19.1 Fallbeispiele

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Beispiel 19.1 a/b
Orale und phallisch-ödipale Kollusion
Die beiden Fallbeispiele zweier Paare mit einer oralen bzw. einer phallisch-ödipalen Kollusion verdeutlichen:
l die anfängliche Symbiose und die spätere destruktive Rollenfixierung und Konflikteskalation der jeweiligen Kollusion.
Die Fallbeispiele beziehen sich auf das Kapitel:
l 19.2 Kollusion und Kollusionstypen
Eine Frau, die mit einem Sozialarbeiter verheiratet ist, leidet seit drei Jahren an schweren depressiven Verstimmungen, in denen sie mehrmals Suizidversuche unternommen hatte. Die Depressionen begannen im zeitlichen
Zusammenhang mit der Geburt ihres einzigen Kindes, eines Sohnes. Die Frau klagt darüber, der Mann widme
sich seither nur diesem Kinde und zeige ihr gegenüber kaum noch irgendwelches Interesse.
Das Paar lernte sich auf einer Party kennen. Die Frau saß fröstelnd im dunklen Garten vor dem festlich erleuchteten Hause und trauerte einer eben zerbrochenen Liebesbeziehung nach. Der Mann trat in den Garten
hinaus, sah das arme Geschöpf und legte wie der heilige Martin seine Jacke um ihre Schultern. So kamen sie miteinander ins Gespräch. Die Frau blühte unter seinem tröstlichen Zuspruch rasch auf. Das Partnerverhältnis
konstellierte sich von Anfang an zu einer Therapeut-Patienten-Beziehung. Der Mann sah, wie die Frau unter
seinen Bemühungen aufstrahlte, worin er einen Selbstwertzuwachs erfuhr.
Der individuelle Hintergrund der Partner: Der Mann stand als Jüngster von zehn Kindern einer ärmlichen
Familie zeitlebens unter dem Eindruck, nicht für voll genommen zu werden. Seine Mutter war eine starke, herrische Frau, neben der der Vater wenig zu sagen hatte. Der Mann war sehr an seine Mutter gebunden, die er aber
gleichzeitig auch fürchtete. Er hoffte in der Ehe auf Selbstbestätigung und war bestrebt, eine Frau zu finden, die
nicht so herrisch wie seine Mutter sein werde.
Die Frau war Älteste von vier Kindern. Ihre Mutter habe in kalter und selbstbezogener Art die Familie tyrannisiert. Als die Frau im vierten Lebensjahr war, wurde ein Bruder nachgeboren, von dem sie sich in den Schatten
gestellt fühlte, weil beide Eltern diesen Sohn vergötterten. Die Frau reagierte damals mit Bettnässen, Trotz und
vielfältigen Provokationshandlungen, mit denen sie drastische Strafen auf sich zog, aber damit wenigstens Beachtung erwirken konnte. Sie trat mit dem bewußten Wunsch in die Ehe ein, das Zentrum der Aufmerksamkeit ihres
Mannes zu bilden und keinesfalls so tyrannisch zu werden wie ihre eigene Mutter.
In der Ehe war die Frau von der dauernden Angst erfüllt, der Mann könnte in seiner pflegerischen Aufmerksamkeit ihr gegenüber nachlassen. Sie schuf stets neue Situationen, die den Mann zwangen, sie zu retten, zu stützen, zu schonen und ihr alles abzunehmen. Sie verlegte sich ganz auf die Rolle der Schwachen und Hilfebedürftigen. Durch die Geburt des ersten Kindes geriet sie in einen schweren Konflikt: Einesteils fühlte sie die Anforderung, ihre Rolle als Mutter zu versehen und damit eine reife Frau zu werden, andernteils verfiel sie aber der Wiederholung ihrer Geschwisterrivalität und war von größter Angst erfüllt, der Mann könnte sich nun mehr dem
Knaben als ihr zuwenden. In diesem Zwiespalt verhielt sie sich dem Mann gegenüber immer regressiver, entwickelte Depressionen, vollführte Heulszenen und Suizidversuche, um sich die Aufmerksamkeit und Zuwendung
des Mannes zu sichern. Sie wurde in ihren Ansprüchen dem Mann gegenüber immer anmaßender. Der Mann
dagegen suchte in der Ehe in erster Linie Selbstbestätigung. Er stand unter dem Ideal, sich für seine Familie zu
opfern und in seiner Fähigkeit, Liebe zu spenden, unerschöpflich zu sein. Er verausgabte sich in der Ehe, bis auch
er ausgezehrt und depressiv zusammenbrach und dankbar für das Angebot einer Ehepaartherapie war, um damit
von den Ansprüchen der Frau entlastet zu werden.
In der Ehepaargruppentherapie bot sich der Mann alsbald als Co-Therapeut und Helfer der ganzen Gruppe
an. Einesteils betonte er, daß er von der Frau Selbständigkeit erwarte, andernteils nahm er ihr das Wort immer
gleich ab, wenn sie mal Anstalten machte, sich zu äußern. Immer deutlicher wurde spürbar, daß er sie gar nicht
aufkommen lassen wollte, ja, daß ihre Beziehung überhaupt nur auf der Ebene Therapeut-Patient funktionierte.
Der Mann fühlte sich in seinem Element, wenn die Frau sich hilfesuchend an ihn wandte und er im tiefgründigen
Gespräch sich als Retter anbieten und bestätigen konnte. Zu Recht spürte die Frau, daß, wenn sie tatsächlich
selbständiger würde, ihre Ehebeziehung gefährdet würde. Im Laufe der Behandlung wurde sie dann etwas aggressionsfreier und autonomer, worauf der Mann in eine schwere Depression verfiel und zunehmend gespannt und
gereizt wurde. Er fühlte sich aus seinen Mutterfunktionen dem Kind gegenüber herausgedrängt und fürchtete
sich vor einer ihm ebenbürtig werdenden Frau. Aber auch die Frau hatte Angst, in der eigenen Autonomie tyran-
Kriz: Grundkonzepte der Psychotherapie, 6. überarb. Auflage. Weinheim: BeltzPVU 2007
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nisch wie ihre Mutter zu werden. Effektiv tyrannisierte sie aber den Mann schon längst mit ihren Szenen von
Schwäche und Hilflosigkeit. Allmählich gewannen beide Einsicht in ihre Fehlhaltungen und konnten diese weitgehend abbauen. Es wurde ein zweites Kind nachgeboren, demgegenüber die Frau von Anfang an die Mutterfunktionen erfüllte. Der Mann konnte seine Frau als reifer und autonomer akzeptieren, ohne daß deswegen die
Basis ihrer Beziehung zerstört worden wäre.
Die Geliebte als Blitzableiter in phallisch-ödipaler Kollusion
Ein 45jähriger erfolgreicher Geschäftsmann ist seit zwölf Jahren verheiratet. Anlaß zur Ehebehandlung ist eine
zweijährige außereheliche Bekanntschaft zu einem 17 Jahre jüngeren Mädchen, das nun auf Heirat drängt. Das
Paar erhofft von der Behandlung eine verbesserte Entscheidungsfähigkeit.
Die Frau ist einzige Tochter eines reichen Geschäftsmannes, der zu Hause ein autoritäres Regime führte und
zur Patientin eine inzestuös gefärbte Beziehung unterhielt. In der Pubertät überwachte er sie eifersüchtig gegenüber möglichen Liebhabern, drückte sie beim Tanz jeweils fest an sich und küßte sie intensiver, als es üblicherweise den Vätern zusteht. Die Frau trat unberührt in die Ehe ein mit starken Hemmungen sexuellen Beziehungen
gegenüber bei gleichzeitig sehr farbigen sexuellen Phantasien. Vor allem spürte sie einen Widerwillen gegen sexuelle Beziehungen im Ehebett. Sie blühte sexuell erst auf, als sie einige Jahre vor der Liebschaft ihres Mannes ein
intimes Verhältnis mit einem Werkstudenten hatte. Mit diesem war sie erstmals orgasmusfähig und erlebte die
Sexualität als etwas Faszinierendes. Sie versuchte den Mann zur Eifersucht zu provozieren. Doch dieser antwortete auf die Liebschaft mit einem Gegenzug. Er ging nun seinerseits außereheliche Beziehungen ein und reagierte
der Frau gegenüber mit Potenzstörungen. Die Frau gab die Liebschaft auf und verlegte sich in der Folge darauf,
den Mann wegen seiner Untreue zu verfolgen, um gleichzeitig in der Phantasie an dessen sexuellen Beziehungen
zu partizipieren. Damit hatte sie die ödipale Konstellation ihrer Jugend in der Ehe wiederholt. Ähnlich wie sie es
beim Verhältnis des Vaters zu dessen Geliebten getan hatte, lebte sie die Sexualität projektiv aus, indem sie sich
für die Liebschaft des Mannes mit der Geliebten obszöne Praktiken vorstellte, deren Realisierung sie sich selbst
versagen mußte. Sie rächte sich gleichzeitig am Mann – stellvertretend für ihren Vater –, indem sie ihn für eheliche Untreue verfolgte und bestrafte.
Auch der Mann konstellierte in der Ehe die ödipale Situation seiner Jugend wieder. Er hatte eine „kastrierende“ Mutter, eine temperamentvolle, selbstbezogene Südländerin, die ihn verunsichert hatte, indem sie sich ihm
bald überschwenglich zugewandt hatte, um sich ohne ersichtlichen Grund wieder von ihm abzukehren. Sie hatte
sein männliches Selbstvertrauen untergraben, indem sie dauernd an ihm herumgenörgelt und ihn in seiner
Männlichkeit erniedrigt und kleingehalten hatte.
Dem Mann ging es bei der Eheschließung sehr um seine männliche Selbstbestätigung. Er fühlte sich von seiner
Frau angezogen, weil sie selbstbewußt und aggressionsfrei wirkte und ihm in der Auseinandersetzung mit den
Eltern den Rücken stärkte. Unter ihrem Einfluß lernte er sich beruflich zu behaupten. Er war dankbar, in der
Frau jemanden zu haben, der ihn akzeptierte und bestätigte. Doch im Laufe der Ehe begann sich die Situation
seiner Kindheit immer klarer zu wiederholen. Die Frau nahm das gleiche Nörgelverhalten an, das er früher an
seiner Mutter erlebt hatte. Er hörte aus allem, was sie sagte, Kritik heraus, spielte sich gekränkt und trotzig auf
und begann sexuell zu versagen. Das Verhältnis zur Geliebten diente ihm schließlich dazu, sich an der Frau für
deren erniedrigende Kritik an seiner Person zu rächen und mit seiner Potenz aufzutrumpfen.
Die Ehekrise gründete also zu einem wesentlichen Teil in einer ödipalen Kollusion. Die Frau konstellierte die
Dreieckssituation aus Inzestangst und Rache an ihrem untreuen Vater, der Mann aus Trotz gegen die kastrierende Mutter. Bei beiden wurden in der Ehe die Inzestängste reaktiviert. Für beide waren befriedigende sexuelle
Beziehungen nur außerhalb der Ehe vollziehbar. Die Abwehr der Inzestgefahr wurde nun in der Ehe in der Weise
polarisiert, daß der Mann die Rolle des Untreuen, die Frau diejenige der eifersüchtigen Verfolgerin der Untreue
einnahm. Beide Rollen waren interdependent. Je mehr die Frau den Mann erniedrigte, kritisierte und mit Vorwürfen wegen seiner Untreue verfolgte, desto mehr fixierte sie ihn in der Trotzreaktion gegen seine Mutter und
ließ ihn seine Bestätigung in der Liebschaft suchen. Je mehr andererseits der Mann sich mit der Geliebten einließ,
um so mehr sah sich die Frau in der Rolle der frustrierten Dritten und fühlte sich gedrängt, über den untreuen
Mann herzufallen und sich an ihm – an ihres Vaters Stelle – zu rächen. Jeder verhielt sich so, daß er dem andern
ein Alibi zur neurotischen Fehlhaltung verschaffte. Der Mann konnte sagen: „Ich suche meine Erfüllung bei
einer Geliebten, weil du dauernd an mir herum kritisierst.“ Die Frau: „Ich kritisiere dauernd an dir herum, weil
du deine Bestätigung bei einer Geliebten suchst.“ Die neurotischen Fehlhaltungen beider Partner bildeten ein
regelkreisartig in sich geschlossenes System.
Kriz: Grundkonzepte der Psychotherapie, 6. überarb. Auflage. Weinheim: BeltzPVU 2007
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Der Stellenwert, den die Geliebte in ihrer Beziehung innehatte, wurde den Partnern im Laufe der gemeinsamen Therapie bewußt. Das Schlimmste, was im neurotischen Arrangement zweier Partner passieren kann, ist,
daß ein Partner plötzlich in seiner Fehlhaltung nachläßt. Als der Mann in einer Phase der Therapie daran dachte,
die Geliebte aufzugeben, verfiel die Frau, die verbal diesen Schritt dauernd gefordert hatte, in einen nächtlichen
Panikzustand aus Angst, als Gegenleistung zu sexuellen Beziehungen mit dem Mann verpflichtet zu sein. Sie
reagierte mit unstillbarem Erbrechen und heftiger Migräne, was sie in der Form noch nie erlebt hatte. Sie verstärkte sofort wieder ihre mißtrauende Verfolgerhaltung und vermochte den Mann damit wieder von seinem
Vorhaben abzubringen, die außereheliche Beziehung aufzulösen.
In einer späteren Therapiephase ließ die Frau von ihrer erniedrigenden Krittelsucht ab und äußerte schüchtern, wie sie den Mann trotz seiner Fehler liebe und wie sie im Grunde Bedürfnisse verspüre, sich an ihn anzulehnen und von ihm gehalten zu werden. Der Mann war selbst erstaunt, daß er nun, wo ihm die Frau endlich das
ersehnte Entgegenkommen zeigte, mit Widerständen reagierte aus Angst, die Frau könnte damit auch gerade mit
Ansprüchen nach sexuellen Beziehungen kommen, bei denen er versagen würde. Er stellte sich deshalb so linkisch und täppisch an, daß die Frau schon bald wieder in ihre frühere Nörgelei zurückfiel.
Die Existenz der Geliebten verhinderte, daß das Paar die Inzestangst direkt austragen mußte, denn dies konnte
jetzt über die Geliebte geschehen. Statt daß die Frau sich mit ihrem schon vorbestehenden Ekel vor ehelichen
Beziehungen befassen mußte, konnte sie diesen in der Existenz der Geliebten begründen. Statt daß sich der Mann
seiner Angst vor sexuellem Versagen zu stellen hatte, konnte er mit seiner außerehelichen Potenz auftrumpfen
und seine Frau durch die Geliebte auf Distanz halten. Die Existenz der Geliebten dispensierte also das Paar von
der Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Ehekonflikt und entlastete beide Partner von der Vorstellung,
durch eigenes Versagen zum Ehekonflikt beizutragen.
aus: Willi, J. (1975). Die Zweierbeziehung. Reinbek: Rowohlt. S. 102–104 bzw. S. 207–209.
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