Alfred Brendel über die Filmschau

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Alfred Brendel über die Filmschau
Zwischen Grauen und Gelächter
Von Alfred Brendel
Die ersten Filme, die ich als kleiner Junge sah, wurden zu Hause in Acht-Millimeter-Kopien auf eine kleine
Leinwand projiziert. Es waren Kurzfilme von Charlie Chaplin, Harold Lloyd und Buster Keaton. Etwas
später verbrachte ich meine Wochenenden ein paar Jahre lang in einem Kino, weil mein Vater Kinodirektor
war. Hans Albers flog als Münchhausen durch die Luft, Otto Gebühr meditierte als „Alter Fritz“ auf dem
Schlachtfeld, und Hans Holt lag als Mozart auf dem Sterbebett – wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht,
stammelte er mit letzter Kraft: “Die Posaunen! Wo sind die Posaunen?“. In einem Operettenfilm der 30er
Jahre betritt ein neuer Gast ein Hotel und stellt sich als Lachforscher vor. („Lachsforscher?“, sagt die Dame
am Empfang?, „Nein, Lachforscher“).
Auf der Grenzlinie des Grotesken zum Makabren hat sich in den Künsten des 20. Jahrhunderts Wesentliches
ereignet. Die in dieser Serie versammelten Filme stehen jenseits des bürgerlich Kodierten, jenseits des von
Hollywood erfundenen amerikanischen Traums, jenseits von, oder in Opposition zu, Illusionen und
Ideologien. Sie sind subversiv, denn sie stellen Herkömmliches in Frage. Sie zeigen, daß die Welt absurd ist,
und finden diese Absurdität nach Kräften komisch. Sie wollen nicht darstellen, wie die Welt sein könnte oder
sein sollte, sondern – so scheint es wenigstens mir – wie sie ist.
Der Radius dieser Filme erstreckt sich vom Gelächter bis zum Grauen. Die Zeitgenossenschaft mit Dada und
Surrealismus ist, von Buster Keaton bis Švankmajer, unschwer festzustellen. Wahrheiten des Traums werden
in die Realität geholt. Doch ist der eine, genuin surrealistische Film hier wohl Le Fantôme de la Liberté, den
der große Buñuel offenbar selbst besonders schätzte.
Meine Auswahl sieht von Filmen ab, die berühmt, paradigmatisch, klassisch geworden sind. So fehlen aus
einer Reihe von Meisterwerken, die in meiner Bewunderung lebendig geblieben sind, Chaplins City Lights
oder Resnais’ L'année dernière à Marienbad. Dagegen findet Kühnes aus England hier seinen Platz: Karel
Reisz’ Morgan: A Suitable Case for Treatment und Lindsay Andersons If sind auf dem europäischen
Kontinent kaum wahrgenommen worden. Auf der anderen Seite hat Amerika Woody Allens vielleicht
hinreißendsten Film Zelig mit Nichtachtung gestraft. Selbstironie scheint nicht das stärkste Attribut dieser
Weltmacht zu sein.
Es gab eine Zeit, da man ein Kino mit heilen Ohren verlassen konnte, eine Zeit, in der Vulgarität und Gewalt
nicht die Nachfrage beherrschten und das Wort „Sex“ noch nicht Liebe ersetzte. Umso stärker ist die
Provokation dieser Filme geblieben. In Jeux interdits sind es Kinder, die bis in die Blasphemie vorstoßen, bei
Erice und Saura gar die Augen eines kleinen Mädchens, die uns fesseln, wie es die Nahaufnahme eines
erwachsenen Stars nicht vermöchte. Luis Malle führt in „Le souffle au coeur“ mit entwaffnender Grazie in
die Region des Verbotenen. Und Pabsts „Dreigroschenoper“, den die Brecht-Erben gesperrt hatten, ist nun
wieder vorhanden – als eine strahlendes Dokument Brecht-Weill’schen Theaters mit Carola Neher an der
Spitze der (fast lückenlosen) Besetzung der Uraufführung, zugleich jedoch als Beweis für Pabsts filmisches
Ingenium, das auch den neuen, grandiosen Schluß beisteuerte.
Tod Brownings Freaks und Marco Ferreris La grande bouffe demonstrieren die schwärzeste Spielart des
Grotesken. „Mit Entsetzen Scherz treiben“ ist eine Wendung aus Schillers „Glocke“, die sich selbständig
gemacht hat. Die Frage ist, wie man sich dazu stellt, und ob sie hier überhaupt zutrifft. Darf Makabres nicht
manchmal komisch sein? In den guten Aufführungen des Londoner Theaters gibt es selbst in Lears Delirium
noch komische Momente. Und die Sicht der Weimarer Klassiker, für die die griechische Skulptur das Maß
der Schönheit war, ist nicht mehr die unsere.
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