Zeit für Experimente
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Zeit für Experimente
Zeit für Experimente Waren die Anfangsjahre fast ausschließlich von theoretischen oder virtuellen Projekten geprägt, wurde 2002 mit dem HydraPier Pavillon (Abb. Seite 36) im niederländischen Haarlemmermeer schließlich ihr erstes Gebäude fertig gestellt. Mit seiner organisch weichen Formensprache sowie einer gleichzeitig sehr technisch futuristischen Anmutung sorgte der direkt an einem See gelegene Pavillon international für Aufmerksamkeit und brachte ihnen in der Folge weitere Aufträge ein. Immer an vorderster Front mitmischen und immer einen Schritt voraus zu sein, ist ihre Devise. Architektur ist nicht mit Bauen zu verwechseln, die Praxis im Bauen hat ihrer Erfahrung nach nichts mit der Praxis im räumlichen Denken zu tun, lautet ihr Credo. Die Rede ist von Asymptote Architecture, mit ihrer Herangehensweise an Architektur die Avantgarde ihres Fachs. raumbrand sprach mit Hani Rashid. Der Durchbruch gelang schließlich 2006, als sie den Wettbewerb für das „World Business Center“ (Abb. Seite 36) im südkoreanischen Busan für sich entscheiden konnten, mit einer geplanten Höhe von 560 Metern künftig das höchste Gebäude im asiatischen Raum. Der markante Entwurf, bestehend aus drei unterschiedlich hohen „Fingern“, variiert in seiner Gestalt je nach Blickwinkel des Betrachters und lässt sich nie aus einer einzigen Perspektive vollständig einfangen. Bereits ein Jahr später konnten Hani Rashid und Lise Anne Couture den Wettbewerb für das „Global City Center“ (Abbildung links) im malaysischen Penang gewinnen, einen zusammenhängenden Gebäudekomplex aus Wohnen, Arbeiten, Hotel und Kulturbauten, der sich mit seiner futuristischen Erscheinung betont von der üppigen Vegetation seiner Umgebung abhebt. raumbrand 25 Asymptote Architecture 35 der Konstruktion zu kommen. Heute realisieren wir tatsächlich Gebäude und machen konkreten Städtebau – aber das Territorium, das wir für uns selbst durch wegweisende theoretische Arbeiten abgesteckt haben, gibt uns heute das Selbstvertrauen sowie die Reputation, Fachkenntnis und Vorgeschichte, unsere architektonischen Visionen ohne Kompromisse verfolgen zu können. Realisierte Bauten von Asymptote sind u.a. der Hydra Pier Pavillon im nordholländischen Haarlemmermeer von 2002 (Abb. rechts), das World Business Center im südkoreanischen Busan (3. Abb. v.l.) und mehrere Flagshipstores für Carlos Miele und Alessi in New York City (Abb. links). von Jan Esche raumbrand: Asymptote Architecture – warum haben Sie Ihr Büro so genannt? Hani Rashid: Als wir unser Büro in Mailand eröffneten, suchten wir nach einem international verwendbaren Namen, der unserer Philosophie entsprach. In der Mathematik ist eine Asymptote eine hyperbolische Kurve, die sich einer Geraden unendlich annähert, ohne sie je zu berühren. Diese Vorstellung einer nie endenden Art der Annäherung gleicht der Sehnsucht – philosophisch kann man sagen, dass dieser unendliche Versuch der Verschmelzung eigentlich der Inbegriff allen Verlangens, aller Wünsche ist. Dieser Begriff, mit seinen mathematischen Wurzeln, seiner philosophischen Bedeutung und der in vieler Hinsicht auch architektonischen Formalität, schien uns seinerzeit perfekt geeignet, unsere geplante Herangehensweise zu beschreiben. Seit der Gründung hat das Studio zahlreiche Veränderungen durchlaufen und trotzdem machte der Name während unserer Entwicklung jederzeit Sinn – für ein von einem Mann und einer Frau geführtes Büro, für eine Herangehensweise, die die Grenzen des real und virtuell Möglichen auslotet und aktuell für ein Studio, das sehr betont an der Schnittmenge von Theorie und Praxis, Bildphantasie und baulicher Umsetzung arbeitet. raumbrand: Sie waren schon weltberühmt, bevor Sie auch nur Ihr erstes Gebäude fertig gestellt hatten. Wie ist das möglich? Rashid: Wir leben in hypermedialisierten Zeiten; viel von dem, was in der gegenwär- 36 Asymptote Architecture tigen Kultur als „berühmt“ gilt, erreicht uns fast unweigerlich durch irgendeine Art von Massenmedium. Zu Beginn unserer Arbeit machten wir vor allem mit unseren architektonischen Bildern auf uns aufmerksam. Mit unseren Optigraph-Installationen entwickelten wir hypothetische „Maschinen“, Bildarchitekturen zur Transformation von Städten und Orten. Die Idee hinter diesen Experimenten lässt sich bis zu Künstlern wie Piranesi ins Zeitalter der Aufklärung zurückverfolgen, hat aber auch Wurzeln bei avantgardistischen Architekturgruppierungen wie Archigram, Archizoom usw. Die Sache wurde für uns spannend, als wir – unbewusst – auf der Welle zum Internetzeitalter in eine bis dato unvorstellbare Zukunft der Medienwucherung ritten, in der Bilder sich wie niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte vermehren können. Weil unsere Arbeiten medienkulturell und bildästhetisch erstklassig waren, wurden unsere Ideen, Konzepte, Gebäudedesigns und Masterpläne postwendend mit atemberaubender Geschwindigkeit in den zunehmend für jedermann zugänglichen öffentlichen Raum aufgesogen. Intuitiv haben wir das wohl verstanden und arbeiteten damals frenetisch an der Entwicklung von Ideen und Entwürfen für Architektur und Stadtplanung, ohne dabei jemals innezuhalten oder uns Gedanken darüber zu machen, ob man diese Ideen und Pläne bauen und wirklich umsetzen könnte. Wir waren zwar schon begierig darauf, zu bauen, konnten uns aber gut finanzieren, ohne überhaupt jemals in diese Endphase raumbrand 25 raumbrand: Wie gehen Sie Architektur an? Wo beginnen Sie? Rashid: Für uns beginnt jede architektonische Arbeit als eine Art „Story“ – nicht im herkömmlichen Sinne von Geschichte oder Erzählung, sondern eher als ein abstraktes Drehbuch, das aus den verschiedenen Aspekten und Phänomenen besteht, die sich rund um den nötigen Standort und Umfang eines gegebenen Projektes drehen. Diese „Lektüre“ kann mit der Stadt oder Kultur beginnen, in der wir arbeiten, und hieraus extrahieren wir (konzeptionell), was wir die „DNA“ nennen, also das, was einen Standort oder eine Stätte einzigartig macht. Dazu kommen dann Diagramme oder Zeichnungen, die weniger eine konkrete Form als vielmehr eine Ballistik und einen Ausgangspunkt für das Design skizzieren sollen. Dieser Ansatz hat für uns eine Schlüsselfunktion, weil ein großer Teil unseres Designprozesses direkt in der von uns genutzten Software stattfindet und unsere Herangehensweise insofern von dem Wissen gezügelt wird, dass viel von dem, was wir tun, rein digital ist und deshalb vor allem ein völlig einzigartiges, dynamisches und passendes Ergebnis hervorbringen muss. raumbrand: Würden Sie Ihren architektonischen Ansatz als Avantgarde beschreiben? Rashid: Der Surrealist und Dichter André Breton hat Avantgarde einmal als die Stelle am Rand einer Straße beschrieben, die man selbst pflastert und von der aus man in den Abgrund blicken kann. Ich bin nicht sicher, ob ich unsere Arbeit heute noch so charakterisieren würde. Ich glaube, wir standen in verschiedenen Momenten in der Geschichte und Laufbahn von Asymptote an diesem Abgrund, etwa als wir Ende der 80er-Jahre als experimentelles, künstlerisch orientiertes Studio in Mailand begannen oder als wir „Virtual Reality“ zu „echter“ Architektur machten, mit dem virtuellen GuggenheimMuseum oder dem Virtual Trading Floor der New Yorker Börse. Und vielleicht standen wir auch wieder an diesem Punkt, als wir Kunstbeiträge für die dokumenta oder raumbrand 25 die Biennale in Venedig produzierten. Heute betreten wir dieses Feld mit digitalen Produktionstechniken und computerbasierten Gebäudetechnologien, nutzen unsere Arbeitsmethodik inzwischen aber, um bedeutende Bauwerke mit echten Auftraggebern, Budgets und Vorgaben zu realisieren. Man kann sicher sagen, dass wir einen Schritt vom Rand zurückgegangen sind (aber nicht zu weit zurück) und anderen das Pflastern der Straße überlassen haben. raumbrand: Moderne Architektur ist durch permanenten Wechsel, kontinuierliche Bewegung und Unstetigkeit gekennzeichnet; getragen vom technischen Fortschritt und der grundlegenden menschlichen Sehnsucht, das Unbekannte zu erforschen. Ist das eher ein Risiko oder eine Chance? Rashid: Ein wenig von beidem – ein Risiko insofern, als dass es ganz sicher immer eine Form von Unsicherheit gibt, wenn man in neue und unbekannte Gebiete vordringt. Wenn man andererseits vorangehen will, muss man den Zufall und das Unbekannte bereitwillig annehmen. Es ist genau die dynamische Spannung dieser Kräfte – von Risiken und Chancen –, aus der unsere überzeugendsten und relevantesten Ergebnisse entstehen. raumbrand: Ist der Architekt also ein Seismograph – grenzüberschreitend und mit neuen Denkansätzen am Puls der Zeit? Rashid: Auch wenn Architekten sich selbst gern als Grenzüberschreiter und Vordenker betrachten … Tatsache ist, dass wir eher die Zeit, in der wir leben und arbeiten widerspiegeln. Ich glaube, die wirkliche Rolle des Architekten – ähnlich der eines guten Regisseurs – ist es, die Realitäten um sich herum zu absorbieren, zu reflektieren und ästhetisch zu verwandeln. In unserem Fall, als Architekten, sind diese Gegebenheiten höchstwahrscheinlich ästhetischer, technologischer und philosophischer, vielleicht sogar poetischer Natur – ganz anders als bei einem Künstler, der ja schon fast den Auftrag hat, politisch, streitbar und polemisch zu arbeiten. Ja, in diesem Sinne sind wir sicher Seismographen, die die kulturellen Vektoren, technologischen Möglichkeiten und Potenziale urbaner Gestaltung auslesen – und unsere besten Arbeiten entstehen, wenn wir diese so formen, als würde unsere zeitgenössische Kultur und Lebensart einen konkreten Ort besetzen, eine funktionale Gestalt annehmen, die man erleben, in der man wohnen, arbeiten und leben kann. „… die wirkliche Rolle des Architekten – ähnlich der eines guten Regisseurs – ist es, die Realitäten um sich herum zu absorbieren, zu reflektieren und ästhetisch zu verwandeln.“ Hani Rashid Asymptote Architecture 37 Fokus Für die außerordentliche Fähigkeit, Kunst und Architektur konzeptuell zu verschmelzen, erhielten Hani Rashid und Lise Anne Couture 2004 den Frederick Kiesler-Preis für Architektur und Kunst. Von Goldfischen und anderen Chancen Abb. links: das Yas-Hotel in Abu Dhabi (2009) Fünfzig oder mehr Ideen Hani Rashid, Lise Anne Couture: Asymptote. Architecture at the Interval (Rizzoli 1995, ISBN 0-8478-1861-6); Asymptote: Flux (Phaidon Press 2002, ISBN 0-7148-4172-2); Asymptote: Works and Projects (Skira 2002, ISBN 88-8491-261-X) 38 Asymptote Architecture raumbrand 25 Es gibt ein Hotel in Downtown Manhattan, das bietet seinen Gästen einen ganz besonderen Room Service. Wer sich ein wenig einsam fühlt oder einfach nur entspannen will in der Stadt, die niemals schläft, bekommt einen ruhigen, freundlichen Begleiter aufs Zimmer – einen Goldfisch im Glas. Haustiere, Fische zumal, mindern den Stress, helfen hervorragend beim Einschlafen und steigern so die Lebensqualität. Das belegen zahlreiche Studien. Diese Erkenntnisse machten sich die Marketingexperten des „Tribeca Grand Hotel“ zu Nutze, als sie sich den Gag mit dem Goldfisch ausdachten. Inzwischen sind die tierischen Zimmergenossen zum absoluten Hotel-Hit geworden. Jeder Gast, der von seiner Reise zurückkehrt, wird natürlich auch von New York erzählen – vor allem aber von der Goldfisch-Offerte im „Tribeca Grand“. gen: Wenige Tage nach der Markteinführung hatte das Unternehmen bereits 120 Policen seiner neuen Sofortversicherung abgesetzt. Gelungene Überraschungen basieren fast immer auf originellen Ideen. Die niederländische Airline KLM etwa bedient sich der sozialen Netzwerke im Internet, um ihre Fluggäste in einer Sonderaktion mit personalisierten Geschenken zu überraschen. Auf diese Weise kam ein US-reisender Fußballfan, der via Twitter dem verpassten Eindhoven-Spiel nachtrauerte, in den Genuss eines personalisierten Barführers mit Fußballkneipen in New York. Die Washingtoner Restaurantkette Sweetgreen wiederum streut ihre guten Taten einfach unters Volk und schickt gute Geister durch die Straßen, die an Parksünder Trostpflästerchen in Form von Geschenkgutscheinen verteilen. Zufrieden allein genügt nicht Kundenbegeisterung zahlt sich aus Wann haben Sie Ihre Kunden zuletzt überrascht – mit einer unerwarteten Aufmerksamkeit, einem außergewöhnlichen Service, einem besonderen Einkaufserlebnis? Mag sein, dass es noch nicht lange her ist. Vielleicht denken Sie aber auch: Wozu Zeit und Geld in Überraschungseffekte investieren, die niemand verlangt? Meine Kunden sind rundum zufrieden mit dem, was ich ihnen biete. Ihre Treue beweist es doch. Zweifellos. Aber Zufriedenheit lockt in der Regel keine neuen Käufer an und führt auch nicht unbedingt dazu, dass Kunden ein Preispremium akzeptieren. Wer als Unternehmen nur auf die Zufriedenheit seiner Kunden setzt, verpasst eine echte Chance – auf mehr Umsatz, mehr Gewinn und auf die langfristige Wertsteigerung seiner Produkte und Services. Denn Kunden wollen nicht bloß zufriedengestellt sein. Sie wollen begeistert werden. Was Customer Excitement ökonomisch bringt, hat McKinsey anhand von Unternehmensanalysen untersucht: Kostenlose Werbung durch Mundpropaganda, treuere Kunden und eine erhöhte Preisbereitschaft sind nur einige zentrale Effekte. So kann Fiat auch Jahre nach der Neueinführung seines Fiat 500 noch ein Preispremium von rund 30 Prozent gegenüber dem Wettbewerb durchsetzen – dank der anhaltenden Kundenbegeisterung für das Kultauto, das Authentizität mit einem gelungenen Design verknüpft. Unternehmen wie Fiat, Ergo, KLM oder Sweetgreen machen vor, wie man mit innovativen Ideen Konsumenten verblüffen, begeistern und mitreißen kann. Viele andere könnten ihrem Beispiel folgen, denn mit Hilfe neuer Tools wie dem „Excitement Game Board“ von McKinsey lassen sich im Nu 50 oder mehr Ideen generieren. Einen Versuch ist es allemal wert: Customer Excitement ist der Türöffner zur Neukundengewinnung und das Bindemittel, um bestehende Kunden zu halten. Unternehmen sollten sich diese Chance, Mehrwert zu erzeugen, nicht entgehen lassen. Und das Beste daran: Es braucht nicht einmal ein millionenschweres Werbebudget, um beim Kunden Begeisterung zu erzeugen. Der Goldfisch im Glas vom Tribeca Grand beweist es. Verrückte Ideen, die faszinieren Motive: © Perysty / Fotolia Literatur zum Thema: die Aufmerksamkeit der Besucher konkurrieren. Das Spiel selbst ist doch längst nur noch Sekundärinformation gegenüber den Statistiken, den Live-Feeds oder zeitverzögerten Übertragungen, gegenüber Facebook oder anderen Texting-Diensten, die das Stadion förmlich überwältigen. Und dennoch ist es immer noch ein „Ort“ im Hinblick auf Raum und Form. Es ist vielmehr die herkömmliche Vorstellung von Architektur – nach der eine Form, um narrativ zu funktionieren, symbolisch oder ornamental aufgeladen sein muss – die zunehmend obsolet wirkt. Tatsächlich ist doch gerade die Freude an dieser Entmaterialisierung von Raum spannend, wenn das Gebäude selbst zu einem lebendigen Medium wird, durch das diese ganzen Energien fließen, anstatt bloß einen stabilen, skulpturalen, formalistischen Zustand zu verkörpern. Wir haben sowohl das Hydra Pier in den Niederlanden als auch – in einem viel größeren Maßstab – das Yas-Hotel in Abu Dhabi mit diesem Ansatz im Kopf entwickelt – als Schöpfung neuer architektonischer Statements mit besonderem Fokus auf Raumfluss und -phänomene, auf transformative und meditative Elemente der Architektur. Im Falle von Hydra Pier agiert das Gebäude durch über die Oberflächen hinweg fließendes Wasser und eine scheinbar irgendwo zwischen Pumpwerk und Düsenjet eingefrorene Form in einem „interstitiellen“ Schwebezustand zwischen Bedeutung und Form. Das Yas-Hotel sticht durch das Flächentragwerk mit seiner mathematisch-fraktalen Komplexität, aber auch durch dieses Flair von Surrealität, durch die Lichtinstallation und bauliche Fragmentierung im Kontext von Abu Dhabi, aus der sicheren Gemütlichkeit eines gewöhnlichen Hotels oder Yachthafens heraus – stattdessen ist es ein inszenatorischer Ort für Öffentlichkeit, Spektakel, Tempo, der zugleich eine Art Kulturbruch darstellt. Fotos: © Asymptote Architecture; Übersetzung: STS Schellnack Translation Services von Fabian Hieronimus raumbrand: Stichwort Zukunft – wie werden wir künftig leben? Rashid: Es gibt derzeit zwei deutliche – und durchaus gegensätzliche – Kraftfelder, die unsere zukünftige Lebensweise intellektuell, aber auch im ganz greifbaren Sinne von gebautem Raum (also Architektur) bedingen werden. Da ist zum einen unsere zunehmende Akzeptanz von elektronischen Netzen und virtuellem Lifestyle. Das heißt, zwischen dem ungezügelten Wuchern sozialer Netzwerke, medial vermittelter Erfahrungen und einem Leben im Zeichen von Entertainment entsteht das Risiko, dass wir gar keine realen Umgebungen mehr brauchen, zumindest nicht im Sinne herkömmlicher Vorstellungen. Zum anderen erweckt gerade dieses entkörperlichte Dasein umgekehrt ein Verlangen nach körperlichem Kontakt, echter Erfahrung und insofern auch nach räumlichen Situationen, die all dies umfassen und zur Entfaltung bringen können. In diesem sehr widersprüchlichen Spiel der Kräfte zwischen gebautem Raum und dessen Auflösung bewegen wir uns in die Zukunft. Angesichts dieser Dichotomie denke ich, dass sich Architektur als zunehmend relevant und nachhaltig erweisen wird – ob Sie es glauben oder nicht – weil sich genau hier, in unserer körperlich erfahrbaren Baukultur eine Versöhnung all dieser Gegensätze manifestieren muss. Da stellt sich natürlich die Frage, wie diese neuen hybriden Raumkonzepte denn aussehen werden und wie sie sich von der Architektur unterscheiden, die wir heute bereits kennen und mit der wir vertraut sind. Ich denke, wir sind längst von ersten flüchtigen Eindrücken solcher Raumtypologien umgeben. Das moderne Sportstadion ist beispielsweise als Versammlungsort beliebter und zugleich entmaterialisierter als je zuvor – mit durch das Stadion pulsierenden Daten- und Informationsströmen, die mit den iPhones und Blackberrys um Begeistern können Unternehmen vor allem mit Leistungen, die der Kunde erst einmal nicht für möglich hält. Beispiel Ergo Direkt: Seit April können Verbraucher Zahnersatz selbst dann noch versichern, wenn die Behandlung bereits begonnen hat. Ein absolutes Novum in der Branche, mit dem Ergo vor allem eines bewirken wollte: einen Wow-Effekt beim Kunden. Das ist gelunraumbrand 25 Dr. Fabian Hieronimus ist Partner im Münchner Büro von McKinsey & Company und Mitglied der europäischen Marketing & Sales Practice. Er berät Unternehmen in Marketing- und Strategiefragen. Fokus 39