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VOL. IX EDITION FERENC FRICSAY DONIZETTI: LUCIA DI LAMMERMOOR M. Stader • E. Haefl iger • D. Fischer-Dieskau Berlin, 1953 GAETANO DONIZETTI (1797–1848) LUCIA DI LAMMERMOOR Oper in drei Akten recording date: recording location: recording producer: recording engineer: recording: research: remastering: 1 st MASTER RELEASE photo: art direction and design: January 22 - 28, 1953 (studio recording, mono) Jesus-Christus-Kirche, Berlin-Dahlem Destinn Opitz Eine Aufnahme von RIAS Berlin (lizenziert durch Deutschlandradio) P 1953 Deutschlandradio Rüdiger Albrecht P Ludger Böckenhoff, 2008 The historical publications at audite are based, without exception, on the original tapes from broadcasting archives. In general these are the original analogue tapes, which attain an astonishingly high quality, even measured by today‘s standards, with their tape speed of up to 76 cm/sec. The remastering – professionally competent and sensitively applied – also uncovers previously hidden details of the interpretations. Thus, a sound of superior quality results. CD publications based on private recordings from broadcasts cannot be compared with these. Foto Neumeister, München »audite« Musikproduktion e-mail: [email protected] • http: //www.audite.de © 2008 Ludger Böckenhoff Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton) Lord Enrico Asthon Maria Stader (Sopran) Lucia, seine Schwester Ernst Haefliger (Tenor) Sir Edgardo di Ravenswood Horst Wilhelm (Tenor) Lord Arturo Bucklaw Theodor Schlott (Baß) Raimondo Bidebent, Lucias Erzieher und Vertrauter Sieglinde Wagner (Alt) Alisa, Lucias Kammerzofe Cornelis van Dyck (Tenor) Normanno, Hauptmann der Truppen von Ravenswood RIAS Kammerchor Herbert Froitzheim, Einstudierung RIAS-Symphonie-Orchester FERENC FRICSAY, Dirigent Ferenc Fricsays Rundfunk- und Opernästhetik Lucia di Lammermoor Die vorliegende Aufnahme von Gaetano Donizettis Lucia di Lammermoor entstand vom 22. bis 28. Januar 1953 in der Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem. Sie ist Fricsays einzig vollständige oder vollständig erhaltene Aufzeichnung der 1835 in Neapel uraufgeführten Oper. Die Ferenc-Fricsay-Gesellschaft bewahrt in ihrem Archiv außerdem Ausschnitte auf, die 1946 an der Budapester Staatsoper auf Band genommen wurden, sowie einen unvollständigen Mitschnitt der Premiere, die Fricsay am 21. Dezember 1956 im Münchener Prinzregententheater dirigierte. Für die Einspielung im Januar 1953 wählte er, wie bei früheren Opernaufnahmen, als Mitwirkende das RIAS-Symphonie-Orchester und den RIAS-Kammerchor, nicht die entsprechenden Ensembles des Westberliner Opernhauses. Hatte diese Besetzungsentscheidung bis dahin rein künstlerische Gründe gehabt, so kamen nun musikpolitische hinzu. Fricsay, der im Dezember 1948 zum Generalmusikdirektor der Städtischen Oper Berlin1 und zum Chefdirigenten des RIAS Symphonie-Orchesters2 berufen worden war, ließ sich im Juni 1952 von seinen Verpflichtungen an der Städtischen Oper entbinden. Am 6. Juni 1952 leitete er seine letzte Aufführung als GMD des Hauses. Die Gründe, „die den Dirigenten“ zu diesem Schritt „bewogen oder zwangen, sind immer im Unklaren geblieben“3. Vorangegangen waren Konflikte, deren sachlicher Kern sich auf zwei Fragen konzentrierte: Fricsays Entscheidungshoheit in musikalischen, vor allem auch in Besetzungsfragen, und die Ausgewogenheit zwischen seinen beiden Berliner Engagements; in der Oper hielt sich die Meinung, er bevorzuge das RIAS-Symphonie-Orchester. Dass Heinz Tietjen, seit seiner Entnazifizierung 1948 Intendant der Städtischen Oper, keinen Versuch unternahm, Fricsay zu halten, sagt viel: Selbst ein ambitionierter Künstler als Regisseur und Dirigent, wusste der ehemalige Generalintendant der Preußischen Staatstheater (1927-1945) und Künstlerische Leiter der Bayreuther Festspiele (1931-1945) an der Seite Winifred Wagners die Register institutioneller Macht effektiv zu bedienen. 4 nen in der Berliner Operngeschichte gerechnet wird. Die Vorstellung am 14. November war sein letzter Auftritt in Berlin. Am 16. November dirigierte er „sein“ Berliner Orchester zum letzten Mal (es spielte auf Einladung der Bundesregierung in Bonn ein Beethoven-Programm), am 7. Dezember leitete er sein letztes Konzert. Dann zwang ihn seine Krebserkrankung zum Rückzug aus dem Musikleben. Ferenc Fricsay starb am 20. Februar 1963 in einer Klinik in Basel. Das bewies er im April 1933 gegenüber Otto Klemperer, dessen Emigration er beschleunigte, das bewies er aber auch durch das, was er den Nazi-Granden durch geschicktes Ausnutzen ihrer Rivalitäten abrang. Entscheidungen über Sängerbesetzung und Gastdirigenten führen leicht zu Konflikten zwischen Intendant und Generalmusikdirektor; im Opernbetrieb ist dies eine der verlässlichsten Sollbruchstellen. Fricsay, den Yehudi Menuhin wegen seines untrüglichen dramatischen Gespürs als den geborenen Operndirigenten bezeichnete, war nun an kein Musiktheater mehr verantwortlich gebunden. Nur zu einer Produktion kehrte er noch einmal an die Westberliner Oper zurück. Am 24. September 1961, sechs Wochen nach dem Mauerbau in Berlin, dirigierte er die Eröffnungspremiere im neuen Haus an der Bismarckstraße, die zugleich mit einer Namensänderung der bisherigen Städtischen Oper verbunden war; sie hieß fortan – nach Fricsays Vorschlag – Deutsche Oper Berlin. Noch weitere sechs Mal leitete er jene Neuproduktion des Don Giovanni, die zu den Meilenstei- Anfang 1953 aber befand sich Fricsay auf einem Hochplateau seiner Laufbahn; die Vorgänge an der Oper belegen dies eher als dass sie es entkräften. Das RIASSymphonie-Orchester hatte er zu einem Ensemble von charakteristischem Eigenklang, inspirierter Präzision und hohem Stilbewusstsein geformt. Die internationale Reputation wuchs, unter anderem durch Gastspiele in Ländern, in denen seit dem Zweiten Weltkrieg kein deutsches Orchester mehr gastiert hatte. Noch zeichnete sich die große Krise nicht ab, in die das Orchester im Mai 1953 stürzte. Ursache: Die Musiker 5 waren formell Angestellte des RIAS, der als amerikanische Einrichtung von der US-Regierung finanziert wurde. Damit aber war das Orchester im einstigen Feindesland das einzige, das die amerikanische Regierung vollständig bezahlte, die US-Orchester erhielten dagegen nur geringe Zuschüsse. Um Präzedenzklagen zu vermeiden, musste der RIAS alle Musiker entlassen. Sie bildeten schließlich eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die mit dem Sender Produktionsverträge schloss. Aufnahmen wie die Lucia konnten dabei als Referenzen nach innen (gegenüber dem Sender) und nach außen (gegenüber interessierten Plattenproduzenten) dienen. Sie bietet in verschiedener Hinsicht ein Konzentrat von Ferenc Fricsays musikalischer Ästhetik. pretationen, für Händel, Gluck, Haydn, selbst für Giuseppe Verdis Requiem. Auf den Bühnen des Musiktheaters machte sie sich wegen ihrer kleinen Statur (sie maß 1,44 m) rar, doch sang sie regelmäßig Opernpartien in konzertanten Aufführungen oder bei Aufnahmen. Sie war Fricsays Lucia auch bei den zwanzig konzertanten Aufführungen, die er 1956 in Israel dirigierte. Für Edgardo, Lucias Geliebten aus politisch ver feindeter Familie, verpflichtete er Ernst Haefliger, den Schweizer Tenor, den er für die Salzburger Festspiele 1949 entdeckte und selbst noch 1952 für das Ensemble der Städtischen Oper Berlin gewann. In Konzerten des RIAS-Symphonie-Orchesters wurde er oft mit Maria Stader zusammen besetzt. Edgardos Gegenspieler und Lucias Bruder, Lord Henry Asthon (oder Enrico Asthon), sang der Bariton, dessen Opernlauf bahn mit Fricsays erster Produktion an der Städtischen Oper Berlin (Verdi, Don Carlos) begann: Dietrich Fischer-Dieskau. „Es fragt sich“, resümierte der Sänger die erste, intensive Zusammenarbeit mit Fricsay, „ob mein Operndebüt unter weniger günstigem Besetzung und Ästhetik Für die Produktion der Lucia di Lammermoor konnte er die Sänger engagieren, die seiner Vorstellung entsprachen, die tragische Titelpartie besetzte er mit Maria Stader. Wie er in Budapest geboren, aber in der Schweiz aufgewachsen, war sie seine Lieblingssopranistin für Mozart-Inter6 Mit Lucia di Lammermoor antwortete er als Künstler. Die große Szene Lucias und Edgardos am Ende des ersten Akts (CD 1, Tracks 11 und 12) können in solch perfekter Übereinstimmung nur Sänger leisten, die sich musikalisch einig sind und die Phrasen mit gleichem Atem führen. Das musikalische Einverständnis zwischen Maria Stader und Ernst Haefliger reicht bis ins kleinste Detail: keine Tempodif ferenzen in so genannten „Rubati“ (Passagen in freiem Tempo) sind zu hören, keine überdehnten oder abgerissenen Phrasenenden. Die überzeugende Qualität lässt sich nicht allein dirigentisch organisieren, sie muss von den Sängern selbst getragen sein. Solch kooperativer Konsens färbt auch auf die Orchestermusiker ab: Maria Staders Duett mit ihrem „Echo“, der Soloflöte, in der Wahnsinnsszene des dritten Akts gibt ein ebenbürtiges Abbild der Duettszene aus Akt I. Einerseits ein homogen klingendes Ensemble zusammenzustellen, andererseits aber die verschiedenen Rollen deutlich als Individuen zu profilieren, gleicht of tmals einer künstlerischen Stern und ohne seine behutsame Leitung eine ebenso rasche und konsequente Laufbahn auf der Bühne zur Folge gehabt hätte.“4 Mit diesen drei Künstlern wusste er sich im Stilempfinden, im Verlangen nach höchster Genauigkeit und intensivem Ausdruck grundsätzlich einig; sie gehörten zu seinem „Ideal-Ensemble“, mit ihnen besetzte er die Kernrollen der Lucia di Lammermoor. Die Altistin Sieglinde Wagner sang die Rolle der Zofe Alisa; sie war, wie Cornelis van Dyck (Normann) damals frisch an die Oper im Westen Berlins engagiert. Mit Theodor Schlott als Raimondo, Lucias Berater und Vertrautem, und Horst Wilhelm als Arturo, den Lucia gegen ihren Willen aus politischer Raison ihres Bruders heiraten soll, komplettierte Fricsay das Ensemble mit zwei erfahrenen Opernsängern. Mit der RIAS-Aufnahme demonstrierte er auch, wie wichtig die Sängerbesetzung für das Gelingen eines Opernprojekts ist. In der Leitung der Städtischen Oper hatte man sich darüber erregt, dass er sich beharrlich weigerte, im Opernalltag auch Sänger einzuset zen, die seinen Vorstellungen nicht ganz entsprachen. 7 Gratwanderung. Fricsay glückte sie. Selten dürfte man auf Opernbühnen das Schlussensemble des zweiten Akts so ausgewogen und dennoch im Verhältnis von Haupt- und Nebenstimmen so klar gewichtet hören wie hier. nur als Vokalise. Hier explodiert die Musik über die Sprache hinaus und kann von dieser nicht mehr erreicht oder gar eingefangen werden. Wo es allerdings auf das Textverstehen ankommt, ist es in Donizettis Oper und in Fricsays Aufnahme gegeben. Die drei Hauptrollen besetzte der Dirigent mit Sängern, die auch große Künstler des Liedvortrags waren und um den musikalischen Rang der Sprache wussten. Die Übersetzung von Operntexten in die Sprache der Aufführungsländer holte das Musiktheater aus dem Status der Exklusivität. Dieser Wille zur Demokratisierung von Kultur aber musste für das Massenmedium Radio erst recht gelten. Hier wurde Oper auch Menschen zugänglich, die sich einen Theaterbesuch finanziell oder wegen ihres entfernten Wohnorts nicht leisten konnten. Eine Produktion in deutscher Sprache verstand sich also für den Rundfunk von selbst. Im Übrigen verband sich die Erfolgsgeschichte der Lucia di Lammermoor in ganz Europa mit einer Geschichte von Übersetzungen. Das Libretto beruht auf Walter Scotts (1771–1832) Roman The Die Fassung Fricsay produzierte Lucia di Lammermoor in deutscher Sprache. Die Tradition, dass Opern übersetzt und in den Landessprachen aufgeführt wurden, hielt sich seit dem 19. Jahrhundert bis weit nach den Zweiten Weltkrieg als selbstverständlicher Usus. Er hing mit der Oper als bürgerlicher, nicht mehr nur höfischer Einrichtung zusammen. Theatergänger sollten auch sprachlich mitvollziehen können, was ihnen auf der Bühne vorgesungen und -gespielt wurde – bei allen Einschränkungen, die man in puncto Textverständlichkeit bei Opern anbringen muss. Gewiss, nicht immer ist das Wort das Wichtigste; die virtuosen Passagen, in denen Lucia ihre extremen Gefühls- und Gemütszustände, das Delirium als Grenzgebiet des Lebens ausdrückt, singt Maria Stader zu Recht ohne die vorgeschlagenen Textierungen 8 Bride of Lammermoor. Die Romane des schottischen Juristen, der sich immer mehr auf die Dichtkunst verlegte, genossen im 19. Jahrhundert Popularität auch in Deutschland, Frankreich und Italien; zu den beliebtesten Epen zählte neben Ivanhoe und The Lady of the Lake auch Die Braut von Lammermoor. Der Roman, in dem es neben Machtkämpfen der schottischen Hochlandclans um eine liebende Frau geht, die durch Familienfehden und Intrigen in den Wahnsinn und in den Tod getrieben wird, wurde rasch in andere Sprachen übersetzt; schon zehn Jahre nach seiner Veröffentlichung kam mit Michele Carafas (1787–1872) Le nozze di Lammermoor die erste Oper nach diesem Stoff in Paris auf die Bühne. Im Jahresabstand folgten weitere Dramatisierungen und Vertonungen. In der öffentlichen Wirkung kann man sie mit Literatur ver f ilmungen vergleichen – und gerät damit erneut mitten in die Sprachenfrage. Denn gute Filme werden bis heute synchronisiert; Untertitel bieten nicht nur ästhetisch die zweitbeste Lösung, für Opern war ein solches Verfahren ohnehin zu aufwendig. Übersetzungen hatten an der Verbreitung von Donizettis Oper entscheidenden Anteil. Die deutsche Fassung für die Wiener Premiere 1837, zwei Jahre nach der Uraufführung in Neapel, besorgte C. E. Käßner. Seine Übertragung bildet die Grundlage fast aller Produktionen in deutscher Sprache. Sie wurde oft überarbeitet; neben stilistischen Verbesserungen entstanden die typischen Sängerrevisionen, deren Vokalfolgen besser in der Stimme liegen. Dieses sich fortzeugende Bearbeiten brachte nicht nur Versionen hervor, die sich im Opernbetrieb durchsetzten, sondern auch einen „Schlendrian der Gewohnheit“ (Franz Liszt), dem kritische Ausgaben zu Recht Einhalt geboten. Es spricht aber auch für eine lebendige, weiter wirkende Tradition. Dass Werke überwiegend in der Originalsprache gesungen werden, hat mit der bereinigenden Rückschau der authentischen Aufführungspraxis, aber auch mit der Historisierung des Mediums Oper zu tun. Bearbeitungen beschränkten sich nicht nur auf die sprachliche, sie betrafen auch die musikalische und szenische Fassung 9 der Oper. In der Praxis setzten sich für Lucia zahlreiche Kürzungen durch. Die gravierendste betrifft den dritten Akt. Hier wurde häufig die erste Szene weggelassen. In ihr setzen sich Lord Henry und Edgardo nach Lucias durch Lügen und Intrigen erzwungener Hochzeit auseinander und verabreden sich zum Duell. Fricsay übernimmt diese Kürzung wie die meisten anderen auch. Man kann sie, bei allem Respekt vor dem Original, nicht einfach als Willkür der Theaterpraxis abtun, denn sie konzentrieren die Handlung. Diese Tendenz aber verfolgte bereits Salvatore Cammerano mit seinem Libretto für Donizetti. In Scotts Roman nimmt die Schilderung geschichtlicher und politischer Hintergründe samt dazugehörigen Männer-Macht-Kämpfen breiten Raum ein. In Cammeranos Libretto werden sie zum Moment des Kampfs zwischen Liebe und Macht, dem erst Lucia (Mord aus Verzweiflung, Tod durch Wahnsinn), dann auch Edgardo (Tod durch eigene Hand) zum Opfer fällt. Die Streichung der Duell-Szene führt also die Tendenz des Librettos weiter, indem sie den Handlungsgang vereinfacht und strafft. Für eine Übertragung im Rundfunk – und dafür wurde Fricsays Aufnahme produziert – erscheint genau das geboten. Die Funkopern, die in den Zwanzigerjahren als experimentelle Form für das damals neue Medium geschrieben wurden, dauerten eine halbe bis eine Stunde. Fricsay war ein medienbewusster Künstler. Bereits bei früheren Produktionen wie der Fledermaus (audite 23.411) oder der Entführung aus dem Serail (audite 23.413) berücksichtigte er Besonderheiten des szenelosen, rein auditiven Mediums Rundfunk. Dort tat er es vor allem durch die Dialogregie in Zusammenarbeit mit Heinz Tietjen. Die Möglichkeit schied bei Lucia di Lammermoor aus, da die Oper keine gesprochenen Dialoge enthält und Tietjen als künstlerischer Partner nicht mehr in Frage kam. So griff Fricsay auf die gedrängteste Form der Oper zurück. Nur an einer Stelle wich er von diesem Prinzip ab. Am Ende des ersten Teils von Lucias Wahnsinnsarie (CD 2, Track 4) wählte er die ausführlichere Form, in der die Flöte das Echo von Lucias Koloraturen spielt – ein Nachhallen des Ichs in einem imaginären Raum, eine Aufspaltung der 10 (musikalischen) Identität. Damit wird Lucia intensiver gezeichnet. Zugleich trägt diese Passage Hörspielqualität als Simulation einer Weite, in der sich das Subjekt auflöst. Fricsays Entscheidung für die kürzeste Fassung der Oper beruht nicht nur auf Theaterbrauch, sie kam vielmehr dem Medium Radio entgegen. Mit Partituren setzte er sich sehr gründlich auseinander; Versionen eines Werkes übernahm er nicht, weil „man“ es so machte, sondern nur, wenn sie ihn überzeugten. Lucia die Lammermoor gehört zu den Opern, die ihn auf verschiedenen Stationen seines Lebens beschäftigten. Er dirigierte sie am Staatstheater Budapest (in ungarischer Sprache); mit Lucia nahm er dort am 5. März 1949 seinen Abschied, um sich auf die Berliner Aufgaben zu konzentrieren. 1956 leitete er sie in zwei grundverschiedenen Situationen: konzertant in Israel mit dem Israel Philharmonic Orchestra, dem Kammerchor Tel Aviv und Maria Stader in der Hauptrolle, szenisch an der Bayerischen Staatsoper in München (Titelrolle: Erika Köth). Mit der Aufnahme von 1953 aber legte er den Masterplan seiner Klangvorstellung von diesem Werk vor. Habakuk Traber Seit September 1961: Deutsche Oper Berlin ab 1956: Radio-Symphonie-Orchester (RSO) Berlin; seit 1993: Deutsches Symphonie-Orchester Berlin Werner Oehlmann: Berliner Opernakzente – Ferenc Fricsay und die Charlottenburger Oper 1948–1952 und 1961, in: Lutz von Pufendorf (Hrg.): Ferenc Fricsay • Retrospektive – Perspektive, Berlin 1988, S. 60 4 Dietrich Fischer-Dieskau, Von Don Carlos zu Don Giovanni, in: Friedrich Herzfeld (Hg.), Ferenc Fricsay, Berlin 1964, S. 18 1 2 3 11 Ferenc Fricsay’s radio and opera aesthetic Lucia di Lammermoor This recording of Gaetano Donizetti’s Lucia di Lammermoor was made between 22 and 28 January 1953 in the JesusChristus-Kirche in Berlin-Dahlem. It is Fricsay’s only complete, or completely preserved, recording of the opera which was premièred in Naples in 1835. In its archives, the Ferenc Fricsay Society also holds excerpts of a recording made at the Budapest State Opera in 1946, and also an incomplete live-recording of the première which Fricsay conducted at the Munich Prinzregententheater on 21 December 1956. For the recording project in January 1953 he chose, just as with his earlier opera recordings, the RIAS Symphony Orchestra and the RIAS Chamber Choir, and not the respective ensembles of the West Berlin opera house. Whereas previously this choice of ensembles had been made for purely musical reasons, this time political issues were involved too. Fricsay, who had taken on the posts of General Music Director of the Städtische Oper Berlin1 and Chief Cond uc t or of t he R I A S Sy m p hony Orchestra 2 in December 1948, asked to be freed of his duties at the Städtische Oper in June 1952. On 6 June 1952 he conducted the last performance as GMD of the opera house. The reasons which “led or forced the conductor” to take this step “have remained unclear until today” 3 . His resignation was preceded by conflicts which in essence regarded two issues: Fricsay’s authority in musical matters, particularly the choice of performers, and the balance between his two Berlin posts; at the opera house the general opinion was that he preferred the RIAS Symphony Orchestra. The fact that Heinz Tietjen, who had become Intendant of the Städtische Oper following his de-nazification in 1948, made no attempt to keep Fricsay, is telling: an ambitious artist himself in his roles of opera director and conductor, the former Generalintendant of the Preußisches Staatstheater (1927-1945) and Artistic Director of the Bayreuther Festspiele (1931-1945) at the side of Winifred Wagner, he knew how to pull the stops of institutional power. He proved this by accelerating Otto 12 Klemperer’s emigration in 1933, but also by subtly playing off high-ranking Nazi officials against each other. Decisions regarding the casting of singers and choice of guest conductors inevitably led to disagreements between the Intendant and the General Music Director; in the opera business this is one of the most reliable sources of conflict. Fricsay, whom Yehudi Menuhin called the born opera conductor due to Fricsay’s unmistakable sense of drama, was now no longer responsible for any opera house. It was only for one production that he returned to the West Berlin opera house. On 24 September 1961, six weeks after the erection of the wall in Berlin, he conducted the première with which the new opera house in the Bismarckstraße was opened. The name of the opera house was changed at the same time: from now on it was to be called – following Fricsay’s suggestion – Deutsche Oper Berlin. He conducted this new production of Don Giovanni a further six times which are considered to be milestones in Berlin’s operatic history. The performance on 14 November was his last ap- pearance in Berlin. On 16 November he conducted “his” Berlin orchestra for the last time (it had been invited by the government in Bonn to perform a Beethoven programme), and on 7 December he conducted his final concert. Thereafter he was forced to retreat from musical life – he was suffering from cancer. Ferenc Fricsay died on 20 February 1963 in a hospital in Basel. However, at the beginning of 1953 Fricsay was still at the height of his career; the events at the opera can be taken as a proof for this, rather than as a negation. He had formed the RIAS Symphony Orchestra into an ensemble performing with its own characteristic sound, inspired precision and a heightened sensitivity of style. The orchestra’s international reputation grew, amongst others thanks to tours to countries where no other German orchestra had played since the Second World War. The major crisis into which the orchestra fell in May 1953 could not yet be foreseen. The underlying reason was this: formally, the musicians were employees of the RIAS, which, being 13 to her small stature (she was 1.44m tall) she could only seldom be seen on the opera stage, although she regularly sang operatic parts in recordings or at operain-concert performances. She was Fricsay’s Lucia in the twenty concert performances he conducted in Israel in 1956. Ernst Haefliger, the Swiss tenor, was cast as Edgardo, Lucia’s lover from a family of political enemies. Fricsay had discovered Haefliger for the Salzburger Festspiele in 1949 and even won him for the ensemble of the Städtische Oper Berlin in 1952. He was often paired with Maria Stader for concerts with the RIAS Symphony Orchestra. Edgardo’s adversary and Lucia’s brother, Lord Henry Asthon (or Enrico Asthon) was sung by the baritone whose operatic career had begun with Fricsay’s first production at the Städtische Oper Berlin (Verdi, Don Carlos): Dietrich Fischer-Dieskau. The singer summarised his first, intensive collaboration with Fricsay as follows: “I wonder if my career on the stage would have taken off as quickly and in the same way if my opera début had not happened under such a lucky star and without his care- an American organisation, was financed by the US government. However, that made the orchestra in the former enemy territory the only one to be financed completely by the US government, whilst US orchestras merely received small subsidies. In order to prevent any legal action that could set a precedent, the RIAS had to make all its musicians redundant. In the end, they formed a civil law association which entered into production agreements with the radio station. Recordings such as Lucia di Lammermoor thus had a double function: as an internal reference for the radio station and an external marketing tool for potential record labels. It offers a distillation of Ferenc Fricsay’s aesthetic on several levels. Casting and Aesthetic For the production of Lucia di Lammermoor Fricsay was able to engage the singers of his preference – he chose Maria Stader for the tragic title role. Born, like Fricsay, in Budapest, but raised in Switzerland, she was his favourite soprano for Mozart interpretations, for Handel, Gluck, Haydn, and even Giuseppe Verdi’s Requiem. Due 14 be accomplished in perfect harmony by singers who agree musically and have the same breath control. The musical unanimity between Maria Stader and Ernst Haefliger is perceptible even in small details: no tempo differences can be heard in the so-called “rubati” (passages with free tempi), no overstretched or ragged ends of phrases. This convincing quality cannot be achieved by the conductor alone: it has to be carried by the singers themselves. Such a co-operative consensus also rubs off onto the orchestral players: Maria Stader’s duet with her “echo”, the solo flute, in the madness scene of the third act produces a matching image of the duet scene from act I. To gather together a homogenous sounding ensemble on the one hand, and to present the different roles as individuals on the other hand can often be an artistic balancing act. Fricsay accomplished it. It is probably a rare occurrence on opera stages to hear the closing number of the second act as balanced as here, and at the same time clearly differentiated between main and supporting parts. ful guidance.”4 With these three artists, Fricsay shared a similar sense of style, and also a desire for great precision and intensive expression; they made up part of his “ideal ensemble”, he cast them as the central roles in Lucia di Lammermoor. The alto Sieglinde Wagner sang the role of the maid Alisa; she had, like Cornelis van Dyck (Normann) been newly engaged at the opera house in the West of Berlin. Both Theodor Schlott as Raimondo, Lucia’s advisor and confidant, and Horst Wilhelm as Arturo, whom Lucia is supposed to marry for political reasons and against her own will, were experienced opera singers who completed Fricsay’s ensemble. With the RIAS recording he also demonstrated the importance of the casting of the singers with regard to the success of the entire opera project. There had been irritation amongst senior management of the Städtische Oper about the fact that he steadfastly refused to engage singers who did not quite meet his expectations. His answer as an artist came with Lucia di Lammermoor. The great scene with Lucia and Edgardo at the end of act I (CD1, tracks 11 and 12) can only 15 The version Fricsay produced his Lucia di Lammermoor in German. It had been an established tradition since the 19 th century until long after the Second World War that as a matter of course, operas were translated and performed in the language of the respective country. The underlying reason for this was that opera was now a bourgeois institution and no longer restricted to the courts. The audience were supposed to understand what was sung and played on the stage – not counting the difficulties that arise in opera with regard to understanding the text. Of course, the text is not always the most important thing; the virtuosic passages in which Lucia expresses her extreme emotional state and her frame of mind, delirium being a border area of her life, are sung by Maria Stader, quite rightly, not with the suggested text but using vowels only. Here, the music explodes into a territory that is beyond language; language is no longer able to reach the music, let alone capture it. However, where the text matters, Donizetti’s opera and Fricsay’s interpretation enable it to be understood. The conductor chose three singers for the main roles who were also renowned for their interpretations of Lieder, and therefore sensitive to the importance of language. The translation of opera texts removed from music theatre its status of exclusivity. This determination to make culture democratic was even more true for the mass medium of radio. Here, opera became accessible to those who could not afford to buy theatre tickets or who lived too far away from an opera house. It was therefore no question that the production for the radio had to be in German. Quite apart from that, the history of success of Lucia di Lammermoor throughout Europe was linked to a history of translations. The libretto is based on Walter Scott’s (1771-1832) novel The bride of Lammermoor. The novels of this Scottish lawyer, who moved more and more towards a writing career, were also popular in Germany, France and Italy during the 19 th century; amongst the most admired were Ivanhoe, The Lady of the Lake and The Bride of Lammermoor. This novel, which deals with the power struggles amongst the clans of the Scottish Highlands and a 16 loving woman, who is driven to insanity and ultimately death by family feuds and intrigue, was quickly translated into other languages; already ten years after the publication, the first opera with this subject matter (Michele Carafas’ [1787-1872] Le nozze di Lammermoor) was staged in Paris. Each year further dramatisations and musical settings followed. Its public impact can be compared with film dramatisations of literary works – again raising the question of language. For even today, good films are dubbed; subtitles are the second-best solution, not only for aesthetic reasons but also because in opera this was too elaborate a technique. Translations played a vital role in the circulation of Donizetti’s opera. The German version for the Viennese première in 1837, two years after the world-première in Naples, had been realised by C. E. Käßner. His translation forms the basis of nearly all productions in German. It has been revised many times; apart from stylistic improvements, the characteristic revisions for singers were made, making the text easier to sing. These continuous revisions not only produced versions which estab- lished themselves in the opera business, but also a “jog trot of habit” (Franz Liszt), curbed, quite rightly, by critical editions. But it also speaks for a lively and thriving tradition. The fact that nowadays operas are mostly performed in their original languages has to do with the cleansing historical view of authentic performance practice and also with the historiography of the medium of opera. Revisions were not restricted to the text; musical and scenic adjustments were also made. Numerous cuts to Lucia di Lammermoor established themselves, most notably in the third act. Here, the first scene is often omitted. Following Lucia’s wedding into which she was forced by lies and intrigue, Lord Henry and Edgardo quarrel with each other and agree to a duel. Fricsay also omits this scene, as well as following the established versions with the respective cuts. With all due respect to the original, one cannot simply discard the cuts as being arbitrary decisions of theatre practice, as they also tighten the plot. However, that view seems to have been taken by Salvatore Cammerano in his libretto for Donizetti. 17 possible to work together with Tietjen. Fricsay thus went for the most concise version of the opera. Only at one point did he diverge from this principle. At the end of the first part of Lucia’s madness aria (CD2, track 4), he chose the more elaborate version in which the flute plays the echo of Lucia’s coloraturas – an echo of the personality in an imaginary space, a splitting of (musical) identity. Lucia is thus portrayed more intensively. At the same time this passage manages to simulate expansiveness in such a dramatic manner that the subject disintegrates. Fricsay’s decision to per form the shortest version of the opera is not merely based on theatrical traditions but was a decision taken mainly in view of the radio. He studied the various scores meticulously; he would not choose a particular version of a work because “it was done that way” but because it was the most convincing for him. Lucia di Lammermoor is one of the operas which was of particular importance to him at various points in his life. He conducted it at the State Theatre in Budapest (in Hungarian); In Scott’s novel, a lot of space is dedicated to the portrayal of historical and political background as well as male power struggles. In Cammerano’s libretto they become the instant of quarrel between love and power to which Lucia (murder out of desperation, death by insanity) and then Edgardo (death by his own hand) fall victim. The omission of the duel-scene thus follows the tendency of the libretto, simplifying and tightening the plot. For a radio production – which was the aim of Fricsay’s recording – this seems ideal. The radio operas of the 1920s, an experimental form created for the new medium, lasted thirty minutes to an hour. Fricsay was a media-aware artist. Already with his earlier productions such as Die Fledermaus (audite 23.411) and Die Entführung aus dem Serail (audite 23.413) he allowed for the peculiarities of the sceneless, purely auditory medium of the radio. With the earlier productions he achieved this mainly thanks to the dialogues directed by Heinz Tietjen. This was not a possibility in the case of Lucia di Lammermoor as the opera does not contain any spoken dialogues and it was no longer 18 he made his farewell there with Lucia di Lammermoor on 5 March 1949 in order to move his attentions to Berlin. In 1956 he conducted the opera in two completely different situations: in concert in Israel with the Israel Philharmonic Orchestra, the Tel Aviv Chamber Choir and Maria Stader in the title role, and staged at the Bayerische Staatsoper in Munich (title role: Erika Köth). With his recording of 1953, however, he presented his ideal audio version of the work. Habakuk Traber Translated by Viola Scheffel “Deutsche Oper Berlin” since September 1961 “Radio-Symphonie-Orchester” (RSO) since 1956; “Deutsches Symphonie-Orchester Berlin” since 1993 3 Werner Oehlmann: “Berliner Opernakzente – Ferenc Fricsay und die Charlottenburger Oper 1948-1952 und 1961“, in: Lutz von Pufendorf (ed): Ferenc Fricsay • Retrospektive – Perspektive, Berlin 1988, p. 60 4 Dietrich Fischer-Dieskau: “Von Don Carlos zu Don Giovanni”, in: Friedrich Herzfeld (ed): Ferenc Fricsay, Berlin 1964, p. 18 1 2 19 LUCIA DI LAMMERMOOR Akt I CD I ① ② ③ ④ ⑤ ⑥ ⑦ ⑧ ⑨ ⑩ ⑪ ⑫ Nr. 1 Introduction und Chor „Auf, durchstreifet die nahen Gestade“ Nr. 2 Scene und Cavatine „Du bist so traurig“ „Wuth, heissen Durst nach Rache“ „Von dem langen Irren müde“ Nr. 3a Scene und Recitativ „Noch ist er ferne!“ Nr. 3b Cavatine b „Rings herrschte nächtlich Schweigen“ Nr. 4 Recitativ und Duett „Ich hör ihn kommen“ „Auf des Grabes düsterm Hügel“ „Es wird auf Zephirs Schwingen“ Akt II ⑬ Nr. 5a Scene und Recitativ ⑭ ⑮ ⑯ ⑰ ⑱ ⑲ ⑳ „Lucia wird bald vor Dir erscheinen“ Nr. 5b Duett „Diese Blässe Deiner Wangen“ „In Jammer und Tränen“ „Wirst Du länger widerstreben“ Nr. 7 Chor und Cavatine „Dir tönet lauter Jubelgesang“ „Dein Stern war nur auf kurze Zeit“ Nr. 8 Scene und Finale „Wo ist Lucia?“ Sextett „Ha, wer hemmt den Ruf nach Rache“ Gesamtspielzeit CD 1: Akt III ① Nr. 11 Chor „Freudigen Jubelchor“ CD II audite 23.412 ② ③ ④ ⑤ ⑥ ⑦ ⑧ Nr. 12 Scene und Chor „Lasst diese Jubeltöne schweigen!“ Nr. 13 Scene und Arie „Gleich einem Schatten“ „Nach trüben Tagen“ „Oh weih‘ mir eine Thräne“ Nr. 14 Finale „Ihr Gräber meinr Ahnen“ „Dies Herz, das heiss und treu geliebt“ „Ja, zu Dir, verklärter Engel“ Gesamtspielzeit CD 1I: 2:46 1:39 2:32 2:10 4:16 3:22 1:29 0:16 6:46 2:28 5:42 3:35 1:31 2:30 3:51 4:17 1:46 1:24 2:19 3:55 7:59 66:31 1:44 4:58 6:54 4:08 3:32 4:43 8:24 4:46 39:10