TOO BIG - Maik Schlüter

Transcrição

TOO BIG - Maik Schlüter
plaza shows
TOO BIG
Thomas Moecker / Carsten Tabel
Ein Projekt der
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Herausgeber
Commerzbank AG
GM-C Corporate Responsibility
60261 Frankfurt am Main
[email protected]
Redaktion
Hannes Glock (Kurator)
Martina Möller (Lektorat)
Koordination
Annette Hoffmann
Texte
Maik Schlüter
Carsten Tabel
Titelbild
Thomas Moecker „Balkon"
Copyright Bildmotive
Thomas Moecker
Carsten Tabel
Gestaltungskonzept
MetaDesign AG
Gestaltung
Heike Andersen
plaza shows
TOO BIG
Thomas Moecker /Carsten Tabel
19. Juni – 27. August 2013
Commerzbank-Hochhaus
Kaiserplatz, 60311 Frankfurt am Main
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plaza shows
too big – thomas moecker / carsten tabel
thomas moecker „monument # 1“, modellansicht (holz, acrylfarbe, wachs, 210 x 180 x 100 cm, 2013)
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TOO BIG
Einführung von Maik Schlüter
Denkmäler und Monumente repräsentieren Geschichte, Erinnerung
und Mythen einer spezifischen Kultur. Krieg, Sieg, Befreiung oder
Gründungsmythen sind häufig ihre Themen. Säulen, Sockel, Tore,
Obelisken, Ornamente, Reliefs, Inschriften, Kuben oder Quader stehen
für die festgefügte Ästhetik einer bürgerlich-klassischen Architektur,
die im Gedenken und Repräsentieren eine ständige Selbstvergewisserung und Bestätigung sucht. Thomas Moecker greift in seinen
Arbeiten diese Formensprache auf und zeigt das Changieren zwischen
Funktion und Fetisch. Gerade die Abstraktion, die die scheinbare
Freiheit der Kunst als zweckfreie und wohlfeile Ästhetik darstellen
soll, wird von ihm hinterfragt: Material und Bearbeitung, Status und
Standort sind niemals zufällig oder absichtslos. Von den futuristischen
Entwürfen eines Wladimir Tatlin über die anmaßende pseudoantike
Bauweise der Nazizeit bis hin zu der gegenwärtigen Formenvielfalt
der Kunst im öffentlichen Raum oder den Notwendigkeiten einer
Gedenkkultur spielen Monumente und Denkmäler beständig eine
Rolle im öffentlichen Diskurs. Thomas Moecker verweist auf die utopische Kraft eines unfertigen und unspezifischen Vokabulars: Seine
Miniaturmonumente sind nichts und niemandem gewidmet. Gelten
aber vielleicht jedem und allem.
Carsten Tabel benutzt Materialien des Alltags: Fliesen, Matratzen,
Rohre, Kohlen, Gips, Bänder, Sessel oder Stoffe. Und stellt ebenfalls
die Frage nach den repräsentativen und funktionalen Qualitäten der
Kunst. Viel zu oft wurde der Alltag zur Kunst erhoben und die realen
Widersprüche und Schmerzen der Existenz auf diesem Wege für das
Museum ästhetisiert. Meist als Vorwand für eine gültige Ignoranz
gegenüber den Fakten der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Carsten
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too big – thomas moecker / carsten tabel
Tabel entzieht sich den gängigen Kategorien von Kunst und Leben: In
den Fugen seiner Kachelwände wird der Farbverlauf wie auf einem
Mark-Rothko-Gemälde zelebriert. Die Kunst findet als ästhetische
Fiktion statt, denn Kachelwände und Fugendichtungen sind das
Material der Hobbybastler und der Erbauer von Einfamilienhäusern.
Ästhetik, Revolution und Utopie sind damit nicht länger das Privileg
einer Elite: In jedem Keller lässt sich ein formaler Umbruch planen.
Carsten Tabel kachelt, malt, isoliert, verspachtelt, installiert und weist
den Aktionismus, der in den Baumärkten der Republik propagiert
wird, als Sackgasse der Ablenkung aus. Erst in der Zweckentfremdung bekommen diese Dinge einen Sinn: Sie werden nicht zu Kunst,
sondern zu Leben.
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carsten tabel „easy“ (installation, mixed media, 140 x 220 x 300 cm, 2013), foto: uwe walter
video „comfortably numb“ (loop 8 min., 2013)
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too big – thomas moecker / carsten tabel
thomas moecker „monument # 2“, modellansicht (holz, acrylfarbe, wachs, 280 x 157 x 130 cm, 2013)
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Die Mittel zum Zweck
Text zur Ausstellung von Maik Schlüter, 2013
Konkrete Taten und abstrakte Begriffe
Was ist eine konkrete Bedrohung? Ein Geschehen, das im Maßstab
1 : 1 begriffen werden kann? Ein Vorgang, der sich logisch herleiten
lässt? Eine vorhersehbare und damit kalkulierbare Gefahr? Die Welt
ist ein unsicherer Ort. Der Katalog zur Kategorisierung möglicher
Gefahren und deren Abwehr wird beständig fortgeschrieben. Immer
wieder werden Gemeinschaften oder Gesellschaften, Gruppen und
Individuen durch unterschiedliche Szenarien in ihrer Existenz bedroht.
Je konkreter eine Gefahr benannt werden kann, desto schneller und
gezielter werden Maßnahmen zur Prävention oder Verteidigung ergriffen. Voraussetzung für ein zielgerichtetes und effektives Handeln
ist die eindeutige Identifizierung eines Gegners. Täter und Opfer
werden häufig gleichermaßen exponiert. Im Sinne einer formal-bürokratischen Analyse und Bewertung einer Tat stehen sich die Protagonisten auf dem Feld einer abstrakt formulierten Rechtsgrundlage
gegenüber. Oft divergieren Rechtsnormen und Gefühle, Paragraphen
und Bedürfnisse, tatsächliches Geschehen und Aussagen. Ein unlösbares Problem, das immer dann auftritt, wenn sich individuelles
Rechtsempfinden spiegeln und legitimieren muss in einem allgemeinen Interesse einer Gemeinschaft oder Gesellschaft. Und in übergeordneten Begriffen von Moral, Ethik und Recht.
Reiz und Reaktion
In Gefahrensituationen ist das Reaktionsschema einzelner Akteure
instinktiv und folgt einer situativen Logik: Die Protagonisten verfallen
auf Angriff oder Flucht oder stellen sich tot. Für die gesellschaftliche
Dimension einer Gefahr gibt es dagegen eingeübte Abläufe, die Panik,
Eskalation und weitere Schäden verhindern sollen. Die Bedrohung
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too big – thomas moecker / carsten tabel
wird benannt und entsprechende Maßnahmen werden ergriffen. Im
Spannungsfeld von individueller Reaktion und organisierter Prävention und Restriktion lässt sich der Grad eines zivilgesellschaftlichen
Status erkennen. Da die Bedürfnislagen der Akteure häufig nicht
kongruent sind, weil scheinbar andere Interessen hinter den jeweiligen Handlungen stehen, die obendrein verdrängt, verschleiert oder
verschwiegen werden, kommt es zu vielen Konflikten: Anlässe und
Maßnahmen werden unterschiedlich interpretiert. Im Radius der
eigenen Wahrnehmung erscheint vieles angemessen oder unausweichlich, was andere als Anmaßung oder Bedrohung erleben. Immer
wieder werden daher vermeintlich renitente Mitglieder ermahnt, sich
zu fügen, genauso wie die offiziellen Stellen als abgehoben, korrupt
oder gleichgültig wahrgenommen werden. Reiz-Reaktion-Schemata
werden politisiert, manipuliert und instrumentalisiert. Freiheit wird zu
einem Faktor eines spezifischen Machtverhältnisses.
Risiko und Haftung
Je vielschichtiger die Gesellschaft, je ausdifferenzierter der individuelle
Handlungsrahmen, desto komplexer und damit abstrakter gerät die
Organisation. Denn die Vielzahl möglicher Verhaltensweisen und
aktiver Individuen erzeugt auch eine Unübersichtlichkeit der Gesetze
und Spielräume. Reglements und Verabredungen können jederzeit
zum Spielball einer sich ändernden Interessenlage werden. Kulminationspunkt einer solchen Logik sind sich widersprechende Gesetze:
Moralische Normen werden damit zum Nullsummenspiel. Radikale
Reaktionen wie Ausgangssperren, Notstandsgesetze, Militärtribunale
oder die Identifikation von Kombattanten, Eindringlingen und anderen
als aussätzig definierten Personen zeigen, wie schnell ein neuer
Handlungsrahmen definiert werden kann. Eben noch gefeierte Vertreter der öffentlichen Ordnung werden dann zu verdächtigen Subjekten
und akzeptierte oder sogar honorierte Verhaltensweisen gelten nun
als verwerflich. Die Abstraktion tatsächlicher Verhaltensweisen und
notwendiger Regulierungen der öffentlichen Ordnung durch eine
Übersetzung in Begriffe ist letztlich Mittel zum Zweck: die Wirklichkeit zu benennen, zu durchdringen oder zu beherrschen. Aber auch
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die Fortentwicklung der Gesetze und der Werteskala ist ein entscheidender Faktor. Rudimentäre Gefahrenquellen, denen die Menschen
unmittelbar und von Angesicht zu Angesicht ausgesetzt waren, sind
längst ersetzt worden durch nicht sichtbare und nicht nachvollziehbare
Bedrohungen. Extremvarianten dieser bedrohlichen Prozesse sind die
Konsequenzen, die aus spezifischen Entscheidungen der Atompolitik,
der Nahrungsmittelindustrie oder aus dem globalen Finanzmarkt
erwachsen. Sie bilden neben anderen Bereichen die Grundlage des
gesellschaftlichen Lebens, sind kaum individuell beeinflussbar und
verteilen Risiko und Haftung auf alle Mitglieder der Gesellschaft.
Raum und Schwerkraft
Unbeherrschbare Prozesse gibt es auf allen Ebenen. Alles Verstehen
ist relativ. Medizin, Astronomie, Mathematik, Rechtsprechung, Ästhetik, Soziologie oder Ökonomie: Kein Feld ist ausgenommen, wenn es
darum geht, den Abgrund zwischen Angst und Erklärung, Rettung
und Verfall, Licht und Dunkel, Sein und Nichts plausibel zu überbrücken. Letztlich sind alle Institutionen und Formate mit einer gültigen
Erklärung überfordert. Das heißt nicht, dass irgendjemand heraustreten
könnte aus dem Kreis, um für das eigene Handeln Verantwortung zu
übernehmen. Relativität gibt es nur als abstrakte Größe. Konkret ist
alles, was von Angesicht zu Angesicht verhandelt wird. Dazu gehören
die Therapien der Medizin genauso wie die Spekulationen der Banker,
die Kapriolen der höheren Mathematik oder die Manifeste der Kunst,
die frivolen Auftritte der Lügner und die Kämpfe der Idealisten. Die
gesellschaftlichen Abläufe gleichen einem Stoffwechselprozess, der
alle Formen der materiellen Substanzen transformiert und nutzt, bis
schließlich Ausscheidung und Energiegewinn in optimalem Verhältnis
zueinander stehen. Selbst wenn die Phantasie, das freie Vokabular der
individuellen Schöpfung und die Äußerungen der Kunst angeführt
werden: Der Grund, auf dem gehandelt, gekämpft, geliebt, verworfen,
zerstört und wieder aufgebaut wird, ist immer durch die Schwerkraft
definiert. Der Raum ist klar umrissen. Sicherheit ist eine Verhandlungssache. Und wo die Abstraktion beginnt oder aufhört eine Frage
der Selbstvergewisserung. Auch Uneindeutiges kann eindeutig sein.
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too big – thomas moecker / carsten tabel
Abstraktion und Konkretion
Was ist abstrakte Kunst? Ein Phänomen ohne Sinn und Zweck? Eine
substanzlose und formale Attitüde? Etwas, das nicht lesbar ist oder
sein soll? Kann Kritik ausschließlich im Spiegel der Tatsachen formuliert werden? Und ist eine Erzählung nur möglich, wenn Protagonisten
die Bühne betreten? Die ästhetische Dichotomie der Gegenständlichkeit und der Abstraktion ist eine historische Position der Moderne.
Denn konkrete gesellschaftliche Abläufe werden heute als abstrakt
wahrgenommen. Unabhängig davon, ob es sich um Zellteilung,
Derivate am Finanzmarkt, teleskopische Ausblicke ins All oder die
Geschwindigkeit einer digitalen Automatisierung handelt. Schon die
einfachste Erklärung alltäglichster Phänomene fällt schwer, gleichwohl deren Anwendung stets goutiert wird. Die Kunst schreitet hier
ein, widerspricht im Sinne einer anderen Oberfläche, Materialität und
Funktion. Verschiebt Größenverhältnisse und Relationen, Erzählstrukturen und Sinnzusammenhänge und bildet das ab, was für alle Prozesse gilt: Abstrakte Wirklichkeit kann es in einer konkreten Welt
nicht geben.
Über den Autor:
Maik Schlüter ist freier Kurator und Autor für zeitgenössische Kunst.
Nach dem Studium von Fotografie und Neuen Medien in Leipzig und Zürich war er
unter anderem Kurator der kestnergesellschaft in Hannover und Direktor des Museums
für Photographie in Braunschweig. Als freier Kurator hat er unter anderem Ausstellungen in Bregenz, Berlin, Hamburg, Stuttgart, Leipzig oder Potsdam kuratiert. Als
Kunstkritiker arbeitet er regelmäßig für die Taz / Die Tageszeitung und das Art-Magazin
Online, außerdem veröffentlichte er zahlreiche Werke.
Weitere Informationen unter: www.maikschlueter.de
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thomas moecker „panorama“ (acrylfarbe auf karton, 37 x 30 cm, 2013)
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too big – thomas moecker / carsten tabel
thomas moecker „schatten“ (acrylfarbe auf karton, 47 x 37 cm, 2013)
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thomas moecker „s # 3“, modellansicht (holz, acrylfarbe, wachs, 154 x 108 x 126 cm, 2013)
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too big – thomas moecker / carsten tabel
carsten tabel, serie „family business“, ausschnitt, (mischtechnik auf papier, 14,8 x 21 cm, 2012 / 2013)
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… And no one else
wanted to play
Essay von Carsten Tabel, 2013
Man bekommt wieder das Gefühl, der Sommer brüte etwas aus. Man
baut an, gießt und vergießt Tränen über bitteren Salat, den
Schneckenfraß, die Buddelfüchse, die Katzenscheiße im Garten. Die
Wintersaison spart man sich, zu mühsam und undankbar. Ein Jahr
der Undankbarkeit kann man nicht wegstecken, kein Appetit auf die
muffigen Winterfrüchte, man will doch das ganze Jahr Ratatouille,
Tomatensalat, Toskana. Im Sommer Gemüse aus Eigenanbau, im
Winter vom Gemüsetürken. Der hat nämlich einen türkischen
Gemüsegarten im Herzen, hat ganzjährig alles in Hülle und Fülle.
Die Hülle und Fülle ist wichtig, denn nur in ihr kann man sinnlos
verfaulen und weiterbrüten bis die Eier hart gekocht, mit blauem
Rand um fahles Gelb.
Meine Schuhe löchrig an den Spitzen, weil die Nägel zu hart und zu
lang, richtige Altmännernägel schon, die sich aus Unruhe durch
den Stoff an die frische Luft bohren. In den Sohlen klaffende Wunden.
Im Regen auf dem Außenspann und immerzu heißen Kaffee in
der Hand, damit man um Gottes Willen nicht krank wird. Lieber
unterwegs 300 Kaffee bezahlen als ein neues Paar Schuhe. Damit
man nichts aussuchen, nichts einlaufen muss.
Nach der Pensionierung zog der Parkwächter in Begleitung seiner
Kampfhundbestie auf eigene Faust los. Seine Stelle wurde nicht neu
besetzt, sondern ganz und gar abgeschafft. Jahrzehntelang das Volk
am Herumlungern gehindert, stürmte es jetzt ungehindert auf die
Rasenflächen. Dem Volk die Verantwortung übertragen und niemand
der sich ihm entgegenstellte, ersetzte er die städtische Aufsicht
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too big – thomas moecker / carsten tabel
durch privaten Wahnsinn. Habe ihn mal gefragt, ob es nicht ein viel
größeres Unrecht sei, den Hunden Schwänze und Ohren mit Scheren
abzuschneiden, ob das nicht viel mehr noch verboten sei als auf
der Wiese zu sitzen. Er bebte vor Wut und der blöde Hund bebte
mit und knurrte mich an.
Die Alten für die Gartenarbeit zu faul, hätten genug Zeit, könnten
die ganze Welt mit Gemüse versorgen, aber das passt nicht zur
Vorstellung vom erfüllten Alter, vom Aufgehen im Aufgeben. Das
Ehrenamt vielen zu sozial, man will doch raus aus der Gesellschaft,
sich in aller Ruhe vorbereiten auf die Ewigkeit unter der Erde. Die
Erde ist der Ort der Ruhe, deswegen auch das Gärtnern, die
Vorstellung, dass dort etwas wächst und gedeiht, unerträglich. Man
trägt Brauntöne, färbt sich dem Ende entgegen.
Mit stolzgeschwellter Brust bin ich aus der Ängstlichkeit herausgetreten.
Das Mutantrinken gelernt, mich nicht drum geschert, wie
schwer es ist, das wieder zu verlernen. Plötzlich einer von vielen.
Der Sehnsuchtsort Stadt nimmt den Wind aus den aufgeblähten
Backen. Da steht man mit dem Rücken zur Gesellschaft, mit dem
Rücken zur Menschheit und muss sich vorwerfen lassen, dass man
nur noch an sich denkt, dabei hat man sich das doch gerade erst
verdient. Frisch entstrukturiert, soll man sich wieder einreihen. Die
Grenzen gibt es noch, wird dir gesagt, pass bloß auf, dass du im
Freiheitsrausch auf keine trittst, darauf ausrutschst, dir den Kopf
aufschlägst. Im Krankenhaus wird man dir den Kopf verbinden,
aber ob die Kasse das bezahlt? Sag dem Arzt, es sei ein häuslicher
Unfall gewesen, das Blut der Solidargemeinschaft fließe da aus
deinem Kopf. Behalt's für dich, was da passierte, sonst kommen sie
und reißen die Binde ab. Du bist mit deinem linken Tölpelfuß auf
unsichtbare Grenzen gelatscht, hast Gemeingut beschädigt, gefährdet
und beleidigt. Sag, dass es dir leid tut, ganz egal, ob es dir leid
tut.
Man redet von der Volkskrankheit Depression, die Zahl psychischer
Erkrankungen nähme drastisch zu, man solle eine Nummer anrufen,
seinen Hausarzt informieren. Nicht so gerne redet man von den
Volkskrankheiten Dummheit und Schwachsinn. Die sind nicht existent,
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carsten tabel, serie „family business“, ausschnitt, (mischtechnik auf papier, 14,8 x 21 cm, 2012 / 2013)
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carsten tabel, serie „family business“, ausschnitt, (mischtechnik auf papier, 14,8 x 21 cm, 2012 / 2013)
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werden nicht behandelt, die wuchern zahllos und unkontrolliert.
Wurden eingepflanzt, werden fettgefüttert. Wer satt ist
und die Schwachsinnsnahrung verweigert, kriegt eine anständige
Depression und eine Nummer, die er anrufen soll. Wer gesund ist,
hat Glück, verhält sich unsolidarisch, macht sich unbeliebt. Es
regnet. Ich gehe jetzt löchrigen Schuhs nach Hause, ohne Kaffee,
ohne Angst.
Ich lasse mir die Butter absichtlich vom Brot nehmen, spüre wie
mein Cholesterinspiegel sinkt. Ich denke manchmal positiv. Im
Negativ in Frankfurt-Sachsenhausen war ich nur einmal mit 16,
kurz vor der Schließung. SNFU spielten das lauteste Konzert meines
Lebens. Später, zu Hause in der Küche, habe ich dann vielleicht mein
letztes kaltes Kotelett gekaut, schwankend, meine entsetzte Mutter
im Nachthemd, Ohrenpfeifen und Karussellfahrt im Kinderzimmer,
hatte mir zu viel Mut angetrunken. Eng und kalt wird mir,
beim Gedanken daran, an die Fleischfetzen im Maul, eng und kalt,
wenn ich an SNFU denke, die es damals schon 15 Jahre und inzwischen
34 Jahre gibt, ganz eng wird mir, wenn ich daran denke,
dass die immer noch mit ihren Gitarren in die Luft und von der
Bühne springen.
Wie man lebt, ist wichtig. Wofür, vollkommen uninteressant. Für
eine Sache zu leben ist eng gekoppelt an die Vorstellung von
Frustrationsmomenten auf dem Totenbett, die einem die ewige Ruhe
versauern. Also lebt man für sich selbst und die Seinigen, strebt
nach Sicherheit, die einem Zufriedenheit beim Abtritt ermöglicht.
Das Problem, sich in dem einzurichten, was möglich ist, liegt darin,
dass es nur einen Fingerbreit davon entfernt ist, nur das zu tun,
was erlaubt ist.
Wir sind mit dem Motorrad einfach drauflos, immer der Nase nach.
Das Motorradfahren ein gemeinsames Hobby, einfach drauflos, bei
Sonnenschein, ohne vorher auf die Karte zu schauen oder gar eine
Pension zu buchen. Einmal bei Regen in der Scheune eines Bauern,
der dann auch noch Schinkenbrote spendiert hat. Eine Insel der
Freiheit diese Motorradurlaube, ein ganzes Jahr lang muss man
davon zehren. Zwischen den Motorradurlauben lesen wir
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Erfahrungsberichte und Reiseführer, nehmen uns vor, die
beschriebenen Erfahrungen und Gefühle beim nächsten Mal
nachzuahmen, nachzuspüren.
Ratgeber und Prospekte, sich auf dem Laufenden halten,
um das Abenteuer in fortschreitendem Alter zu minimieren. Das
Feststehende ist purer Luxus, ohne Luxus kein Urlaub, der Stillstand,
die maximale Erschlaffung das Ziel. Wir trafen uns in der
Kneipe und erzählten von früher und ich wünschte mir, einer würde
kommen, uns eine scheuern, die Nostalgiepolizei würde einschreiten.
Die Erzählung der gemeinsamen Vergangenheit, in der immer nur
das Gemeinsame gesucht, die Generierung von Erfahrung als etwas
Teilbarem praktiziert wird, sollte verboten werden. Wir sollten
beweisen, dass wir einander noch brauchen, dass wir irgendwas
brauchen, statt uns an etwas zu erinnern, was es nie gab.
Weißt du noch, was SNFU bedeutet?
Society's no fuckin' use.
Right.
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Über die Künstler
elli ferriol
thomas moecker
Elli Ferriol lebt in Wien und Frankfurt. Sie studierte
bildende
Kunst an der
Städelschule
*1967 in Magdeburg,
lebt
und arbeitetund
als Musikbilwissenschaft
an
der
Johann
Wolfgang
Goethedender Künstler in Leipzig. Er studierte bildende
Universität
Frankfurt. für
Derzeit
Sie
Kunst an derinHochschule
Grafikpromoviert
und Buchkunst
bei
Prof.
Dr.
Peter
Ackermann
und
Prof.
Diedrich
in Leipzig und war Meisterschüler bei Professor
Diederichsen.
Eberhard Bosslet an der Hochschule für Bildende
Künste in Dresden. 2006 / 2007 erhielt er das
In
ihrer künstlerischen
Praxis
sie unter
dynamo.eintracht
Stipendium
derarbeitet
Kulturstiftung
Einbezug
theoretischer
Aspekte in unterschiedDresden der
Dresdner Bank.
lichen Medien wie Texten, Druckerzeugnissen,
Grafiken, Musik oder Performance.
www.thomasmoecker.de
barak reiser
carsten tabel
Barak Reiser, in Haifa (Israel) geboren, lebt und
arbeitet
Frankfurt
am Main.
Erund
studierte
bildende
*1978
in in
Friedberg
/ Hessen,
lebt
arbeitet
als
Kunst an der
Bezalel
in Jerusalem
und
bildender
Künstler
undAkademie
Autor in Leipzig.
Er studiwar Fotografie
an der Städelschule
Meisterschüler
beiund
Tobias
erte
an der Hochschule
für Grafik
Rehberger.in2004
erhielt
er machte
den Abschlusspreis
Buchkunst
Leipzig.
2008
er dort seinendes
Vereins Freunde von Portikus-Städelschule
e.v.
Meisterschülerabschluss
bei Professor Timm Rautert.
undselben
das dynamo.eintracht
der KulturIm
Jahr erhielt er einStipendium
sechsmonatiges
Prostiftung Dresden
Dresdner
Bank. Das Jahr
jektstipendium
desder
DAAD
für Australien.
2012 verbrachte Carsten Tabel mit einem AtelierstiSeine Werke
zeigte er bereits
auf zahlreichen
pendium
der Hessischen
Kulturstiftung
in London.
Ausstellungen z. B. in Arhus, Belgrad, Ljubljana,
www.carstentabel.de
Dubrovnik, Tel Aviv und Wien.
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