Linda Gottschalk
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Linda Gottschalk
Linda Gottschalk Helmholtz-Gymnasium Hilden, Zitat II: Trotzdem jede Minute daran erinnert, dass wir im Kriege und im Feindesland sind, bin ich immer noch der Ansicht, dass die dritte Kantische Antinomie wichtiger ist, als dieser ganze Weltkrieg, und dass Krieg zur Philosophie sich verhält wie Sinnlichkeit zur Vernunft. („Aus dem Feldpost-Brief eines kriegsfreiwilligen Kanoniers und Studenten der Philosophie“ (Hellmuth Falkenberg) an seinen Philosophieprofessor H. Rickert 1914. Der Brief erschien 1915 in „Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur“; Abdruck in SZ, 12./13.Juli 2003.) Wundern muss man sich schon über diesen Hellmuth Falkenberg, der aus dem „Kriege“ Briefe in die Heimat schreibt. Was will ein junger, anscheinend intelligenter (er ist Philosophiestudent!) Mann, der sein gesamtes Leben, Träume und Zukunftspläne noch vor sich hat, im Krieg, und das aus freiem Willen? Und wie kommt er dazu, dort – auf dem Schlachtfeld unter Kanonenund Gewehrhagel – an Kant zu denken, an Vernunft und Philosophie? Sagt er nicht selbst, dass Krieg, die pure aggressiv ausagierte Sinnlichkeit, diesen geistigen Disziplinen und Prinzipien diametral entgegengesetzt ist? Wie kann man zugleich einen rationalen, humanistischen und toleranten Standpunkt propagieren, während man andererseits dem irrationalen und nationalistischen Ruf des Schwertes folgt? Viele Fragen lassen sich hier aufwerfen, aber im Zentrum des Zitats stehen alte, klassische philosophische Streitfragen, um die nicht minder Krieg geführt wurde als um politische, ökonomische oder geografische Vormachtstellungen. Ist alles in der Welt bedingt durch Ereigniskausalität und Naturnotwendigkeit oder gibt es eine höhere Freiheit? Verfügt der Mensch über einen freien Willen, der ihn zu wohlbegründeten Entscheidungen und zu selektiver Selbstbestimmung befähigt, oder ist er eine affekt- und instinktgesteuerte Maschine, die uns durch ihre speziell gearteten inneren Strukturen in unserem Verhalten determiniert, wie einst La Mettrie provokant behauptete und womit heute Neurowissenschaftler wie Gerhard Roth medienwirksam kokettieren? Das obige Zitat suggeriert, dass Vernunft und Philosophie in Falkenbergs Überzeugungen die Priorität gegenüber ihren Gegensätzen Sinnlichkeit und Krieg genießen. Als Philosophiestudent schätzt Falkenberg das Geistige mehr als das Materielle. Zwar fühlt er sich wohl aufgrund einer patriotischen Gesinnung dazu verpflichtet, für Deutschland in den Krieg zu ziehen, aber es ist vermutlich nicht sein eigentlich angestammtes Metier und für ihn auch kein dauerhaft akzeptabler Lebens- und Handlungszustand eines Menschen. Falkenberg scheint prinzipiell von einer kantischen aufklärerischen Anthropologie geprägt zu sein, die einen triebgesteuerten Hobbesschen Wolf ohne Vernunft und Moral und somit auch den Krieg ablehnt. Was heißt es vor diesem ideologischen Hintergrund, dennoch in den Krieg zu ziehen? Hier kann man auf einer abstrakteren und grundsätzlicheren Ebene die Frage nach der Stellung des Intellektuellen in der Gesellschaft bzw. zur Gesellschaft aufwerfen. Wie kann man als primär denkender Mensch, der geistige Inhalte produziert und repräsentiert, gesellschaftlich und politisch wirksam aktiv werden? Und das ohne seine eigenen Prinzipien (z.B. Gewaltlosigkeit, Toleranz) zu verraten? Gilt, wenn ich die vermeintlich richtige Ideologie vertrete, das machiavellistische Motto: Der Zweck heiligt die Mittel? Kant hätte da sicherlich etwas einzuwenden. Wir, die westliche Welt, die wir die Aufklärung mitgemacht und zu Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gefunden haben (oder dazu erzogen wurden), sind durch die humanistisch-christliche Prägung auch von diesen humanistischen Prinzipien überzeugt. Während in Falkenbergs Situation anscheinend eine (in der Hauptsache) patriotische Motivation vorliegt, zeigt sich z.B. bei der internationalen Mission „Enduring freedom“ in Afghanistan der Wunsch nach Verbreitung kultureller und staatsphilosophischer Werte, die gewöhnlich mit Vernunft und Aufklärung verbunden werden. Zumeist geschieht das mit wenig Erfolg. Denn auf dem nicht-westlichen Weltmarkt für geistige Güter werden Demokratie und Menschenrechte nicht selten nur zu Staatsbesuchen zeitweise wieder ins Schaufenster der Weltöffentlichkeit gerückt. Würde Falkenberg in seinem philosophischen Eifer vielleicht ähnlich verfahren und Vernunft durch Krieg verbreiten wollen? Sprechen aus seinem Satz nicht große Verehrung und eine fundamentale Überzeugung? Ein missionarischer Auftrag lässt sich ausgehend vom Zitat allerdings nicht erkennen, vielmehr geht es ihm hier um eine grundsätzliche Klärung, Gegenüberstellung und Hierarchisierung ideeller und kriegerischer Auseinandersetzungen. Wie aber kann man sich diesen inneren ideologischen Kampf zweier feindlicher Prinzipien (Krieg/Sinnlichkeit versus Philosophie/Vernunft) in einem menschlichen Bewusstsein vorstellen, den anscheinend auch Hellmuth Falkenberg mit sich ausgefochten haben muss? Veranschaulichend möchte ich für meine folgenden Ausführungen den Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann heranziehen. Protagonist und Falkenberg-Äquivalent ist hier der 26-jährige Ingenieurslehrling Hans Castorp, der seinen Vetter im Lungensanatorium „Berghof“ in Davos besucht. Aus den geplanten drei Wochen des Aufenthaltes „da oben“ werden ganze sieben Jahre bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges. Am Ende kriecht der junge Castorp in Schlamm und Blut auf dem Schlachtfeld herum. Sein Fortleben ist ungewiss, da der Erzähler sich von ihm abwendet. Wie konnte es soweit kommen? Damit sind wir wieder bei der Ausgangsfragestellung angelangt. Nicht Studiosus philosophiae Falkenberg befindet sich nun im Krieg, sondern ExKurgast Castorp. Welche großen Autoritäten haben auf seine junge unbedarfte und unschuldige Seele eingewirkt? Was sind seine Ideale, wer ist sein Meister? Zum einen trifft er gleich zu Beginn den italienischen Literaten und Humanisten Lodovico Settembrini, der – will man den Vergleich wagen – an die Stelle Kants treten könnte, da er Castorp Demokratie, Freiheit und Fortschritt durch rationale politische Aktivität ans Herz legt. Er verkörpert das Prinzip der Vernunft und der Aufklärung verbunden mit einer Liebe zu Kunst und Literatur. Sein Gegenspieler und zweiter Erzieher Castorps ist der Jesuit Leo Naphta. Er ist eine Art ideologischer Schmelztiegel, der allerlei totalitäre und zu Fanatismus führende Doktrinen in sich vereint. Zunächst zeigt sich dies in seinen religiösen Überzeugungen (eine Mischung aus Quietismus, buddhistischer Leidensphilosophie und Opus Dei) und der Wertschätzung der Askese, wozu vor allem auch die Abtötung der Sinnlichkeit („Fleischeslust“) zählt. Generell steht er für einen religiösen Fatalismus, der ein Eingreifen in den „göttlichen Plan“ des Weltgeschehens verbietet und aufgrund dessen alles als gerechtes Schicksal und zwangsläufige Heimsuchung, Aufgabe oder Prüfung hingenommen und begrüßt wird. Settembrini und Naphta repräsentieren in gewisser Weise die zwei Seiten der 3.Antinomie der reinen Vernunft und die Konsequenzen der jeweiligen Einstellung. Der Humanist glaubt an die Freiheit des Menschen und fordert deshalb aktive Einflussnahme. Der Jesuit leugnet die Freiheit und fordert deshalb passive Erduldung. Diese zwei Widersacher kämpfen nun also um die Hegemonie in Hans Castorps Hirn, mal überzeugt der eine, mal der andere. Castorp ist jung, unentschlossen, naiv, aber neugierig. „Ich bin ja Zivilist durch und durch“ und „Ich bin ein Kind des Friedens“ sagt Castorp über sich selbst und betont ausdrücklich sein politisches Unwissen sowie Desinteresse. Warum kämpft er dann als Soldat im 1. Weltkrieg? Die Inhalte der erbitterten Wortgefechte zwischen Settembrini und Naphta sind vor allem Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft und Krieg. Settembrini spricht sich jeweils deutlich für erstere drei Dinge aus und lehnt Letzteres prinzipiell ab, wohingegen sein Gegenspieler die Wirksamkeit und Existenz von Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft leugnet oder zumindest in Frage stellt und sich für den Krieg ausspricht, da er immerhin besser sei als diese „Verweichlichung“ des Menschengeschlechts im bürgerlichen Staat, der nur nach Sicherheit, Wohlstand und Besitz trachte. Ihn leitet eine irrationale Lust am Abenteuer, am Archaischen und Chaos. Eine solche Strategie verfolgt er auch in seinen Argumentationsgängen. Diese populistische Demagogie dagegen erbost Settembrini als Aufklärer ungemein und er fürchtet um das „Seelenheil“ seines Schützlings Castorp. In seiner Entrüstung und seinem Ekel beleidigt er Naphta derart, dass dieser ihn zum Duell fordert. Auch wenn Settembrini generell friedfertig erscheint und sich für ein Weltbürgertum ausspricht, kann man kriegerische Tendenzen auch in seinem Charakter nicht leugnen. Geht es um einen Krieg für die Freiheit, für Vernunft und Demokratie, ist er bereit ihn zu führen. Und anscheinend ebenfalls, wenn es um seine Ehre, ihn als Person geht und die Werte, die er verkörpert. Er ist buchstäblich dazu bereit, seinen Körper dafür hinzugeben. Seine Aufopferungsbereitschaft ist durch sein humanistisches, pazifistisches, rationalistisches Weltbild motiviert. Beim Duell lehnt er es ab, auf Naphta zu schießen, stattdessen feuert er seinen einzigen Schuss ins Leere. Sein Duellant erschießt sich angesichts dieser Verweigerungshaltung selbst. Settembrini verrät also seine Ideale nicht und der „Fanatiker“ mit den – wohl auch aus unserer Sicht – „falschen“ Überzeugungen richtet sich selbst, da er und seine Strategie versagt haben. Ist Thomas Manns Roman somit ein Lehrstück zum Triumphe der Menschlichkeit, der Freiheit, Demokratie und Vernunft? Nein, denn am Ende sind dort immer noch dieser jugendliche Grünschnabel Castorp und dieses von der „großen Gereiztheit“ übermannte Europa, die in den Krieg ziehen, um all das geistige Gedankengut jahrelanger philosophischer Anstrengungen realiter ad absurdum zu führen, die Menschen auf seine Sinnlichkeit zu reduzieren, sie wie Tiere aufeinander zu hetzen und abzuschlachten, militärische Kampfmaschinen ohne freien Willen abgerichtet auf Befehle der Obrigkeit und des Selbsterhaltungstriebes. Und auch Falkenberg befindet sich in diesem Krieg. Hat Settembrini, hat Kant, hat die menschliche Vernunft versagt? Bei Hans Castorp können wir uns nicht ganz sicher sein, denn über seine endgültige geistige Verfassung und sein inneres Erleben des Krieges erfahren wir nichts. Bei Hellmuth Falkenberg hingegen steht außer Zweifel, dass er an Vernunft und Philosophie festhält. Trotz, ja gerade aufgrund des gegenwärtigen Krieges. Falkenberg ist als Freiwilliger in den Krieg gezogen – aufgrund einer für ihn hinreichend begründeten Entscheidung –, aber in ihm haben dennoch Settembrinis Werte die Oberhand. Ein bisschen gleicht Hellmuth Falkenberg deshalb einem Camusschen Held. Denn beide sind nicht blind für sich und ihr Tun, sie sind sich dessen bewusst. Wie Camus vorgeführt hat, kann man in Würde und im Bewusstsein der eigenen Freiheit die Erwartungen erfüllen. Das Wichtige aber ist der Trotz. Es ist das empörte „Trotzdem“, mit dem Falkenberg seine Äußerung beginnt. Hellmuth Falkenbergs Geist lehnt sich hier auf gegen seine momentane Existenzsituation, gegen die Existenz des Menschen auf Erden an sich, solange ihn diese bloß auf seine Sinnlichkeit reduziert. Der Krieg ist für den Philosophiestudenten als geistig tätigen Menschen kein akzeptabler und ausreichender Zustand; und dies nicht nur für ihn persönlich, sondern ebenfalls nicht für irgendein menschliches Wesen. Der junge Kantianer gibt sich nicht zufrieden mit einem Menschenbild, das nur das Naturwesen mit kriegerischen Instinkten und sinnlichen Gelüsten des Typus homo homini lupus kennt. Er glaubt an eine höhere Befähigung des Menschen aufgrund seiner Vernunft. Er fordert allerdings nicht nur die Anerkennung und Gleichberechtigung des Geistes gegenüber der Sinnlichkeit, sondern explizit dessen Superiorität und Souveränität („wichtiger […] als“). Dies entspricht auch seiner vermutlichen Prägung durch Kants Anthropologie, die aufgrund der Priorität der Welt an sich vor der der Erscheinungen auch von einer Übergeordnetheit der Intelligenz ausgeht, die bis zur Vorstellung eines „Reichs der Zwecke“ führt. Denn die Natur bedeutet Heteronomie. Nicht umsonst erwähnt Falkenberg die dritte Kantische Antinomie. Es ist die uralte, ewig aktuelle Frage, ob alles in der Welt dem Kausalgesetz unterworfen ist oder ob es doch transzendentale Freiheit geben kann. Wie Kant vorgeführt hat, hat die menschliche Vernunft keinerlei Schwierigkeiten, beide Positionen mit Argumenten zu untermauern und als plausibel anzuerkennen. Plädiert sie für eine kosmische Kausalität, verliert sich diese in einem infiniten Regress auf der Suche nach einer ersten Ursache. Setzt man an ihre Stelle die Freiheit, so ist unergründlich, wie diese weitere Ereignisse zur Folge haben kann, da es kein notwendiges Wirkungsgefüge gibt. Der menschliche Geist steht vor einem dialektischen Dilemma. Wir können uns nie völlig sicher sein, frei zu entscheiden, dafür sind die Einflussmöglichkeiten zu vielfältig. Aber dennoch erleben wir uns subjektiv und situativ als frei, ohne einen Widerspruch darin zusehen, die Gründe für unsere Entscheidung nennen zu können. Wir erleben uns als selbstbestimmte vernünftige Wesen in einer Welt, die wir durch unser Handeln bewusst verändern können. Wie Kant betont, geht es um das Handeln unter der Idee der Freiheit. Hellmuth Falkenberg schlägt sich in diesem Sinne auf die Seite derer, die die Welt der Vernunft höher bewerten. Sein Protest gegen die Herrschaft der Natur ist jedoch nicht nur individueller Art. In Anlehnung an den berühmten Ausspruch Descartes’ prägte Camus für den Revoltierenden den Satz: „Ich empöre mich, also sind wir.“ Indem er die Vernunft als allen Menschen gemeinsam entdeckt und als Ursprung der menschlichen Würde erkannt hat, tritt er als Soldat für die gesamte Menschheit ein. Der Krieg, in dem Hellmuth Falkenberg kämpft, kann nur zustande kommen, wenn das Sinnliche die Oberhand über den Menschen, ja ganze Nationen gewinnt. Sie verabschieden sich von Vernunftüberlegungen und lassen sich von blutrünstigen und rachsüchtigen Instinkten leiten, die sie zu hungrigen Wölfen degradieren. Am Ende ist meist nicht nur der Geist zerstört, sondern auch der Körper. Hellmuth Falkenberg versucht sich dagegen die geistige Freiheit auch im Zustand völliger physischer Unfreiheit (während des Kriegsgeschehens „im Feindesland“) zu bewahren. Der Gedanke an Vernunft und Philosophie stiftet Hoffnung, Sinn und Kraft, weiterzumachen, am Leben zu bleiben, den Stein im Rollen zu halten. Mit diesem Gedanken ist nicht nur die Idee der Freiheit verbunden, sondern eben auch das Bewusstsein und die empörte Überzeugtheit, mehr zu sein, nämlich ein Intelligenzwesen, das seine Situation überblicken und autonom gestalten kann. Auch wenn jegliche Erfahrung mich lehren will, dass ich ein heteronomes Wesen bin, so kann ich nicht anders als trotzdem weiter an die Freiheit zu glauben. Der Tod der universalen und individuellen Freiheit bedeutet den gleichzeitigen Tod von Zivilisation und Individuum, da dieses sich nicht als mit sich selbst und seinen Handlungen identisch empfinden kann. Wir können theoretische Überlegungen dahingehend anstellen, dass alles zwangsläufig geschieht, aber praktisch unter dieser Idee zu leben, ist eine Unmöglichkeit, solange man den Anspruch hat, ein Mensch zu sein.