, die auf Walhall leben) der Befehlsmacht Wotans unterstellt sind. Als
Brünnhilde Wotans Befehl missachtet, muss sie entsprechend dafür bestraft werden. Bei
den Töchtern zeigt sich sowohl ein Kontrast zu den Rollenbildern, als auch eine
Übereinstimmung mit diesen. Chrysothemis‘ Wunsch nach einem ‚Weiberschicksal‘
spiegelt die damalige bürgerliche Ansicht wider, dass Frauen sich auf ihre Rolle als
Mutter, Haus- und Ehefrau zu besinnen hätten. Nach ihrer Loslösung von Wotan und
ihrer Vereinigung mit Siegfried passt auch die Figur Brünnhildes in dieses
Rollendenken. Denn während Siegfried eine aktive Position einnimmt und auszieht, um
neue Abenteuer zu erleben, befindet sich Brünnhilde nun in einer passiven Rolle und
wartet auf dem Felsen auf Siegfrieds Rückkehr. Im Gegensatz dazu passen die
Walküren – zu Beginn Brünnhilde inbegriffen – und Elektra nicht in das Rollenbild der
passiven, fürsorglichen Mutter und Ehefrau. Doch während die Walküren von Wotan zu
Kämpferinnen erzogen wurden, geschieht Elektras Abwendung vom gängigen
Frauenbild erst nach der Ermordung ihres Vaters. Inwiefern die in der Einleitung
aufgestellte Aussage, dass Mädchen, die eine starke Identifizierung zum Vater
aufweisen, häufiger aus gängigen Rollenbildern ausbrechen als andere, auf Elektra
Anwendung finden kann, sei dahingestellt. Umso erstaunlicher ist jedoch die Tatsache,
dass Elektra nicht in der Lage ist, die Tat selbst zu vollbringen, sondern diese Aufgabe
in die Hände Orests legen muss. Hofmannsthals Aussage über die ‚Unfähigkeit der Frau
zur Tat‘ würde sich mit der damals vorherrschenden Auffassung der Frau als passives
Wesen, im Gegensatz zum aktiven Mann erklären lassen. Wie die Töchter zeigen auch
die Mütter eine starke Abweichung von den bürgerlichen Rollenbildern. Weder in der
Walküre noch in Elektra werden die Frauen als mütterlich und fürsorglich oder
Erzieherin der Kinder dargestellt. In der Walküre leben sogar alle Töchter (abgesehen
von Sieglinde) bei ihrem Vater, und man weiß nicht, abgesehen von Brünnhilde, wer
ihre Mütter sind. Im Gegensatz dazu leben in Elektra die Töchter zwar noch bei ihrer
Mutter, jedoch ist kein mütterliches Verhalten Klytämnestras zu erkennen. Orest wurde
sogar noch als Kind von Klytämnestra aus dem Haus gebracht, da sie Angst hatte, dass
113
er die Ermordung seines Vaters rächen könnte. In der Walküre findet sich noch eine
weitere Abweichung der Mutterfigur von den bürgerlichen Vorstellungen der Frau.
Während im Bürgertum Wissen und Bildung Männern vorbehalten war und als
unweiblich galt, wird in der Walküre Erdas Wissen hervorgehoben, indem sogar Wotan
Rat bei ihr sucht. Inwiefern sich Wagner, Hofmannsthal und Strauss tatsächlich an den
traditionellen Familienstrukturen und Geschlechterrollen ihrer Zeit orientiert haben –
zumal sie auf bereits existierende mythologische Sujets zurückgriffen –, kann hier nicht
beantwortet werden. Für weiterführende Forschungen wäre es jedoch interessant, die
Werke mit den realen Strukturen und Rollenbildern in den Familien Wagners, Strauss‘
und Hofmannsthals abzugleichen. Mithilfe von Briefen, Tagebüchern und dergleichen
wäre es eventuell möglich festzustellen, inwiefern diese in die Werke hineinspielen. Vor
diesem Hintergrund darf jedoch nicht vergessen werden, dass auch philosophische,
psychologische und künstlerische Strömungen sowie andere Aspekte das Schaffen von
KünstlerInnen beeinflussen können und sich möglicherweise in ihren Werken
niederschlagen.
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