Einf¨uhrung in die Geometrie und Logik

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Einf¨uhrung in die Geometrie und Logik
Einführung
in die
Geometrie und Logik
Steffen Fröhlich
28. Januar 2014
2
Inhaltsverzeichnis
1 Euklids Elemente
7
1.1
Aufbau des ersten Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
1.2
Euklids Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
1.3
Postulate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
1.4
Axiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
1.5
Propositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
1.6
Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
1.6.1
Zum Kommentar des Proklus Diadochus . . . . . . . . . . .
48
1.6.2
Gauß zur Definition der Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
1.6.3
Saccheris Beweis der Kreishalbierung . . . . . . . . . . . . .
51
1.6.4
Weitere Beweise des Pythagoreischen Lehrsatzes . . . . . . .
52
1.6.5
Schopenhauer zur Methodenlehre der Mathematik . . . . . .
54
1.6.6
Literaturstudium zu Euklids Definitionen . . . . . . . . . . .
55
2 Das Parallelenproblem
71
2.1
Sätze der absoluten Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
2.2
Die Legendreschen Sätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
2.3
Das Poincarésche Halbebenenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
2.3.1
Das hyperbolische Parallelenpostulat . . . . . . . . . . . . .
84
2.3.2
Das Poincarésche Halbebenenmodell . . . . . . . . . . . . .
87
i
INHALTSVERZEICHNIS
ii
2.4
Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
2.4.1
Strecken und ihre Längen: Analytische Geometrie . . . . . .
87
2.4.2
Der Dedekindsche Schnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
2.4.3
Äquivalenz des Playfairschen Axioms und P5 . . . . . . . . .
94
2.4.4
Gauß und die nichteuklidische Geometrie . . . . . . . . . . .
95
3 Hilbertsche Axiomatik
3.1
105
Axiomgruppe I: Axiome der Verknüpfung . . . . . . . . . . . . . . .
108
3.1.1
Darstellung und Diskussion der Axiome . . . . . . . . . . . .
108
3.1.2
Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
111
Axiomgruppe II: Axiome der Anordnung . . . . . . . . . . . . . . .
112
3.2.1
Darstellung und Diskussion der Axiome . . . . . . . . . . . .
112
3.2.2
Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115
Axiomgruppe III: Axiome der Kongruenz . . . . . . . . . . . . . . .
121
3.3.1
Darstellung und Diskussion der Axiome . . . . . . . . . . . .
121
3.3.2
Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129
3.4
Axiomgruppe IV: Das Parallelenaxiom . . . . . . . . . . . . . . . . .
136
3.5
Axiomgruppe V: Axiome der Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . .
139
3.6
Relative Widerspruchsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
142
3.7
Streckenrechnung und Proportionen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145
3.7.1
Der Satz von Pappus-Pascal . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145
3.7.2
Streckenrechnung mit dem Pascalschen Satz . . . . . . . . .
147
3.7.3
Proportionen und Ähnlichkeitssätze für Dreiecke . . . . . . .
150
3.7.4
Geradengleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
154
Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155
3.8.1
Das Axiomensystem von Pasch . . . . . . . . . . . . . . . .
155
3.8.2
Pasch zum Aufbau Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . .
157
3.8.3
Das Axiomensystem von Peano . . . . . . . . . . . . . . . .
162
3.8.4
David Hilbert zum Aufbau der Mathematik . . . . . . . . . .
165
3.8.5
Quellenstudium: Freudenthals Kritik . . . . . . . . . . . . . .
169
3.8.6
Quellenstudium: Freges Kritik an Hilberts Axiomatik . . . . .
175
3.8.7
Quellenstudium: Kritik des Beweises von Proposition I.4 . . .
175
3.8.8
Die Stetigkeitsaxiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
178
3.8.9
Axiomatischer Aufbau der reellen Zahlen . . . . . . . . . . .
181
3.2
3.3
3.8
INHALTSVERZEICHNIS
iii
3.8.10 Die Sätze von Pappus-Pascal und Desargue . . . . . . . . . .
185
3.8.11 Schurs Proportionenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185
4 Mathematische Logik
187
4.1
Elemente formaler Systeme. Ein Beispiel . . . . . . . . . . . . . . .
188
4.2
Aussagenlogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
196
4.2.1
Syntax und Semantik der Aussagenlogik . . . . . . . . . . .
197
4.2.2
Das aussagenlogische Kalkül . . . . . . . . . . . . . . . . . .
210
Prädikatenlogik erster Stufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217
4.3.1
Ein einleitendes Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217
4.3.2
Syntax der Prädikatenlogik erster Stufe . . . . . . . . . . . .
218
4.3.3
Semantik der Prädikatenlogik erster Stufe . . . . . . . . . . .
221
4.3.4
Das prädikatenlogische Kalkül . . . . . . . . . . . . . . . . .
224
4.3.5
Ausblick: Prädikatenlogik zweiter Ordnung . . . . . . . . . .
230
Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
231
4.4.1
Wie betreibt man mathematische Logik? . . . . . . . . . . . .
231
4.4.2
Erweiterungen des Beispielkalküls E . . . . . . . . . . . . .
232
4.4.3
Tautologien der Aussagenlogik . . . . . . . . . . . . . . . . .
234
4.4.4
Theoreme der Aussagenlogik . . . . . . . . . . . . . . . . .
237
4.4.5
Logische Paradoxien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
240
4.4.6
Frühere Axiomatisierungen der Aussagenlogik . . . . . . . .
243
4.4.7
Kalmars Beweis der Vollständigkeit der Aussagenlogik . . . .
244
4.4.8
Theoreme der Prädikatenlogik . . . . . . . . . . . . . . . . .
251
4.4.9
Schopenhauer über Kritik und Ursprung der Logik . . . . . .
252
4.4.10 Fraenkel über eine Vorlesung zur Logik . . . . . . . . . . . .
253
4.3
4.4
5 Arithmetik, Mengenlehre, Unvollständigkeit
5.1
5.2
255
Peanosche Arithmetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255
5.1.1
Was ist eine mathematische Theorie? . . . . . . . . . . . . .
255
5.1.2
Die Peanoarithmetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
256
Zermelo-Fraenkelsche Mengenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . .
261
5.2.1
Naive Mengenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
261
5.2.2
Paradoxien der naiven Mengenlehre . . . . . . . . . . . . . .
263
5.2.3
Axiomatisierung der ZF/ZFC-Mengenlehre . . . . . . . . . .
263
INHALTSVERZEICHNIS
iv
5.3
Gödels Unvollständigkeitssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
275
5.3.1
275
5.3.2
5.3.3
5.3.4
5.4
Gödels Sätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Schritt 1: Arithmetisierung der Syntax: Die
Schritt 2:
Gödelisierung∗
. .
276
. . . . .
277
. . . . . . . . .
278
Beweis∗
Primitiv-rekursive Funktionen: Definition∗
Schritt 3: Arithmetische
Repräsentierbarkeit∗
5.3.5
Schritt 4: Gödels Diagonalisierungsargument: Der
. .
279
5.3.6
Wie ist Gödels erster Unvollständigkeitssatz zu lesen? . . . .
281
Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
282
5.4.1
Peanos Axiome der Arithmetik . . . . . . . . . . . . . . . . .
282
5.4.2
Theoreme der Peanoarithmetik . . . . . . . . . . . . . . . . .
283
5.4.3
Cantors Entdeckung der Überabzählbarkeit von R . . . . . . .
283
5.4.4
Korrespondenz zwischen Russells und Frege . . . . . . . . .
288
5.4.5
Cantor über den Mengenbegriff und inkonsistente Systeme . .
290
6 Posthilbertsche Geometrien
293
6.1
Posthilbertsche Axiomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
293
6.2
Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
293
List of Names
Stichwortverzeichnis
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
306
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
311
Vorwort
Der Name Geometrie stammt aus dem Griechischen und setzt sich zusammen aus den
beiden Wörten
geo
∼
für Erde
und
metrein ∼
für messen
und kann als Land- oder Erdmessung übersetzt werden.
Als ein zentrales Teilgebiet der Mathematik umfasst sie heutzutage so breit gefächerte Bereiche wie die darstellende Geometrie, die Euklidische Geometrie, die projektive Geometrie, die elementare Differentialgeometrie, die Riemannsche und die semiRiemannsche Geometrie, die algebraische Geometrie, die diskrete Geometrie, die Topologie oder die geometrische Maßtheorie.
Sie ist eng verflochten mit den elementaren und den abstrakten Methoden der Mengenlehre, der mathematischen Logik, der Analysis und der Algebra.
In dieser Vorlesung wollen wir Methoden der Euklidischen Geometrie, der Arithmetik,
der axiomatischen Mengenlehre und der Logik zusammenführen.
2
INHALTSVERZEICHNIS
INHALTSVERZEICHNIS
3
H
G
K
A
F
B
C
M
D
L
E
4
INHALTSVERZEICHNIS
INHALTSVERZEICHNIS
Es ist der Charakter der Mathematik der neueren Zeit (im Gegensatz gegen das Altertum), dass durch unsere Zeichensprache und Namengebungen wir einen Hebel besitzen, wodurch die verwickelten Argumentationen
auf einen gewissen Mechanismus reduziert werden. An Reichtum hat dadurch die Wissenschaft unendlich gewonnen, an Schönheit und Solidität
aber, wie das Geschäft gewöhnlich betrieben wird, eben so sehr verloren.
Wie oft wird jener Hebel eben nur mechanisch angewandt, obgleich die
Befugnis dazu in den meisten Fällen gewisse stillschweigende Voraussetzungen impliziert. Ich fordere, man soll bei allem Gebrauch des Kalküls,
bei allen Begriffsverwendungen sich immer der ursprünglichen Bedingungen bewusst bleiben, und alle Produkte des Mechanismus niemals über die
klare Befugnis hinaus als Eigentum betrachten.
C.F. Gauß an Schumacher, 1. September 1850
5
6
INHALTSVERZEICHNIS
KAPITEL
1
Euklids Elemente
Das berühmteste mathematische Werk der griechischen Antike sind die Elemente des
Euklid. Sie bildeten bis in das 19. Jahrhundert die Grundlage des mathematischen Unterrichts an allgemeinbildenden Schulen wie auch an Universitäten.
Euklids Elemente bestehen aus insgesamt 13 Büchern zu den folgenden Bereichen (für
diese Auflistung siehe Wußing [170]):
◦
◦
◦
◦
◦
◦
◦
◦
◦
◦
◦
Buch I
Buch II
Buch III
Buch IV
Buch V
Buch VI
Bücher VII, VIII, IX
Buch X
Buch XI
Buch XII
Buch XIII
ebene Geometrie bis zum Satz des Pythagoras
elementare geometrische Algebra
Kreislehre
dem Kreis ein- und umbeschriebene Vielecke
Proportionenlehre
Anwendungen von Buch V auf ebene Geometrie
Theorie der natürlichen Zahlen
quadratische Irrationalitäten
elementare Stereometrie
Volumina
reguläre Polyeder
Vom Leben Euklids existieren keine gesicherten Quellen. Er lebte wahrscheinlich zwischen 360 und 280 v.u.Z., die Elemente könnten also um 300 v.u.Z. entstanden sein.
Die Elemente bildeten die Grundlage für die damalige mathematische Lehre und Forschung; sie vereinten jedoch nicht, wie man gelegentlich liest, das gesamte“ mathe”
matische Wissen ihrer Zeit.
7
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
8
Auch werden sie von fast allen Mathematikern als die erste streng axiomatisch und
deduktiv aufgebaute Theorie angesehen. Es gibt allerdings Gründe, diese Rolle der
Elemente anzuzweifeln.
Schließlich waren die Elemente nicht das erste Lehrbuch ihrer Art. Auch von Demokrit,
der zusammen mit seinem Lehrer Leukipp erstmals einen atomaren Aufbau der Natur
postulierte, waren Elemente bekannt, sind uns jedoch nicht überliefert. Ihren möglichen
Einfluss auf Euklids Werk können wir daher nicht bewerten.
1.1 Aufbau des ersten Buches
Wir wollen uns in dieser Vorlesung nur mit dem ersten Buch Euklids auseinandersetzen. Dazu legen wir uns hauptsächlich die Ausgaben Heath [64] und Thaer [156] zu
Grunde, welche sich wiederum auf Heibergs griechisch-lateinische Textfassung (1883
bis 1916) stützen. Heaths und Thaers Darstellungen vergleichen wir gelegentlich mit
Unger [162] und Simon [143].
Thaer [156] folgend, besteht das erste Buch der Elemente aus
◦ 23 Definitionen
◦ 5 Postulaten
◦ 9 Axiomen
◦ 48 Propositionen
Die Definitionen führen in die mathematische Sprechweise der Elemente ein. Bezüglich
ihrer logischen Hinlänglichkeiten wurden und werden sie oft kritisiert, gaben somit
aber auch gleichzeitig Anlass zu tiefgreifenden Untersuchungen.
→ Die Definitionen legen die inhaltliche Bedeutung der verwendeten geometrischen
Objekte fest.
Die Postulate geben hauptsächlich die Möglichkeit gewisser geometrischer Konstruktionen bzw. die Möglichkeit der Existenz gewisser geometrischer Objekte wieder.
→ Die Postulate beinhalten semantische“ Wahrheiten.
”
Die Axiome stehen für logische Wahrheiten, die, und zwar unabhängig von ihrer geometrischen Interpretation, niemand anzweifeln soll.
→ Die Axiome beinhalten arithmetisch-syntaktische“ Wahrheiten.
”
Propositionen sind schließlich Aussagen, die aus den Definitionen, Postulaten und
Axiomen (als logische Schlussregeln) deduktiv gewonnen werden. Sie sind die eigentlichen geometrischen Sätze.
1.2. EUKLIDS DEFINITIONEN
9
1.2 Euklids Definitionen
Wir wollen, Thaer [156] folgend, die Definitionen der Elemente vorstellen und kurz
diskutieren. Zum Vergleich stellen wir jeweils die Darstellungen aus Unger [162], Simon [143] und Heath [64] in den dort eigenen Zählweisen gegenüber.
Insbesondere handelt es sich um folgende elementargeometrischen Begriffe:
◦ Punkt
◦ Linie und gerade Linie
◦ Fläche und ebene Fläche
◦ Winkel, spezielle Winkel
◦ Grenze und Figur
◦ Kreis und Halbkreis
◦ ebene Figuren
Wir beginnen mit der
Definition: Punkt
D1. Ein Punkt ist, was keine Teile hat.
Thaer weist darauf hin, dass auch folgende Übersetzung möglich ist:
Ein Punkt ist, dessen Teil Nichts ist.
Vergleich mit E.S. Unger, M. Simon und T.L. Heath:
− (1) Ein Punkt ist, was keine Teile hat.
− (1) [Der] Punkt ist [das], dessen Teil nichts [ist].
− (1) A point is that which has no part.
Simon klammert eigene Zusätze eckig ein, Unübersetztes aus Euklid kennzeichnet er
durch runde Klammern (was sich auf Heibergs Übersetzung als Grundlage bezieht).
Der Begriff eines Punktes wird nun in die nächsten Definitionen aufgenommen.
Definition: Linie und gerade Linie
D2. Eine Linie ist eine breitenlose Länge.
D3. Die Enden einer Linie sind Punkte.
D4. Eine gerade Linie (Strecke) ist eine solche, die zu den Punkten auf ihr
gleichmäßig liegt.
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
10
Bemerkung.
◦ In Definition 2 sind die Begriffe Breite und Länge unbekannt, weshalb sie nicht als Definition im heutigen Sinne, sondern eher als anschauliche
Beschreibung einer Linie verstanden werden kann.
◦ Definition 3 stützt sich auf den ungeklärten Begriff eines Endes. Trotz dieses
Mangels finden sich bis in das neunzehnte Jahrhundert vergleichbare Definitionen in den Lehrbüchern, wie wir in Paragraph 1.6.6 belegen werden.
◦ Eventuell können wir herauslesen, dass Linien nicht ins Unendliche verlaufen,
sondern durch Enden beschränkt sind.
Offen bleibt für uns eine Deutung des in Definition 4 verwendeten Begriffs gleichmäßig.
In Heath [64], S. 167 lesen wir:
While the language is thus seen to be hopelessly obscure, we can safely
say that the sort of idea which Euclid wished to express was that of a line
which presents the same shape at and relatively to all points on it, without
any irregular or unsymmetrical feature distinguishing one part or side of it
from another.
Eine mögliche Interpretation ergibt sich möglicherweise aus dem Beweis von Proposition I.5, worin es heißt: Wähle auf BD einen Punkt beliebig.
Vergleich mit E.S. Unger, M. Simon und T.L. Heath
− (2) Die Linie ist eine Länge ohne Breite. (3) Wo eine Linie aufhört, sind Punkte.
(4) Eine gerade Linie ist diejenige, welche zwischen allen in ihr befindlichen
Punkten auf gleiche Weise liegt.
− (2) [Die] Linie aber breitenlose Länge. (3) [Der] Linie (aber) Äußerstes [sind]
Punkte. (4) [Die] Gerade ist [die] Linie, welche gleichmäßig durch ihre Punkte gesetzt ist (d.h. die Gerade ist die Linie, auf der kein Punkt vor dem andern
ausgezeichnet ist).
− (2) A line is a breadthless length. (3) The extremities of a line are points. (4) A
straight line is a line which lies evenly with the points on itself.
Drittens kommen wir zu den Flächendefinitionen.
Definition: Fläche und ebene Fläche
D5. Eine Fläche ist, was nur Länge und Breite hat.
D6. Die Enden einer Fläche sind Linien.
D7. Eine ebene Fläche ist eine solche, die zu den geraden Linien auf ihr
gleichmäßig liegt.
Offenbar sind wir an dieser Stelle mit denselben Problemen konfrontiert wie bei den
Definitionen der Begriffe Linie, Enden einer Linie und gerade Linie.
1.2. EUKLIDS DEFINITIONEN
11
Vergleich mit E.S. Unger, M. Simon und T.L. Heath
− (5) Eine Fläche ist, was nur Länge und Breite hat. (6) Wo eine Fläche aufhört,
sind Enden. (7) Eine Ebene (die ebene Fläche) ist diejenige, die zwischen allen
in ihr befindlichen geraden Linien auf gleiche Weise liegt.
− (5) [Die] Fläche ist [das Raumgebilde], was nur Länge und Breite hat. (6) [Die]
Ebene ist [die] Fläche, welche gleichmäßig durch ihre Geraden gesetzt ist.
− (5) A surface is that which has length and breadth only. (6) The extremities of
a surface are lines. (7) A plane surface is a surface which lies evenly with the
straight lines on itself.
In Paragraph 1.6.2 wollen wir uns anhand ausgewählter Literaturquellen eingehender
mit der prähilbertschen Auffassung ebener Flächen beschäftigen und damit auf die
späteren axiomatischen Geometrien nach Pasch, Peano und Hilbert vorbereiten.
Kommen wir damit zu unserer nächsten
Definition: Winkel, spezielle Winkel
D8. Ein ebener Winkel ist die Neigung zweier Linien in einer Ebene gegeneinander, die einander treffen, ohne einander gerade fortzusetzen.
D9. Wenn die den Winkel umfassenden Linien gerade sind, heißt der Winkel
geradlinig.
D10. Wenn eine gerade Linie, auf eine gerade Linie gestellt, einander gleiche
Nebenwinkel bildet, dann ist jeder der beiden gleichen Winkel ein Rechter; und die stehende gerade Linie heißt senkrecht zu (Lot auf) der, auf
der sie steht.
D11. Stumpf ist ein Winkel, wenn er größer als ein Rechter ist.
D12. Spitz ist ein Winkel, wenn er kleiner als ein Rechter ist.
Bemerkung.
◦ Auch eine Definition des Begriffs Winkel ist im Rahmen dieser
klassischen Geometrie schwierig. Seine Rückführung auf die gegenseitige Lage zweier Linien deutet bereits den richtigen Weg, die Benutzung einer nicht
definierten Neigung macht Euklids Definition jedoch angreifbar.
◦ Euklid unterscheidet zwischen nicht-geradlinig und geradlinig begrenzten Winkeln, bevor er auf die Trennungen zwischen rechten, stumpfen und spitzen Winkeln eingeht. Es ist dann aber zu beachten, dass Winkel, die größer oder sogar
gleich zwei Rechten sind, nicht in Betracht kommen.
◦ Das Fehlen einer eigenständigen Definition des Begriffs des Nebenwinkels, die
wir in Abschnitt 2.1 nachholen, wird sich auswirken, wie wir am Beispiel des
Beweises von Proposition I.12 in Abschnitt 1.5 deutlich machen werden.
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
12
Vergleich mit E.S. Unger, M. Simon und T.L. Heath
− (8) Ein ebener Winkel ist die Neigung zweier Linien gegeneinander, wenn dieselben in einer Ebene zusammen laufen, ohne in gerade Linie zu liegen. (9) Ein
Winkel wird geradlinig genannt, wenn er von geraden Linien gebildet wird. (10)
Wenn eine gerade Linie eine andere so trifft, dass die beiden dadurch entstehenden Nebenwinkel gleich sind, so sagt man, sie ist normal auf der anderen, und
jeder der beiden gleichen Winkel heißt ein rechter Winkel. (11) Stumpf wird der
Winkel genannt, der größer als ein rechter ist. (12) Spitz ist der Winkel, der kleiner ist als ein rechter.
− (7) Ein ebener Winkel entsteht, wenn zwei Linien (in) der Ebene zusammentreffen, welche nicht in derselben Geraden liegen, durch die Biegung von der einen
Linie zur andern. (8) Falls die den Winkel begrenzenden Linien Strahlen sind, so
heißt der Winkel geradlinig. (9) Falls ein auf einer Geraden stehender Strahl die
aufeinander folgenden Winkel zu gleichen macht, so ist jeder der beiden gleichen
Winkel ein rechter, und der Strahl heißt senkrecht [zu der Geraden)], auf der er
steht. (10) Stumpf ist der Winkel, der größer als der rechte. (11) Spitz aber, der
kleiner als der rechte.
− (8) A plane angle is the inclination to one another of two lines in a plane which
meet one another and do not lie in a straight line. (9) And when the lines containing the angle are straight, the angle is called rectilinear. (10) When a straight
line set up on a straight line makes the adjacent angles equal to one another, each
of the equal angles is right, and the straight line standing on the other is called
perpendicular to that on which it stands. (11) An obtuse angle is an angle greater
than a right angle. (12) An acute angle is an angle less than a right angle.
Natürlich spielen in der Euklidischen Geometrie Dreiecke, Vierecke, Kreise usw. eine
besondere Rolle. Dazu leitet die folgende Definition ein.
Definition: Grenze und Figur
D13. Eine Grenze ist das, worin etwas endigt.
D14. Eine Figur ist, was von einer oder mehreren Grenzen umfasst wird.
Wann etwas endigt, wird nicht erläutert und bleibt undefiniert. Interpretiert man endigt
im anschaulichen Sinn, dass etwas gegen einen Rand hinläuft, wie also bei Unger und
Simon herauszulesen ist, ergibt sich womöglich ein Zirkelschluss.
1.2. EUKLIDS DEFINITIONEN
13
Vergleich mit E.S. Unger, M. Simon und T.L. Heath
− (13) Die Grenze eines Dinges ist da, wo es aufhört. (14) Eine Figur ist ein, von
einer oder mehreren Grenzen eingeschlossener Raum.
− (12) Grenze ist das, was das Äußerste irgend wovon ist. (13) Figur ist das, was
eine oder mehrere Grenzen hat.
− (13) A boundary is that which is an extremity of anything. (14) A figure is that
which is contained by any boundary or boundaries.
Was verstehen wir nun unter Kreisen und Halbkreisen?
Definition: Kreis und Halbkreis
D15. Ein Kreis ist eine ebene, von einer einzigen Linie, die Umfang (Bogen)
heißt, umfasste Figur mit der Eigenschaft, dass alle von einem innerhalb
der Figur gelegenen Punkte bis zur Linie laufenden Strecken einander
gleich sind.
D16. Und Mittelpunkt des Kreises heißt dieser Punkt.
D17. Ein Durchmesser des Kreises ist jede durch den Mittelpunkt gezogene,
auf beiden Seiten vom Kreisumfang begrenzte Strecke; eine solche hat
auch die Eigenschaft, den Kreis zu halbieren.
D18. Ein Halbkreis ist die vom Durchmesser und dem durch ihn abgeschnittenen Bogen umfasste Figur; und Mittelpunkt ist beim Halbkreise derselbe
Punkt wie beim Kreise.
Bemerkung.
◦ Die Existenz des Kreises wird später in Postulat 3 gerechtfertigt.
Implizit gehen jedoch die Geschlossenheit eines Kreises in diese Definitionen
ein, welche wiederum eines Beweises bedarf, wie auch die Eigenschaft, dass ein
Kreis den erwähnten festen Mittelpunkt umschließt.
◦ Was bedeutet gleich in dass alle von einem innerhalb der Figur gelegenen Punk”
te bis zur Linie laufenden Strecken einander gleich sind“?
◦ Dass der Durchmesser den Kreis halbiert, wie Definition 17 beinhaltet, wurde
wohl von Thales von Milet bewiesen. Nach Heath [64], S. 185, ist ein solcher
Beweis jedoch nicht überliefert. Wir verweisen auf den späteren Paragraphen
1.6.3.
◦ Nach Simson [144] folgt diese Eigenschaft der Kreishalbierung unter Verwendung des Begriffes der Ähnlichkeit aus den Propositionen 24 und 31 des dritten
Buches der Elemente. Hierauf werden wir jedoch nicht eingehen.
In Verallgemeinerung von Definition 17 ist ferner darauf zu achten, ob eine gerade Strecke, die durch den Mittelpunkt verläuft, tatsächlich von einem Kreisumfang begrenzt
wird, d.h. ob beide Linien überhaupt gemeinsame Schnittpunkte besitzen.
Solche oder ähnliche Kritikpunkte werden uns immer wieder beim Studium der Elemente begegnen.
14
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
Wir können dabei zwei Standpunkte unterscheiden:
◦ Diese Kritik ist gerechtferigt, da zunächst die Existenz gemeinsamer Schnittpunkte bewiesen werden muss (Leibniz, Gauß u.a.).
◦ Diese Kritik ist nicht gerechtfertigt, da Euklid keine Existenzaussage macht, sondern eine mögliche Konstruktion beschreibt (Simon, Seidenberg u.a.).
Tatsächlich unterteilt noch Simon die später zu diskutierenden 48 Propositionen in reine Lehrsätze und konstruktiv zu lösende Probleme.
Im ersteren Fall ist die angesprochene Kritik gerechtfertigt, im zweiten Fall nicht: Die
Existenz der in Frage stehenden Schnittpunkte usw. wird vorausgesetzt, und es ist die
Aufgabe zu lösen, diese Punkte zu konstruieren.
Vergleich mit E.S. Unger, M. Simon und T.L. Heath
− (15) Ein Kreis ist eine ebene Figur, die von einer einzigen Linie, die der Umkreis
(die Peripherie) heißt, so eingeschlossen wird, dass alle geraden Linien, welche
von einem bestimmten, innerhalb dieser Figur befindlichen Punkte an den Umkreis gezogen werden können, gleich groß sind. (16) Man nennt diesen Punkt den
Mittelpunkt. (17) Jede durch den Mittelpunkt des Kreises gezogene gerade Linie,
welche auf beiden Seiten von dem Umkreise begrenzt wird, ist ein Durchmesser.
Der Kreis wird durch denselben in zwei gleiche Teile geteilt. (18) Die von dem
Durchmesser und dem durch denselben abgeschnittenen Teil des Umkreises begrenzte Figur ist ein Halbkreis. (19) Die von einem Teile des Kreisumfangs (von
einem Kreisbogen) und einer geraden Linie (einer Sehne) begrenzte Figur ist ein
Kreisabschnitt.
− (14) Kreis heißt eine ebene Figur von einer Linie, (welche Peripherie heißt) [so]
umschlossen, daß alle von einem der im Innern liegenden Punkte zu ihr (zu der
Peripherie des Kreises) gezogenen Geraden einander gleich sind. (15) Mittelpunkt (Zentrum) des Kreises wird jener Punkt genannt. (16) Durchmesser des
Kreises ist irgend eine Gerade, welche durch den Mittelpunkt gezogen ist und
von dem Umfang des Kreises an beiden Seiten begrenzt ist; er halbiert auch den
Kreis. (17) Halbkreis heißt die Figur, welche von einem Durchmesser und dem
von ihm abgeschnittenen Umfang [Bogen] umschlossen wird. Das Zentrum des
Halbkreises ist dasselbe wie das des Kreises.
− (15) A circle is a plane figure contained by one line such that all the straight lines
falling upon it from one point among those lying within the figure are equal to
one another. (16) And the point is called the centre of the circle. (17) A diameter
of the circle is any straight line drawn through the centre and terminated in both
directions by the circumference of the circle, and such a straight line also bisects
the circle. (18) A semicircle is the figure contained by the diameter and the circumference cut off by it. And the centre of the semicircle is the same as that of
the circle.
Aufbauend auf den Winkel- und Grenzbegriffen kommen wir nun zu den Definitionen
spezieller ebener Figuren.
1.2. EUKLIDS DEFINITIONEN
15
Definition: Ebene Figuren
D19. Geradlinige Figuren sind solche, die von Strecken umfasst werden, dreiseitige die von drei, vierseitige die von vier, vielseitige die von mehr als
vier Strecken umfassten.
D20. Von den dreiseitigen Figuren ist ein gleichseitiges Dreieck jede mit drei
gleichen Seiten, ein gleichschenkliges jede mit nur zwei gleichen Seiten,
ein schiefes jede mit drei ungleichen Seiten.
D21. Weiter ist von den dreiseitigen Figuren ein rechtwinkliges Dreieck jede
mit einem rechten Winkel, ein stumpfwinkliges jede mit einem stumpfen
Winkel, ein spitzwinkliges jede mit drei spitzen Winkeln.
gleichseitig
gleichschenklig
schief
Definition: Ebene Figuren
D22. Von den vierseitigen Figuren ist ein Quadrat jede, die gleichseitig und
rechtwinklig ist, ein längliches Rechteck jede, die zwar rechtwinklig, aber
nicht gleichseitig ist, ein Rhombus jede, die zwar gleichseitig, aber nicht
rechtwinklig ist, ein Rhomboid jede, in der die gegenüberliegenden Seiten sowohl als Winkel einander gleich sind und die dabei weder gleichseitig noch rechtwinklig ist; die übrigen vierseitigen Figuren sollen Trapeze
heißen.
Quadrat
Rechteck
Rhomboid
Rhombus
Trapez
16
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
Es werden also Dreiecke und Vierecke einmal bez. ihrer Seiten (gleichseitig, gleichschenklig, Quadrat, Rechteck usw.), dann aber auch bez. ihrer Winkel (rechtwinklig,
stumpfwinklig, spitzwinklig usw.) klassifiziert.
Vergleich mit E.S. Unger, M. Simon und T.L. Heath
− (20) Geradlinige Figuren sind diejenigen, welche von geraden Linien begrenzt
werden. Und zwar wird (21) ein Dreieck von drei, (22) ein Viereck von vier und
(23) ein Vieleck (Polygon) von mehr als vier geraden Linien begrenzt. (24) Ein
Dreieck heißt gleichseitig, wenn es drei gleiche Seiten hat; (25) gleichschenklig aber wird es genannt, wenn nur zwei Seiten desselben gleich groß sind, und
(26) ungleichseitig, wenn keine Seite desselben der anderen gleich ist. (27) Ein
Dreieck heißt ferner rechtwinklig, wenn es einen rechten Winkel hat, (28) stumpfwinklig, wenn es einen stumpfen Winkel hat, und (29) spitzwinklig, wenn es drei
spitze Winkel hat. (30) Unter den vierseitigen Figuren heißt diejenige ein Quadrat, die gleichseitig und rechtwinklig ist, (31) ein Rechteck (Oblongum), die
zwar rechtwinklig, aber nicht gleichseitig ist, (32) ein Rhombus, die zwar gleichseitig, aber nicht rechtwinklig ist. (33) Ein Rhomboid ist ein Viereck, das weder
gleichseitig noch rechtwinklig ist, in welchem aber die einander gegenüber liegenden Seiten, und ebenso auch die einander gegenüber liegenden Winkel gleich
groß sind. (34) Jede andere vierseitige Figur heißt ein Trapez.
− (18) Geradlinige Figuren sind die von Geraden begrenzten. Dreiseitige die von
drei, vierseitige die von vier, vielseitige die von mehr als vier Geraden begrenzten. (19) Von den dreiseitigen Figuren ist ein gleichseitiges Dreieck [diejenige]
mit drei gleichen Seiten, ein gleichschenkliges mit nur zwei gleichen Seiten, ein
ungleich[seitig]es das mit drei ungleichen Seiten. (20) Außerdem heißt von den
dreiseitigen Figuren rechtwinkliges Dreieck das, welches einen rechten Winkel,
stumpfwinkliges das, welches einen stumpfen Winkel hat, spitzwinkliges aber
das, welches drei spitze Winkel hat. (21) Aber von den vierseitigen Figuren ist
ein Quadrat die gleichseitig rechtwinklige, ein Rechteck die zwar rechtwinklige
aber ungleichseitige, ein Rhombus die zwar gleichseitige aber nicht rechtwinklige, ein Rhomboid die, deren gegenüberliegende Seiten und Winkel einander
gleich sind und die weder gleichseitig noch rechtwinklig ist; die Vierseite außer
diesen sollen Trapeze heißen.
− (19) Rectilinear figures are those which are contained by straight lines, trilateral
figures being those contained by three, quadrilateral those contained by four, and
multilateral those contained by more than four straight lines. (20) Of trilateral
figures, an equilateral triangle is that which has its three sides equal, an isosceles
triangle that which has two of its sides alone equal, and a scalene triangle that
which has its three sides unequal. (21) Further, of trilateral figures, a right-angled
triangle is that which has a right angle, an obtuse-angled triangle that which has
an obtuse angle, and an acute-angled triangle that which has its three angles acute. (22) Of quadrilateral figures, a square is that which is both equilateral and
right-angled; an oblong that which is right-angled but not equilateral; a rhombus that which is equilateral but not right-angled; and a rhomboid that which has
its opposite sides and angles equal to one another but is neither equilateral nor
right-angled. And let quadrilaterals other than these be called trapezia.
1.3. POSTULATE
17
Der Begriff der parallelen geraden Linien
Schließlich kommen wir zur Definition paralleler Linien. Beim Lesen ist darauf zu
achten, dass bereits in die Definition die Forderung unendlich langer Geraden stillschweigend und fast wie selbstverständlich eingeht.
Definition: Parallele gerade Linien
D23. Parallel sind gerade Linien, die in derselben Ebene liegen und dabei,
wenn man sie nach beiden Seiten ins Unendliche verlängert, auf keiner
einander treffen.
Der Begriff paralleler Linien und später das Parallelenpostulat spielen in der Euklidischen wie in der Nichteuklidischen Geometrie eine so zentrale Rolle, dass wir noch oft
die Gelegenheit haben, diese im Details ausführlich zu diskutieren.
Vergleich mit E.S. Unger, M. Simon und T.L. Heath
− (35) Parallel sind gerade Linien, die in einer Ebene liegen und auf keiner der
beiden Seiten zusammentreffen, so weit man sie auch verlängern mag.
− (22) Parallel sind Gerade, welche in derselben Ebene liegen und auf jedem von
beiden Teilen ins unendliche ausgezogen auf keinem von beiden einander treffen.
− (23) Parallel straight lines are straight lines which, being in the same plane and
being produced indefinitely in both directions, do not meet one another in either
direction.
1.3 Postulate
Den Euklidischen Definitionen folgen fünf Postulate, welche die Möglichkeit gewisser
geometrischer Konstruktionen bzw. die Möglichkeit der Existenz gewisser geometrischer Objekte beinhalten und nicht weiter bewiesen werden sollen. Es handelt sich
insbesondere um
◦
◦
◦
◦
◦
die Existenz einer Strecke zwischen zwei Punkten,
die Unbegrenztheit der Strecke,
die Existenz des Kreises,
die Gleichheit der rechten Winkel,
das Parallelenpostulat.
Im Gegensatz zu den späteren Axiomen, die logische Grundsätze widerspiegeln, welche insbesondere unabhängig von ihrer besonderen Bedeutung in der Geometrie als
wahr angesehen werden sollen, können wir die Postulate als semantische Wahrheiten
bezeichnen.
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
18
Postulat: Existenz einer Strecke zwischen zwei Punkten
P1. Gefordert soll sein, dass man von jedem Punkt nach jedem Punkt die
Strecke ziehen kann.
Wie Thaer [156], S. 418, bemerkt, erlaubt die griechische Grammatik auch die Übersetzung
Gefordert soll sein, dass man von jedem Punkt nach jedem Punkt eine Strecke
ziehen kann.
Der in den überlieferten Texten fehlende Artikel zieht wohl nicht die aus dem Deutschen gewohnten Interpretationen nach sich.
Q
P
An den Euklidkommentaren des Proklus orientierend, hebt Heath, S. 195, nämlich genauer drei geometrische Merkmale solcher Linien hervor, die zum Verständnis dieses
ersten Postulats wichtig sind, von denen die Elemente, ohne es explizit hervorzuheben,
von ihnen Gebrauch machen:
◦ das Postulat beinhaltet die Existenz einer geraden Linie;
◦ das Postulat beinhaltet die Möglichkeit, unabhängig von allen technischen Mitteln, zwischen zwei gegebenen Punkten stets eine Linie zeichnen zu können;
◦ das Postulat beinhaltet die Eindeutigkeit der behaupteten Linie.
Bezüglich der im letzten Punkt behaupteten Eindeutigkeit verweisen wir auf unsere
Diskussion zu Axiom 9 in Abschnitt 1.4.
Postulat: Unbegrenztheit der geraden Strecke
P2. Gefordert soll sein, dass man eine begrenzte gerade Linie zusammenhängend gerade verlängern kann.
Diesem Postulat müssen wir ganz ähnliche Kommentare zur Seite stellen, wie oben
dem ersten Postulat zur Existenz einer Strecke zwischen zwei gegebenen Punkten. Insbesondere beinhaltet es die Eindeutigkeit der Verlängerung einer vorgelegten begrenzten geraden Linie.
P
Q
1.3. POSTULATE
19
Postulat: Existenz des Kreises
P3. Gefordert soll sein, dass man mit jedem Mittelpunkt und Abstand den
Kreis zeichnen kann.
Heath [64], Seite 198, erwähnt in diesem Zusammenhang folgende, in der Literatur
mehrfach kritisierte Charakterisierungen der die in Frage stehenden Kreise enthaltenen
Ebene:
◦ der Radius eines solchen Kreises könnte infinitesimal klein sein, was die Stetigkeit der Ebene nach sich zieht;
◦ der Radius eines solchen Kreises könnte unbegrenzt groß sein, was die Unendlichkeit der Ebene nach sich zieht.
Postulat: Gleichheit der rechten Winkel
P4. Gefordert soll sein, dass alle rechten Winkel einander gleich sind.
Nach Thaer [156], S. 419, könnte ein rechter Winkel auf Grund seiner Unveränderlichkeit als Maß dienen und somit das fünfte und berühmteste Euklidische Postulat
vorbereiten:
Postulat: Parallelenpostulat
P5. Gefordert soll sein, dass, wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei
geraden Linien bewirkt, dass innen auf derselben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte werden, dann die zwei geraden
Linien bei Verlängerung ins Unendliche sich treffen auf der Seite, auf
der die Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind.
Da die Form, in der dieses berühmte Postulat, welches auch noch die Umkehrung der
unten angeschriebenen Proposition I.28 beinhaltet, auftritt, nicht den unmittelbar einleuchtenden Charakter der anderen vier Postulate trägt, wurden stets Versuche zu seinem Beweis unternommen, allerdings unter Annahme anderer, wie wir heute wissen,
gleichwertiger, d.h. äquivalenter Grundsätze.
20
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
Heath [64], S. 220, diskutiert solche Grundsätze in kurzer Form, woraus wir an dieser
Stelle Ausgewählte zitieren wollen:
◦ Playfairs Axiom, J. Playfair
Durch einen gegebenen Punkt außerhalb einer vorgelegten geraden Linie existiert genau eine gerade Linie, die zur ersteren parallel ist. Zwei gerade Linien,
die sich in einem Punkt schneiden, können nicht gleichzeitig parallel zu einer
dritten geraden Linie sein.
◦ Geminus und Posidonius
Es existieren gerade Linien, die überall zueinander gleichen Abstand besitzen.
◦ A.M. Legendre
Es existiert ein Dreieck, dessen Innenwinkelsumme gleich zwei Rechte ist.
◦ J. Wallis, N.L.S. Carnot, P.S. Laplace
Zu einer gegebenen Figur existiert eine dazu ähnliche Figur beliebiger Größe.
◦ J.F. Lorenz
Jede gerade Linie durch einen innerhalb eines Winkels gelegenen Punkt trifft
eine der beiden Seiten des Winkels.
◦ A.M. Legendre, W. Bolyai
Zu drei nicht auf einer geraden Linie gelegenen Punkten gibt es einen Kreis, der
durch diese drei Punkte verläuft.
◦ C.F. Gauß in einem Brief an W. Bolyai aus dem Jahre 1799
. . . z.B. wenn man beweisen könnte, dass ein geradliniges Dreieck möglich sei,
dessen Inhalt größer wäre, als eine jede gegebene Fläche, so bin ich imstande,
die ganze Geometrie völlig streng zu beweisen.
◦ A.C. Clairaut
Sind in einem Viereck drei Winkel rechte Winkel, so auch der vierte.
Um einen Eindruck zu gewinnen, welcher Art von Kritik das Parallelenpostulat ausgesetzt war, wollen wir aus Simon [143], Seite 34, zitieren:
Die Erfahrung der Männer der Praxis schuf die Geometrie, die Geometrie
vertiefte die angewandte Mathematik, aber die Skrupel eines Euclid über
die Bewegung wurden von den Ingenieuren und Astronomen nicht geteilt;
von ihrem Standpunkt aus war die Forderung des Euclid unanschaulich, da
die wirkliche Bewegung das Nichtschneiden gar nicht, und das Schneiden
in praxi meistens auch nicht konstatieren konnte.
Für detaillierte Diskussionen zum Parallelenpostulat und der verschiedenen Versuche
zu dessen Beweis verweisen wir umfangreiche Urkundensammlung Stäckel [145].
Bemerkung. Bemerkenswert ist, dass Euklid das Parallelenpostulat nicht vor Proposition I.29 einsetzt, dort aber zum Beweis der Existenz eines Schnittpunktes. Aus dieser
Tatsache wird häufig geschlossen, dass Euklid sich der Brisanz dieses Postulats gegenwärtig war und dessen Verwendung zum Aufbau einer in sich vollständigen Geometrie möglichst weit hinauszögern wollte.
1.4. AXIOME
21
Vergleich mit E.S. Unger, M. Simon und T.L. Heath
− Es wird verlangt, dass man zugestehe: (1) es kann von jedem Punkt nach jedem anderen eine gerade Linie gezogen werden, (2) jede begrenzte gerade Linie
kann stetig in gerader Richtung verlängert werden, und (3) man kann um jeden
Punkt als Mittelpunkt in jedem Abstand einen Kreis beschreiben. (10) Alle rechten Winkel sind gleich groß. (11) Werden zwei gerade Linien von einer dritten
so geschnitten, dass die beiden, auf derselben Seite liegenden inneren Winkel zusammen genommen kleiner als zwei Rechte sind, so treffen diese Linien, wenn
sie genügsam verlängert werden, an eben dieser Seite zusammen.
− Es soll gefordert werden, daß sich (1) von jedem Punkt bis zu jedem Punkt eine
und nur eine Strecke führen lasse (2) und diese Strecke sich kontinuierlich auf
ihrer Geraden ausziehen lasse. (3) Um jedes Zentrum sich mit jedem Abstand ein
und nur ein Kreis zeichnen lasse. (4) Und alle rechten Winkel einander gleich
seien. (5) Und wenn eine zwei Geraden schneidende Gerade mit ihnen innere
an derselben Seite liegende Winkel bildet, die [zusammen] kleiner sind als zwei
rechte, so schneiden sich die beiden [geschnittenen] Geraden bei unbegrenzter
Verlängerung auf der Seite, auf der diese Winkel liegen.
− (1) Let the following be postulated: to draw a straight line from any point to any
point. (2) To produce a finite straight line continuously in a straight line. (3) To
describe a circle with any centre and distance. (4) That all right angles are equal
to one another. (5) That, if a straight line falling on two straight lines make the
interior angles on the same side less than two right angles, the two straight lines,
if produced indefinitely, meet on that side on which are the angles less than the
two right angles.
Wir bemerken, dass Unger [162] das Postulat über die Gleichheit der rechten Winkel (4) und das Parallelenpostulat (5) als das zehnte und das elfte Axiom aufnimmt,
was aber nicht unserer Interpretation von Postulaten als semantische und Axiomen als
arithmetisch-syntaktische Wahrheiten entspricht.
1.4 Axiome
Den Postulaten schließen sich nun neun Axiome an, von denen wir die ersten sechs als
arithmetisch, die verbleibenden drei als geometrisch interpretieren können.
Axiom
A1. Was demselben gleich ist, ist auch einander gleich.
Arithmetische Interpretation:
a=b ∧ a=c → b=c
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
22
Axiom
A2. Wenn Gleichem Gleiches hinzugefügt wird, sind die Ganzen gleich.
Arithmetische Interpretation:
a = b → a+c = b+c
Axiom
A3. Wenn von Gleichem Gleiches weggenommen wird, sind die Reste gleich.
Arithmetische Interpretation:
a = b → a−c = b−c
Axiom
A4. Wenn Ungleichem Gleiches hinzugefügt wird, sind die Ganzen ungleich.
Arithmetische Interpretation:
a 6= b → a + c 6= b + c
Axiom
A5. Die Doppelten von demselben sind einander gleich.
Arithmetische Interpretation:
a = b → 2a = 2b
Axiom
A6. Die Halben von demselben sind einander gleich.
Arithmetische Interpretation:
a=b →
1
1
·a = ·b
2
2
Die Axiome sieben, acht und neun beinhalten nun geometrische, nicht anzuzweifelnde
Wahrheiten. Ihre Einordnung in die Gruppe der Euklidischen Axiome beweist die enge
Verzahnung von Axiomen und Postulaten in den Elementen.
1.4. AXIOME
23
Axiom
A7. Was einander deckt, ist einander gleich.
Das in diesem Axiom verwendete Wort decken wird nicht näher erläutert. E.S. Unger
führt dazu näher aus:
Dinge decken sich, heißt: Sie können so ineinander gelegt werden, dass
sie ganz zusammenfallen, so dass kein Teil des einen vor irgendeinem Teil
des anderen hervorragt; und hieraus folgt unmittelbar, dass sie gleich sein
müssen.
Axiom
A8. Das Ganze ist größer als der Teil.
In den Elementen wird dieses Axiom ohne eine genau Analyse als ein Kriterium des
Kleiner- bzw. Größerseins verwendet. Wir wollen hierauf nicht näher eingehen.
Axiom
A9. Zwei Strecken umfassen keinen Flächenraum.
Dieses Axiom wurde nachträglich in die Elemente aufgenommen, um insbesondere die
in Abschnitt 1.3 gemachte Eindeutigkeitsaussage im Postulat über die Existenz einer
Strecke zwischen zwei gegebenen Punkten nachzuweisen. Die behauptete Eindeutigkeit folgt unter Annahme dieses Postulats unmittelbar.
Um unseren Eindruck der griechischen Geometrie zu vertiefen, wollen wir mit Heath
[64], Seite 204, folgenden, auf Ptolemäus zurückgehenden Beweis“ des Parallelenaxioms
”
vorstellen und laden den Studenten ein, alle unbegründeten Argumentationsschritte und
versteckten Annahmen offenzulegen.
Beweis. Betrachte die folgende Figur:
E
A
B
F
L
K
G
C
H
D
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
24
Wir stellen die folgenden Voraussetzungen:
1. Gegeben seien zwei gerade Linien AB und CD
(Vor)
2. Die Gerade EH schneide AB in F und CD in G
(Vor)
3. Es sei (BFG) + (FGD) = 2R
(Vor)
Dabei steht 2R für zwei rechte Winkel; arithmetische Operationen und Identitäten benutzen wir aus Gründen der Übersichtlichkeit. Es ist zu zeigen, dass sich die geraden
Linien FB und GD nicht schneiden. Aber angenommen, FB und GD schneiden sich in
einem Punkt K.
5. Es ist (GFA) + (BFG) = 2R
(I.13)
6. Es ist (CGF) + (FGD) = 2R
(I.13)
7. Es ist (GFA) + (BFG) + (CGF) + (FGD) = 4R
(5, 6)
8. Es ist (GFA) + (CGF) = 2R
(3, 7, A3)
Hierin bedeutet I.13 die spätere Proposition I.13. Ptolemäus schließt nun aus Sym”
metriegründen“ zwischen den Beweisschritten 3 und 8, dass sich FA und GC in einem
Punkt L schneiden müssen, genauso wie sich FB und GD nach Voraussetzung im Punkt
K schneiden.
9. Die Geraden FA und GC schneiden sich im Punkt L.
(4)
10. Die Geraden LABK und LCDK schließen einen Raum ein.
Das widerspricht aber dem Axiom A9.
Bemerkung. Simon [143], Seite 39 f. bemerkt, dass Axiom 7 wesentlich ist zur Begründung der Streckenidentität
AB = BA,
von der wir auch stets Gebrauch machen. Schopenhauer kritisierte dieses Axiom als
Tautologie (siehe Paragraph 1.6.5 unten, aber auch Paragraph 3.8.7), Bolzano und
Grassmann ersetzen es durch: Dinge, deren bestimmende Stücke gleich sind, sind
”
gleich.“ Am Beweis des Satzes AB = BA verzweifelnd, gab, wie Simon [143], S. 40,
schreibt, Bolzano die rein logische Begründung der Geometrie auf.
Wir könnten jedoch gegen Simons Argumentation einwenden, dass Euklid den Begriff
Strecke“ gar nicht in einer solchen Strenge definiert hat, welche einen Satz AB = BA
”
überhaupt erst ermöglicht, und daher ist ein Beweis von AB = BA stets ein Pseudobeweis.
Behalten Sie bitte im Gedächtnis: Simons Buch erschien 1901, also zwei Jahre nach
Hilberts Festschrift Grundlagen der Geometrie, deren Inhalte wir im dritten Kapitel
unserer Vorlesung kennenlernen und diskutieren werden.
1.5. PROPOSITIONEN
25
Vergleich mit E.S. Unger, M. Simon und T.L. Heath
− (1) Was einem und demselben gleich ist, ist selbst gleich. (2) Gleiches zu Gleichem hinzugetan gibt Gleiches. (3) Gleiches von Gleichem hinweggenommen
bleibt Gleiches. (4) Gleiches zu Ungleichem hinzugetan gibt Ungleiches. (5)
Gleiches zu Ungleichem hinweggenommen bleibt Ungleiches. (6) Gleiches verdoppelt gibt Gleiches. (7) Gleiches halbiert gibt Gleiches. (8) Was sich deckt ist
gleich. (9) Das Ganze ist größer als ein Teil desselben. (10) Alle rechten Winkel
sind gleich groß. (11) Werden zwei gerade Linien . . . [Parallelenpostulat] (12)
Zwei gerade Linien schließen keinen Raum ein.
− (1) Was demselben [dritten] gleich ist, ist unter sich gleich. (2) Und wird Gleiches
zu Gleichem hinzugesetzt, so sind die Ganzen gleich. (3) Und wird [Gleiches] von
Gleichem weggenommen, so sind die Reste gleich. (8) Und das Ganze ist größer
als sein Teil. (7) Und einander Deckendes ist gleich.
− (1) Things which are equal to the same thing are also equal to one another. (2)
If equals be added to equals, the wholes are equal. (3) If equals be subtracted
from equals, the remainders are equal. (a) If equals be added to unequals, the
wholes are unequal. (b) Things which are double of the same thing are equal
to one another. (c) Things which are halves of the same thing are equal to one
another. (d) If equals be subtracted from unequals, the remainders are unequal.
(e) If unequals be added to equals, the difference between the wholes is equal
to the difference between the added parts. (f) If equals be added to unequals,
the difference between the wohles is equal to the difference between the original
unequals. (4) Things which coincide with one another are equal to one another.
(5) The whole is greater than the part.
1.5 Propositionen
Im Zentrum des ersten Buches der Elemente stehen 48 Propositionen, deren Inhalte
Ihnen bereits zum großen Teil aus der Schulmathematik bekannt sind. Bei deren Formulierung halten wir uns erneut an Thaer [156].
Das Wort Konstruktion sollte mit Bedacht gewählt werden: So fragt Proposition 1.1
nach einem gleichseitigen Dreieck über einer vorgelegten Strecke:
→ Über einer gegebenen Strecke ein gleichseitiges Dreieck zu konstruieren.
Aber handelt es sich dabei um eine Konstruktionsaufgabe oder um einen Existenzsatz?
Tatsächlich weist Simon in [143], S. 40 f., sich an Proklus [146] orientierent, darauf
hin, bei welchen der Propositionen der Elemente es sich um Konstruktionsaufgaben
handelt. Wir wollen diese Einteilung für unsere Vorlesungen übernehmen.
Es ist ein wesentliches Verdienst Seidenbergs [142], in jüngster Vergangenheit erneut
mit Nachdruck auf diesen Punkt hingewiesen zu haben. Wäre Proposition I.1 eine Existenzaussage, hätte sie wohl eher eine solche Form:
→ Über einer begrenzten geraden Linie existiert ein gleichseitiges Dreieck.
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
26
Wir wollen einige Proposition der Elemente besonders hervorheben:
◦
◦
◦
◦
◦
◦
◦
◦
Proposition I.4 beinhaltet den zweiten Kongruenzsatz (sws).
Proposition I.8 beinhaltet den ersten Kongruenzsatz (sss).
Proposition I.10 beantwortet die Frage nach der Streckenhalbierung.
Proposition I.12 beinhaltet die Konstruktion des Lotes.
Proposition I.28 beinhaltet die Umkehrung des Parallelenpostulats.
Proposition I.29 benutzt erstmals das Parallelenpostulat.
Proposition I.31 gibt den Anstoß zu Playfairs Variante des Parallelenpostulats.
Proposition I.32 beinhaltet, dass die Innenwinkel eines Dreiecks zusammen zwei
Rechte ergeben.
◦ Proposition I.47 beinhaltet den Satz des Pythagoras.
◦ Proposition I.48 beinhaltet die Umkehrung des Satzes des Pythagoras.
Es ist anzubemerken, dass Euklid den Begriff der Kongruenz nicht benutzt. Überhaupt
werden wir an vielen Stellen auf Argumentationslücken stoßen und versuchen, sie in
unsere Ausführungen deutlich zu kennzeichnen.
Wir beginnen nun mit der
Proposition I.1 (Konstruktionsaufgabe)
I.1 Über einer gegebenen Strecke ein gleichseitiges Dreieck zu errichten.
Beweis von I.1. AB sei die vorgelegte Strecke, über der ein gleichseitiges Dreieck errichtet werden soll. Betrachte dazu die folgende Figur:
C
D
E
A
B
Vorbereitende Konstruktion:
1.
2.
3.
4.
5.
Zeichne den Kreis BCD mit Mittelpunkt A und Abstand AB
Zeichne den Kreis ACE mit Mittelpunkt B und Abstand BA
Die Kreise BCD und ACE schneiden sich im Punkt C
Ziehe von C nach A die Strecke CA
Ziehe von C nach B die Strecke CB
(P3)
(P3)
(P1)
(P1)
1.5. PROPOSITIONEN
27
Wir zeigen nun, dass das Dreieck ABC gleichzeitig ist:
6. Es ist AC = AB
(1, D15)
7. Es ist BC = AB
(2, D15)
8. Es ist AC = BC
(6, 7, A1)
Also ist ABC ist ein gleichseitiges Dreieck, was I.1 beweist.
Dieser erste Beweis der Elemente gliedert sich in zwei Unterpunkte, nämlich
◦ einen konstruktiven Teil (Beweisschritte 1 bis 5)
◦ und einen deduktiven Teil (Beweisschritte 6 bis 8).
Eine Aufsplittung dieser Art ist typisch für die Beweise in Euklids erstem Buch (für
eine genauere Analyse verweisen wir auf Paragraph 1.6.1).
Im dritten Beweisschritt wird behauptet, die beiden Kreise BCD und ACE schneiden
sich im Punkt C. Das bedarf einer näheren Betrachtung:
◦ Interpretieren wir Proposition I.1 als Konstruktionsaufgabe, so ist über die Existenz dieses Schnittpunkts nichts zu beweisen.
◦ Interpretieren wir diese Proposition jedoch als einen Existenzsatz oder, wie wir
besser sagen wollen, als einen Lehrsatz, so sehen wir uns an dieser Stelle mit der
ersten Argumentationslücke Euklids konfrontiert.
Die moderne, axiomatische Geometrie schließt sich aus Gründen, die wir im Verlaufe
unserer Vorlesung noch deutlich herausstellen werden, der zweiten Interpretation an.
Insbesondere werden wir Axiome der folgenden Art kennenlernen und diskutieren:
◦ Axiom über den Schnitt Linie-Kreis
◦ Axiom über den Schnitt Kreis-Kreis
◦ Stetigkeitsaxiome.
Wahrscheinlich war es Leibniz, der auf diesen zu kritisierenden Punkt im Beweis von
Proposition I.1 aufmerksam machte (unbekannte Quelle).
Propositionen I.2 und I.3 (Konstruktionsaufgaben)
I.2 An einem gegebenen Punkt eine einer gegebenen Strecke gleiche Strecke
hinzulegen.
I.3 Wenn zwei ungleiche Strecken gegeben sind, auf der größeren eine der
kleineren gleiche Strecke abzutragen.
Von diesen beiden Konstruktionsaufgaben wollen wir nur die erste beweisen.
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
28
Beweis von I.2. BC sei die gegebene Strecke, die an dem Punkt A hinzugelegt werden
soll. Betrachte dazu die folgende Figur:
F
C
B
G
D
A
L
K
E
Vorbereitende Konstruktion:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Ziehe von A nach B die Strecke AB.
Errichte über AB das gleichseitige Dreieck ABD.
Verlängere die Strecke AD zur Strecke DE.
Verlängere die Strecke BD zur Strecke DF.
Zeichne einen Kreis mit Mittelpunkt B und Abstand BC.
Die Strecke DF trifft diesen Kreis im Punkt G.
Zeichne einen Kreis mit Mittelpunkt D und Abstand DG.
Die Strecke DE trifft diesen Kreis im Punkt L.
(P1)
(I.1)
(P2)
(P2)
(P3)
(P3)
Wir zeigen, dass es sich mit AL um die gesuchte, in A anzulegende Strecke handelt:
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
Es ist BC = BG
Es ist DG = DL
Es ist AD = BD
Es ist BD + BG = DG
Es ist AD + BG = DG
Es ist AD + AL = DL
Es ist AD + AL = DG
Es ist AL = BG
Es ist AL = BC
(5, 6, D15)
(7, 8, D15)
(2)
(4, 6)
(11, 12, A1)
(3, 8)
(10, 14, A1)
(13, 15, A3)
(9, 16, A1)
Mit AL ist also eine zu BC gleiche Strecke an A hinzugelegt, was I.2 beweist.
Der Leser ist eingeladen, den Beweis von Proposition I.3 in der Literatur zu studieren
oder selbst anzugehen.
1.5. PROPOSITIONEN
29
Propositionen I.4 bis I.8 (Lehrsätze)
I.4 Wenn in zwei Dreiecken zwei Seiten zwei Seiten entsprechend gleich
sind und die von den gleichen Strecken umfassten Winkel einander
gleich, dann muss in ihnen auch die Grundlinie der Grundlinie gleich
sein, das Dreieck muss dem Dreieck gleich sein, und die übrigen Winkel
müssen den übrigen Winkeln entsprechend gleich sein, nämlich immer
die, denen gleiche Seiten gegenüberliegen.
I.5 Im gleichschenkligen Dreieck sind die Winkel an der Grundlinie einander gleich; auch müssen die bei Verlängerung der gleichen Strecken unter
der Grundlinie entstehenden Winkel einander gleich sein.
I.6 Wenn in einem Dreieck zwei Winkel einander gleich sind, müssen auch
die den gleichen Winkeln gegenüberliegenden Seiten einander gleich
sein.
I.7 Es ist nicht möglich, über derselben Strecke zwei weitere Strecken, die
zwei festen Strecken entsprechend gleich sind, an denselben Enden wie
die ursprünglichen Strecken ansetzend, auf derselben Seite in verschiedenen Punkten zusammenzubringen.
I.8 Wenn in zwei Dreiecken zwei Seiten zwei Seiten entsprechend gleich
sind und auch die Grundlinie der Grundlinie gleich ist, dann müssen in
ihnen auch die von gleichen Strecken umfassten Winkel einander gleich
sein.
Beweis von I.5. Um diesen bereits auf Thales von Milet zurückgehenden Satz zu beweisen (vgl. Wußing [170]), betrachten wir ein gleichschenkliges Dreieck ABC mit
Seiten AB = AC. Zu zeigen sind
(ABC) = (BCA) und (CBD) = (ECB).
Betrachte dazu die folgende Figur:
C
G
E
A
B
F
D
Vorbereitende Konstruktion:
1.
2.
3.
4.
Nach Voraussetzung gilt AB = AC
Verlängere die Strecke AB zur Strecke AD
Verlängere die Strecke AC zur Strecke AE
Wähle auf BD einen Punkt F beliebig
(Vor)
(P2)
(P2)
(D4)
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
30
5. Trage auf der längeren Strecke AE die kürzere Strecke AG = AF ab
6. Ziehe die Strecke FC
7. Ziehe die Strecke GB
(I.3)
(P1)
(P1)
Betrachte die Dreiecke ACF und ABG :
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
Es ist AF = AG
Es ist (AF, AG) = (AB, AC)
Es ist (AB, AC) = (GAF)
Es ist FC = BG
Es ist ACF = ABG
Es ist (FCA) = (ABG)
Es ist (AGB) = (AFC)
(4, 5)
(2, 3, 4, 5)
(1, 8, 9, 10, I.4)
(1, 8, 9, 10, I.4)
(1, 8, 9, 10, I.4)
(1, 8, 9, 10, I.4)
Betrachte die Dreiecke BCF und BCG :
15.
16.
17.
18.
19.
Es ist BF = CG
Es ist (BFC) = (BGC)
Es ist BCF = BCG
Es ist (CBF) = (GCB)
Es ist (FCB) = (CBG)
(1, 8, A3)
(14)
(11, 15, 16, I.4)
(11, 15, 16, I.4)
(11, 15, 16, I.4)
Beweisabschluss:
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
Es ist (ABG) = (ABC) + (CBG)
Es ist (FCA) = (ABC) + (FCB)
Es ist (FCA) = (BCA) + (FCB)
Es ist (ABC) = (BCA)
Es ist (CBF) = (CBD)
Es ist (GCB) = (CBD)
Es ist (ECB) = (GCB)
Es ist (CBD) = (ECB)
(13, 19)
(20, 21, A3)
(18)
(24, 25, A1)
Mit (22) und (26) ist I.5 bewiesen.
Die Begründung im vierten Beweisschritt geht auf unsere Interpretation von Definition
4 zurück, denn über die Möglichkeit, beliebig Punkte auf einer geraden Linie wählen
zu können, macht Euklid keine Aussage.
Wir wollen bemerken, dass die Beweise von Proposition I.4 und deren Umkehrung Proposition I.8 u.a. ebene Bewegungen gebrauchen, welche ebenfalls nicht vorher erklärt
werden. Simon [143], S. 45, begründet die Möglichkeit solcher Bewegungen durch ein
stillschweigend angenommenes Axiom von der Gleichförmigkeit des Raumes“ und
”
fügt hinzu: Daß Euclid die Kongruenzsätze nicht unter die Forderungen [Postulate]
”
aufgenommen hat, ist ein Fehler“ (siehe Paragraph 3.8.7).
1.5. PROPOSITIONEN
31
Proposition I.9 und I.10 (Konstruktionsaufgaben)
I.9 Einen gegebenen geradlinigen Winkel zu halbieren.
I.10 Eine gegebene Strecke zu halbieren.
Beweis von I.9. Der gegebene geradlinige und zu halbierende Winkel sei (BAC). Betrachte dazu die folgende Figur:
E
C
F
A
D
B
Vorbereitende Konstruktion:
1. Wähle auf AB einen Punkt D beliebig
(D4)
2. Trage auf der längeren Strecke AC die kürzere Strecke AD = AE ab
(I.3)
3. Ziehe die Strecke DE
(P1)
4. Errichte über DE das gleichseitige Dreieck DEF
(I.1)
5. Ziehe die Strecke AF
(P1)
Betrachte die Dreiecke ADF und AEF
6. ADF besitzt die Grundlinie DF
7. AEF besitzt die Grundlinie EF
8. ADF und AEF besitzen die gleiche Seite AF
Beweisschluss:
9. Es ist AD = AE
(2)
10. Es ist DF = EF
(4)
11. Es ist (FAD) = (EAF)
(6, 7, 8, 9, 10, I.8)
Also wird (EAD) durch die Strecke AF halbiert, was I.9 beweist.
Proklus [146], Seite 356, bemerkt, dass der Punkt F tatsächlich innerhalb“ des Win”
kels (CAB) liegt. Wir fügen aber hinzu, dass innerhalb“ und außerhalb“ für Winkel
”
”
gar nicht definiert wurde.
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
32
Propositionen I.11 und I.12 (Konstruktionsaufgaben)
I.11 Zu einer gegebenen geraden Linie rechtwinklig von einem auf ihr gegebenen Punkt aus eine gerade Linie zu ziehen.
I.12 Auf eine gegebene unbegrenzte gerade Linie von einem gegebenen
Punkt, der nicht auf ihr liegt, aus das Lot zu fällen.
Beweis von I.11. Die gegebene gerade Linie sei AB, auf ihr sei ein Punkt C vorgelegt.
Gesucht ist eine Strecke senkrecht auf AB, die durch C verläuft. Betrachte dazu die
folgende Figur:
F
A
D
C
E
B
Vorbereitende Konstruktion:
1.
2.
3.
4.
Wähle auf AB einen Punkt C beliebig
Wähle auf AC einen Punkt D beliebig
Trage auf der längeren Strecke CB die kürzere Strecke CD = CE ab
Errichte über DE das gleichseitige Dreieck DEF
(D4)
(D4)
(I.3)
(P1)
Im Beweisschritt (2) soll aber D verschieden von C gewählt werden. Betrachte nun die
Dreiecke CDF und CEF :
5 CDF und CEF besitzen die gleiche Seite CF
6. CDF besitzt die Grundlinie DF
7. CEF besitzt die Grundlinie EF
Wir zeigen, dass die gerade Linie CF die Forderungen der Proposition erfüllt:
8.
9.
10.
11.
12.
Es ist CD = CE
Es ist DF = EF
Es ist (DCF) = (FCE)
(DCF) und (FCE) bilden gleiche Nebenwinkel
(DCF) und (FCE) sind rechte Winkel
(3)
(4)
(5, 6, 7, 8, 9, I.8)
(D10)
Mit CF ist die also gesuchte gerade Linie gefunden, was I.11 beweist.
Es ist anzumerken, dass der Begriff Nebenwinkel aus Definition 10 nicht als eigenständiger Begriff eingeführt wurde; im obigen Beweisschritt 12 fehlt folgerichtig eine nähere
Erläuterung. Für eine Definition dieses Begriffs verweisen wir auf Abschnitt 2.1.
1.5. PROPOSITIONEN
33
Propositionen I.13 bis I.15 (Lehrsätze)
I.13 Wenn eine gerade Linie, auf eine gerade Linie gestellt, Winkel bildet,
dann muss sie entweder zwei Rechte oder solche, die zusammen zwei
Rechten gleich sind, bilden.
I.14 Bilden an einer geraden Linie in einem Punkt auf ihr zwei nicht auf derselben Seite liegende gerade Linien Nebenwinkel, die zusammen zwei
Rechten gleich sind, dann müssen diese geraden Linien einander gerade
fortsetzen.
I.15 Zwei gerade Linien bilden, wenn sie einander schneiden, Scheitelwinkel,
die einander gleich sind.
Beweis von I.13. Die gerade Linie AB sei auf die gerade Linie CD gestellt und schließe
daher mit dieser die Nebenwinkel (ABC) und (DBA) ein. Es wird behauptet, dass
diese beiden Winkel entweder jeweils gleich einem Rechten sind oder zusammen zwei
Rechte bilden. Betrachte nämlich die folgende Figur:
E
D
A
B
C
Der Fall (ABC) = (DBA) :
1. Beide Winkel sind jeweils rechte Winkel
(D10)
Der Fall (ABC) 6= (DBA); vorbereitende Konstruktion:
2. Konstruiere auf B eine zu CD senkrechte gerade Linie BE
3. Die Winkel (DBE) und (EBC) sind rechte Winkel
4. Die Winkel (EBC) und (DBE) bilden zusammen zwei Rechte
(I.11)
(2)
(3)
Wir zeigen nun, dass (ABD) und (ABC) zusammen zwei Rechte bilden:
5.
6.
7.
8.
9.
10.
Es ist (EBC) = (ABC) + (EBA)
Es ist (EBC) + (DBE) = (ABC) + (EBA) + (DBE)
Es ist (DBA) = (DBE) + (EBA)
Es ist (DBA) + (ABC) = (DBE) + (EBA) + (ABC)
Es ist (EBC) + (DBE) = (DBA) + (ABC)
Es ist (DBA) + (ABC) = 2R
(5, A2)
(7, A2)
(6, 8, A1)
(4, A1)
Damit ist I.13 bewiesen.
Wir müssen an dieser Stelle erneut einwenden, dass nicht deutlich wird, wie aus den
Euklidischen Definitionen, Postulaten und Axiomen auf die algebraischen Rechenregeln zwischen Winkeln geschlossenen werden kann.
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
34
Propositionen I.16 bis I.21: Dreieckssätze (Lehrsätze)
I.16 An jedem Dreieck ist der bei Verlängerung einer Seite entstehende Außenwinkel größer als jeder der beiden gegenüberliegenden Innenwinkel.
I.17 In jedem Dreieck sind zwei Winkel, beliebig zusammengenommen, kleiner als zwei Rechte.
I.18 In jedem Dreieck liegt der größeren Seite der größere Winkel gegenüber.
I.19 In jedem Dreieck liegt dem größeren Winkel die größere Seite gegenüber.
I.20 In jedem Dreieck sind zwei Seiten, beliebig zusammengenommen,
größer als die dritte.
I.21 Sind in einem Dreieck über einer seiner Seiten von ihren Enden aus
zwei Strecken innerhalb zusammengebracht, so müssen die zusammengebrachten Strecken kleiner sein als die beiden übrigen Dreiecksseiten
zusammen, dabei aber den größeren Winkel umfassen.
Beweis von I.17. Es sei das Dreieck ABC vorgelegt. Es wird behauptet, dass zwei beliebige seiner Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte sind. Betrachte nämlich die
folgende Figur:
A
B
C
D
Vorbereitende Konstruktion:
1. Verlängere die Strecke BC zur Strecke BD
2. Der Winkel (ACD) ist Außenwinkel an ABC
(P2)
(1)
Wir zeigen, dass (ABC) und (ACB) zusammen kleiner als zwei Rechte sind:
3.
4.
5.
6.
Es ist (ACD) > (ABC)
Es ist (ACD) + (BCA) > (ABC) + (BCA)
Es ist (ACD) + (ACB) = 2R
Es ist (ABC) + (BCA) < 2R
(2, I.16)
(I.13)
Analoge Konstruktionen, die wir nicht ausführen, zeigen außerdem:
7. (CAB) und (BCA) sind zusammen weniger als zwei Rechte
8. (CAB) und (ABC) sind zusammen weniger als zwei Rechte
Damit ist I.17 bewiesen.
Wir bemerken, dass der vierte Beweisschritt nicht durch das Axiom A4 gedeckt wird,
und genauso fehlt für den sechsten Beweisschritt eine nähere Begründung.
1.5. PROPOSITIONEN
35
Proposition I.22 und I.23 (Konstruktionsaufgaben)
I.22 Aus drei Strecken, die drei gegebenen gleich sind, ein Dreieck zu errichten; hierbei müssen stets zwei, beliebig zusammengenommen, größer
sein als die dritte.
I.23 An eine gegebene gerade Linie in einem Punkt auf ihr einen einem gegebenen geradlinigen Winkel gleichen geradlinigen Winkel abzutragen.
Beweis von I.22. Die drei vorgelegten Seiten seien a, b und c und genügen
a + b > c,
a + c > b,
b + c > a.
Zu konstruieren ist ein Dreieck, dessen Seiten die Längen a, b und c besitzen. Betrachte
dazu die folgende Figur:
K
D
E
F
G
H
Vorbereitende Konstruktion:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Ziehe von D aus eine nach E unbegrenzte gerade Linie DE
Trage auf der längeren Strecke DE die kürzere Strecke DF = a ab
Trage auf der längeren Strecke FE die kürzere Strecke FG = b ab
Trage auf der längeren Strecke GE die kürzere Strecke GH = c ab
Zeichne einen Kreis mit Mittelpunkt F und Abstand DF
Zeichne einen Kreis mit Mittelpunkt G und Abstand GH
Beide Kreise schneiden sich im Punkt K
(P1)
(I.3)
(I.3)
(I.3)
(P3)
(P3)
Wir kommen nun zur Konstruktion des gesuchten Dreieckes:
8.
9.
10.
11.
12.
Es ist DF = FK
Es ist FK = a
Es ist FG = b
Es ist GH = GK
Es ist GK = c
Damit stellt sich FGK als das gesuchte Dreieck heraus.
(5, D15)
(2, 5, A1)
(3)
(6, D15)
(4, 11, A1)
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
36
Propositionen I.24 bis I.26: Dreieckssätze (Lehrsätze)
I.24 Wenn in zwei Dreiecken zwei Seiten zwei Seiten entsprechend gleich
sind, der von den gleichen Seiten umfasste Winkel aber im ersten Dreieck größer ist als im zweiten, dann muss auch die Grundlinie im ersten
Dreieck größer sein als im zweiten.
I.25 Wenn in zwei Dreiecken zwei Seiten zwei Seiten entsprechend gleich
sind, die Grundlinie aber im ersten Dreieck größer ist als im zweiten,
dann muss auch der von den gleichen Strecken umfasste Winkel im ersten
Dreieck größer sein als im zweiten.
I.26 Wenn in zwei Dreiecken zwei Winkel zwei Winkeln entsprechend gleich
sind und eine Seite einer Seite, nämlich entweder die den gleichen Winkeln anliegenden oder die einem der gleichen Winkel gegenüberliegenden Seiten einander gleich, dann müssen auch die übrigen Seiten den
übrigen Seiten entsprechend gleich sein und der letzte Winkel dem letzten Winkel.
Beweis von I.26. Die Dreiecke ABC und DEF genügen
(BAC) = (EDF),
(ACB) = (DFE).
Eine Seite sei einer Seite gleich. Wir unterscheiden zwei Fälle:
1. Fall: Die den gleichen Winkeln anliegenden Seiten seien gleich, d.h.
AC = DF,
und zu zeigen sind
AB = DE,
BC = EF,
(CBA) = (FED).
Angenommen, es gilt
AB > DE.
Betrachte die folgende Figur:
B
E
G
A
C
D
F
Wir wollen AB > DE zum Widerspruch führen und zeigen AB = DE.
1.5. PROPOSITIONEN
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
37
Es ist AC = DF
(Vor)
Es ist (BAC) = (EDF)
(Vor)
Trage auf der längeren Strecke AB die kürzere Strecke DE = AG ab
(I.3)
Es ist AG = DE
(3)
Ziehe die Strecke CG
(P1)
Es ist CG = EF
(1, 2, 4, I.4)
Es ist ACG = DEF
(1, 2, 4, I.4)
Es ist (ACG) = (DFE)
(1, 2, 4, I.4)
Es ist (ACB) = (DFE)
(Vor)
Es ist (ACG) = (ACB)
(8, 9, A1)
Wegen AB > AG steht dies aber im Widerspruch zu I.18, womit AB = DE gezeigt ist.
11.
12.
13.
14.
Es ist AB = DE
Es ist BC = EF
Es ist ABC = DEF
Es ist (CBA) = (FED)
(1, 2, 11, I.4)
(1, 2, 11, I.4)
(1, 2, 11, I.4)
2. Fall: Die den gleichen Winkeln gegenüberliegenden Seiten seien gleich, z.B.
AB = DE,
und zu zeigen sind
AC = DF,
BC = EF,
(CBA) = (FED).
Angenommen, es gilt
AC > DF.
Betrachte die folgende Figur:
B
A
15.
16.
17.
18.
19.
20.
E
H
C
D
F
Es ist AB = DE
(Vor)
Es ist (BAC) = (EDF)
(Vor)
Trage auf der längeren Strecke AC die kürzere Strecke DF = AH ab
(I.3)
Es ist AH = DF
(17)
Ziehe die Strecke BH
(P1)
Es ist BH = EF
(15, 16, 18, I.4)
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
38
21. Es ist ABH = DEF
(15, 16, 18, I.4)
22. Es ist (AHB) = (DFE)
(15, 16, 18, I.4)
23. Es ist (ACB) = (DFE)
(Vor)
24. Es ist (AHB) = (ACB)
(22, 23, A1)
Für das Dreieck BHC wäre daher sein Außenwinkel (AHB) gleich seinem Innenwinkel (BCH) im Widerspruch zu I.16, womit AC = DF gezeigt ist.
25. Es ist AC = DF
26. Es ist BC = EF
(15, 16, 25, I.4)
27. Es ist ABC = DEF
(15, 16, 25, I.4)
28. Es ist (CBA) = (FED)
(15, 16, 25, I.4)
Damit ist I.26 bewiesen.
Wußing [170], S. 45, bemerkt, dass dieser Kongruenzsatz, der bei Simon als zweiter,
in neueren Lehrbüchern auch als dritter Kongruenzsatz bezeichnet wird, bereits auf
Thales von Milet zurückgeht.
Übrigens nutzt Simon [143] diese Stelle seiner Kommentare zu den Elementen, um
den dänischen Mathematikhistoriker Zeuthen aus seiner Geschichte der Mathematik
im Altertum und Mittelalter [173] zu zitieren, wo wir auf Seite 113 lesen:
Im übrigen enthält das Buch [Buch I der Elemente] Sätze über die Lage
gerader Linien gegen einander, über senkrechte und parallele Geraden mit
zugehörigen Konstruktionen, über Kongruenz und Konstruktion von Dreiecken, und über die Abhängigkeit zwischen Gleichheit und Ungleichheit
von Seiten und Winkeln in einer Vermengung, die nur wenig übersichtlich
ist, die aber eine Folge ist von der logisch wohl gesicherten Methode, nach
der die Sätze allmählich auf einander aufgebaut sind.
um ihn dann mit den folgenden Worten zu entgegnen:
Seit wann dieser Satz als zweiter Kongruenzsatz gezählt wird, habe ich
nicht nicht ermitteln können; höchst auffallend ist, daß ein Mann wie Zeuthen (Geschichte der Mathematik, Kopenh. 1896) nicht bemerkt hat, daß
Euklid die beiden Fälle des 2. Kongruenzsatzes in einem Satz behandelt
hat. Danach verliert auch sein Urteil (S. 113) von einer Vermengung, die
”
nur wenig übersichtlich ist“, das Gewicht; ich bin der entgegengesetzten
Ansicht. Es giebt kaum etwas durchsichtigeres als den planvollen Aufbau
des 1. Buches.
1.5. PROPOSITIONEN
39
Propositionen I.27 bis I.29: Parallele Linien (Lehrsätze)
I.27 Wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien einander
gleiche innere Wechselwinkel bildet, müssen diese geraden Linien einander parallel sein.
I.28 Wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt,
dass ein äußerer Winkel dem auf derselben Seite innen gegenüberliegenden gleich oder innen auf derselben Seite liegende Winkel zusammen
zwei Rechten gleich werden, dann müssen diese geraden Linien einander parallel sein.
I.29 Beim Schnitt einer geraden Linie mit zwei parallelen geraden Linien werden innere Wechselwinkel einander gleich, jeder äußere Winkel wird den
innen gegenüberliegenden gleich und innen auf derselben Seite entstehende Winkel werden zusammen zwei Rechten gleich.
Beweis von I.28. Die gerade Linie EF mache beim Schnitt mit den beiden geraden
Linien AB und CD
◦ den äußeren Winkel (EGB) dem innen gegenüberliegenden Winkel (GHD)
gleich
◦ oder die innen auf derselben Seite liegenden Winkel (BGH) und (GHD)
zusammen zu zwei Rechten.
Dann ist zu zeigen, dass AB parallel zu CD ist. Betrachte dazu die folgende Figur:
E
G
A
H
C
B
D
F
Wie unterscheiden also zwei Fälle:
1. Fall: Es sei (EGB) = (GHD).
1.
2.
3.
4.
5.
Es ist (EGB) = (GHD)
Es ist (EGB) = (HGA)
Es ist (GHD) = (HGA)
(GHD) und (HGA) sind Wechselwinkel
AB und CD sind parallel
Das schließt den ersten Fall ab.
(Vor)
(I.15)
(1, 2, A1)
(I.27)
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
40
2. Fall: (BGH) und (GHD) bilden zusammen zwei Rechte
6.
7.
8.
9.
10.
11.
Es ist (BGH) + (GHD) = 2R
Es ist (HGA) + (BGH) = 2R
Es ist (BGH) + (GHD) = (HGA) + (BGH)
Es ist (GHD) = (HGA)
(GHD) und (HGA) sind Wechselwinkel
AB und CD sind parallel
(Vor)
(I.13)
(6, 7, A1, P4)
(8, A3)
(I.27)
Damit ist Proposition I.28 bewiesen.
Auf den Begriff des Wechselwinkels, der in diesem Beweis ohne nähere Erläuterung
verwendet wird, kommen wir in Abschnitt 2.1 zurück.
Wir erinnern an dieser Stelle an unsere Ausführungen zum Ptolemäusschen Beweis“
”
des Parallelenaxioms: Würden sich die geraden Linien AB und CD in einem Punkt
rechts schneiden, so aus Symmetriegründen“auch in einem Punkt links. Damit würden
”
sie aber einen positiven Inhalt einschließen im Widerspruch zu Axiom A9.
Wir wollen schließlich folgende wichtige Bemerkung festhalten:
Bemerkung. Die bisherigen 28 Proposition der Elemente benötigen wesentlich das
Axiom A1, nachdem zwischen zwei verschiedenen Punkten eine und nur eine gerade
Linie möglich ist, wie auch die Existenz unbegrenzter gerader Linien, aber sie machen nicht vom Parallelenaxiom Gebrauch. Daher gelten sie auch in der nichteuklidischen, genauer in der hyperbolischen ebenen Geometrie, wobei dann das Wort paral”
lel“ durch sich nicht schneidend“ ersetzt wird.
”
Propositionen I.30 bis I.33 (Lehrsätze, eine Konstruktionsaufgabe)
I.30 Derselben geraden Linie parallele sind auch einander parallel.
I.31 Durch einen gegebenen Punkt eine einer gegebenen geraden Linie parallele gerade Linie zu ziehen.
I.32 An jedem Dreieck ist der bei Verlängerung einer Seite entstehende
Außenwinkel den beiden gegenüberliegenden Innenwinkeln zusammen
gleich, und die drei Winkel innerhalb des Dreiecks sind zusammen zwei
Rechten gleich.
I.33 Strecken, welche gleiche und parallele Strecken auf denselben Seiten verbinden, sind auch selbst gleich und parallel.
Beweis von I.32. Wir verlängern die Seite BC des Dreiecks ABC zur geraden Linie BD.
Es sind zu zeigen
(ACD) = (CAB) + (ABC)
sowie
(ABC) + (CAB) + (BCA) = 2R.
1.5. PROPOSITIONEN
41
Betrachte dazu die folgende Figur:
E
A
B
C
D
Vorbereitende Konstruktion:
1. Ziehe durch C eine Parallele CE zu AB
(I.31)
2. Die Parallelen AB und CE werden von BC geschnitten
(1)
3. Die Parallelen AB und CE werden von AC geschnitten
(1)
4. (CAB) und (ACE) sind Wechselwinkel
5. Es bilden (ACD) und (BCA) zusammen zwei Rechte
(I.13)
Beweisschluss:
6. Es ist (CAB) = (ACE)
(2, 3, I.29)
7. Es ist (ECD) = (ABC)
(4, I.29)
8. Es ist (ACD) = (ACE) + (ECD)
9. Es ist (ACD) = (CAB) + (ABC)
10. Es ist (ACD) + (BCA) = (ABC) + (CAB) + (BCA)
11. Es ist (ABC) + (BCA) + (CAB) = 2R
(6, 7, A2)
(9, A2)
(5, 10, A1)
Damit ist Proposition I.32 bewiesen.
Simon [143], Seite 57f., bemerkt zu hierzu:
Aus dem Scholion erfahren wir, daß Eudemos von Rhodos, der Peripa”
tiker“, einer von den unmittelbaren Schülern des Aristoteles, diesen Satz
den Pythagoräern zuschreibt mit samt dem Beweise, der gewöhnlich in
den Lehrbüchern steht, der Parallelen durch die Spitze zur Grundlinie. Der
Satz selbst ist als Erfahrungssatz gewiß viel älter als Euclid, und es wird
vollkommen klar, daß der ganze Gang der Elemente bis zu ihm hin durch
das Bestreben ihn zu beweisen bestimmt ist. Der enge Zusammenhang des
Satzes über die Winkelsumme im Dreieck mit der Parallelentheorie ist also
schon dem Euclid völlig bewußt gewesen.
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
42
Propositionen I.34 bis I.36 (Lehrsätze)
I.34 Im Parallelogramm sind die gegenüberliegenden Seiten sowohl als die
Winkel einander gleich, und die Diagonale halbiert es.
I.35 Auf derselben Grundlinie zwischen denselben Parallelen gelegene Parallelogramme sind einander gleich [groß].
I.36 Auf gleichen Grundlinien zwischen denselben Parallelen gelegene Parallelogramme sind einander gleich [groß].
Beweis von I.35. Die Parallelogramme ABCD und BCFE liegen auf derselben Grundlinie BC und zwischen denselben Parallelen AF bzw. BC. Zu zeigen ist
ABCD ist so groß wie BCFE.
Betrachte dazu die folgende Figur:
A
D
E
F
G
B
C
Betrachte das Parallelogramm ABCD :
1. Es ist AD = BC
2. Es ist AB = CD
(I.34)
(I.34)
Betrachte das Parallelogramm BCFE :
3. Es ist BC = EF
4. Es ist BE = CF
(I.34)
(I.34)
Zwischenschritt:
5. Es ist AD = EF
6. Es ist AD + DE = EF + DE
7. Es ist AE = DF
(1, 3, A1)
(5, A2)
(6)
Betrachte die Dreiecke ABE und CEF :
8.
9.
10.
11.
12.
Es ist AB = CD
Es ist AE = DF
Es ist BE = CF
Es ist (FDC) = (DAB)
Es ist ABE = CDF
(2)
(6)
(4)
(I.29)
(8, 9, 10, I.4)
1.5. PROPOSITIONEN
43
Beweisschluss:
13. Es ABGD so groß wie CFEG
[nehme DGE beiderseits weg]
(A3)
14. Es ist ABCD so groß wie BCFE
[füge BCG beiderseits hinzu]
(A2)
Damit ist Proposition I.35 bewiesen.
An dieser Stelle benutzt Euklid erstmals den Begriff gleich – und ohne es explizit
zu erwähnen – im Sinne von gleichen Inhalts. Obwohl es sich hierbei nicht um eine
Kongruenz handelt, wird in der Literatur vom Gleichheitssymbol Gebrauch gemacht
ABDG = CFEG
usw.
Um Fehldeutungen vorzubeugen, haben wir diese Schreibweisen jeweils ersetzt durch
ABDG ist so groß wie CFEG
usw.
Mit den nächsten Propositionen werden die vorigen Kongruenzsätze für Parallelogramme auf Dreiecke erweitert.
Propositionen I.37 bis I.40 (Lehrsätze)
I.37 Auf derselben Grundlinie zwischen denselben Parallelen gelegene Dreiecke sind einander gleich [groß].
I.38 Auf gleichen Grundlinien zwischen denselben Parallelen gelegene Dreiecke sind einander gleich [groß].
I.39 Auf derselben Grundlinie nach derselben Seite gelegene gleiche Dreiecke liegen auch zwischen denselben Parallelen.
I.40 Auf gleichen Grundlinien nach derselben Seite gelegene gleiche Dreiecke liegen auch zwischen denselben Parallelen.
Beweis von I.37. Vorgelegt seien die Dreiecke ABC und BCD mit derselben Grundlinie
BC, und beide mögen zwischen den Parallelen BC und AD liegen. Zu zeigen ist, dass
ABC so groß ist wie BCD. Betrachte dazu die folgende Figur:
E
A
B
D
C
F
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
44
Vorbereitende Konstruktion:
1. Verlängere AD zur Strecke DE
(P2)
2. Verlängere AD zur Strecke AF
(P2)
3. Ziehe durch B die Parallele zu AC
(P5, I.31)
4. Diese schneidet EF im Punkt E
(P5)
5. Ziehe durch C die Parallele zu BD
(P5, I.31)
6. Diese schneidet EF im Punkt F
(P5)
7. Die Parallelogramme EABC und BCFD besitzen dieselbe Grundlinie BC
8. EBCA und BCFD liegen zwischen denselben Parallelen BC und EF
9. EBCA wird von AB halbiert
10. BCFD wird von DC halbiert
Beweisschluss:
10. Es sind EBCA und BCFD gleich groß
(7, 8, I.35)
11. Es ist EBCA doppelt so groß wie ABC
(9, I.34)
12. Es ist BCFD doppelt so groß wie CBD
(10, I.34)
13. Es ist ABC so groß wie CBD
(10, 11, 12, A6)
Damit ist Proposition I.37 bewiesen.
Die Beweisschritte 4 und 6 werden von Euklid nicht explizit erwähnt. Proposition I.31
garantiert jedoch nur die Existenz einer Parallelen zu AC (bzw. AB). Dass es sich dabei um jeweils genau eine Parallele handelt, bedarf eines Beweises, dem wir uns im
Paragraphen 2.4.3 in Form des Playfairschen Axioms widmen.
Propositionen I.41 bis I.45 (Konstruktionsaufgaben und Lehrsätze)
I.41 Wenn ein Parallelogramm mit einem Dreieck dieselbe Grundlinie hat und
zwischen denselben Parallelen liegt, ist das Parallelogramm doppelt so
groß wie das Dreieck.
I.42 Ein einem gegebenen Dreieck gleiches Parallelogramm in einem gegebenen geradlinigen Winkel zu errichten.
I.43 In jedem Parallelogramm sind die Ergänzungen der um die Diagonale
liegenden Parallelogramme einander gleich.
I.44 An eine gegeben Strecke ein einem gegebenen Dreieck gleiches Parallelogramm in einem gegebenen geradlinigen Winkel anzulegen.
I.45 Ein einer gegebenen geradlinigen Figur gleiches Parallelogramm in einem gegebenen geradlinigen Winkel zu errichten.
1.5. PROPOSITIONEN
45
Beweis von I.41. Das Parallelogramm ABCD und das Dreieck BCE haben dieselbe
Grundlinie BC, und beide liegen zwischen denselben Parallelen BC und AE. Zu zeigen ist, dass ABCD doppelt so groß ist wie BCE. Betrachte dazu die folgende Figur:
A
D
B
C
E
Vorbereitende Konstruktion:
1. Ziehe von A nach C die gerade Linie AC
(P1)
2. ABC und BCE besitzen dieselbe Grundlinie
(Vor)
3. ABC und BCE liegen zwischen denselben Parallelen BC und AE
(Vor)
4. Das Parallelogramm ABCD wird von AC halbiert
(I.34)
Beweisschluss:
5. Es ist ABC so groß wie BCE
(2, 3, I.37)
6. Es ist ABCD doppelt so groß wie ABC
(4)
7. Es ist ABCD doppelt so groß wie BCE
(5, 6, A1)
Damit ist Proposition I.41 bewiesen.
Propositionen I.46 bis I.48 (Konstruktionsaufgabe und Lehrsätze)
I.46 Über einer gegebenen Strecke das Quadrat zu zeichnen.
I.47 Am rechtwinkligen Dreieck ist das Quadrat über der dem rechten Winkel
gegenüberliegenden Seite den Quadraten über den den rechten Winkel
umfassenden Seiten zusammen gleich.
I.48 Wenn an einem Dreieck das Quadrat über einer Seite den Quadraten über
den beiden übrigen Seite zusammen gleich ist, dann ist der von diesen
beiden übrigen Seiten des Dreiecks umfasste Winkel ein Rechter.
Mit Proposition I.47 handelt es sich mit dem Pythagoreischen Lehrsatz um einen der
berühmtesten Sätze der Euklidischen Geometrie. Die Umkehrung dieses Satzes ist Inhalt der das erste Buch der Elemente abschließenden Proposition I.48.
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
46
Beweis von I.47. Das Dreieck ABC mit dem rechten Winkel (CAB) sei vorgelegt.
Betrachte dazu die folgende Figur:
H
G
K
A
F
B
C
M
D
L
E
Vorbereitende Konstruktion:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Zeichne über BC das Quadrat BCED
Zeichne über AB das Quadrat BAGF
Zeichne über AC das Quadrat ACKH
Ziehe durch A eine Parallele zu BD
Diese schneidet DE im Punkt L
Ziehe von A nach D die gerade Linie AD
Ziehe von C nach F die gerade Linie CF
(I.46)
(I.46)
(I.46)
(I.31)
(P5)
(P1)
(P1)
Erster Beweisschluss:
8. Es ist (CAB) ist ein rechter Winkel
(Vor)
1.5. PROPOSITIONEN
47
9. Es ist (BAG) ist ein rechter Winkel
10. AC setzt AG geradlinig fort
(2, D22)
(I.14)
Zweiter Beweisschluss:
11. Es ist (CAB) ein rechter Winkel
12. Es ist (HAC) ein rechter Winkel
13. AB setzt AH geradlinig fort
(Vor, 8)
(3, D22)
(I.14)
Dritter Beweisschluss
14.
15.
16.
17.
Es ist (CBD) ein rechter Winkel
Es ist (FBA) ein rechter Winkel
Es ist (CBD) = (FBA)
Es ist (ABD) = (FBC)
(1, D22)
(2, D22)
(P4)
(16, A2)
Betrachte die Dreiecke ABD und BCF
18.
19.
20.
21.
22.
Es ist BD = BC
Es ist AB = FB
Es ist (ABD) = (FBC)
Es ist AD = CF
Es ist ABD = CBF
(1, D22)
(2, D22)
(17)
(18, 19, 20, I.4)
(18, 19, 20, I.4)
Betrachte das Dreieck ABD und das Parallelogramm BMLD
23. ABD und BMLD haben dieselbe Grundseite BD
24. ABD und BMLD liegen zwischen denselben Parallelen AL und BD
25. Es ist BMLD doppelt so groß wie ABD
(23, 24, I.41)
Betrachte das Quadrat ABFG und das Dreieck FBC
26.
27.
28.
29.
30.
CBF und ABFG haben dieselbe Grundseite FB
CBF und ABFG liegen zwischen denselben Parallelen FB und GC
Es ist ABFG doppelt so groß wie CBF
(26, 27, I.41)
Es ist ABFG doppelt so groß wie ABD
(22, 28)
Es ist ABFG so groß wie BMLD
(25, 29, A1)
Zieht man die geraden Linien AE und BK, so lässt sich ganz ähnlich zeigen:
31. CMLE ist so groß wie ACKH
Vierter Beweisschluss:
32. Es ist BDEC so groß wie ACKH und ABFG zusammen
Damit ist Proposition I.47 bewiesen.
(30, 31, A2)
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
48
Proklus in [146], Seite 462, leitet diesen Satz mit den folgenden Worten ein:
Schenken wir denjenigen Gehör, die das Altertum erforschen wollen, so
werden wir finden, daß sie dies Theorem auf P YTHAGORAS zurückführen
und berichten, er habe der Entdeckung halber einen Stier geopfert. Bewundere ich nun schon diejenigen, die die Wahrheit dieses Theorems zuerst erforschten, so muß ich um so mehr den Verfasser der Elemente“
”
hochschätzen: Er hat nicht nur durch den überzeugendsten Beweis dieses Theorem erhärtet, sondern auch im VI. Buche das noch umfassendere
Theorem durch unwiderlegbare wissenschaftliche Beweise begründet . . .
1.6 Anhänge
1.6.1 Zum Kommentar des Proklus Diadochus
Die Sammlungen des Pappos von Alexandria und die Kommentare zum ersten Buch Euklids des
von 412 bis 485 u.Z. lebenden spätantikischen, griechischen Philosophens Proklus bilden die
zwei Hauptquellen der Geschichtsforschung zur griechischen Geometrie, insbesondere zu den
Elementen (vgl. Heath [64], Seite 29).
Für uns sind Proklus’ Euklidkommentare über Stecks Edition [146] aus dem Jahre 1945 verfügbar,
eine englischsprachige Übersetzung erschien 1970.
Proklus Diadochus’ Kommentar, Erster Teil zu den Propositionen, S. 307f.
Jede Wissenschaft ist zweifacher Art: Entweder bemüht sie sich um die unmittelbaren
Sätze, oder sie liefert, gestützt auf diese, Beweise und Konstruktionen, zieht überhaupt
Folgerungen aus den Prinzipien und entwickelt so ihr System. Die unsere entscheidet
sich bei der Behandlung der Geometrie in die Erledigung der Probleme und die Gewinnung von Lehrsätzen. Sie bezeichnet als Probleme Aufgaben, bei denen sie sich zum
Ziele setzt, nicht Vorhandenes ausfindig zu machen, ans Licht zu bringen und zu beschaffen, als Theoreme aber Sätze, durch die sie das, was zutrifft oder nicht zutrifft,
sehen, erkennen und beweisen will. Die ersteren nämlich stellen die Aufgabe, den Werdegang, die Lagen, Anlagen, die Zeichnungen usw. darzustellen; die letzteren bemühen
sich, die Akzidenzien und den wesentlichen Befund der geometrischen Materie durch
Beweise zu erhärten und festzustellen. Alle Fragen, über die man Untersuchungen anstellen kann, erörtert die Geometrie und weist die einen den Problemen, die anderen den
Theoremen zu . . .
Soviel über die zu behandelnden Fragen. Jedes Problem aber und jeder Lehrsatz, die
aus ihren vollständigen Teilen sich zusammensetzen, müssen alle folgenden Stücke in
sich schließen: Die Aufgabe, die Angabe, die Thesis, die Konstruktion, der Beweis, die
Schlußfolgerung. Davon besagt die Aufgabe, was gegeben und was gesucht wird. Denn
die vollständige Aufgabe enthält beides. Die Angabe nimmt das Datum für sich allein
und gibt ihm die geeignete Fassung für die Untersuchung. Die Thesis macht im besonderen klar, wonach eigentlich gefragt wird. Die Konstruktion fügt dem Gegebenen das
zur Erreichung des gesuchten Ergebnisses noch Fehlende hinzu. Der Beweis folgert in
1.6. ANHÄNGE
49
sachkundiger Weise aus dem, was zugegeben wird, den vorliegenden Satz. Der Schluß
lenkt wieder zur Aufgabe zurück und bekräftigt das Resultat. Das sind die sämtlichen
Teile der Probleme und Lehrsätze.
1.6.2 Gauß zur Definition der Ebene
Auf den schottischen Mathematiker und Geometer Simson führt man eine Definition der Ebene
zurück, die wir erst am Ende dieses Abschnitts vortragen werden, jedoch mit dem nachstehenden
Auszug aus einem Brief von Gauß an Bessel wie folgt in unsere Diskussion einbringen möchten
(siehe die Edition [1]).
Gauß an F.W. Bessel, 27. Januar 1829
Auch über ein anderes Thema, das bei mir schon fast 40 Jahr alt ist, habe ich zuweilen
in einzelnen freien Stunden wieder nachgedacht; ich meine die ersten Gründe der Geometrie; ich weiß nicht, ob ich Ihnen je über meine Ansichten darüber gesprochen habe.
Auch hier habe ich manches noch weiter konsolidiert, und meine Überzeugung, dass
wir die Geometrie nicht vollständig a priori begründen können, ist womöglich noch
fester geworden. Inzwischen werde ich wohl noch lange nicht dazu kommen, meine
sehr ausgedehnten Untersuchungen darüber zur öffentlichen Bekanntmachung auszuarbeiten, und vielleicht wird dies auch bei meinen Lebzeiten nie geschehen, da ich das
Geschrei der Boeoter scheue, wenn ich meine Ansicht ganz aussprechen wollte. – Seltsam ist es aber, dass außer der bekannten Lücke in Euklids Geometrie, die man bisher
umsonst auszufüllen gesucht hat und nie ausfüllen wird, es noch einen anderen Mangel
in derselben gibt, den meines Wissens niemand bisher gerügt hat, und dem abzuhelfen
keineswegs leicht (obwohl möglich) ist. Dies ist die Definition des Planum als einer
Fläche, in der die irgend zwei Punkte verbindende gerade Linie ganz liegt. Diese Definition enthält mehr, als zur Bestimmung der Fläche nötig ist und involvirt tacite ein
Theorem, welches erst bewiesen werden muss.
Für uns ist insbesondere der letzte Satz dieses Zitats von Bedeutung, nach dem die Definition
der Ebene einen noch zu beweisenden Satz enthält.
Gauß geht in diesem Brief allerdings nicht näher darauf ein, um welchen Satz es sich handelt.
Auch in Bessels Antwortschreiben vom 10. Februar 1829 finden wir keinen Hinweis auf Simsons
fragwürdige Definition.
Doch wenige Monate später legt Gauß erneut seine Bedenken vor (siehe [2] sowie Gerling [53]):
C.F. Gauß an C.L. Gerling, 05. November 1829
Es gibt viele solche Dinge, selbst in der Elementargeometrie, die eines strengen Beweises bedürfen, z.B. die Möglichkeit der Ebene, deren Definition eigentlich schon ein
Theorem involviert, z.B. wenn ABD, AFG, ACE, BFC gerade Linien sind, dass dann
die gerade Linie durch DE nicht oberhalb oder unterhalb G weggehen kann.
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
50
D
B
F
A
G
C
E
Der Beweis ist zwar nicht sehr schwer, aber doch auch nicht ganz leicht und auf jeden
Fall in dieser oder einer anderen Form unerlässlich.
In diesem Licht lässt sich nun leicht und richtig der folgende berühmte Gaußsche Tagebucheintrag aus Klein [91] verstehen:
C.F. Gauß, wissenschaftliches Tagebuch, 28. Juli 1797
Plani possibilitatem demonstravi.
Gauß’ Kritik findet in der Folgezeit Eingang in die Lehrbücher. So schreibt beispielsweise Crelle
[27]:
A.L. Crelle (1853): Zur Theorie der Ebene
Die Definition der Ebene . . . schließt, wenn man sie näher betrachtet, so auffallend
Lehrsätze in sich . . .
A
E
F
B
D
C
Denn zieht man z.B. in der Ebene, in welcher das Dreieck ABC liegt, durch eine der
Ecken A und durch einen beliebigen Punkt D der gegenüberliegenden Seite die gerade Linie AD, so soll dieselbe, der Erklärung der Ebene zur Folge, ganz in der Ebene
des Dreiecks liegen: Alle Punkte der Ebene in dieser Linie sind also völlig bestimmt.
Zieht man nun hierauf aus einer zweiten Ecke B des Dreiecks eine gerade Linie BE
nach irgendeinem Punkt E der gegenüberliegenden Seite AC, so soll auch diese Linie
ebensowohl ganz in der Ebene liegen . . . Beides zusammen: dass AD und BE ganz in
der Ebene liegen, ist also offenbar nur dann möglich, wenn AD und BE, etwa in F, sich
schneiden; denn sonst wäre von zwei Ebenen, nicht von einer die Rede. Dass nun AD
und BE notwendig sich schneiden, nicht etwa BE unter oder über AD hinwegläuft, folgt
aus sich selbst nicht.
In diesen Zitaten wird also ein grundlegendes Problem der Euklidischen Geometrie angesprochen: Was entscheidet, wann zwei Geraden sich schneiden? Benötigt man eventuell das Paralle-
1.6. ANHÄNGE
51
lenaxiom? Die Einsicht hierin ist von Bedeutung für das Verständnis und die spätere Kritik der
noch zu diskutierenden Axiomensysteme von Pasch, Peano und Hilbert.
Es ist nun an der Zeit, Gauß’ Definition der Ebene nachzutragen, unter deren Verwendung er die
Existenz des oben angesprochenen Schnittpunkts beweist:
C.F. Gauß (1832): Begründung des Planum
Ebene nennen wir die Fläche, in der jede durch einen gegebenen Punkt A gehende Gerade AD liegt, die mit der gegebenen Geraden AB einen rechten Winkel macht. Eine solche
Ebene wird also beschrieben, wenn AD sich um AB als Axe dreht.
Diese persönliche Notiz Gauß’ ist abgedruckt im achten Band der Gesammelten Werke [50],
Seite 194, und wurde von Stäckel auf das Jahr 1832 datiert. Eine detaillierte Kritik hierüber
findet sich in Zormbala [175].
Es verbleibt noch, die Simsonsche Definition der Ebene nachzuholen. Dazu zitieren wir aus
Kästners Monographie [88], Seite 162, die sicher auch Gauß als Student vorgelegt hat:
Eine ebene Fläche oder Ebene heißt, in der man von jedem Punkt zum anderen gerade
Linien ziehen kann, so dass alle Punkte dieser Linien in der Fläche liegen.
1.6.3 Saccheris Beweis der Kreishalbierung
Wir folgen Heath [64], Seite 185. Saccheris Beweis, dass jeder Durchmesser den Kreis halbiert,
verläuft im Wesentlichen entlang folgender Argumentationskette:
Betrachte einen durch MKNHD gegebenen Kreis mit Mittelpunkt A. Der durch MNKM gegebene Teil des Kreises rotiere um die festen Punkten M und N und komme so auf dem verbleibenden,
durch MNHDM gekennzeichneten Kreisanteil zu liegen.
D
H
M
A
N
K
◦ Der Durchmesser MAN mit allen seinen Punkten bleibt bei dieser Drehung unverändert.
◦ Kein Punkt K des Kreisumfangs NKM fällt in diejenige Fläche, welche vom Durchmesser
MAN und vom Kreisumfang NHDM eingeschlossen wird.
◦ Ein Radius MA kann in genau eine Weise linear fortgesetzt werden zu einem Radius AN.
◦ Alle Durchmesser des Kreises schneiden sich im Kreismittelpunkt, und sie halbieren sich
dabei auf Grund allgemeiner Kreiseigenschaften.
Der Beweis wird nun durch folgende Begründung abgeschlossen:
From all this it is manifest that the diameter MAN divides its circle and the circumference of it just exactly into two equal parts, and the same may be generally
asserted for every diameter whatsoever of the same circle; which was to be proved.
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
52
1.6.4 Weitere Beweise des Pythagoreischen Lehrsatzes
Wir wollen aus Nelsens Proof without words [110] und [111] einige einfache, auf rein geometrischen Konstruktionen basierenden Methoden zum Beweis des Pythagoreischen Lehrsatzes
vorstellen und damit unsere Untersuchungen zu diesem Satz abrunden. Hätte ein solcher Beweis
auch in den Euklidischen Element Eingang finden können?
Die historischen Anmerkungen sind Stillwell [148] und Struik [150] entnommen.
Ein Beweis aus dem Zhoubi Suanjin
Betrachte die nachfolgende Skizze:
b
c2
a
c
Mit a, b und c bezeichnen wir die entsprechenden Streckenlängen. Dann lassen sich herauslesen
(a + b)2
4·
ab
2
c2
ergibt die Fläche des großen Quadrats,
ergibt die Gesamtfläche der vier Randdreiecke,
ergibt die Fläche des inneren Quadrats.
Also gilt nach Summieren
ab
+ c2 bzw. a2 + 2ab + b2 = 2ab + c2 ,
2
und nach Streichen des gemeinsamen Summanden 2ab folgt die Behauptung.
(a + b)2 = 4 ·
Dieses geometrische Verfahren eines unbekannten Verfassers findet sich in dem chinesischen
Werk Zhoubi suanjin (übersetzt: Arithmetischer Klassiker des Zhou-Gnomons) um 100 v.Chr.
Zu bemerken ist, dass Euklid nicht im Besitz eines Längenbegriffs war, stattdessen in späteren
Büchern der Elemente mit Proportionen arbeitete.
Ein Beweis nach Bhaskara
Atscharja Bhaskara (1114-1185) zählt zu den größten indischen Mathematikern und Astronomen
des zwölften Jahrhunderts. Auf ihn geht der in nachstehender Abbildung skizzierte Beweis des
Pythagoreischen Lehrsatzes zurück.
Das mittlere Quadrat in besitzt die Seitenlängen b − a. Die Gesamtfläche des großen Quadrats
mit den Seitenlängen c berechnet sich also zu
c2 = (b − a)2 + 4 ·
ab
ab
= b2 − 2ab + a2 + 4 ·
= a2 + b2 ,
2
2
1.6. ANHÄNGE
53
was die gesuchte Identität beweist.
a
b
c
Ein Beweis nach Garfield
James A. Garfield hatte vom 4. März 1881 bis zum 19. September 1881, als er an den Folgen
einer Schussverletzung starb, das Amt des zwanzigsten Präsidenten der Vereinigten Staaten von
Amerika inne. Sein nachstehender Beweis wurde 1876 im New England Journal of Education
[49] veröffentlicht.
b
c
a
Bezeichnet A den Inhalt des durchgängig gezeichneten Trapezes, so bringt ein Vergleich mit dem
Inhalt des großen Quadrats
A = 2·
1
1
1
· ab + · c2 = · (a + b)2 ;
2
2
2
die zweite Identität folgt nach Spiegelung des Trapezes. Umstellen liefert den Satz.
S. Klebe in The Executive Intelligence Review (Februar 1995)
This, obviously, was back in the days when U.S. political leaders still admired a classical
education. How far are we now from the oratory of an Abraham Lincoln, or from the
inspired crusade for classical education in free, public schools by a Thaddeus Stevens!
And how unusual for a U.S. president and Congressman to be involved in geometrical
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
54
constructions! But perhaps this story further fills in the picture of why such a political
leadership was considered a threat to the British aristocracy who had just seen their
support for the Confederacy go up in flames.
Ein Beweis nach Burk
Ein rechtwinkliges Dreieck mit Hypothenuse c und Katheten a und b wird
◦ mit den Faktoren a bzw. b skaliert (Abbildung links),
◦ mit dem Faktor c skaliert (Abbildung rechts).
Ein Vergleich der Seitenlängen der so erhaltenen drei neuen rechtwinkligen Dreiecke beweist
sofort a2 + b2 = c2 .
c
a
b2
b
bc
c2
ab
ac
bc
a2
ac
Diese Idee stammt vom amerikanischen Mathematiker Frank E. Burk [18].
1.6.5 Schopenhauer zur Methodenlehre der Mathematik
Der folgende Auszug aus Schopenhauer [138] veranlasste Simon, S. 39f., zu der Feststellung:
Sch. hat Euclid gar nicht verstanden.“ Urteilen Sie selbst!
”
A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (1819), Kapitel 13
Die Eukleidische Demonstrirmethode hat aus ihrem eigenen Schooß ihre treffendeste
Parodie und Karikatur geboren, an der berühmten Streitigkeit über die Theorie der Parallelen und den sich jedes Jahr wiederholenden Versuchen, das elfte Axiom zu beweisen.
Dieses nämlich besagt, und zwar durch das mittelbare Merkmal einer schneidenden dritten Linie, daß zwei sich gegen einander neigende (denn dies eben heißt kleiner als zwei
”
rechte seyn“), wenn genugsam verlängert, zusammentreffen müssen; welche Wahrheit
1.6. ANHÄNGE
55
nun zu komplicirt seyn soll, um für selbstevident zu gelten, daher sie eines Beweises
bedarf, der nun aber nicht aufzubringen ist; eben weil es nichts Unmittelbareres giebt.
Mich erinnert dieser Gewissensskrupel an die Schillersche Rechtsfrage:
Jahre lang schon bedien’ ich mich meiner Nase zum Riechen:
Hab’ ich denn wirklich an sie auch ein erweisliches Recht?
ja, mir scheint, daß die logische Methode sich hiedurch bis zu Niaiserie steigere. Aber
gerade durch die Streitigkeien darüber, nebst den vergeblichen Versuchen, das unmittelbar Gewisse als bloß mittelbar gewiß darzustellen, tritt die Selbstständigkeit und Klarheit der intuitiven Evidenz mit der Nutzlosigkeit und Schwierigkeit der logischen Ueberführung in einen Kontrast, der nicht weniger belehrend, als belustigend ist. Man will
hier nämlich die unmittelbare Gewißheit deshalb nicht gelten lassen, weil sie kein bloß
logische, aus dem Begriffe folgende, also allein auf dem Verhältniß des Prädikats zum
Subjekt, nach dem Satze vom Widerspruch, beruhende ist. Nun ist aber jenes Axiom
ein synthetischer Satz a priori und hat als solcher die Gewährleistung der reinen, nicht
empirischen Anschauung, die eben so unmittelbar und sicher ist, wie der Satz vom Widerspruch selbst, von welchem alle Beweise ihre Gewißheit erst zur Lehn haben. Im
Grunde gilt dies von jedem geometrischen Theorem, und es ist willkürlich, wo man hier
die Gränze zwischen dem unmittelbar Gewissen und dem erst zu Beweisenden ziehn
will. – Mich wundert, daß man nicht vielmehr das achte Axiom angreift: Figuren, die
”
sich decken, sind einander gleich“. Denn das Sichdecken ist entweder eine bloße Tautologie, oder etwas ganz Empirisches, welches nicht der reinen Anschauung, sondern
der äußern sinnlichen Erfahrung angehört. Es setzt nämlich Beweglichkeit der Figuren
voraus; aber das Bewegliche im Raum ist allein die Materie. Mithin verläßt dies Provociren auf das Sichdecken den reinen Raum, das alleinige Element der Geometrie, um
zum Materiellen und Empirischen überzugehn.
1.6.6 Literaturstudium zu Euklids Definitionen
Der Begriff des Punktes in der prähilbertschen Literatur
In den vergleichenden Studien Schottens Inhalt und Methode des planimetrischen Unterrichts
[139] finden sich eine Vielzahl von Quellen zur mathematischen Schulbuchliteratur aus dem
achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert.
Hieraus wollen wir in diesem Paragraphen zitieren, um von den Auffassungen der Autoren jener
Zeit zu den Grundlagen der Euklidischen Geometrie, insbesondere vom Begriff eines Punktes,
einen lebendigen Eindruck zu vermitteln.
Über den Begriff Punkt
• A.G. Kästner (1758)
Die mathematischen Anfangsgründe I.I: Anfangsgründe der Arithmetik, Geometrie, ebenen und sphärischen Trigonometrie und Perspektive [88]
Die körperliche Ausdehnung, ein geometrischer Körper (solidum; corpus) heißt eine
solche Ausdehnung, die das, was sich innerhalb ihrer Grenzen befindet, überall, nach
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
56
allen Seiten zu umgibt. Die Ausdehnung der Körper an ihren Grenzen heißt eine Fläche
(superficies) und die Ausdehnung der Fläche an ihren Grenzen eine Linie (linea) . . . Der
Punkt ist die Grenze der Linie, und also aller Ausdehnung.
• A.L. Crelle (1816)
Ueber Parallelen-Theorieen und das System in der Geometrie [26]
Ein nach allen Seiten ausgedehnter Raum heißt körperlicher Raum. Eine Grenze, in
welcher ein körperlicher Raum an einen anderen stößt, heißt Fläche. Eine Grenze, in
welcher ein Flächenraum an einen andern stößt, heißt Linie. Eine Grenze, in welcher
ein Linienraum an einen andern stößt, heißt Punkt . . . Da der Punkt nicht als Linien-,
Flächen- oder körperlicher Raum ausgedehnt ist, so ist er gar nicht ausgedehnt. Der
Punkt ist also das Unteilbare. Er ist kein Raum, sondern nur ein Ort im Raume.
• J.F. Brewer (1822)
Lehrbuch der Geometrie und ebenen Trigonometrie [17]
Legt man zwei genau abgeschliffene Lineale mit der flachen Seite aufeinander, so werden sie sich überall berühren; das, was sie trennt, ist eine geometrische Fläche im
strengsten Sinne des Wortes . . . Obschon wir durch keines unserer Werkzeuge eine geometrische Linie abgesondert von der Fläche darstellen können, so giebt es doch an den
von uns physisch dargestellten Linien wirklich geometrische, z.B. die linke oder rechte
Seite einer Bleistiftlinie ist eine geometrische Linie.
• M.G. von Paucker (1823)
Die ebene Geometrie der geraden Linie und des Kreises, oder die
Elemente [118]
Ein Punkt ist die Vorstellung von einem Teilchen eines natürlichen Körpers, welches so
klein gedacht wird, dass es keinen Raum mehr einnimmt . . . Eine Linie ist die Vorstellung von der Spur eines sich bewegenden Punktes . . . Eine Fläche heißt die Vorstellung
von der Spur einer Linie, welche sich nicht in der Richtung ihrer Länge bewegt. Der von
einer oder mehreren Flächen eingeschlossene Raum heißt ein Körper.
• F.C. Kries (1826)
Lehrbuch der reinen Mathematik [96]
Der Punkt bezeichnet nur eine Stelle im Raum, ohne selbst einen Teil des Raumes auszumachen.
• C.F. Pfleiderer (1827)
Scholien zum ersten Buche von Euclid’s Elementen [120]
Die Grenzen endlich einer begrenzten geraden Linie, so wie die Zeichen eines genau
bestimmten Orts auf einer Linie, Fläche oder Körper, welche man also ohne alle Ausdehnung denken muss, heißen Punkte.
1.6. ANHÄNGE
• F. Wolff (1830)
Lehrbuch der Geometrie I [169]
Die Geometrie geht vom mathematischen Punkte, als der einfachsten Grundvorstellung
aus. Er dient zur Bezeichnung eines Ortes im Raume.
• G.C.J. Ulrich (1836)
Lehrbuch der reinen Mathematik [161]
Es gibt drei Arten räumlicher Gegenstände: Körper, Flächen und Linien. Die Körper
werden von Flächen, die Flächen von Linien, die Linien von Punkten begrenzt . . .
Nach der Grundbeschaffenheit dieser (kontinuierlichen) Größen haben deren unmittelbar aufeinander folgende Teile eine gemeinschaftliche Grenze . . . Hieraus ergibt sich
die Unmöglichkeit, eine Linie aus einer Reihe nebeneinanderliegender Punkte zusammenzusetzen etc.
• L.B. Francoeur (1839)
Vollständiger Lehrkurs der reinen Mathematik I.IV: Analytische Geometrie in der
Ebene [40]
Jeder Körper hat drei Abmessungen oder Dimensionen, welche man mit den Namen
Länge, Breite, Höhe (Dicke oder Tiefe) bezeichnet. Die Grenzen eines Körpers, die
ihn vom unendlichen Raume unterscheiden und ohne die er nicht gedacht werden kann,
werden Flächen genannt. Treffen die Flächen eines Körpers je zwei zusammen, so haben
solche ebenfalls ihre Grenzen, die Linien heißen. Die Linien endlich haben an dem Ort,
wo sie einander begegnen, ihre Grenzen, die Punkte genannt werden.
• J.A. Grunert (1870)
Lehrbuch der Mathematik und Physik für staats- und landwirthschaftliche Lehranstalten und Kameralisten überhaupt [59]
Was man im gemeinen Leben Punkte nennt, sind keine geometrischen Punkte, sondern
kleine aus Tinte, Kreide etc. bestehende physische Körper, die aber dem wahren geometrischen Begriff eines Punktes desto näher kommen, je kleiner sie sind. Den geometrischen Punkt muss man sich in der That ohne alle Ausdehnung vorstellen, da derselbe
vorzüglich gebraucht wird, um im Raume einen Ort bestimmt anzugeben.
• R. Baltzer (1874)
Die Elemente der Mathematik [6]
Der Raum ist ohne Unterbrechung und über jede Grenze hinaus ausgedehnt. Ein Ort im
Raume ohne Ausdehnung gedacht, heißt ein Punkt. Ein Ausgedehntes ist entweder eine
Linie, oder eine Fläche, oder ein Raum im engeren Sinne.
57
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
58
• J. Helmes (1874)
Die Elementar-Mathematik nach den Bedürfnissen des Unterrichts streng wissenschaftlich dargestellt II: Die Planimetrie [68]
Der Punkt ist keine räumliche Größe mehr. Denn man findet bei der Prüfung der wie
oben gewonnenen Vorstellung der Linie nur noch die eine Ausdehnung, genannt Länge,
vor, und indem man von ihr aufs neue absieht, bleibt in der Vorstellung für die Grenze
der Linie, den Punkt, gar keine räumliche Ausdehnung mehr zurück; es bleibt nichts
übrig, von dem Gestalt und Größe durch eine mögliche Veränderung desselben erfasst
und unterschieden werden könnte; der Punkt ist völlig ausdehnungs- und gestaltlos; er
ist wieder ein nur durch Abstraktion gewonnener, ein abstrakter Begriff, er bezeichnet
eine gedachte Stelle des Raumes.
• J.C.V. Hoffmann (1874)
Vorschule der Geometrie [82]
Der Punkt ist gewissermaßen der Keim (Embryo) der Linie . . . Hat er eine Ausdehnung?
Nur die kleinstmögliche . . . Er hat die Ausdehnung eines Atoms. Sonst – wäre er ein
reines Nichts.
• J.K. Becker (1877)
Die Elemente der Geometrie auf neuer Grundlage streng deduktiv dargestellt [9]
Was wir als im Raume befindlich uns vorstellen, oder wirklich darin wahrnehmen, ist
entweder ein Körper, eine Fläche, eine Linie oder ein Punkt . . . Eine Linie endlich wird
vom Punkte geteilt und begrenzt. Dieser ist selbst nicht mehr ausgedehnt, und wenn man
von der Linie, welche er begrenzt, abstrahiert, kann in ihm nichts mehr gedacht werden
als eine ausdehnungslose Stelle im Raum oder an einem Raumgebilde, die sich von einer
andern derselben Art nur noch der Lage nach unterscheiden kann.
• R. Heger (1882)
Leitfaden für den geometrischen Unterricht II: Trigonometrie [66]
Körper werden begrenzt von Flächen (Oberflächen), Flächen werden begrenzt von Linien, Linien werden begrenzt von Punkten. Ein Punkt ist ein im Raum gedachter Ort,
keine Größe . . . Die Bahn eines bewegten Punktes ist eine Linie; die Bahn einer bewegten Linie ist eine Fläche; die Bahn einer bewegten Fläche ist ein Körper.
• F. Kommerell (1882)
Lehrbuch der ebenen Geometrie [94]
Jeder Körper wird von Flächen begrenzt . . . Wo zwei Flächen sich begegnen, ensteht
eine Linie; Linien bilden demnach die Grenzen der Flächen . . . Durch den Schnitt von
Linien entstehen Punkte.
1.6. ANHÄNGE
59
• J. Hoch (1884)
Lehrbuch der ebenen Geometrie I [78]
Die Körper, Flächen und Linien sind die einzigen im Raume ausgedehnten Dinge . . .
Die Punkte jedoch, als Grenzen von Linien, haben keine Gestalt und Größe, können
demnach nur in Bezug auf ihre Lage miteinander verglichen werden.
• G. Recknagel (1885)
Ebene Geometrie für Schulen [126]
Es lässt sich der Punkt auch unabhängig von der Linie denken als einzelne Stelle im
Raume; Linie . . . als Spur eines bewegten Punktes.
• F. Behl (1886)
Die Darstellung der Planimetrie nach induktiver Methode [11]
Der mathematische Punkt ist nur etwas Gedachtes; er existiert nur in der Vorstellung.
• F. Reidt (1886)
Anleitung zum mathematischen Unterricht an höheren Schulen [128]
Der Unterricht beginnt in der Regel mit einer Erörterung der Begriffe Körper, Fläche
etc. . . . Man hüte sich hierbei von dem Bestreben, diese Begriffe metaphysisch-abstrakt
festzustellen und begründen zu wollen; dafür hat der Anfänger absolut kein Verständnis.
Es muss hier genügen, dieselben anschaulich klar zu machen.
• O. Rausenberger (1887)
Die Elementargeometrie des Punktes, der Geraden und der Ebene [123]
Wie uns die Anschauung lehrt, ist ein Punkt keiner weiteren Zerlegung fähig; er ist das
letzte Element, zu dem uns unsere Betrachtung führt.
Der Begriff der Linie in der prähilbertschen Literatur
Auch für unsere nächsten Literaturstudien, nun zum elementargeometrischen Begriff der Linie,
lassen wir uns von Schottens wertvoller Quellensammlung Schotten [139] leiten.
Jedes einzelne der folgenden Zitate zeigt uns deutlich, mit welchen Schwierigkeiten man bei
dem Versuch konfrontiert ist, elementargeometrische Begriffe mittels möglichst grundlegender
Ideen und Vorstellungen zu definieren. Wie wir später sehen werden, führten diese Probleme zu
der uns heute geläufigen Einsicht, im Rahmen der axiomatischen Geometrie auf solche Versuche
gänzlich zu verzichten und die gesamte Theorie auf nicht näher definierten, man darf sogar sagen
inhaltslosen geometrischen Basisobjekten aufzubauen.
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
60
Über den Begriff Linie
• A.G. Kästner (1758)
Die mathematischen Anfangsgründe I.I: Anfangsgründe der Arithmetik, Geometrie, ebenen und sphärischen Trigonometrie und Perspektive [88]
Die gerade Linie wird niemand aus irgend einer Erklärung kennen lernen; und niemand
hat es auch nötig. Aber man kann wohl etwas von ihr sagen, das die Aufmerksamkeit
leitet auf das, was sie zu einer geraden Linie macht, genauer Acht zu geben. Wenn man
in A einen Punkt, einen Körper, auf dessen Größe man nicht sieht, setzt: so kann sich
derselbe von seinem Orte nach unzähligen Gegenden bewegen. Sagt man, er soll nach B
gehen, so ist die Gegend bestimmt, nach der er gehen soll; und er könnte nach eben der
Gegend noch über B hinaus nach F gehen.
• J.F. Benzenberg (1810)
Anfangsgründe der Rechenkunst und Geometrie für die Feldmesser des Großherzogthums Berg [13]
Was eine gerade Linie sei, ist jedem bekannt. Es ist die kürzeste Linie zwischen zwei
Punkten . . . Eine gerade Linie, die der Oberfläche des stillstehenden Wassers parallel
ist, heißt eine horizontale Linie. Bindet man eine Bleikugel an einen Faden, und läßt ihn
frei hangen, so bildet der Faden eine senkrechte Linie. Diese Linie, die häufig vorkommt,
heißt auch die Lotlinie, oder der Perpendikel.
• A.L. Crelle (1816)
Ueber Parallelen-Theorieen und das System in der Geometrie [26]
Eine Linie unterscheidet sich von einer anderen durch ihre Gestalt. Daher giebt es
unzählige verschiedene Linien. Man unterscheidet gerade und krumme. Eine gerade Linie ist, die je an zwei entgegengesetzten Seiten dieselbe Gestalt hat, so dass, wenn man
die eine Seite der Linie in die andere, d.h. den Flächenraum an der einen Seite in den
Flächenraum an der anderen Seite legt, die Grenzen beider Räume an demselben Orte
im Raum bleiben.
• F.C. Kries (1826)
Lehrbuch der reinen Mathematik [96]
Die Vorstellung der geraden Linie gründet sich unmittelbar auf die Vorstellung der Ausdehnung und kann daher nicht weiter erklärt werden. Alle Erklärungen, die man von ihr
giebt, schließen entweder schon den Begriff der geraden Linie in sich oder setzen ihn in
der That voraus. Es ist daher auch nur eine einzige Art gerader Linien möglich . . . Eine
gerade Linie unterscheidet sich von den andern nur durch ihre Größe. Sie ist daher auch
durch ihre Größe bestimmt. Andere Eigenschaften bietet sie, für sich allein und ohne
weitere Bedingungen betrachtet, nicht zur Untersuchung dar.
1.6. ANHÄNGE
• C.F. Pfleiderer (1827)
Scholien zum ersten Buche von Euclid’s Elementen [120]
Es scheint, der Begriff von gerader Linie lasse sich wegen seiner Einfachheit durch
keine regelmäßige Definition erklären, die nicht Wörter, die deren Begriff schon in sich
schließen (dergleichen sind Richtung, Gleichheit und Einerleiheit der Lage, Zug ohne
Biegung), hereinnehme; und man könne denjenigen, der nicht weiß, was die Benennung
gerade hier bedeutet, es nicht anders lehren, als dadurch, dass man ihm ein Bild oder
eine Zeichnung davon auf irgend eine Art darstellt.
• F. Wolff (1830)
Lehrbuch der Geometrie I [169]
Eine Linie ist entweder gerade oder krumm . . . Dies sind einfache Begriffe.
• J. Steiner (1832)
Systematische Entwickelung der Abhängigkeit geometrischer Gestalten von einander [147]
Die in der Geometrie erforderlichen Grundvorstellung sind: der Raum, die Ebene, die
Gerade (gerade Linie) und der Punkt . . . In der Geraden ist eine unzählige Menge unmittelbar aufeinander folgender Punkte denkbar, die sich, von irgend einem derselben
ausgehend, nach zwei entgegengesetzten Seiten hin ins Unendliche erstreckt.
• G.C.J. Ulrich (1836)
Lehrbuch der reinen Mathematik [161]
Die gerade Linie ist eine so einfache räumliche Größe und ursprüngliche Vorstellung des
Verstandes, dass es schwer hält, deren Begriff auf andere einfachere und mehr bekannte
Begriffe zurückzuführen. Hierin liegt die Schwierigkeit, eine solche Erklärung von ihr
zu geben, aus welcher ihre Konstruktion und alle Eigenschaften, welche die Geometrie
von ihr in Anspruch nimmt, abgeleitet und streng bewiesen werden könnten.
• L.B. Francoeur (1839)
Vollständiger Lehrkurs der reinen Mathematik I.IV: Analytische Geometrie in der
Ebene [40]
Die Linie heißt eine Gerade, wenn kein Punkt derselben, insofern als man sie sich um
zwei in ihr angenommene Punkte drehen lässt, eine Verrückung erleidet.
61
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
62
• A. Arneth (1840)
System der Geometrie [4]
Man nennt eine Linie gerade oder eine Gerade, wenn alle Punkte, welche in ihr gedacht
werden können, in derselben Richtung liegen, wenn sie die anfängliche Richtung immer
beibehält, wie weit man in ihr auch fortgehen mag.
• M. Beck (1842)
Die ebene Geometrie nach Adrian Marie Legendre [8]
Eine gerade Linie ist der kürzeste Weg von einem Punkte zu einem andern.
• A. Tellkampf (1847)
Vorschule der Mathematik [155]
Unter allen denkbaren Bewegungen eines Punktes ist die einfachste die in gerader Linie. Es ist unmöglich, von einer solchen eine Erklärung zu geben, wodurch ihr Begriff
auf einfachere Vorstellungen zurückgeführt würde, da sie zu den umittelbar gegebenen
Grundvorstellungen der Geometrie gehört.
• E.F. August (1852)
Lehrbuch der Mathematik für den höheren Schulunterricht [5]
Wenn der in Bewegung gedachte Punkt seine Richtung nie ändert, so entsteht eine gerade
Linie.
• E. Müller (1869)
Elemente der Geometrie streng systematisch dargestellt [109]
Eine Linie heißt gerade Linie oder Gerade schlechtweg, wenn sie von der Beschaffenheit
ist, dass jede sie enthaltende Ebene auf ihren beiden Seiten in ihrer ganzen Ausdehnung
nach den beiden entgegengesetzten Gegenden von einerlei Beschaffenheit ist, und dass
die beiden Seiten mit den zugehörigen Ebenenteilen oder ohne dieselben miteinander
vertauscht werden können.
• H. von Helmholtz (1870)
Ueber den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome [69]
Aber in jenen ersten Elementen werden einige Sätze aufgestellt, von denen die Geometrie selbst erklärt, dass sie sie nicht beweisen könne, dass sie nur darauf rechnen müsse.
Jeder, der den Sinn dieser Sätze verstehe, werde ihre Richtigkeit zugeben. Das sind die
sogenannten Axiome der Geometrie. Zu diesen gehört zunächst der Satz, dass wenn man
die kürzeste Linie, die zwischen zwei Punkten gezogen werden kann, eine gerade Linie
nennt, es zwischen zwei Punkten nur eine und nicht zwei verschiedene solche gerade
Linien geben könne.
1.6. ANHÄNGE
• V. Schlegel (1872)
System der Raumlehre [137]
Die Gerade wird auf dieselbe Weise definiert, wie im System der Raumlehre. Es heißt
dann noch von ihr: Die Gerade ist 1) einmal ausgedehnt, 2) einfach, 3) unbegrenzt, 4)
unendlich, 5) in sich beweglich.
• R. Baltzer (1874)
Die Elemente der Mathematik [6]
Die einfachste unter den Linien ist die Gerade, welche eine von einem Punkt ausgehende
Richtung (und die entgegengesetzte) angiebt und nach dieser Richtung unbegrenzt sich
weiter erstreckt.
• J. Helmes (1874)
Die Elementar-Mathematik nach den Bedürfnissen des Unterrichts streng wissenschaftlich dargestellt II: Die Planimetrie [68]
Von allen Linien ist ausgezeichnet durch die Einfachheit und Ursprünglichkeit ihrer Vorstellung die gerade Linie oder die Gerade. Sie lässt sich nicht definieren oder unter einen
noch höheren Begriff, stellen, aber was sie von allen anderen . . . unterscheidet, lässt sich
bestimmt aussprechen und zum Bewusstsein bringen.
• J. Kober (1874)
Leitfaden der ebenen Geometrie mit 700 Uebungssätzen und Aufgaben [92]
Der Begriff der geraden Linie und der Richtung, (sowie die nahe verwandte Ebene)
gestatten wegen ihrer Einfachheit keine völlig befriedigende Definition . . . Ein bewegter
Punkt beschreibt eine gerade Linie, wenn er die anfängliche Richtung beibehält.
• H. Wagner (1874)
Lehrbuch der ebenen Geometrie [164]
Die Gestalt der geraden Linie ist uns von früher her so bekannt, in all unsere Vorstellungen so eingewurzelt, dass wir uns gar nicht vorstellen können, sie sei eine andere. Wir
bestimmen aber auch immer eine gerade Linie in Wirklichkeit durch zwei Punkte; denn
stellen wir uns z.B. die Kante einer Treppenstufe vor, so suchen wir nach ihren Endpunkten und sind nicht eher beruhigt, als bis wir zwei solche Punkte gefunden haben.
• J.K. Becker (1877)
Die Elemente der Geometrie auf neuer Grundlage streng deduktiv dargestellt [9]
Der Ort aller Punkte, deren Lage durch ihre Distanz von zwei festen Punkten bestimmt
ist, ist eine Linie, die alle ihre Punkte auf kürzestem Wege verbindet . . . Diese Linie
heißt gerade Linie oder Gerade.
63
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
64
• C. Heinze (1877)
Die Elementar-Geometrie für den Schulgebrauch [67]
Sind zwei Punkte gegeben, so ist die Zusammenfassung aller Punkte, die von dem einen
aus vor dem andern liegen, die geometrische gerade Linie.
• J.M. Beckmann (1879)
Die geometrischen Grundgebilde und ihre perspectivische Verwandtschaft [10]
Punkt, Gerade und Ebene werden als absolut einfache, gewissermaßen atomistische
”
und daher auch undefinierbare Grundformen oder Elemente“ bezeichnet.
• W. Mink (1879)
Lehrbuch der Geometrie als Leitfaden beim Unterrichte an höheren Lehranstalten [107]
Der Begriff der geraden Linie oder der Geraden ist ein einfache, eine Erklärung derselben daher nicht möglich, aber auch einer solchen nicht bedürftig. Die Gerade giebt die
von einem Punkte ausgehende Richtung dar.
• J. Henrici und P. Treutlein (1881)
Lehrbuch der Elementar-Geometrie [71]
Die einfachste unter allen Linien ist die gerade Linie oder Gerade . . . Axiom der Geraden: Durch zwei Punkte geht immer eine, aber nur eine einzige Gerade, oder: Wenn
zwei Geraden zwei Punkte miteinander gemeinsam haben, so fallen sie in eine einzige
zusammen, d.h. sie decken einander in allen ihren Punkten.
• L. Kaiser (1881)
Über einige Hauptpunkte des geometrischen Unterrichts [86]
Die größten Schwierigkeiten erheben sich, sobald man es versucht, den Begriff der geraden Linie in eine bündige Definition zu fassen. Hier scheinen in der Tat diejenigen
Mathematiker das Richtigste zu treffen, welche die Vorstellung von der Geraden für so
ursprünglich und einfach halten, dass sie sich in einfachere Elemente nicht zergliedern
lässt.
• R. Heger (1882)
Leitfaden für den geometrischen Unterricht II: Trigonometrie [66]
Ein Körper, von welchem zwei Punkte A und B festgehalten werden, kann sich noch
bewegen . . . Die Punkte einer Linie des Körpers ändern bei dieser Bewegung ihre Lage
nicht. Diese Linie ist durch die beiden festgehaltenen Punkte bestimmt. Man nennt diese
Linie gerade Linie.
1.6. ANHÄNGE
65
• J. Hoch (1884)
Lehrbuch der ebenen Geometrie I [78]
Ein Punkt hat bei dem Beginn seiner Bewegung die Auswahl unter einer unendlichen
Menge von Bewegungen. Das die unendlich vielen Bewegungen Unterscheidende heißt
Richtung. Die entgegengesetzte Richtung ist jene, welche angiebt, wie man von dem bei
der Bewegung erreichten Punkt wieder zurückkommen könnte zum Ausgangspunkt . . .
Alle Punkte, welche in einer bestimmten Richtung oder in der entgegengesetzten liegen,
liegen in einer geraden Linie oder Geraden. Eine Gerade ist demnach jene Linie, welche,
in zwei Punkten festgehalten, ihre Lage nicht ändern kann.
• G. Recknagel (1885)
Ebene Geometrie für Schulen [126]
Der Begriff der geraden Linie muß als elementar vorausgesetzt werden.
Der Begriff der Fläche in der prähilbertschen Literatur
Wir wollen unsere Literaturstudiem zu den elementaren geometrischen Begriffen mit dem der
Fläche abschließen. Insbesondere werden wir die Simsonsche Definition der Ebene, die wir in
Paragraph 1.6.2 besprochen haben, wiederfinden.
Über den Begriff Fläche
• A.L. Crelle (1816)
Ueber Parallelen-Theorieen und das System in der Geometrie [26]
Eine Fläche unterscheidet sich von der anderen durch ihre Gestalt; daher gibt es unzählige verschiedene Flächen. Man unterscheidet gerade und krumme. Erster heißen Ebenen.
Eine Ebene ist, die an beiden Seiten dieselbe Gestalt hat, so, dass wenn man die eine
Seite der Ebene in die andere, d.h. den körperlichen Raum an der einen Seite in den
körperlichen Raum an der anderen, und umgekehrt, legt, die Grenzen des Raumes in
demselben Orte im Raume bleiben.
• C.F. Pfleiderer (1827)
Scholien zum ersten Buche von Euclid’s Elementen [120]
Eine Fläche heißt alsdan (d.h. nach der Definition der geraden Linie) eben, wenn jede gerade Linie, die von irgend einem Punkt der Fläche an irgend einen andern Punkt
derselben gezogen wird, ganz in der Fläche liegt.
• F. Wolff (1830)
Lehrbuch der Geometrie I [169]
Eine Fläche ist entweder eben oder krumm . . . Dies sind einfache Begriffe.
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
66
• B.F. Thibaut (1831)
Grundriß der reinen Mathematik zum Gebrauch bey academischen Vorlesungen [157]
Man darf das, was eine ebene Fläche ist, wohl als bekannt voraussetzen, obgleich eine
solche durch Hilfe der geraden Linie noch erklärt werden kann.
• J.H. van Swinden (1834)
Elemente der Geometrie [151]
Eine ebene Fläche oder Ebene ist diejenige Fläche, welche durchaus dieselbe Lage zwischen ihren Grenzen hat.
• G.C.J. Ulrich (1836)
Lehrbuch der reinen Mathematik [161]
Unter Ebene wird die Fläche verstanden, deren allen Teilen eine gerade Linie angefügt
werden kann, oder genauer, welche so beschaffen ist, dass jede gerade Linie, die durch
zwei beliebige Punkte der Fläche gelegt ist, ganz in die Fläche fällt.
• A. Arneth (1840)
System der Geometrie [4]
Eine Fläche wird eben oder Ebene genannt, wenn eine Gerade, wie man sie auch in die
Fläche legen mag, immer mit dieser zusammenfällt.
• C. Franz (1842)
Die Philosophie der Mathematik [41]
Die Ebene ist das Außersichsein, und zwar der Linie, der Richtung des Raumes. Damit hat sich das Sich-Unterscheiden des Raumes als seiendes Außereinander selbst bestimmt. Die Ebene ist selbst der Raum. Aber der Raum ist jetzt als Ebene bestimmt,
– durch die zwei Dimensionen. Damit ist überhaupt die Bestimmtheit an den Raum
getreten. Dieser Widerspruch aber, dass der Raum, das absolute Außereinander, ein bestimmter sei, wird sich weiterhin zum totalen Raume entwickeln.
• L. Kunze (1851)
Lehrbuch der Geometrie. Planimetrie [98]
Eine Fläche heißt eben (gerade) oder eine Ebene, wenn sie überall nach geraden Linien
ausgedehnt ist.
1.6. ANHÄNGE
• E.F. August (1852)
Lehrbuch der Mathematik für den höheren Schulunterricht [5]
Gewisse Flächen können durch Fortbewegung einer Linie entstanden gedacht werden.
Ist dabei die bewegte Linie eine gerade und wird sie so bewegt, dass jeder ihrer Punkte
wieder eine gerade Linie, aber in einer anderen Richtung, bildet, so entsteht eine ebene
Fläche oder Ebene.
• J.L. Ebensperger (1852)
Gemeinfaßliche Geometrie für Anfänger oder Formenlehre in Verbindung mit
dem geometrischen Zeichnen als Vorübung im Linearzeichnen [32]
Eine Fläche heißt eben oder eine Ebene, wenn alle Teile in derselben Richtung nebeneinander liegen und man also nach allen Seiten hin gerade Linien in sie hinein gelegt
denken kann, welche ganz mit ihr zusammenfallen.
• A. Dronke (1864)
Die Elemente der ebenen Geometrie für den Unterricht an höheren Lehranstalten [31]
Diejenige Fläche, welche durch drei in ihr befindliche Punkte, die nicht in einer Geraden
liegen, vollständig bestimmt wird, heißt ebene Fläche oder Ebene.
• E. Müller (1869)
Elemente der Geometrie streng systematisch dargestellt [109]
Eine Fläche heißt ebene Fläche oder Ebene schlechtweg, wenn sie auf beiden Seiten in
ihrer ganzen Ausdehnung nach allen vier Gegenden dergestalt von einerlei Beschaffenheit ist, dass die beiden Seiten mit den zugehörigen Raumteilen oder ohne dieselben miteinander vertauscht werden können. Da aber eine Fläche als gemeinschaftliche Grenze
zwischen den Räumen auf beiden Seiten als zweifache erscheint, so werden zwei Ebenen und die auf beiden Seiten derselben befindlichen Räume mit jeder Seite und nach
jeder Raumgegend hin dergestalt aufeinander gelegt werden können, dass sie wieder
nur eine Ebene und einen Raum bilden. Jede der beiden Raumteile zu beiden Seiten der
Ebene ist der andern gleich, also die Hälfte des ganzen Raumes oder ein Halbraum.
• J.A. Grunert (1870)
Lehrbuch der Mathematik und Physik für staats- und landwirthschaftliche Lehranstalten und Kameralisten überhaupt [59]
So wie man zwei Hauptarten der Linien unterscheidet, so unterscheidet man auch zwei
Hauptarten der Flächen: ebene und krumme Flächen. Eine ebene Fläche oder eine Ebene
ist eine Fläche von solcher Beschaffenheit, dass jede zwischen irgend zwei in derselben
angenommenen Punkten gezogene gerade Linie ganz in sie hineinfällt.
67
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
68
• H. von Helmholtz (1870)
Ueber den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome [69]
Wir sehen daraus, dass in der Geometrie zweier Dimensionen die Voraussetzung, jede
Figur könne ohne irgend welche Änderung ihrer in der Fläche liegenden Dimensionen
nach allen Richtungen hin fortbewegt werden, die betreffende Fläche charakterisiert als
Ebene oder Kugel oder pseudosphärische Fläche. Das Axiom, dass zwischen je zwei
Punkten immer nur eine kürzeste Linie besteht, trennt die Ebene und pseudosphärische
Fläche von der Kugel, und das Axiom von den Parallelen scheidet die Ebene von der
Pseudosphäre. Diese drei Axiome sind in der Tat also notwendig und hinreichend, um
die Fläche, auf welche sich die Euklidische Planimetrie bezieht, als Ebene zu charakterisieren, im Gegensatz zu allen anderen Raumgebilden zweier Dimensionen.
• V. Schlegel (1872)
System der Raumlehre [137]
Die Lagenänderung einer Geraden wird Schiebung genannt. Findet die Schiebung so
statt, dass jeder Punkt eine Gerade beschreibt (eine einfache Bewegung macht), so heißt
die Bewegung einfach . . . Wenn eine Gerade ihre Lage durch einfache Bewegung ändert,
so heißt das von ihr erzeugte Gebilde eine Ebene.
• F. Kruse (1875)
Elemente der Geometrie I [97]
Eine Fläche, welche ihre Lage nicht ändert, während sie sich bewegt, so dass sie stets
drei Gerade enthält, welche durch drei feste nicht auf einer Geraden liegende Punkte
gehen, wird eine ebene Fläche (kurzweg Ebene) genannt.
• O. Fabian (1876)
Lehrbuch der Mathematik für Mittelschulen [35]
Die beide Raumteile trennende Fläche darf auf keiner Seite Vertiefungen oder Erhabenheiten haben. Jede Vertiefung der einen Seite würde sich als Erhabenheit auf der andern
kundgeben; die betrachtete Fläche muss aber auf der einen Seite eben so ausschauen,
wie auf der anderen. Die Fläche heißt Ebene. Eine Ebene ist also eine Fläche, welche
zwei gleich begrenzte Teile des Raumes voneinander trennt.
• J.K. Becker (1877)
Die Elemente der Geometrie auf neuer Grundlage streng deduktiv dargestellt [9]
Der geometrische Ort aller Punkte, welche von zwei gegebenen Punkten gleichen Abstand haben, ist eine Ebene, deren Axe durch die beiden Punkte geht . . . Jede Gerade, welche zwei Punkte der Ebene verbindet, liegt ganz in derselben . . . Zwei Ebenen,
welche drei nicht in derselben Geraden liegende Punkte gemein haben, fallen in allen
Punkten zusammen . . . Je drei nicht in gerade Linie liegende Punkte bestimmen eine
Ebene.
1.6. ANHÄNGE
• J. Menger (1881)
Grundlehren der Geometrie [100]
Jede Ebene kann dem Auge als Gerade erscheinen.
• O. Rausenberger (1887)
Die Elementargeometrie des Punktes, der Geraden und der Ebene [123]
Die Fundamentaleigenschaften der Ebene sind die folgenden:
1. Jede Gerade, die mit einer Ebene zwei Punkte gemein hat, fällt ganz in dieselbe.
2. Jede in der Ebene gelegene Gerade kann durch Drehung um einen ihrer Punkte,
wie der Augenschein zeigt, die ganze Ebene beschreiben.
3. Durch drei gegebene Punkte, die nicht in dieselbe Gerade fallen, lässt sich nur
eine (aber auch immer eine) Ebene legen.
4. Eine Gerade, die nur einen Punkt mit der Ebene gemein hat, durchdringt dieselbe
(Ebenenschnitt).
5. Alle Ebenen sind, bis auf ihre Lagen, vollkommen identisch.
6. Die Ebene ist in sich verschiebbar und umkehrbar.
• A. Wernicke (1887)
Die Grundlage der Euklidischen Geometrie des Maasses [165]
Axiom I:
In unserem Raume existiert eine Linie, welche mit jeder ihrer Kopien höchstens einen
Punkt gemein hat, falls sie nicht ganz mit derselben zusammenfällt: Diese Linie wird
Gerade genannt.
Axiom II:
In unserem Raume gibt es eine unbegrenzte Fläche, welche dadurch erzeugt werden
kann, dass man eine Gerade in einem ihrer Punkte festhält und dieselbe auf einer anderen
Geraden gleiten lässt: Diese Fläche wird ebene Fläche oder Ebene genannt.
Welchen erkenntnistheoretischen Wert die beiden Axiome . . . haben, auf welchen wir
unsere Geometrie aufbauen, mag hier dahingestellt bleiben: Für den Mathematiker sind
sie einfach Voraussetzungen, welche er machen muss, falls er eine Geometrie begründen
will, welche für die Untersuchung und Darstellung der Außenwelt brauchbar ist.
69
70
KAPITEL 1. EUKLIDS ELEMENTE
KAPITEL
2
Das Parallelenproblem
In diesem Kapitel gehen wir noch einmal auf wichtige Sätze der Euklidischen Elemente ein, deren Beweise ohne Parallelenpostulat geführt werden können. Mit Bolyai
sprechen dann von Sätzen der
absoluten Geometrie.
Genauer wird es sich um die Propositionen I.16, I.17, I.27 und I.31 handeln.
In diesen Propositionen geht es insbesondere um sich schneidene gerade Linien und
den von ihnen eingeschlossenen Winkeln. An dieser Stelle werden wir also die längst
fälligen Definitionen für Neben- und Scheitelwinkel, Wechsel- und Stufenwinkel sowie
Nachbarwinkel nachholen.
Wichtige Resultate der absoluten Geometrie gehen auf Legendre zurück im Zusammenhang mit seinen Versuchen, das Euklidische Parallelenpostulat zu beweisen. Wir
stellen den nach ihm benannten ersten und zweiten Satz sowie einige wichtige Folgerungen aus diesen in Abschnitt 2.2 vor. Wir werden sehen, dass nicht jeder Beweisschritt auf eine Definition, ein Postulat oder ein Axiom der Elemente zurückgeführt
werden kann.
Die Legendreschen Sätze öffnen das Tor zur nichteuklidischen Geometrie. Wir wollen
mit Abschnitt 2.3 ein solches, auf Poincaré zurückgehendes Modell kennenlernen, werden jedoch dessen detaillierte Analyse, da uns noch kein vollständiges Axiomensystem
der absoluten Geometrie vorliegt, auf die nachfolgenden Kapitel ausweiten.
Diesem zweiten Kapitel legen wir neben den Darstellungen Heath [64] und Thaer [156]
das Lehrbuch Mitschka [108] zu Grunde.
71
KAPITEL 2. DAS PARALLELENPROBLEM
72
2.1 Sätze der absoluten Geometrie
Wir beginnen zunächst mit ausgewählten Sätzen der absoluten Geometrie, die wir bereits aus den Euklidischen Elementen kennen.
Satz 2.1 (Proposition I.16)
An jedem Dreieck ist der bei Verlängerung einer Seite entstehende Außenwinkel größer als jeder der beiden gegenüberliegenden Innenwinkel.
Beweis. Vorgelegt sei das Dreieck ABC mit den Innenwinkeln α , β und γ . Ferner bezeichnen α ′ den nach Verlängerung von AB entstehenden Außenwinkel an der Ecke A
und α ′′ seinen Scheitelwinkel. Zu zeigen sind
α′ > γ
und α ′ > β .
Betrachte dazu die folgende Figur:
E
C
γ
D
ε
α′ α
A α ′′
β
B
Vorbereitende Konstruktion:
1. Konstruiere den Mittelpunkt D der Strecke AC
(I.10)
2. Ziehe die gerade Linie BD
(P1)
3. Verlängere BD zur geraden Linie BE
(P2)
4. Trage die kürzere Strecke BD auf der längeren Strecke BE ab
(I.3)
Betrachte die Dreiecke ADE und BDC :
5. Es ist AD = CD
(1)
6. Es ist DE = DB
(4)
7. Es ist (ADE) ≡ (CDB)
(I.15)
8. Es ist AE = BC
(I.4)
9. Es ist ADE ≡ BDC
(I.4)
2.1. SÄTZE DER ABSOLUTEN GEOMETRIE
73
Beweisschluss:
10. Es ist ε = γ
11. Es ist α ′ > ε
12. Es ist α ′ > γ .
(9)
(A8)
(11)
Ähnlich zeigt man α ′ > β . Damit ist der Satz bewiesen.
Es ist anzumerken, dass der in den letzten Schritten verwendete Beweisschluss ε = γ
und α ′ > ε , also α ′ > γ aus den Axiomen noch nicht gerechtfertigt wurde.
Unser zweites Resultat haben wir bereits in Abschnitt 1.5 bewiesen:
Satz 2.2 (Proposition I.17)
In jedem Dreieck sind zwei Winkel, beliebig zusammen genommen, kleiner als
zwei Rechte.
Wir wollen an dieser Stelle die Begriffe Wechselwinkel, Nebenwinkel und Stufenwinkel, die wir schon mehrfach in unserer Vorlesung benutzt haben, einführen.
Definition 2.1 (Spezielle Winkel)
Es bezeichnen g1 , g2 und g3 drei verschiedene gerade Linien.
◦ Wird g1 von g2 geschnitten, so bezeichnen wir als Nebenwinkel ein Paar
benachbarter Winkel.
◦ Wird g1 von g2 geschnitten, so bezeichnen wir als Scheitelwinkel ein Paar
gegenüberliegender Winkel.
◦ Werden g1 und g2 von g3 geschnitten, so bezeichnen wir als Wechselwinkel ein Paar von Winkeln, die auf verschiedenen Seiten von g3 und
aufeinander zugewandten Seiten von g1 und g2 liegen.
◦ Als Stufenwinkel bezeichnen wir in dieser Situation ein Paar von Winkeln, die auf derselben Seite von g3 und auf entsprechenden Seiten von
g1 und g2 liegen.
◦ Als Nachbarwinkel bezeichnen wir in dieser Situation ein Paar von Winkeln, die auf derselben Seite von g3 , aber auf verschiedenen Seiten von
g1 und g2 liegen.
Neben- und Scheitelwinkel:
g2
g2
g1
g1
KAPITEL 2. DAS PARALLELENPROBLEM
74
Wechsel- und Stufenwinkel:
g3
g3
g2
g2
g1
g1
Nachbarwinkel:
g3
g2
g1
Aus Euklids erstem Buch der Elemente haben wir bereits wichtige Eigenschaften solcher Winkel kennengelernt:
◦ Nach Proposition I.13 bilden Nebenwinkel zusammen stets zwei Rechte.
◦ Nach Proposition I.15 sind Scheitelwinkel stets gleich groß.
◦ Wechselwinkel und Parallelität wurden in den Propositionen I.27, I.28 und I.29
in Zusammenhang gebracht.
Wir betrachten nun die folgende Konstellation:
Vorgelegt seien drei gerade Linien g1 , g2 und g3 . Die Gerade g3 schneide, wie in obiger
Definition, g1 und g2 , aber auch g1 und g2 besitzen einen gemeinsamen Schnittpunkt.
Ein Winkel eines Paares von Wechselwinkeln ist dann stets Innenwinkel des von den
drei Geraden gebildeten Dreiecks, wie die beiden folgenden Skizzen verdeutlichen:
g2
g2
g1
g1
g3
g3
Nach Satz 2.1 ist nun ein solcher Innenwinkel kleiner als der zweite der Wechselwinkel,
der ja Außenwinkel zum benannten Dreieck ist. Kontraposition zeigt daher den
2.1. SÄTZE DER ABSOLUTEN GEOMETRIE
75
Satz 2.3 (Proposition I.27)
Wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien gleiche Wechselwinkel bildet, so schneiden sich die letzteren beiden geraden Linien nicht.
Als Übung belassen wir den Nachweis, das dieses Resultat ebenso für Stufenwinkel
formuliert werden kann.
Wir können jetzt nahtlos zu folgendem, uns bereits aus dem ersten Kapitel bekannten
Satz überleiten.
Satz 2.4 (Proposition I.31)
Durch einen gegebenen Punkt eine einer gegebenen geraden Linie parallele
Linie zu ziehen.
Beweis. Vorgegeben seien die gerade Linie BC und ein nicht auf ihr gelegener Punkt
A. Zu konstruieren ist eine gerade Linie durch A, welche parallel zu BC ist. Betrachte
dazu die folgende Figur:
A
E
B
F
D
C
Vorbereitende Konstruktion
1.
2.
3.
4.
5.
Wähle auf BC einen Punkt D beliebig
Ziehe die Strecke AD
BC und AD bilden in D einen Winkel (ADC)
Trage den Winkel (DAE) = (ADC) in A auf AD ab
Verlängere die Strecke AE zur Strecke EF
(D4)
(P1)
(1, 2)
(I.23)
(P2)
Zusammenfassend schneidet die gerade Linie AD die geraden Linien BC und EF in
den Punkten D bzw. A, und die beim Schnitt entstehenden Wechselwinkel (DAE)
und (ADC) sind nach Konstruktion gleich groß.
Beweisschluss:
6. Die gerade Linie EF ist parallel zu BC
(I.27)
Damit ist der Satz bewiesen.
Zur Erinnerung: Die zu diesem Beweis herangezogenen Propositionen benutzen nicht
das Parallelenpostulat.
KAPITEL 2. DAS PARALLELENPROBLEM
76
Die Aussage des vorigen Satzes können wir wie folgt umformulieren:
→ Zu einer vorgelegten Geraden existiert zu einem nicht auf ihr gelegenen Punkt
mindestens eine Parallele.
Der Satz behauptet die Existenz, nicht aber die Eindeutigkeit einer Parallelen. Dieses
wäre vielmehr der Inhalt des Parallelenpostulats P5. In Paragraph 2.4.3 werden wir
wir dessen Äquivalenz zum berühmten Playfairschen Axiom nachweisen, benannt nach
schottischen Mathematiker und Philosophen Playfair:
Playfairs Axiom
Durch einen gegebenen Punkt außerhalb einer vorgelegten geraden Linie existiert genau eine gerade Linie, die zur ersteren parallel ist.
Dennoch: Ungeachtet ihrer Äquivalenz lassen sich aus dem Euklidischen Parallelenpostulat und dem Playfairschen Axiom unterschiedliche Aussagen herauslesen. Um
welche Aussagen handelt es sich nämlich?
2.2 Die Legendreschen Sätze
Die Legendreschen Sätze, die wir in diesem Abschnitt studieren wollen, basieren wesentlich auf dem Archimedischen Axiom bzw. Axiom des Messens.
Archimedisches Axiom
Sind AB und CD zwei beliebig vorgelegte Strecken, so gibt es eine Anzahl n
derart, dass das n-malige hintereinander ausgeführte Abtragen der Strecke CD
von A aus auf den durch B gehenden Strahl über den Punkt B hinausführt.
Zur Veranschaulichung betrachten wir die folgende Skizze:
C
A
D
B
Dieses Axiom ermöglicht, eine Strecke AB durch eine als Längeneinheit festgelegte
Strecke CD auszumessen.
Wir werden auf diesen wichtigen Punkt in Paragraph 2.4.1 eingehen, konzentrieren
uns aber für den Moment auf zwei auf Legendre im Zuge seiner Untersuchungen zum
Euklidischen Parallelenpostulat bewiesenen Resultate der absoluten Geometrie.
Der erste dieser Legendreschen Sätze verschärft Euklids Proposition I.17.
2.2. DIE LEGENDRESCHEN SÄTZE
77
Satz 2.5 (Erster Legendrescher Satz)
In jedem Dreieck sind die drei Winkel zusammen genommen kleiner, höchstens
gleich zwei Rechten.
Erster Beweis. Es sei ABC das vorgelegte Dreieck, und es sei ABM eine gerade Linie.
Wir wollen die Annahme
(BCA) + (ABC) + (CAB) > 2R
zu einem Widerspruch führen. Betrachte dazu die folgende Figur:
C = C1
A = A1
C2
B = A2
C3
A3
C4
A4
Cn
An
An+1
M
Vorbereitende Konstruktion:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Es sei (ACB) + (ABC) + (BAC) > 2R
Trage auf der längeren Strecke BM die kürzere Strecke BA3 = AB ab
Trage auf BM im Punkt B den Winkel (C2 A2 A3 ) = (CAB) ab
Trage auf der längeren Strecke BC2 die kürzere Strecke A2C2 = AC ab
Ziehe die Strecke C1C2
Ziehe die Strecke C2 A3
(Ann)
(I.3)
(I.23)
(I.3)
(P1)
(P1)
Betrachte die Dreiecke ABC und A2 A3C2 :
7.
8.
9.
10.
Es ist ABC = A2 A3C2
Es ist (ABC) = (A2 A3C2 )
Es ist (BCA) = (A3C2 A2 )
Es gilt BC = A3C2
(2, 3, 4, I.4)
(2, 3, 4, I.4)
(2, 3, 4, I.4)
(2, 3, 4, I.4)
Betrachte die Dreiecke ABC und C1 A2C2 mit Basen AB bzw. C1C2 :
11.
12.
13.
14.
Es ist (A1 A2C1 ) + (C1 A2C2 ) + (C2 A2 A3 ) = 2R
Es ist (ABC) + (C1 A2C2 ) + (CAB) = 2R
Es ist (BCA) = (A2C1 A1 ) größer als (C1 A2C2 )
Es ist AB größer als C1C2
(3)
(1, 3, 12)
(I.19)
Im nächsten Schritt konstruieren wir ein Dreieck A3 A4C3 aus A2 A3C2 auf genau die Art
und Weise, wie wir A2 A3C2 aus ABC = A1 A2C1 gewonnen haben.
12. Es ist A2 A3 = A3 A4
KAPITEL 2. DAS PARALLELENPROBLEM
78
13. Es ist C1C2 = C2C3
13. Es ist A2 A3 größer als C2C3
usw.
Zur Abkürzung führen wir nun die Bezeichnungen ein
a
b
c
c′
gleich der Länge von BC = A2C1 = A3C2 = . . . = An+1Cn ,
gleich der Länge von AC = A1C1 = A2C2 = . . . = AnCn ,
gleich der Länge von AB = A1 A2 = A2 A3 = . . . = An B,
gleich der Länge von C1C2 = C2C3 = . . . = Cn−1Cn .
Ab dieser Stelle vergleichen wir also nicht mehr gleiche“, oder, wie wir später sagen
”
werden, kongruente Strecken miteinander, sondern ordnen Strecken reelle Zahlen als
ihre Länge zu und umgekehrt reelle Zahlen als Länge möglicher Strecken. Diese Identifizierungen werden wir im Paragraphen 2.4.1 unter Zuhilfenahme des Archimedischen
und des Cantorschen Axioms begründen. Die Punkte A und B werden jetzt jedenfalls
durch zwei unterschiedlich lange Streckenzüge mit den folgenden Längen verbunden:
◦ durch den Streckenzug A1 A2 , A2 A3 , . . . , An An+1 mit der Gesamtlänge nc;
◦ durch den Streckenzug A1C1 ,C1C2 ,C2C3 , . . . ,Cn−1Cn ,Cn B mit der Gesamtlänge
b + (n − 1) · c′ + a.
Dann gilt die Dreiecksungleichung“ (das werden wir im Anschluss an diesen Beweis
”
verifizieren)
nc < b + (n − 1)c′ + a bzw. b + a − c > (n − 1)(c − c′).
Beide reelle Zahlen b + a − c und c − c′ können aber durch eine Strecke PQ bzw. ST
repräsentiert werden, und zwar nach der eben bewiesenen Ungleichung bzw. Konstruktion für beliebige n ∈ N. Mit anderen Worten: Für alle n ∈ N ist die Strecke PQ länger
als die (n − 1)-mal hintereinander abgetragene Strecke ST. Das widerspricht aber dem
Archimedischen Axiom, womit der erste Legendresche Satz bewiesen ist.
Wir bemerken, dass dieser Beweis stillschweigend davon ausgeht, dass Geraden unendlich lang sind und sich nicht schließen. Diese Voraussetzung muss in einer nichteuklidischen Geometrie nicht notwendig erfüllt sein, sonst würden die Legendreschen
Sätze unverändert z.B. auch auf der Kugel gelten. Achten Sie bitte stets darauf, ob diese
oder ähnliche Voraussetzungen in unsere Argumentationen einfließen.
Die nichteuklidische Geometrie, die wir mit den Legendreschen Sätzen studieren, bezeichnet man, im Gegensatz zur sphärischen Geometrie, als hyperbolische Geometrie.
In Paragraph 2.4.4 werden wir sehen, dass Gauß sich besonders dieser ersten Variante
der nichteuklidischen Geometrie widmete. Hierfür sprechen wir auch mögliche Gründe
an, die ihre Wurzeln allerdings nicht mehr in der elementaren Euklidischen Geometrie,
sondern in der sogenannten Differentialgeometrie haben.
Um nun die im Beweis verwendete Ungleichung nc < b + (n − 1)c′ + a zu begründen,
erinnern wir an Proposition I.20: In jedem Dreieck sind zwei Seiten, beliebig zusammen
genommen, größer als die dritte.
2.2. DIE LEGENDRESCHEN SÄTZE
79
Kürzeste Verbindung zweier Punkte
Sind A und B zwei verschiedene Punkte, so ist jeder Streckenzug, bestehend
aus endlich vielen, hintereinander ansetzenden geraden Strecken, länger als die
direkte Verbindungsstrecke AB.
Beweis der Folgerung. Der Beweis wird über vollständige Induktion geführt. Wir orientieren uns an Mitschka [108], S. 119f.
(i) Besteht der in Frage stehende Streckenzug aus zwei Strecken, so folgt die Behauptung sofort aus I.20.
A1
B
A
(ii) Der in Frage stehende Streckenzug bestehe nun aus den Strecken AA1 , A1 A2
bis An B. Nach Beweisschritt (i) ist An−1 B kürzer als der Streckenzug An−1 An B.
Also ist auch der Streckenzug AA1 A2 . . . An−1 B kürzer als AA1 A2 . . . An−1 An B,
nach Induktionsvoraussetzung damit auch kürzer als AB.
An−1
A1
An
A2
B
A
Damit ist der Satz bereits bewiesen.
Mit Heath [64], S. 217, wollen wir noch eine zweite Möglichkeit ansprechen, den ersten Legendreschen Satz zu beweisen. Wie der erste Beweis, setzt auch dieser zweite
voraus, dass Geraden unendlich lang sind und sich nicht schließen.
Die einzelnen Beweisschritte werden wir an dieser Stelle nicht mehr begründen, sondern deren Zurückführung auf die vorigen Definitionen, Axiome, Postulate und Sätze
als Übung belassen.
Zweiter Beweis. Es sei ABC das vorgelegte Dreieck. Die Summe dessen Innenwinkel,
von denen o.B.d.A. der Winkel (CAB) der kleinste sei, betrage zusammen
2R + α
mit einem positiven α > 0.
KAPITEL 2. DAS PARALLELENPROBLEM
80
Betrachte nun die folgende Figur:
C
D
H
B
A
Vorbereitende Konstruktion:
1.
2.
3.
4.
Halbiere die Strecke BC im Punkt H
Ziehe die Strecke AH
Verlängere die Strecke AH zur Strecke AD
Ziehe die Strecke BD
Betrachte die Dreiecke AHC und BHD :
5.
6.
7.
8.
9.
10.
Es gilt CH = BH
Es gilt AH = DH
Es gilt (AHC) = (BHD)
Es gilt AHC = BHD
Es gilt (CAH) = (BDH)
Es gilt (HCA) = (HBD)
Betrachte die Dreiecke ABD und ABC :
11. Es gilt (ABD) + (BDA) + (DAB) = 2R + α
12. Es ist entweder (DAB) oder (BDA) kleiner oder
höchstens gleich 21 (BAC)
Diese Konstruktion wird am Dreieck ADB erneut durchgeführt und so ein drittes Dreieck konstruiert, dessen Innenwinkelsumme gleich 2R + α , einer seiner Winkel aber
kleiner oder höchstens gleich 41 (CAB) ist.
In dieser Weise fahren wir fort und erhalten nach dem n-ten Konstruktionsschritt ein
Dreieck, dessen Innenwinkelsumme gleich 2R + α , einer seiner Winkel aber kleiner
oder höchstens gleich 21n (CAB) ist.
Wir wählen nun n derart hinreichend groß, dass nach dem n-ten Konstruktionsschritt
ein Dreieck mit Innenwinkelsumme 2R + α entsteht, von den drei Innenwinkeln aber
einer kleiner oder höchstens gleich
1
(CAB) < α
2n
ist und daher die zwei übrigen Innenwinkel zusammen genommen größer als zwei
Rechte sind. Das ist ein Widerspruch, und α kann nicht positiv sein.
2.2. DIE LEGENDRESCHEN SÄTZE
81
Wir wollen noch einmal zusammenfassen:
→ Nach dem ersten Legendreschen Satz kann die Summe der Innenwinkel in einem
Dreieck gleich zwei Rechte oder kleiner als zwei Rechte sein.
Der zweite Legendresche Satz besagt nun, dass beide Möglichkeiten in einer einzigen
Geometrie nicht gleichzeitig vorkommen können.
Satz 2.6 (Zweiter Legendrescher Satz)
Wenn in irgendeinem Dreieck die drei Winkel zusammen genommen gleich
zwei rechten Winkeln sind, so sind auch in jedem anderen Dreieck die drei
Winkel zusammen genommen gleich zwei rechten Winkeln.
Beweis. Wir gehen erneut nach Mitschka [108], S. 122f. vor. Es sei ABC ein Dreieck,
dessen drei Winkel zusammen genommen gleich zwei rechten Winkeln sind. Betrachte
die folgende Figur:
D
E
C
A
T
B
1. Schritt: Beweis der Behauptung für innere Teildreiecke
Vorbereitende Konstruktion:
1. Es ist (ABC) + (ACB) + (CAB) = 2R
(Vor)
2. Wähle auf AB einen Punkt T beliebig
(D4)
3. Ziehe die Strecke CT
(P1)
Betrachte die Teildreiecke ACT und BCT :
4. Konstruiere auf AC ein zu ACT gleiches Dreieck ACD
(I.22)
5. Es gelten AT = CD, CT = AD, und AC ist gemeinsam
(4)
6. Es gelten (ATC) = (CDA), (TCA) = (CAD), (CAT ) = (ACD)
(4)
7. Konstruiere auf BC ein zu BCT gleiches Dreieck BCE
(I.22)
8. Es gelten BT = CE, CT = BE, und BC ist gemeinsam
(7)
9. Es gelten (CT B) = (BEC), (BCT ) = (CBE), (T BC) = (ECB)
(7)
KAPITEL 2. DAS PARALLELENPROBLEM
82
Erster Beweisschluss:
10.
11.
12.
13.
Es ist (T BC) + (BCA) + (CAT ) = 2R
Es ist (ECB) + (BCA) + (ACD) = 2R
Es liegen D, C und E auf einer Geraden
Es gelten AD = BE und DE = AB
(Vor)
(6, 9, 10)
(11)
(4, 8, 12, A1, A2)
Betrachte die Dreiecke ABD und BDE mit der gemeinsamen Seite BD :
14.
15.
16.
17.
18.
19.
Es ist ABD = BDE
Es ist (CAT ) + (DAC) = (BED) = (BEC)
Es ist (CAT ) + (TCA) = (CT B)
Es ist (CAT ) + (TCA) + (ATC) = (ATC) + (CT B)
Es ist (ATC) + (CT B) = 2R
Es gilt (CAT ) + (TCA) + (ATC) = 2R
D
C
(14)
(6, 9, 15)
(A2)
(3, I.13)
(17, 18, A1)
E
T
A
(13, I.8)
B
Damit ist gezeigt, dass die drei Winkel des Dreiecks ATC zusammen genommen gleich
zwei Rechten sind. Analog geht man vor, wenn T nicht zwischen A und B, sondern
außerhalb von AB liegt. Das belassen wir als Übungsaufgabe.
2. Schritt: Beweis der Behauptung für beliebige Dreiecke
Betrachte zwei Dreiecke ABC und A′ B′C′ sowie ein zu A′ B′C′ gleiches Dreieck AB1C1
mit A′ = A, dessen zweite Ecke B′ auf AB liegt, während C und C1 sich auf verschiedenen Seiten von AB befinden, d.h. CC1 schneide AB in einen Punkt T (A′ B′C′ selbst ist
nicht eingezeichnet):
C
A
C
T
B1
C1
B
A
T
C
C1
B1
2.2. DIE LEGENDRESCHEN SÄTZE
83
Zweiter Beweisschluss:
20.
21.
22.
23.
24.
Es gilt (ABC) + (BCA) + (CAB) = 2R
Es gilt (ATC) + (TCA) + (CAT ) = 2R
Es gilt (AC1C) + (C1CA) + (CAC1 ) = 2R
Es gilt (AC1 T ) + (C1 TA) + (TAC1 ) = 2R
Es gilt (AC1 B1 ) + (C1 B1 A) + (B1 AC1 ) = 2R
(Vor)
(20, 1. Schritt)
(20, Bem. nach 1. Schritt)
(21, 1. Schritt)
(23, Bem. nach 1. Schritt)
Damit ist der zweite Legendresche Satz bewiesen.
Für detaillierte Beweise der nachstehenden Folgerungen, die unsere Untersuchungen
zur absoluten Geometrie abrunden sollen, verweisen wir erneut auf die Ausführungen
in Heath [64] oder in Mitschka [108] (siehe auch noch einmal unsere Diskussion auf
S. 20 des ersten Kapitels).
Folgerungen (ohne Voraussetzung des Parallelenpostulats)
1. Wenn in irgendeinem Viereck mit drei rechten Winkeln der vierte Winkel
ein rechter ist, so auch in jedem anderen.
2. In einem Rechteck, d.h. einem Viereck mit vier rechten Winkeln, sind die
Gegenseiten jeweils gleich.
Nach diesen Aussagen aus der Geometrie ohne Parallelenpostulat kommen wir abschließend zu uns sicherlich bekannten Sätzen der ebenen Geometrie, deren Gültigkeiten auf dem Parallelenpostulat beruhen.
Sätze unter Voraussetzung des Parallelenpostulats
1. Wenn zwei Parallelen von einer dritten Geraden geschnitten werden, so
sind die Stufenwinkel bzw. die Wechselwinkel paarweise gleich.
2. In einem Dreieck ist jeder Außenwinkel so groß wie die beiden nicht
anliegenden Innenwinkel zusammen genommen.
3. Die Winkel in einem Dreieck zusammen genommen bilden zwei Rechte.
4. Sind in einem Viereck drei Winkel rechte Winkel, so ist auch der vierte
Winkel ein rechter. Das Viereck ist dann ein Rechteck.
Der erste Satz bildet genau das Gegenstück zu Proposition I.27. Zusammen mit dem
zweiten Satz kennen wir ihn bereits aus Proposition I.29.
In Abschnitt 3.4 des dritten Kapitels werden wir unter Verwendung des Archimedischen Axioms zeigen, dass der dritte Satz das Parallelenpostulat impliziert. Damit beantworten wir die Frage nach der Äquivalenz des Parallelenpostulats und dieses Euklidischen Innenwinkelsatzes für Dreiecke.
Wir geben an dieser Stelle nur eine
KAPITEL 2. DAS PARALLELENPROBLEM
84
Beweisskizze zum dritten Satz. Betrachte nämlich die folgende Figur:
C
parallel zu AB
A
B
Wie ist der Beweis im Detail zu führen?
2.3 Das Poincarésche Halbebenenmodell
2.3.1 Das hyperbolische Parallelenpostulat
In diesem Abschnitt wollen wir das Poincarésche Modell der hyperbolischen Halbebene vorstellen. Hierzu orientieren wir uns an Mitschka [108], Kapitel VI und beginnen
mit dem
Parallelenpostulat der hyperbolischen Geometrie
PH. Es sei P ein nicht auf einer Geraden g liegender Punkt. Dann existieren
mindestens zwei Geraden, die durch P verlaufen und zu g parallel sind,
d.h. g nirgends schneiden.
Unter dem Begriff hyperbolische Geometrie wollen wir im Folgenden verstehen:
→ die Euklidische Geometrie
− ohne dem Euklidischen Parallelenpostulat P5
+ aber mit dem hyperbolischem Parallelenpostulat PH
+ und mit dem Archimedischen Axiom
Der Sinn der letzten Forderung besteht in der sich damit ergebenden Möglichkeit, die
Legendreschen Sätze, zu deren Beweis wir das Archimedische Axiom verwendet haben, nutzen zu können. Das wird bereits bei folgendem Satz deutlich.
2.3. DAS POINCARÉSCHE HALBEBENENMODELL
85
Satz 2.7 (Innenwinkelsumme in der hyperbolischen Geometrie)
In der hyperbolischen Geometrie ergeben die Innenwinkel eines beliebigen
Dreiecks zusammen genommen stets weniger als zwei Rechte.
Beweis. Nach dem ersten Legendreschen Satz ist die Innenwinkelsumme eines Dreiecks stets kleiner, höchstens gleich 2R. Ergeben jedoch die Innenwinkel eines einzigen
Dreiecks in der Summe bereits 2R, so gilt dies nach dem zweiten Legendreschen Satz
auch für jedes andere Dreieck. Nach dem vierten Punkt des letzten Satzes des vorigen
Abschnitts gibt es dann zu einer gegebenen Geraden und einen Punkt außerhalb dieser genau eine Parallele durch diesen Punkt. Das widerspricht aber dem Postulat PH,
wonach stets mindestens zwei Parallele existieren. Damit ist der Satz bewiesen.
Interessanterweise beinhaltet PH aber noch mehr.
Satz 2.8 (Existenz unendlich vieler Parallelen)
In der hyperbolischen Geometrie existieren zu jeder Geraden g unendlich viele
Geraden, die durch einen gemeinsamen Punkt P außerhalb von g verlaufen und
zu g parallel sind.
Der Beweis dieses Satzes beinhaltet zwar einsichtige, aber noch nicht behandelte oder
sogar bewiesene geometrische Tatsachen. Im Verlaufe der Vorlesung werden wir diese
Lücken sukzessive schließen.
Beweisskizze. Mit Mitschka [108], S. 138f., betrachten wir die folgende Figur:
q2
r2
P
p2
p1
α
r1
q1
g
B
g1
C
Vorbereitende Konstruktion:
1. Konstruiere das durch P gehende Lot auf g
2. Dieses Lot schneidet g in einem Punkt B
3. Ziehe eine zu BP senkrechte gerade Linie p durch P
(I.12)
(Beweis von I.12)
(I.11)
86
KAPITEL 2. DAS PARALLELENPROBLEM
Nach Satz 2.3 (Proposition I.27) schneiden sich die Geraden p und g nicht, d.h. sie sind
parallel. Nun gebe es mit q eine weitere gerade Linie, die parallel zur Geraden g und
durch den Punkt P verläuft. Sie schließt auf einer Seite von BP mit eben diesem Lot
einen Winkel α ein, der kleiner als ein rechter Winkel ist.
◦ Auf dieser Seite von BP betrachten wir die Halbgeraden g1 , p1 und q1 , d.h.
diejenigen geraden Linien, die in P einen Endpunkt besitzen und sonst mit g, p
und q übereinstimmen.
◦ Die Halbgeraden p1 und q1 schließen einen Winkel ein, innerhalb dessen sich
beliebig viele Halbgeraden mit P als Endpunkt befinden, z.B. die eingezeichnete
Halbgerade r1 .
◦ Die Halbgerade r1 und das Lot BP schließen einen Winkel ein, innerhalb dessen
sich die Halbgerade q1 befindet.
Wir zeigen, dass r1 die Gerade g nicht schneidet:
◦ Angenommen, r1 schneidet g in einem Punkt C. Betrachte dann das so entstandene Dreieck BCP mit einem von r1 und BP eingeschlossenen Innenwinkel.
◦ Dann müsste aber die innerhalb des Dreiecks gelegene Halbgerade q1 die gegenüber von P gelegene Dreiecksseite BC schneiden im Widerspruch zur Voraussetzung, nach welcher nämlich q parallel zu g ist. (Wir verweisen auf das
später noch ausführlich zu diskutierende Paschsche Axiom.)
Entsprechend überlegt man sich, dass auch die linke“ Halbgerade r2 die gerade Linie
”
g nicht schneiden kann. Also gibt es überhaupt keine Halbgerade zwischen p1 und
q1 (entsprechend zwischen p2 und q2 ), welche g schneidet. Analog führen wir die
Argumentation, wenn die gesamte anfängliche Konstruktion der Halbgeraden am Lot
BP gespiegelt vorliegt.
Die Existenz unendlich vieler paralleler Geraden zu g motiviert zu folgender neuer
Begriffsbildung:
◦ Jede Halbgerade p1 , die g nicht schneidet, schließt mit dem Lot BP einen Winkel
α ein, der größer als Null und höchstens gleich einem rechten Winkel ist.
◦ Wir ordnen allen solchen Winkeln, wie aus der Schulgeometrie bekannt, reelle
Maßzahlen“ zu.
”
◦ Die so enstehende Menge reeller Zahlen ist nichtleer und nach unten und oben
beschränkt, besitzt also insbesondere ein Infimum.
Man überlege sich nun, dass die zu diesem Infimum gehörende Halbgerade s1 die ursprüngliche Gerade g nicht schneidet.
Diese Halbgerade s1 gehört zu einer Geraden s, die durch P verläuft. Ihr bezüglich BP
spiegelsymmetrisches Bild nennen wir s′ .
2.4. ANHÄNGE
87
Definition (Randparallele)
Diese durch den nicht auf der Geraden g gelegenen Punkt P und zu g parallel
verlaufenden Geraden s und s′ heißen randparallel zu g.
2.3.2 Das Poincarésche Halbebenenmodell
Nach diesen Vorbereitungen wollen wir folgendes, auf Poincaré zurückgehende Modell
der ebenen hyperbolischen Geometrie ansprechen. Eine ausführliche Diskussion findet
sich z.B. in Mitschka [108]. Auch hier müssen wir über die bislang gelernten Definitionen und Sätze hinausgehen: Insbesondere benötigen wir ein Konzept, welches die
Begriffe oberhalb“ und unterhalb“ bez. einer vorgelegten, unendlich langen Geraden
”
”
g in der Ebene beinhaltet.
Diese Situation ist allerdings auch typisch für den historischen Werdegang der Geometrie. Erst nachdem verschiedene Modelle der nichteuklidischen Geometrie verstanden
wurden, konnte die Euklidische Geometrie selbst vollständig axiomatisiert werden.
Zu einer vorgelegten, unendlich langen Geraden g betrachten wir also die obere Halbebene, die durch g nach unten begrenzt wird. Alle Punkte dieser Halbebene sind Punkte
des Poincaréschen Modells, die hyperbolischen Geraden werden jetzt aber entweder
durch Euklidische Halbkreise mit Mittelpunkt auf g repräsentiert oder durch in der
oberen Halbebene befindliche Halbgeraden, die orthogonal auf g stehen. Die Gerade g
selbst gehört nach Vereinbarung nicht zum Modell.
P
p
g
Wir belassen als Aufgabe, in dieser Skizze die durch den Punkt P verlaufenden Parallelen und Randparallelen zu g einzuzeichnen.
2.4 Anhänge
2.4.1 Strecken und ihre Längen: Analytische Geometrie
Wir wollen vortragen, wie durch Anwendung des Archimedischen und des Cantorschen Axioms
jeder reellen Zahl eine geometrische Strecke und jeder geometrischen Strecke eine reelle Zahl
zugeordnet wird. Dabei müssen wir auf verschiedene Eigenschaften reeller Zahlen zurückgreifen, deren tiefere mathematische Begründungen jedoch erst im 19. Jahrhundert durch Arbeiten
von Cantor und Weierstraß u.a. erbracht wurden.
KAPITEL 2. DAS PARALLELENPROBLEM
88
Das Archimedische Axiom kennen wir bereits aus Abschnitt 2.2:
→ Sind AB und CD zwei beliebig vorgelegte Strecken, so gibt es eine Anzahl n derart, dass
das n-malige hintereinander ausgeführte Abtragen der Strecke CD von A aus auf den
durch B gehenden Strahl über den Punkt B hinausführt.
C
D
B
A
Wir folgen nun wieder den Ausführungen aus A. Mitschka [108], Kapitel 7.
Strecken werden Zahlen zugeordnet
Unter Verwendung des Archimedischen Axioms wollen wir im ersten Schritt jeder nichtnegativen reellen Zahl eine Strecke zuordnen.
Vorgelegt sei eine willkürlich gewählte Einheitsstrecke CD und eine auszumessende Strecke AB.
Dem Archimedischen Axiom folgend, existiert eine natürliche Zahl n ∈ N mit der Eigenschaft
(n − 1) ·CD ≤ AB ≤ n ·CD.
Hierin ist CD tatsächlich als Länge der Strecke CD aufzufassen. Allerdings werden erst im Paschschen Axiomensystem die dahinter stehenden Begriffe sauber auseinandergehalten.
Der Fehler, den die durch vorige Ungleichung erzielte Messung von AB unterliegt, beträgt eventuell eine gesamte Länge von CD. Zur Verkleinerung dieses Fehlers halbieren wir die letzte
Kopie von CD, in welcher sich der Punkt B befindet:
C
D
B
A
Der Punkt B befindet sich nun innerhalb einer Strecke der Länge 21 CD. Wir führen nun dieses Halbierungsverfahren sukzessive fort und erhalten auf diese Weise eine Schachtelung von
Strecken der Länge 21k CD, und B ist der innere Punkt dieser Schachtelung.
Nach dem Archimedischen Axiom selbst gibt es keinen zweiten solchen inneren Punkt B∗ 6= B
dieser Schachtelung, denn dann wäre
BB∗ <
1
CD für alle n = 1, 2, . . .
2n
Umstellen bringt 2n BB∗ < CD, d.h. es lässt sich CD nicht durch ein noch so großes Vielfaches
von BB∗ überdecken im Widerspruch zum Archimedischen Axiom.
Diese Streckenschachtelung können wir aber als eine Intervallschachtelung reeller Zahlen interpretieren. Eine solche Intervallschachtelung besitzt auf Grund der Vollständigkeit der reellen
Zahlen, d.h. unter Berücksichtigung eines Vollständigkeitsaxioms, genau eine innere reelle Zahl
2.4. ANHÄNGE
89
als Grenzwert einer der Schachtelung zugehörigen konvergenten Folge von reeller Dualbrüchen,
siehe z.B. Hildebrandt [77], Abschnitt 1.7.
Setzen wir A willkürlich als Anfangspunkt an, so ist auf diese Weise dem Punkt B der Geraden
genau eine reelle Zahl zugeordnet.
Zahlen werden Strecken zugeordnet
Es erhebt sich sofort die Frage: Lässt sich umgekehrt jeder reellen Zahl genau ein Punkt einer
normierten Strecke zuordnen? Offenbar ist zu fordern, dass die den reellen Zahlen einer Intervallschachtelung entsprechenden Strecken eine Schachtelung mit einem inneren Punkt bilden.
Mitschka [108] fährt nun mit folgender Definition fort:
Definition 2.2 (Streckenschachtelung)
Eine Folge von Strecken A1 B1 , A2 B2 , A3 B3 usw. heißt eine Streckenschachtelung genau
dann, wenn
(i) jede Strecke Ak Bk in der vorangehenden Strecke Ak−1 Bk−1 enthalten ist,
(ii) es keine echte“ Strecke gibt, die in allen Strecken enthalten ist.
”
Um die zweite Bedingung (ii) zu erläutern, bemerken wir, dass sie sicherstellen soll, dass in einer
Streckenschachtelung nicht mehr als zwei Punkte enthalten sind.
Der gesuchte Zusammenhang wird nun über folgendes Axiom in die Geometrie eingebracht,
welches mit dem oben erwähnten Vollständigkeitsaxiom der reellen Zahlen verglichen werden
sollte.
Cantorsches Axiom
Zu jeder Streckenschachtelung auf einer Geraden gibt es einen Punkt, der allen Strecken
der Schachtelung angehört.
Abschluss
Zusammenfassend haben wir gezeigt:
→ Die Menge der Punkte auf einer Strecke auf einer durch Anfangspunkt und Einheitsstrecke
normierten, unendlich langen geraden Linie kann eineindeutig auf die Menge der reellen
Zahlen abgebildet werden.
Die durch Proposition I.12 der Elemente zur Verfügung gestellte Konstruktion des (eindeutigen)
Lots ermöglicht es nun, jedem Punkt der Ebene ein reelles Zahlenpaar zuzordnen und umgekehrt. Die geometrische Ebene der Elemente wird dadurch zur Koordinatenebene, die Euklidische Geometrie kann vollständig in Termen der Arithmetik und Algebra der reellen Zahlen
betrieben werden. Für eine detaillierte Durchführung dieses Konzepts der Algebraisierung der
Geometrie verweisen wir auf die Literatur, z.B. Mitschka [108] oder Hartshorne [62].
Als Begründer dieser neuen, uns heute wohl eher geläufigen Art Euklidischer Geometrie“ gilt
”
der Mathematiker Descartes. Zum Studium seiner geometrischen Werke empfehlen wir die Übersetzungen in Latham und Smith [99].
KAPITEL 2. DAS PARALLELENPROBLEM
90
2.4.2 Der Dedekindsche Schnitt
Das Archimedische und das Cantorsche Axiom lassen sich, wie wir in Paragraph 3.8.8 zeigen
werden, aus einem einzigen Axiom, dem sogenannten Dedekindschen Schnitt, ableiten. Dieses
Vollständigkeitsaxiom wird, dem ursprünglichen Anliegen Dedekinds entsprechend, oft in den
Vorlesungen der Analysis zur Einführung der reellen Zahlen herangezogen. Dedekind selbst ließ
sich von einer starken geometrischen Intuition leiten.
Wir wollen in diesem Paragraphen anhand Dedekinds Originalarbeit [28] diesen Zusammenhang
zwischen seinen geometrischen Ideen und der Konstruktion des reellen Zahlensystems nachvollziehen.
Zunächst also erläutert Dedekind ein grundlegendes Problem der Analysis, welches ihn zur Suche nach einer soliden Grundlegung des Systems der reellen Zahlen motiviert hat.
R. Dedekind [28], S. 9f.
Bei dem Begriffe der Annäherung einer veränderlichen Größe an einen festen Grenzwerth und namentlich bei dem Beweise des Satzes, daß jede Größe, welche beständig,
aber nicht über alle Grenzen wächst, sich gewiß einem Grenzwerth nähern muß, nahm
ich meine Zuflucht zu geometrischen Evidenzen . . . Man sagt so häufig, die Differentiarechnung beschäftige sich mit den stetigen Größen, und doch wird nirgends eine Erklärung von dieser Stetigkeit gegeben . . . Dies gelang mir am 24. November 1858 . . .
Dedekind beginnt nun seine näheren Ausführungen mit einer Diskussion der Arithmetik der
rationalen Zahlen.
R. Dedekind [28], S. 12f.
Ich sehe die ganze Arithmetik als eine nothwendige oder wenigstens natürliche Folge
des einfachen arithmetischen Actes, des Zählens, an, und das Zählen selbst ist nichts Anderes als die successive Schöpfung der unendlichen Reihe der positiven ganzen Zahlen,
in welcher jedes Individuum durch das unmittelbar vorhergehende definirt ist . . . so sind
die negativen und gebrochenen Zahlen durch den menschlichen Geist erschaffen, und es
ist in dem System aller rationalen Zahlen ein Instrument von unendlich viel größerer
Vollkommenheit gewonnen.
Dedekind bezeichnet das System der rationalen Zahlen mit dem Buchstaben R, das System der
reellen Zahlen später mit R. Wir wollen hier diese Bezeichnungsweise übernehmen.
Auf R lassen sich wie üblich zunächst die Vergleichsoperatoren < und > definieren. Diesen
ordnet Dedekind die folgenden Eigenschaften zu:
R. Dedekind [28], S. 14.
(i) Ist a > b und b > c, so ist a > c. Wir wollen jedesmal, wenn a, c zwei verschiedene (oder ungleiche) Zahlen sind, und wenn b größer als die eine, kleiner als die
andere ist, ohne Scheu vor dem Anklang an geometrische Vorstellung dies kurz
so ausdrücken: b liegt zwischen den beiden Zahlen a, c.
2.4. ANHÄNGE
91
(ii) Sind a, c zwei verschiedene Zahlen, so giebt es immer unendlich viele verschiedene Zahlen b, welche zwischen a, c liegen.
(iii) Ist a eine bestimmte Zahl, so zerfallen alle Zahlen des Systems R in zwei Classen,
A1 und A2 , deren jede unendlich viele Individuen enthält; die erste Classe A1
umfaßt alle Zahlen a1 , welche < a sind, die zweite Classe A2 umfaßt alle Zahlen
a2 , welche > a sind; die Zahl a selbst kann nach Belieben der ersten oder der
zweiten Classe zugetheilt werden, und sie ist dann entsprechend die größte Zahl
der ersten oder die kleinste Zahl der zweiten Classe.
Diese drei Punkte enthalten bereits die wesentlichen Ideen, die Dedekind später zu seiner berühmten Definition der reellen Zahlen führen wird. Im Moment ist für uns jedoch seine nächste Aussage besonderer Erwähnung wert.
R. Dedekind [28], S. 14f.
. . . Die soeben hervorgehobenen Eigenschaften der rationalen Zahlen erinnern an die
gegenseitigen Lagenbeziehungen zwischen den Puncten einer geraden Linie . . . Auf
diese Weise entspricht jeder rationalen Zahl a, d.h. jedem Individuum in R, ein und nur
ein Punct p, d.h. ein Individuum in [der Geraden] L.
Diese von ihm als gegenseitige Lagenbeziehungen zwischen den Punkten einer geraden Linie
liegen dem Euklidischen System, insbesondere der Definition der Geraden, wie wir sie kennengelernt haben, gewiss intuitiv zugrunde. Jedoch erst mit Pasch 1882 finden sie Eingang in eine
systematische Axiomatik der Geometrie.
Dedekind erweitert nun seine Untersuchungen auf die Menge der reellen Zahlen, welche noch
einer gründlichen Fundierung entbehren. Er beginnt dazu wie folgt.
R. Dedekind [28], S. 14ff.
Von der größten Wichtigkeit ist nun aber die Thatsache, daß es in der Geraden L unendlich viele Puncte giebt, welche keiner rationalen Zahl entsprechen . . . Die Gerade
L ist unendlich viel reicher an Punct-Individuen, als das Gebiet R der rationalen Zahlen an Zahl-Individuen. Will man nun, was doch der Wunsch ist, alle Erscheinungen in
der Geraden auch arithmetisch verfolgen, so reichen dazu die rationalen Zahlen nicht
aus, und es wird daher unumgänglich nothwendig, das Instrument R, welches durch die
Schöpfung der rationalen Zahlen construirt war, wesentlich zu verfeinern durch eine
Schöpfung von neuen Zahlen der Art, daß das Gebiet der Zahlen dieselbe Vollständigkeit oder, wie wir gleich sagen wollen, dieselbe Stetigkeit gewinnt, wie die gerade Linie.
Dedekind lässt sich also bei der anstehenden Konstruktion der reellen Zahlen von der geometrischen Intuition der Vollständigkeit der geraden Linie leiten. Der Weg dahin führt allerdings nicht
über die Geometrie, sondern über die bis dahin zur Verfügung stehenden Arithmetik.
KAPITEL 2. DAS PARALLELENPROBLEM
92
R. Dedekind [28], S. 17.
Sowie die negativen und gebrochenen rationalen Zahlen durch eine freie Schöpfung
hergestellt, und wie die Gesetze der Rechnungen mit diesen Zahlen auf die Gesetze der
Rechnungen mit ganzen positiven Zahlen zurückgeführt werden müssen und können,
ebenso hat man dahin zu streben, daß auch die irrationalen Zahlen durch die rationalen
Zahlen allein vollständig definirt werden
Dieses Programm nimmt Dedekind nun in Angriff, warnt seine Leser jedoch vor zu großer
Enttäuschung, denn das Ziel ist eigentlich schnell erreicht.
R. Dedekind [28], S. 17f.
Die obige Vergleichung des Gebietes R der rationalen Zahlen mit einer Geraden hat
zu der Erkenntnis der Lückenhaftigkeit, Unvollständigkeit oder Unstetigkeit des ersteren geführt, während wir der Geraden Vollständigkeit, Lückenlosigkeit oder Stetigkeit
zuschreiben. Worin besteht denn nun eigentlich diese Stetigkeit? . . . Ich finde nun das
Wesen der Stetigkeit in der Umkehrung, also in dem folgenden Principe:
Zerfallen alle Puncte der Geraden in zwei Classen von der Art, daß jeder Punct der
”
ersten Classe links von jedem Punct der zweiten Classe liegt, so existirt ein und nur ein
Punct, welcher diese Eintheilung aller Puncte in zwei Classen, diese Zerschneidung der
Geraden in zwei Stücke hervorbringt.“
Damit ist die Grundidee zu dem, was wir heute den Dedekindschen Schnitt nennen, ausgesprochen. Doch welches ursächlichere Prinzip liegt dieser Überlegung zu Grunde? Dedekind bemerkt
richtig, dass die Vorstellung der Stetigkeit der geraden Linie nur als Axiom ausgedrückt werden
kann.
R. Dedekind [28], S. 18f.
Es ist mir sehr lieb, wenn Jedermann das obige Princip so einleuchtend findet und so
übereinstimmend mit seinen Vorstellungen von einer Linie; denn ich bin außer Stande,
irgend einen Beweis für seine Richtigkeit beizubringen, und Niemand ist dazu im Stande. Die Annahme dieser Eigenschaft der Linie ist nichts als ein Axiom, durch welches
wir erst der Linie ihre Stetigkeit zuerkennen, durch welches wir die Stetigkeit in die Linie hineindenken. Hat überhaupt der Raum eine reale Existenz, so braucht er doch nicht
nothwendig stetig zu sein; unzählige seiner Eigenschaften würden dieselben bleiben,
wenn er auch unstetig wäre.
Nun kommt Dedekind zur eigentlichen Konstruktion oder, wie er sich ausdrückt, zur Schöpfung
der irrationalen Zahlen, indem er sogleich das wesentliche Problem der obigen Klasseneinteilung anspricht:
R. Dedekind [28], S. 19ff.
Ist nun irgend eine Eintheilung des Systems R in zwei Classen A1 , A2 gegeben, welche nur die charakteristische Eigenschaft besitzt, daß jede Zahl a1 in A1 kleiner ist,
2.4. ANHÄNGE
93
als jede Zahl a2 in A2 , so wollen wir der Kürze halber eine solche Eintheilung einen
Schnitt nennen . . . Aber man überzeugt sich leicht, daß auch unendlich viele Schnitte
existieren, welche nicht durch rationale Zahlen hervorgebracht werden . . . In dieser Eigenschaft, daß nicht alle Schnitte durch rationale Zahlen hervorgebracht werden, besteht
die Unvollständigkeit oder Unstetigkeit des Gebietes R aller rationaler Zahlen. Jedesmal
nun, wenn ein Schnitt (A1 , A2 ) vorliegt, welcher durch keine rationale Zahl hervorgebracht wird, so erschaffen wir eine neue, irrationale Zahl α , welche wir als durch diesen
Schnitt (A1 , A2 ) vollständig definirt ansehen . . . Es entspricht also von jetzt ab jedem
bestimmten Schnitt eine und nur eine rationale oder irrationale Zahl . . .
Wir wissen, dass es sich bei dieser neu geschaffenen Menge von Zahlen um die reellen, d.h. um
die rationalen zusammen mit den irrationalen Zahlen handelt, welche Dedekind mit dem Symbol
R bezeichnet. Diese besitzen nun die folgenden Eigenschaften:
R. Dedekind [28], S. 25
(i) Ist α > β , und β > γ , so ist auch α > γ . Wir wollen sagen, daß die Zahl β
zwischen den Zahlen α , γ liegt.
(ii) Sind α , γ zwei verschiedene Zahlen, so giebt es immer unendlich viele verschiedene Zahlen β , welche zwischen α , γ liegen.
(iii) Ist α eine bestimmte Zahl, so zerfallen alle Zahlen des Systems R in zwei Classen
A1 und A2 , deren jede unendlich viele Individuen enthält; die erste Classe A1
umfaßt alle die Zahlen α1 , welche < α sind, die zweite Classe A2 umfaßt alle
die Zahlen α2 , welche > α sind; die Zahl α selbst kann nach Belieben der ersten
oder der zweiten Classe zugetheilt werden, und sie ist dann entsprechend die
größte Zahl der ersten oder die kleinste Zahl der zweiten Classe.
. . . Außer diesen Eigenschaften besitzt aber das Gebiet R auch Stetigkeit, d.h. es gilt
folgender Satz:
(iv) Zerfällt das System R aller reellen Zahlen in zwei Classen A1 , A2 von der Art,
daß jede Zahl α1 der Classe A1 kleiner ist als jede Zahl α2 der Classe A2 , so
existiert eine und nur eine Zahl α , durch welche diese Zerlegung hervorgebracht
wird.
Damit ist der axiomatische Aufbau des Systems der reellen Zahlen klar und deutlich umrissen.
Dedekind ist nun in der Lage, wichtige Sätze der Analysis streng zu beweisen und schließt damit
den Kreis zu seinen einführenden Bemerkungen bezüglich den grundlegenden Problemen der
Infinitesimalrechnung.
R. Dedekind [28], S. 29
Einer der wichtigsten Sätze lautet folgendermaßen: Wächst eine Größe x beständig,
”
aber nicht über alle Grenzen, so nähert sie sich einem Grenzwerth“ . . . Ein anderer . . .
Satz der Infinitesimal-Analysis, welcher noch öfter zur Anwendung kommt, lautet folgendermaßen: Läßt sich in dem Annäherungsprocesse einer Größe x für jede gegebene
”
positive Größe δ auch eine entsprechende Stelle angeben, von welcher ab x sich um
Weniger als δ ändert, so nähert sich x einem Grenzwerth.“
KAPITEL 2. DAS PARALLELENPROBLEM
94
2.4.3 Äquivalenz des Playfairschen Axioms und P5
Wir wollen die Äquivalenz des Euklidischen Axioms P5 und des Playfairschen Axioms nachweisen. Der Student ist eingeladen, die zu den Beweisen notwendigen Voraussetzungen sowie
die Begründungen zu den einzelnen Beweisschritten selbstständig herauszuarbeiten.
Beide von uns vorgetragenden Beweise richten sich nach Mitschka [108], Seite 126f. Wir verweisen auch auf Heath [64], Seite 313f.
→ Das Euklidische Axiom P5 impliziert das Playfairsche Axiom.
Beweis. Wir ändern die im Beweis von Satz 2.3 (Proposition I.31) verwendete Skizze wie folgt
ab:
α2
α2′
g2
A β
2
β2′
α1
g3
g′2
g1 T
Die Geraden g1 und g2 seien parallel.
1. Es gilt α1 = α2
2. Es gilt α2 + β2 = 2R
3. Es gilt α1 + β2 = 2R
Angenommen, es existiert eine zu g1 zweite Parallele g′2 6= g2 . Diese bilde mit g3 einen Stufenwinkel α2′ zu α1 = α2 , während β2′ Nebenwinkel zu α2′ ist. Es gilt α2′ > α2 oder α2′ < α2 .
Der Fall α2′ > α2 :
4. Es gilt β2′ < β2
5. Es gilt α2 + β2′ < 2R
6. Die geraden Linien g1 und g′2 schneiden sich im Punkt T
Daher sind g1 und g′2 nicht parallel.
Im Fall α2′ < α2 argumentieren wir analog, benutzen jedoch statt α2 seinen zu g2 zugekehrten
Nebenwinkel und statt α2′ dessen Scheitelwinkel.
→ Das Playfairsche Axiom impliziert das Euklidische Axiom P5.
Beweis. Betrachte erneut die obige Skizze: Die gerade Linie g1 sei vorgelegt, A sei ein Punkt
außerhalb dieser, und g2 sei die einzige Parallele durch A zu g1 . Eine zweite gerade Linie g′2 6= g2
durch A muss g1 notwendig schneiden, weshalb g1 , g3 und g′2 die drei Seiten eines Dreiecks bilden. Die einander zugekehrten Winkel zwischen g1 und g3 bzw. g3 und g′2 sind die Außenwinkel
oder die Innenwinkel dieses Dreiecks. Im letzteren Fall ist ihre Summe nach Satz 2.2 (Proposition I.17) kleiner als 2R, und der Schnittpunkt T liegt bez. g3 auf derselben Seite wie die beiden
betrachteten Winkel.
2.4. ANHÄNGE
95
2.4.4 Gauß und die nichteuklidische Geometrie
Bolyai, Gauß und Lobatschewski gelten als die Begründer der nichteuklidischen Geometrie, d.h.
einer in sich konsistenten Geometrie ohne Parallelenaxiom.
Während die Beiträge Bolyais und Lobatschewskis aus ihren Publikationen direkt zugänglich
sind (nämlich J. Bolyai: Appendix zu Geometrische Untersuchungen und N.I. Lobatschewski:
Geometrische Untersuchungen zur Theorie der Parallellinien), muss Gauß’ Anteil, da dieser zur
nichteuklidischen Geometrie nichts veröffentlichte, aus seinem Nachlass rekonstruiert werden.
So fanden sich beispielsweise in Gauß’ Exemplar des eben genannten Lobatschewskischen Buches Notizzettel mit Berechnungen zu Herleitungen der trigonometrischen Sätze der sphärischen
Geometrie unter der Voraussetzung,
dass im Unendlichkleinen die gewöhnliche Euklidische Geometrie gültig ist.
Diese Notizen sind im achten Band seiner Gesammelten Werke, Seite 255 ff., abgedruckt, siehe
auch Reichardt [127] für die Ausführungen zur hyperbolischen Geometrie.
Diesen Ausführungen Reichardts [127] nun folgend, wollen wir Gauß’ Methode, angewandt auf
die Herleitung der trigonometrischen Formeln in der nichteuklidischen Ebene, nachvollziehen.
Betrachte dazu die folgende Figur:
Q
dr
dv
B
r
ϕ
O
A
χ P
dϕ
u
v
du
In unserer zu diskutierenden nichteuklidischen Geometrie müssen die skizzierten Geraden tatsächlich
keine Geraden im Euklidischen Sinne sein. Die Figur dient lediglich als Mittel zur Anschauung.
Zunächst kommen wir zur Konstruktionsbeschreibung der Figur:
◦ Der Punkt P habe die rechtwinkligen Koordinaten (u, v); dabei entspreche O dem Koordinatenursprung, und u liege auf der horizontalen Koordinatenachse. Ferner bedeuten (r, ϕ )
die zu (u, v) gehörigen Polarkoordinaten.
◦ Der Punkt Q gehe aus P durch eine Störung um die infinitesimal“ gedachten Größen du
”
und dv hervor. Dabei gehen r in r + dr und ϕ in ϕ + d ϕ über.
◦ Durch diese Störung entsteht ein infinitesimal“ kleines Viereck PAQB, in welchen nach
”
Voraussetzung die gewöhnliche Euklidische Geometrie gültig sein soll.
◦ Der Winkel χ in P geht in χ + d χ in Q über. In erster Näherung ersetzen wir jedoch
χ + d χ durch χ selbst, solange wir im Viereck PAQB rechnen.
◦ Der Winkel in A ist in erster Näherung ein rechter Winkel.
KAPITEL 2. DAS PARALLELENPROBLEM
96
Zweitens spezifizieren wir qualitativ, wie unsere Geometrie von der Euklidischen Geometrie
abweichen soll (im Wortlaut wie in [50], S. 258):
◦ Ist d ω ein unendlich kleiner Zentriwinkel ACB eines Kreises vom Radius AC = BC = r,
so ist der zugehörige unendlich kleine Bogen AB = ds proportional d ω , und der Proportionalitätsfaktor hängt nur von r ab. Man hat daher
ds = f (r) d ω .
Die Sehne AB lässt sich bis auf unendlich kleine Grössen zweiter Ordnung durch den
Bogen AB ersetzen.
B
r
ds
dω
r
C
A
◦ Es sei ABCD ein Viereck mit der unendlich kleinen Grundlinie AB = du. Die Winkel in
A und B seien rechte und AD = BC = y. Dann ist die Länge der vierten Seite CD = du′
proportional du, und der Proportionalitätsfaktor hängt nur von y ab. Man hat daher
du′ = g(y) du.
D
y
A
90◦
du′
du
90◦
B
y
C
Auf unser Viereck PAQB angewandt, bedeutet diese Annahmen folgendes:
Q
≈χ
N
dv
M
B
f (r) d ϕ
P
≈ϕ
g(v) du
A
2.4. ANHÄNGE
97
Hilfssatz 2.1. Unter der Voraussetzung r, ϕ ∈ C1 (R2 , R) gelten
dr = g(v) sin χ du + cos χ dv
sowie
f (r) d ϕ = −g(v) cos χ du + sin χ dv.
Beweis. Der Sinussatz, angewendet auf das Dreieck ANQ, liefert einmal
dv
AN
=
1
sin χ
bzw.
AN = sin χ dv,
NQ
NQ
dv
=
=
1
sin ϕ
cos χ
NQ = cos χ dv,
bzw.
und angewendet auf das Dreieck AMP folgt
g(v) du =
PM
sin χ
g(v) du =
AM
AM
=
sin ϕ
cos χ
bzw.
PM = BN = g(v) sin χ du,
AM = g(v) cos χ du.
bzw.
Damit erhalten wir
dr = BN + NQ = g(v) sin χ du + cos χ dv,
f (r) d ϕ = AN − AM = sin χ dv − g(v) cos χ du
wie behauptet.
Interpretieren wir diese Ausdrücke für dr und d ϕ als vollständige Differentiale von Funktionen
r = r(u, v) und ϕ = ϕ (u, v), so gelangen wir auf folgendes System partieller Differentialgleichungen erster Ordnung
∂r
= g(v) sin χ ,
∂u
∂r
= cos χ ,
∂v
∂ϕ
g(v)
=−
cos χ ,
∂u
f (r)
∂ϕ
sin χ
=
∂v
f (r)
mit f (r) 6= 0. In diesen Gleichungen müssen wir nun die Funktionen f , g und χ auf den rechten
Seite bestimmen. Dazu zunächst der
Hilfssatz 2.2. Unter der Voraussetzung r, ϕ ∈ C2 (R2 , R) gelten
∂χ
f ′ (r)
= −g′ (v) +
g(v) cos χ ,
∂u
f (r)
Beweis.
∂χ
f ′ (r)
=−
sin χ .
∂v
f (r)
1. Nach dem Satz von Schwarz haben wir zunächst
ruv = g′ sin χ + gχv cos χ ,
rvu = −χu sin χ ,
woraus wir mit ruv = rvu eine erste Integrierbarkeitsbedingung erhalten
χu sin χ = −g′ sin χ − gχv cos χ .
(∗)
KAPITEL 2. DAS PARALLELENPROBLEM
98
Weiter ist
ϕuv = −
g f ′ rv
g
g′
cos χ + 2 cos χ + χv sin χ ,
f
f
f
ϕvu =
f ′ ru
1
χu cos χ − 2 sin χ ,
f
f
worin wir die ursprünglichen Differentialgleichungen für die Funktion r, d.h. ru = g sin χ
als auch rv = cos χ , einsetzen:
ϕuv = −
g′
gf′
g
cos χ + 2 cos2 χ + χ sin χ ,
f
f
f
ϕvu =
1
gf′
χu cos χ − 2 sin2 χ .
f
f
Damit erhalten mit ϕuv = ϕvu eine zweite Integrierbarkeitsbedingung in der Form
−
g′
gf′ g
1
cos χ + 2 + χv sin χ = χu cos χ .
f
f
f
f
(∗∗)
2. Wir multiplizieren (∗) mit sin χ und (∗∗) mit cos χ und erhalten
χu sin2 χ = − g′ sin2 χ − gχv sin χ cos χ ,
χu cos2 χ = − g′ cos2 χ +
gf′
cos χ + gχv sin χ cos χ ,
f
so dass nach Addition folgt
gf′
cos χ .
f
Das ist die erste Behauptung. Die zweite Identität zeigt man analog.
χu = −g′ +
Ganz ähnlich beweist man den nächsten
Hilfssatz 2.3. Unter der Voraussetzung χ ∈ C2 (R2 , R) gilt
g′′ (v)
f ′′ (r)
=
.
g(v)
f (r)
Aus dieser Identität lesen wir aber sofort ab
f ′′ (r) = C f (r),
g′′ (v) = Cg(v)
mit einer reellen Konstante C ∈ R. Dieses System ist nun zu lösen unter den wie folgt zu spezifizierenden Anfangsbedingungen:
◦ Für hinreichend kleine r > 0 soll f (r) etwa gleich r sein, d.h. wir verlangen
f (0) = 0,
f ′ (0) = 1.
Denken Sie dabei an eine Taylorentwicklung der Form
f (r) = f (0) + f ′ (0)r + o(r) = r + o(r).
◦ Für die Funktion g(v) schließen wir nach ihrer Definition (erste Anfangsbedingung)
g(0) = 1,
g′ (0) = 0,
wobei wir die zweite Anfangsbedingung aus der Symmetrie von g(v) in v ablesen.
2.4. ANHÄNGE
99
Die Lösungen der Gleichungen f ′′ = C f und g′′ = Cg hängen vom Vorzeichen der Integrationskonstante C ab: C < 0, C = 0 oder C > 0.
◦ Im Fall C = k2 mit k > 0 erhalten wir
f (r) =
sinh(kr)
,
k
g(v) = cosh(kv).
Diese Wahl der Integrationskonstanten C führt zur hyperbolischen Geometrie in der Ebene. Weiter unten wollen wir genau diesen Weg einschlagen.
◦ Im Fall C = 0 erhalten wir
f (r) = r,
g(v) = 1.
Diese Wahl der Integrationskonstante C führt zur Euklidischen Geometrie in der Ebene.
◦ Im Fall C = −k2 mit k < 0 erhalten wir
f (r) =
sin(kr)
,
k
g(v) = cos(kv).
Diese Wahl der Integrationskonstante C führt zur sphärischen Geometrie, wie sie Gauß
betrachtete.
Damit sind die Funktionen f (r) und g(v) bestimmt. In obigen partiellen Differentialgleichungen
für r und ϕ tritt jedoch noch χ als Unbekannte auf, welche es zu eliminieren gilt. Zu diesem
Zweck dient der folgende Hilfssatz, dessen Beweis wir als Übung belassen.
Hilfssatz 2.4. Unter obigen Voraussetzungen gelten
∂r
= cos ϕ ,
∂u
∂r
= g(u) sin ϕ ,
∂v
sin ϕ
∂χ
=
,
∂u
f (r)
g(u)
∂χ
=−
cos ϕ .
∂v
f (r)
Vergleichen wir diese Identitäten mit den oben gewonnenen Ableitungen
∂r
= g(v) sin χ ,
∂u
∂r
= cos χ ,
∂v
∂ϕ
g(v)
=−
cos χ ,
∂u
f (r)
∂χ
sin χ
=
,
∂v
f (r)
so können wir ablesen
cos ϕ = g(v) sin χ ,
cos χ = g(u) sin ϕ .
Hieraus lässt sich χ eliminieren
1 = cos2 χ + sin2 χ = g(u)2 sin2 ϕ +
mit g(v) 6= 0 bzw. nach Umstellen
cos2 ϕ
g(v)2
sin2 ϕ g(u)2 g(v)2 − 1 = g(v)2 − 1.
Im Fall C = 0 ist diese Identität wegen g ≡ 1 von selbst erfüllt.
KAPITEL 2. DAS PARALLELENPROBLEM
100
Wir konzentrieren uns nun mit Reichhardt [127] auf den Fall C = 1, setzen unsere Lösungen f (r)
und g(v) unter der Annahme k = 1, die sich durch Skalierung der Koordinaten u und v erreichen
lässt, ein und erhalten aus voriger Identität
sin2 ϕ =
g(v)2 − 1
cosh2 v − 1
=
2
2
g(u) g(v) − 1 cosh2 u cosh2 v − 1
sin ϕ = p
bzw.
Aus cos χ = g(u) sin ϕ = cosh u sin ϕ folgt damit
cos χ = p
± cosh u sinh v
cosh2 u cosh2 v − 1
Weiter ist mit derselben Vorzeichenkonvention
cos2 ϕ = 1 − sin2 ϕ = 1 −
=
bzw.
p
sinh2 v = sinh v)
cosh u sinh v
cos χ = p
.
cosh2 u cosh2 v − 1
sinh2 v
cosh2 u cosh2 v − 1
=
.
.
Für Punkte mit der Koordinate v > 0 bedeutet dies (beachte also
sinh v
sin ϕ = p
,
2
cosh u cosh2 v − 1
± sinh v
cosh2 u cosh2 v − 1
(1)
cosh2 u cosh2 v − 1 − sinh 2 v
cosh2 u cosh2 v − 1
cosh2 u cosh2 v − cosh2 v
sinh2 u cosh2 v
=
cosh2 u cosh2 v − 1
cosh2 u cosh2 v − 1
Ebenso überzeugt man sich von
cos ϕ = p
sin χ = p
sinh u cosh v
cosh2 u cosh2 v − 1
sinh u
cosh2 u cosh2 v − 1
.
(2a)
.
(2b)
Zusammen mit g(v) = cosh v setzen wir dies in unsere anfängliche Identität für dr ein
dr = g(v) sin χ du + cos χ dv =
sinh u cosh v du + cosh u sinh v dv
d(cosh u cosh v)
p
.
=p
cosh2 u cosh2 v − 1
cosh2 u cosh2 v − 1
Damit ist χ aus der Darstellung von dr eliminiert.
Jetzt setzen wir mit einem positiven t > 0
cosht := cosh u cosh v
und ermitteln (warum dürfen wir das?)
dr = p
d cosh t
cosh2 t − 1
=
sinht dt
= dt
sinht
bzw. t = r + c mit c = const,
also nach Rücktransformation
cosh u cosh v = cosh(r + c).
Um die hier auftretende Integrationskonstante c ∈ R zu bestimmen, betrachten wir den Grenzfall
r → 0, wenn also auch u → 0 und v → 0, und schließen auf
1 = cosh c
bzw.
c = 0.
Daher ist
p
cosh u cosh v = cosh r bzw. sinh r = cosh2 u cosh2 v − 1 .
Mit den Gleichungen (1), (2a), (2b) und (3) haben wir damit folgendes Resultat bewiesen.
(3)
2.4. ANHÄNGE
101
Hilfssatz 2.5. Unter den Voraussetzungen r, ϕ ∈ C2 (R2 , R) gelten
sinh r sin ϕ = sinh v, sinh r cos χ = cosh u sinh v,
sinh r cos ϕ = sinh u cosh v, sinh r sin χ = sinh u,
cosh r = cosh u cosh v.
Um dieses Resultat nun auf ein beliebiges Dreieck ABC anwenden zu können, denken wir uns
A in den Koordinatenursprung und die Strecke AB auf die u-Achse verlegt und zerlegen das
Dreieck durch Konstruktion eines Lotes in F in zwei rechtwinklige Dreiecke wie folgt:
C
a
b
α
β
c
A
F
B
Voriger Hilfssatz 2.5 liefert dann
sinh b sin α = sinh v, sinh a sin β = sinh v,
sinh b cos α = sinh u cosh v, sinh b cos β = sinh(u − c) cosh v,
cosh b = cosh u cosh v, cosh a = cosh(u − c) cosh v
Anwendung der Additionstheoreme
sinh(x ± y) = sinh x cosh y ± sinh y cosh x,
cosh(x ± y) = cosh x cosh y ± sinh x sinh y
liefert dann den hyperbolischen Sinussatz
sinh a sin β = sinh v = sinh b sin α ,
den hyperbolischen Kosinussatz
cosh a = cosh(u − c) cosh v = cosh u cosh c cosh v − sinh u sinh c cosh v
= cosh b cosh c − sinh b sinh c cos α
sowie folgenden hyperbolischen Projektionssatz
sinh b cos β = sinh(u − c) cosh v = sinh u cosh c cosh v − sinh c cosh u cosh v
= sinh b cosh c cos α − sinh c cosh b.
Sehen wir von der Schwierigkeit ab, dass diese Identitäten unter den Regularitätsvoraussetzungen r, ϕ ∈ C2 (R2 , R) hergeleitet wurden, können wir zusammenfassen:
KAPITEL 2. DAS PARALLELENPROBLEM
102
Satz 2.7 (hyperbolische Trigonometrie in der Ebene)
Es gelten
(i) der hyperbolische Sinussatz
sinh a sin β = sinh b sin α ,
(ii) der hyperbolische Kosinussatz
cosh a = cosh b cosh c − sinh b sinh c cos α
(iii) und der hyperbolische Projektionssatz
sinh b cos β = sinh b cosh c cos α − sinh c cosh b.
Gauß selbst zog in seinen Notizen diese hyperbolische Geometrie nicht in Betracht, sondern
schränkte seine Untersuchungen auf die Euklidische (der Fall C = 0) und die sphärische Geometrie (der Fall C < 0) ein.
Ein möglicher Grund für seine Wahl könnte die nicht erfolgreiche Suche nach einer Realisierung
der hyperbolischen Geometrie in Gestalt einer zweidimensionalen, regulären Fläche im dreidimensionalen Euklidischen Raum sein. Für die Euklidische Geometrie dient die gewöhnliche
Ebene als Modell, für die sphärische Geometrie die Sphäre.
Im Jahre 1840 bewies Minding [106], dass auf einer Fläche konstanter negativer Gaußscher
Krümmung die trigonometrischen Formeln der hyperbolischen Geometrie gültig sind. Flächen
solcher Art beschrieb er bereits 1839 in [105], u.a. auch die uns wohlbekannte Pseudosphäre,
die sich als Rotationsfläche der sogenannten Traktrix einstellt.
Vermutlich kannte Gauß dieses oder ein ähnliches Beispiel. Im Gegensatz zum Euklidischen und
zum sphärischen Fall waren jedoch alle zu dieser Zeit bekannten pseudosphärischen Flächen
nicht regulär. Vermutete Gauß hierin einen versteckten Widerspruch innerhalb der hyperbolischen Geometrie, und war das der Anlass, dass er seine Resultate eben nicht veröffentlichte (vgl.
die Anmerkungen in Wußing [170])?
Erst 1901 bewies Hilbert [73] (siehe auch Hilberts Grundlagen der Geometrie [76]), dass es eine
von Singularitäten freie Realisierung der hyperbolischen Geometrie als Fläche im dreidimensionalen Raum nicht geben kann. Genauer schreibt er:
D. Hilbert 1901
Nach B ELTRAMI [Beltrami [12]] verwirklicht eine Fläche negativer constanter
Krümmung ein Stück einer L OBATSCHEFKIJschen (nicht-Euklidischen) Ebene, wenn
man als Gerade der L OBATSCHEFSKIJschen Ebene die geodätischen Linien der Fläche
von constanter Krümmung betrachtet und als Längen und Winkel in der L OBATSCHEFS KIJschen Ebene die wirklichen Längen und Winkel auf der Fläche nimmt. Unter den
bisher untersuchten Flächen negativer constanter Krümmung finden wir keine, die sich
stetig und mit stetiger Aenderung ihrer Tangentialebene in der Umgebung jeder Stelle überall hin ausdehnt; vielmehr besitzen die bekannten Flächen negativer constanter
Krümmung singuläre Linien, über die hinaus eine stetige Fortsetzung mit stetiger Aenderung der Tangentialebene nicht möglich ist. Aus diesem Grunde gelingt es mittelst
2.4. ANHÄNGE
103
keiner der bisher bekannten Flächen negativer constanter Krümmung, die ganze L O BATSCHEFSKIJsche Ebene zu verwirklichen, und es erscheint uns die Frage von principiellem Interesse, ob die GANZE L OBATSCHEFSKIJsche Ebene überhaupt nicht durch
eine analytische Fläche negativer constanter Krümmung auf die B ELTRAMIsche Weise
zur Darstellung gebracht werden kann . . . wir erkennen, dass es eine singularitätenfreie und überall reguläre analytische Fläche von constanter negativer Krümmung nicht
giebt. Insbesondere ist daher auch die zu Anfang aufgeworfende Frage zu verneinen,
ob auf die B ELTRAMIsche Weise die G ANZE L OBATSCHEFSKIJsche Ebene durch eine
regulär analytische Fläche im Raume sich verwirklichen lässt.
Abschließend möchten wir auf Graf [57]) für detaillierte Studien zur Trigonometrie in der Euklidischen Ebene und auf der Sphäre mit Anwendungen zu wichtigen Kartenentwürfen verweisen. Mathematische Kartografie ist, neben grundlegenden differentialgeometrischen Studien, ebenfalls Inhalt von Hoschek [84]. In diesem Zusammenhang empfehlen wir außerdem die
Lehrbücher von Bär [7] sowie Strubecker [149].
104
KAPITEL 2. DAS PARALLELENPROBLEM
KAPITEL
3
Hilbertsche Axiomatik
In Hermann Weyls Gedächtnisschrift [166] für David Hilbert und sein mathematisches
Werk lesen wir:
There could not have been a more complete break than the one dividing
Hilbert’s last paper on the theory of number fields from his classical book,
Grundlagen der Geometrie, published in 1899. Its only forerunner is a
note of the year 1895 on the straight line as the shortest way. But O. Blumenthal records that as early as 1891 Hilbert, discussing a paper on the
role of Desargue’s and Pappus’s theorems read by H. Wiener at a mathematical meeting, made a remark which contains the axiomatic standpoint
in a nutshell: “It must be possible to replace in all geometric statements
the words point, line, plane by table, chair, mug.”
Urteile wie dieses, welche sichtbar unter dem Einfluss der herausragenden Persönlichkeit David Hilberts und seiner außergewöhnlichen Leistungen auf nahezu allen Gebieten der Mathematik und der Physik die Mathematikgeschichte des 20. Jahrhunderts
beeinflussten, müssen wir heute kritischer lesen.
Einerseits ist für das Verständnis Hilberts Grundlagen der Geometrie, welche wir in
diesem Kapitel diskutieren werden, wichtig, die seinerzeit hauptsächlichen mathematischen Quellen zu studieren. Für Hilbert stechen hier vor allem Pasch [117], Peano
[119] und Reye [129] heraus.
Andererseits sind es Hilberts gehaltene Vorlesungen und geschriebenen Aufsätze, aus
denen sich uns ein Bild seiner tatsächlichen Beiträge zur Geometrie ergibt.
105
106
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
So sind uns aus seinem Nachlass folgende Vorlesungsmanuskripte über die Grundlagen
der projektiven, der axiomatischen und der analytischen Geometrie zugänglich (siehe
Toepell [159] sowie Hallett und Majer [60]):
1891 Vorlesungen über projektive Geometrie
(SS, Königsberg)
1894 Vorlesungen über Grundlagen der Geometrie
(SS, Königsberg; gehalten im SS 1985: Über die Axiome der Geometrie“)
”
1896 Ferienkurs über Geometrie
(Ostern, Göttingen; gehalten für Oberlehrer)
1898 Ferienkurs über den Begriff des Unendlichen
(Ostern, Göttingen; gehalten für Oberlehrer)
1898 Vorlesungen über Euklidische Geometrie
(WS, Göttingen)
1898 Festschrift über die Grundlagen der Geometrie
(Einweihung des Gauß-Weber-Denkmals, Göttingen)
1899 Grundlagen der Geometrie
(Teubner-Verlag, Leipzig)
Mit Toepells kritischer Auseinandersetzung [159] (siehe auch Toepell [158], [160])
der historischen Entwicklung der geometrischen Ideen Hilberts können wir festhalten,
dass Hilbert innerhalb des hier aufgezeigten Zeitraums an einer axiomatischen Neuorientierung der Geometrie arbeitete. Seine Grundlagen der Geometrie aus dem Jahre
1899 fassen schließlich die Ergebnisse dieser Bemühungen zwar nicht als breit angelegtes Lehrbuch, sondern als ein kurz gehaltenes, prägnant und mathematisch streng
formuliertes Grundlagenprogramm zusammen.
David Hilbert folgend, können wir die ebene und räumliche Geometrie aufbauen aus
drei nicht näher definierten Basiselementen
◦ Punkt P, Q usw.
◦ Gerade g, h usw.
◦ Ebene E , F usw.
sowie zwischen diesen wirkenden Relationen
◦ gleich, verschieden, liegen auf, zwischen, parallel, kongruent.
Die inhaltliche Festlegung dieser Relationen geschieht durch sogenannte Axiome.
Nicht näher definiert heißt unabhängig von jeglicher inhaltlicher Bedeutung. Punkte,
Geraden und Ebenen sind nun nicht mehr als geometrische Objekte zu verstehen, deren Definitionen uns überhaupt große Schwierigkeiten bereiteten, sondern als abstrakte
Elemente, zwischen denen vereinbarte Relationen gelten, und denen erst im Rahmen
eines Modells, also z.B. der gewöhnlichen analytischen Geometrie in der Zahlenebene,
gewisse inhaltliche Bedeutungen zukommen.
107
Bereits an dieser Stelle soll auf eine wichtige Besonderheit von Hilberts Grundlagen
der Geometrie aufmerksam gemacht werden, welche sie zu jener Zeit von vielen seiner
Vorgänger unterschied, und welche später die gesamte Mathematik nachhaltig beeinflussen sollte: Im Zentrum seiner Untersuchungen stehen nicht die geometrischen Elemente Punkt, Gerade, Ebene und Raum, die Euklids Werk den Namen gaben, sondern
die Beziehungen zwischen diesen.
Wir wollen kurz die Inhalte der ersten zwei Kapitel von Hilberts Grundlagen der Geometrie, die für unsere Vorlesung von Interesse sind, skizzieren:
◦ Das erste Kapitel beginnt mit detaillierten Erläuterungen der folgenden fünf
Axiomgruppen, die auch wir ausführlich vorstellen wollen:
− die Axiome der Verknüpfung, der Anordnung, der Kongruenz,
− das Parallelenaxiom,
− die Axiome der Stetigkeit.
◦ Mit dem zweiten Kapitel begründet Hilbert die relative Widerspruchsfreiheit und
gegenseitige Unabhängigkeit der von ihm aufgestellten Axiome. Jedes Axiom ist
für sich notwendig für den Aufbau einer korrekt aufgebauten Geometrie.
Mit relativer Widerspruchsfreiheit ist dabei folgendes gemeint: Hilbert projiziert“ in
”
einem noch zu diskutierenden Sinn die geometrischen Axiome auf die arithmetischen
Regeln gewisser algebraischer Zahlen. Die Frage der Widerspruchsfreiheit der Hilbertschen Geometrie verschiebt sich dann auf das Problem der Widerspruchsfreiheit der
Arithmetik, was die Bedeutung von relativ erklärt.
Es war überhaupt Hilberts Anliegen, der gesamten Mathematik ein widerspruchsfreies
Axiomensystem zu verleihen. Dieses anspruchsvolle Projekt legte er in seinem zweiten
Problem seiner Pariser Rede dar, die wir in Paragraph 3.8.4 wiedergeben.
Seine Geometrie umreisst Hilbert bereits in der Einleitung zu seinem Werk:
D. Hilbert: Grundlagen der Geometrie (1956), Einleitung
Die Geometrie bedarf – ebenso wie die Arithmetik – zu ihrem folgerichtigen
Aufbau nur weniger und einfacher Grundsätze. Diese Grundsätze heißen Axiome der Geometrie. Die Aufstellung der Axiome der Geometrie und die Erforschung ihres Zusammenhanges ist eine Aufgabe, die seit Euklid in zahlreichen
vortrefflichen Abhandlungen der mathematischen Literatur sich erörtert findet.
Die bezeichnete Aufgabe läuft auf die logische Analyse unserer räumlichen
Anschauung hinaus.
Die vorliegende Untersuchung ist ein neuer Versuch, für die Geometrie ein
vollständiges und möglichst einfaches System von Axiomen aufzustellen und
aus denselben die wichtigsten geometrischen Sätze in der Weise abzuleiten, daß
dabei die Bedeutung der verschiedenen Axiomengruppen und die Tragweite der
aus den einzelnen Axiomen zu ziehenden Folgerungen klar zutage tritt.
Welche vorausgegangenen Abhandlungen könnte Hilbert meinen?
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
108
Bereits im Jahre 1882 erschienen Paschs Vorlesungen über neuere Geometrie [117]. In
Paragraph 3.8.1 der Anhänge stellen wir sein Axiomensystem der Geometrie vor. An
dieser Stelle werden wir auf ein nach ihm benanntes Axiom treffen; man sollte dann
erneut unsere Ausführungen aus Paragraph 1.6.2 studieren.
Einen zweiten berühmten Vorläufer fand Hilbert mit Peanos Darstellung [119] vor, die
wir uns in Paragraph 3.8.3 anhand Whiteheads Lehrbuch [167] erarbeiten.
Peanos Werk ist für uns auch dahingehend bemerkenswert, als dass es das Paschsche
Axiom in zwei aufgeteilten Versionen enthält, worauf wir in Paragraph 3.8.3 eingehen.
David Hilbert erlebte sieben von den bis heute erschienenen fünfzehn Auflagen seines
Werkes Grundlagen der Geometrie (1899, 1903, 1909, 1913, 1922, 1923, 1930, 1956,
1962, 1968, 1972, 1977, 1987, 1999, 2002). Unsere Ausarbeitung richtet sich nach der
achten Auflage [76] aus dem Jahre 1956.
3.1 Axiomgruppe I: Axiome der Verknüpfung
3.1.1 Darstellung und Diskussion der Axiome
Wir beginnen mit den acht Hilbertschen Axiomen der Verknüpfung. Der Leser ist eingeladen, beim Studium dieser Axiome darauf zu achten, wie Hilbert die eine oder andere unklar oder gar nicht beantwortete Frage aus der Euklidischen Axiomatik der
Elemente in seine Geometrie einfließen lässt.
Axiom V1
Zu zwei verschiedenen Punkten P, Q gibt es stets eine Gerade g, die mit jedem
der beiden Punkte P, Q zusammengehört.
Das erste Verknüpfungsaxiom besagt, dass die Existenz zweier Punkte P und Q bereits
die Existenz einer Geraden g nach sich zieht. Es wird aber keine Aussage darüber
getroffen, ob diese Gerade eindeutig bestimmt ist.
g′
P
g
Q
Statt zusammengehört“ sagen wir auch:
”
◦ P und Q liegen auf g“, oder
”
◦ g verbindet P und Q“, oder
”
◦ g geht durch P und Q“.
”
Wir schreiben abkürzend P ∈ g, Q ∈ g usw. Die Verschiedenheit zweier Punkte P und
Q drücken wir durch die Symbolik P 6= Q aus.
3.1. AXIOMGRUPPE I: AXIOME DER VERKNÜPFUNG
109
Axiom V2
Zu zwei verschiedenen Punkten P, Q gibt es nicht mehr als eine Gerade, die mit
jedem der beiden Punkte P, Q zusammengehört.
Q
P
g
Die eben angesprochene Eindeutigkeitsfrage wird also durch dieses zweite Axiom der
Verknüpfung beantwortet.
Axiom V3
Auf einer Geraden gibt es stets wenigstens zwei verschiedene Punkte. Es gibt
wenigstens drei verschiedene Punkte, die nicht auf einer Geraden liegen.
Die Existenz einer Geraden bedeutet gleichzeitig die Existenz wenigstens zweier Punkte. Mit der Forderung nach einem dritten, zu den ersteren beiden nicht kolinearen Punkt
öffnet Hilbert das Tor zur ebenen Geometrie.
R
P
Q
g
Wir erkennen sofort: Existiert eine Gerade, so existieren wenigstens drei Punkte P, Q,
R und somit, auf Grund von Axiom V1, wenigstens drei Geraden, die P und Q, Q und
R bzw. P und R verbinden.
Bemerkung. Nach Rosenthal [132] lässt sich das dritte Verknüpfungsaxiom auch schwächer
formulieren:
Auf einer Geraden gibt es stets wenigstens zwei Punkte, in einer Ebene gibt es
stets wenigstens einen Punkt.
Die nachstehenden räumlichen Verknüpfungsaxiome garantieren demnach nämlich die
Existenz wenigstens dreier Punkte in einer Ebene (die Axiome V1, V2 und V3 bezeichnet Hilbert als ebene Axiome).
Bemerkung. In der Vorlesung Grundlagen der Euklidischen Geometrie“ aus dem
”
Wintersemester 1898 stellt uns Hilbert bereits an dieser Stelle eines seiner hauptsächlichen Anliegen vor, das der Geometrie zugrunde liegenden Axiome widerspruchsfrei
und unabhängig voneinander zu aufzustellen. Wir zitieren aus Toepell [159], Seite 151:
Ferner sind sie [die Axiome der Verknüpfung] auch im Wesentlichen von
einander unabhängig, was im Einzelnen zu zeigen wäre z.B. Axiom 1 [V1]
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
110
und 2 [V2] sind unabhängig voneinander. Denn sei jeder Punkt durch eine
ganze rationale positive Zahl p und jede Gerade ebenfalls durch eine ganz
rationale positive Zahl g definirt, so möge die Zuordnung nach Axiom 1
durch die Gleichung
hp ·p i
1
2
Grösstes Ganzes
=g
2
vermittelt
werden.
1·3 Dann ist Axiom
2·32 nicht erfüllt. Denn zum Beispiel
1·2 =
1,
=
1,
dagegen
ist
2
2
2 = 3, also 6= 1, oder mit anderen
Worten: Die Punkte 1 und 2 liegen auf der Geraden 1, die Punkte 1 und
3 liegen auf der Geraden 1, aber die Punkte 2 und 3 liegen nicht auf der
Geraden 1.
Wir werden auf diese charakteristischen Merkmale der Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit einer jeden axiomatischen Theorie noch wiederholt eingehen. Es sei jedoch jetzt schon der Weg festgehalten, wie die gegenseitige Unabhängigkeit der Axiome eines System verifiziert werden kann: Ein Axiom A ist von den restlichen Axiomen
unabhängig, wenn ein korrektes Modell existiert, für welches diese restlichen Axiome
gelten, das Axiom A jedoch nicht. Das historisch vielleicht wichtigste Beispiel eines
solchen Unabhängigkeitsproblems haben wir im zweiten Kapitel unserer Vorlesung mit
dem Parallelenpostulat und der nicht-Euklidischen Geometrie kennengelernt.
Axiom V4
Zu irgend drei verschiedenen, nicht auf ein und derselben Geraden liegenden
Punkten P, Q, R gibt es stets eine Ebene E , die mit jedem der drei Punkte P,
Q, R zusammengehört. Zu jeder Ebene gibt es stets einen mit ihr zusammengehörigen Punkt.
R
g
Q
P
Statt zusammengehört“ sagen wir auch:
”
◦ P liegt in E “, oder
”
◦ P ist Punkt von E .“
”
Abkürzend schreiben wir P ∈ E , Q ∈ E usw.
E
Nach dem dritten Verknüpfungsaxiom existieren drei Punkte P, Q und R, die nicht auf
einer Geraden liegen und nun nach diesem vierten Axiom eine Ebene bestimmen. Es
wird aber keine Aussage darüber getroffen, ob diese Ebene eindeutig bestimmt ist.
Dazu dient das nächste Axiom.
3.1. AXIOMGRUPPE I: AXIOME DER VERKNÜPFUNG
111
Axiom V5
Zu irgend drei verschiedenen, nicht auf ein und derselben Geraden liegenden
Punkten P, Q, R gibt es nicht mehr als eine Ebene, die mit jedem der drei Punkte
P, Q, R zusammengehört.
Als nächstes erinnern wir an unsere Diskussion zu Gauß’ Kritik der Simsonschen Definition der Ebene aus Paragraph 1.6.2. Hilberts sechstes Verknüpfungsaxiom reproduziert genau diese Definition.
Axiom V6
Wenn zwei verschiedene Punkte P, Q einer Geraden g in einer Ebene E liegen,
so liegt jeder Punkt von g in der Ebene E .
Eine Aussage über den gemeinsamen Schnitt zweier Ebenen macht siebtens das
Axiom V7
Wenn zwei Ebenen E , F einen Punkt P gemein haben, so haben sie wenigstens
noch einen weiteren, von P verschiedenen Punkt Q gemein.
Eine nichtleere Schnittmenge zweier Ebenen besteht also, und so können wir das Axiom zunächst lesen, aus wenigstens zwei verschiedenen Punkten, dann aber nach dem
ersten und dem sechsten Axiom aus wenigstens einer Geraden, die mit jedem der beiden Punkte zusammengehört.
Das Axiom V7 besagt, dass der Raum nicht mehr als drei Dimensionen besitzt.
Axiom V8
Es gibt wenigstens vier verschiedene, nicht in einer Ebene gelegene Punkte.
Es existiert wenigstens ein weiterer, nicht der in Frage stehenden Ebene, sondern dem
umgebenden Raum“ angehöriger Punkt. Aber auch jetzt wieder lassen sich Punkte der
”
Ebene mit diesem Punkt durch Geraden verbinden usw.
Das Axiom V8 besagt, dass der Raum nicht weniger als drei Dimensionen besitzt.
3.1.2 Folgerungen
Wir wollen nun aus den Axiomen der Verknüpfung erste Folgerungen gewinnen, die
unser Bild der ebenen und auch der räumlichen Euklidischen Geometrie weiter vervollständigen. Dabei orientieren wir uns an die Ausführungen in Hilbert [76], Meschkowski [101] und Mitschka [108].
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
112
Satz H1
Zwei verschiedene Geraden haben entweder einen oder keinen Punkt gemeinsam.
Beweis. Haben die Geraden g und h zwei Punkte gemeinsam, so müssen sie nach Axiom 2 gleich sein. Daraus folgt bereits der Satz.
Satz H2
Zwei verschiedene Ebenen haben entweder keinen Punkt oder eine ganze Gerade gemeinsam.
Beweis. Wir betrachten den Fall, dass ein Punkt P der Ebene E wie der von E verschiedenen Ebene F angehört.
1. Es gibt einen Punkt Q 6= P mit Q ∈ E und Q ∈ F .
2. Es gibt genau eine Gerade g, die P und Q verbindet.
3. Die Gerade g liegt in E und in F .
(V7)
(V1, V2)
(V6)
Damit ist Satz H2 bewiesen.
Wir zitieren drei weitere, ähnlich zu begründende Sätze, deren Beweise wir aber an
dieser Stelle als Übungsaufgaben belassen.
Sätze H3 bis H5
H3. Eine Ebene und eine nicht in ihr gelegene Gerade haben entweder einen
oder keinen Punkt gemeinsam.
H4. Zu einer Geraden g und einem nicht auf ihr gelegenen Punkt P gehört
genau eine Ebene, die P und alle Punkte von g enthält.
H5. Zwei sich schneidende Geraden bestimmen genau eine Ebene.
3.2 Axiomgruppe II: Axiome der Anordnung
3.2.1 Darstellung und Diskussion der Axiome
Hierbei handelt es sich um drei liniengeometrische Axiome sowie um das berühmte
Axiom von Pasch, welches die Geometrie auf die Ebene erweitert.
3.2. AXIOMGRUPPE II: AXIOME DER ANORDNUNG
113
Axiom A1
Wenn ein Punkt Q zwischen einem Punkt P und einem von P verschiedenen
Punkt R liegt, so sind P, Q, R drei verschiedene Punkte einer Geraden, und Q
liegt dann auch zwischen R und P.
P
Q
R
Bezeichnen wir die hier ausgesprochene Zwischenrelation mit Z(P, Q, R), so besagt
dieses Axiom
Z(P, Q, R) −→ Z(R, Q, P).
Wir wollen an dieser Stelle erwähnen, dass das axiomatische Einführen einer solchen
dreistelligen Relation von verschiedenen Autoren kritisiert wurde, siehe z.B. Freudenthals [48], mit der Forderung, doch eher auf eine zweistellige Ordnungsrelation zwischen den Punkten einer Geraden zurückzugreifen, nämlich
falls P und Q verschieden, so
P≺Q
oder Q ≺ P.
Auf diese Weise ließe sich einer Geraden insbesondere eine Richtung zuordnen.
Axiom A2
Zu zwei verschiedenen Punkten P und R gibt es stets wenigstens einen, von P
und R verschiedenen Punkt Q auf der Geraden PR, so dass R zwischen P und
Q liegt.
P
R
Q
Zwei Folgerungen aus diesem Axiom sind:
Folgerung. Eine Gerade besitzt unendlich viele Punkte.
(siehe Satz H10 unten)
Beweis. Zunächst nämlich die zwei Punkte P und Q, die sie erzeugen; dann einen
dritten, von P und Q verschiedenen Punkt R; dann einen vierten usw.
Folgerung. In einer Ebene gibt es außerhalb einer Geraden unendlich viele Punkte.
Beweis. Zunächst nämlich die zwei voneinander verschiedenen Punkte P und Q, die
die Gerade erzeugen; dann nach voriger Folgerung unendlich viele Punkte auf dieser
Geraden; dann nach Axiom V3 einen weiteren Punkt S außerhalb der Geraden; dann
nach V1 und V2 unendlich viele Geraden, die S und die Punkte auf der ursprünglichen
Geraden verbinden usw.
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
114
Axiom A3
Unter irgend drei verschiedenen Punkten einer Geraden gibt es nicht mehr als
einen, der zwischen den beiden anderen liegt.
Unter Verwendung obiger Zwischenrelation Z(P, Q, R) schreibt sich dieses Axiom auch
in der Form
entweder Z(P, Q, R) oder Z(Q, R, P) oder Z(R, P, Q).
Axiom A4
Es seien P, Q, R drei verschiedene, nicht in gerader Linie gelegene Punkte und
g eine Gerade in der Ebene E , die nach den Axiomen V4, V5 von P, Q, R
erzeugt wird. Ferner treffe die Gerade g die Punkte P, Q, R nicht. Wenn dann g
durch einen zwischen P und R liegenden Punkt der Geraden PR geht, so geht
sie gewiss auch
◦ entweder durch einen zwischen P und Q liegenden Punkt auf PQ
◦ oder durch einen zwischen Q und R liegenden Punkt auf QR.
R
g
E
Q
P
Es handelt sich hierbei um das berühmte Paschsche Axiom, welches erstmals von Pasch
1882 in seiner axiomatischen Formulierung der Euklidischen Geometrie [117] in seiner
Notwendigkeit erkannt und daraufhin ausgesprochen wird.
Das Paschsche Axiom kann auch so ausgedrückt werden (Hilbert [76], Seite 5):
→ . . . wenn eine Gerade ins Innere eines Dreiecks eintritt, tritt sie auch wieder
heraus.
So klar und evident die Aussage des Axioms uns auch scheinen mag – für den Aufbau
der Paschschen Geometrie, und damit auch für Hilberts Axiomatik, der sich offenbar
eng an Pasch orientierte, ist es unverzichtbar.
Bemerkung. Beim Heraustreten aus dem Dreieck können, wir Hilbert bemerkt, nicht
beide übrigen Dreiecksseiten getroffen werden können. Zum Beweis dieser Aussage
betrachten wir mit Meschkowski [101], S. 26, folgende Figur:
3.2. AXIOMGRUPPE II: AXIOME DER ANORDNUNG
115
R
g
C
A
Q
B
P
Zunächst eine fehlerhafte Überlegung, die die gängige“, innerhalb unserer Axiomatik
”
jedoch nicht zur Verfügung stehenden Eigenschaft verwendet, dass Geraden Kürzeste
sind: Das Bild suggeriert nämlich die Existenz einer kürzesten“ Verbindung zwischen
”
den Punkten A und C, die PQ offensichtlich nicht schneidet (hier gestrichelt eingezeichnet). Zwischen A und C gibt es nach Axiom V2 aber nur eine Gerade, und da
Geraden längenminimierend sind, kann AC die gerade Linie PQ nicht schneiden.
Ein korrekter Beweis wäre nach Meschkowski [101] hingegen folgender: Die Gerade
g tritt im Punkt A in das Dreieck ein. Angenommen, g trifft ebenfalls die Gerade PQ in
einem von P und Q verschiedenen Punkt B mit Z(PBQ) und die Gerade QR in einem
von Q und R verschiedenen Punkt C mit Z(QCR). Betrachte dann das Dreieck ACR,
dessen eine Seite AC in einem von A und C verschiedenen Punkt B von der Geraden PQ
getroffen wird. Aber PQ trifft die beiden anderen Dreiecksseiten nicht, im Widerspruch
zum Paschschen Axiom A4.
3.2.2 Folgerungen
Wir fahren mit einfachen Folgerungen fort, deren Aussagen wir durch einfache Skizzen
illustrieren und nur zum Teil beweisen möchten.
Satz H6
Zu zwei verschiedenen Punkten P und Q gibt es stets wenigstens einen weiteren Punkt R, der von P und Q verschieden ist, der auf der durch P und Q
verlaufenden Geraden g liegt, und der zwischen P und Q liegt.
P
R
Q
Beweis von H6. Der Beweis ist eine interessante Anwendung des Paschschen Axioms.
Betrachte dazu mit Hilbert [76], S. 6, die folgende Figur, und darin auf der Geraden
PQ alle Punkte S mit Z(PSQ) :
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
116
B
A
Q
P
R
C
Vorbereitende Konstruktion:
1. Wähle einen Punkt A außerhalb von PQ
(V3)
2. Wähle einen Punkt B auf PA, so dass Z(PAB)
(A2)
3. Wähle einen Punkt C auf BQ, so dass Z(BQC)
(A2)
Beweisschluss:
4. Die Gerade AC trifft das Dreieck BPQ im Punkt A
(1)
5. Die Gerade AC trifft das Dreieck BPQ in einem Punkt R mit Z(PRQ)
(A4)
Damit ist der gesuchte Punkt R konstruiert.
Sätze H7 und H8
H7. Unter irgend drei voneinander verschiedenen Punkten P, Q, R einer Geraden gibt es stets einen, der zwischen den beiden anderen liegt.
H8. Sind irgend vier voneinander verschiedene Punkte einer Geraden gegeben, so lassen sich dieselben stets in der Weise P, Q, R, S bezeichnen,
dass der mit Q bezeichnete Punkt zwischen P und R und auch zwischen
P und S und ferner der mit R bezeichnete Punkt zwischen P und S und
auch zwischen Q und S liegt.
P
Q
In Verallgemeinerung notieren wir noch den
R
S
3.2. AXIOMGRUPPE II: AXIOME DER ANORDNUNG
117
Satz H9 (Verallgemeinerung von H8)
Sind irgendeine endliche Zahl paarweise voneinander verschiedener Punkte einer Geraden gegeben, so lassen sich dieselben stets in der Weise mit P, Q, R,
S usw. bis V bezeichnen, dass der mit Q bezeichnete Punkt zwischen P einerseits und R, S usw. andererseits, ferner R zwischen P, Q einerseits und S usw.
andererseits, usw. liegt. Außer dieser Bezeichnungsweise gibt es nur noch die
umgekehrte Bezeichnungsweise V usw. bis P, die von der nämlichen Beschaffenheit ist.
P
Q
R
S
V
Das nächste Resultat sollte mit der Aussage des Axioms A2 verglichen werden, nach
welchem es zu zwei verschiedenen Punkten P und R stets einen weiteren Punkt Q auf
der Geraden PR gibt mit Z(PRQ) : Dass es zwischen P und R weitere Punkte gibt, ist
wie folgt beweisbar.
Satz H10
Zwischen irgend zwei verschiedenen Punkten einer Geraden gibt es stets unendlich viele weitere voneinander verschiedene Punkte.
Noch ist nichts darüber gesagt, ob eine Gerade abzählbar oder überabzählbar unendlich
viele Punkte besitzt, noch ob sie, wie wir Euklids Definition der geraden Linie interpretiert haben, auf ihr gleichmäßig“ liegen. Denken Sie z.B. an die abzählbare Menge
”
der rationalen Zahlen oder an die überabzählbare Cantorsche Mittel-Drittel-Menge.
Wir führen nun den Begriff einer Strecke ein.
Definition (Strecke)
Seien P und Q zwei verschiedene Punkte auf einer Geraden g, so bezeichnen
wir die Menge der Punkte P und Q zusammen mit allen den Punkten, die nach
Satz H10 zwischen P und Q liegen, als die Strecke PQ. Es heißen P und Q die
Endpunkte dieser Strecke.
Hiermit liegt erstmals eine exakte Definition des bereits oft gebrauchten Begriffs der
Strecke vor. Sie unterscheidet sich von unserer nicht erklärten Schreibweise PQ für
diejenige, eindeutig bestimmte gerade Linie, welche durch P und Q erzeugt wird.
Damit kommen wir zu dem folgenden wichtigen
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
118
Satz H11 (Trennungssatz)
Jede Gerade g, welche in der Ebene E liegt, trennt die nicht auf ihr liegenden
Punkte dieser Ebene E in zwei Gebiete von folgender Beschaffenheit:
◦ ein jeder Punkt P des einen Gebietes bestimmt mit jedem Punkt Q des
anderen Gebietes eine Strecke PQ, innerhalb derer ein von P und Q verschiedener Punkt der Geraden g liegt;
◦ dageben bestimmen irgend zwei verschiedene Punkte P und P′ ein und
desselben Gebietes eine Strecke PP′ , welche keinen Punkt von g enthält.
P′
P
g
Q
Wir sagen auch:
→ die Punkte P und P′ liegen auf ein und derselben Seite von g“ oder
”
die Punkte P und P′ sind verbindbar“
”
→ die Punkte P und Q liegen auf verschiedenen Seiten der Geraden g“ oder
”
die Punkte P und Q sind nicht verbindbar“.
”
Oder noch anders ausgedrückt (vgl. C. Bär [7], Abschnitt 1.1):
→ Es gibt genau zwei Seiten einer Geraden g.“
”
Dem eigentlichen Beweis vorausgreifend, werden wir auf diese Weise auf folgende
Äquivalenzrelation geführt:
P ∼ P′
genau dann, wenn P und P′ auf ein und derselben Seite von g liegen.
Diese Relation wird charakterisiert durch nachstehende drei Eigenschaften:
◦ die Relation ∼ ist reflexiv, denn P ∼ P;
◦ die Relation ∼ ist symmetrisch, denn P ∼ P′ genau dann, wenn P′ ∼ P;
◦ die Relation ∼ ist transitiv, denn wenn P ∼ P′ und P′ ∼ P′′ , so auch P ∼ P′′ .
Die Äquivalenzrelation zerlegt also, wie wir gleich zeigen werden, bei vorgelegtem
Punkt P die Menge aller Punkte der Ebene E , die nicht zu g gehören, in zwei disjunkte
Punktmengen bzw. Gebiete M1 (P) und M2 (P), gerade wie sie im Satz beschrieben
wurden:
M1 (P) := {P′ ∈ E : P′ 6∈ g, P′ ∼ P} ,
M2 (P) := {Q ∈ E : Q 6∈ g, Q 6∼ P} .
3.2. AXIOMGRUPPE II: AXIOME DER ANORDNUNG
119
Beweis von Satz H11. Auch dieser Beweis wird unter Zuhilfenahme des Paschschen
Axioms geführt. Vorgelegt sei also die Gerade g. Betrachte die folgende Figur:
h
E
P
R
S
Q
g
Vorbereitende Konstruktion:
1. Wähle einen Punkt P ∈ E mit P 6∈ g
2. Wähle einen Punkt S ∈ g
(V3)
(V3)
3. P und S bestimmen genau eine Gerade PS
(V1, V2)
4. Wähle einen Punkt Q auf PS mit Z(PSQ)
(A2)
Die durch die Punkte P und Q erzeugte Gerade PQ schneidet also g im Punkt S. Die
Punkte P und Q gehören demnach den Mengen M1 (P) bzw. M1 (Q) an. Beide Mengen
sind also nicht leer.
Wir zeigen nun, dass jeder Punkt der Ebene E , der nicht auf g liegt, entweder in M1 (P)
oder in M1 (Q) enthalten ist.
◦ Jeder Punkt U ∈ h, der von P und S verschieden ist und Z(SUP) erfüllt, gehört
zur Menge M1 (P). (Warum?)
◦ Jeder Punkt V ∈ h, der von Q und S verschieden ist und Z(QV S) erfüllt, gehört
zur Menge M1 (Q). (Warum?)
◦ Sei schließlich ein Punkt R beliebig gewählt, der weder auf g, noch auf h liegt.
Konstruiere, wie in obiger Figur, das Dreieck PQR. Die Strecke PQ, die eine
Seite des Dreiecks bildet, wird im Punkt S von der Geraden g geschnitten. Nach
dem Paschschen Axiom gibt es dann genau einen weiteren Schnittpunkt T ∈ PR
oder T ∈ QR. Im ersten Fall gilt R ∈ M1 (Q), im zweiten Fall R ∈ M1 (P).
Offenbar sind die Mengen M1 (P) und M1 (Q) disjunkt.
Um den Beweis abzuschließen, bemerken wir, dass die Zerlegung der Ebene E in die
paarweise disjunkten Mengen M1 (P), g und M1 (Q) wohldefiniert ist im folgenden Sinne: Ersetzen wir P durch einen Punkt P′ , so ist M1 (P) = M1 (P′ ), falls P ∈ M1 (P), und
M1 (P) = M1 (Q), falls P ∈ M1 (Q) usw. (Eine detaillierte Ausführung dieser Argumentation unter erneuter Verwendung des Paschschen Axioms belassen wir als Übungsaufgabe.)
Die Zerlegung von E in die drei diskutierten disjunkten Teilmengen ist also unabhängig
von der Wahl der Punkte P und S, was den Beweis des Satzes H11 abschließt.
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
120
Den Trennungssatz H11 können wir wie folgt formulieren für Polygonzüge statt Geraden und gelangen so zu einer speziellen Variante des Jordanschen Kurvensatzes.
Unter einem Polygonzug in einer Ebene E verstehen wir dabei zunächst eine endliche
Anzahl von Strecken PQ, QR, RS usw., die einen Anfangspunkt P mit einem Endpunkt
V verbinden. Im Falle P = V sprechen wir von einem Polygon mit den Seiten PQ,
QR, RS usw. und den Ecken P, Q, R usw. Ein Polygon bezeichnen wir schließlich als
einfach, wenn alle seine Ecken voneinander verschieden sind und keine Ecke in eine
Seite fällt und keine zwei Seiten einen gemeinsamen Punkt besitzen.
Q′
Q
P
P′
Satz H12 (Trennungssatz für Polygonzüge)
Ein jedes einfache, in einer Ebene E gelegene Polygon trennt diejenigen Punkte
der Ebene E , die nicht dem Streckenzuge des Polygons angehören, in zwei
Gebiete, ein Inneres und ein Äußeres, von folgender Beschaffenheit:
◦ ist P ein Punkt des Inneren (innerer Punkt) und Q ein Punkt des Äußeren
(äußerer Punkt), so hat jeder in E verlaufende Streckenzug, der P mit Q
verbindet, mindestens einen Punkt mit dem Polygon gemein;
◦ sind dagegen P, P′ zwei Punkte des Inneren und Q, Q′ zwei Punkte des
Äußeren, so gibt es stets Streckenzüge in E , die P mit P′ und Q mit Q′
verbinden und keinen Punkt mit dem Polygon gemein haben.
Bei geeigneter Bezeichnung der beiden Gebiete gibt es stets (unendlich lange)
Geraden in E , die ganz im Äußeren des Polygons verlaufen, dagegen keine
solche Gerade, die ganz im Innern des Polygons verläuft.
Hilbert lässt in [76] diesen Satz unbewiesen. Ohne über mögliche Gründe zu spekulieren, wollen wir an dieser Stelle Freudenthal [48] zu Wort kommen lassen:
Die Grundlagen“ (ohne die Anhänge) sind heute [in der achten Auflage]
”
um etwa ein siebtel länger als ursprünglich. Viele Beweise waren anfangs
durch eine der gebräuchlichen Weglassungsfloskeln ersetzt. Allmählich
3.3. AXIOMGRUPPE III: AXIOME DER KONGRUENZ
121
haben die Bearbeiter der einzelnen Auflagen diese Lücken ausgefüllt, manchmal auch Unschönheiten und Komplikationen beseitigt. Einige wenige Behauptungen haben den Beweisversuchen widerstanden und sich als
falsch erwiesen. Jedenfalls war manches, das H ILBERT als leicht“ über”
gangen hatte, hinterdrein wirklich nicht so leicht. Im 1. Kap. klafft auch
in der 8. Aufl. noch eine solche Lücke. Zum Satze (S. 10), dass ein einfaches Polygon die Ebene in zwei Gebiete zerlegt, gelangt man noch immer
ohne Schwierigkeiten“, d.h. ohne Beweis. Es wäre interessant zu erfah”
ren, wie H ILBERT sich 1899 den Beweis vorgestellt hat. Der Beweis ist
recht mühselig, wenn man ihn nicht sehr geschickt aufzieht. Wie man das
machen kann, hat V. D . WAERDEN sehr elegant gezeigt (C HR . H UYGENS
13–14 (1934–6)). Soll man von jedem Leser der Grundlagen“ verlangen,
”
dass er sich den Beweis zurechtlegt?
Für das weitergehende Studium zum Jordanschen Kurvensatz und dessen Verallgemeinerungen empfehlen wir Courant und Robbins [25], S. 186 ff. sowie Glaeser und
Polthier [54], S. 136 f.
Der Trennungssatz H11 lässt sich übertragen auf die räumliche Situation, in der eine
Ebene E den Raum in zwei disjunkte Teile trennt. Ähnlich wie bei unendlich langen
Geraden, sind wir also auch hier berechtigt, von ein und derselben Seite oder von zwei
verschiedenen Seiten einer Ebene zu sprechen.
Satz H13 (Trennungssatz im Raum)
Jede Ebene E trennt die übrigen Punkte des Raumes in zwei Gebiete von folgender Beschaffenheit:
◦ jeder Punkt P des einen Gebietes bestimmt mit jedem Punkt Q des anderen Gebietes eine Strecke PQ, innerhalb deren ein Punkt von E liegt;
◦ dagegen bestimmen irgend zwei verschiedene Punkte P und P′ eines
und desselben Gebietes stets eine Strecke PP′ , die keinen Punkt von E
enthält.
3.3 Axiomgruppe III: Axiome der Kongruenz
3.3.1 Darstellung und Diskussion der Axiome
Die Axiome der Kongruenz beziehen sich auf
◦ die Kongruenz von Strecken
◦ die Kongruenz von Winkeln
Hilbert leitet in dieses Kapitel in seiner Vorlesung im Wintersemester 1898 wie folgt
ein (siehe Toepell [159], Seite 161):
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
122
Diese Axiome der Congruenz erscheinen etwas trocken und umständlich.
Auch mir erschienen sie es früher und manchmal ging es mir wie ein
Mühlrad im Kopfe herum, wenn ich andere Math. davon sprechen hörte.
In der That, was man liest ist meist sehr confus. Ich bitte Sie nur noch
diese Sätze auszuhalten. Wir werden dann schon einige Früchte ernten. Es
ist nöthig, wenn man die Sätze der Geometrie nicht bloss technisch handhaben, sondern ihren Geist verstehen will, wenn man über den 2000 Jahre
alten Euklid auch nur ein Urteil haben will.
Das erste Axiom definiert implizit, was wir als Streckenabtragung im Sinne von Euklids
Propositionen I.2 und I.3 bezeichnen würden. Damit wollen wir beginnen.
Axiom K1
Wenn P, Q zwei verschiedene Punkte auf einer Geraden g und ferner P′ ein
Punkt auf derselben oder einer anderen Geraden g′ ist, so kann man auf einer
gegebenen Seite von P′ auf der Geraden g stets einen Punkt Q′ finden, so dass
die Strecke PQ der Strecke P′ Q′ kongruent oder gleich ist, in Zeichen
PQ ≡ P′ Q′ .
g
Q
P
P′
Q′
g′
Die Strecke PQ auf der Geraden g ist also auf g selbst oder auf irgendeiner anderen
Geraden g′ vom Punkte P′ aus abtragbar.
Bemerkung. Bei der Definition einer Strecke PQ wurde nicht zwischen PQ und QP
unterschieden, beides bezeichnet ein und dieselbe Punktmenge. Daher sind die vier
folgenden Identitäten zueinander äquivalent
PQ ≡ P′ Q′ ,
PQ ≡ Q′ P′ ,
QP ≡ P′ Q′ ,
QP ≡ Q′ P′ .
Bemerkung. Zur Rolle der impliziten Definitionen in der axiomatischen Geometrie
existieren interessante und aufschlussreiche Kommentare Freges [43], [44], [45], [46],
[47], die wir im Paragraphen 3.8.6 studieren.
3.3. AXIOMGRUPPE III: AXIOME DER KONGRUENZ
123
Axiom K2
Wenn eine Strecke P′ Q′ und eine Strecke P′′ Q′′ derselben Strecke PQ kongruent sind, so ist auch die Strecke P′ Q′ der Strecke P′′ Q′′ kongruent; oder kurz:
wenn zwei Strecken einer dritten kongruent sind, so sind sie untereinander kongruent.
In Zeichen schreiben wir
P′ Q′ ≡ PQ ∧ P′′ Q′′ ≡ PQ −→ P′ Q′ ≡ P′′ Q′′ .
Bemerkung. Diesen ersten beiden Axiomen zufolge ist eine Strecke PQ auch zu sich
selbst kongruent: Dazu trägt man PQ, wie im ersten Axiom K1, auf irgendeine Gerade
ab zur kongruenten Strecke P′ Q′ und erhält die zwei Kongruenzen
PQ ≡ P′ Q′
und PQ ≡ P′ Q′ .
Hierauf wendet man das zweite Axiom K2 an mit dem Resultat PQ ≡ PQ. Die Streckenkongruenz ≡ ist also reflexiv. Dann ist sie aber auch symmetrisch, d.h. es gilt
PQ ≡ P′ Q′
impliziert P′ Q′ ≡ PQ ,
denn (unter Benutzung bekannnter aussagenlogischer Operatoren)
P′ Q′ ≡ P′ Q′ ∧ PQ ≡ P′ Q′
−→
P′ Q′ ≡ PQ nach Axiom K2,
und sie ist transitiv, d.h. es gilt
PQ ≡ P′ Q′ und P′ Q′ ≡ P′′ Q′′
implizieren PQ ≡ P′′ Q′′ ,
denn
PQ ≡ P′ Q′ ∧ P′ Q′ ≡ P′′ Q′′
−→
−→
PQ ≡ P′ Q′ ∧ P′′ Q′′ ≡ P′ Q′
PQ ≡
P′′ Q′′
wegen Symmetrie
nach Axiom K2.
Wir halten fest:
→ Die Streckenkongruenz ist eine Äquivalenzrelation.
Strecken können wir mit Hilfe des Begriffs der Streckenkongruenz in Äquivalenzrelationen einteilen. Eine solche Äquivalenzrelation wollen wir als Länge der Strecke
bezeichnen.
Das dritte Kongruenzaxiom ermöglicht nun die Addierbarkeit von Strecken.
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
124
Axiom K3
Es seien PQ und QR zwei Strecken ohne gemeinsame [innere] Punkte auf der
Geraden g und ferner P′ Q′ und Q′ R′ zwei Strecken auf derselben oder einer
anderen Geraden g′ ebenfalls ohne gemeinsame [innere] Punkte; wenn dann
PQ ≡ P′ Q′
und QR ≡ Q′ R′
ist, so ist auch stets
PR ≡ P′ R′ .
P
Q
R
g
P′
Q′
R′
g′
Das Axiom K3 beinhaltet also die Erhaltung“ der Kongruenz bei Streckenaddition und
”
bereitet auf diese Weise das Rechnen mit Streckenlängen vor (vgl. A. Mitschka [108],
Seite 96).
Bemerkung. In der von Schaperschen Ausarbeitung Hilberts Vorlesung Elemente
”
der Euklidischen Geometrie“, abgedruckt in Hallet und Majer [60], finden wir auf der
Seite 320 folgenden Widerspruchsbeweis, dass das Kongruenzaxiom K3 unabhängig
von den beiden Kongruenzaxiomen K1 und K2 ist:
Es habe AB auf a die Länge l; dann soll jede kongruente Strecke A′ B′ auf
a′ die Länge l ′ = el − 1 haben; umgekehrt soll der Länge l ′ auf a′ die Länge
l = log(l ′ + 1) auf a kongruent heissen. Ist nun AB = l1 , BC = l2 , so wird
AC = l1 + l2 , ferner A′ B′ = el1 − 1, B′C′ = el2 − 1, A′C′ = el1 + el2 − 2,
wogegen das Axiom 3. verlangt, dass A′C′ = el1 +l2 − 1 sein soll.
Die Argumentation wird durch folgende Skizze veranschaulicht:
A
B
C
a
A′
B′
C′
a′
Eine Vorlesungsausarbeitung von August Adler aus dem Sommersemester 1902 der
Hilbertschen Vorlesung Grundlagen der Geometrie“ enthält zweitens die folgende Be”
weisvariante (siehe erneut Hallett und Majer [60], S. 550):
Wir nehmen die Punkte und Geraden der Euklidischen Geometrie, definieren aber die Congruenz der Strecken auf folgende Weise: a sei eine feste,
3.3. AXIOMGRUPPE III: AXIOME DER KONGRUENZ
125
g eine beliebige Gerade der Ebene. Wir wollen nun zwei Strecken UV und
U ′V ′ von a resp. g congruent nennen, wenn die Gleichung
L = l + l 2 sin2 ϑ
besteht, wobei l und L die Euklidischen Längen von UV resp. U ′V ′ sind.
Haben nun die Strecken AB, BC auf a die Länge l = 1, so haben congruente
Strecken A′ B′ und B′C′ von g jede die Länge: L1 = 1 + 1 sin2 ϑ , die zu AC
congruente Strecke A′C′′ auf g hat aber die Länge
L2 = 2 + 4 sin2 ϑ ,
d.h. C′′ fällt nicht mit C′ zusammen. III 3 gilt also hier nicht.
Hier die zum Beweis gehörige Figur:
a
ϑ
g
Hilbert bezeichnet die Kongruenzaxiome K1, K2 und K3 als lineare Kongruenzaxiome,
da sie lediglich Aussagen über Strecken machen. Die folgenden Axiome K4 und K5,
die über Strecken und Winkel aussagen, heißen hingegen ebene Kongruenzaxiome.
Doch zunächst benötigen wir eine genau Definition des Begriffs eines Winkels, die wir
ja bei unseren gesamten bisherigen Betrachtungen zur Euklidischen Geometrie übergangen haben. Zur Erinnerung verweisen wir auf D8 aus Euklids Elementen.
Definition (Winkel)
Es sei E eine Ebene, und h, k seien irgend zwei verschiedene von einem Punkte
O ausgehende Halbstrahlen in E , die verschiedenen Geraden angehören. Das
System dieser beiden Halbstrahlen h, k nennen wir einen Winkel und bezeichnen denselben mit
(h, k) oder mit (k, h).
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
126
Die Halbstrahlen h, k heißen Schenkel des Winkels, und der Punkt O heißt der
Scheitel des Winkels.
Unter einem Halbstrahl verstehen wir dabei eine unendlich lange gerade Linie mit
Anfangspunkt O.
k
E
Winkelinneres
O
h
→ Wir bemerken, dass, um Mehrdeutigkeiten zu vermeiden, Hilbert mit seiner Definition gestreckte und überstumpfe Winkel ausschließt.
Wir fahren mit Hilberts Worten aus [76], Seite 13 fort:
Die Halbstrahlen h und k, zusammengenommen mit dem Punkte O, teilen
die übrigen Punkte in zwei Gebiete ein: alle Punkte, die mit h auf der gleichen Seite von k und mit k auf der gleichen Seite von h liegen, heißen im
Innern des Winkels (h, k) gelegen, alle andern Punkte heißen im Äußern
ode außerhalb dieses Winkels gelegen.
Wie für Strecken, so führen wir nun auch für Winkel eine Kongruenzrelation ein.
Axiom K4
Es sei ein Winkel (h, k) in einer Ebene E und eine Gerade g′ in einer Ebene E ′
sowie eine bestimmte Seite von g′ in E ′ gegeben. Es bedeute h′ einen Halbstrahl
der Geraden g′ , der vom Punkte O′ ausgeht: dann gibt es in der Ebene E ′ einen
und nur einen Halbstrahl k′ , so daß der Winkel (h, k) kongruent oder gleich
dem Winkel (h′ , k′ ) ist und zugleich alle inneren Punkte des Winkels (h′ , k′ )
auf der gegebenen Seite von g′ liegen, in Zeichen:
(h, k) ≡ (h′ , k′ ).
Jeder Winkel ist sich selbst kongruent, d.h. es ist stets
(h, k) ≡ (h, k).
E
k
E′
h
O
O′
k′
h′
3.3. AXIOMGRUPPE III: AXIOME DER KONGRUENZ
127
Dieses Axiom K4 definiert implizit, was wir als Winkelabtragung im Sinne der Euklidischen Proposition I.23 verstehen wollen. Im Gegensatz zur impliziten Definition der
Streckenkongruenz über das Kongruenzaxiom K1 muss hier aber die Eindeutigkeit der
Winkelabtragung axiomatisch eingefordert werden.
Zweitens unterscheidet Hilbert nicht zwischen orientierten und nicht orientierten Winkeln, d.h. äquivalent sind insbesondere
(h, k) ≡ (h′ , k′ ),
(k, h) ≡ (h′ , k′ ),
(h, k) ≡ (k′ , h′ ),
(k, h) ≡ (k′ , h′ ).
Mit Hilbert werden wir übrigens die üblichen Bezeichnungen, wie (POQ), beibehalten, falls sich, wie in diesem Beispiel, die Punkte P und Q auf h bzw. k befinden, und
P, Q und O voneinander verschieden sind.
Das nun folgende fünfte Kongruenzaxiom ist als Bindeglied zwischen der Kongruenz
von Strecken und der Kongruenz von Winkeln zu verstehen. Es beinhaltet einen wesentlichen Schritt zum Beweis des Dreieckskongruenzsatzes sws aus den Euklidischen
Elementen, Proposition I.4.
Axiom K5
Wenn für zwei Dreiecke PQR und P′ Q′ R′ die Kongruenzen
PQ ≡ P′ Q′ ,
PR ≡ P′ R′ ,
(QPR) ≡ (Q′ P′ R′ )
gelten, so ist auch stets die Kongruenz
(PQR) ≡ (P′ Q′ R′ )
erfüllt.
R′
R
P
Q
P′
Q′
Bemerkung. Nach geeigneter Umbezeichnung ergibt sich ebenfalls die Winkelkongruenz (PRQ) = (P′ Q′ R′ ).
Tatsächlich wurde Euklids Beweis des Kongruenzsatzes Proposition I.4, der auf eine
Bewegung aufbaut, die das eine Dreieck auf das andere legt und überdecken soll, vielfach kritisiert. Wir erinnern an dieser Stelle an unsere Diskussion zu Proposition I.4
aus dem ersten Kapitel sowie der in Paragraph 1.6.5 angeschriebenen Schopenhauerschen Kritik. Im Anhang zu dem vorliegenden Kapitel, Paragraph 3.8.7, werden wir
ausgewählte solcher Quellen ausführlich vorstellen.
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
128
Bemerkung. Es ist zu beachten, dass Hilbert in diesem Axiom, wie auch in verschiedenen anderen seiner Axiome oder Sätze, nicht voraussetzt, dass die gegebenen
Größen Elemente einer einer einzigen Ebene sind, wie vorige Skizze suggeriert. Vielmehr könnte die geometrische Situation auch so aussehen:
P
E
P′
E′
Bemerkung. Wir kommen auf unsere obige Bemerkung über den noch fehlenden Eindeutigkeitsbeweis bei der im Kongruenzaxiom K1 ausgesagten Möglichkeit der Streckenabtragung zurück. Hilbert [76] geht dabei wie folgt vor. Angenommen, die vorgelegte Strecke PQ lasse sich, ausgehend vom Punkt P′ , auf die Strecken P′ Q′ und P′ Q′′
mit einem Punkt Q′′ 6= Q′ auf der Geraden P′ Q′ kongruent abtragen, wie folgende Figur
veranschaulicht:
Q
P
R′
Q′
P′
Q′′
Wähle außerhalb der durch P′ und Q′ aufgespannten Geraden einen Punkt R′ , und
betrachte die beiden Dreiecke P′ Q′ R′ und P′ Q′′ R′ . Für diese gelten die Kongruenzen
P′ Q′ ≡ P′ Q′′ ,
P′ R′ ≡ P′ R′ ,
(Q′ P′ R′ ) ≡ (Q′′ P′ R′ ).
Das Kongruenzaxiom K5 liefert dann aber
(P′ R′ Q′ ) ≡ (P′ R′ Q′′ ).
Im Punkt R′ kann es aber nach Kongruenzaxiom K4 nur einen eindeutig bestimmten
Winkel geben, der zu (P′ R′ Q′ ) kongruent ist. Also stimmen (P′ R′ Q′ ) und (P′ R′ Q′′ )
überein und somit auch Q′ R′ und Q′′ R′ .
3.3. AXIOMGRUPPE III: AXIOME DER KONGRUENZ
129
3.3.2 Folgerungen
Es schließen sich nun bekannte Sätze zu Kongruenzeigenschaften von Dreiecken und
Winkeln an. Dabei bleibt zu erklären, dass zwei Dreiecke PQR und P′ Q′ R′ kongruent
heißen sollen, wenn die folgenden Kongruenzen erfüllt sind
PQ ≡ P′ Q′ , PR ≡ P′ R′ , QR ≡ Q′ R′ ,
(PQR) ≡ (P′ Q′ R′ ), (QPR) ≡ (Q′ P′ R′ ),
(PRQ) ≡ (PRQ).
Sätze H14 bis H17
H14. In einem Dreieck mit zwei kongruenten Seiten sind die ihnen gegenüberliegenden Winkel kongruent, oder kurz: im gleichschenkligen Dreieck
sind die Basiswinkel gleich.
H15. Ein Dreieck PQR ist einem Dreieck P′ Q′ R′ kongruent, falls die Kongruenzen
PQ ≡ P′ Q′ ,
PR ≡ P′ R′ ,
(QPR) ≡ (Q′ P′ R′ )
gelten.
R′
R
Q
P
Q′
P′
H16. Ein Dreieck PQR ist einem anderen Dreieck P′ Q′ R′ kongruent, falls die
Kongruenzen
PQ ≡ P′ Q′ ,
(QPR) ≡ (Q′ P′ R′ ),
(PQR) ≡ (P′ Q′ R′ )
gelten.
R′
R
P
Q
P′
Q′
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
130
H17. Wenn in zwei Dreiecken PQR und P′ Q′ R′ jeweils entsprechende Seiten
kongruent sind, so sind die Dreiecke kongruent.
R′
R
Q′
P′
Q
P
Mit den Sätzen H15, H16 und H17 handelt es sich um die Dreieckskongruenzsätze
sws, wsw und sss (Propositionen I.4 und I.26 der Elemente). In seinen Grundlagen der
Geometrie leitet Hilbert den Satz H17 an späterer Stelle ab (dort Satz 18), als die von
uns für die Zwecke unserer Vorlesung gewählte Reihenfolge suggeriert.
Weiter diskutiert Hilbert folgenden Satz über die Kongruenz von Nebenwinkeln.
Satz H18 (Kongruenz der Nebenwinkel)
Wenn ein Winkel (PQR) einem anderen Winkel (P′ Q′ R′ ) kongruent ist, so
ist auch sein Nebenwinkel (RQS) dem Nebenwinkel (R′ Q′ S′ ) des anderen
kongruent.
R′
R
P
Q
S
P′
Q′
S′
Bemerkung. Wir übergehen an dieser Stelle den Beweis dieses Satz H18, bemerken
jedoch, dass ganz analog der Satz über die Kongruenz von Scheitelwinkeln hergeleitet
werden könnte, woran wir in der Folgerung nach Satz H26 noch einmal erinnern.
Desweiteren folgt aus Satz H18 die Existenz des rechten Winkels, d.h. desjenigen Winkels, welcher seinem Nebenwinkel kongruent ist.
Dazu bemerken wir sofort, dass diese Folgerung nicht trivial ist, da die Existenz rechter
Winkel nicht axiomatisch festgelegt wurde. Wir erinnern erneut an Euklids Elemente:
Definition D10 führte rechte Winkel als einander gleiche Nebenwinkel ein, Postulat P4
forderte die Gleichheit aller rechten Winkel.
3.3. AXIOMGRUPPE III: AXIOME DER KONGRUENZ
131
Satz H19 (Existenz und Eindeutigkeit rechter Winkel)
Es gibt rechte Winkel. Alle rechten Winkel sind einander kongruent.
Beweis. Wir beweisen nur die erste Aussage. Die zweite Aussage erscheint in Hilberts
Grundlagen der Geometrie mit Satz 21 an späterer Stelle und benötigt Vorarbeiten, auf
die wir erst im Nachhinein eingehen. Betrachte also die folgende Figur:
Q
O
S
R
Q
P
S
O
P
R
Vorbereitende Konstruktion:
1.
2.
3.
4.
Betrachte den Halbstrahl OP
Trage an OP von O aus beidseitig einen Winkel (POQ) ab
Trage auf den Schenkeln dieses Winkels die Strecken OQ ≡ OR ab
Die Gerade QR schneidet OP in einem Punkt S
Wir unterscheiden nun drei Fälle:
1. Fall und erster Beweisschluss: Es fällt S mit O zusammen.
5. Es sind (POQ) und (ROP) kongruente Nebenwinkel und daher rechte Winkel
2. Fall: Es liegt S auf dem Halbstrahl OP (linke Figur).
6. Es ist nach Konstruktion (POQ) ≡ (POR)
7. Es gilt (OSQ) ≡ (SOR)
3. Fall: Es liegt S auf dem anderen Halbstrahl (rechte Figur).
8. Es ist (POQ) ≡ (POR)
(H18)
Zweiter Beweisschluss: Betrachte nun die beiden Dreiecke OQS und ORS mit der gemeinsamen Seite OS.
9. Es ist OS ≡ OS
10. Es ist OQ ≡ OR
11. Es ist (OSQ) ≡ (OSR)
Also sind (OSQ) und (OSR) gleiche Nebenwinkel und daher rechte Winkel.
(Vor)
(3)
(K5)
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
132
Hilbert [76], Seite 23, drückt sich bezüglich der Kongruenz rechter Winkel übrigens
wie folgt aus:
Auf Grund der Größenvergleichung der Winkel [siehe unten] gelingt der
Nachweis des folgenden einfachen Satzes, den Euklid – meiner Meinung
nach mit Unrecht – unter die Axiome gestellt hat.
Er bemerkt außerdem, dass bereits Legendre diesen Satz bewiesen hat, jedoch setzt
”
Legendre voraus, daß die Winkel ein stetiges Größensystem bilden.“ Für Hilberts Beweis wollen wir auf seine Grundlagen der Geometrie verweisen, für eine bemerkenswerte Kritik Freudenthals [48] diesbezüglich verweisen wir auf unser Quellenstudium
aus Paragraph 3.8.5 im Anhang.
Die folgenden Sätze H20 und H21 handeln vom Zusammensetzen von Winkeln und,
wie wir gleich an dieser Stelle bemerken möchten, ermöglichen so ihre Addition und
Subtraktion. Den hierzu notwendigen Begriff der Winkelgröße führen wir unmittelbar
nach Satz H22 ein.
Satz H20 (Zusammensetzen von Winkeln I)
Es seien einerseits h, k, ℓ und andererseits h′ , k′ , ℓ′ je drei von einem Punkte O
bzw. O′ ausgehende und in einer Ebene E bzw. E ′ gelegene Halbstrahlen. h, k
und h, k′ mögen gleichzeitig entweder auf derselben Seite oder auf verschiedenen Seiten von ℓ bzw. ℓ′ liegen. Wenn dann die Kongruenzen
(h, ℓ) ≡ (h′ , ℓ′ ) und (k, ℓ) ≡ (k′ , ℓ′ )
erfüllt sind, so ist stets auch
(h, k) ≡ (h′ , k′ ).
k′
k
E
h′
h
ℓ
O
O′
ℓ′
Satz H21 (Zusammensetzen von Winkeln II)
Der Winkel (h, k) in der Ebene E sei dem Winkel (h′ , k′ ) in der Ebene E ′
kongruent, und ℓ sei ein Halbstrahl der Ebene E , der vom Scheitel des Winkels
3.3. AXIOMGRUPPE III: AXIOME DER KONGRUENZ
133
(h, k) ausgeht und im Innern dieses Winkels verläuft: dann gibt es stets einen
und nur einen Halbstrahl ℓ′ in der Ebene E , der vom Scheitel des Winkels
(h′ , k′ ) ausgeht und im Innern dieses Winkels so verläuft, daß
(h, ℓ) ≡ (h′ , ℓ′ ) und (k, ℓ) ≡ (k′ , ℓ′ )
wird.
k′
k
E
ℓ′
ℓ
h
O
O′
h′
Satz H22
Wenn zwei Winkel (h′ , k′ ) und (h′′ , k′′ ) einem dritten Winkel (h, k) kongruent sind, so ist auch der Winkel (h′ , k′ ) dem Winkel (h′′ , k′′ ) kongruent.
Gemäß diesem Satz können wir, nachdem ähnlich wie im Fall der Streckenkongruenz
Symmetrie und Transitivität der Winkelkongruenz nachgewiesen sind, festhalten:
→ Die Winkelkongruenz ist eine Äquivalenzrelation.
Wie wir für eine Äquivalenzklasse kongruenter Strecken den Begriff der Streckenlänge
eingeführt haben, sagen wir hier für die Äquivalenzklasse kongruenter Winkel: Winkelgröße.
Bemerkung. Meschkowski [101] führt die Winkelkongruenz über die Streckenkongruenz ein. Dass die Winkelkongruenz dann eine Äquivalenzrelation darstellt, ergibt
sich unmittelbar aus der entsprechenden Eigenschaft der Streckenkongruenz.
Der nächste Satz bereitet nun den Größenvergleich von Winkeln vor.
Satz H23 (Größenvergleich für Winkel)
Es seien irgend zwei Winkel (h, k) und (h′ , ℓ′ ) vorgelegt. Wenn dann das
Antragen von (h, k) an h′ nach der Seite von ℓ′ einen inneren Halbstrahl k′
liefert, so liefert das Antragen von (h′ , ℓ′ ) an h nach der Seite von k einen
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
134
äußeren Halbstrahl ℓ, und umgekehrt.
ℓ′
ℓ
k′
k
h
O
h′
O′
Genauer vereinbaren wir:
◦ Wenn diese Antragung von (h, k) einen inneren Halbstrahl k′ von (h′ , ℓ′ ) liefert, so heißt (h, k) kleiner als (h′ , ℓ′ ), und wir schreiben
(h, k) < (h′ , ℓ′ ).
◦ Wenn diese Antragung von (h, k) einen äußeren Halbstrahl von (h′ , ℓ′ ) liefert,
so heißt (h, k) größer als (h′ , ℓ′ ), und wir schreiben
(h, k) > (h′ , ℓ′ ).
Für zwei Winkel α und β gilt genau einer der drei folgenden Fälle:
◦
α < β und β > α
◦
α ≡β
◦
α > β und β < α .
Die Relationen < und > sind außerdem transitiv.
Bemerkung. Hilbert bemerkt an dieser Stelle, dass unter Beachtung der Anordnungsaxiome, der ebenen Kongruenzaxiome und der abgeleiteten Eindeutigkeit der Streckenabtragung ganz ähnlich ein Größenvergleich für Strecken gewonnen werden kann.
Satz H24 bis H26 (Dreieckssätze)
H24. Ein Außenwinkel eines Dreiecks ist größer als jeder der beiden nicht
anliegenden Dreieckswinkel.
H25. In jedem Dreieck liegt der größeren Seite der größere Winkel gegenüber.
H26. Ein Dreieck mit zwei gleichen Winkeln ist gleichschenklig.
Mit H24 handelt es sich um Euklids Proposition I.16, H25 gibt wörtlich Proposition
I.19 wieder, für H26 verweisen wir auf Proposition I.6 der Elemente. Aber erst an
dieser späten Stelle kommt Hilbert zu der (Satz 26 und nachstehende Bemerkung in
den Grundlagen der Geometrie)
3.3. AXIOMGRUPPE III: AXIOME DER KONGRUENZ
135
Folgerung. Jede Strecke ist halbierbar. Jeder Winkel ist halbierbar.
Beweis. Es ist die Strecke PQ zu halbieren. Betrachte dazu die folgende Figur:
R
Q
T
P
S
Vorbereitende Konstruktion (linke Figur):
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Trage an PQ von P aus beidseitig einen Winkel α ab
Es gilt α := (QPR) ≡ (PQS)
Trage auf der Geraden PR die Strecke PR ab
Trage auf der Geraden QS die Strecke QS ≡ PR ab
R und S liegen auf unterschiedlichen Seiten von PQ
Die Gerade RS schneidet PQ in einem Punkt T
(5, H11)
Unterscheide nun die folgenden Fälle:
1. Fall: T stimmt mit P oder mit Q überein
Für den Fall T = P betrachten wir die folgende Figur mit dem Dreieck PQS :
R
Q
P=T
S
7. Es ist (QPR) > (PQS)
(H24)
Das ist ein Widerspruch zu Beweisschritt 2. Daher kann T nicht mit P übereinstimmen.
Ähnlich zeigt man, dass T nicht mit Q übereinstimmen kann.
2. Fall: Q liegt zwischen P und T
Betrachte die folgende Figur mit den Dreiecken QT S und PT R :
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
136
R
Q
T
P
S
8. Es ist (PQS) > (QT S)
(H24)
9. Es ist (QT S) > (QPR)
(H24)
10. Es ist (PQS) > (QPR)
(8, 9, Trans.)
Das ist erneut wegen Beweisschritt 2, (QPR) ≡ (PQS), ein Widerspruch. Daher
kann Q nicht zwischen P und T liegen.
3. Fall: Analog wie den zweiten Fall schließt man die Möglichkeit aus, dass P zwischen
T und Q liegen könnte.
Zusammenfassen haben wir bisher gezeigt, dass T im Innern der Strecke PQ liegt, d.h.
auf PQ, aber nicht mit P oder mit Q übereinstimmt.
11. Es ist (PT R) ≡ (QT S)
(Bem. nach H18)
12. Es ist PT ≡ QT
(4, Bem. unten)
Bis auf die für das letzte Argument nachzuholende Begründung ist der Beweis abgeschlossen.
Bemerkung. Für Beweisschritt 12 zieht Hilbert folgenden Satz (Satz 25 der Grundlagen der Geometrie) heran: Zwei Dreiecke PQR und P′ Q′ R′ sind einander kongruent,
falls die Kongruenzen
PQ ≡ P′ Q′ ,
(QPR) ≡ (Q′ P′ R′ ) ,
(PRQ) ≡ (P′ R′ Q′ )
erfüllt sind, der zusammen mit dem zweiten, dem vierten und dem elften Beweisschritt
anzuwenden ist.
3.4 Axiomgruppe IV: Das Parallelenaxiom
Hilbert führt in [76] das Euklidische Parallelenpostulat als Axiom IV in der folgenden
Form auf:
3.4. AXIOMGRUPPE IV: DAS PARALLELENAXIOM
137
Euklidisches Parallelenaxiom
Es sei g eine beliebige Gerade und P ein Punkt außerhalb g : dann gibt es in der
durch g und P bestimmten Ebene höchstens eine Gerade, die durch P läuft und
g nicht schneidet.
Berücksichtigen wir nun, dass das ebene Kongruenzaxiom K4 die Existenz wenigstens
einer solchen Parallelen sichert (vgl. auch Proposition I.31 der Elemente), so schreibt
sich das Euklidische Parallelenaxiom bekanntlich so:
→ Es sei g eine beliebige Gerade und P ein Punkt außerhalb g : dann gibt es in
der durch g und P bestimmten Ebene genau eine Gerade, die durch P läuft und
g nicht schneidet.
Wir kommen nun zu der in Abschnitt 2.2 aufgeworfenen Frage nach der Äquivalenz
des Euklidischen Parallelenaxioms und dem Euklidischen Innenwinkelsatz für Dreiecke. Der nachstehende Satz, den Hilbert in [76] erwähnt, aber nicht beweist, und der
anschließende Beweis orientieren sich erneut an Mitschka [108], Seite 131f.
Parallelenaxiom und Innenwinkelsatz für Dreiecke
Wenn in jedem Dreieck die Innenwinkel zusammen genommen zwei Rechte
bilden, so gibt es unter Voraussetzung der Gültigkeit der Verknüpfungsaxiome
V1 bis V8, der Anordnungsaxiome A1 bis A4, der Kongruenzaxiome K1 bis
K5 und dem Archimedischen Axiom zu jeder Geraden g durch einen zu ihr
außerhalb liegenden Punkt P genau eine Parallele.
Der Beweis setzt die Kenntnis voraus, wie das Archimedische Axiom zur Winkelmessung genutzt wird. Wir übergehen an dieser Stelle die notwendigen Details, die analog
zu unseren Diskussionen den geraden Strecken betreffend zu führen wären.
Beweis. Vorgelegt seien eine Gerade g und ein außerhalb dieser befindlicher Punkt P.
Es existiert eine zu g parallele Gerade g′ , die durch P verläuft. Es ist zu zeigen, dass es
neben g′ keine weitere solche Parallele gibt. Betrachte dazu die folgende Figur:
ε
g′
P
h
Q
Q1
Vorbereitende Konstruktion:
Q2
g
Qn
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
138
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Errichte durch P das Lot auf g
Dieses Lot schneidet g in einem Punkt Q
Errichte durch P die Senkrechte g′ zu PQ
g und g′ stehen senkrecht auf PQ in Q bzw. P
g und g′ erzeugen in Q bzw. P kongruente Stufenwinkel
g′ ist parallel zu g
Angenommen, mit h 6= g existiert eine weitere, zu g parallele Gerade durch P.
7. g′ und h schließen, wie skizziert, in P einen Winkel ε > 0 ein
8. PQ und h schließen, wie skizziert, in P einen Winkel β = R − ε ein
Wir zeigen, dass h die Gerade g auf der Seite, auf welcher β liegt, schneiden muss.
9. Trage auf g die Strecke PQ ≡ QQ1 ab
10. Trage auf g die Strecke Q1 Q2 ≡ PQ1 ab
11. Trage auf g die Strecke Q2 Q3 ≡ PQ2 ab
usw. Betrachte das Dreieck PQQ1 :
12.
13.
14.
15.
Das Dreieck PQQ1 ist gleichschenklig
Es gilt (Q1 PQ) = (QQ1 P)
Es gilt (PQQ1 ) + (QQ1 P) + (Q1 PQ) = 2R
Es gilt (QQ1 P) = R2
(9)
(Vor)
(13, 14)
Betrachte das Dreieck PQ1 Q2 :
16.
17.
18.
19.
20.
21.
Das Dreieck PQ1 Q2 ist gleichschenklig
Es gilt (Q2 PQ1 ) = (Q1 Q2 P)
(15, Sätze o. Par.-post. (2) aus 2.2)
Es gilt (Q2 PQ1 ) + (Q1 Q2 P) = R2
Es gilt (PQ1 Q2 ) + (Q1 Q2 P) + (Q2 PQ1 ) = 2R
(Vor)
R
Es gilt (PQ2 Q1 ) = 4
(17, 18, 19)
R
Es gilt (QPQ2 ) = R − 4
usw. Fortsetzen dieser Prozedur liefert also die Winkel
(PQ1 Q) =
R
,
2
(PQ2 Q1 ) =
R
,
4
(PQ3 Q2 ) =
R
,... ,
8
(PQn Qn−1 ) =
R
2n
bzw. nach Voraussetzung
R
.
2n
Wähle nun die natürliche Zahl n ∈ N so groß, dass gilt
(QPQn ) = R −
R
< ε.
2n
Dann schließt PQn mit g′ einen kleineren Winkel ein als h mit g′ , also verläuft h im
Innern des Dreiecks PQQn .
3.5. AXIOMGRUPPE V: AXIOME DER STETIGKEIT
22. h trifft die Gerade QQn
139
(Pasch)
Das widerspricht aber der Annahme, h sei parallel zu g, d.h. es kann neben g′ keine
zweite, von g′ verschiedene solche Parallele existieren.
3.5 Axiomgruppe V: Axiome der Stetigkeit
Zu den Axiomen der Stetigkeit zählen wir (siehe Paragraph 2.4.1)
◦ das Archimedische Axiom,
◦ das Cantorsche Axiom,
◦ den Dedekindschen Schnitt.
Hilbert jedoch fügt ferner dem Archimedischen Axiom folgendes Axiom zur Seite:
Axiom der linearen Vollständigkeit
Das System der Punkte einer Geraden mit seinen Anordnungs- und Kongruenzbeziehungen ist keiner solchen Erweiterung fähig, bei welcher die zwischen den
vorigen Elementen bestehenden Beziehungen sowie auch die aus den Axiomen
I-III folgenden Grundeigenschaften der linearen Anordnungen und Kongruenz,
und V I [Archimedisches Axiom] erhalten bleiben.
Wir wollen eine Diskussion dieses Axioms übergehen und verweisen auf unser Quellenstudium aus Paragraph 3.8.5.
Als wesentliche Folgerung aus dem Axiom der linearen Vollständigkeit führt Hilbert
den nachstehenden Satz auf, der in früheren Auflage seiner Grundlagen der Geometrie
noch als Vollständigkeitsaxiom erscheint (siehe unten).
Satz der Vollständigkeit
Die Elemente (d.h. die Punkte, Geraden und Ebenen) der Geometrie bilden ein
System, das bei Aufrechterhaltung der Verknüpfungs- und Anordnungsaxiome, der Kongruenzaxiome und des Archimedischen Axioms, also erst recht bei
Aufrechterhaltung sämtlicher Axiome keiner Erweiterung durch Punkte, Geraden und Ebenen mehr fähig ist.
Mit diesem Satz ist die Euklidische Geometrie als vollständig erkannt, wie wir z.B. die
reellen Zahlen als vollständig betrachten. Tatsächlich stellt ja auch die gewöhnliche
analytische Geometrie über R2 oder R3 , wie wir sie in den Vorlesungen zur Linearen
Algebra kennen lernen, ein Modell der Euklidischen Geometrie mitsamt aller vorgestellten Axiome dar.
Wir bemerken, dass ohne dem Archimedischen Axiom und dem Axiom der linearen
Vollständigkeit Hilberts Vollständigkeitssatz in der vorgetragenen Form nicht richtig
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
140
ist. So werden in der Literatur auch häufig Nichtarchimedische Geometrien studiert.
Wir verweisen auf Hilberts Zitat nach dem Beweis des Vollständigkeitsatzes sowie den
nachstehenden Abschnitt 3.6.
Beweis. Wir gehen nach Hilbert [76], Seite 31 vor.
Vorbereitende Konstruktion:
(i) Die Elemente der Geometrie vor der Erweiterung sollen alte, und diejenigen, die
durch die Erweiterung hinzukommen, neue Elemente heißen. Falls es tatsächlich
neue Elemente nach der Erweiterung gibt, so gibt es sicher einen neuen Punkt N.
(ii) Nach dem Verknüpfungsaxiom V8 existieren wenigstens vier alte Punkte P, Q,
R, S, die nicht sämtlich in einer Ebene liegen. Hinzu kommt der neue Punkt
N. Ohne Einschränkung können wir voraussetzen, dass P, Q, N nicht auf einer
geraden Linie liegen und somit eine Ebene PQN aufspannen. Außerdem spannen
P, R, S eine Ebene PRS auf; andernfalls wären sie nämlich kolinear, und P, Q,
R, S wären Punkte in einer Ebene im Widerspruch zu unserer ausgänglichen
Annahme.
Erster Beweisschritt:
(iii) Die Ebenen PQN und PRS besitzen P als gemeinsamen Punkt, und nach dem
Verknüpfungsaxiom V7 existiert ein weiterer, diesen beiden Ebenen gemeinsamer Punkt T. Es liegt dabei T nicht auf der Geraden PQ, denn dann würde nach
Axiom V6 die gesamte Gerade PQ, insbesondere also auch der Punkt Q, in der
Ebene PRS liegen – Widerspruch zu unserer obigen Annahme.
(iv) Angenommen, der Punkt T ist ein neuer Punkt. Dann liegt mit T auch in der
– alten – Ebene PRS ein neuer Punkt. War hingegen T ein alter Punkt, so liegt
der neue Punkt N in der – damit – alten Ebene PQT. In jedem Fall liegt ein
neuer Punkt in einer alten Ebene. Das wird im nächsten Beweisschritt zu einem
Widerspruch zur Voraussetzung des Satzes geführt (Vollständigkeitsaxiom).
Zweiter Beweisschritt:
(v) In einer alten Ebene existieren drei nicht kolineare alte Punkte U, V, W, die ein
altes Dreieck UVW aufspannen. Die Seiten dieses Dreiecks besitzen keine neuen
Punkte. Auf der Dreiecksseite UV existiert nach der Folgerung nach dem Anordnungsaxiom A2 ein alter Punkt Z. Ferner sei N ein neuer Punkt nach der Erweiterung (siehe voriger Beweisschritt). Nach den Axiomen V1 und V2 betrachten
wir die Gerade g durch den alten Punkt Z und den neuen Punkt N.
V
X
N
Z
W
U
3.5. AXIOMGRUPPE V: AXIOME DER STETIGKEIT
141
(vi) Nach dem Paschschen Axiom A4 treffen sich
◦ entweder die Geraden NZ und UW
◦ oder die Geraden NZ und VW (wie in der Skizze)
in einem Punkt X.
(vii) Wäre X ist ein neuer Punkt, so liegt mit diesem ein neuer Punkt auf der alten
Geraden VW. Wäre aber X ein alter Punkt sein, so liegt mit N ein neuer Punkt
auf der – jetzt: alten – Geraden XZ. In jedem Fall gelangen wir zu einem Widerspruch zum Axiom der linearen Vollständigkeit. Also kann es keinen neuen
Punkt in einer alten Ebene geben.
Zusammenfassend kann es also überhaupt kein neues Element nach der Erweiterung
geben.
Noch in der vierten Auflage seiner Grundlagen der Geometrie [74], S. 22, aus dem
Jahre 1913 führt Hilbert anstatt obigem linearen Vollständigkeitsaxiom das folgende
Vollständigkeitsaxiom auf:
Axiom der Vollständigkeit (1913)
Die Elemente (Punkte, Geraden, Ebenen) der Geometrie bilden ein System von
Dingen, welches bei Aufrechterhaltung sämtlicher genannten Axiome keiner
Erweiterung mehr fähig ist, d.h.: zu dem System der Punkte, Geraden, Ebenen ist es nicht möglich, ein anderes System von Dingen hinzuzufügen, so daß
in dem durch Zusammensetzung entstehendes System sämtliche aufgeführten
Axiome I-IV, V 1 erfüllt sind.
Die Einschränkung dieses Axioms auf die Geometrie von Geraden erlaubt es also, die
Vollständigkeit der gesamten Geometrie als beweisbaren Satz zu formulieren.
Um diesen Abschnitt abzuschließen, lassen wir noch einmal Hilbert [76], Seite 33, zu
Wort kommen:
Das Vollständigkeitsaxiom ist nicht eine Folge des Archimedischen Axioms. In der Tat reicht das Archimedische Axiom allein nicht aus, um
mit Benutzung der Axiome I-IV unsere Geometrie als identisch mit der
gewöhnlichen analytischen Cartesischen“ Geometrie nachzuweisen . . .
”
Dagegen gelingt es unter Hinzunahme des Vollständigkeitsaxioms – obwohl dieses Axiom unmittelbar keine Aussage über den Begriff der Konvergenz enthält –, die Existenz der einem Dedekindschen Schnitte entsprechenden Grenze und den Bolzanoschen Satz vom Vorhandensein der
Verdichtungsstellen nachzuweisen, womit dann unsere Geometrie sich als
identisch mit der Cartesischen Geometrie erweist.
Durch die vorstehende Betrachtungsweise ist die Forderung der Stetigkeit in zwei wesentlich verschiedene Bestandteile zerlegt worden, nämlich
in das Archimedische Axiom, dem die Rolle zukommt, die Forderung
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
142
der Stetigkeit vorzubereiten, und in das Vollständigkeitsaxiom, das den
Schlußstein des ganzen Axiomensystems bildet.
In Paragraph 3.8.8 des Anhangs wollen wir uns ausführlicher mit dem Dedekindschen Schnitt und dessen Zusammenhang zum Archimedischen und Cantorschen Stetigkeitsaxiomen beschäftigen.
3.6 Relative Widerspruchsfreiheit
Unabhängigkeit, Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit sind die drei Kriterien, nach
welchem sich jedes axiomatische System messen muss. Was verstehen wir darunter?
◦ Die Axiome eines Axiomensystems bezeichnen wir als voneinander unabhängig, wenn es nicht möglich ist, ein Axiom aus den übrigen Axiomen durch logische Schlussweisen abzuleiten.
◦ Ein Axiomensystem bezeichnen wir als vollständig, wenn es stets möglich ist,
von einem Satz zu entscheiden, ob er wahr ist oder ob seine Negation wahr ist.
◦ Ein Axiomensystem bezeichnen wir als widerspruchsfrei, wenn es nicht möglich
ist, durch logische Schlussweisen aus diesem Axiom einen Satz herzuleiten, der
einem der Axiome widerspricht.
In den nächsten Kapiteln werden wir genauer auf diese grundlegenden Begriffe der mathematischen Logik eingehen. Für den Moment wollen wir uns mit Hilberts entscheidender Idee begnügen, wie es überhaupt möglich ist, so etwas wie Widerspruchsfreiheit
eines axiomatischen Systems mit rein mathematischen Mitteln nachzuweisen.
Hilbert [76], Seite 35 ff., betrachtet ein arithmetisches Modell der Geometrie über einem Zahlenkörper Ω, welcher wenigstens
◦ die Zahl 1 enthält,
◦ abgeschlossen bez. Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division ist,
√
◦ abgeschlossen bez. der Operation 1 + ω 2 ist, insofern ω ∈ Ω.
√
Es handelt sich also um den quadratischen Zahlenkörper Q[ 2]. Die geometrischen
Basiselemente Punkt und Gerade interpretieren wir dann innerhalb dieses arithmetischen Modells wie folgt:
◦ Ein Punkt ist gegeben durch ein Paar (x, y) von Zahlen x und y des Bereichs Ω.
◦ Eine Gerade ist gegeben durch ein Verhältnis (u : v : w) dreier reeller Zahlen u,
v und w, falls u und v nicht beide gleichzeitig Null sind.
◦ Ein Punkt (x, y) liegt auf der Geraden (u : v : w), falls gilt
ux + vy + w = 0.
3.6. RELATIVE WIDERSPRUCHSFREIHEIT
143
Dabei verstehen wir unter dem Verhältnis (u : v : w) dreier reeller Zahlen u, v und w
die Menge aller Zahlentripel (u′ , v′ , w′ ), für die es von Null verschiedene Zahlen λ gibt
mit der Eigenschaft (Efimov [33], Seite 192)
u′ = λ u,
v′ = λ v,
w′ = λ w.
Wir wollen in diesem Abschnitt lediglich die Gültigkeit der Hilbertschen Axiome V.1,
V.2 und V.3 der Liniengeometrie innerhalb dieses arithmetischen Modells verifizieren.
Dabei orientieren wir uns an den ausführlichen Diskussionen aus N.W. Efimov [33].
◦ Verifizierung des Axioms V.1
Es seien mit (x1 , y1 ) und (x2 , y2 ) zwei verschiedene Punkte gewählt. Gesucht ist
eine Gerade, die mit diesen beiden Punkten zusammengehört. Zunächst bildet
das Verhältnis (u : v : w) der drei Punkte
u := y1 − y2 ,
v := x2 − x1 ,
w := x1 y2 − x2 y1
eine Gerade, da erstens, weil (x1 , y1 ) und (x2 , y2 ) verschieden sind, die Werte u,
v und w nicht gleichzeitig verschwinden können, und zweitens diese Gerade die
Punkte (x1 , y1 ) und (x2 , y2 ) passiert, denn wir berechnen
ux1 + vy1 + w = (y1 − y2)x1 + (x2 − x1 )y1 + (x1 y2 − x2 y1 ) = 0,
ux2 + vy2 + w = (y1 − y2)x2 + (x2 − x1 )y2 + (x1 y2 − x2 y1 ) = 0.
√
Folglich erfüllt das Modell Q[ 2] das Hilbertsche Axiom V.1.
◦ Verifizierung des Axioms V.2
Die vorgelegten, voneinander verschiedenen Punkte (x1 , y1 ) und (x2 , y2 ) bestimmen eine und nur eine Gerade (u : v : w), denn es gilt
(u : v : w) = ((x1 − x2 ) : (y1 − y2 ) : (x1 y2 − x2 y1 )).
◦ Verifizierung des Axioms V.3
Auf der Geraden ux + vy + w = 0 gibt es die zwei gegebenen, verschiedenen
Punkte (x1 , y1 ) und (x2 , y2 ). Da aber die Gleichung
ux + vy + w = 0
unendlich viele Lösungen (x, y) besitzt, gibt es auf dieser Geraden sogar unendlich viele Punkte. Allerdings enthält sie nicht die Punkte (0, 0), (1, 0) und (0, 1),
denn das lineare Gleichungssystem
u · 0 + v · 0 + w = 0,
u · 1 + v · 0 + w = 0,
u·0+v·1+w= 0
besitzt offenbar keine reelle Lösung (u, v, w) mit u2 + v2 > 0.
144
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
Das Axiom der linearen
√ Vollständig ist jedoch, wie aus den Vorlesungen zur Analysis
bekannt ist, in Ω = Q[ 2] nicht erfüllt. Dazu müssen wir nämlich Ω = R wählen (die
reellen Zahlen sind vollständig“). In diesem Fall bildet die gewöhnliche kartesische
”
Geometrie ein Modell“ der Hilbertschen axiomatischen Geometrie.
”
Welches Ziel verfolgte Hilbert mit dieser Projektion“ der geometrischen Grundbegrif”
fe und Axiome in die Sprache der Arithmetik?
Offensichtlich werden die Begriffe, Axiome und Sätze der Geometrie nicht nur arithmetisiert, d.h. auf die Regeln der Arithmetik abgebildet, sondern es übertragen sich
auch die metamathematischen Eigenschaften der Hilbertschen Axiomatik auf diejenigen der Arithmetik, was auch das Wort relativ in der Überschrift dieses Abschnitts
erklärt. Mit Hilberts eigenen Worten aus [76], Seite 36, liest sich dieses so:
Jeder Widerspruch in den Folgerungen aus den linearen und ebenen Axiomene I-IV, V I müßte demnach auch in der Arithmetik des Bereiches Ω
erkennbar sein.
Das führt uns auf folgendes zentrale Resultat.
Relative Widerspruchsfreiheit der Hilbertschen Geometrie
Das Hilbertsche Axiomensystem der Geometrie
√ ist genau dann widerspruchsfrei, wenn es die Axiome der Arithmetik in Q[ 2] (bez. R) sind.
Hiermit haben wir bereits die Inhalte der nächsten Kapitel unserer Vorlesung vorgezeichnet: Die formalen Grenzen solcher Aussagen werden nämlich von den Gödelschen Sätzen gezogen.
Bemerkung. In Abschnitt 1.5 haben wir den Beweis zu Proposition I.1 der Elemente kritisiert, da Euklid im Vorfeld nicht sicherstellte, dass die dort betrachteten Kreise
sich tatsächlich schneiden. Hierauf kommt Hilbert in seiner Vorlesung aus dem Wintersemester 1898 mit folgenden Worten zu sprechen (siehe Toepell [159], Seite 170 ff.):
Es ist nicht möglich, auf Grund der bisherigen Axiome I, II, III [Axiom
der Verknüpfung, der Anordnung und der Kongruenz] zu beweisen
1.) dass eine Gerade, welche im Inneren eines Kreises verläuft, die Peripherie dieses Kreises trifft.
2.) dass ein Kreis, welcher zum Teil im Inneren zum Teil ausserhalb
eines Kreises verläuft, die Peripherie dieses Kreises trifft, d.h. dass
aus irgend 3 Seiten, von denen 2 zusammen > als die dritte sind,
stets ein Dreieck sich construiren lässt.
Der Beweis benutzt das arithmetische Modell Ω. Hilbert betrachtet als Beispiel den
Kreis vom Radius 1 und die vertikale Gerade mit der Gleichung x = π4 .
q
2
◦ Diese Gerade trifft den Kreis nicht, denn sonst müsste die y-Koordinate 1 − π4
dieses Schnittpunkts innerhalb Ω darstellbar sein, was aber nicht der Fall ist.
3.7. STRECKENRECHNUNG UND PROPORTIONEN
145
◦ Insbesondere ist in diesem Modell auch nicht ein Dreieckq
mit den Seiten 1, 1 und
2
π
1 − π4 konstruiert
2 konstruierbar, denn sonst könnte auch dessen Höhe
werden.
3.7 Streckenrechnung und Proportionen
Wir wollen uns in diesem Abschnitt an Hilberts Festschrift [72] orientieren und unter
Verwendung einer nichtprojektiven Fassung des Pascalschen Satzes die Streckenrechnung in der Ebene axiomatisch präsentieren. Daran schließt sich als Folgerung die
Euklidische Proportionenlehre an.
3.7.1 Der Satz von Pappus-Pascal
Es war eines von Hilberts Anliegen, das arithmetische Rechnen mit geometrischen
Strecken allein auf geometrische Axiome zurückzuführen, die kein Stetigkeitsaxiom
beinhalten. Das gelang ihm einmal mit Hilfe des Satzes von Pappus und Pascal (Kapitel
3 aus [76]), ein zweites Mal mittels des Satzes von Desargue (Kapitel 5 aus [76]).
Wir wollen in diesem Abschnitt Hilberts Diskussionen zum Satz von Pappus-Pascal
(Hilbert bezeichnet ihn als kurz als den Pascalschen Satz) und seine darauf aufbauende
Streckenrechnung vorstellen. Dazu orientieren wir uns an Hilberts Festschrift [72], §14,
aus dem Jahre 1899 und betrachten die folgende Skizze:
C′
B′
A′
C
B
A
Satz von Pappus-Pascal (affine Form)
Es seien A, B, C bzw. A′ , B′ , C′ je drei Punkte auf zwei sich schneidenden
Geraden, die vom Schnittpunkt der Geraden verschieden sind. Sind dann
CB′ parallel zu BC′
und CA′ parallel zu AC′ ,
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
146
so ist auch
BA′ parallel zu AB′ .
Der Beweis wird geführt unter Verwendung der ebenen Verknüpfungsaxiome V1 bis
V3, der Anordnungsaxiome A1 bis A4, der Kongruenzaxioe K1 bis K5 sowie dem
Euklidischen Parallelenaxiom. Nicht benutzt werden die beiden Stetigkeitsaxiome.
Zur nachfolgenden Begründung der Streckenrechnung benötigt Hilbert allerdings nur
den Spezialfall eines rechten Winkels zusammen mit den vorauszusetzenden Streckenkongruenzen
OC ≡ OA′ , und daher auch OA ≡ OC′
sowie der Parallelität von CB′ zu BC′ .
In einem zusätzlich hinzugefügten Paragraphen in seinem Manuskript fügt Hilbert zu
diesem Spezialfall einen – im Vergleich zum allgemeinen Fall – einfachen Beweis an,
den wir an dieser Stelle wiedergeben wollen.
Beweis des Spezialfalls. Betrachte die folgende Figur:
C′
B′
D′
A′
O
C B
A
Vorbereitende Konstruktion:
1.
2.
3.
4.
5.
Trage die Strecke OD′ ≡ OB von O aus auf OA′ ab
Es ist OC ≡ OA′
Es ist BD′ parallel zu CA′
Es ist OA ≡ OC′
Es ist CA′ parallel zu AC′
Betrachte die Dreiecke OC′ B und OAD′ :
6. Es ist OB ≡ OD′
(Vor)
(1, 2)
(Vor)
(2, 4)
3.7. STRECKENRECHNUNG UND PROPORTIONEN
7.
8.
9.
10.
Es ist OC′ ≡ OA
Es ist (D′ OA) ≡ (C′ OB)
OC′ B und OAD′ sind kongruent
Es ist (OC′ B) ≡ (OAD′ )
147
(6, 7, 8)
(9)
Zweiter Beweisschluss:
11.
12.
13.
14.
15.
Es ist CB′ parallel zu C′ B
Es ist (OB′C) ≡ (OC′ B)
Es ist (OAD′ ) ≡ (OB′C′ )
Das Viereck ACD′ B′ ist ein Kreisviereck
Es ist (OD′C) ≡ (OAB′ )
(Vor)
(11)
(10, 12)
(14)
Betrachte die Dreiecke OD′C und OBA′ :
16. OD′C und OBA′ sind kongruent
17. Es ist (OD′C) ≡ (OBA′ )
(1, 2, 8)
(16)
Dritter Beweisschluss:
18. Es ist (OAB′ ) ≡ (OBA′ )
19. Es ist AB′ parallel zu BA′
(15, 17)
(18)
Damit ist der Spezialfall des Pascalschen Satzes bewiesen.
Beweisschritt 14 wird von Hilbert nicht ausgeführt, wir lesen lediglich dann aber ist
”
nach der Lehre vom Kreise ACD′ B′ ein Kreisviereck . . .“
Ein Kreisviereck ist ein Viereck, dessen Ecken sämtlich auf einem Kreisumfang liegen.
Zwei sich gegenüberliegende Innenwinkel des Kreisvierecks ergeben dann zusammen
notwendig und hinreichend stets 2R (siehe Beweisschritt 15).
Da mit diesen Ausführungen Hilberts Beweis unvollständig bleibt, verweisen wir auf
Abschnitt 3.8.11 des Anhangs, in welchem wir Schurs Artikel über die Proportionenlehre und einen vereinfachten Beweis des von Hilbert benutzten Spezialfalls des Satzes
von Pappus-Pascal diskutieren.
Detaillierte Einführung in die Schnittpunktsätze der affinen und projektiven Geometrie,
wie eben den Satz von Pappus-Pascal, finden sich z.B. im Lehrbuch von Koecher und
Krieg [93]. Wir gehen hierauf auch in Abschnitt 3.8.10 im Anhang ausführlicher ein.
3.7.2 Streckenrechnung mit dem Pascalschen Satz
Summe zweier Strecken
Es seien P, Q, R drei Punkte auf einer Geraden, welche die Zwischenrelation Z(P, Q, R)
erfüllen. Wir führen ein
a := PQ ,
b := QR ,
c := PR.
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
148
a
P
Q
b
R
c
→ Dann definieren wir die Summe a + b der Strecken a und B als
a + b := c.
Die Summe zweier Strecken entspricht also dem Zusammenfügen dieser Strecken. Sie
besitzt darüberhinaus die folgenden Eigenschaften, deren Beweise, die auf den ebenen
Kongruenzaxiomen K1, K2 und K3 basieren, wir als Übung belassen.
◦ Die Streckenaddition ist unabhängig von der Auswahl der Streckenrepräsentanten (Strecken können wir als Äquivalenzklassen verstehen).
◦ Die Streckenaddition ist kommutativ: a + b = b + a
◦ Die Streckenaddition ist assoziativ: a + (b + c) = (a + b) + c
Multiplikation von Strecken
Wir wollen das Produkt a · b zweier Strecken a = PQ und b = QR definieren und betrachten zu diesem Zweck die folgende Figur:
ab
a
O
1
b
1. Zeichne zunächst eine Einheitsstrecke 1 aus und trage diese auf dem horizontalen
Schenkel eines rechten Winkels mit Scheitel O ab.
2. Trage die Strecke b auf dem horizontalen Schenkel des rechten Winkels ab.
3. Trage die Strecke a auf dem anderen Schenkel des rechten Winkels ab.
4. Ziehe eine Parallele zur Gerade, welche durch den rechten Endpunkt der Strecke
1 und den oberen Endpunkt der Strecke a bestimmt ist; diese Parallele soll den
horizontalen Schenkel des Winkel im rechten Endpunkt der Strecke b schneiden,
und sie schneidet den anderen Schenkel des Winkels im oberen Endpunkt einer
Strecke c.
→ Dann definieren wir das Produkt a · b der Strecken a und b als
a · b := c.
3.7. STRECKENRECHNUNG UND PROPORTIONEN
149
Das so definierte Streckenprodukt besitzt die folgenden Eigenschaften:
◦
◦
◦
◦
Die Streckenmultiplikation ist unabhängig von der Auswahl der Repräsentanten.
Die Streckenmultiplikation ist kommutativ: a · b = b · a
Die Streckenmultiplikation ist assoziativ: a · (b · c) = (a · b) · c
Addition und Multiplikation von Strecken sind distributiv: a ·(b + c) = a ·b + a ·c
Wir wollen uns mit Hilbert [72] nur dem Beweis des zweiten Punktes widmen.
Beweis der Kommutativität a · b = b · a. Betrachte die folgende Figur:
b
ab
a
O
a
1
b
Konstruktionsbeschreibung:
Konstruiere zunächst a · b wie in der Definition des Streckenproduktes.
Trage auf dem horizontalen Schenkel des rechten Winkels die Strecke a ab.
Trage auf dem vertikalen Schenkel des rechten Winkels die Strecke b ab.
Ziehe die Strecke durch den rechten Endpunkt der Strecke 1 auf dem horizontalen Schenkel mit den oberen Endpunkt der Strecke b auf der vertikalen Strecke.
5. Ziehe zu diese Gerade die Parallele durch den rechten Endpunkt der Strecke
a auf dem horizontalen Schenkel; diese schneidet den vertikalen Schenkel des
Winkels im oberen Endpunkt der Strecke b · a.
1.
2.
3.
4.
Tatsächlich stimmt aber dieser obere Endpunkt der Strecke b · a mit dem oberen Endpunkt der Strecke a · b auf dem vertikalen Schenkel des Winkel überein. Denn aus der
Parallelität der beiden Geraden
◦ durch den rechten Endpunkt der Strecke a auf dem horizontalen Schenkel und
dem oberen Endpunkt der Strecke a auf dem vertikalen Schenkel,
◦ durch den rechten Endpunkt der Strecke b auf dem horizontalen Schenkel und
dem oberen Endpunkt der Strecke b auf dem vertikalen Schenkel
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
150
sowie der beiden Geraden
◦ durch den rechten Endpunkt der Strecke a auf dem horizontalen Schenkel und
dem oberen Endpunkt der Strecke b · a auf dem vertikalen Schenkel,
◦ durch den rechten Endpunkt der Strecke 1 auf dem horizontalen Schenkel und
dem oberen Endpunkt der Strecke b auf dem vertikalen Schenkel
folgt nach dem Pascalschen Satz die Parallelität der beiden Geraden
◦ durch den rechten Endpunkt der Strecke 1 auf dem horizontalen Schenkel und
dem oberen Endpunkt der Strecke a auf dem vertikalen Schenkel,
◦ durch den rechten Endpunkt der Strecke b auf dem horizontalen Schenkel und
dem oberen Endpunkt der Strecke b · a auf dem vertikalen Schenkel.
Aber diese letzte Parallele ist nach dem Euklidischen Parallelenaxiom eindeutig festgelegt und stimmt daher mit der oben, zur Definition der Strecke a · b konstruierten
Parallelen durch den rechten Endpunkt der Strecke b auf dem horizontalen Schenkel
überein. Also gilt a · b = b · a.
3.7.3 Proportionen und Ähnlichkeitssätze für Dreiecke
Das fünfte Buch Euklids Elemente enthält mit der fünften und sechsten Definition diejenige einer Proportion (siehe Thaer [156], Seite 91 und Seite 430f.; für ausführliche
Kommentare verweisen wir auf Heath [65]):
(5) Man sagt, daß Größen in demselben Verhältnis stehen, die erste zur
zweiten wie die dritte zur vierten, wenn bei beliebiger Vervielfältigung die
Gleichvielfachen der ersten und dritten den Gleichvielfachen der zweiten
und vierten gegenüber, paarweise entsprechend genommen, entweder zugleich größer oder zugleich gleich oder zugleich kleiner sind; (6) Und die
dasselbe Verhältnis habenden Größen sollen in Proportion stehend heißen.
Wir schreiben also
a:b=c:d
genau dann, wenn zugleich
κ a T λ b mit κ c T λ d
für beliebige natürliche Zahlen κ und λ richtig sind.
Hilbert in [72], Seite 472, findet die prägnanteren Worte:
3.7. STRECKENRECHNUNG UND PROPORTIONEN
151
Definition (Proportion)
Sind a, b, a′ , b′ irgend vier Strecken, so soll die Proportion
a : b = a′ : b′
nicht anderes bedeuten als die Streckengleichung
ab′ = ba′ .
Damit ist der Euklidische Begriff der Proportion sofort auf Hilberts Streckenrechnung
unter Verwendung des Pascalschen Satzes und damit ohne Rückgriff auf irgendwelche
Stetigkeitsaxiome zurückgeführt.
Bemerkung. Die rein geometrische Lehre der Proportionen ohne Verwendung irgendwelcher Stetigkeitsaxiome geht u.a. zurück auf Paucker [118] 1823, Grassmann [58]
1844, Hoppe [83] 1878, ferner auf Rajola-Pescarini 1876 und K. Kuppfer 1893. Für
diese Quellen verweisen wir auf Kommerell [95], Schur [140], in welcher die Proportionslehre des wohl nicht zugänglichen Bericht Kupffers wiedergegeben wird, und
Vojtech in [15].
Unmittelbar darauf führt Hilbert den Begriff ähnlicher Dreiecke an und fährt mit einem
bekannten Ähnlichkeitssatz fort. Zunächst also die
Definition (Ähnlichkeit von Dreiecken)
Zwei Dreiecke heißen ähnlich, wenn entsprechende Winkel in ihnen kongruent
sind.
Folgende Skizze verdeutlicht die geometrische Situation:
Der angekündigte Ähnlichkeitssatz lautet nun wie folgt.
Satz (Ähnlichkeitssatz)
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
152
Wenn a, b und a′ , b′ entsprechende Seiten in zwei ähnlichen Dreiecken sind, so
gilt die Proportion
a : b = a′ : b′ .
Beweis. Wir orientieren uns an Hilbert [72], Seite 472f, und führen den Beweis in zwei
Teilen.
1. Beweisteil: Der von den Strecken a, b und a′ , b′ eingeschlossene Winkel sei ein
rechter Winkel, und die in Frage stehenden Dreiecke seien, wie in der nachstehenden
Figur, in ein und demselben rechten Winkel abgetragen.
b′
b
e
O
1
a
a′
1. Die eingezeichneten Strecken, die Hypothenusen der gegebenen Dreiecke, mit
den Endpunkten von a, b bzw. a′ , b′ sind parallel. (Warum?)
2. Trage, ausgehend vom Scheitel O, auf dem horizontalen Schenkel des rechten
Winkels die Strecke 1 ab.
3. Ziehe durch den rechten Endpunkt dieser Strecke 1 die Parallele zu den beiden
Dreieckshypothenusen aus Beweisschritt 1.
4. Diese Parallele schneidet den vertikalen Schenkel des rechten Winkels im oberen
Endpunkt einer Strecke e.
5. Nach Definition des Streckenproduktes gelten dann
b = e · a und b′ = e · a′ ,
woraus wir
a · b′ = a · (e · a′) = (a · e) · a′ = (e · a) · a′ = e · (a · a′),
b · a′ = (e · a) · a′ = e · (a · a′)
und mithin
a · b′ = b · a′
bzw. a : b = a′ : b′
schließen.
2. Beweisteil: Wir betrachten nun den Fall allgemeiner, zueinander ähnlicher Dreiecke.
Hierzu zunächst die folgende Figur:
3.7. STRECKENRECHNUNG UND PROPORTIONEN
153
R
ar
br
r
r
bp
aq
r
P
6.
7.
8.
9.
cp
cq
Q
Konstruiere im Dreieck PQR die drei Winkelhalbierenden.
Diese Winkelhalbierenden treffen sich in einem Punkt S. (Warum?)
Fälle von diesem Punkt S ausgehend die Lote auf die drei Dreiecksseiten.
Diese Lote teilen die drei Dreiecksseiten, wie in der Figur veranschaulicht, in die
Seitenabschnitte
ar ,
aq ,
br ,
bp ,
cp ,
cq .
10. Diese Lote besitzen sämtlich die Länge r. (Warum?)
11. Analog erhalten wir für das zu PQR ähnliche Dreieck P′ Q′ R die Seitenabschnitte
a′r ,
a′q ,
b′r ,
b′p ,
c′p ,
c′q .
11. Die zugehörigen Lote besitzen sämtlich die Länge r′ .
12. In Anwendung des ersten Beweisteils gelten folgende Proportionen
aq : r = a′q : r′ , ar : r = a′r : r′ ,
br : r = b′r : r′ , b p : r = b′p : r′
woraus wir auf Grund des Distributionsgesetztes
(aq + ar ) : r = (a′q + a′r ) : r′ bzw. a : r = a′ : r′ ,
(b p + br ) : r = (b′p + b′r ) : r′ bzw. b : r = b′ : r
entnehmen und damit (warum?)
a : b = a′ : b′ .
Damit ist der Ähnlichkeitssatz für Dreiecke bewiesen.
Hieraus folgert man schließlich den, wie Hilbert ihn nennt, Fundamentalsatz der Lehre
der Proportionen.
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
154
Satz (Fundamentalsatz der Proportionenlehre)
Schneiden zwei Parallele auf den Schenkeln eines belieben Winkels die Strecken a, b bzw. a′ , b′ ab, so gilt die Proportion
a : b = a′ : b′ .
Umgekehrt, wenn vier Strecken a, b, a′ , b′ diese Proportionen erfüllen und a, a′
und b, b′ je auf einem Schenkel eines beliebigen Winkels abgetragen werden,
so sind die Verbindungsgeraden der Endpunkte von a, b bzw. a′ , b′ einander
parallel.
b′
b
a
a′
3.7.4 Geradengleichungen
Hilberts Streckenrechnung führt nach Einführung eines, wie er sich ausdrückt, zweiten
Systems von negativen“ Strecken zu dem bereits gegebenen System von positiven“
”
”
Strecken und mit der durch einen einzigen Punkt ausgezeichneten Strecke 0 unmittelbar auf eine Streckenrechnung, die sämtliche Rechenregeln des reellen Zahlensystems
wiederspiegelt:
◦ Für alle Strecken a gilt a · 1 = 1 · a = a.
◦ Falls a · b = 0 gilt, so entweder a = 0 oder b = 0.
◦ Für alle Strecken a > b und c > 0 gilt a · c > b · c.
In Paragraph 3.8.9 wollen wir zum Vergleich Hilberts Axiomensystem der reellen Zahlen mit einem modernen Buch zur Analysis vergleichen. Vorerst benötigen wir diese
Tatsachen für die folgende Koordinatisierung der Ebene:
◦ Vorgelegt seien ein beliebiger Punkt O einer Ebene E und zwei aufeinander senkrecht stehende und in diesem Punkt O sich schneidende, unendlich langen Geraden g und h (die Koordinatenachsen“).
”
◦ Abhängig von deren Vorzeichen“, tragen wir, ausgehend von O, auf g die Stre”
cke x und auf h die Strecke y ab.
3.8. ANHÄNGE
155
◦ Auf den so entstehenden Streckenendpunkten auf g bzw. h errichten wir die Lote,
die sich schließlich in einem Punkt P der Ebene schneiden. Die Strecken x und y
bezeichnen wir als die Koordinaten des Punktes P.
Auf diese Weise können wir jedem Punkt der Ebene E eindeutig seine Koordinaten
zuordnen.
h
ℓ′
ℓ
y
P
b
a
g
x
Wir betrachten nun eine Gerade ℓ in der Ebene E , welche durch die Punkte O und C
mit den Koordinaten (a, b) verläuft. Es sei ferner P ein zweiter Punkt auf ℓ mit den
Koordinaten (x, y). Nach obigem Ähnlichkeitssatz gilt dann
a:x=b:y
bzw. bx − ay = 0.
Damit haben wir eine algebraische Gleichung für die Gerade ℓ abgeleitet. Eine zweite,
zu ℓ parallele Gerade ℓ′ , welche die Koordinatenachse g im Endpunkt einer Strecke c
schneidet, wird durch
bx − ay − bc = 0
beschrieben. Verifizieren Sie das als Übung.
3.8 Anhänge
3.8.1 Das Axiomensystem von Pasch
In diesem Paragraphen, der zusammen mit dem folgenden gelesen werden sollte, wollen wir,
um einen ersten Vergleich mit Hilberts Grundlagen der Geometrie zu ermöglichen, aus Paschs
Grundsätze der Linie sowie der Ebene aus Pasch [117] vortragen.
Pasch erklärt die grundlegenden Begriffe Punkt“, gerade Linie“ usw. nicht näher, sondern führt
”
”
zwischen diesen undefinierten Basiselementen sogenannte Grundsätze ein.
Der erste Paragraph Paschs Lehrbuchs von der geraden Linie:
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
156
Grundsätze der Linie
1. Zwischen zwei Punkten kann man stets eine gerade Strecke ziehen, und zwar nur
eine.
2. Man kann stets einen Punkt angeben, der innerhalb einer gegebenen geraden Strecke liegt.
3. Liegt der Punkt C innerhalb der Strecke AB, so liegt der Punkt A ausserhalb der
Strecke BC. Ebenso liegt der Punkt B ausserhalb der Strecke AC.
4. Liegt der Punkt C innerhalb der Strecke AB, so sind alle Punkte der Strecke AC
zugleich Punkte der Strecke AB. [Ebenso sind alle Punkte der Strecke BC zugleich Punkte der Strecke AB.] Oder: Liegt der Punkt C innerhalb der Strecke
AB, der Punkt D innerhalb der Strecke AC oder BC, so liegt D auch innerhalb der
Strecke AB.
5. Liegt der Punkt C innerhalb der Strecke AB, so kann ein Punkt, der keiner der
Strecken AC und BC angehört, nicht zur Strecke AC gehören. Oder: Liegen die
Punkte C und D innerhalb der Strecke AB, der Punkt D außerhalb der Strecke AC,
so liegt der Punkt D innerhalb der Strecke BC.
6. Sind A und B beliebige Punkte, so kann man den Punkt C so wählen, dass B
innerhalb der Strecke AC liegt.
7. Liegt der Punkt B innerhalb der Strecken AC und AD, so liegt entweder der Punkt
C innerhalb der Strecke AD oder der Punkt D innerhalb der Strecke AC.
8. Liegt der Punkt B innerhalb der Strecke AC und der Punkt A innerhalb der Strecke
BD, und sind CD durch eine gerade Strecke verbunden, so liegt der Punkt A auch
innerhalb der Strecke CD. Ebenso liegt dann auch der Punkt B innerhalb der
Strecke CD.
Aus diesen Grundsätzen, zusammen mit in den Text eingebauten Definitionen, gewinnt Pasch
nun sukzessive alle wichtigen Aussagen der Linien- und Ebenengeometrie. So lautet beispielsweise der erste Lehrsatz (Pasch [117], Seite 6):
→ Liegt der Punkt C innerhalb der Strecke AB, der Punkt D innerhalb der Strecke BC, so
liegt der Punkt C innerhalb der Strecke AD.
Wir wollen auch Paschs Beweis anführen.
Beweis. Betrachte zunächst die folgende Figur:
A
C
D
B
Beweisschluss:
1.
2.
3.
4.
5.
D liegt innerhalb der Strecke BC
C liegt außerhalb der Strecke BD
C liegt innerhalb der Strecke AB
D liegt innerhalb der Strecke AB
C liegt innerhalb der Strecke AD
(Vor)
(1, 3. Grundsatz)
(Vor)
(1, 3, 4. Grundsatz)
(2, 3, 4, 5. Grundsatz)
3.8. ANHÄNGE
157
Damit ist Aussage bewiesen.
Der zweite Paragraph handelt von den Ebenen und führt folgende Grundsätze auf.
Grundsätze der Ebene
1. Durch drei beliebige Punkte kann man eine ebene Fläche legen.
2. Wird durch zwei Punkte einer ebenen Fläche eine gerade Strecke gezogen, so
existiert eine ebene Fläche, welche alle Punkte der vorigen und auch die Strecke
enthält.
3. Wenn zwei ebene Flächen E , E ′ einen Punkt gemein haben, so kann man einen
andern Punkt angeben, der sowohl mit allen Punkten von E , als auch mit allen
Punkten von E ′ je in einer ebenen Fläche enthalten ist.
4. Sind in einer ebenen Fläche drei Punkte A, B, C durch die geraden Strecken AB,
AC, BC paarweise verbunden, und ist in derselben ebenen Fläche die gerade Strecke DE durch einen innerhalb der Strecke AB gelegenen Punkt gezogen, so geht
die Strecke DE oder eine Verlängerung derselben entweder durch einen Punkt
der Strecke AC oder durch einen Punkt der Strecke BC.
Wir wollen bemerken, dass Paschs Fokus auf einem axiomatischen Aufbau der projektiven Geometrie liegt (Kongruenzaxiome behandelt er in § 13), offenbar ein typischer Weg in der damaligen Zeit. In den Aufzeichnungen zu seiner im Sommersemester 1894 gehaltenen Vorlesung Die
”
Grundlagen der Geometrie“ bemerkt Hilbert jedoch (siehe Toepell [159]):
Es ist in jeder – pädagogischer und principieller – Hinsicht besser zuerst die parabolische [Euklidische] Geometrie u. dann erst die hyp. u. ellip. zu behandeln. Thue
dies künftig.
3.8.2 Pasch zum Aufbau Geometrie
Freudenthal bewertete die Leistungen Pasch mit den folgenden einprägsamen Worten:
Was Axiomatik ist und wie man Axiome zu formulieren hat, das ist erst gegen
Ende des 19. Jh. von Pasch gezeigt worden; von ihm lernten es die italienischen
Geometer und lernte es Hilbert.
Wir wollen in diesem Paragraphen ausgewählte Passagen aus Pasch [117] vorstellen, die uns
einen Eindruck von den qualitativen Schwierigkeiten, die Pasch zu bewältigen hatte, vermitteln.
Damit runden wir unser mit dem vorigen Paragraphen begonnenes Quellenstudium der Paschschen Vorlesungen über neuere Geometrie ab.
Zunächst grenzt Pasch die Menge aller derjenigen geometrischen Begriffe ab, die in das aufzustellende Axiomensystem umfassen soll. Dabei beruft er sich wiederholt auf die physikalische
Erfahrung: Geometrie ist eine Naturwissenschaft.
Zweitens setzt Pasch mit wenigen Worten auseinander, was unter zu beweisenden und nicht
zu beweisenden Lehrsätzen (Theoremen und Axiomen) zu verstehen ist. Diese Unterscheidung,
die uns heute als so selbstverständlich erscheint, bedurfte zu Paschs Zeiten offenbar noch einer
einführenden Erklärung.
158
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
Lehrsätze und Grundsätze I (§1, Seite 3f.)
Die geometrischen Begriffe bilden eine besondere Gruppe innerhalb der Begriffe, welche überhaupt zur Beschreibung der Aussenwelt dienen. Wenn ich die Farbe eines Gegenstandes bezeichne, so spreche ich von einer physikalischen Eigenschaft; wenn ich
ihn würfelförmig nenne, so bringe ich einen geometrischen Begriff in Anwendung . . .
Wir werden uns zunächst mit der geraden Linie beschäftigen. Man sagt: durch zwei
Punkte kann man eine gerade Linie ziehen. Die Linie kann aber verschieden begrenzt
werden; die Unbestimmtheit der Begrenzung hat dahin geführt, dass von der geraden
Linie gesagt wird, sie sei nicht begrenzt, sie müsse unbegrenzt, in unendlicher Ausdehnung vorgestellt werden“. Diese Forderung entspricht keinem wahrnehmbaren Object
”
...
Die folgende Betrachtung soll uns mit den Eigenschaften bekannt machen, welche an
den geraden Strecken und ihren Punkten bemerkt werden. Wir sprechen dieselben in
Form von einzelnen Sätzen aus. Die Sätze werden aber in verschiedener Weise eingeführt. Einige von ihnen werden bewiesen, d. h. es wird gezeigt, wie ihr Inhalt bedingt
ist durch andere Sätze; die beim Beweise benutzten Sätze müssen jedesmal vorangehen. Wir stellen nun die Sätze, die bewiesen werden, als Lehrsätze (Theoreme) den
andern gegenüber, die wir als Grundsätze bezeichnen. Die Lehrsätze werden aus den
Grundsätzen deduciert, so dass Alles, was zur Begründung der Lehrsätze gehört, ohne
Ausnahme sich in den Grundsätzen niedergelegt finden muss.
Grundbegriffe“, die innerhalb der Axiomatik nicht definiert werden, spielen von Beginn an eine
”
besondere Rolle. Bemerkenswert ist, dass die Nichtdefiniertbarkeit solcher Grundbegriffe bereits
in Anbetracht ihrer natürlichen Existenz zu begründen ist. Pasch zitiert und kritisiert in diesem
Zusammenhang Euklids Definition des Punktes; hierauf sind wir bereits mehrfach eingegangen.
Tatsächlich kommt es aber nicht auf die geometrischen Grundbegriffe an, sondern auf die zwischen ihnen zu definierenden und zu beweisenden Relationen. Wir sehen also, dass bereits Pasch
diese gedankliche Kehrtwende, weg von den Elemente“ und hin zu den Relationen, vollzog, die
”
häufig erst Hilbert zugesprochen wird.
Am Beginn des axiomatischen Systems stehen wieder die Grundsätze, deren Wahrheit der Erfahrung zu entnehmen ist, die man aus dem Studium nur wenig entfernt“ befindlicher Objekte
”
gewinnt. Darüber hinaus verlieren sie ihre Gültigkeit.
Lehrsätze und Grundsätze II (§6, Seite 16ff.)
Im Laufe der Entwickelung traten zu den ursprünglich eingeführten geometrischen Begriffen neue hinzu, welche jedoch auf jene zurückzuführen sind. Wir wollen dieselben
abgeleitete Begriffe nennen, die anderen Grundbegriffe. Die abgeleiteten Begriffe wurden definirt, wobei allemal die vorhergehenden benutzt wurden, keine anderen; und
so oft ein abgeleiteter Begriff zur Anwendung kam, wurde unmittelbar oder mittelbar
auf seine Definition Bezug genommen; ohne eine solche Berufung war die betreffende
Beweisführung nicht möglich. Die Grundbegriffe sind nicht definirt worden; keine Erklärung ist im Stande, dasjenige Mittel zu ersetzen, welches allein das Verständniss jener
einfachen, auf andere nicht zurückführbaren Begriffe erschliesst, nämlich den Hinweis
auf geeignete Naturobjecte. Wenn Euklid sagt: Ein Punkt ist, was keine Theile hat; eine
”
Linie ist Länge ohne Breite; eine gerade Linie (Strecke) ist diejenige, welche den auf ihr
3.8. ANHÄNGE
159
befindlichen Punkten gleichförmig liegt“, so erklärt er die angeführten Begriffe durch
Eigenschaften, welche sich zu keiner Verwerthung eignen, und welche auch von ihm
bei der weiteren Entwickelung nirgends verwerthet werden. In der That stützt sich keine
einzige Stelle auf eine jener Aussagen, durch welche der Leser, der aus den Elemen”
ten“ ohne eine bereits vorher durch wiederholte Beobachtungen ausgebildete Vorstellung von den geometrischen Grundbegriffen überhaupt nichts lernen kann, höchstens an
die betreffende Vorstellung erinnert und dazu veranlasst wird, sie den wissenschaftlichen
Anforderungen gemäss einzuschränken oder zu ergänzen.
Die Mathematik stellt Relationen zwischen den mathematischen Begriffen auf, welche
den Erfahrungsthatsachen entsprechen sollen, aber weitaus in ihrer Mehrzahl der Erfahrung nicht unmittelbar entlehnt, sondern bewiesen“ werden; die (ausser den Defini”
tionen der abgeleiteten Begriffe) zur Beweisführung nothwendigen Erkenntnisse bilden
selbst einen Theil der aufzustellenden Relationen. Nach Ausscheidung der auf Beweise gestützte Sätze, der Lehrsätze, bleibt eine Gruppe von Sätzen zurück, aus denen alle
übrigen sich folgern lassen, die Grundsätze; diese sind unmittelbar auf Beobachtungen gegründet, freilich auf Beobachtungen, welche seit undenklichen Zeiten sich unaufhörlich wiederholt haben, welche klarer erfasst werden, als die irgend einer andern
Art, und mit denen die Menschen deshalb längst so vertraut geworden sind, dass ihr
Ursprung in Vergessenheit gerathen und Gegenstand des Streites werden konnte.
Die Grundsätze sollen das von der Mathematik zu verarbeitende empirische Material
vollständig umfassen, so dass man nach ihrer Aufstellung auf die Sinneswahrnehmungen nicht mehr zurückzugehen braucht . . .
Die geometrischen Grundbegriffe und Grundsätze erlernt man an Objecten, von denen
man verhältnissmässig nur wenig entfernt ist; über ein solches Gebiet hinaus ist also ihre
Anwendung nicht ohne Weiteres berechtigt.
Figuren spielen in jeder geometrischen Wissenschaft eine besondere Rolle. Anhand dieser sollen
die Aussagen des Systems illustriert und verständlich gemacht werden, und anhand dieser lassen
sich neue Sätze anschaulich motivieren, bevor ihre Aussagen einem strengen Beweisprozess
unterzogen werden. Aber auch hier macht Pasch den Unterschied zwischen Grundsätzen, die
ohne Illustration überhaupt nicht einsehbar sind, und abgeleiteten Sätzen, die zu ihrem Beweis
tatsächlich keine Figuren benötigen.
Pasch kommt auch an dieser Stelle auf die Elemente zurück, insbesondere Euklids Beweis der
ersten Proposition. Die Existenz des dort fraglichen geometrischen Punktes ist, wie wir im ersten
Kapitel unserer Vorlesung ausführlich diskutiert haben, an einer Figur unmittelbar ablesbar. Aber
die benutzte Figur kann einen strengen Beweis nicht ersetzen, und tatsächlich kann die Existenz
des Punktes aus den bis dahin gemachten Voraussetzungen nicht abgeleitet werden.
Figuren in der Geometrie, insb. Euklids Beweis von Proposition I.1 (§6, Seite 42ff.)
Die Figuren, an denen wir bisher die Ableitung der Lehrsätze verfolgen konnten, bestehen aus eigentlichen Punkten, geraden Strecken und ebenen Flächen, welche die Punkte,
Geraden und Ebenen, um die es sich handelt, zur Darstellung bringen . . . So wird jede
in dem betreffenden Satze gemachte Voraussetzung oder zum Beweise geforderte Construction in anschaulicher Form festgehalten und die Uebersicht über alle Beziehungen
erleichtert, welche beim Anblick der Figur rascher in das Gedächtniss zurückkehren und
die Erfindungskraft lebhafter anregen, als auf anderem Wege.
160
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
Die Fortsetzung unserer Betrachtungen bringt uns nun in die Lage, Lehrsätze, in denen beliebige Punkte vorkommen, durch Figuren zu erläutern. Jeder solche Punkt kann
in der Figur als eigentlicher Punkt angenommen oder bloss durch zwei seiner Geraden
angedeutet werden . . . Denn die Zuziehung der Figur ist überhaupt nicht Nothwendiges. Sie erleichtert wesentlich die Auffassung der in dem Lehrsatze ausgesprochenen
Beziehungen und der etwa zum Beweise angewandten Constructionen; sie ist überdies
ein fruchtbares Mittel, um solche Beziehungen und Constructionen zu entdecken. Aber
wenn man das Opfer an Mühe und Zeit nicht scheut, so kann man beim Beweise eines
jeden Lehrsatzes die Figur fortlassen; der Lehrsatz ist eben nur dann wirklich bewiesen,
wenn der Beweis von der Figur vollkommen unabhängig ist.
Die Grundsätze kann man ohne entsprechende Figuren nicht einsehen; sie sagen aus,
was an gewissen sehr einfachen Figuren beobachtet worden ist. Die Lehrsätze werden
nicht durch Beobachtungen begründet, sondern bewiesen; jeder Schluss, der im Verlaufe
des Beweises vorkommt, muss in der Figur seine Bestätigung finden, aber er wird nicht
aus der Figur, sondern aus einem bestimmten vorhergegangenen Satze (oder aus einer
Definition) gerechtfertigt . . . Wenn man von dieser Auffassung im Geringsten abweicht,
so verliert der Sinn des Beweisverfahrens überhaupt jede Bestimmtheit.
Bei Euklid sehen wir zwischen den Grundsätzen und Lehrsätzen eine deutliche Trennung vollzogen. Im ersten Buche der Elemente stehen 35 Definitionen an der Spitze;
diese sollen für das erste Buch das vorstellen, was wir ein Verzeichniss der Grundbegriffe und abgeleiteten Begriffe nennen würden, jedoch ohne scharfe Unterscheidung.
Sodann werden 3 Postulate und 12 Axiome angeführt; diese 15 Sätze sind als Grundsätze
zu betrachten. Ihnen lässt Euklid die Theoreme folgen, in der Meinung – so darf man
wohl annehmen –, bis dahin Alles in Bereitschaft gesetzt zu haben, womit die Sätze des
ersten Buches bewiesen werden können. Aber schon der erste Beweis lässt die Unvollständigkeit der Sammlung erkennen. Es handelt sich darum, zu zeigen, dass (in einer
Ebene) auf jeder geraden Strecke AB ein gleichseitiges Dreieck construirt werden kann.
Zu dem Zweck wird (in jener Ebene) um den Punkt A mit dem Halbmesser AB ein Kreis
beschrieben, ebenso um den Punkt B; vom Punkte C, in welchem die beiden Kreise sich
schneiden, zieht man gerade Strecken nach A und B. Für jedes Glied des Beweises und
jede in ihm gebrauchte Construction muss nun die Rechtfertigung erbracht werden, und
zwar mittels eines vorher aufgestellten Satzes. Dass die beiden Kreise um A und B mit
dem Halbmesser existiren, folgt in der That aus dem dritten Postulat, wonach gefordert werden darf, (in einer Ebene) um jeden Punkt in jedem Abstande einen Kreis zu
beschreiben. Dass die geraden Strecken AC und BC existiren, folgt aus dem ersten Postulate, wonach gefordert werden darf, von jedem Punkt nach jedem andern eine gerade
Strecke zu ziehen. Also bezüglich der beiden Kreise und der beiden Strecken ist Euklid
im Stande, die erforderlichen Hinweise auf frühere Sätze zu geben. Es ist aber, unmittelbar nachdem die beiden Kreise eingeführt sind, vom Punkte C die Rede, in welchem
sie sich schneiden. Nach welchem Satze existirt ein derartiger Punkt? Bei Euklid findet
sich keine darauf bezügliche Angabe, und diese Lücke kann auch aus seinem Material
nicht ergänzt werden, denn es geht dem ersten Lehrsatze keine Aussage voran, wonach
jene Kreise sich schneiden müssen.
Wenn es also Euklid’s Absicht war, den Lehrsätzen des ersten Buches alle Beweismittel
voranzuschicken, um sich später bei jedem Schlusse und jeder Construction auf dieselben berufen zu können, so hat er seine Absicht nicht vollständig erreicht. Er hätte
beispielsweise in Rücksicht auf das erste Theorem den Satz mit aufnehmen müssen:
Zwei Kreise in einer Ebene, deren jeder durch den Mittelpunkt des andern hindurch”
3.8. ANHÄNGE
161
geht, schneiden sich“; dieser Satz musste entweder ein Axiom abgeben oder als Theorem
auf einen Beweis gestützt werden. Dass hier die dem Satze vom gleichseitigen Dreieck
beigegebene Figur allein irregeführt hat, erkennt man sofort, wenn man den Beweis
ohne die Figur herzustellen versucht. Nach wie vor kann man dann die beiden Kreise
einführen, weil man über das dritte Postulat verfügt; um jedoch von da weiterzukommen, fehlt jede Handhabe, so lange man keine Figur vor Augen hat. Die Figur freilich
lässt nicht in Zweifel darüber, ob der Punkt C existirt. Aber die Figur lässt auch die
Existenz der Kreise um A und B und der Strecken AC und BC nicht zweifelhaft, und
doch wird die Thatsache, dass solche Kreise und Strecken möglich sind, besonders ausgesprochen und angeführt. Mit welchem Rechte werden nun von den Thatsachen, auf
denen die Construction beruht, und welche kaum in verschiedenem Grade einleuchtend
und durch einfache Beobachtungen verbürgt sind, die einen ausdrücklich formulirt, die
andern aber nicht?
Zwischen den Beweisgründen, welche in der Anwendung früherer Sätze und Definitionen besteht, und andern irgendwelcher Natur werden wir nicht versuchen, eine Grenze
zu ziehen . . . , sondern wir werden nur diejenigen Beweise anerkennen, in denen man
Schritt für Schritt sich auf vorhergehende Sätze und Definitionen beruft oder berufen
kann. Wenn zur Auffassung eines Beweises die entsprechende Figur unentbehrlich ist,
so genügt der Beweis nicht den Anforderungen, welche wir an ihn stellen . . . Nicht bloss
in der von Euklid überlieferten Form tragen zahlreiche Beweise der Geometrie jene Unvollkommenheit an sich, sondern auch nach den vielfachen Umgestaltungen, welche sie
im Laufe der Zeit erfahren haben; nur dass bei Euklid die Irrthümer rein zu Tage treten
und nirgends durch Worte verhüllt sind.
Der folgenden Auszug leitet in die Idee der Axiomatisierung wie folgt ein:
Es muss in der That, wenn anders die Geometrie wirklich deductiv sein soll, der
Process des Folgerns überall unabhängig sein vom Sinn der geometrischen Begriffe, wie er unabhängig sein muss von den Figuren; nur die in den benutzten Sätzen,
beziehungsweise Definitionen niedergelegten Beziehungen zwischen den geometrischen Begriffen dürfen in Betracht kommen.
Pickert (siehe Tamari [154], S. i), kommentiert diese Passage mit den Worten
Damit war die moderne Axiomatik geboren.
Lesen Sie aber am besten selbst.
Das Folgern in der Geometrie (§12, Seite 98)
Es muss in der That, wenn anders die Geometrie wirklich deductiv sein soll, der Process
des Folgerns überall unabhängig sein vom Sinn der geometrischen Begriffe, wie er unabhängig sein muss von den Figuren; nur die in den benutzten Sätzen, beziehungsweise
Definitionen niedergelegten Beziehungen zwischen den geometrischen Begriffen dürfen
in Betracht kommen. Während der Deduction ist es zwar statthaft und nützlich, aber keineswegs nöthig, an die Bedeutung der auftretenden geometrischen Begriffe zu denken;
so dass geradezu, wenn dies nöthig wird, daraus die Lückenhaftigkeit der Deduction
und (wenn sich die Lücke nicht durch Abänderung des Raisonnements beseitigen lässt)
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
162
die Unzulänglichkeit der als Beweismittel vorausgeschickten Sätze hervorgeht. Hat man
aber ein Theorem aus einer Gruppe von Sätzen – wir wollen sie Stammsätze nennen – in
voller Strenge deduciert, so besitzt die Herleitung einen über den ursprünglichen Zweck
hinausgehenden Werth.
3.8.3 Das Axiomensystem von Peano
In diesem Paragraphen wollen wir anhand des Lehrbuchs Whitehead [167] das Peanosche Axiomensystem der (projektiven) Geometrie vorstellen. Dieses sollte in Vergleich zum Hilbertschen
und zum Paschschen Axiomensystem gelesen werden. Whitehead [167], S. 2, schreibt dazu einleitend:
The enunciation of the axioms of Descriptive Geometry . . . is that due to Peano.
His formulation is based upon that of Pasch, to whom is due the first satisfactory
systematic exposition of the subject. The undefined fundamental ideas are two in
number, namely that of a class of entitites called ’points,’ and that of the ’class of
points lying between any two given points.’ It has already been explained that this
undetermined class of points is in fact any class f entities with interrelations, such
that the axios are satisfied when considered as referring to them.
Die Peanoschen Axiome gliedern sich in drei Gruppen auf:
◦ 11 Axiome der (eindimensionalen) geraden Linie,
◦ 3 Axiome der (zweidimensionalen) Ebene,
◦ 2 Axiome des (dreidimensionalen) Raumes.
Hieran wird deutlich, dass Peano, im Gegensatz zu Hilbert [76], an der grundsätzlichen Idee
der Euklidischen Elemente festhält: An erster Stelle der Geometrie steht eine Unterteilung in
die geometrischen Elemente Linie, Ebene und Raum, die zwischen diesen wirkenden Relationen
werden ebenfalls in dieser Reihenfolge axiomatisch eingeführt.
Wir wollen die Peanoschen Axiome im Wortlaut Whiteheads vorstellen und, uns an Whitehead
orientierend, zum Teil durch Skizzen veranschaulichen. Dabei vereinbart Whitehead folgende
Setzungen:
◦ Ein Segment AB bezeichnet die Klasse von Punkten zwischen zwei vorgelegten Punkten
A und B.
◦ A′ B bezeichnet die Fortsetzung von AB über B hinaus, B′ A die Fortsetzung von AB über
A hinaus.
Axiom der geraden Linie
Axiom III besagt, dass die Klasse AA leer ist. Sind jedoch A und B verschieden, so ist AB stets
nichtleer (Axiom IV). Nach Axiom V unterscheiden wir nicht zwischen AB und BA. Und ferner
beinhaltet Axiom VI, dass die Klasse AB nicht die Endpunkte“ A und B einschließt.
”
3.8. ANHÄNGE
163
Peanos Axiome der geraden Linie
Die Axiome der geraden Linie lauten wie folgt:
I. There is at least one point.
II. If A is any point, there is a point distinct from A.
III. If A is a point, there is no point lying between A and A.
IV. If A and B are distinct points, there is at least one point lying between A and B.
V. If the point C lies between A and B, it also lies between B and A.
VI. The point A does not lie between the points A and B.
VII. If A and B are distinct points, there exists at least one member of A′ B.
VIII. If A and D are distinct points, and C is a member of AD, and B of AC, then B is a
member of AD.
IX. If A and D are distinct points, and B and C are members of AD, then either B is a
member of AC, or B is identical with C, or B is a member of CD.
X. If A and B are distinct points, and C and D are members of A′ B, then either C is
identical with D, or C is a member of BD, or D is a member of BC.
XI. If A, B, C, D are points, and B is a member of AC, and C of BD, then C is a
member of AD.
Axiome der Ebene
Unter einer geraden Linie str (A, B) versteht Peano die aus A′ B, AB und B′ A bestehende Menge
von Segmenten sowie den Punkten A und B selbst. Mit dieser Setzung kommen wir direkt zu den
Peanos Axiome der Ebene
Die Axiome der Ebene lauten wie folgt:
XII. If r is a straight line, there exists a point which does not lie on r.
XIII. If A, B, C are three non-collinear points, and D lies on the segment BC, and
E on the segment AD, there exists a point F on both the segment AC and the
prolongation B′ E.
A
F
E
B
D
C
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
164
XIV. If A, B, C are three non-collinear points, and D lies on the segment BC, and F on
the segment AC, there exists a point E lying on both the segments AD and BF. [In
der vorigen Skizze ist der Punkt F gegeben und der Punkt E gesucht.]
Die Axiome XIII und XIV stellen das äußere bzw. innere Paschaxiom dar, die in dieser Form
erstmals bei Peano [119] auftreten und das Tor zur räumlichen Geometrie öffnen. Das beide das
(klassische) Paschaxiom implizieren, ist nach M. Beeson: Proving Hilbert’s axioms in Tarski
geometry sowie Schwabhäuser, Szmielew und Tarski [141], Satz 9.8 beweisbar.
Nach Veblen [163] folgt ferner das innere Paschaxiom im wesentlichen aus dem äußeren. Über
die lange Zeit offene Frage der Deduzierbarkeit bzw. Nichtdeduzierbarkeit des äußeren Paschaxioms aus dem inneren verweisen wir auf Pambuccian [116].
Seit den 1970er Jahren werden in der Literatur sogar sogenannte Paschfreie Geometrien betrachtet, d.h. Geometrien, in denen das Paschaxiom nicht vorausgesetzt wird. Wir empfehlen hierzu
das Studium von Adler [3], Prestel [121], Szczerba [152], sowie Szczerba und Szmielew [153].
Axiome des Raumes
Peanos Axiomensystem wird abgerundet durch zwei räumliche Axiome.
Peanos Axiome des dreidimensionalen Raumes
Die Axiome der dreidimensionalen Raumes lauten wie folgt:
XV. A point can be found external to any plane.
XVI. Given any plane p, and any point A outside it, and any point Q on it, and any
point B on the prolongation A′ Q, then, if X is any other point, either X lies on the
plane p, or AX intersects the plane p, or BX intersects the plane p.
A
X2
Q
p
M
X1
L
X3
B
In der vorstehenden Skizze markieren X1 , X2 und X3 mögliche Positionen des in Frage stehenden
3.8. ANHÄNGE
165
Punktes X : nämlich X1 auf der Ebene p selbst; X3 auf derselben Seite der Ebene wie B, so dass
AX2 die Ebene p in einem Punkt L schneidet; und X2 auf derselben Seite der Ebene wie A, so
dass BX3 die Ebene p in einem Punkt M schneidet.
3.8.4 David Hilbert zum Aufbau der Mathematik
Hilberts Pariser Vortrag auf dem Internationalen Mathematiker-Kongress im Jahre 1900 zählt
zu den bedeutensten mathematikhistorischen Reden. Hilbert stellte hier 23 Probleme aus unterschiedlichen Bereichen der Mathematik vor, von denen er überzeugt war, dass die zu den jener
Zeit wichtigsten und zukunftsweisenden Problemen gehören. Über die Entstehungsgeschichte
dieses Vortrags findet sich viel Interessantes in H. Minkowskis Briefen an Hilbert, abgedruck in
Rüdenberg und Zassenhaus [133].
Im zweiten Punkt bespricht Hilbert die Widerspruchslosigkeit der arithmetischen Probleme.
Die Widerspruchslosigkeit der arithmetischen Probleme (Pariser Rede 1900)
Wenn es sich darum handelt, die Grundlagen einer Wissenschaft zu untersuchen, so hat
man ein System von Axiomen aufzustellen, welche eine genaue und vollständige Beschreibung derjenigen Beziehungen enthalten, die zwischen den elementaren Begriffen
jener Wissenschaft stattfinden. Die aufgestellten Axiome sind zugleich die Definitionen
jener elementaren Begriffe und jede Aussage innerhalb des Bereiches der Wissenschaft,
deren Grundlagen wir prüfen, gilt uns nur dann als richtig, falls sie sich mittelst einer
endlichen Anzahl logischer Schlüsse aus den aufgestellten Axiomen ableiten läßt. Bei
näherer Betrachtung entsteht die Frage, ob etwa gewisse Aussagen einzelner Axiome sich
untereinander bedingen und ob nicht somit die Axiome noch gemeinsame Bestandteile
enthalten, die man beseitigen muß, wenn man zu einem System von Axiomen gelangen
will, die völlig von einander unabhängig sind.
Vor Allem aber möchte ich unter den zahlreichen Fragen, welche hinsichtlich der Axiome gestellt werden können, dies als das wichtigste Problem bezeichnen, zu beweisen,
daß dieselben untereinander widerspruchslos sind, d.h. daß man auf Grund derselben
mittelst einer endlichen Anzahl von logischen Schlüssen niemals zu Resultaten gelangen
kann, die miteinander in Widerspruch stehen.
In der Geometrie gelingt der Nachweis der Widerspuchslosigkeit der Axiome dadurch,
daß man einen geeigneten Bereich von Zahlen construirt, derart, daß den geometrischen
Axiomen analoge Beziehungen zwischen den Zahlen dieses Bereiches entsprechen und
daß demnach jeder Widerspruch in den Folgerungen aus den geometrischen Axiomen
auch in der Arithmetik jenes Zahlenbereiches erkennbar sein müßte. Auf diese Weise wird also der gewünschte Nachweis für die Widerspruchslosigkeit der geometrischen
Axiome auf den Satz von der Widerspruchslosigkeit der arithmetischen Axiome zurückgeführt.
Zum Nachweis für die Widerspruchslosigkeit der arithmetischen Axiome bedarf es dagegen eines direkten Weges.
Die Axiome der Arithmetik sind im Wesentlichen nichts anderes als die bekannten Rechnungsgesetze mit Hinzunahme des Axiomes der Stetigkeit. Ich habe sie kürzlich zusammengestellt und dabei das Axiom der Stetigkeit durch zwei einfachere Axiome ersetzt,
nämlich das bekannte Archimedische Axiom und ein neues Axiom des Inhalts, daß die
Zahlen ein Sstem von Dingen bilden, welches bei Aufrechterhaltung der sämmtlichen
166
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
übrigen Axiome keiner Erweiterung mehr fähig ist. (Axiom der Vollständigkeit). Ich bin
nun überzeugt, daß es gelingen muß, einen direkten Beweis für die Widerspruchslosigkeit der arithmetischen Axiome zu finden, wenn man die bekannten Schlußmethoden der
Theorie der Irrationalzahlen im Hinblick auf das bezeichnete Ziel genau durcharbeitet
und in geeigneter Weise modificirt.
Um die Bedeutung des Problems noch nach einer anderen Rücksicht hin zu charakterisiren, möcht ich folgende Bemerkung hinzufügen. Wenn man einem Begriffe Merkmale
erteilt, die einander widersprechen, so sage ich: der Begriff existirt mathematisch nicht.
So existirt z. B. mathematisch nicht eine reelle Zahl, deren Quadrat gleich −1 ist. Gelingt es jedoch zu beweisen, daß die dem Begriffe erteilten Merkmale bei Anwendung
einer endlichen Anzahl von logischen Schlüssen niemals zu einem Widerspruche führen
können, so sage ich, daß damit die mathematische Existenz des Begriffes, z. B. einer
Zahl oder einer Function, die gewisse Forderungen erfüllt, bewiesen worden ist. In dem
vorliegenden Falle, wo es sich um die Axiome der reellen Zahlen in der Arithmetik handelt, ist der Nachweis für die Widerspruchslosigkeit der Axiome zugleich der Beweis für
die mathematische Existenz des Inbegriffs der reellen Zahlen oder des Continuums. In
der That, wenn der Nachweis für die Widerspruchslosigkeit der Axiome völlit gelungen
sein wird, so verlieren die Bedenken, welche bisweilen gegen die Existenz des Inbegriffs der reellen Zahlen gemacht worden sind, jede Berechtigung. Freilich der Inbegriff
der reellen Zahlen, d. h. das Continuum ist bei der eben gekennzeichneten Auffassung
nicht etwa die Gesammtheit aller möglichen Dezimalbruchentwicklungen oder die Gesammtheit aller möglichen Gesetze, nach denen, die Elemente einer Fundamentalreihe
forschreiten können, sondern ein System von Dingen deren gegenseitige Beziehungen
durch die aufgestellten Axiome geregelt werden und für welche alle und nur diejenigen Thatsachen wahr sind, die durch eine endliche Anzahl logischer Schlüsse aus den
Axiomen gefolgert werden können. Nur in diesem Sinne ist meiner Meinung nach der
Begriff des Continuums streng logisch faßbar. Thatsächlich entspricht er auch, wie mir
scheint, so am besten dem, was die Erfahrung und Anschauung uns giebt. Der Begriff
des Continuums oder auch der Begriff des Systems aller Functionen existirt dann in
genau demselben Sinne wie etwas das System der ganzen rationalen Zahlen oder auch
wie die höheren CANTORschen Zahlklassen und Mächtigkeiten. Denn ich bin überzeugt, daß auch die Existenz der letzteren in dem von mir bezeichneten Sinne ebenso
wie die des Continuums wird erwiesen werden können – im Gegensatz zu dem System
aller Mächtigkeiten überhaupt oder auch aller CANTORschen Alephs, für welches, wie
sich zeigen läßt, ein widerspruchsloses System von Axiomen in meinem Sinne nicht
aufgestellt werden kann und welches daher nach meiner Bezeichnungsweise ein mathematisch nicht existirender Begriff ist.
Seine Ideen und Vorstellungen von der Axiomatisierung der Mathematik und der Physik legte
Hilbert am 11. September 1917 vor einer Tagung der Schweizerischen Mathematischen Gesellschaft dar. Was ist unter Axiomen und beweisbaren Sätzen zu verstehen? Was bedeuten Unabhängigkeit und Widerspruchsfreiheit? Hilbert zieht einen großen Bogen von den Anfängen
der Euklidischen Geometrie bis zur Zahlentheorie, Mengenlehre und mathematischen Logik,
was tatsächlich auch die Kernidee unserer Vorlesung klar umreißt.
Aus dieser Rede wollen wir nun zitieren:
3.8. ANHÄNGE
167
Axiomatisches Denken (Vortrag vor der Schweizerischen Mathematischen Gesellschaft
in Zürich 1917)
Wenn wir eine bestimmte Theorie näher betrachten, so erkennen wir allemal, daß der
Konstruktion des Fachwerkes von Begriffen einige wenige ausgezeichnete Sätze des
Wissensgebietes zugrunde liegen und diese dann allein ausreichen, um aus ihnen nach
logischen Prinzipien das ganze Fachwerk aufzubauen.
So genügt in der Geometrie der Satz von der Linearität der Gleichung der Ebene und
von der orthogonalen Transformation der Punktkoordinaten vollständig, um die ganze
ausgedehnte Wisenschaft der Euklidischen Raumgeometrie allein durch die Mittel der
Analysis zu gewinnen . . .
Diese grundlegenden Sätze können von einem ersten Standpunkte aus als die Axiome
der einzelnen Wissensgebiete angesehen werden: die fortschreitende Entwicklung des
einzelnen Wissensgebietes beruht dann lediglich in dem weiteren logischen Ausbau des
schon aufgeführten Fachwerkes der Begriffe . . .
In der Tat machte sich in den einzelnen Wissensgebieten das Bedürfnis geltend, die
genannten, als Axiome angesehenen und zugrunde gelegten Sätze selbst zu begründen.
So gelangte man zu Beweisen“ für die Linearität der Gleichung der Ebene und die
”
Orthogonalität der eine Bewegung ausdrückenden Transformation . . .
Aber die kritische Prüfung dieser Beweise“ läßt erkennen, daß sie nicht an sich Be”
weise sind, sondern im Grunde nur die Zurückführung auf gewisse tiefer liegende Sätze
ermöglichen, die nunmehr ihrerseits an Stelle der zu beweisenden Sätze als neue Axiome
anzusehen sind. So entstanden die eigentlichen heute sogenannten Axiome der Geometrie . . . Soll die Theorie eines Wissensgebietes, d.h. das sie darstellende Fachwerk der
Begriffe, ihrem Zwecke, nämlich der Orientierung und Ordnung dienen, so muß es vornehmlich gewissen zwei Anforderungen genügen: erstens soll es einen Überblick über
die Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit der Sätze der Theorie und zweitens eine Gewähr
der Widerspruchslosigkeit aller Sätze der Theorie bieten. Insbesondere sind die Axiome
einer jeden Theorie nach diesen beiden Gesichtspunkten zu prüfen . . .
Das klassische Beispiel für die Prüfung der Unabhängigkeit eines Axioms bietet das
Parallelenaxiom in der Geometrie. Die Frage, ob der Parallelensatz durch die anderen
Axiome schon bedingt ist, verneinte Euklid, indem er ihn unter die Axiome setzte. Die
Untersuchungsmethode Euklids wurde vorbildlich für die axiomatische Forschung, und
seit Euklid ist zugleich die Geometrie das Musterbeispiel für eine axiomatische Wissenschaft überhaupt.
Besonderes Interesse für die axiomatische Behandlung bietet die Frage der Abhängigkeit der Sätze eines Wissensgebietes von dem Axiom der Stetigkeit.
In der Theorie der reellen Zahlen wird gezeigt, daß das Axiom des Messens, das sogenannte Archimedische Axiom, von allen übrigen arithmetischen Axiomen unabhängig
ist. Diese Erkenntnis ist bekanntlich für die Geometrie von wesentlicher Bedeutung,
scheint mir aber auch für die Physik von prinzipiellem Interesse; denn sie führt uns
zu folgendem Ergebnis: die Tatsache, daß wir durch Aneinanderfügen irdischer Entferungen die Dimensionen und Entfernungen der Körper im Weltenraume erreichen, d.h.
durch irdisches Maß die himmlischen Längen messen können, ebenso die Tatsache, daß
sich die Distanzen im Atominneren durch das Metermaß ausdrücken lassen, sind keineswegs bloß eine logische Folge der Sätze über Dreieckskongruenzen und der geometrischen Konfigurationen, sondern ein Forschungsresultat der Empirie. Die Gültigkeit des
Archimedischen Axioms in der Natur bedarf eben im bezeichneten Sinne gerade so der
168
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
Bestätigung durch das Experiment wie etwa der Satz von der Winkelsumme im Dreieck
im bekannten Sinne . . .
Wir wollen nun den zweiten der vorhin genannten Gesichtspunkte, nämlich die Frage nach der Widerspruchslosigkeit der Axiome prüfen; diese ist offenbar von höchster
Wichtigkeit, weil das Vorhandensein eines Widerspruchs in einer Theorie offenbar den
Bestand der ganzen Theorie gefährdet.
Oftmals passiert es, daß die innere Widerspruchslosigkeit einer Theorie als selbstverständlich angesehen wird, während in Wahrheit tiefe mathematische Entwicklungen
zu dem Nachweise nötig sind . . .
Wie man aus dem bisher Gesagten ersieht, wird in den physikalischen Theorien die
Beseitigung sich einstellender Widersprüche stets durch veränderte Wahl der Axiome
erfolgen müssen, und die Schwierigkeit besteht darin, die Auswahl so zu treffen, daß alle
beobachteten physikalischen Gesetze logische Folge der ausgewählten Axiome sind.
Anders verhält es sich, wenn in rein theoretischen Wissensgebieten Widersprüche auftreten. Das klassische Beispiel für ein solches Vorkommnis bietet die Mengentheorie,
und zwar insbesondere das schon auf C ANTOR zurückgehende Paradoxon der Menge
aller Mengen. Dieses Paradoxon ist so schwerwiegend, daß sehr angesehene Mathematiker, z.B. K RONECKER und P OINCAR É , sich durch dasselbe veranlaßt fühlten, der
gesamten Mengentheorie – einem der fruchtreichsten und kräftigsten Wissenszweige
der Mathematik überhaupt – die Existenzberechtigung abzusprechen.
Auch bei dieser prekären Sachlage brachte die axiomatische Methode Abhilfe. Es gelang Z ERMELO , indem er durch Aufstellung geeigneter Axiome einerseits die Willkür
der Definitionen von Mengen und andererseits die Zulässigkeit von Aussagen über ihre Elemente in bestimmter Weise beschränkte, die Mengentheorie derart zu entwickeln,
daß die in Rede stehenden Widersprüche wegfallen, daß aber trotz der auferlegten Beschränkungen die Tragweite und Anwendungsfähigkeit der Mengentheorie die gleiche
bleibt.
In allen bisherigen Fällen handelte es sich um Widersprüche, die sich im Verlauf der
Entwicklung einer Theorie herausgestellt hatten und zu deren Beseitigung durch Umgestaltung des Axiomensystems die Not drängte. Aber es genügt nicht, vorhandene Widersprüche zu vermeiden, wenn der durch sie gefährdete Ruf der Mathematik als Muster
strengster Wissenschaft wiederhergestellt werden soll: die prinzipielle Forderung der
Axiomenlehre muß vielmehr weitergehen, nämlich dahin, zu erkennen, daß jedesmal
innerhalb eines Wissensgebietes auf Grund des aufgestellten Axiomensystems Widersprüche überhaupt unmöglich sind.
Dieser Forderung entsprechend habe ich in den Grundlagen der Geometrie die Widerspruchslosigkeit der aufgestellten Axiome nachgewiesen, indem ich zeigte, daß jeder
Widerspruch in den Folgerungen aus den geometrischen Axiomen notwendig auch in
der Arithmetik des Systems der reellen Zahlen erkennbar sein müßte . . .
Auch die Frage der Widerspruchslosigkeit des Axiomensystems für die reellen Zahlen
läßt sich, durch Benutzung mengentheoretrischer Begriffe, auf die nämliche Frage für
die ganzen Zahlen zurückführen: dies ist das Verdienst der Theorien der Irrationalzahlen
von W EIERSTRASS und D EDEKIND .
Nur in zwei Fällen nämlich, wenn es sich um die Axiome der ganzen Zahlen selbst
und wenn es sich um die Begründung der Mengenlehre handelt, ist dieser Weg der
Zurückführung auf ein anderes spezielleres Wissensgebiet offenbar nicht gangbar, weil
es außer der Logik überhaupt keine Disziplin mehr gibt, auf die alsdann eine Berufung
möglich wäre.
3.8. ANHÄNGE
169
Da aber die Prüfung der Widerspruchslosigkeit eine unabweisbare Aufgabe ist, so
scheint es nötig, die Logik selbst zu approximieren und nachzuweisen, daß Zahlentheorie sowie Mengenlehre nur Teile der Logik sind.
Dieser Weg, seit langem vorbereitet – nicht zum mindesten durch die tiefgehenden Untersuchungen von F REGE – ist schließlich am erfolgreichsten durch den scharfsinnigen
Mathematiker und Logiker RUSSELL eingeschlagen worden. In der Vollendung dieses
großzügigen Russellschen Unternehmens der Axiomatisierung der Logik könnte man
die Krönung des Werkes der Axiomatisierung überhaupt erblicken.
Diese Vollendung wird indessen noch neuer und vielseitiger Arbeit bedürfen. Bei näherer Überlegung erkennen wir nämlich bald, daß die Frage der Widerspruchslosigkeit bei
den ganzen Zahlen und Mengen nicht eine für sich alleinstehende ist, sondern einem
großen Bereiche schwierigster erkenntnistheoretischer Fragen von spezifisch mathematischer Färbung angehört: ich nenne, um diesen Bereich von Fragen kurz zu charakterisieren, das Problem der prinzipiellen Lösbarkeit einer jeden mathematischen Frage,
das Problem der nachträglichen Kontrollierbarkeit des Resultates einer mathematischen
Untersuchung, ferner die Frage nach dem Verhältnis zwischen Inhaltlichkeit und Formalismus in Mathematik und Logik und endlich das Problem der Entscheidbarkeit einer
mathematischen Frage durch eine endliche Anzahl von Operationen . . .
Unter den genannten Fragen ist die letzte, nämlich die Frage nach der Entscheidbarkeit
durch eine endliche Anzahl von Operationen, die bekannteste und die am häufigsten
diskutierte, weil sie das Wesen des mathematischen Denkens tief berührt . . .
Alle solchen prinzipiellen Fragen, wie ich sie vorhin charakterisierte und unter denen die
eben behandelte Frage nach der Entscheidbarkeit durch endlich viele Operationen nur
die letztgenannte war, scheinen mir ein wichtiges, neu zu erschließendes Forschungsfeld
zu bilden, und zur Eroberung dieses Feldes müssen wir – das ist meine Überzeugung –
den Begriff des spezifisch mathematischen Beweises selbst zum Gegenstand einer Untersuchung machen, gerade wie ja auch der Astronom die Bewegung seines Standortes
berücksichtigen, der Physiker sich um die Theorie seines Apparates kümmern muß und
der Philosoph die Vernunft selbst kritisiert.
Die Durchführung dieses Programms ist freilich gegenwärtig noch eine ungelöste Aufgabe . . .
3.8.5 Quellenstudium: Freudenthals Kritik
Im Jahr 1957 publizierte Freudenthal [48] besonders lesenswerte, tiefgründige, aber auch kritisch zu lesende Kommentare zu Hilberts Grundlagen der Geometrie. Anhand der zu jener Zeit
vorhandenen Quellen und inhaltlicher Vergleiche dieser mit Hilberts Werk versucht Freudenthal
aufzuarbeiten, wie es Hilberts ‘Grundlagen’, kaum 20 Jahre später, gelang, vor allem PASCHs“
”
Vorlesungen über neuere Geometrie, aber auch verschiedene Arbeiten italienischer Geometer,
insbesondere von Peano, zu verdunkeln.“ Aus diesen Kommentaren wollen wir ausgewählte
”
Passagen vortragen.
Wir beginnen mit Freudenthals einleitenden Worten.
170
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
H. Freudenthal [48], Einleitung
Mir ist in der höheren Mathematik kein Buch bekannt, das in gut fünfzig Jahren acht
Auflagen erlebt hat (und in der höheren geometrischen textbook“-Literatur wüßte ich
”
nur eines, A. M. L EGENDRE , Elements de géométrie, mit mindestens 12 französischen
Auflagen). Wie kaum ein anderer Mathematiker kann H ILBERT mit seinem antiken Kollegen E UKLID wetteifern. Auch die Elemente“ kannten Revisionen und Ergänzun”
”
gen“. Zu E UKLIDS dreizehn Büchern haben Spätere zwei hinzugedichtet, während H IL BERT es zeitlebens auf zehn Anhänge gebracht hat. Was die Revisoren (oder Rezenso”
ren“) angestellt haben, ist bei E UKLID schwieriger festzustellen als bei Hilbert, dessen
acht Auflagen man ja noch nebeneinander legen kann. Worauf E UKLID aufbaute und
was er selber leistete – diese Frage zu beantworten, erfordert delikate historische Untersuchungen. Liest man historische Bemerkungen zu den Grundlagen der Geometrie in
allerlei modernen Aufsätzen und Büchern, so könnte man manchmal beinahe meinen,
dass es nicht weniger schwer ist, etwas Sicheres über die Entwicklung der Geometrie in
den letzten hundert Jahren auszusagen.
Eine bemerkenswerte Passage handelt von Hilberts Beweis zur Kongruenz der rechten Winkel.
War dieser Beweis zu Hilberts Zeiten bereits bekannt?
H. Freudenthal über die Kongruenz rechter Winkel, S. 121f.
Schon in der 1. Aufl., die soviel Beweise übergeht, findet man einen recht ausführlichen Beweis für den Satz: Alle rechten Winkel sind einander congruent. (8. Aufl. S. 23.)
Davor liest man: Auf Grund der Sätze 12 und 13 gelingt der Nachweis des folgenden
”
einfachen Satzes, den Euklid – meiner Meinung nach mit Unrecht – unter die Axiome
gestellt hat: Alle rechten Winkel sind einander congruent“. Man kann sich kaum des
Eindrucks erwehren, dass H ILBERT auf diesen Beweis besonders stolz war, und wiederholt habe ich ihn von anderen als eine besondere Leistung H ILBERT s erwähnt gefunden.
Nun sind Satz und Beweis in Wirklichkeit eine Trivialität, was in den ersten Auflagen
allerdings durch den unbeholfenen Aufbau der Kongruenzlehre (ohne Grössenbeziehungen für Winkel) etwas verschleiert wird. In späteren Auflagen (7.) wird der Satz dann
auch in wenigen Worten bewiesen. Zu dem Satz gehört nun von der 2. oder 3. Auflage an eine Fussnote: Th. Vahlen bemerkt in seinem Buche Abstrakte Geometrie“, dass
”
”
bereits Legendre diesen Satz bewiesen hat. Doch setzt Legendre voraus, dass die Winkel
ein stetiges Grössensystem bilden.“
Das ist nun wirklich erstaunlich. Offenbar hat seit einem Halbjahrhundert kein Mathematiker mehr die Eléments de Géométrie von A. M. L EGENDRE aus der Bibliothek
geholt und aufgeschlagen. H ILBERTS Behauptung ist nämlich einfach falsch. Der Satz
von der Gleichheit der rechten Winkel ist Nummer 1 in Legendres Buch, und der Beweis ist genau derselbe wie der in den späteren Auflagen der Grundlagen“. Wie wird
”
H ILBERT zu einer solchen Behauptung gekommen sein? Man kann das einigermassen
rekonstruieren. Natürlich hat H ILBERT nicht bei Legendre nachgeschlagen. Denn was
von Legendre interessant war, das wusste er schon. Das waren die zwei Legendreschen
Sätze, die auch in späteren Auflagen der Grundlagen aufgenommen wurden, der Satz,
dass die Winkelsumme im Dreieck zwei Rechte nicht übertrifft, und der Satz, dass die
Winkelsumme entweder in allen Dreiecken oder in keinem zwei Rechte ist. Beim Beweis dieser Sätze (ebenso wie bei Legendres falschen Beweisen des Parallelenaxioms)
3.8. ANHÄNGE
171
wird nun ausgiebig das Archimedische Axiom verwandt. Durch diese Erinnerung hat
H ILBERT sich offenbar täuschen lassen. (Wohl wäre denkbar, dass unter den zahlreichen Auflagen von Legendres Buch doch noch eine existiert, in der er die Gleichheit der
rechten Winkel aus einem Stetigkeitsaxiom herleitet, aber ich kann mir garnicht vorstellen, wie er das hätte machen können.)
Ich behauptet übrigens keineswegs, dass die Priorität nun Legendre gebührt. Im Gegenteil: ich fand in der Euklid-Ausgabe des Calvius von 1607 auch einen – etwas zu
komplizierten – Beweis der Gleichheit der rechten Winkel, auch ohne Stetigkeitsvoraussetzungen. Man müsste übrigens noch die antiken Kommentatoren daraufhin nachsehen.
Natürlich bleibt die Frage offen, warum Euklid einen so einfach zu beweisenden Satz
zum Axiom oder Postulat erhoben habe. Die Frage ist eigentlich noch komplizierter: Wie
konnte Euklid, der sonst in solchen Sachen ganz unkritisch war, auf die Idee kommen,
die Gleichheit der rechten Winkel ausdrücklich (als Axiom oder sonstwie) zu erwähnen?
Über dies Problem ist schon so viel geschrieben und vermutet, dass das Bedürfnis an
einer neuen Erklärung nicht sehr dringend ist. Ich habe mir auch eine zurecht gelegt, die
mir – selbstredend – besonders einleuchtet; da sie zuviel Raum erfordert, werde ich sie
anderswo mitteilen.
Auch über Hilberts Stetigkeitsaxiomen, die uns in diesem und dem vorigen Kapitel beschäftigt
haben und auch noch beschäftigen werden, wollen wir Freudenthals Kritik vortragen.
Aus Sicht einer reinen Methodenlehre“, wie Hilbert sich ausdrückte, wie aus formal-logischen
”
Gründen, wie wir sie später ansprechen werden, ist es wünschenswert, die Geometrie möglichst
ohne Stetigkeitsaxiome aufzubauen. Innerhalb der Analysis besteht dieser Wunsch jedoch nicht.
H. Freudenthal über die Stetigkeitsaxiome, S. 117f.
. . . Will man aber umgekehrt das zähe Leben von Traditionen bewundern, so soll man
sich die 5. Axiomgruppe ansehen mit der Überschrift Axiome der Stetigkeit“. In der
”
geometrischen Axiomatik spricht man auch heute noch von Stetigkeitsaxiomen, wiewohl man anderswo schon lange den Doppelsinn des Wortes stetig“, der soviel Unheil
”
gestiftet hat (siehe K LEIN) vermeidet und, wenn es sich nicht um Abbildungen, sondern
um Mengen handelt, von Kompaktheit, Zusammenhang, usw. redet, je nachdem was
man eigentlich meint.
Das zweite H ILBERT sche Stetigkeitsaxiom heisst das der Vollständigkeit. Eine Forderung wie die dort ausgesprochene nennt man heute Maximalität“. ( Vollständigkeit“ hat
”
”
viele irregeführt, die an vollständige Axiomensysteme erinnert wurden.) Dies unglückselige Axiom fehlt in der 1. Auflage, es taucht zuerst in der französischen Auflage auf
(Ann. E. N. S. (3) 17 (1900)) und ist trotz wiederholter (auch sachlicher) Änderungen
immer wieder logisch defekt formuliert worden. Ursprünglich heisst es:
Die Elemente (Punkte, Geraden, Ebenen) der Geometrie bilden ein System von Dingen,
welches bei Aufrechterhaltung sämtlicher genannten Axiome keiner Erweiterung mehr
fähig ist, d.h.: zu dem System der Punkte, Geraden, Ebenen ist es nicht möglich, ein
anderes System von Dingen hinzuzufügen, so dass in dem durch Zusammensetzung
entstehenden System sämtliche aufgeführten Axiome I-IV, V 1 erfüllt sind.
In dieser Formulierung war es obendrein irreführend, da ungeübte Leser meinten, es
solle die Dimension der Geometrie beschränken. In der letzten Auflage lautet es (auf
172
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
lineare Vollständigkeit beschränkt): Das System der Punkte einer Geraden mit seinen
Anordnungs- und Kongruenzbeziehungen ist keiner solchen Erweiterung fähig, bei welcher die zwischen den vorigen Elementen bestehenden Beziehungen sowie auch die aus
den Axiomen I–III folgenden Grundeigenschaften der linearen Anordnungen und Kongruenz, und V I erhalten bleiben.
Immer noch wird versäumt, zuzulassen, dass der Definitionsbereich der (Anordnungsund Kongruenz-) Relationen bei den zur Konkurrenz zugelassenen grösseren Geometrie
grösser sei.
Es lohnt, glaube ich, die Mühe, sich die Entwicklung des mathematischen Stils auch
an diesem Beispiel klar zu machen. Wie würde man das heute formulieren? Es haben
sich für so etwas Kunstgriffe herausgebildet, von denen man kaum sagen kann, wer sie
erfunden hat. Man definiere, was eine Geometrie ist – dazu gehört eine Menge M von
Dingen und eine Menge von Relationen zwischen den Dingen, mit gewissen Eigenschaften (Axiomen). Nun definiere man Verengung auf eine Teilmenge M ′ von M“: M wird
”
durch M ′ ersetzt und die Relationen werden auf M ′ eingeschränkt. Bleiben die Axiome
gültig, so heisst die Verengung eine Untergeometrie der gegebenen; die ursprüngliche
heisst Obergeometrie der neuen. Vollständig, oder lieber maximal, heisst dann eine Geometrie, die mit ihren Obergeometrien zusammenfällt . . .
Die sogen. Stetigkeitsaxiome werden von H ILBERT eingeführt, um zu zeigen, dass sie
eigentlich entbehrlich sind. In der 1. Aufl. stand da nur das Achimedische Axiom, das
durch die Tradition gegeben war, aber als topologisches Axiom heutzutage kaum befriedigen kann: es setzt ja die Anordnungsaxiome voraus, die die Möglichkeiten von
vornherein zu empfindlich einschränken. Dazu kommt noch etwas: Das Archimedische
Axiom ist, wie man es in der Grundlagenforschung ausdrückt, nicht elementar: als einziges im ganzen Axiomensystem spricht es wesentlich von natürlichen Zahlen, indem
es einen Quantor enthält, der über die natürlichen Zahlen läuft. Eine Geometrie mit
dem Archimedischen Axiom muss also unentscheidbar bleiben, während man bei anderer Wahl der Stetigkeitsaxiome eine entscheidbare Geometrie erhält. (Siehe hierzu A.
Tarski, A decision method for elementary algebra and geometry, 2nd. ed. 1951.) Die von
der Topologie her naheliegende Form des Stetigkeitsaxioms ist die Forderung der lokalen Kompaktheit, aber dann ohne Anordnungsaxiome. Die Resultate von D. v. Dantzig
und L. Pontrjagin (Diss Groningen 1931, resp. Annals of Math. 33 (1932)) über lokal
kompakte Körper legen diesen Aufbau nahe. Für ein so singuläres Instrument wie das
sogen. Vollständigkeitsaxiom hat man in diesem Zusammenhang natürlich keine Verwendungsmöglichkeit. Der Anschluss an die Entwickelung in der Topologie ist einer
jener Anschlüsse, den H ILBERT s Grundlagen“, trotz allmählicher Weiterbildung im
”
Laufe der verschiedenen Auflagen, versäumt haben und wohl auch nicht wiederherstellen können; davon zeugt die Zitatensammlung am Ende des ersten Kapitels.
Ein zentraler Punkt, aber nicht der einzige, in Hilberts Buch ist natürlich die Frage, wie Geometrie vollständig axiomatisiert dargelegt werden kann. Auch hierzu äußert sich Freudenthal
kritisch und lädt dabei zum eigenen, selbstständigen Studium der historischen Arbeiten ein. Er
stellt aber auch, ohne es auszusprechen, die Frage nach unserer heutigen Auffassung zum Wechselspiel zwischen der Mathematik und der Realität.
3.8. ANHÄNGE
173
H. Freudenthal über axiomatische Mathematik, S. 111f.
Von altersher war ein Axiom eine evidente Wahrheit, die nicht bewiesen werden kann,
aber auch nicht bewiesen zu werden braucht. Wer an die Evidenz eines Axioms nicht
glauben wollte, nannte es ein Postulat oder sprach wie R IEMANN in seiner Antrittsvorlesung von Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen“ oder wie H ELM ”
HOLTZ von Tatsachen, die der Geometrie zum Grunde liegen“. Ob die Axiome, wie bei
”
K ANT, aus der reinen Anschauung stammen, ob und wieweit sie idealisierte Erfahrung
(H ELMHOLTZ oder hypothetisches Urteil über die Wirklichkeit (R IEMANN) sind – das
ist immer wieder eine Streitfrage. Aber kein Geometer oder Philosoph zweifelt daran,
dass die Geometrie vom wirklichen Raume handelt und seine Eigenschaften untersucht
– PASCH, E NRIQUES, V ERONESE , P IERI, K LEIN, sie alle betonen es, und kurz vor
Toresschluss schreibt B. RUSSELL (An Essay on Foundations of Geometry 1897) noch
eine Philosophie, in der wohl K ANT s verwehte Fussstapfen, aber noch keine Spuren von
der Tatze des Löwen sichtbar sind.
Wir denken uns drei verschiedene Systeme von Dingen . . .“ – damit ist die Nabelschnur
”
zwischen Realität und Geometrie durchgeschnitten. Die Geometrie ist reine Mathematik
geworden, und die Frage, ob und wie sie auf die Wirklichkeit angewandt werden kann,
beantwortet sich bei ihr ganz wie bei irgendeinem anderen Zweige der Mathematik. Die
Axiome sind nicht mehr evidente Wahrheiten, ja es hat nicht einmal mehr Sinn, nach
ihrer Wahrheit zu fragen.
Man sollte sagen, dieser Gedanke habe damals in der Luft gelegen. Nachdem PASCH
Ernst gemacht hatte mit der strengen Deduktivität, nachdem nicht-Euklidische, nichtDesarguessche, nicht-Archimedische und endliche Geometrien erschienen waren, hätte
man sagen sollen, dass es endlich soweit war. Wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, hätte es ein Italiener sein müssen, der als erster dem neuen Gedanken das Wort
verliehe, denn nirgendwo ist man ihm so nahe wie in den Arbeiten jener Schule. Doch
kommt A. PADOA ein Jahr zu spät, wenn er – offenbar unabhängig von H ILBERT – alles
Wesentliche zur Idee der Axiomatik ausspricht (Bibl. Congrés Intern. de Philos. 1900;
C.r. du 2 éme congrés intern. des math. 1900), mit voller Klarheit und ausdrücklicher,
als H ILBERT es jemals getan hat. Aber auch PADOA wird von H ILBERT überschattet,
denn die Grundlagen“ enthalten eben soviel mehr als nur die Einsicht in das Wesen der
”
Axiomatik.
Was bei PADOA ausdrücklich formuliert wird, schimmert oft bei H ILBERT nur durch das
Dickicht der echt mathematischen Tatsachen, so z.B. die Idee der impliziten Definition,
vielen damals ein logisches Monstrum und Ärgernis. H ILBERT spricht nicht von impliziter Definition. Aber die Axiome der Anordnung leitet er ein mit den Worten: Die
”
Axiome dieser Gruppe definieren den Begriff ’zwischen’ . . .“Und nochmals, bei den
Kongruenzaxiomen: Die Axiome dieser Gruppe definieren den Begriff der Congruenz
”
oder der Bewegung“. Schon in der Fassung von 1894 kann man hinterdrein diese Idee
erkennen, aber damals merkte es noch niemand . . .
Auch G. F REGE wendet sich nach einer Korrespondenz gegen H ILBERT (Jahresbericht
DMV 12 (1903)): Von altersher nennt man ein Axiom einen Gedanken, dessen Wahr”
heit feststeht, ohne jedoch durch eine logische Schlusskette bewiesen werden zu können
. . . Nie darf etwas als Definition hingestellt werden, was eines Beweises oder der Anschauung zur Begründung seiner Wahrheit bedarf. Andererseits können Grundsätze und
Lehrsätze nie die Bedeutung eines Wortes oder Zeichens erst feststellen wollen“. Er”
fahren wir hierdurch, wann die Beziehung des Zwischenliegens stattfindet? Nein, son-
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
174
dern umgekehrt, wenn wir diese Beziehung erfasst haben, erkennen wir die Wahrheit
der Axiome“. H ILBERT s Axiomensystem ist ein Gleichungssystem mit vielen Unbekannten, das man nicht lösen kann. Wenn wir die Frage beantworten wollen, ob ein
”
Gegenstand – z.B. meine Taschenuhr – ein Punkt sei, stossen wir gleich beim ersten
Axiom auf die Schwierigkeit, dass da von zwei Punkten die Rede ist . . .“ F REGE pardodiert Hilbert: Erklärung. Wir denken uns Gegenstände, die wir Götter nennen. Axiom
”
1. Jeder Gott ist allmächtig. Axiom 2. Es gibt wenigstens einen Gott.“
Frege konnte es kaum plastischer sagen. Bis H ILBERT hatten die Mathematiker sich
wirklich benommen, als könnten sie mathematisch feststellen, ob Freges Taschenuhr
ein Punkt sei. Und Axiomensysteme von der Art des gerügten hat es wirklich gegeben
(S PINOZA), solang man meinte, dass die Geometrie etwas über die Realität aussage.
H ILBERTS Auffassung hat sich durchgesetzt.
An dieser Stelle wollen wir Toepell [159] hinzuziehen, für uns sicher die wichtigste mathematikhistorische Quelle zu Hilberts Werk, die eben Freudenthal nicht zur Verfügung stand. Dieser
Quelle folgend, findet sich in einem Brief an Hurwitz vom 13.6.1894:
Von meinem Colleg über Axiome der Geometrie bin ich übrigens, wenigstens augenblicklich, gar nicht sehr erbaut. Immer dieselbe Sache, ob man dies oder jenes
als Axiom nehmen soll und ein und derselbe trockene Ton ohne die lebendige Frische neuer Resultate.
Und am 17.7.1894 schreibt er an Lindemann:
Etwas Unbefriedigendes scheint mir bei der Aufstellung der Axiome immer noch
in dem Unstande zu liegen, dass man bei der Auswahl der Axiome eine gewisse
Willkür walten läßt und kein rechtes Princip vorhanden ist, warum man nicht lieber
gewisse einfache Folgerungen als Axiome nimmt und umgekehrt.
Diese Punkt ist wichtig: Hilbert sah in erster Linie nicht die geometrischen Elemente (Punkt,
Gerade, Ebene), nach denen sich die Auswahl und Reihenfolge der Axiome zu orientieren hatte,
wie wir es bei Euklid gesehen haben, und wie es auch bei Pasch zu wiederfinden ist, sondern es
sind die zwischen diesen Elementen wirkenden Relationen in den Mittelpunkt zu stellen.
Diese Situation stellte sich also Hilbert unmittelbar nach seiner im Sommersemester 1894 gehaltenen Vorlesungen Die Grundlagen der Geometrie“, welche zunächst, dem damaligen Zeitgeist
”
entsprechend, die projektive Geometrie ins Zentrum der Untersuchungen stellte, aber bereits
deutlich die spätere Handschrift Hilberts zu erkennen lässt.
Und natürlich wollen wir nicht vergessen vorzutragen, mit welcher mathematikhistorischen und
erkenntnistheoretischen Aufgabe uns H. Freudenthal entlässt:
H. Freudenthal, Abschluss, S. 141f.
Bei aller Vielseitigkeit von Anregungen, die man H ILBERT s Grundlagen“ verdankt,
”
kann ein Aufsatz, der diese Anregungen aufzählt, keinen Überblick über die Geschichte der Grundlagen der Geometrie in diesem Jahrhundert gewähren. Sucht man z.B. die
Wurzel der Spiegelungsgeometrie (die elementaren Figuren werden durch Spiegelungen
charakterisiert), so muss man zu H. W IENER und nicht zu H ILBERT zurückgehen. V.
3.8. ANHÄNGE
175
N EUMANNs verbandstheoretische Behandlung der projektiven Geometrien verrät ganz
andere als geometrische Ursprünge. Vielleicht hätte ich mehr Aufmerksamkeit der Axiomatik der topologischen Räume schenken sollen, die Poincaré in H ILBERT s Grundla”
gen“ vermisste, und die später – sicher unter dem Einfluss der Hilbertschen Axiomatik
– von anderen nachgeholt wurde. Dass der Axiomatik der Algebra in den Grundlagen“
”
vorgearbeitet wurde habe ich erwähnt. Dass zu einer grundlagentheoretischen Behandlung der allgemeinen Riemannschen Geometrie (bis auf einen Waldschen Satz) fast noch
alles fehlt, ist verwunderlich. Dagegen hätte ich mich mit einer papiernen Aufzählung
begnügen müssen, wenn ich vollständig hätte angeben wollen, was man seit den Arbeiten von R. M OUFANG über die Schliessungssätze weiss.
H ILBERTS Grundlagen“ haben sich in 8 Auflagen weiter entwickelt, wenn auch in be”
scheidenem Masse. Diese Geschichte ist nun wohl abgeschlossen, wie es eines schönen
Tages auch die von E UKLIDs Elementen war. Aber von E UKLIDs Elementen kann man
lernen, was man nun vielleicht mit H ILBERT s Grundlagen“ machen üsste: sie kommen”
tieren. Solch eine Tätigkeit steht heutzutage nicht in grossem Ansehen. Man überlässt
sie gerne Historikern. Das sollen dann Leute sein, die sich einer Wissenschaft erbarmen,
wenn sie mausetot ist. Wenn man das als Kriterium gelten lässt, ist es allerdings für
H ILBERT s Grundlagen“ noch zu früh.
”
3.8.6 Quellenstudium: Freges Kritik an Hilberts Axiomatik
3.8.7 Quellenstudium: Kritik des Beweises von Proposition I.4
In Paragraph 3.3.1 sind wir bereits auf die Kritik des Beweises von Proposition I.4 der Elemente
eingegangen, der das nicht zulässige Bewegen und Übereinanderlegen von Dreiecken verwendet.
Wir wollen in diesem Anhang verschiedene Literaturquellen vorstellen, in welchen diese Kritik
deutlich wird.
Wir beginnen mit einem farbenfrohen Auzug aus Russells The principles of mathematics.
B. Russell: The principles of mathematics [134], S. 405
390. The fourth proposition ist the first in which Euclid employs the method of superposition – a method which, since he will make any détour to avoid it, he evidently dislikes,
and rightly, since it has no logical validity, and strikes every intelligent child as a juggle. In the first place, to speak of motion implies that our triangles are not spatial, but
material. For a point of space is a position, and can no more change its position than the
leopard can change his spots. The motion of a point of space is a phantom directly contradictory to the law of identity: it is the supposition that a given point can be now one
point and now another. Hence motion, in the ordinary sense, is only possible to matter,
not to space. But in this case superposition proves no geometrical property. Suppose that
the triangle ABC is by the window, and the side AB consists of the column of mercury
in a thermometer; suppose also that DEF is by the fire. Let us apply ABC to DEF as
Euclid directs, and let AB just cover DE. Then we are to conclude that ABC and DEF,
before motion, were equal in all respects. But if we had brought DEF to ABC, no such
result would have followed. But how foolish! I shall be told; of course ABC and DEF
176
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
are to be both rigid bodies. Well and good. But two little difficulties remain. In the first
place – and for my opponent, who is an empirical philosopher, this point is serious – it is
as certain as anything can be that there are no rigid bodies in the universe. In the second
place – and if my opponent were not an empiricist, he would find this objection far more
fatal – the meaning of rigidity presupposes a purely spatial metrical equality, logically
independent of matter. For what is meant by a rigid body? It is one which, throughout
a continuous portion of time, preserves all its metrical properties unchanged. Hence we
incur a most fatally vicious circle if we attempt to define metrical properties by rigidity.
If αβ γ be a material triangle, which occupies at one time the space ABC, at another
the space A′ B′C′ , to say that αβ γ is rigid means that, however the two times be chosen
(within some assigned period), the triangles ABC, A′ B′C′ are equal in all respects. If we
are to avoid this conclusion, we must define rigidity in some wholly non-geometrical
manner. We may say, for example, that a rigid body means one whichis made of steel,
or of brass. But then it becomes a logical error to regard brass eternal as slave to mortal
rage; and if we define equal spaces as those which can be occupied by one and the same
rigid body, the propositions of metrical Geometry will be one and all false.
The fact is that motion, as the word is used by geometers, has a meaning entirely different
from that which it has in daily life, just as a variable, in mathematics, is not something
which changes, but is usually, on the contrary, something incapable of change. So it
is with motion. Motion is a certain class of one-oe relations, each of which has every
point of space for its extension, and each of which has a converse also belonging to the
class. That is, a motion is a one-one relation, in which the referent and the relatum are
both points, and in which every point may appear as referent and again as relatum. A
motion is not this only: on the contrary, it has this further characteristic, that the metrical
properties of any class of referent are identical with those of the corresponding class of
relata. This characteristic, together with the other, defines a motion as used in Geometry,
or rather, it defines a motion or a reflexion; but this point need not be elucidated at
present. What is clear is, that a motioin presupposes the existence, and cannot be used
to define those properties. And it is this sense of the word motion, not the usual material
sense, which is relevant to Euclid’s use of superposition.
391. Returning now to Euclid’s fourth proposition, we see that the superposition of ABC
on DEF involves the following assumptions. (1) On the line DE there is a point E, on
either side of D, such that DE = AB. This is provided for by the postulate about the
circle. (2) On either side of the ray DE, there is a ray DF such that the angle EDF is
equal to the angle BAC. This is required for the possibility of a triangle DEF such as
the enunciation demands, but no axiom from which this follows can be found in Euclid.
The problem, to construct an angle EDF equal to BAC, does not occur till I. 23, and
there I. 4 is used in the proof. Hence the present assumption must be added to Euclid’s
axioms. It now follows that on DF there is a point F such that DF = AC. Hence the
possibility of two such triangles as the enunctiation demands is established. But in order
to prove that DEF is equal in all respects to ABC, we need a further axiom, namely:
With one angle at D, one side along the ray DE, and the other side to the right (or left)
of DE, there exists a triangle which is equal in all respects to the triangle ABC. This is,
in fact, the exact assumption which is concealed in the method of superposition. With
this assumption, it finally becomes possible to prove that DEF is the triangle satisfying
the above conditions and equal in all respects to ABC.
In seinen Kommentaren zu Euklids Elementen äußert sich zweitens Heath wie folgt.
3.8. ANHÄNGE
177
T.L. Heath: The thirteen books of Euclid’s elements [64], Seite 249
In the note on Common Notion 4 I have already mentioned that Euclid obviously used
the method of superposition with reluctance, and I have given, after Veronese for the
most part, the reason for holding that that method is not admissable as a theoretical
means of proving equality, although it may be of use as a practical test, and may thus
furnish an empirical basis on which to found a postulate. Mr Bertrand Russell observes
(Principles of Mathematics I. p. 405) that Euclid would have done better to assume I.4 as
an axiom, as is practically done by Hilbert (Grundlagen der Geometrie, p. 9). It may be
that Euclid himself was as well awar of the objections to the method as are his modern
critics; but at all events those objections were stated, with almost equal clearness, as
early as the middle of the 16th century. Peletarius (Jacques Peletier) has a long note on
this proposition (In Euclidis elementa geometrica demsonstrationum libri sex, 1557),
in which he observes that, if superposition of lines and figures could be assumed as a
method of proof, the whole geometry would be full of such proofs, that it could equally
well have been used in I.2 (thus in I.2 we could simply have supposed the line taken up
and placed at the point), and that in short it is obvious how far removed the method is
from the dignity of geometry. The theorem, he adds, is obvious in itself and does not
require proof; although it is introduced as a theorem, it would seem that Euclid intended
it rather as a definition than a theorem, “for I cannot think that two angles are equal
unless I have a conception of what equality of angles is”.
Auch Simons Kommentare sind für uns heute sehr lesenswert.
M. Simon: Euclid und die sechs planimetrischen Bücher [143], Seite 44f.
Beim Beweis dieses Satzes, des ersten Kongruenzsatzes, ist die Bewegung zu Hilfe genommen, und zwar nur bei diesem planimetrischen Satz und seiner Umkehrung I,8. Der
ganze Beweis macht schon wegen der späteren Fassung des Axioms 1: Zwei Gerade
schließen keinen Raum ein, den Eindruck einer späteren Redaktion; vielleicht durch
Heron, dem als Mechaniker die Bewegung das Vertauteste war. Getadelt ist von Savile die Deckung der Winkel, da noch nicht gelehrt ist, wie man einen Winkel anträgt. Merkwürdigerweise hat weder Proclus noch Savile, nach Pfleiderer, der so fleißige
Scholiast, auf die auffällige Anwendung der Bewegung hingewiesen. Sieht man näher
zu, so ist nichts weiter benutzt als das stillschweigend angenommene Axiom von der
Gleichförmigkeit des Raumes, demzufolge jede Figur, die an einer Stelle des Raumes
möglich ist, auch an einer andern möglich ist, bezw. das Axiom Bolzano’s und Graßmanns: Größen, deren bestimmende Stücke gleich sind, sind gleich. Die Kongruenz der
dritten Seiten würde aus der Forderung 1: nach der zwischen je zwei Punkten eine Gerade vorhanden, sofort hervorgehen. Stillschweigend wird auch die Gleichheit zweier
Winkel definiert: Winkel sind gleich, wenn sich ihre Schenkel decken.
Daß Euclid die Kongruenzsätze nicht unter die Forderungen aufgenommen hat, ist ein
Fehler.
Und schließlich wollen wir noch vortragen, wie sich Thaer äußert, um damit den Kreis unserer
wichtigsten Quellen über die Elemente zu schließen.
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
178
C. Thaer: Euklid. Die Elemente [156], Seite 419f.
Der vorliegende Beweis und der von I, 8 sind die einzigen des ersten Buches, in denen
Euklid eine starre Figur als Ganzes bewegt (auch III, 24). Er hat, wie aus der Behandlung
von I, 2 hervorgeht, offenbar eine Abneigung gegen diese Art der Beweisführung, und
zwar mit gutem Grund, da eine vollständige Aussprache der zu ihrer Sicherung notwendigen Voraussetzungen zeigen würde, daß er den wesentlichen Inhalt des zu beweisenden Satzes wie D. Hilbert, Grundlagen der Geometrie, Leipzig 1899, unter die Postulate
aufnehmen müßte; eine verwandte Bemerkung macht schon Peletarius (1557). Auf fällt
als inkonsequent auf, daß Euklid, der die Existenz gleicher Strecken an beliebiger Stelle
durch I, 2 vorher sichert, dasselbe nicht auf für Winkel tut.
Seinen Ausdruck für kongruent gleich und ähnlich“ führt Euklid erst im VI. Buche ein,
”
zunächst will er aus der Deckung nur auf gleiche Größe schließen.
3.8.8 Die Stetigkeitsaxiome
In diesem Paragraphen wollen wir aus dem Dedekindschen Schnitt das Archimedische und das
Cantorsche Axiom, welche wir im zweiten Kapitel in Abschnitt 2.2 bzw. in Paragraph 2.4.1
kennengelernt haben, ableiten. Dazu folgen den Ausführungen aus Efimov [33].
Zunächst legen wir uns zu diesem Zweck noch einmal die genauen Formulierungen dieser Axiome, wie wir sie in Efimov [33] finden, vor.
Archimedisches und Cantorsches Axiom (N.W. Efimov [33], Seite 62)
1. Archimedisches Axiom
Es seien PQ und RS beliebige, endliche Strecken mit P 6= Q und R 6= S. Dann gibt
es auf der Geraden PQ endlich viele Punkte P1 , P2 usw. bis Pn , die so gegeben
sind, dass der Punkt P1 zwischen P und P2 , der Punkt P2 zwischen P1 und P3 liegt
usw., wobei die Strecken PP1 , P1 P2 usw. bis Pn−1 , Pn der Strecke RS kongruent
sind und Q zwischen P und Pn liegt.
2. Cantorsches Axiom
Auf einer beliebigen Geraden g sei eine unendliche Folge von Strecken P1 Q1 ,
P2 Q2 usw. gegeben, von denen jede innerhalb der vorherigen liegt; weiter gebe
es, wie auch eine Strecke vorgegeben wird, stets einen Index n, für die Pn Qn
kleiner als diese Strecke ist. Dann gibt es auf der Geraden g einen Punkt S, der
im Innern aller Strecken P1 Q1 , P2 Q2 usw. liegt.
Diese Formulierungen sollten mit unseren Darstellungen aus Abschnitt 2.2 bzw. aus Paragraph
2.4.1 verglichen werden.
Zweitens kommen wir zum Dedekindschen Schnitt, welches wir, wie im zweiten Kapitel unserer
Vorlesung bereits mehrfach angedeutet wurde, in einer analytischen und einer geometrischen
Version vortragen wollen.
3.8. ANHÄNGE
179
Dedekindscher Schnitt (N.W. Efimov [33], Seite 72f.)
1. Analytische Version:
Wenn alle reellen Zahlen so in zwei Klassen eingeteilt sind, dass dabei
◦ jede Zahl zu einer und nur einer Klasse gehört und jede Klasse Zahlen
enthält,
◦ jede Zahl der ersten Klasse kleiner ist als jede Zahl der zweiten,
so gibt es entweder in der ersten Klasse eine größte Zahl oder in der zweiten
Klasse eine kleinste Zahl.
2. Geometrische Version
Wenn alle Punkte einer Geraden so in zwei Klassen eingeteilt sind, dass dabei
◦ jeder Punkt zu einer und nur einer Klasse gehört und jede Klasse Punkte
enthält,
◦ jeder Punkt der ersten Klasse vor jedem Punkt der zweiten liegt,
so gibt es entweder in der ersten Klasse einen Punkt, vor dem alle übrigen Punkte
der ersten Klasse liegen, oder es gibt in der zweiten Klasse einen Punkt, der vor
allen übrigen Punkten der zweiten Klasse liegt. Man sagt, dass dieser Punkt einen
Dedekindschen Schnitt auf der Geraden bestimmt.
Wir kommen nun zu den angekündigten Beweisen der Stetigkeitsaxiome von Archimedes und
Cantor unter der Voraussetzung des Dedekindschen Schnittes als Axiom.
Beweis des Archimedischen Axioms
Der Dedekindsche Schnitt impliziert das Archimedische Axiom.
Beweisskizze. Wir gehen nach N.W. Efimov [33], Seite 72f. vor. Angenommen, das Archimedische Axiom ist nicht erfüllt. Dann existiert eine unendliche Folge paarweise kongruenter Strecken
PP1 , P1 P2 , P2 P3 usw.,
die sämtlich innerhalb der Strecke PQ gelegen sind, wobei wir annehmen, dass P vor, d.h. links
von Q liegt.
1. Zerlege die Menge der Punkte der Strecke PQ wie folgt in zwei Klassen:
◦ Die erste Klasse bestehe aus allen Punkten, die vor einem der Punkte P1 , P2 usw.
liegen. So liegt z.B. der Punkt P1 vor P2 und gehört damit der ersten Klasse an, der
Punkt P7 liegt vor P11 usw.
◦ Die zweite Klasse bestehe aus allen Punkten der Geraden PQ, die nicht zur ersten
Klasse gehören.
Diese Klasseneinteilung bestimmt einen Dedekindschen Schnitt, denn:
→ Jeder Punkt der Geraden PQ gehört zu einer und nur einer Klasse. Keine der beiden
Klassen ist leer, da bereits P1 , P2 usw. der ersten, Q der zweiten Klasse angehören.
→ Alle Punkte der ersten Klasse liegen vor den Punkten der zweiten Klasse.
2. Dieser Dedekindsche Schnitt wird nun von einem Punkt T auf der Strecke PQ bestimmt.
Dieser Punkt T ist enthalten in der zweiten Klasse, denn die erste Klasse besitzt kein
letztes Element.
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
180
3. Nach dem Kongruenzaxiom K1 existiert ein Punkt S auf der Geraden PQ, der vor T liegt,
und zwar derart, dass die Strecke ST kongruent ist zu jeder der Strecken PP1 , P1 P2 usw.
Außerdem kann S nicht zur zweiten Klasse gehören, da S vor T liegt.
4. Also gehört S der ersten Klasse an, und daher existiert ein Index m ∈ N, so dass S vor dem
Punkt Pm liegt. Nach Wahl des Dedekindschen Schnittpunktes T ist dann aber die Strecke
Pm Pm+1 enthalten in der Strecke ST , d.h.
Pm Pm+1 < ST
unter Benutzung der nach Satz H23 angesprochenen Größenvergleichung für Strecken.
Dem dritten Beweispunkt folgend gilt aber
Pm Pm+1 ≡ ST ,
was aber zur vorigen Relation im Widerspruch steht.
Damit ist das Archimedische Axiom bewiesen.
Wir bemerken, dass wir die im Beweis verwendete Größenvergleichung in unseren vorigen Diskussionen nur angedeutet haben und das Widerspruchsargument tatsächlich eines ausführlichen
Beweises bedarf.
Beweis des Cantorschen Axioms
Der Dedekindsche Schnitt impliziert das Cantorsche Axiom.
Beweis. Wir gehen auch hier nach N.W. Efimov [33], Seite 73 vor.
1. Die Gerade g sei vorgelegt und auf ihr eine unendliche Folge von Strecken P1 Q1 , P2 Q2
usw. mit den folgenden Eigenschaften:
◦ Für jedes n ∈ N seien Pn Anfangspunkt und Qn Endpunkt der Strecke Pn Qn , d.h. es
liegt stets Pn vor Qn .
◦ Für jedes n ∈ N liege die Strecke Pn+1 Qn+1 innerhalb der Strecke Pn Qn .
◦ Es möge keine Strecke geben, die kleiner als alle der gegebenen Strecken Pn Qn ,
n = 1, 2, . . . , ist.
2. Wir teilen nun die Punkte der Geraden g in zwei Klassen wie folgt:
◦ Die erste Klasse bestehe aus allen Punkten, die vor einem der Punkte P1 , P2 usw.
liegen.
◦ Die zweite Klasse bestehe aus allen Punkten der Geraden g, die nicht zur ersten
Klasse gehören.
Diese Klasseneinteilung bestimmt einen Dedekindschen Schnitt, denn:
→ Jeder Punkt der Geraden g gehört zu einer und nur einer Klasse. Keine der beiden
Klassen ist leer, da es einen Punkt auf g links von P1 existiert, der der ersten Klasse
angehört, und da bereits Q1 zur zweiten Klasse zählt.
→ Alle Punkte der ersten Klasse liegen vor den Punkten der zweiten Klasse.
3. Dieser Dedekindsche Schnittpunkt wird nun von einem Punkt T auf der Strecke P1 Q1
bestimmt. Dieser Punkt T ist enthalten in der zweiten Klasse, denn die erste Klasse besitzt
kein letztes Element.
4. Also liegt T vor allen Punkten Q1 , Q2 usw. und hinter den Punkten P1 , P2 usw. Daher
liegt T auch innerhalb der Strecken Pn Qn für alle n ∈ N.
Damit ist das Cantorsche Axiom bewiesen.
3.8. ANHÄNGE
181
3.8.9 Axiomatischer Aufbau der reellen Zahlen
Hilbert betont wiederholt den engen Zusammenhang zwischen den geometrischen Axiomen, die
der Euklidischen Geometrie zugrunde liegen, und den arithmetischen Axiomen, die das System
der reellen Zahlen eindeutig beschreiben.
Wir wollen in diesem Paragraphen Hilbert Axiomensystem der reellen Zahlen aus seiner Festschrift [72], S. 461ff., vorstellen. Der Student möge Vergleiche mit den bislang vorgestellten
Axiomensystemen der Geometrie sowie dem nachstehenden Zugang zu den reellen Zahlen aus
dem Lehrbuch Hildebrandt [77] zur Analysis 1 anstellen.
Hilberts Axiomensystem der reellen Zahlen
Wir beginnen also mit
Complexe Zahlensysteme I
Die reellen Zahlen bilden in ihrer Gesamtheit ein System von Dingen mit folgenden
Eigenschaften:
S ä t z e d e r V e r k n ü p f u n g (1–12)
1. Aus der Zahl a und der Zahl b entsteht duch Addition“ eine bestimmte Zahl c,
”
in Zeichen
a + b = c oder c = a + b.
2. Es giebt eine bestimmte Zahl – sie heisse 0 –, so dass für jedes a zugleich
a + 0 = a und 0 + a = a
ist.
3. Wenn a und b gegebene Zahlen sind, so existirt stets eine und nur eine Zahl x und
auch eine und nur eine Zahl y, so dass
a+x = b
bez.
y+a = b
wird.
4. Aus der Zahl a und der Zahl b entsteht noch auf eine andere Art durch Multipli”
kation“ eine bestimmte Zahl c, in Zeichen
ab = c oder
c = ab.
5. Es giebt eine bestimmte Zahl – sie heisse 1 –, so dass für jedes a zugleich
a · 1 = a und 1 · a = a
ist.
6. Wenn a und b beliebig gegebene Zahlen sind und a nicht 0 ist, so existirt eine
und nur eine Zahl x und auch eine und nur eine Zahl y, so dass
ax = b
wird.
bez.
ya = b
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
182
Wenn a, b, c beliebige Zahlen sind, so gelten stets folgende Rechnungsgesetze:
7.
a + (b + c) = (a + b) + c
8.
a+b = b+a
9.
a(bc) = (ab)c
10.
a(b + c) = ab + bc
11.
(a + b)c = ac + bc
12.
ab = ba
S ä t z e d e r A n o r d n u n g (13–16)
13. Wenn a, b irgend zwei verschiedene Zahlen sind, so ist stets eine bestimmte von
ihnen (etwa a grösser (>) als die andere; die letztere heisst dann die kleinere, in
Zeichen:
a > b und b < a.
14. Wenn a > b und b > c, so ist auch a > c.
15. Wenn a > b ist, so ist auch stets
a+c > b+c
und
c + a > c + b.
16. Wenn a > b und c > 0 ist, so ist auch stets
ac > bc
und
ca > cb.
A r c h i m e d i s c h e r S a t z (17)
17. Wenn a > 0 und b > 0 zwei beliebige Zahlen sind, so ist es stets möglich, a zu
sich selbst so of zu addiren, dass die entstehende Summe die Eigenschaft hat
a + a + . . . + a > b.
Ein System von Dingen, dass nur einen Teil der Eigenschaften 1–17 besitzt, heisse
ein complexes Zahlensystem oder auch ein Zahlensystem schlechthin. Ein Zahlensystem heisse ein Archimedisches oder ein Nicht-Archimedisches, jenachdem dasselbe der
Forderung 17 genügt oder nicht.
Hilbert fügt diesen 17 Axiomen ein weiteres Stetigkeitsaxiom hinzu:
Complexe Zahlensysteme II
S a t z v o n d e r V o l l s t ä n d i g k e i t
18. Es ist nicht möglich, dem System der Zahlen ein anderes System von Dingen
hinzuzufügen, so daß auch in dem durch Zusammensetzung entstehenden Systeme die Sätze 1–17 sämtlich erfüllt sind; oder kurz: die Zahlen bilden ein System
von Dingen, welches bei Aufrechterhaltung sämtlicher aufgeführten Sätze keiner
Erweiterung mehr fähig ist.
Für die Zwecke unserer Vorlesung besonders erwähnenswert sind auch Hilbert anschließende
3.8. ANHÄNGE
183
Bemerkungen.
Complexe Zahlensysteme III
Von den aufgestellten Eigenschaften 1–17 sind einige Folgen der übrigen. Es entsteht
die Aufgabe, die logische Abhängigkeit dieser Eigenschaften zu untersuchen. Wir werden in Kapitel VI §32 und §33 zwei bestimmte Fragen der angedeuteten Art wegen
ihrer geometrischen Bedeutung beantworten und wollen hir nur darauf hinweisen, dass
jedenfalls die letzte Forderung 17 keine logische Folge der übrigen Eigenschaften ist, da
ja beispielsweise das in §12 betrachtete complexe Zahlensystem Ω(t) sämtliche Eigenschaften 1–16 besitzt, aber nicht die Forderung 17 erfüllt.
Ein modernes Axiomensystem der reellen Zahlen
Aus Hildebrandts Lehrbuch [77] zur Analysis 1 wollen wir einen modernen axiomatischen Zugang zu den reellen Zahlen ausarbeiten. Der Leser ist aufgefordert, Vergleiche zu dem vorigen
Hilbertschen System, aber auch zu den Euklidischen Axiomen zu ziehen.
Die Menge der reellen Zahlen
Hierunter wollen wir eine nichtleere Menge verstehen, deren Elemente wir als reelle Zahlen
bezeichnen. Reelle Zahlen sollen miteinander vergleichbar sein. Wir fordern daher die Existenz
◦ einer zweistelligen Gleichheitsrelation =“ mit den folgenden drei Eigenschaften
”
Reflexivität: x = x für alle x ∈ R
Symmetrie: falls x = y, so auch y = x für alle x, y ∈ R
Transitivität: falls x = y und y = z, so auch x = z für alle x, y, z ∈ R
(d.h. =“ ist eine Äquivalenzrelation)
”
◦ und einer zweistelligen transitiven und trichotomischen Ordnungsrelation <“; dabei be”
deutet trichotomisch, dass für zwei beliebige Elemente x, y ∈ R genau eine der folgenden
drei Relationen gilt
entweder
x<y
oder
x = y oder
y<x
(in Worten: x ist kleiner als y, x ist gleich y oder y ist kleiner als x).
Unter Verwendung der Gleichheitsrelation werden wir in Form der folgenden Axiome (I1 ) bis
(I9 ) die zwei arithmetischen Operationen
Addition
Multiplikation
+ : R × R −→ R
· : R × R −→ R
vermöge
x, y ∈ R →
7 x+y ∈ R
x, y ∈ R →
7 x·y ∈ R
erklären (arithmetische Axiome). Für diese vereinbaren wir dann mit den Axiomen (II1 ) bis (II3 )
gewisse Verträglichkeitsregeln mit der Ordnungsrelation <“(Axiome der Anordnung).
”
Schließlich werden wir die Menge der reellen Zahlen durch ein Vollständigkeitsaxiom von den
übrigen Zahlenmengen (natürliche Zahlen, ganze Zahlen, rationale Zahlen) auszeichnen, die wir
später separat diskutieren.
Insgesamt beinhaltet also der axiomatische Aufbau der reellen Zahlen neben der Einführung
einer Gleichheits- und einer Ordnungsrelation folgende Axiomgruppen
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
184
◦ die arithmetischen Axiome,
◦ die Axiome der Aordnung,
◦ das Vollständigkeitsaxiom.
Diese drei Axiomgruppen wollen wir nun im Detail vorstellen.
Die arithmetischen Axiome
Die arithmetischen Axiome beinhalten die grundlegenden arithmetischen Eigenschaften der Addition und Multiplikation reeller Zahlen. Wir unterteilen sie in
− die arithmetischen Axiome der Addition,
− die arithmetischen Axiome der Multiplikation,
− das Distributivgesetz.
Wir beginnen mit den arithmetischen Axiomen der Addition.
(I1 )
(I2 )
(I3 )
(I4 )
x + y = y + x für alle x, y ∈ R
(x + y) + z = x + (y + z) für alle x, y, z ∈ R
es gibt genau ein Element 0 ∈ R mit x + 0 = x für alle x ∈ R
zu jedem x ∈ R gibt es genau ein y ∈ R mit x + y = 0
(Kommutativität)
(Assoziativität)
(neutrales Element)
(inverses Element)
Das zu x ∈ R inverse Element der Addition bezeichnen wir auch mit −x.
Entsprechende Regeln wollen wir auch für die Multiplikation festlegen.
(I5 )
(I6 )
(I7 )
(I8 )
x · y = y · x für alle x, y ∈ R
(x · y) · z = x · (y · z) für alle x, y, z ∈ R
es gibt genau ein Element 1 ∈ R \ {0} mit x · 1 = x für alle x ∈ R
zu jedem x ∈ R \ {0} gibt es genau ein y ∈ R \ {0} mit x · y = 1
Das zu x ∈ R \ {0} inverse Element bezeichnen wir auch mit
1
x
(Kommutativität)
(Assoziativität)
(neutrales Element)
(inverses Element)
oder x−1 .
Das Distributivgesetz endlich verknüpft Addition und Multiplikation.
(I9 ) x · (y + z) = x · y + x · z für alle x, y, z ∈ R
(Distributivität)
Beispiel. Aus den arithmetischen Axiomen lassen sich nun alle möglichen arithmetischen Regeln beweisen. Beispielhaft wollen wir den Nachweis für die Regel
x · 0 = 0 für alle x ∈ R.
führen und stellen zu diesem Zweck folgendes Beweisschema auf:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
x∈R
0∈R
x·0 ∈ R
−(x · 0) ∈ R
x · 0 = x · (0 + 0)
x·0 = x·0+x·0
x · 0 + (−(x · 0)) = x · 0 + x · 0 + [−(x · 0)]
0 = x · 0 + x · 0 + (−(x · 0))
0 = x · 0 + (x · 0 + (−(x · 0)))
0 = x·0+0
0 = x·0
(Vor)
(I3 )
(Def Mul)
(I4 )
(I3 )
(5, I9 )
(x = y, so x + z = y + z)
(7, I4 )
(8, I2 )
(9, I4 )
(10, I3 )
3.8. ANHÄNGE
185
Damit ist die Behauptung bewiesen.
Bemerkung. Eine nichtleere Menge K, die wie R allen vorgestellten arithmetischen Axiomen
I1 bis I9 genügt, bezeichnet man als einen Körper. Insbesondere sprechen wir vom Körper der
reellen Zahlen R.
Die Anordnungsaxiome
Die drei Axiome der Anordnung, die die Ordnungsrelation <“ betreffen, lauten wie folgt.
”
(II1 ) x < y und y < z, so auch stets x < z
(Transitivität)
(II2 ) x < y, so auch stets x + z < y + z
(Verträglichkeit mit Addition)
(II3 ) x < y und 0 < z, so auch stets xz < yz
(Verträglichkeit mit Muliplikation)
Insbesondere sprechen wir im Falle von R von einem angeordneten Körper. Abkürzend verwenden wir auch die Schreibweise
x ≥ y genau dann, wenn x > y oder x = y.
Das Vollständigkeitsaxiom
Eine nichtleere Teilmenge M ⊂ R heißt nach oben beschränkt, falls es eine reelle Zahl b ∈ R
gibt mit der Eigenschaft
x ≤ b für alle x ∈ M.
Die Zahl b bezeichnen wir als obere Schranke von M. Eine nichtleere Teilmenge M ⊂ R heißt
nach unten beschränkt, falls es eine reelle Zahl a ∈ R gibt mit der Eigenschaft
a≤x
für alle x ∈ M.
Die Zahl a bezeichnen wir als eine untere Schranke von M. Schließlich heißt eine Menge M ⊂ R
beschränkt, falls gilt
a ≤ x ≤ b für alle x ∈ M.
Unter einer kleinsten oberen Schranke von M (bzw. größten unteren Schranke) wollen wir nun
eine reelle Zahl verstehen,
◦ wenn sie eine obere (untere) Schranke von M ist,
◦ wenn es keine kleinere obere (keine größere untere) Schranke von M gibt.
Das Vollständigkeitsaxiom, welches den uns bekannten Dedekindschen Schnitt realisiert, lautet
nun wie folgt.
(III) Jede nichtleere, nach oben beschränkte Teilmenge M ⊂ R besitzt eine kleinste obere
Schranke, das sogenannte Supremum sup M von M. Oder dazu äquivalent: Jede nichtleere, nach unten beschränkte Teilmenge M ⊂ R besitzt eine größte untere Schranke, das
sogenannte Infimum inf M von M.
3.8.10 Die Sätze von Pappus-Pascal und Desargue
3.8.11 Schurs Proportionenlehre
186
KAPITEL 3. HILBERTSCHE AXIOMATIK
KAPITEL
4
Mathematische Logik
Hans von Schaper, der bei Hilbert im Bereich der Zahlentheorie promovierte, arbeitete
im März 1899 Hilberts Vorlesung Elemente der Euklidischen Geometrie“ aus und ließ
”
sie als Autographie (ein Umdruckverfahren) vervielfältigen. Aus dem Vorwort zitieren
wir (siehe Toepell [159], S. 202 ff.):
Die elementare (Euklidische) Geometrie hat zum Gegenstande die Thatsachen und Gesetze, die uns das räumliche Verhalten der Dinge darbietet.
Ihrer Struktur nach ist sie ein System von Sätzen, die – im grossen und
ganzen wenigstens – auf rein logischem Wege aus gewissen selbst unbeweisbaren Sätzen, den Axiomen, hergeleitet werden . . . Je mehr eine
Naturwissenschaft ihrem Ziele: ’logische Herleitung aller zu ihrem Gebiet
gehörenden Thatsachen aus gewissen Fundamentalsätzen’ sich nähert, desto notwendiger wird es, diese Axiome selbst genau zu untersuchen, ihre
gegenseitigen Beziehungen zu erforschen, ihre Anzahl möglichst zu vermindern . . . Es ist von Wichtigkeit, den Ausgangspunkt unserer Untersuchungen genau zu fixieren: Als gegeben betrachten wir die Gesetze der
reinen Logik und speciell die ganze Arithmetik . . . Unsere Frage wird
dann sein: Welche Sätze müssen wir zu dem eben definierten Bereich ’adjungieren’, um die Euklidische Geometrie zu erhalten?
Wir erinnern uns: Hilbert legte bei seiner Axiomatisierung besonderen Wert auf die
Vollständigkeit, Unabhängigkeit und Widerspruchsfreiheit seiner Axiome der Geometrie. Die Widerspruchsfreiheit wurde in Abschnitt 3.6 auf die Widerspruchsfreiheit des
abzählbaren Zahlensystems Ω zurückgeführt, woraus sich das zweite, von Hilbert in
Paris 1900 vorgetragene Problem herauskristallisierte.
187
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
188
In der Konsequenz stellt sich daher die Frage nach der Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit der Arithmetik und der Mengenlehre, für deren Beantwortung wir ihre
inhaltlichen und formal-logischen Grundlagen studieren müssen. Es sollte jedoch nie
unsere inhaltliche Motivation, nämlich die Beantwortung der grundsätzlichen Fragen
der axiomatischen Geometrie, aus den Augen verloren werden.
Fragen genau dieser Art wollen wir in den nächsten zwei Kapiteln nachgehen. Genauer
widmen wir uns den folgenden Problemkreisen:
◦ Grundlagen der mathematischen Logik (Kapitel 4)
◦ Grundlagen der Logik, Arithmetik und Mengenlehre (Kapitel 5)
Unsere hauptsächlichen Quellen, nach denen wir uns richten werden, stellen dabei
die beiden Lehrbücher von Hoffmann [81] und [80] dar. Zusätzlich stehen uns die
Lehrbücher Hoffmann [79], Kleene [90], Wolf [168] und Zoglauer [174] zur Seite.
Doch bevor wir in ein detailliertes Studium der mathematischen Logik eintauchen,
möchten wir noch einen Blick in die Einleitung von Kleenes Lehrbuch [90] empfehlen,
aus welcher wir im Paragraphen 4.4.1 des Anhangs zitieren.
4.1 Elemente formaler Systeme. Ein Beispiel
Nach den Ausführungen aus Hoffmann [81], Kapitel 2, richtend, wollen wir mit dem
dort diskutierten Kalkül E beginnen als Beispiel eines formalen Systems, an dem wir
aus einer Menge vorgelegter Axiome unter Verwendung vereinbarter Schlussregeln verschiedene Sätze rein formal, d.h. syntaktisch, ableiten werden.
Dieser Abschnitt dient uns zur Einführung und Motivation wichtiger Begriffe der mathematischen Logik und ihrer Wirkungsweise. Mit diesem Rüstzeug werden wir uns
in den Abschnitten 4.2 und 4.3 dem Studium der klassischen Aussagenlogik sowie der
Prädikatenlogik erster Stufe widmen.
Die Sprache des Kalküls E
Buchstaben und Alphabet des Kalküls E
Das Beispielkalkül E bestehe aus dem folgenden sechselementigen Alphabet:
0 s
=
>
( ) ¬
Aus diesen Symbolen formen wir nun eine aus Termen und Formeln bestehende Sprache nach folgenden Regeln:
4.1. ELEMENTE FORMALER SYSTEME. EIN BEISPIEL
189
Term- und Formelaufbau des Kalküls E
◦ 0 ist ein Term.
◦ Ist σ ein Term, so auch s(σ ).
◦ Sind σ und τ Terme, so sind folgende Ausdrücke Formeln
(σ = τ ),
(σ > τ ),
¬(σ = τ ),
¬(σ > τ ).
Die Menge aller Terme und Formeln bezeichnen wir als die Sprache des
Kalküls E.
Bemerkung. Die σ , τ usw. sind als Variablen, d.h. als Platzhalter zu verstehen.
Formelschemata, d.h. Formeln, in denen die sechs Buchstaben des Alphabets
zusammen mit solchen Platzhaltern auftreten, können eventuell durch Substitution in reine“ Formeln der Kalkülsprache überführt werden. Beispielsweise
”
geht das Formelschema
(s(σ ) > τ )
durch die Substitutionen σ ← s(0) und τ ← 0 über in die (reine) Formel
(s(s(0)) > 0).
Die Buchstaben (Elemente) des Alphabets, d.h. die Terme und Formeln, die späteren
Axiome und Schlussregeln sowie die daraus abgeleiteten Sätze besitzen auf der momentan diskutierten syntaktischen Ebene keine inhaltliche Bedeutung, sie sind inhaltsleer. Alle Schritte folgen rein formal vorher festgelegten Regeln und sind tatsächlich
nichts weiter als symbolisches Manipulieren von Zeichenketten.
Pasch und Hilbert haben eine solche Vorgehensweise für einen axiomatischen Aufbau
der Geometrie gefordert. Wir werden aber später sehen, dass deren Verständnis sich auf
eine semantische Ebene eines Kalküls bezog, die eine bestimmte Interpretation und ein
Modell des abstrakten formalen Systems voraussetzen.
Beispiel. Da 0 ein Term der Sprache des Kalküls E ist, so sind auch
s(0),
s(s(0)),
s(s(s(0))) usw.
Terme von E. Dann sind aber auch
(0 = 0),
(s(0) = 0),
Formeln des Kalküls E.
(s(0) > 0),
¬(s(0) = s(s(0)))
usw.
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
190
Axiome und Schlussregeln des Kalküls E
Hoffmann [81] vervollständigt das Beispielkalkül E durch ein einziges, nicht zu beweisendes Axiom.
Axiom des Kalküls E
(A1)
(0 = 0)
Und schließlich werden dem Kalkül die folgenden sechs Schlussregeln hinzugefügt:
Schlussregeln des Kalküls E
(S1)
(σ = τ )
(s(σ ) = s(τ ))
(S2)
(σ = τ )
(s(σ ) > τ )
(S3)
(σ > τ )
(s(σ ) > τ )
(S4)
(σ > τ )
¬(σ = τ )
(S5)
(σ > τ )
¬(τ = σ )
(S6)
(σ > τ )
¬(τ > σ )
Diese Formelschemata sind so zu lesen, dass bei Gültigkeit der Prämisse über
dem Mittelstrich die Schlussfolgerung unter dem Mittelstrich abgeleitet werden
kann.
Diese Schlussregeln dienen zur Ableitung neuer Sätze bzw. Theoreme aus dem Axiom.
Es ist unwesentlich, ob sie tatsächlich als Axiome angesehen werden oder getrennt von
diesen. Beide werden als unbewiesen dem Kalkül zugehörig gezählt.
Definition (Beweisoperator)
Das Symbol
⊢ϕ
bedeutet, dass die Formel ϕ aus dem Axiom bzw. aus bereits abgeleiteten
Sätzen unter Zuhilfenahme der Schlussregeln bewiesen werden kann. ϕ bezeichnen wir dann selbst als Theorem und sagen: ϕ ist innerhalb des Kalküls E
beweisbar.
Kleene [90], S. 36, folgend, geht das Symbol ⊢ auf Freges Begriffsschrift [42] aus dem
Jahre 1879 zurück. Genauer lesen wir in einer Fußnote:
The symbol “⊢” goes back to Frege 1879; the present use of it to Rosser 1935 and Kleene 1934. (Rosser proposed it to express deducibility by
the rule(s) of inference, and Kleene suggested including also use of the
axioms.) The parallel use of “|=” . . . is perhaps original with Kleene 1934.
Mit den Verweisen auf die Arbeiten sind Kleene [89] sowie Rosser [130] und [131]
gemeint. Den Modelloperator |= werden wir weiter unten einführen.
4.1. ELEMENTE FORMALER SYSTEME. EIN BEISPIEL
191
Beispiel. Innerhalb des Kalküls E ist die Formel
(s(s(s(s(0)))) > s(s(0)))
abzuleiten. Mit Hoffmann [81], S. 73, gehen wir dazu wie folgt vor:
1.
2.
3.
4.
5.
⊢ (0 = 0)
⊢ (s(0) = s(0))
⊢ (s(s(0)) = s(s(0)))
⊢ (s(s(s(0))) > s(s(0)))
⊢ (s(s(s(s(0)))) > s(s(0)))
(A1)
(1, S1)
(2, S1)
(3, S2)
(4, S3)
Damit ist der Beweis der Formel erbracht.
Beispiel. Innerhalb des Kalküls E ist die Formel
¬(0 > s(0))
zu beweisen. Dazu gehen wir wie folgt vor:
1. ⊢ (0 = 0)
2. ⊢ (s(0) > 0))
3. ⊢ ¬(0 > s(0))
(A1)
(1, S2)
(2, S6)
Damit ist der Beweis der Formel erbracht.
Beispiel. Innerhalb des Kalküls E ist die Formel
¬(s(s(0)) = s(s(s(0))))
zu beweisen. Mit Hoffmann [81], Seite 73, gehen wir dazu wie folgt vor:
1.
2.
3.
4.
5.
⊢ (0 = 0)
⊢ (s(0) = s(0))
⊢ (s(s(0)) = s(s(0)))
⊢ (s(s(s(0))) > s(s(0)))
⊢ ¬(s(s(0)) = s(s(s(0))))
(A1)
(1, S1)
(2, S1)
(3, S2)
(4, S5)
Damit ist der Beweis der Formel erbracht.
Diese Beispiele machen deutlich,
→ was wir formal als einen Beweis verstehen wollen, nämlich eine Kette von Formeln ϕ1 , ϕ2 , . . . , ϕn , wobei ein ϕi
◦ entweder ein Axiom
◦ oder ein aus ϕ1 , . . . , ϕi−1 durch Anwenden der Schlussregeln bewiesenes
Theorem ist.
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
192
Semantik des Kalküls E
Unsere bisherigen Betrachtungen zum Kalkül E bezogen sich ausschließlich auf dessen
syntaktische Ebene: Wir haben ein Alphabet eingeführt und definiert, was unter Termen
und Formeln zu verstehen ist; anschließend vervollständigten wir das Kalkül durch ein
Axiom und sechs Schlussregeln, die festlegen, welche Termumformungen als zulässig
gelten.
Ist es nun möglich, rein formal“ aus dem Axiom und den Schlussregeln eine Formel
”
ϕ abzuleiten, so sagen wir, diese Formel ϕ ist innerhalb des Kalküls E beweisbar und
schreiben kurz ⊢ ϕ .
→ Es ist wichtig, die Begriffe beweisbar oder nicht beweisbar von den umgangssprachlich häufig benutzten Begriffen wahr oder falsch zu trennen.
Innerhalb von E können wir auf der formalen syntaktischen Ebene nicht von einer
wahren Formel“ oder einer falschen Formel“ sprechen. Wahr und falsch beziehen
”
”
sich stets auf eine bestimmte Interpretation des abstrakten Kalküls. Eine Formel kann
innerhalb des Kalküls beweisbar, aber in unserem Verständnis, in der von uns dem
Kalküls aufgezwungenen Interpretation, falsch“ sein. Eine Formel kann aber auch
”
wahr“ sein, aber innerhalb des Kalküls unbeweisbar.
”
Semantische Begriffe
Begriffe wie Interpretation und wahr oder falsch gehören der semantischen
Ebene des Kalküls an.
Es kann auch vorkommen, dass bezüglich einer bestimmten Interpretation eines Kalküls
gewisse beweisbare Sätze wahr sind, andere, aber ebenfalls beweisbare Sätze jedoch
falsch. Eine solche Interpretation kann von uns natürlich nicht gewollt sein.
Definition (Modell)
Unter einem Modell eines Kalküls verstehen wir eine seiner Interpretationen,
bez. derer alle beweisbaren Theoreme des Kalküls, wahr sind.
Beispiel. Können Sie, ohne dass wir die notwendigen Grundlagen gelegt haben, entscheiden, welche der folgenden mathematischen Sätze wahr, falsch oder einfach nur
beweisbar sind?
◦ Euklidisches Parallelenaxiom
◦ Fermatscher Satz
◦ Riemannsche Vermutung
Mit Hoffmann [81], Seiten 74 ff., wollen wir nun unser Beispielkalkül E mit einer
Interpretation versehen und es auf diese Weise mit Leben füllen. Dazu setzen wir
0 := 0,
1 := s(0),
2 := s(s(0)) usw.
4.1. ELEMENTE FORMALER SYSTEME. EIN BEISPIEL
193
(zur Übersichtlichkeit lassen wir eventuell Klammern weg) und interpretieren die Symbole 0, 1, 2 usw. wie folgt:
0
entspricht der natürlichen Zahl
0
1
2
..
.
n
entspricht der natürlichen Zahl
1
entspricht der natürlichen Zahl
2
..
..
.
.
entspricht der natürlichen Zahl n usw.
als auch
(m = n)
(m > n)
¬(m = n)
¬(m > n)
entspricht innerhalb der Arithmetik über N der Aussage
entspricht innerhalb der Arithmetik über N der Aussage
entspricht innerhalb der Arithmetik über N der Aussage
entspricht innerhalb der Arithmetik über N der Aussage
m=n
m>n
m 6= n
m≤n
Diese Interpretation, die für die Mathematik von besonderer Bedeutung ist, bekommt
einen eigenen Namen.
Definition (Standartinterpretation)
Als Standartinterpretation verstehen wir diejenige Interpretation des Kalküls,
in welcher jeder syntaktischen Formel, d.h. jedem Axiom, jedem Theorem
usw., eine mathematisch-arithmetische Aussage entspricht.
→ Mit dem Symbol |= wollen wir in diesem Abschnitt ausdrücken, dass eine arithmetische Aussage innerhalb der Standartinterpretation des Kalküls wahr ist.
In unseren späteren Untersuchungen zur Aussagen- und Prädikatenlogik werden wir
den Modelloperator |= jedoch allgemeiner verwenden, weshalb wir ihn an dieser Stelle
nicht durch eine Definition einführen.
Konkret haben wir also
|= (m = n) gilt nach Vereinbarung genau dann, wenn arithmetisch n = m
|= (m > n) gilt nach Vereinbarung genau dann, wenn arithmetisch m > n
|= ¬ϕ gilt nach Vereinbarung genau dann, wenn arithmetisch 6|= ϕ
mit einer Formel ϕ innerhalb unserer Interpretation.
Beispiel. Beispielsweise gelten mit dieser Vereinbarung
|= (4 > 2),
|= ¬(1 = 3),
6|= (1 > 2),
6|= ¬(1 > 0).
Wir weisen auf zwei besondere Eigenschaften unserer Interpretation hin:
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
194
◦ Für keine Formel gelten gleichzeitig |= ϕ und |= ¬ϕ .
◦ Für jede Formel gilt entweder |= ϕ oder |= ¬ϕ .
Die erste Eigenschaft folgt sofort aus dem semantischen Verständnis des Negationsoperators ¬, das wir hier als bekannt unterstellen; die zweite Eigenschaft ist eine Konsequenz aus der obigen dritten Vereinbarung: |= ¬ϕ genau dann, wenn 6|= ϕ“, denn jede
”
arithmetische Formel ist – in unserem gewöhnlichen“ mathematischen Verständnis –
”
entweder wahr oder falsch.
Auch diese Eigenschaften müssen wir in unseren späteren Diskussionen zur Aussagenund Prädikatenlogik neu überdenken, da dann dem semantischen Operator |= eine allgemeinere Bedeutung bekommt, d.h. sich nicht nur auf die Standartinterpretation bezieht, sondern auf alle möglichen Interpretationen!
Zur Vertiefung des Verständnisses des semantischen Implikationsoperators |= wollen
wir noch einmal Kleene [90], S. 12, zitieren:
Expressions containing |=“ . . . are not formulas of the object language
”
[syntaktisch], but expressions of the observers language, used in writing
concisely certain statements about formulas . . . Now |=“ is a symbol of
”
the observers language, and hence stands outside every formula.
Formale Eigenschaften des Kalküls E
In den vergangenen Kapiteln sind bereits mehrfach Begriffe wie widerspruchsfrei oder
vollständig angeklungen und wurden auch im Rahmen der dortigen Modelle“ erklärt.
”
Im Rückblick erkennen wir, dass Hilbert stets semantische Widerspruchsfreiheit usw.
meinte.
Wir sind nun an der Stelle unserer Einführung in die Theorie der formalen Systeme
(Kalküle) angelangt, an welcher wir diesen Begriffen eine endgültige Erklärung verleihen können.
Definition (Kalküleigenschaften)
Ein Kalkül heißt
◦
◦
◦
◦
widerspruchsfrei, falls aus ⊢ ϕ stets 6⊢ ϕ folgt,
negationsvollständig, falls aus 6⊢ ¬ϕ stets ⊢ ϕ folgt,
korrekt, falls aus ⊢ ϕ stets |= ϕ folgt,
vollständig, falls aus |= ϕ stets ⊢ ϕ folgt.
Wir wollen diese Begriffe näher erläutern.
1. Die Begriffe widerspruchsfrei und negationsvollständig beziehen sich auf die
Syntax des Kalküls.
◦ Widerspruchsfreiheit: Kann eine Formel ϕ syntaktisch bewiesen werden,
so ist es nicht möglich, die Formel ¬ϕ ebenfalls syntaktisch zu beweisen.
4.1. ELEMENTE FORMALER SYSTEME. EIN BEISPIEL
195
◦ Negationsvollständigkeit: Es kann stets eine der Alternativen ϕ oder ¬ϕ
syntaktisch bewiesen werden.
Ein widerspruchsfreies und negationsvollständiges Kalkül besitzt die ausgezeichnete Eigenschaft, dass genau eine der beiden Alternativen ϕ oder ¬ϕ syntaktisch
bewiesen werden kann. Solche formalen Systeme sind offenbar von besonderem
Interesse.
2. Die Begriffe korrekt und vollständig verknüpfen die Syntax mit der Semantik.
◦ Korrektheit: Alle syntaktisch beweisbaren Formeln, d.h. alle Theoreme des
Kalküls, sind auch semantisch wahr.
◦ Vollständigkeit: Jede semantisch wahre Aussage einer Interpretation kann
auch syntaktisch bewiesen werden.
Ein korrektes und vollständiges Kalkül besitzt die ausgezeichnete Eigenschaft,
dass eine semantisch wahre Aussage auch syntaktisch beweisbar ist und umgekehrt. Zwischen Beweisbarkeit und Wahrheit besteht in diesem Fall kein Unterschied mehr!
Zwischen Syntax und Semantik bestehen die folgenden wichtigen Zusammenhänge.
Satz 4.1 (Formale Systeme)
Es gelten die folgenden beiden Eigenschaften:
◦ Ist ein Kalkül vollständig, und gilt für alle Formeln stets entweder |= ϕ
oder |= ¬ϕ , so ist er auch negationsvollständig.
◦ Ist ein Kalkül korrekt, so ist er auch widerspruchsfrei.
Beweis.
(i) Der Kalkül sei vollständig, und es gelte stets |= ϕ oder |= ¬ϕ . Im ersteren Fall haben wir also ⊢ ϕ nach Definition, im zweiten Fall folgt mit derselben
Überlegung ⊢ ¬ϕ . Also ist stets entweder ϕ oder ¬ϕ beweisbar, und der Kalkül
ist nach obiger Bemerkung negationsvollständig.
(ii) Da der Kalkül korrekt ist, schließen wir |= ϕ aus ⊢ ϕ sowie |= ¬ϕ aus ⊢ ¬ϕ . Es
kann aber nur entweder ϕ oder ¬ϕ wahr sein. Also ist der Kalkül auch widerspruchsfrei.
Damit ist der Satz bewiesen.
Beispiel. Wir wollen dieses Resultat auf unser Beispielkalkül E anwenden.
◦ E ist korrekt und damit widerspruchsfrei: Denn die Korrektheit entnehmen wir
unserer Standartinterpretation, die Axiome und Schlussregeln sind in dieser Hinsicht genau so gestaltet. Voriger Satz beweist dann die Widerspruchsfreiheit.
◦ E ist weder negationsvollständig noch vollständig: Negationsvollständig kann E
nicht sein, da z.B. weder die Formel (0 > 0) noch die Formel ¬(0 > 0) abgeleitet
werden können. Voriger Satz beweist dann die Unvollständigkeit.
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
196
In Paragraph 4.4.2 werden wir Erweiterungen des Beispielkalküls E diskutieren, die
dann auch vollständig sind.
4.2 Aussagenlogik
Die mathematische Logik, insbesondere die Aussagenlogik und ihre algebraische Formulierung, gehen in ihren Ursprüngen zurück auf das Werk [16] des englischen Mathematikers George Boole. Boole schuf damit einen neuen wissenschaftlichen Zweig, der
sich angesichts seiner strengen mathematischen Formulierung von der damaligen philosophischen Logik unterscheidet. Philosophische Logik war noch Jahrzehnte später
Bestandteil der universitären Mathematikausbildung an deutschen Universitäten. Als
Literaturnachweis geben wir im Paragraphen 4.4.10 des Anhangs einen Ausschnitt aus
Fraenkels Autobiographie [39] wieder.
Wir beginnen nun mit der
Definition (Aussage)
Eine Aussage ist ein Satz, der entweder wahr oder falsch ist.
Beispiele für solche Aussagen sind:
◦ Berlin ist die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland.
◦ Jeder Mensch ist sterblich.
◦ Die Riemannsche Vermutung ist falsch.
Ob die dritte Aussage wahr oder falsch ist, können wir mit unserem heutigen Wissen
nicht entscheiden. Wir werden aber immer davon ausgehen, dass einer jeden Aussage
stets genau einer der beiden Wahrheitswerte wahr“ oder falsch“ zukommt.
”
”
→ Das versteht man unter dem Prinzip der Zweiwertigkeit.
Sprachliche Formulierungen wie
◦ Herzlichen Glückwunsch!
◦ Das Wetter in Tübingen ist stets anders.
sind, obwohl man sie tatsächlich zu hören bekommt, keine Aussagen in unserem Sinne, wir können ihnen keinen der beiden Wahrheitswerte zuordnen. Und schließlich
bezeichnen wir mathematische Ausdrücke wie
◦ x + 7 = 28
◦ R(0, 3, 1)
4.2. AUSSAGENLOGIK
197
als Aussageformen, die zu Aussagen werden, nachdem wir z.B. im ersten Fall den
Platzhalter“ x durch eine natürlich Zahl substituieren und so x + 7 = 28 zu einer wah”
ren oder falschen Aussage machen, oder im zweiten Fall R(x, y, z) als die Relation
x < y < z interpretieren, was die Aussage R(0, 3, 1) falsch macht.
Ein gesprochener oder geschriebener Satz kann grammatikalisch korrekt aufgestellt
sein, inhaltlich aber zu einer logischen Paradoxie werden. Jeder kennt das Beispiel:
Dieser Satz ist falsch.
Ist nämlich der Satz wahr, so ist er nach seiner eigenen Behauptung falsch. Ist er aber
falsch, so ist nicht richtig, dass der Satz falsch ist, also er muss richtig sein.
Was stimmt nun?
In Paragraph 4.4.5 werden wir weitere solche Paradoxien vorstellen, die alle ein gemeinsames Problem aufzeigen: ihre Selbstreferenz.
Dieser Satz ist falsch. stellt, wie wir sagen, ein Objekt dar, der in seinem Innern“
”
durch eine eigene Objektsprache formuliert ist. Das Wort falsch“ zeigt mit unserer In”
terpretation hingegen metasprachlich, d.h. von außen“, auf dieses Objekt. Diese Ver”
mischung von Objektsprache und Metasprache ist der Kern der logischen Paradoxien.
Gelingt es, diese zu verhindern, verschwinden die Paradoxien.
Um Paradoxien dieser Art von Vornherein zu vermeiden, werden wir die Aussagenlogik zunächst syntaktisch, d.h. rein formal und ohne jede Interpretation einführen und
erst im zweiten Schritt ihre semantischen Eigenschaften diskutieren. Dabei richten wir
uns erneut nach Hoffmann [81].
4.2.1 Syntax und Semantik der Aussagenlogik
Im vorigen Abschnitt über das Beispielkalkül E haben wir die Begriffe Alphabet, Term
und Formel an den Anfang der Untersuchungen gestellt.
Struktur aussagenlogischer Formeln
Auch für unsere folgenden Untersuchungen beginnen wir mit der
Definition (Aussagenlogische Formeln)
Die Menge der aussagenlogischen Formeln über dem endlichen Variablenvorrat
V = {A1 , A2 , A3 , . . . , An }
wird wie folgt rekursiv definiert:
◦ 0 und 1 sind aussagenlogische Formeln.
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
198
◦ Jede Variable Ai aus dem Variablenvorrat V ist eine solche Formel.
◦ Sind ϕ und ψ solche Formeln, so auch
(¬ϕ ),
(ϕ ∧ ψ ),
(ϕ ∨ ψ ),
(ϕ → ψ ),
(ϕ ↔ ψ ),
(ϕ 6↔ ψ ).
Dabei heißen die Junktoren
¬ die Negation
∧ die Konjunktion
→ die Implikation
∨ die Disjunktion
↔ die Äquivalenz
6↔ die Antivalenz
Unter einer atomaren aussagenlogischen Formel verstehen wir eine aussagenlogische
Formel, die aus genau einer aussagenlogischen Variablen besteht.
Zur Auswertung zusammengesetzter Formeln müssen wir die Bindungsstärke der Junktoren vereinbaren:
¬ bindet stärker als ∧ und ∨,
diese beiden wieder stärker als →, ↔ und 6↔ .
Die Bindungen zwischen ∧ und ∨ bzw. →, ↔ und 6↔ werden wir durch Klammern
kenntlich machen.
Interpretation aussagenlogischer Formeln
Aussagenlogische Sätze besitzen genau einen der beiden Wahrheitswerte wahr oder
falsch. Ordnen wir auf irgend eine Weise den Variablen einer aussagenlogischen Formel je einen dieser Wahrheitswerte zu, so sprechen wir von einer Interpretation.
Definition (Interpretation aussagenlogischer Formeln)
Es sei ϕ eine aussagenlogische Formel, und es seien A1 , . . . , An die in ϕ vorkommenen Variablen. Dann heißt eine Abbildung
I : {A1 , . . . , An } −→ {0, 1},
die jedem Ai genau eine der beiden Zahlen 0 oder 1 zuordnet, eine Interpretation von ϕ .
Die beiden Wahrheitswerte wahr und falsch identifizieren wir mit den natürlichen Zahlen 1 und 0.
Der folgende Semantikbegriff verleiht aussagenlogischen Formeln vermöge einer Interpretation Bedeutung. In der Aussagenlogik ist eine solche Bedeutung lediglich auf
die Wahrheitswerte 1 oder 0 reduziert, also wahr oder falsch.
4.2. AUSSAGENLOGIK
199
Zum Verständnis der nachstehenden Definition der Modellrelation (bzw. des semantischen Implikationsoperators) |= erwähnen wir vorweg: I |= ϕ heißt, dass die Formel ϕ
wahr ist unter der Interpretation I, d.h. es gilt I(ϕ ) = 1. Ferner bedeuten
◦ I |= 1, dass 1 unter jeder Interpretation wahr ist,
◦ I |6 = 0, dass 0 unter keiner Interpretation wahr ist.
Definition (Semantik der Aussagenlogik)
Es seien ϕ und ψ aussagenlogische Formeln, und es sei I eine Interpretation.
Dann erklären wir eine Modellrelation |= rekursiv wie folgt: Es gelten stets
I |= 1,
I 6|= 0,
d.h. I(1) = 1,
d.h. I(0) = 0,
und desweiteren setzen wir
I |= Ai
genau dann, wenn I(Ai ) = 1,
sowie (nach untenstehender Erklärung der aussagenlogischen Junktoren)
I |= (¬ϕ )
I |= (ϕ ∧ ψ )
I |= (ϕ ∨ ψ )
I |= (ϕ → ψ )
I |= (ϕ ↔ ψ )
I |= (ϕ 6↔ ψ )
genau dann, wenn
genau dann, wenn
genau dann, wenn
genau dann, wenn
genau dann, wenn
genau dann, wenn
I 6|= ϕ ,
I |= ϕ und I |= ψ ,
I |= ϕ oder I |= ψ ,
I 6|= ϕ oder I |= ψ ,
I |= ϕ → ψ und I |= ψ → ϕ ,
I 6|= (ϕ ↔ ψ ).
Eine Interpretation I mit der Eigenschaft I |= ϕ heißt ein Modell für ϕ .
In dieser Definition ist zu beachten, dass die Interpretationen jeweils über gleiche bzw.
gemeinsame Variablenvorrate auszuwerten sind.
Wir wollen den rekursiven Aufbau der Modellrelation an zwei einfachen Beispielen
veranschaulichen.
Beispiel. Betrachte mit Hoffmann [81], S. 89, die aussagenlogische Formel
ϕ (A1 , A2 ) = ((A1 → A2 ) → (A2 → A1 ))
zusammen mit der Interpretation
I(A1 ) = 0
und I(A2 ) = 0.
Dann haben wir schrittweise
I 6|= A1 , I 6|= A2
daher I |= (A1 → A2 ), I |= (A2 → A1 )
daher I |= ((A1 → A2 ) → (A2 → A1 ))
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
200
Also ist I ein Modell für ϕ .
Beachte, dass wir wegen I |= (A1 → A2 ) und I |= (A2 → A1 ) auch wie folgt schließen
können
I |= (A1 ↔ A2 ),
d.h. I ist auch eine Interpretation der Äquivalenz A1 ↔ A2 .
Beispiel. Betrachte die aussagenlogische Formel
ϕ (A1 , A2 ) = (A1 → (A1 ∧ A2 ))
zusammen mit Interpretation
I(A1 ) = 1 und I(A2 ) = 0.
Dann haben wir schrittweise
I |= A1 , I 6|= A2
daher I 6|= (A1 ∧ A2 )
daher I 6|= (A1 → (A1 ∧ A2 ))
◦ Denn wäre I |= (A1 ∧ A2 ), so auch I |= A1 und I |= A2 im Widerspruch zu I 6|= A2 .
◦ Ebenso kann nicht gelten I |= (A1 → (A1 ∧ A2 ), denn dann wären I 6|= A1 oder
I |= (A1 ∧ A2 ), aber beide Alternativen treffen nicht zu.
Also ist I kein Modell für ϕ .
Wahrheitstabellen
Abhängig von den vier möglichen Interpretationen zweier Variable A1 und A2 , können
wir die Wahrheitswerte der ein- bzw. zweistelligen aussagenlogischen Formeln ¬A1 ,
A1 ∧ A2 usw. in Form einer Wahrheitstabelle kompakt zusammenstellen:
A1
1
1
0
0
A2
1
0
1
0
¬A1
0
0
1
1
¬A2
0
1
0
1
A1
1
1
0
0
A2
1
0
1
0
A1 → A2
1
0
1
1
A1 ∧ A2
1
0
0
0
A2 → A1
1
1
0
1
A1 ∨ A2
1
1
1
0
A1 ↔ A2
1
0
0
1
A1 6↔ A2
0
1
1
0
4.2. AUSSAGENLOGIK
201
Anhand dieser zweiten Tabelle verifizieren wir auch unsere Beobachtung nach dem
ersten obigen Beispiel, denn wir lesen ab
I |= (A1 ↔ A2 )
I |= (A1 ↔ A2 )
für I(A1 ) = 1, I(A2 ) = 1,
für I(A1 ) = 0, I(A2 ) = 0.
Mit diesem Beispiel fassen wir also zusammen: Eine gegebene Abbildung I kann für
unterschiedliche aussagenlogische Formeln ϕ1 und ϕ2 eine Interpretation darstellen,
oder zwei verschiedene Abbildungen I1 und I2 können auch für eine gegebene Formel
ϕ Interpretationen sein.
Beispiel. Für die aussagenlogische Formel (siehe erneut oben)
ϕ (A1 , A2 ) = (A1 → (A1 ∧ A2 ))
ermitteln wir die Wahrheitstabelle
A1
1
1
0
0
A2
1
0
1
0
A1 ∧ A2
1
0
0
1
A1 → (A1 ∧ A2 )
1
0
1
1
Die spezielle Abbildung
I : {A1 , A2 } → {0, 1} mit I(A1 ) = 1 und I(A2 ) = 0
stellt also kein Modell für die Formel ϕ dar. Alle drei möglichen Modelle können wir
aus der Tabelle leicht ablesen:
I |= ϕ
I |= ϕ
I |= ϕ
mit I(A1 ) = 1, I(A2 ) = 1,
mit I(A1 ) = 0, I(A2 ) = 1,
mit I(A1 ) = 0, I(A2 ) = 0.
Beispiel. Für die aussagenlogische Formel (siehe erneut oben)
ϕ (A1 , A2 ) = ((A1 → A2 ) → (A2 → A1 ))
ermitteln wir die Wahrheitstabelle
A1
1
1
0
0
A2
1
0
1
0
A1 → A2
1
0
1
1
A2 → A1
1
1
0
1
(A1 → A2 ) → (A2 → A1 )
1
1
0
1
Die spezielle Abbildung
I : {A1 , A2 } → {0, 1} mit I(A1 ) = 0 und I(A2 ) = 1
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
202
stellt also kein Modell für die Formel ϕ dar. Ein mögliches Modell für ϕ haben wir
bereits oben angegeben; die Tabelle gibt alle drei möglichen Modelle wieder:
I |= ϕ
I |= ϕ
I |= ϕ
mit I(A1 ) = 1, I(A2 ) = 1,
mit I(A1 ) = 1, I(A2 ) = 0,
mit I(A1 ) = 0, I(A2 ) = 0.
Erfüllbarkeit und Allgemeingültigkeit
Wir benötigen weitere Begriffen, um aussagenlogische Formeln zu charakterisieren.
Definition (Erfüllbarkeit, Allgemeingültigkeit)
Eine aussagenlogische Formel ϕ heißt
◦ unerfüllbar, falls ϕ kein Modell besitzt,
◦ widerlegbar, falls es eine Interpretation gibt, die kein Modell für ϕ ist,
◦ erfüllbar, falls ϕ wenigstens ein Modell besitzt,
◦ allgemeingültig, falls alle Interpretationen Modelle für ϕ sind.
Eine allgemeingültige Formel bezeichnen wir auch als Tautologie, eine unerfüllbare
Formel als Kontradiktion.
Beispiel. Welche Interpretationen I sind Modelle der aussagenlogischen Formel
ϕ (A1 , A2 ) = ((A1 ∧ A2 ) → (A1 ∨ ¬A2 ))?
Wir stellen eine Wahrheitstabelle auf:
A1
1
1
0
0
A2
1
0
1
0
¬A2
0
1
0
1
A1 ∧ A2
1
0
0
0
A1 ∨ ¬A2
1
1
0
1
(A1 ∧ A2 ) → (A1 ∨ ¬A2 )
1
1
1
1
Es ist also jede Interpretation ein Modell für ϕ , d.h. ϕ ist allgemeingültig bzw. eine
Tautologie.
Beispiel. Welche Interpretationen I sind Modelle der aussagenlogischen Formel
ϕ = ((A1 ∨ ¬A1 ) → (A1 ∧ ¬A2 ))?
Wir stellen die folgende Wahrheitstabelle auf:
4.2. AUSSAGENLOGIK
A1
1
1
0
0
A2
1
0
1
0
¬A1
0
0
1
1
¬A2
0
1
0
1
203
A1 ∨ ¬A1
1
1
1
1
A2 ∧ ¬A2
0
0
0
0
(A1 ∨ ¬A1 ) → (A2 ∧ ¬A2 )
0
0
0
0
Es besitzt ϕ also überhaupt kein Modell, d.h. ϕ ist unerfüllbar.
Bemerkung. Diesen Beispielen lassen sich folgende allgemeine Regeln entnehmen:
◦ Ist eine aussagenlogische Formel ϕ allgemeingültig, so ist ¬ϕ unerfüllbar.
◦ Ist eine aussagenlogische Formel ϕ unerfüllbar, so ist ¬ϕ allgemeingültig.
Aus Zoglauer [174], S. 48, zählen wir wichtige Tautologien der Aussagenlogik auf,
deren Gültigkeiten wir in Paragraph 4.4.3 des Anhangs nachweisen werden (zur Übersichtlichkeit lassen wir die äußeren Formelklammern weg):
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
A ∨ ¬A
¬(A ∧ ¬A)
A→A
(¬A → A) → A
(A ∧ B) → A
A → (A ∨ B)
A → (B → A)
¬A → (A → B)
(¬A → ¬B) → (B → A)
((A → B) ∧ A) → B
((A → B) ∧ ¬B) → ¬A
((A → B) ∧ (B → C)) → (A → C)
(A → (A → B)) → (A → B)
(A → (B → C)) → (B → (A → C))
(A → B) → ((C ∧ A) → (C ∧ B))
(A → B) → ((C ∨ A) → (C ∨ B))
(A → (B → C)) → ((A → B) → (A → C))
(Satz vom ausgeschlossenen Dritten)
(Satz vom Widerspruch)
(Abschwächungsregel)
(Kontraposition)
(Modus ponens)
(Modus tollens)
(Kettenschluss)
(Prämissenverschmelzung)
(Prämissenvertauschung)
(Distributivität der Implikation)
Aus der Abschwächungsregel, der Kontraposition, dem modus ponens und der Distributivität der Implikation werden wir in Paragraph 4.2.2 ein geeignetes Axiomensystem
der Aussagenlogik bilden.
Beispiel. Wir beweisen A¬ ∨ A anhand von Wahrheitstabellen:
A
0
0
1
1
¬A
1
1
0
1
A ∨ ¬A
1
1
1
1
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
204
Unabhängig von der Interpretation I : {A} → {0, 1} gilt also stets I |= (A ∨ ¬A), d.h.
A ∨ ¬A ist tautologisch.
Beispiel. Nach Zoglauer [174], S. 50, stellt folgender Schluss von der Falschheit der
Implikation ein wichtiges Beweismittel dar, welches wir am Beispiel der als tautologisch behaupteten Implikation
A → (A ∨ B)
vorstellen wollen: Angenommen, es gibt eine Interpretation I : {A, B} → {0, 1} mit
I 6|= (A → (A ∨ B)), d.h. für diese zu I gehörige Belegung wäre die Implikation falsch.
Dann gilt notwendig (A → B ist nur dann falsch, wenn A richtig und B falsch ist)
I |= A
und I 6|= (A ∨ B).
Aus I 6|= (A ∨ B) folgen aber I 6|= A und I 6|= B unter vorzeitiger“ Verwendung der
”
zweiten de Morganschen Regel
Es gilt (I |= ϕ oder I |= ψ ) nicht genau dann, wenn (I 6|= ϕ und I 6|= ψ ).
Wir werden diese Regel erst später einführen, könnten sie jedoch an dieser Stelle anhand einer Wahrheitstabelle verifizieren. Insbesondere ist jetzt A gleichzeitig wahr und
falsch, I |= A und I 6|= A, was ein Widerspruch ist, denn I : {A, B} → {0, 1} ist eine
Abbildung, die A bzw. B genau einen Wert zuordnet. Also kann es eine Interpretation,
unter der A → (A ∨ B) nicht wahr ist, nicht geben.
Bemerkung. Ebenso durch eine Wahrheitstabelle überzeugt man sich von der ersten
de Morganschen Regel
Es gilt (I |= ϕ und I |= ψ ) nicht genau dann, wenn (I 6|= ϕ oder I 6|= ψ ).
Die erste und die zweite de Morgansche Regel stellen zwei sogenannte aussagenlogische Äquivalenzen dar, die wir nachstehend behandeln wollen.
Semantische Folgerung und Äquivalenz
Wir können nun die Begriffe semantische Folgerung und Äquivalenz formalisieren.
Definition (Semantische Folgerung)
Es seien ϕ1 , . . . , ϕn und ψ aussagenlogische Formeln. Dann bezeichnen wir ψ
als semantische Folgerung der Menge {ϕ1 , . . . , ϕn }, in Zeichen
{ϕ1 , . . . , ϕn } |= ψ ,
4.2. AUSSAGENLOGIK
205
falls jedes Modell für {ϕ1 , . . . , ϕn } auch ein Modell für ψ ist. Dabei heißt eine
Interpretation I ein Modell für {ϕ1 , . . . , ϕn }, falls I ein Modell für alle Formeln
ϕi , i = 1, . . . , n, ist. Im Falle n = 1 schreiben wir auch kurz
ϕ |= ψ
statt {ϕ } |= ψ ,
und wir vereinbaren
|= ϕ ,
falls 0/ |= ϕ .
Auch hier können wir festhalten:
◦ Es gilt |= ϕ genau dann, wenn ϕ allgemeingültig ist.
◦ Es gilt ϕ |= ψ genau dann, wenn (ϕ → ψ ) allgemeingültig ist.
Zum Beweis der ersten Behauptung ist zunächst zu beachten, dass für die leere Menge
von Formeln alle möglichen Interpretationen Modelle sind, d.h.
I |= 0/ für alle Interpretationen I.
Es heißt also 0/ |= ϕ , dass jede mögliche Interpretation auch Modell von ϕ ist.
→ Aus der leeren Menge lässt sich alles folgern.
Und damit steht 0/ |= ϕ für die Tatsache, dass ϕ allgemeingültig ist. Ebenso macht man
sich die Umkehrung klar.
Für einen Beweis des zweiten Punktes führen wir eine Fallunterscheidung:
(i) Zunächst gelte ϕ |= ψ , d.h. jede Interpretation I, die Modell für ϕ ist, ist auch
Modell für ψ . Die für diesen aussagenlogischen Ausdruck endliche Menge aller
möglichen in Betracht kommenden Interpretationen I spaltet sich auf in
◦ alle Interpretationen I mit I 6|= ϕ ,
◦ alle Interpretationen I mit I |= ϕ , dann aber auch I |= ψ nach Voraussetzung.
Zusammengefasst gilt
ϕ |= ψ
impliziert
(I 6|= ϕ oder I |= ψ ) für alle Interpretationen I
I |= (ϕ → ψ ) für alle Interpretationen I,
bzw. nach Definition
weshalb (ϕ → ψ ) eine Tautologie ist.
(ii) Die Formel (ϕ → ψ ) sei allgemeingültig, d.h. es gilt
I |= (ϕ → ψ ) für alle Interpretationen I
bzw. nach Definition
(I 6|= ϕ oder I |= ψ ) für alle Interpretationen I.
Falls also I |= ϕ für ein I richtig ist, so folgt notwendig I |= ψ .
Der semantische Folgerungsbegriff ϕ |= ψ führt uns unmittelbar zur nächsten
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
206
Definition (Äquivalenz)
Zwei aussagenlogische Formeln ϕ und ψ heißen äquivalent, in Zeichen ϕ ≡ ψ ,
falls gelten
ϕ |= ψ und ψ |= ϕ .
Zwei äquivalente Formeln besitzen dieselben Modelle, d.h. sie sind unter denselben
Interpretationen beide wahr oder beide falsch.
Für alle aussagenlogischen Beweise grundlegende Äquivalenzen entnehmen wir aus
Hoffmann [81], S. 92, die folgende Zusammenstellung:
◦ Kommutativgesetze
ϕ ∧ψ ≡ ψ ∧ϕ
ϕ ∨ψ ≡ ψ ∨ϕ
◦ Distributivgesetze
ϕ ∧ (ψ ∨ χ ) ≡ (ϕ ∧ ψ ) ∨ (ϕ ∧ χ )
ϕ ∨ (ψ ∧ χ ) ≡ (ϕ ∨ ψ ) ∧ (ϕ ∨ χ )
◦ Assoziativgesetze
(ϕ ∧ ψ ) ∧ χ ) ≡ ϕ ∧ (ψ ∧ χ )
(ϕ ∨ ψ ) ∨ χ ≡ ϕ ∨ (ψ ∨ χ )
◦ Neutrale Elemente
ϕ ∧1 ≡ ϕ
ϕ ∨0 ≡ ϕ
◦ Inverse Elemente
ϕ ∧ ¬ϕ ≡ 0
ϕ ∨ ¬ϕ ≡ 1
◦ Idempotenzgesetze
ϕ ∧ϕ ≡ ϕ
ϕ ∨ϕ ≡ ϕ
◦ Absoptionsgesetze
(ϕ ∧ ψ ) ∨ ϕ ≡ ϕ
(ϕ ∨ ψ ) ∧ ϕ ≡ ϕ
◦ de Morgansche Regeln
¬(ϕ ∧ ψ ) = ¬ϕ ∨ ¬ψ
¬(ϕ ∨ ψ ) = ¬ϕ ∧ ¬ψ
◦ Eliminationsgesetze
ϕ ∧0 ≡ 0
4.2. AUSSAGENLOGIK
207
ϕ ∨1 ≡ 1
◦ Doppelnegationsgesetz
¬¬ϕ ≡ ϕ
Machen Sie sich als Übung diese Formeln anhand von Wahrheitstabellen klar.
Normalformen
Aussagenlogische Formeln lassen sich in sogenannte Normalformen überführen, d.h.
äquivalente Formeln, die ausschließlich aus einfachen Variablen und Junktoren aus
Junktorenbasen bestehen. Solche Normalformen werden wir im nächsten Paragraphen
beim Beweis der Vollständigkeit eines geeigneten aussagenlogischen Kalküls heranziehen.
Die folgenden Ausführungen orientieren sich an Zoglauer [174], Abschnitt 3.4.
Definition (Literale und Normalformen)
1. Eine Variable Ai oder deren Negation ¬Ai heißt ein Literal χi .
2. Ein Ausdruck der Form
ϕ1 ∧ ϕ2 ∧ . . . ∧ ϕn
mit Formeln ϕi = χi,1 ∨. . .∨ χi,ki und Literalen χi,k , d.h. eine Konjunktion
von Disjunktionstermen, heißt konjunktive Normalform.
3. Ein Ausdruck der Form
ϕ1 ∨ ϕ2 ∨ . . . ∨ ϕn
mit Formeln ϕi = χi,1 ∧ . . . ∧ χi,ki und Literalen χi,k , d.h. eine Disjunktion
von Konjunktionstermen, heißt disjunktive Normalform.
Beispiel. Beispiele für konjunktive Normalformen sind
A ∨ A,
(A ∨ B) ∧ (B ∨C) usw.
Beispiele für disjunktive Normalformen sind
A ∧ ¬A,
(A ∧ ¬A) ∨ (A ∧ B) usw.
Beispiel. Nach Definition gilt für die Implikation ϕ → ψ zweier Literalen ϕ und ψ
die äquivalente Darstellung
(ϕ → ψ ) ≡ (¬ϕ ∨ ψ ),
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
208
weshalb also die Implikation ϕ → ψ in konjunktive Normalform überführt ist. Wir
berechnen hieraus nach Zoglauer [174] unter Verwendung obiger Distributivgesetze
wie folgt eine disjunktive Normalform:
¬ϕ ∨ ψ ≡
≡
≡
≡
≡
(¬ϕ ∧ 1) ∨ (1 ∧ ψ )
(¬ϕ ∧ (ψ ∨ ¬ψ )) ∨ ((ϕ ∨ ¬ϕ ) ∧ ψ )
((¬ϕ ∧ ψ ) ∨ (¬ϕ ∧ ¬ψ )) ∨ ((ϕ ∧ ψ ) ∨ (¬ϕ ∧ ψ ))
(¬ϕ ∧ ψ ) ∨ (¬ϕ ∧ ¬ψ ) ∨ (ϕ ∧ ψ ) ∨ (¬ϕ ∧ ψ )
(¬ϕ ∧ ψ ) ∨ (¬ϕ ∧ ¬ψ ) ∨ (ϕ ∧ ψ ).
Ganz allgemein gilt der folgende
Satz 4.2 (Existenz von Normalformen)
Jeder aussagenlogische Ausdruck besitzt eine äquivalente konjunktive und eine
äquivalente disjunktive Normalform.
Beweis. Wir führen den Beweis anhand eines Beispiels einer aussagenlogischen Formel ϕ (A1 , A2 , A3 ) in Abhängigkeit von drei Variablen A1 , A2 und A3 mit der folgenden
Wahrheitstabelle
A1
0
0
0
0
1
1
1
1
A2
0
0
1
1
0
0
1
1
A3
0
1
0
1
0
1
0
1
ϕ (A1 , A2 , A3 )
0
0
1
0
1
1
0
1
Gesucht sind eine in konjunktiver Normalform und eine in disjunktiver Normalform
vorliegende aussagenlogische Formel, die äquivalent zu ϕ ist. Zu diesem Zweck gehen
wir wie folgt vor:
(i) ϕ ist falsch, falls
(¬A1 ∧ ¬A2 ∧ ¬A3 ) ∨ (¬A1 ∧ ¬A2 ∧ A3 ) ∨ (¬A1 ∧ A2 ∧ A3 ) ∨ (A1 ∧ A2 ∧ ¬A3 ),
und Negation unter Beachtung der de Morgenschen Regeln liefert die Formel
(A1 ∨ A2 ∨ A3 ) ∧ (A1 ∨ A2 ∨ ¬A3 ) ∧ (A1 ∨ ¬A2 ∨ ¬A3 ) ∧ (¬A1 ∨ ¬A2 ∨ A3 ).
Also ist diese in konjunktiver Normalform vorliegende Formel äquivalent zur
gegebenen Formel ϕ .
4.2. AUSSAGENLOGIK
209
(ii) ϕ ist wahr, falls
(¬A1 ∧ A2 ∧ ¬A3 ) ∨ (A1 ∧ ¬A2 ∧ ¬A3 ) ∨ (A1 ∧ ¬A2 ∧ A3 ) ∨ (A1 ∧ A2 ∧ A3 )
wahr ist. Also ist diese in disjunktiver Normalform vorliegende Formel äquivalent zur gegebenen Formel ϕ .
Das war zu zeigen.
Die in diesem Beweis angegebene konjunktive und disjunktive Normalform sind nicht
notwendig die zu ϕ minimalen Normalformen. Zur Konstruktion solcher Formen sind
in der Regel weitere Umformungsschritte notwendig (Stichwort: Karnaugh-VeitchDiagramm).
Junktorenbasen
Mit dem vorigen Satz lässt sich jeder aussagenlogische Ausdruck äquivalent in eine
konjunktive oder eine disjunktive Normalform überführen, für deren Darstellungen lediglich die drei Junktoren
¬ ∨ ∧
genügen.
→ Wir bezeichnen die Menge {¬, ∨, ∧} als funktional vollständig.
Mit Hilfe der de Morganschen Regeln
¬(ϕ ∧ ψ ) = ¬ϕ ∨ ¬ψ ,
¬(ϕ ∨ ψ ) = ¬ϕ ∧ ¬ψ
lässt sich aber stets einer der Junktoren ∨ oder ∧ wie folgt eliminieren
ϕ ∧ ψ = ¬(¬ϕ ∨ ¬ψ ),
ϕ ∨ ψ = ¬(¬ϕ ∧ ¬ψ ),
d.h. zur äquivalenten Darstellung einer aussagenlogischen Formel genügt eine der beiden Junktorenmengen {¬, ∨} bzw. {¬, ∧}.
→ Die Menge {¬, ∨, ∧} ist ebenfalls funktional abhängig.
Definition (Junktorenbasen)
Eine funktional vollständige und funktional unabhängige Junktorenmenge heißt
eine Junktorenbasis.
Die Mengen {¬, ∨} und {¬, ∧} sind also Beispiele für aussagenlogische Junktorenbasen. Wegen
ϕ → ψ ≡ ¬ϕ ∨ ψ
und den daraus folgenden Äquivalenzen (siehe die oben angeschriebenen Regeln)
ϕ ∨ ψ ≡ ¬ϕ → ψ ,
ϕ ∧ ψ ≡ ¬(¬ϕ ∨ ¬ψ ) ≡ ¬(ϕ → ¬ψ ) usw.
stellt aber auch {¬, →} eine Junktorenbasis dar, wovon wir nun unmittelbar Gebrauch
machen werden.
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
210
4.2.2 Das aussagenlogische Kalkül
Aussagenlogische Axiome
Es ist möglich, die Aussagenlogik auf das Fundament einiger weniger Axiome und
Schlussregeln zu stellen, die wir in diesem Paragraphen kennenlernen wollen. Das so
resultierende formale System wird sich als vollständig, unabhängig und widerspruchsfrei herausstellen.
Axiome der Aussagenlogik
(A1) ϕ → (ψ → ϕ )
(A2) (ϕ → (ψ → χ )) → ((ϕ → ψ ) → (ϕ → χ ))
(A3) (¬ϕ → ¬ψ ) → (ψ → ϕ )
Wir fügen diesen Axiomen einige kurze Bemerkungen hinzu:
◦ Das erste Axiom (A1) heißt Abschwächungsregel und stellt sicher, dass mit ϕ
auf die schwächere Aussage ψ → ϕ geschlossen werden darf.
◦ (A2) bedeutet die Distributivität des Implikationsoperators → .
◦ Die Kontraposition, das dritte Axiom (A3), beinhaltet die Umkehrung einer logischen Schlussrichtung nach vorangegangener Negierung der Argumente.
Diesen drei Axiomen stellen wir zwei Schlussregeln zur Seite. Zunächst die
Schlussregel der Aussagenlogik
(MP)
ϕ,ϕ → ψ
ψ
Diese Schlussfigur, deren Spuren sich bis in die Antike nachweisen lassen, bezeichnet
man als modus ponens (genauer: modus ponendo ponens) oder einfach als Abtrennungsregel. Sie besagt, dass, falls ϕ wahr ist und ψ impliziert, so können wir auch auf
ψ schließen. Eine kritische historische Auseinandersetzung über ihre Herkunft findet
sich z.B. in S. Bobzien [14].
Schließlich vereinbaren wir noch die
Substitutionsregel der Aussagenlogik (SR)
In einem aussagenlogischen Theorem, d.h. einem Axiom oder einer hieraus
durch Anwenden der Schlussregel (MP) abgeleiteten aussagenlogischen For-
4.2. AUSSAGENLOGIK
211
mel, darf für jede beliebige Variable eine andere Variable oder eine andere
Aussageform eingesetzt werden.
Eine solche Substitution muss an allen Stellen der Formel erfolgen, in denen die zu
substituierende Variable auftritt. Der Wahrheitswert des Ausdrucks ändert sich dabei
nicht.
Oder mit anderen Worten:
Ist ϕ (A1 , . . . , An ) ein aus den Variablen A1 , . . . , An bestehendes aussagenlogisches Theorem, und bezeichnet ϕ ∗ eine solche Formel, die aus ϕ folgt, wenn die A1 , . . . , An gleichzeitig durch Formeln ψ1 , . . . , ψn ersetzt werden, so gilt mit |= ϕ auch |= ϕ ∗ .
Beispiel. Substituiere in der Tautologie ϕ = (A → (A ∨ B)) die Variable A durch ¬B
und die Variable B durch (A → B). Es ergibt sich der neue tautologische Ausdruck
(siehe Zoglauer [174])
ϕ ∗ = ¬B → (¬B ∨ (A → B)).
Beispiel. Die Formel (A ∧ ¬A) → B ist für jede Belegung der Variablen A und B stets
wahr, d.h. auch hier gilt |= ϕ . Nun ist ϕ von der Form ψ → χ , aber die Formel ψ → χ
ist keine Tautologie. Also dürfen wir in der Substitutionsregel die Implikationsrichtung
nicht umkehren: Es folgt nicht |= ϕ aus |= ϕ ∗ (siehe Kleene [90], Seite 14).
Aussagenlogische Theoreme
Wir wollen zwei erst Folgerungen aus diesen Regeln ableiten (die Zählweise richtet
sich nach untenstehender Theoremliste).
Satz 4.3 (Theoreme der Aussagenlogik)
Es gelten
(T1) ϕ → ϕ
(T8) ¬ϕ → (ϕ → ψ )
Beweis. Um T1 nachzuweisen, gehen wir mit Hoffmann [81], S. 97, wie folgt vor:
1.
2.
3.
4.
5.
⊢ (ϕ → ((ϕ → ϕ ) → ϕ )) → ((ϕ → (ϕ → ϕ )) → (ϕ → ϕ ))
⊢ ϕ → ((ϕ → ϕ ) → ϕ )
⊢ (ϕ → (ϕ → ϕ )) → (ϕ → ϕ )
⊢ ϕ → (ϕ → ϕ )
⊢ϕ →ϕ
(A2)
(A1)
(1, 2, MP)
(A1, SR)
(3, 4, MP)
Damit ist Theorem T1 bewiesen. Wir kommen zu T8:
1. ⊢ ¬ϕ
(Vor)
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
212
2.
3.
4.
5.
⊢ ¬ϕ → (¬ψ → ¬ϕ )
⊢ ¬ψ → ¬ϕ
⊢ (¬ψ → ¬ϕ ) → (ϕ → ψ )
⊢ϕ →ψ
(A1)
(1, 2, MP)
(A3)
(3, 4, MP)
Damit ist auch Theorem T8 gezeigt.
Theorem T1 erkennen wir nach Definition des Implikationsoperators → sofort als Tautologie, nämlich
(¬ϕ ∨ ϕ ) ≡ (ϕ → ϕ ).
Unser Beweis zeigt aber, dass ϕ → ϕ auch ein Theorem innerhalb unseres formalen,
aussagenlogischen Kalküls darstellt, d.h. auch rein formal und unabhängig von Wahrheitsbelegungen bewiesen werden kann.
Das zweite Theorem T8 macht deutlich, weshalb die Widerspruchsfreiheit unseres
Kalküls wichtiger ist als seine Vollständigkeit oder Unabhängigkeit: Bereits ein einziger Widerspruch macht nämlich die gesamte Theorie nutzlos.
Satz 4.4 (Widersprüchliche Kalküle)
Beinhaltet unser formales Kalkül einen Widerspruch, so kann es jede Aussage
beweisen.
Beweis. Angenommen nämlich, ϕ und ¬ϕ sind Theoreme (Axiome bzw. bewiesene
Formeln) des Kalküls.
◦ Dann liefert T8 unter Verwendung des modus ponens, angewendet auf ¬ϕ ,
ϕ → ψ.
◦ Hierauf wenden wir erneut den modus ponens mit der (als Voraussetzung wahren) Prämisse ϕ an und erhalten
ψ,
und zwar für jedes beliebige ψ .
Damit haben wir aus ϕ und ¬ϕ auf ein beliebiges ψ geschlossen.
Wir wollen nun nach Hoffmann [81], S. 96, wie folgt unsere Liste aussagenlogischer
Theoreme vervollständigen.
Nachdem wir die Beweisergänzung durch Voraussetzung und das Deduktionstheorem
der Aussagenlogik besprochen haben, führen wir weiter unten lediglich den Beweis
von Theorem T2 vor, dem sogenannten modus barbara (Transitivität des Implikationsoperators), den wir – natürlich nach seinem Beweis – als weitere aussagenlogische
Schlussregel zulassen wollen.
4.2. AUSSAGENLOGIK
213
Schlussregel der Aussagenlogik (Ergänzung)
(MB)
ϕ → ψ,ψ → χ
ϕ→χ
Alle anderen Beweise verlagern wir in den Paragraphen 4.4.4 des Anhangs.
Jetzt aber zu der angekündigten Theoremliste.
Satz 4.5 (Theoreme der Aussagenlogik II)
(T2) (ϕ → ψ ) → ((ψ → χ ) → (ϕ → χ ))
(T3) ϕ → ((ϕ → ψ ) → ψ )
(T4) ¬¬ϕ → ϕ
(T5) ϕ → ¬¬ϕ
(T6) (ϕ → ψ ) → (¬ψ → ¬ϕ )
(T7) ϕ → (¬ψ → ¬(ϕ → ψ ))
(T9) ϕ → (ψ → (ϕ → ψ ))
(T10) ¬(ϕ → ψ ) → ϕ
(T11) ¬(ϕ → ψ ) → ¬ψ
(T12) (ϕ → ¬ϕ ) → ¬ϕ
(T13) (¬ϕ → ϕ ) → ϕ
(T14) (ϕ → ψ ) → ((¬ϕ → ψ ) → ψ )
(T15) ¬(ϕ → ϕ ) → ψ
Das Deduktionstheorem
Bevor wir den Beweis von T2 angehen, erinnern wir an unsere Definition des semantischen Folgerungsoperators |=, genauer
{ϕ1 , . . . , ϕn } |= ψ
einer semantischen Folgerung ψ aus der Menge {ϕ1 , . . . , ϕn }. Genauso wollen wir die
Schreibweise
{ϕ1 , . . . , ϕn } ⊢ ψ
verstehen: Die Formel ψ lässt sich rein formal aus der Menge {ϕ1 , . . . , ϕn } ableiten
oder, wie wir genauer sagen wollen, deduzieren.
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
214
Das folgende Resultat ermöglicht es uns, Beweise in der Form
Unter der Annahme von . . .“
”
usw. zu führen (siehe Hoffmann [81], Seite 82).
Satz 4.6 (Beweisergänzung durch Voraussetzungen – BV)
Ergänzen wir unser System von Axiomen und Schlussregeln durch eine Menge
M weiterer Voraussetzungen, d.h. durch weitere Axiome oder syntaktisch abgeleitete Theoreme oder sogar nicht notwendigerweise wahre Annahmen, so sind
folgende Schlüsse richtig
◦ {ϕ } ∪ M ⊢ ϕ ,
◦ M ⊂ N und M ⊢ ϕ , so auch N ⊢ ϕ ,
◦ M ⊢ ϕ1 , . . . , M ⊢ ϕn , so impliziert {ϕ1 , . . . , ϕn } ⊢ ϕ auch M ⊢ ϕ .
Nun gilt der folgende
Satz 4.7 (Deduktionstheorem der Aussagenlogik – DTA)
Für beliebige aussagenlogische Formeln ϕ , ϕ1 , . . . , ϕ und ψ gelten
ϕ⊢ψ
genau dann, wenn
⊢ (ϕ → ψ )
bzw. allgemeiner
{ϕ1 , . . . , ϕn , ϕ } ⊢ ψ
genau dann, wenn {ϕ1 , . . . , ϕn } ⊢ (ϕ → ψ ).
Für einen Beweis dieses Satzes verweisen wir auf Hoffmann [81], Seite 95.
Kleene [90], Seite 39, folgend, findet sich dieses Resultat erstmals bei Herbrandt 1928
in dem Aufsatz Sur la théorie de la démonstration noch ohne Beweis, 1930 in Recherches sur la théorie de la démonstration mit einem Beweis. Als dritte Quelle führt er
Tarskis Artikel Über einige fundamentale Begriffe der Metamathematik aus dem Jahre
1930 auf.
Wir kommen nun zum angekündigten
Beweis von T2. Wir folgen Hoffmann [81], Seite 97:
1.
2.
3.
4.
5.
{ϕ
{ϕ
{ϕ
{ϕ
{ϕ
→ ψ,ψ
→ ψ,ψ
→ ψ,ψ
→ ψ,ψ
→ ψ,ψ
→ χ,ϕ} ⊢ ϕ
→ χ , ϕ } ⊢ (ϕ → ψ )
→ χ,ϕ} ⊢ ψ
→ χ , ϕ } ⊢ (ψ → χ )
→ χ,ϕ} ⊢ χ
(BV)
(BV)
(1, 2, MP)
(BV)
(3, 4, MP)
4.2. AUSSAGENLOGIK
215
6. {ϕ → ψ , ψ → ϕ } ⊢ (ϕ → χ )
7. {ϕ → ψ } ⊢ ((ψ → ϕ ) → (ϕ → χ ))
8. ⊢ (ϕ → ψ ) → ((ψ → χ ) → (ϕ → χ ))
(5, DTA)
(6, DTA)
(7, DTA)
Damit ist Theorem T2 bewiesen.
Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit des aussagenlogischen Kalküls
Wir wollen uns nun der Widerspruchsfreiheit und der Vollständigkeit unseres aussagenlogischen Kalküls
(A1) ϕ → (ψ → ϕ )
(A2) (ϕ → (ψ → χ )) → ((ϕ → ψ ) → (ϕ → χ ))
(A3) (¬ϕ → ¬ψ ) → (ψ → ϕ )
(MP)
ϕ,ϕ → ψ
ψ
(SR) Substitutionsregel
zuwenden.
Zunächst zur Widerspruchsfreiheit, die bedeutet, dass es nicht möglich ist, für eine
Aussage ϕ gleichzeitig ϕ und ¬ϕ abzuleiten, d.h.
aus
⊢ϕ
folgt stets
6⊢ ¬ϕ ,
und die wir als Korollar dem folgenden Satz entnehmen werden:
Satz 4.8
Jedes Theorem ist eine Tautologie, d.h. ist eine Aussage syntaktisch beweisbar,
so ist auch semantisch wahr:
aus
⊢ϕ
folgt stets
|= ϕ .
Beweisskizze. Wir gehen wie in Zoglauer [174] vor. Der Beweis besteht aus zwei
Schritten, deren detaillierte Ausgestaltungen wir als Übung belassen.
(i) Zunächst sind die drei Axiome A1, A2 und A3, wie wir bereits wissen, tautologisch und damit semantisch wahr (siehe Seite 203 oben).
(ii) Die Schlussregel modus ponens (MP) und die Substitutionsregel (SR) überführen
semantisch wahre Sätze in semantisch wahre Sätze, wie wir an einfachen Beispielen verifiziert haben.
Das beweist bereits den Satz.
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
216
Die Widerspruchsfreiheit unseres Axiomensystems folgt nun aus der Kontraposition
der Aussage dieses Satzes:
→ Eine Aussage, die nicht semantisch wahr ist, d.h. die keine Tautologie darstellt,
kann auch nicht syntaktisch bewiesen werden. Insbesondere können wir mit unserem aussagenlogischen Kalkül auf syntaktischer Ebene keine Widersprüche ableiten. Die Aussagenlogik ist somit widerspruchsfrei.
Wir kommen nun zur inversen Behauptung.
Satz 4.9
Jede Tautologie ist ein Theorem, d.h. ist eine Aussage semantisch wahr, so ist
sie auch syntaktisch beweisbar:
aus
|= ϕ
folgt stets
⊢ ϕ.
Beweisskizze. Auch hier folgen wir Zoglauer [174] und belassen die detaillierten Ausführungen der einzelnen Beweisschritte als Übung. Sei also ϕ innerhalb unseres Systems eine tautologische Formel.
(i) Zunächst überführen wir ϕ in konjunktive Normalform und erhalten so eine
neue, zu ϕ syntaktisch äquivalente Formel ϕ ∗ .
(ii) Man überzeugt sich davon, dass auch ϕ ∗ tautologisch ist, da alle zum Beweisschritt (i) verwendeten Schlussregeln wahrheitserhaltend sind.
(iii) Es hat ϕ ∗ die Gestalt ϕ ∗ = ψ1 ∧ . . . ∧ ψn . Da aber ϕ ∗ tautologisch ist, muss jedes
Konjunktionsglied ψi , i = 1, . . . , n, tautologisch sein. Das wiederum impliziert
notwendig, dass jedes dieser ψi von der Form χi ∨ ¬χi ist.
(iv) Es ist aber χi ∨ ¬χi bzw. die syntaktisch äquivalente Formulierung χi → χi ein
Theorem unseres Systems. Mit anderen Worten: Jedes Konjunktionsglied ψi ist
ein Theorem unseres Systems. Damit ist auch ϕ ∗ ein Theorem, und wegen der
syntaktischen Äquivalenz von ϕ ∗ und ϕ ist schließlich ϕ ein Theorem.
Damit ist der Beweis abgeschlossen.
Wir wollen noch einmal den Unterschied zwischen semantischer Wahrheit und syntaktischer Beweisbarkeit betonen:
◦ Eine wahre Aussage muss nicht notwendig beweisbar sein.
◦ Eine beweisbare Aussage muss nicht notwendig wahr sein.
Es ist von zentraler Bedeutung, diese Begrifflichkeiten zu trennen.
Mit den Sätzen 4.8 und 4.9 haben wir aber den für unser aussagenlogisches Kalkül
wichtigen Satz gezeigt:
4.3. PRÄDIKATENLOGIK ERSTER STUFE
217
→ Innerhalb des hier vorgestellten aussagenlogischen Kalküls ist jede wahre Aussage auch beweisbar, und jede beweisbare Aussage ist auch wahr. Die Aussagenlogik ist somit vollständig.
In Paragraph 4.4.7 des Anhangs wollen wir einen alternativen Beweis dieses Vollständigkeitssatzes diskutieren, der auf Kalmar [87] aus dem Jahre 1935 zurückgeht.
4.3 Prädikatenlogik erster Stufe
4.3.1 Ein einleitendes Beispiel
Die uns gewohnte Mathematik benötigt mehr, als uns die Aussagenlogik zur Verfügung
stellen kann. Genauer baut sie auf einer die Aussagenlogik erweiterten Logik auf, die
im Jahre 1879 der Mathematiker Frege mit seiner berühmten Begriffsschrift initiierte:
nämlich die sogenannte Prädikatenlogik.
Wir wollen in diesem Abschnitt die Grundlagen der Prädikatenlogik erster Stufe vorstellen und orientieren uns dabei erneut an Hoffmann [81], Kapitel 2.
Erinnern Sie sich zunächst einmal an die aus der Analysisvorlesung bekannte Definition der Stetigkeit einer reellwertigen Funktion f : Ω → R auf einem Definitionsbereich
Ω⊂R:
→ Die Funktion f : Ω → R heißt im Punkt x0 ∈ Ω stetig, falls zu jedem reellen
ε > 0 ein δ (ε , x0 ) > 0 existiert, so dass gilt
| f (x) − f (x0 )| < ε
für alle x ∈ Ω mit |x − x0 | < ε .
Unter Benutzung der aus dem Unterricht bekannten Quantoren
∀ (für alle)
und
∃ (es existiert)
können wir auch formal schreiben
∀(ε > 0) ∃(δ > 0) ∀(x ∈ Ω) (|x − x0 | < δ → | f (x) − f (x0 )| < ε ).
y
2δ
f (x0 )
2ε
x0
x
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
218
Wir wollen die Bestandteile dieser prädikatenlogischen Formel näher analysieren und
damit die Unterschiede solcher Ausdrücke zu den uns bekannten aussagenlogischen
Ausdrücken deutlich machen.
◦ Die Formel enthält Variablen:
Es sind nämlich x, x0 , ε und δ Variablen aus dem reellen Zahlenbereich R;
diese Menge, welcher die Variablen entnommen werden, bezeichnen wir
als Individuenbereich.
◦ Die Formel enthält Quantoren:
Die Variablen ε und x werden durch den Allquantor ∀, die Variable δ wird
durch den Existenzquantor ∃ gebunden. Die Variable x0 steht hingegen
nicht im Wirkungsbereich eines dieser beiden Quantoren, sie wird daher
als ungebunden oder frei bezeichnet.
◦ Die Formel enthält Funktionen:
Es sind nämlich f und | · | zwei einstellige Funktionssymbole, d.h. Abbildungen, die Elemente des Individuenbereiches auf andere Elemente des
Individuenbereiches zuordnen.
◦ Die Formel enthält Prädikate:
Es sind nämlich ∈ Ω und < zwei zweistellige Prädikate, d.h. Relationen,
die das Bestehen oder Nichtbestehen einer Beziehung zwischen zwei Elementen des Individuenbereiches ausdrücken.
Mit diesem einleitenden Beispiel können wir nun an detaillierte Inhalte der Prädikatenlogik erster Stufe gehen.
Ausgangspunkt sind stets die von uns diskutierten Elemente der Aussagenlogik, d.h. ihre syntaktischen und semantischen Eigenschaften unseres aussagenlogischen Kalküls;
die Prädikatenlogik baut hierauf auf.
Wir benötigen zusätzlich Variablen, Quantoren, Funktionen und Prädikate. Dabei richten wir uns erneut an Hoffmann [81], Kapitel 2.
4.3.2 Syntax der Prädikatenlogik erster Stufe
Wir beginnen mit dem Begriff einer prädikatenlogischen Signatur, die uns den Vorrat an Symbolen bereitstellt, aus denen wir in Kürze die prädikatenlogischen Formeln
aufbauen werden.
4.3. PRÄDIKATENLOGIK ERSTER STUFE
219
Definition (Prädikatenlogische Signatur)
Eine prädikatenlogische Signatur Σ ist ein Tripel (VΣ , FΣ , PΣ ) mit
◦ der Menge VΣ der Variablen,
◦ der Menge FΣ der Funktionssymbole,
◦ der Menge PΣ der Prädikate.
Dabei besitzen jedes Funktionssymbol und jedes Prädikat eine genau festgelegte Stelligkeit n ≥ 0.
Ein Prädikat beschreibt eine Eigenschaft eines Gegenstands. Um aus einem Prädikat
einen gewöhnlichen Ausdruck der Aussagenlogik zu gewinnen, kann man es z.B. auf
soviel Gegenstände anwenden, wie die Stelligkeit des Prädikats angibt.
Beispiel. Beispiele von Prädikaten, in dessen Leerstellen Eigennamen bzw. Individuenkonstanten substituiert werden, stellen gewöhnliche Ausdrücke der Aussagenlogik
dar:
Der Student schläft.
Paul liebt Paula.
schlafen(Student)
lieben(Paul,Paula)
Beispiele für Quantifizierungen, falls für die begreffenden Gegebenstände keine Eigennamen existieren:
ein Student
alle Studenten
∃x student(x)
∀x student (x)
Weitere Beispiele:
Es gibt Studenten an der JGU.
Alle Studenten sind klug.
∃x studieren (x, JGU)
∀x student(x) → klug (x)
Vergleichen Sie dieses letzte Beispiel mit dem folgenden Konstrukt, um die unterschiedlichen Wirkungen des ∧-Junktors und des →-Junktors zu unterstreichen:
Alle sind Studenten, und alle sind klug.
∀x student (x) ∧ klug (x)
Auf der vorigen Definition aufbauend führen wir nun den Begriff eines prädikatenlogischen Terms ein.
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
220
Definition (Prädikatenlogischer Term)
Es sei Σ = (VΣ , FΣ , PΣ ) eine prädikatenlogische Signatur. Dann definieren wir
die Menge aller prädikatenlogischen Terme wie folgt rekursiv:
◦ Jede Variable ξ ∈ VΣ ist ein Term.
◦ Jedes 0-stellige Funktionssymbol f ∈ FΣ (Konstante) ist ein Term.
◦ Sind σ1 , . . . , σn Terme, und ist f ∈ FΣ ein n-stelliges Funktionssymbol,
so ist auch f (σ1 , . . . , σn ) ein Term.
Beispiel. Aus den beiden Variablen x, y ∈ VΣ und dem zweistelligen Funktionssymbol
f ∈ FΣ lassen sich wie folgt unendlich viele prädikatenlogische Terme bilden:
x,
f (x, x),
y,
f (x, y),
f (x, f (y, x)),
f ( f (x, x), f (x, y))
usw.
Was ist nun aber eine prädikatenlogische Formel?
Definition (Syntax der Prädikatenlogik)
Es sei Σ = (VΣ , FΣ , PΣ ) eine prädikatenlogische Signatur.
◦ Eine atomare prädikatenlogische Formel ist wie folgt definiert:
– Sind σ1 , . . . , σn Terme und ist P ein n-stelliges Prädikat, so ist
P(σ , . . . , σn ) eine atomare Formel.
Die Menge der prädikatenlogischen Formeln ist wie folgt rekursiv definiert:
– 0, 1 und jede atomare Formel sind prädikatenlogische Formeln.
– Ist ξ ∈ Vσ eine Variable, und sind ϕ und ψ prädikatenlogische Formeln, dann auch
(¬ϕ ),
(ϕ ∧ ψ ),
(ϕ ∨ ψ ),
(ϕ → ψ ),
(ϕ ↔ ψ ),
(ϕ 6↔ ψ )
sowie
∀ξ ϕ
und ∃ξ ϕ .
Beispiel. Es sind
P(x, x),
P(x, y),
P( f (x, y), x),
P(x, f ( f (x, y)), y)
Beispiele für atomare prädikatenlogische Formeln, und es sind
∀xP(x, y),
∃xP(x, y),
P( f (x, x), y) ↔ P(y, x),
∀y∃x(P( f (x, x), x) 6↔ P(y, x))
Beispiele für (zusammengesetzte) prädikatenlogische Formeln.
4.3. PRÄDIKATENLOGIK ERSTER STUFE
221
4.3.3 Semantik der Prädikatenlogik erster Stufe
Nachdem nun vereinbart ist, welche Ausdrücke als prädikatenlogische Formeln zugelassen sind, wollen wir im nächsten Schritt mit Hoffmann [81], S. 106 ff., genauso wie
im Falle der Aussagenlogik, eine Modellrelation |= einführen.
Dazu beginnen wir mit der
Definition (Prädikatenlogische Interpretation)
Eine prädikatenlogische Interpretation über einer prädikatenlogischen Signatur
Σ = (VΣ , FΣ , PΣ ) ist ein Tupel (U, I) mit den Eigenschaften
◦ U ist eine beliebige nichtleere Menge, der sogenannte Individuenbereich
bzw. die Grundmenge bzw. das Universum.
◦ I ist eine Abbildung, die
– jedem n-stelligen Funktionssymbol f ∈ FΣ eine Funktion
I( f ) : U n → U zuordnet,
– jedem n-stelligen Prädikat P ∈ PΣ eine Relation I(P) ⊂ U n zuordnet.
Zum Verständnis dieser Definition erinnern wir daran, dass Relationen als Teilmengen
verstanden werden sollten, genauer:
→ Eine zweistellige Relation R zwischen zwei Mengen Ω und Θ ist eine Teilmenge
des kartesischen Produkts Ω × Θ, d.h.
R ⊆ Ω × Θ = {(ω , ϑ ) : ω ∈ Ω, ϑ ∈ Θ} ,
und allgemein ist eine n-stellige Relation R auf den Mengen Ω1 , . . . , Ωn eine
Teilmenge
R ⊆ Ω1 × . . . × Ωn = {(ω1 , . . . , ωn ) : ω1 ∈ Ω1 , . . . , ωn ∈ Ωn } .
Beispiel. Der Individuenbereich U bestehe aus vier Individuenkonstanten, nämlich
U = {klaus, gerhard, berlin, tübingen},
und hierauf betrachten wir das zweistellige Prädikat P = wohnen sowie die wahre“
”
Interpretation
I(wohnen) = {(klaus, berlin), (gerhard, tübingen)} .
Beispiel. Vorgelegt seien die prädikatenlogische Signatur Σ = (VΣ , FΣ , PΣ ) mit
VΣ = {x, y},
FΣ = { f },
PΣ = {P}
und die prädikatenlogische Formel
ϕ = ∀x∃yP( f (x, y)).
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
222
In Worten gekleidet bedeutet das:
Für alle x existiert ein y, so dass P( f (x, y)) erfüllt ist.
Wir betrachten nun für Σ zwei Interpretationen, einmal über dem Körper der ganzen
Zahlen Z, ein zweites Mal über dem Körper der natürlichen Zahlen N, in denen f
jeweils mit der Addition zweier solcher Zahlen und P mit der einelementigen Menge
{0} identifiziert werden, d.h. P(x) ist wahr dann und nur dann, falls x = 0.
◦ Erste Interpretation:
U = Z,
I( f ) = (x, y) 7→ x + y,
I(P) = {0}.
Die Aussage Für alle x existiert ein y mit x + y = 0 ist für diese Interpretation
richtig. Wir schreiben
(U, I) |= ∀x∃yP( f (x, y)).
◦ Zweite Interpretation:
U = N,
I( f ) = (x, y) 7→ x + y,
I(P) = {0}.
Die Aussage Für alle x existiert ein y mit x + y = 0 ist für diese Interpretation
falsch. Wir schreiben
(U, I) 6|= ∀x∃yP( f (x, y)).
Wir wollen, aus diesen Beispielen lernend, festhalten:
→ Der Wahrheitsgehalt einer prädikatenlogischen Interpretationen hängt insbesondere von der Wahl des Individuenbereichs ab.
Wir wollen an dieser Stelle aber auch vorwegnehmen, dass die wesentliche Schwierigkeit beim Beweis des später zu diskutierenden Gödelschen Vollständigkeitssatzes
der Prädikatenlogik erster Stufe genau in der willkürlichen“ Wahl des Individuenbe”
reichs liegt: Ein prädikatenlogische Formel werden wir als wahr“ ansehen, wenn jede
”
Interpretation – unabhängig vom Individuenbereich – gleichzeitig Modell ist.
Beispiel. Wir wollen aus Kleene [90], S. 83, zitieren:
In examples like “x is a man” or “x loves y”, a meaningful statement, and
thus one expressing a proposition which classically we can regard as true
or false, will not necessarily result whatever noun is substituted for “x”
or whatever nouns for “x” and “y”. It is debatable whether “x loves y”
becomes false or simply meaningless, when we substitute for “x” and “y”
names of vegetables.
4.3. PRÄDIKATENLOGIK ERSTER STUFE
223
Definition (Semantik der Prädikatenlogik)
Es seien ϕ und ψ geschlossene prädikatenlogische Formeln, und es sei (U, I)
eine prädikatenlogische Interpretation. Dann erklären wir eine Modellrelation
|= rekursiv wie folgt
(U, I) |= 1,
(U, I) 6|= 0,
ferner
(U, I) |= P(σ1 , . . . , σn ) genau dann, wenn (I(σ1 ), . . . , I(σn )) ∈ I(P),
sowie
(U, I) |= (¬ϕ )
(U, I) |= (ϕ ∧ ψ )
(U, I) |= (ϕ ∨ ψ )
(U, I) |= (ϕ → ψ )
(U, I) |= (ϕ ↔ ψ )
(U, I) |= (ϕ 6↔ ψ )
genau dann, wenn
genau dann, wenn
genau dann, wenn
genau dann, wenn
genau dann, wenn
genau dann, wenn
(U, I) 6|= ϕ ,
(U, I) |= ϕ und (U, I) |= ψ ,
(U, I) |= ϕ oder (U, I) |= ψ ,
(U, I) 6|= ϕ oder (U, I) |= ψ ,
(U, I) |= ϕ → ψ und (U, I) |= ψ → ϕ ,
(U, I) 6|= (ϕ ↔ ψ )
und schließlich
(U, I) |= ∀ξ ϕ
(U, I) |= ∃ξ ϕ
genau dann, wenn für alle u ∈ U ist (U, I[ξ /u] ) |= ϕ ,
genau dann, wenn es ein u ∈ U gibt mit (U, I[ξ /u] ) |= ϕ .
Dabei bedeutet (U, I[ξ ,u] ) die prädikatenlogische Interpretation, die der Variablen ξ das Element u ∈ U zuordnet und sonst mit (U, I) übereinstimmt. Eine
Interpretation (U, I) mit (U, I) |= ϕ heißt ein Modell für ϕ .
Die Begriffe erfüllbar, allgemeingültig usw. wollen wir ebenfalls wie in der Aussagenlogik verstehen. Allerding ist, im Gegensatz zur Aussagenlogik, zu unterscheiden, ob
eine prädikatenlogische Formel geschlossen ist oder offen, d.h. ob noch freie Variablen
auftreten.
Definition (Erfüllbarkeit und Allgemeingültigkeit)
Eine geschlossene prädikatenlogische Formel ϕ heißt
◦ unerfüllbar, falls ϕ kein Modell besitzt,
◦ widerlegbar, falls es eine Interpretation gibt, die kein Modell für ϕ ist,
◦ erfüllbar, falls ϕ mindestens ein Modell besitzt
◦ allgemeingültig, falls jede Interpretation ein Modell von ϕ ist.
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
224
Eine prädikatenlogische Formel ϕ mit den freien Variablen ξ1 , . . . , ξm heißt
◦ unerfüllbar, falls für alle m-Tupel (ξ1 , . . . , ξm ) die Formel ϕ kein Modell
besitzt,
◦ widerlegbar, falls ein m-Tupel (ξ1 , . . . , ξm ) existiert, für welches ϕ kein
Modell besitzt,
◦ erfüllbar, falls ein m-Tupel (ξ1 , . . . , ξm ) existiert, für welches ϕ mindestens ein Modell besitzt,
◦ allgemeingültig, falls für alle m-Tupel (ξ1 , . . . , xm ) die Formel ϕ allgemeingültig ist.
Ebenfalls aus unseren Diskussionen zu den Grundlagen der Aussagenlogik motiviert,
wollen wir wir den Begriff der prädikatenlogischen Äquivalenz verstehen.
Definition (Prädikatenlogische Äquivalenz)
Zwei prädikatenlogische Formeln ϕ und ψ heißen äquivalent, in Zeichen ϕ ≡
ψ , falls gelten
ϕ ↔ ψ ist allgemeingültig.
Hoffmann [81], S. 108, entnehmen wir folgende Auswahl prädikatenlogischer Äquivalenzen:
◦ Negationsgesetze
¬∃ξ ϕ ≡ ∀ξ ¬ϕ
∃ξ ¬ϕ ≡ ¬∀ξ ϕ
◦ Bereichserweiterungsgesetze
ϕ ∧ (∃ξ ψ ) ≡ ∃ξ (ϕ ∧ ψ )
(falls ξ nicht frei in ϕ )
ϕ ∨ (∃ξ ψ ) ≡ ∃ξ (ϕ ∨ ψ )
(falls ξ nicht frei in ϕ )
ϕ → (∃ξ ψ ) ≡ ∃ξ (ϕ → ψ )
(falls ξ nicht frei in ϕ )
ϕ ∧ (∀ξ ψ ) ≡ ∀ξ (ϕ ∧ ψ )
(falls ξ nicht frei in ϕ )
ϕ ∨ (∀ξ ψ ) ≡ ∀ξ (ϕ ∨ ψ )
(falls ξ nicht frei in ϕ )
ϕ → (∀ξ ψ ) ≡ ∀ξ (ϕ → ψ )
(falls ξ nicht frei in ϕ )
4.3.4 Das prädikatenlogische Kalkül
Prädikatenlogische Axiome
Wie auch in der Aussagenlogik, Abschnitt 4.2.2, ist es auch in der Prädikatenlogik erster Stufe möglich, sämtliche formale Schlussregeln auf ein einfaches Axiomensystem
4.3. PRÄDIKATENLOGIK ERSTER STUFE
225
zurückzuführen. Hoffmann [81], S. 109, entnehmen wir insbesondere
Axiome der Prädikatenlogik erster Stufe
(A1) ϕ → (ψ → ϕ )
(A2) (ϕ → (ψ → χ )) → ((ϕ → ψ ) → (ϕ → χ ))
(A3) (¬ϕ → ¬ψ ) → (ψ → ϕ )
(A4) ∀ξ ϕ → ϕ [ξ ← σ ] für jede kollisionsfreie Substitution
(A5) ∀ξ (ϕ → ψ ) → (ϕ → ∀ξ ψ ) für alle ϕ , für welche ξ nicht frei in ϕ
Die Axiome A1, A2 und A3 haben wir bereits als die aussagenlogischen Axiome kennen gelernt. In A4 bedeutet ϕ [ξ ← σ ], dass in der Formel ϕ alle freien Vorkommen
von ξ durch den prädikatenlogischen Term σ substituiert werden. Zugelassen sind dabei nur sogenannte kollisionsfreie Substitutionen, d.h. solche, bei denen keine Variable
von σ nach der Substitution in den Wirkungsbereich eines Quantors fällt; ansonsten
sprechen wir von einer Kollision.
Beispiel. In der prädikatenlogischen Formel
ϕ = ∃yP(ξ , y)
treten ξ als freie und y als gebundene Variablen auf. Die Substitution von ξ durch den
Term σ = y verursacht offenbar eine Kollision (Hoffmann [81], S. 109).
Diesen fünf Axiomen stellen wir erneut Schlussregeln zur Seite, unter deren Benutzung
prädikatenlogische Theoreme formal bewiesen werden können.
Schlussregel der Prädikatenlogik
(MP)
(G)
ϕ,ϕ → ψ
ψ
ϕ
∀ξ ϕ
(MP) bezeichnet den aus der Aussagenlogik bekannten modus ponens; die neue Schlussregel (G) heißt Generalisierungsregel, nach welcher aus einer Formel ϕ auf die Generalisierung ∀ξ ϕ geschlossen werden darf. Wir erinnern schließlich an die notwendige
Substitutionsregel, die hier jedoch nicht explizit genannt ist.
Prädikatenlogische Theoreme
Ohne Beweis führen wir zunächst das uns aus der Aussagenlogik bekannte Deduktionstheorem an. Auch hier müssen wir unterscheiden, ob Aussagen über geschlossene
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
226
oder über offene Formeln mit freien Variablen getroffen werden.
Satz 4.8 (Deduktionstheorem der Prädikatenlogik – DTP)
Es seien ϕ , ϕ1 , . . . , ϕn und ψ prädikatenlogische Formeln.
◦ Ist ϕ geschlossen, so gilt
{ϕ1 , . . . , ϕn } ∪ {ϕ } ⊢ ψ
genau dann, wenn {ϕ1 , . . . , ϕn } ⊢ ϕ → ψ
◦ Enthält ϕ die freien Variablen ξ1 , . . . , ξm , so gilt
{ϕ1 , . . . , ϕn } ∪ {ϕ } ⊢ ψ
genau dann, wenn
{ϕ1 , . . . , ϕn } ⊢ (∀ξ1 . . . ∀ξm ϕ ) → ψ .
Aus Hoffmann [81], S. 110, entnehmen wir nun die folgenden Beispiele prädikatenlogischer Theoreme.
Satz 4.9 (Theoreme der Prädikatenlogik)
(T16) ∀ξ ∀ζ ϕ (ξ , ζ ) → ∀ζ ∀ξ ϕ (ξ , ζ )
(T17) ∀ξ (ϕ (ξ ) → ψ (ξ )) → (∀ξ ϕ (ξ ) → ∀ξ ψ (ξ ))
(T18) ∀ξ ∀ζ ϕ (ξ , ζ ) → ∀ξ ϕ (ξ , ξ )
Beweis von T16. Wir folgen Hoffmann [81], S. 111:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
{∀ξ ∀ζ ϕ (ξ , ζ )} ⊢ ∀ξ ∀ζ ϕ (ξ , ζ )
⊢ ∀ξ ∀ζ ϕ (ξ , ζ ) → ∀ζ ϕ (ξ , ζ )
{∀ξ ∀ζ ϕ (ξ , ζ )} ⊢ ∀ζ ϕ (ξ , ζ )
⊢ ∀ζ ϕ (ξ , ζ ) → ϕ (ξ , ζ )
{∀ξ ∀ζ ϕ (ξ , ζ )} → ϕ (ξ , ζ )
{∀ξ ∀ζ ϕ (ξ , ζ )} ⊢ ∀ξ ϕ (ξ , ζ )
{∀ξ ∀ζ ϕ (ξ , ζ )} ⊢ ∀ζ ∀ξ ϕ (ξ , ζ )
⊢ ∀ξ ∀ζ ϕ (ξ , ζ ) → ∀ζ ∀ξ ϕ (ξ , ζ )
(BV)
(A4)
(1, 2, MP)
(A4)
(3, 4, MP)
(5, G)
(6, G)
(DTP)
Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit des prädikatenlogischen Kalküls
Die vorgestellte Prädikatenlogik erster Stufe ist in dem gleichen Sinne widerspruchsfrei
und vollständig, wie das vorher diskutierte aussagenlogische Kalkül. Diese Vollständigkeit ist Inhalt des berühmten Gödelschen Vollständigkeitssatzes, den Kurt Gödel im
4.3. PRÄDIKATENLOGIK ERSTER STUFE
227
Jahre 1929 im Rahmen seiner Dissertation Über die Vollständigkeit des Logikkalküls
(Universität Wien) bewies; siehe auch Gödel [55].
Auf eine Darstellung des Gödelsschen Beweises wollen wir verzichten und verweisen
neben dem genannten Artikel von Gödel auch auf Henkin [70], Rautenberg [124] sowie
auf die Lehrbücher Kleene [90], Rautenberg [125] und Wolf [168].
Wir wollen, den Ausführungen von Hoffmann [79], S. 124 ff. folgend, eine Methode
des französischen Mathematiker J. Herbrand vorstellen, eine prädikatenlogische Formel als allgemeingültig zu erkennen, die schließlich auch praktische Konsequenzen
besitzt. Alle Aussagen stellen wir ohne Beweis vor.
1. Schritt: Überführung in Skolemform
Wie auch in der Aussagenlogik, überführt man eine Formel der Prädikatenlogik erster
Stufe in eine geeignete Normalform, hier in die sogenannte Skolemform:
→ Wir sagen, eine prädikatenlogische Formel F liegt in Skolemform vor, falls gilt
F ≡ ∀x1 ∀x2 . . . ∀xn F ∗ .
mit einer quantorenfreien Formel F ∗ .
Wir bemerken, dass die Skolemform i.A. nicht eindeutig ist. Im vierten Schritt dieser
Beweisübersicht wird sie jedoch eine wichtige Rolle spielen.
Beispiel. Die prädikatenlogische Formel
F = ¬(∃x∀yP(x, y) → ∀y∃xP(x, y))
können wir wie folgt in Skolemform überführen:
F ≡
≡
≡
≡E
≡
¬(∃x∀yP(x, y) → ∀y∃xP(x, y))
∃x∀yP(x, y) ∧ ¬∀y∃xP(x, y)
∃x∀yP(x, y) ∧ ∃y∀x¬P(x, y)
∀yP(a, y) ∧ ∀x¬P(x, b)
∀y∀x(P(a, y) ∧ ¬P(x, b)).
Hierin bedeuten a und b zwei Konstanten, und mit ≡E wird eine sogenannte Erfüllbarkeitsäquivalenz ausgedrückt: Zwei prädiaktenlogische Formeln G und H heißen
erfüllbarkeitsäquivalent, falls gelten
G ist erfüllbar genau dann, wenn H erfüllbar ist bzw.
G ist unerfüllbar genau dann, wenn H unerfüllbar ist.
Erfüllbarkeitsäquivalente Formeln sind nicht notwendig äquivalent.
228
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
2. Schritt: Konstruktion des Herbranduniversums
Es sei nun F eine prädikatenlogische Formel, nicht notwendig in Skolemform, über
einer Signatur Σ.
→ Das Herbranduniversum HU(F) einer solchen Formel ist die Menge aller variablenfreien Terme, die mit Funktionssymbolen aus Σ gebildet werden können.
Das Herbranduniversum einer Formel F über der Signatur Σ = (VΣ , FΣ , PΣ ) lässt sich
wie folgt rekursiv erzeugen:
◦ Alle Konstanten aus FΣ gehören zu HU(F).
◦ Ist f ∈ FΣ ein n-stelliges Funktionssymbol, und sind t1 , . . . ,tn Elemente des Herbranduniversums HU(F) der Formel F, so gehört auch der Term f (t1 , . . . ,tn ) zu
HU(F).
Enthält die Menge FΣ keine Konstanten, d.h. keine 0-stelligen Funktionssymbole, so
fügen wir FΣ künstlich eine Konstante a hinzu.
Beispiel. Das Herbranduniversum der Formel
F = ∀xP( f (c, g(x)))
mit der Konstante c, dem 1-stelligen Funktionssymbol g und dem 2-stelligen Funktionssymbol f ergibt sich zu
HU(F) = {c, g(c), f (c, c), g( f (c, c)), f (g(c), c), f (g(c), g(c)), . . .} .
Beispiel. Das Herbranduniversum der konstantenfreien Formel
F = ∀x∃yP( f (x, y))
mit dem 2-stelligen Funktionssymbol f ergibt sich zu
HU(F) = {a, f (a, a), f (a, f (a, a)), f ( f (a, a), f (a, a)), . . .} .
3. Schritt: Konstruktion der Herbrandinterpretation
Aufbauend auf dem vorigen Beweisschritt führen wir nun die folgende Selbstinterpretation einer prädikatenlogischen Formel, nicht notwendig in Skolemform, über einer
Signatur Σ ein:
→ Eine Interpretation (U, I) einer solchen Formel heißt Herbrandinterpretation,
falls gelten
◦ U = HU(F) und
◦ I(t) = t für alle variablenfreien Terme f .
Es wird also jeder variablenfreie Term t durch sich selbst interpretiert: Die Abbildung
I ordnet jeder Konstanten die gleiche Konstante in HU(F) zu und jedem n-stelligen
Funktionssymbol f eine solche Funktion f auf HU(F).
4.3. PRÄDIKATENLOGIK ERSTER STUFE
229
4. Schritt: Der Satz von Herbrand
Wir kommen nun zur im ersten Beweisschritt eingeführten Skolemform zurück und
formulieren folgenden Satz von Herbrand:
→ Die prädikatenlogische Formel F in Skolemform ist genau dann erfüllbar, wenn
alle endlichen Teilmengen von Grundinstanzen von F im aussagenlogischen Sinn
erfüllbar sind.
Hierin verstehen wir unter der Menge der Grundinstanzen einer Formel
F = ∀x1 ∀x2 . . . ∀xn F ∗
in Skolemform mit einer quantorenfreien Teilformen F ∗ die Menge der folgenden Substitutionen
G(F) = {F ∗ [x1 ← t1 , . . . , xn ← tn ] : t1 , . . . ,tn ∈ HU(F)} .
Bemerkung. Tatsächlich überspringen wir hier in Hinblick auf die eben erwähnte
Herbrandinterpretation ein Argument, welches Hoffmann [79] ausführt. Zunächst wird
nämlich das Resultat erwähnt: Eine prädikatenlogische Formel ist genau dann erfüllbar, wenn sie ein Herbrandmodell besitzt. Der Satz von Herbrand besagt dann: Eine
prädikatenlogische Formel F in Skolemform besitzt genau dann ein Herbrandmodell,
wenn alle endlichen Teilmengen von Grundinstanzen von F im aussagenlogischen Sinn
erfüllbar sind.
Aus dem Satz von Herbrand folgern wir jedenfalls:
◦ Eine prädikatenlogische Formel F in Skolemform ist genau dann unerfüllbar,
wenn eine endliche Teilmenge von Grundinstanzen existiert, die im aussagenlogischen Sinn widersprüchlich ist.
Um also über die Allgemeingültigkeit einer Formel F eine Aussage treffen zu können,
geht man zunächst zu ihrer Negation ¬F über. Existiert für diese eine endliche Menge von Grundinstanzen, die im aussagenlogischen Sinn widersprüchlich ist, so ist ¬F
unerfüllbar, und damit muss F allgemeingültig sein.
Beispiel. Wir betrachten die prädikatenlogische Formel
F = ∃x∀yP(x, y) → ∀y∃xP(x, y)
mit ihrer Negation
¬F ≡ ¬(∃x∀yP(x, y) → ∀y∃xP(x, y)),
welche nach dem obigen ersten Beweisschritt folgende Skolemform besitzt
¬F ≡E ∀y∀x(P(a, y) ∧ ¬P(x, b)).
Hiervon bilden wir die Menge der Grundinstanzen
G(¬F) = {P(a, a) ∧ ¬P(a, b), P(a, a) ∧ ¬P(b, b),
P(a, b) ∧ ¬P(a, b), P(a, b) ∧ ¬P(b, b)} .
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
230
Die endliche Teilmenge
P(a, b) ∧ ¬P(a, b)
dieser Menge der Grundinstanzen ist im aussagenlogischen Sinn widersprüchlich, d.h.
sie kann für kein Modell erfüllt werden. Nach dem Satz von Herbrand ist ¬F unerfüllbar, und daher ist F allgemeingültig.
Folgende Bemerkung, die obige Beispiele bereits andeuten, ist besonders wichtig: Besitzt die Skolemform eine Funktionssymbol der Stelligkeit n ≥ 1, so ist die Menge der
Grundinstanzen unendlich. Um nach vorigem Beispiel die Allgemeingültigkeit einer
prädikatenlogischen Formel F nachzuweisen, muss aber aus dieser Menge der Grundinstanzen eine endliche Teilmenge gefunden werden, die im aussagenlogischen Sinn
widersprüchlich ist.
Der springende Punkt liegt im Auffinden einer solchen endlichen Teilmenge. Eventuell
wird nämlich ein Algorithmus, der wie voriges Beispiel arbeitet, eine solche Teilmenge
nicht finden. Tatsächlich gilt:
→ Das Erfüllbarkeitsproblem der Prädikatenlogik ist nicht entscheidbar. Im allgemeinen kann nicht entschieden werden, ob ein Algorithmus nach endlich vielen
Schritten terminiert.
Im Gegensatz zur Aussagenlogik ist es in der Praxis also nicht möglich, jede Formel
der Prädikatenlogik erster Stufe auf Allgemeingültigkeit in endlicher Zeit zu prüfen.
4.3.5 Ausblick: Prädikatenlogik zweiter Ordnung
Mit Hoffmann [81], S. 117 ff., erweitern wir nun die Menge VΣ einer prädikatenlogischen Signatur (VΣ , PΣ , FΣ ) um die zwei neuen Variablentypen
◦ Prädikatvariablen P, Q usw.
◦ Funktionsvariablen f, g usw.
Jedes dieser Variablen besitzt eine festgelegte Stelligkeit und darf in prädikatenlogischen Ausdrücken erster Stufe überall dort substituiert werden, wo Prädikate bzw.
Funktionssymbole der entsprechend gleichen Stelligkeit auftreten.
→ Damit haben wir die Prädikatenlogik erster Stufe zur sogenannten Prädikatenlogik zweiter Stufe erweitert.
Wir wollen die Möglichkeiten, die diese Erweiterung der von uns bisher diskutierten
Prädikatenlogik bietet, durch folgendes Beispiel veranschaulichen.
Beispiel. Ein Begriff, auf welchen wir in der Mathematik nicht verzichten können, ist
der Begriff der Gleichheit, der innerhalb der Prädikatenlogik erster Stufe nicht formuliert werden kann. Mit den Mitteln der Prädikatenlogik zweiter Stufe ist jedoch das
4.4. ANHÄNGE
231
Definieren eines Prädikates, welches als gewöhnliche Gleichheitsrelation = interpretiert wird, kein Problem:
∀x∀y(P(x, y) ↔ ∀R(R(x) ↔ R(y))).
Diese Formel ist genau dann als wahr anzusehen, wenn das zweistellige Prädikat P(x, y)
als Gleichheitsrelation x = y interpretiert wird, denn wären x und y zwei unterschiedliche Elemente, so muss es auch eine zweistellige Relation geben, bez. welcher sich
beide unterscheiden.
Die Prädikatenlogik zweiter Stufe ist im Gegensatz zur Prädikatenlogik erster Stufe
nicht mehr vollständig, d.h. es können nicht mehr alle allgemeingültigen Formeln innerhalb dieser erweiterten Sprache formal bewiesen werden. Wir verweisen hierfür auf
die detaillierten Darstellungen in Hoffmann [81]. Der Grund: Innerhalb der Prädikatenlogik zweiter Stufe ist es möglich, ein Axiomensystem der natürlichen Zahlen zu
konstruieren, so dass der im nächsten Kapitel zu besprechende erste Gödelsche Unvollständigkeitssatz die Unvollständigkeit dieser erweiterten Logik erzwingt.
4.4 Anhänge
4.4.1 Wie betreibt man mathematische Logik?
Eine wichtige Frage, die vor dem Studium der mathematischen Logik diskutiert werden muss,
lautet: Wie kann man Logik betreiben, ohne auf ihre Gesetze für deren Studium zurückzugreifen?
Hierzu lesen wir in der Einleitung zu Kleenes Lehrbuch [90] folgendes.
S.C. Kleene: Mathematical logic (2002)
Logic has the important function of saying what follows from what. Every development
of mathematics makes use of logic. A familiar example is the presentation of geometry in Euclid’s “Elements” (c. 330-320 B.C.) in which theorems are deduced by logic
from axioms (or postulates). But any orderly arrangement of the content of mathematics would exhibit logical connections. Similarly, logic is used in organizing scientific
knowledge, and as a tool of reasoning and argumentation in daily life.
Now we are proposing to study logic, and indeed by mathematical methods. Here we
are confronted by a bit of a paradox. For, how can we treat logic mathematically (or in
any systematic way) without using logic in the treatment?
The solution of this paradox is simple, though it will take some time before we can
appreciate fully how it works. We simply put the logic that we are studying into one
compartment, and the logic that we are using to study it in another. Instead of “compartment”, we can speak of “languages”. When we are studying logic, the logic we are
studying will pertain to one language, which we call the object language, because this
language (including its logic) is an object of our study. Our study of this language and
its logic, including our use of logic in carrying out the study, we regard as taking place
in another language, which we call the observer’s language [metalanguage]. Or we may
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
232
speak of the object logic and the observer’s logic.
It will be very important as we proceed to keep in mind this distinction between the
logic we are studying (the object logic) and our use of logic in studying it (the observer’s
logic). To any student who is not ready to do so, we suggest that he closes the book now,
and pick some other subject instead, such as acrostics or beekeeping.
4.4.2 Erweiterungen des Beispielkalküls E
In Abschnitt 4.1 haben wir das Beispielkalkül E eingeführt, welches aus einem einzigen Axiom
und sechs Schlussregeln besteht:
Axiom des Kalküls E
(A1)
(0 = 0)
Schlussregeln des Kalküls E
(S1)
(σ = τ )
(s(σ ) = s(τ ))
(S2)
(σ = τ )
(s(σ ) > τ )
(S5)
(σ > τ )
¬(τ = σ )
(S6)
(σ > τ )
¬(τ > σ )
(S3)
(σ > τ )
(s(σ ) > τ )
(S4)
(σ > τ )
¬(σ = τ )
Wir haben gesehen, dass E korrekt und widerspruchsfrei, aber weder negationsvollständig noch
vollständig ist. Den Ausführungen Hoffmann [81], Seiten 78 ff. folgend, wollen wir E durch
Hinzufügen verschiedener neuer Schlussregeln erweitern und die so neu gewonnenen Kalküle
auf ihre Eigenschaften prüfen.
Zunächst fügen wir E eine weitere Regel (S7) hinzu und erhalten auf diese Weise den neuen
Kalkül E2 :
Axiom des Kalküls E2
(A1)
(0 = 0)
Schlussregeln des Kalküls E2
(σ = τ )
(σ = τ )
(S2)
(S1)
(s(σ ) = s(τ ))
(s(σ ) > τ )
(S5)
(σ > τ )
¬(τ = σ )
(S6)
(σ > τ )
¬(τ > σ )
(S3)
(σ > τ )
(s(σ ) > τ )
(S7)
¬(σ > τ )
(τ > σ )
(S4)
(σ > τ )
¬(σ = τ )
In Hinblick auf unsere Standartinterpretation des Kalküls über die natürlichen Zahlen ist diese
Schlussregel offenbar semantisch nicht korrekt: Substituieren wir nämlich σ und τ durch n,
so dürften wir aus ¬(n > n) die Folgerung (n > n) ziehen, was innerhalb der Arithmetik der
natürlichen Zahlen sicherlich falsch ist. Der Kalkül E2 wäre damit nicht korrekt.
Es stellt sich also die Frage, ob innerhalb des Kalküls E2 die Prämisse ¬(n > n) überhaupt
abgeleitet werden kann. In diesem Fall läge uns mit ihr nach (S7) auch ihr Gegenteil (n > n) vor,
und E2 wäre widersprüchlich.
4.4. ANHÄNGE
233
Allerdings ist innerhalb von E2 die Formel ¬(n > n) gar nicht ableitbar. Der Kalkül E2 ist, wie
auch der Kalkül E, nicht negationsvollständig, denn auch hier lassen sich weder (0 > 0) noch
¬(0 > 0) ableiten. Durch die Hinzunahme von (S7) bleibt E2 also korrekt und damit widerspruchsfrei nach Satz 4.1.
Ein ähnliche Diskussion haben wir bereits in Abschnitt 4.1 geführt: Die Prämisse (n > n) der
Schlussregel (S6) impliziert ihr Gegenteil ¬(n > n), allerdings gelingt eine Ableitung von z.B.
(0 > 0) nicht.
Im nächsten Schritt erweitern wir das Kalkül E2 durch folgende Schlussregel (S8):
Axiom des Kalküls E3
(A1)
(0 = 0)
Schlussregeln des Kalküls E3
(S1)
(σ = τ )
(s(σ ) = s(τ ))
(S2)
(σ = τ )
(s(σ ) > τ )
(S3)
(σ > τ )
(s(σ ) > τ )
(S4)
(S5)
(σ > τ )
¬(τ = σ )
(S6)
(σ > τ )
¬(τ > σ )
(S7)
¬(σ > τ )
(τ > σ )
(S8)
(σ > τ )
¬(σ = τ )
(σ = τ )
¬(σ > τ )
Jetzt können wir direkt an unsere Diskussion anknüpfen und den eben angesprochenen Widerspruch konstruieren:
1. ⊢ (0 = 0)
(A1)
2. ⊢ ¬(0 > 0)
(1, S8)
3. ⊢ (0 > 0)
(2, S7)
Mit (0 > 0) und ¬(0 > 0) ist eine Formel und ihre Negation gleichzeitig abgeleitet, d.h. E3 ist
widersprüchlich und nach Satz 4.1 auch nicht korrekt.
Allerdings ist, im Gegensatz zu E und E2 , der Kalkül E3 vollständig; insbesondere ist jetzt
¬(0 > 0), wie wir eben gesehen haben, ein beweisbares Theorem.
Nun streichen wir aus E3 die Schlussregel (S7) und erhalten den Kalkül E4 :
Axiom des Kalküls E4
(A1)
(0 = 0)
Schlussregeln des Kalküls E4
(S1)
(σ = τ )
(s(σ ) = s(τ ))
(S2)
(σ = τ )
(s(σ ) > τ )
(S5)
(σ > τ )
¬(τ = σ )
(S6)
(σ > τ )
¬(τ > σ )
(S3)
(σ > τ )
(s(σ ) > τ )
(S4)
(S8)
(σ > τ )
¬(σ = τ )
(σ = τ )
¬(σ > τ )
Unsere obige Herleitung von (0 > 0) und ¬(0 > 0) ist jetzt nicht mehr möglich. Tatsächlich
ist E4 immer noch vollständig, d.h. jede in unserer Standartinterpretation wahre Aussage ist ein
Theorem, als auch korrekt und damit nach Satz 4.1 widerspruchsfrei.
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
234
4.4.3 Tautologien der Aussagenlogik
Wir beweisen die in Paragraph 4.2.1 vorgestellten und dort noch nicht bewiesenen Tautologien.
Beweis von ¬(A ∧ ¬A). Anhand einer Wahrheitstabelle:
A
0
1
¬A
1
0
A ∧ ¬A
0
0
¬(A ∧ ¬A)
1
1
Also ist ϕ ist tautologisch.
Beweis von ϕ = (A → A). Widerspruchsannahme I 6|= ϕ
1. I |= A
2. I |6 = A
(Vor)
(Vor)
Beweisschritte 1 und 2 stehen im Widerspruch, also ist ϕ tautologisch.
Beweis von ϕ = (¬A → A) → A. Widerspruchsannahme I 6|= ϕ
1.
2.
3.
4.
I |= (¬A → A)
I 6|= A
I |= ¬A
I 6|= A
(Vor)
(Vor)
(1)
(3, Def)
Beweisschritte 3 und 4 stehen im Widerspruch, also ist ϕ tautologisch.
Beweis von ϕ = (A ∧ B) → A. Widerspruchsannahme I 6|= ϕ
1. I |= (A ∧ B)
2. I |6 = A
3. I |= A
(Vor)
(Vor)
(1)
Beweisschritte 2 und 3 stehen im Widerspruch, also ist ϕ tautologisch.
Für die nächsten Beweise benutzen wir die erste und zweite de Morgansche Regel.
Beweis von ϕ = A → (B → A). Widerspruchsannahme I 6|= ϕ
1.
2.
3.
4.
I |= A
I 6|= (B → A)
I |= B
I 6|= A
(Vor)
(Vor)
(2, de Morgan)
(2, de Morgan)
Beweisschritte 1 und 4 stehen im Widerspruch, also ist ϕ tautologisch.
Beweis von ϕ = ¬A → (A → B). Widerspruchsannahme I 6|= ϕ
1.
2.
3.
4.
I |= ¬A
I 6|= (A → B)
I 6|= A
I |= A
Beweisschritte 3 und 4 stehen im Widerspruch, also ist ϕ tautologisch.
(Vor)
(Vor)
(1, Def)
(2, de Morgan)
4.4. ANHÄNGE
235
Beweis von ϕ = (¬A → ¬B) → (B → A). Anhand einer Wahrheitstabelle:
A
0
0
1
1
B
0
1
0
1
¬A
1
1
0
0
¬B
1
0
1
0
¬A → ¬B
1
0
1
1
B→A
1
0
1
1
ϕ
1
1
1
1
Also ist ϕ tautologisch.
Beweis von ϕ = ((A → B) ∧ A) → B. Anhand einer Wahrheitstabelle:
A
0
0
1
1
B
0
1
0
1
A→B
1
1
0
1
(A → B) ∧ A
0
0
0
1
ϕ
1
1
1
1
Also ist ϕ tautologisch.
Beweis von ϕ = ((A → B) ∧ ¬B) → ¬A. Anhand einer Wahrheitstabelle:
A
0
0
1
1
B
0
1
0
1
¬A
1
1
0
0
¬B
1
0
1
0
A→B
1
1
0
1
(A → B) ∧ ¬B
1
0
0
0
ϕ
1
1
1
1
Also ist ϕ tautologisch.
Beweis von ϕ = ((A → B) ∧ (B → C)) → (A → C). Anhand einer Wahrheitstabelle:
A
0
0
0
0
1
1
1
1
B
0
0
1
1
0
0
1
1
C
0
1
0
1
0
1
0
1
A→B
1
1
1
1
0
0
1
1
B→C
1
1
0
0
1
1
0
1
(A → B) ∧ (B → C)
1
1
0
0
0
0
0
1
A →C
1
1
1
1
0
1
0
1
Also ist ϕ tautologisch.
Beweis von ϕ = (A → (A → B)) → (A → B). Anhand einer Wahrheitstabelle:
ϕ
1
1
1
1
1
1
1
1
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
236
A
0
0
1
1
B
0
1
0
1
A→B
1
1
0
1
A → (A → B)
1
1
0
1
ϕ
1
1
1
1
Also ist ϕ tautologisch.
Beweis von ϕ = (A → (B → C)) → (B → (A → C)). Anhand einer Wahrheitstabelle:
A
0
0
0
0
1
1
1
1
B
0
0
1
1
0
0
1
1
A →C
1
1
1
1
0
1
0
1
C
0
1
0
1
0
1
0
1
B →C
1
1
0
1
1
1
0
1
A → (B → C)
1
1
1
1
1
1
0
1
ϕ
1
1
1
1
1
1
1
1
B → (A → C)
1
1
1
1
1
1
0
1
Also ist ϕ tautologisch.
Beweis von ϕ = (A → B) → ((C ∧ A) → (C ∧ B)). Anhand einer Wahrheitstabelle:
A
0
0
0
0
1
1
1
1
B
0
0
1
1
0
0
1
1
C
0
1
0
1
0
1
0
1
A→B
1
1
1
1
0
0
1
1
C∧A
0
0
0
0
0
1
0
1
C∧B
0
0
0
1
0
0
0
1
(C ∧ A) → (C ∧ B)
1
1
1
1
1
0
1
1
ϕ
1
1
1
1
1
1
1
1
Also ist ϕ tautologisch.
Beweis von ϕ = (A → B) → ((C ∨ A) → (C ∨ B)). Anhand einer Wahrheitstabelle:
A
0
0
0
0
1
1
1
1
B
0
0
1
1
0
0
1
1
Also ist ϕ tautologisch.
C
0
1
0
1
0
1
0
1
A→B
1
1
1
1
0
0
1
1
C∨A
0
1
0
1
1
1
1
1
C∨B
0
1
1
1
0
1
1
1
(C ∨ A) → (C ∨ B)
1
1
1
1
0
1
1
1
ϕ
1
1
1
1
1
1
1
1
4.4. ANHÄNGE
237
Beweis von ϕ = (A → (B → C)) → ((A → B) → (A → C)). Anhand einer Wahrheitstabelle:
A
0
0
0
0
1
1
1
1
B
0
0
1
1
0
0
1
1
C
0
1
0
1
0
1
0
1
B →C
1
1
0
1
1
1
0
1
A → (B → C)
1
1
1
1
1
1
0
1
A→B
1
1
1
1
0
0
1
1
A →C
1
1
1
1
0
1
0
1
(A → B) → (A → C)
1
1
1
1
1
1
0
1
ϕ
1
1
1
1
1
1
1
1
Also ist ϕ tautologisch.
4.4.4 Theoreme der Aussagenlogik
Wir wollen die noch verbleibenden Beweise der in Paragraph 4.2.2 vorgestellten aussagenlogischen Theoreme nachholen, wobei wir uns an Hoffmann [81], Seite 98 ff. richten. Die Beweise
von T1, T2 und T8 wurden dort bereits geführt.
Beim Studieren der Beweise möge man besonderes Augenmerk auf ihren hierarchischen Aufbau
sowie auf die konsequente Verwendung des modus ponens und des als Theorem abgeleiteten
modus barbara legen.
Desweiteren ist darauf zu achten, dass der modus barbara unter Benutzung des Deduktionstheorems, und damit unter Benutzung von Sprachelementen bewiesen wurde, die nicht zum formalen Kalkül gehören; es handelt sich um Schlussregeln, die Aussagen über Beweise machen. Man
möge sich jedoch überlegen, dass MB wie DTA äquivalent durch Formelsequenzen des formalen
Kalküls ersetzt werden können.
Theoreme der Aussagenlogik (verbleibende Beweise)
(T1) ϕ → ϕ
(T2) (ϕ → ψ ) → ((ψ → χ ) → (ϕ → χ ))
(T3) ϕ → ((ϕ → ψ ) → ψ )
(T4) ¬¬ϕ → ϕ
(T5) ϕ → ¬¬ϕ
(T6) (ϕ → ψ ) → (¬ψ → ¬ϕ )
(T7) ϕ → (¬ψ → ¬(ϕ → ψ ))
(T8) ¬ϕ → (ϕ → ψ )
(T9) ϕ → (ψ → (ϕ → ψ ))
(T10) ¬(ϕ → ψ ) → ϕ
(T11) ¬(ϕ → ψ ) → ¬ψ
(T12) (ϕ → ¬ϕ ) → ¬ϕ
(T13) (¬ϕ → ϕ ) → ϕ
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
238
(T14) (ϕ → ψ ) → ((¬ϕ → ψ ) → ψ )
(T15) ¬(ϕ → ϕ ) → ψ
Beweis von T3. Beweisschema:
1.
2.
3.
4.
5.
{ϕ , ϕ → ψ } ⊢ ϕ
{ϕ , ϕ → ψ } ⊢ (ϕ → ψ )
{ϕ , ϕ → ψ } ⊢ ψ
{ϕ } ⊢ ((ϕ → ψ ) → ψ )
⊢ ϕ → ((ϕ → ψ ) → ψ )
(BV)
(BV)
(1, 2, MP)
(3, DTA)
(4, DTA)
Das war zu zeigen.
Beweis von T4. Beweisschema:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
⊢ ¬¬ϕ → (¬¬¬¬ϕ → ¬¬ϕ )
{¬¬ϕ } ⊢ ¬¬¬¬ϕ → ¬¬ϕ
⊢ (¬¬¬¬ϕ → ¬¬ϕ ) → (¬ϕ → ¬¬¬ϕ )
{¬¬ϕ } ⊢ ¬ϕ → ¬¬¬ϕ
⊢ (¬ϕ → ¬¬¬ϕ ) → (¬¬ϕ → ϕ )
{¬¬ϕ } ⊢ ¬¬ϕ → ϕ
{¬¬ϕ ) ⊢ ϕ
⊢ ¬¬ϕ → ϕ
(A1)
(1, DTA)
(A3)
(2, 3, MP)
(A3)
(4, 5, MP)
(6, DTA)
(7, DTA)
Das war zu zeigen.
Beweis von T5. Beweisschema:
1. ⊢ ¬¬¬ϕ → ¬ϕ
2. ⊢ (¬¬¬ϕ → ¬ϕ ) → (ϕ → ¬¬ϕ )
3. ⊢ ϕ → ¬¬ϕ
(DTA)
(A3)
(1, 2, MP)
Das war zu zeigen.
Beweis von T6. Beweisschema:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
⊢ ¬¬ϕ → ϕ
{ϕ → ψ } ⊢ ϕ → ψ
{ϕ → ψ } ⊢ ¬¬ϕ → ψ
⊢ ψ → ¬¬ψ
{ϕ → ψ } ⊢ ¬¬ϕ → ¬¬ψ
⊢ (¬¬ϕ → ¬¬ψ ) → (¬ψ → ¬ϕ )
{ϕ → ψ } ⊢ ¬ψ → ¬ϕ
⊢ (ϕ → ψ ) → (¬ψ → ¬ϕ )
Das war zu zeigen.
Beweis von T7. Beweisschema:
(T4)
(BV)
(1, 2,MB)
(T5)
(3, 4, MB)
(A3)
(5, 6, MP)
(7, DTA)
4.4. ANHÄNGE
1.
2.
3.
4.
5.
⊢ ϕ → ((ϕ → ψ ) → ψ )
{ϕ } ⊢ (ϕ → ψ ) → ψ
⊢ ((ϕ → ψ ) → ψ ) → (¬ψ → ¬(ϕ → ψ ))
{ϕ } ⊢ ¬ψ → ¬(ϕ → ψ )
⊢ ϕ → (¬ψ → ¬(ϕ → ψ ))
239
(T3)
(1, DTA)
(T6)
(2, 3, MP)
(4, DTA)
Das war zu zeigen.
Beweis von T9. Beweisschema:
1. {ϕ } ⊢ ψ → (ϕ → ψ )
2. ⊢ ϕ → (ψ → (ϕ → ψ ))
(A1)
(DTA)
Das war zu zeigen.
Beweis von T10. Beweisschema:
1.
2.
3.
4.
5.
⊢ ¬ ϕ → (ϕ → ψ )
⊢ (¬ϕ → (ϕ → ψ )) → (¬(ϕ → ψ ) → ¬¬ϕ )
⊢ ¬(ϕ → ψ ) → ¬¬ϕ
⊢ ¬¬ϕ → ϕ
⊢ ¬(ϕ → ψ ) → ϕ
(T8)
(T6)
(1, 2, MP)
(T4)
(3, 4, MB)
Das war zu zeigen.
Beweis von T11. Beweisschema:
1. ⊢ ψ → (ϕ → ψ )
2. ⊢ (ψ → (ϕ → ψ )) → (¬(ϕ → ψ ) → ¬ψ )
3. ⊢ ¬(ϕ → ψ ) → ¬ψ
(A1)
(T6)
(1, 2, MP)
Das war zu zeigen.
Beweis von T12. Beweisschema:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
⊢ ϕ → (¬¬ϕ → ¬(ϕ → ¬ϕ ))
{ϕ } ⊢ ¬¬ϕ → ¬(ϕ → ¬ϕ )
⊢ ϕ → ¬¬ϕ
{ϕ } ⊢ ¬¬ϕ
{ϕ } ⊢ ¬(ϕ → ¬ϕ )
⊢ ϕ → ¬(ϕ → ¬ϕ )
⊢ (ϕ → ¬(ϕ → ¬ϕ )) → (¬¬(ϕ → ¬ϕ ) → ¬ϕ )
⊢ ¬¬(ϕ → ¬ϕ ) → ¬ϕ
⊢ (ϕ → ¬ϕ ) → ¬¬(ϕ → ¬ϕ )
⊢ (ϕ → ¬ ϕ ) → ¬ ϕ
(T7)
(1, DTA)
(T5)
(3, DTA)
(2, 4, MP)
(5, DTA)
(T6)
(6, 7, MP)
(T5)
(8, 9, MB)
Das war zu zeigen.
Beweis von T13. Beweisschema:
1. {¬ϕ } ⊢ ϕ → ¬¬ϕ
(T5)
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
240
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
⊢ ¬ϕ → (ϕ → ¬¬ϕ )
⊢ (¬ϕ → (ϕ → ¬¬ϕ )) → ((¬ϕ → ϕ ) → (¬ϕ → ¬¬ϕ ))
⊢ (¬ϕ → ϕ ) → (¬ϕ → ¬¬ϕ )
{¬ϕ → ϕ } ⊢ (¬ϕ → ¬¬ϕ )
⊢ (¬ϕ → ¬¬ϕ ) → ¬¬ϕ
{¬ϕ → ϕ } ⊢ ¬¬ϕ
⊢ ¬¬ϕ → ϕ
{¬ϕ → ϕ } ⊢ ϕ
⊢ (¬ϕ → ϕ ) → ϕ
(1, DTA)
(A2)
(2, 3, MP)
(4, DTA)
(T12)
(5, 6, MP)
(T4)
(7, 8, MP)
(9, DTA)
Das war zu zeigen.
Beweis von T14. Beweisschema:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
{ϕ → ψ } ⊢ ϕ → ψ
⊢ (ϕ → ψ ) → (¬ψ → ¬ϕ )
{ϕ → ψ ) ⊢ (¬ψ → ¬ϕ )
⊢ (¬ψ → ¬ϕ ) → ((¬ϕ → ψ ) → (¬ψ → ψ ))
{ϕ → ψ } ⊢ (¬ϕ → ψ ) → (¬ψ → ψ )
{ϕ → ψ , ¬ϕ → ψ } ⊢ ¬ψ → ψ
⊢ (¬ψ → ψ ) → ψ
{ϕ → ψ , ¬ϕ → ψ } ⊢ ψ
{ϕ → ψ } ⊢ (¬ϕ → ψ ) → ψ
⊢ (ϕ → ψ ) → ((¬ϕ → ψ ) → ψ )
(BV)
(T6)
(1, 2, MP)
(T2)
(3, 4, MP)
(5, DTA)
(T13)
(6, 7, MP)
(8, DTA)
(9, DTA)
Das war zu zeigen.
Beweis von T15. Beweisschema:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
{¬ψ } ⊢ (ϕ → ϕ )
⊢ (ϕ → ϕ ) → ¬¬(ϕ → ϕ )
{¬ψ } ⊢ ¬¬(ϕ → ϕ )
⊢ ¬ψ → ¬¬(ϕ → ϕ )
⊢ (¬ψ → ¬¬(ϕ → ϕ )) → (¬(ϕ → ϕ ) → ψ )
⊢ ¬(ϕ → ϕ ) → ψ
(T1)
(T5)
(1, 2, MP)
(3, DTA)
(A3)
(4, 5, MP)
Das war zu zeigen.
4.4.5 Logische Paradoxien
Die logische Paradoxie
Dieser Satz ist falsch
finden wir in der Literatur in den verschiedensten Gewändern wieder. Wir wollen, an Zoglauer
[174] haltend, solche Paradoxien vorstellen und beginnen mit folgender Geschichte.
4.4. ANHÄNGE
241
T. Zoglauer: Einführung in die formale Logik für Philosophen [174], Abschnitt 1.2
Ein Reisender gerät unter Kannibalen, die ihn gefangen nehmen und anschließend zur
Bereicherung ihres Speiseplanes essen wollen. Die Kannibalen sind sich nur noch nicht
einig, wie sie ihn zubereiten sollen. Sie bieten ihm an, er könne irgendeine Aussage
machen. Wenn die Aussage wahr ist, werde er gekocht, und wenn sie falsch ist, werde er
geröstet. Die klassische Logik besagt, dass eine Aussage entweder wahr oder falsch ist.
Daher wird der Reisende entweder gekocht oder geröstet, aber dem unstillbarem Hunger
der Kannibalen scheint er nicht entkommen zu können. Trotzdem fand der Reisende
einen logischen Ausweg. Was sagte er zu den Kannibalen?
Seine Aussage lautete: Das, was ich jetzt sage, ist falsch.“ Dieser Satz stürzte die Kan”
nibalen in große Verwirrung. Denn der Inhalt des Satzes besagt, dass er falsch ist. Wenn
er aber falsch ist, muss sein Gegenteil wahr sein. Damit sind wir wieder am Anfang. Die
Wahrheit des Satzes impliziert seine Falschheit und aus der Falschheit folgt seine Wahrheit usw. Die Kannibalen waren daher ständig zwischen Kochen und Rösten hin- und
hergerissen und vergaßen in ihrem Streit den Reisenden, der währenddessen unbemerkt
entkam.
Die vielleicht bekannteste Anekdote dieser Art stammt von B. Russell (1918) und wurde in
Zusammenhang mit seinen Kritiken zur Cantorschen naiven Mengenlehre diskutiert.
B. Russell: The philosophy of logical atomism [136], Seite 101
I once had a form suggested to me which was not valid, namely the question whether
the barber shaves himself or not. You can define the barber as “one who shaves all those,
and those only, who do not shave themselves”. The question is, does the barber shave
himself? In this form the contradiction is not difficult to solve.
Können Sie die Geschichte des Barbiers mit eigenen Worten ausstatten?
Wir dürfen auch nicht die folgende, in Zoglauer [174] zu findende Paradoxie vorenthalten.
T. Zoglauer: Einführung in die formale Logik für Philosophen [174], Abschnitt 1.2
Ein weiteres Beispiel für eine paradoxe Selbstbezüglichkeit ist die Aussage: Dieser Sats
”
enthält drei Feler.“ We diesen Satz aufmerksam liest, stutzt zunächst. Der Satz behauptet, dass er drei Fehler enthält. Tatsächlich enthält er aber nur zwei Rechtschreibfehler
(syntaktische Fehler). Der Satz behauptet als etwas, was nicht stimmt. Behauptung und
Wirklichkeit fallen auseinander. Und darin liegt der dritte Fehler. Der dritte Fehler ist
kein syntaktischer, sondern ein semantischer Fehler.
Zoglauer fährt nun mit weiteren Formen dieser sogenannten Lügnerparadoxie fort:
◦ Ich lüge jetzt.
◦ Der folgende Satz ist wahr. Der vorhergehende Satz ist falsch.
Die erste Lügnerparadoxie ist besser bekannt als B. Russells: A man says: I am lying. Lesen wir
seine Erklärung:
242
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
B. Russel: Mathematical logic based on the theory of types [135], Seite 224
When a man says “I am lying,” we may interpret his statement as: “There is a proposition
which I am affirming and which is false.” All statements that “there is” so-and-so may
be regarded as denying that the opposite is always true; thus “I am lying” becomes: “It is
not true of all propositions that either I am not affirming them or they are true;” in other
words, “It is not true for all propositions p that if I affirm p, p is true.” The paradox
results from regarding this statement as affirming a proposition, which must therefore
come within the scope of the statement. This, however, makes it evident that the notion
of “all propositions” is illegitimate; for otherwise, there must be propositions (such as
the above) which are about all propositions, and yet can not, without contradition, be
included among the propositions they are about. Whatever we suppose to be the totality
of propositions, statements about this totality generate new propositions which, on pain
of contradiction, must lie outside the totality. It is useless to enlarge the totality, for
that equally enlarges the scope of statements about the totality. Hence there must be no
totality of propositions, and “all propositions” must be a meaningless phrase.
Die Selbstbezüglichkeit dieser Sätze verursacht eine Vermischung zwischen ihrer Syntax und
der Semantik, was die Widersprüche erzeugt. Aber Selbstbezüglichkeit allein genügt nicht, wie
folgendes Beispiel zeigt, welches wir ebenfalls in Zoglauer [174] finden.
T. Zoglauer: Einführung in die formale Logik für Philosophen [174], Abschnitt 1.2
Epimenides, ein Kreter behauptet: Alle Kreter lügen“. Wenn es stimmt, was Epime”
nides sagt, dann lügt er. Wenn er aber lügt, dann sagen die Kreter offenbar doch die
Wahrheit usw. Auf den ersten Blick betrachtet, besitzt diese Paradoxie die gleiche selbstbezügliche Struktur wie die anderen Lügner-Paradoxien. Die Wahrheit dieses Satzes
impliziert seine eigene Falschheit und aus der Falschheit folgt wiederum seine Wahrheit
und der Zirkel beginnt von neuem. Aber bei einer genauen Analyse findet man doch
einen Ausweg aus dem Zirkel. Nehmen wir einmal an, die Aussage des Epimenides sei
wahr. Dann sind alle Kreter Lügner und auch Epimenides, da er ebenfalls ein Kreter
ist, sagt nicht die Wahrheit. Daher kann die Behauptung, dass alle Kreter lügen, nicht
stimmen. Es muss also mindestens einen Kreter geben, der die Wahrheit sagt. Entscheidend ist jetzt also die Frage, ob Epimenides zu dieser Menge von Kretern gehört, die die
Wahrheit sagen. Nur wenn Epimenides zur Menge der ehrlichen Kreter gehört, schließt
sich der Zirkel und es entsteht der bekannte Widerspruch. Aber es kann auch der Fall
sein, dass Epimenides nicht zu dieser Menge gehört und ein notorischer Lügner ist. Dann
entsteht kein Widerspruch zu der obigen Behauptung, vorausgesetzt, dass es mindestens
einen ehrlichen Kreter gibt, der nicht Epimenides heißt.
Zoglauer schließt nun mit der folgenden Anwaltsparadoxie über den altgriechischen Philosophen
und Sophisten Protagoras. Finden Sie eine Lösung?
T. Zoglauer: Einführung in die formale Logik für Philosophen [174], Abschnitt 1.2
. . . Protagoras nun erteilte einem Schüler, Euathlos, Unterricht in Sophistik. Sie vereinbarten, dass der Student sein Honorar erst dann zu bezahlen braucht, wenn er seinen
4.4. ANHÄNGE
243
ersten Gerichtsprozess gewonnen habe. Der Schüler ließ aber lange nichts mehr von
sich hören und hatte auch keinen Prozess geführt. Darum ging Protagoras vor Gericht
und verklagte Euathlos wegen des nicht bezahlten Honorars. Protagoras argumentierte
wie folgt: Entweder werde ich diesen Prozess gewinnen oder ich werde ihn verlieren.
”
Wenn ich den Prozess gewinne,dann musst du mir aufgrund des Urteils das Honorar bezahlen; verliere ich den Prozess, dann hast du den Prozess gewonnen und musst wegen
unserer Vereinbarung ebenfalls bezahlen. Also musst du mir mein Honorar auf jeden
Fall bezahlen.“ Euathlos dagegen erwies sich als ein sehr gewitzter Schüler und verteidigte sich mit dem gleichen Argument: Wenn ich den Prozess gewinne, dann wird dei”
ne Klage abgewiesen und ich muss nicht bezahlen. Verliere ich dagegen, dann brauche
ich wegen unserer Abmachung ebenfalls nicht zu zahlen.“Auch diese Argumentation
erscheint logisch. Aber wer hat Recht?
4.4.6 Frühere Axiomatisierungen der Aussagenlogik
F.L.G. Freges Begriffsschrift
Dem Jenaer Mathematiker F.L.G. Frege gelang mit seiner im Jahre 1879 erschienenen Begriffsschrift. Eine der arithmetischen nachgebildetet Formelsprache des reinen Denkens die historisch
erste Formalisierung der klassischen Prädikatenlogik.
G. Frege: Begriffsschrift [42], Abschnitt 1.2
A
Identität ⊢ A
A
Negation ¬A
Disjunktioin A ∨ B
A
B
◦ Disjunktion
A (B ∨ A)
B
◦ Konjunktion
A (B ∧ A)
B
Hieraus lassen sich zusammengesetzte Ausdrücke bilden, z.B.
A
B
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
244
Axiom des Kalküls E
(F1)
(F2)
(F3)
(F4)
(F5)
(F6)
ϕ → (ψ → ϕ )
(χ → (ψ → ϕ )) → ((χ → ψ ) → (χ → ϕ ))
(χ → (ψ → ϕ )) → (ψ → (χ → ϕ ))
(ψ → ϕ ) → (¬ϕ → ¬ψ )
¬¬ϕ → ϕ
ϕ → ¬¬ϕ
B. Russell und A.N. Whitehead
S.C. Kleene
J.B. Rosser
4.4.7 Kalmars Beweis der Vollständigkeit der Aussagenlogik
In diesem Abschnitt wollen wir L. Kalmárs Beweis der Vollständigkeit der Aussagenlogik aus
[87] vorstellen und diskutieren.
L. Kalmár: Über die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls, Seite 222
In dieser Arbeit werde ich für einen Satz der mathematischen Logik einen neuen, einfachen Beweis geben. Da jener Satz dem elementarsten Kapitel der mathematischen
Logik, dem sogenannten Aussagenkalkül angehört, setze ich gar keine Vorkenntniss aus
dieser Theorie voraus.
Kalmars Arbeit besteht genauer aus den folgenden dreizehn Abschnitten, von denen wir die
ersten neun Abschnitte lesen wollen.
1. Es werden Variablen eingeführt, die die grundlegenden logischen Werte w und f annehmen dürfen. Anschließend werden die aussagenlogischen Junktoren ¬, →, ∧, ∨ und
↔ erklärt und auf ihrer Basis die Menge der zulässigen Formeln. Von diesen Junktoren
genügen zwei, um alle aussagenlogischen Formeln formulieren zu können.
2. Der zweite Abschnitt enthält weitere Identitäten des Aussagenkalküls, und es werden formale Ähnlichkeiten zwischen Aussagenlogik und der Algebra aufgezeigt. Ferner werden
die Begriffe der einfachen Konjunktion, einfachen Disjunktion, der konjunktiven und der
disjunktiven Normalform eingeführt.
3. Kalmár erläutert den Begriff einer identische wahren Formel, d.h. einer Identität oder,
wie wir uns ausdrücken, einer Tautologie sowie Möglichkeiten, für eine vorgelegte Formel zu entscheiden, ob es sich um eine Identität handelt oder nicht. Desweiteren werden
die Schlussregeln der Einsetzbarkeit (Substitution) und der Abtrennung (modus ponens)
besprochen.
4. Kalmár stellt in kurzen Worten alternative Möglichkeiten vor, die Vollständigkeit der Aussagenlogik zu beweisen, darunter der von uns präsentierte Beweis vermittels Überführung
der aussagenlogischen Formeln in konjunktive Normalform. Wir übergehen diesen Abschnitt.
4.4. ANHÄNGE
245
5. Der fünfte Abschnitt enthält die dem Kalkül zugrunde liegenden Axiome sowie den zugehörigen Beweisbarkeitsbegriff.
6. Anschließend werden die Nachweise geführt, dass die aufgeführten Axiome sämlich Identitäten sind. Auch diesen Abschnitt übergehen wir.
7. Kalmár beweist zwei Hilfssätze, deren Nutzen wir in Abschnitt 9 einsehen werden. Wir
geben diese Hilfssätze nur an und verweisen für deren Beweise auf die Originalliteratur.
8. Ein dritter Hilfssatz über die Beweisbarkeit aus Prämissen, dessen Beweis wir in unserer
Vorlesung ebenfalls übergehen, wird sich für den Hauptsatz als zentral herausstellen.
9. Dieser Hauptsatzes wird nun in wenigen Zeilen bewiesen.
Abschnitt 1
Kalmár führt zunächst die Symbole ↑ und ↓ ein zur Bezeichnung der Wahrheitswahrte w und f
bzw. 1 und 0.
L. Kalmár: Über die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls, Seite 222f.
Dem Aussagenkalkül legt man eine Menge {↑, ↓} von zwei Elementen zugrunde, etwa
in ähnlichem Sinn, wie der Arithmetik die abzählbar-unendliche Menge {1, 2, . . .} der
natürlichen Zahlen. zugrunde gelegt wird. Die Elemente ↑ und ↓ jener Menge heißen die
logischen Werte; ↑ heißt wahr“, ↓ heißt falsch“.
”
”
Es schließt sich darauf unmittelbar der Begriff der logischen Variablen an.
L. Kalmár: Über die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls, Seite 223
Durch große lateinische Buchstaben werden wir meistens Veränderliche bezeichnen, die
die logischen Werte anzunehmen fähig sind; sie heißen logische Variable. Das Übereinstimmen zweier logischer Werte bezeichnen wir durch das Gleichheitszeichen.
Auch die Definitionen der fünf aussagenlogischen Operationen kennen wir aus unserer Vorlesung:
L. Kalmár: Über die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls, Seite 223
Analog, wie die Grundoperationen in der Arithmetik, definiert man im Aussagenkalkül
fünf Operationen: Negation, Implikation, Konjunktion, Disjunktion und Äquivalenz . . .
Man definiert
die Negation A ( nicht“ A) von A durch ↑ =↓, ↓ =↑;
”
die Implikation A → B ( A impliziert B“) von A, B durch ↑→↑=↑, ↑→↓=↓,
”
↓→↑=↑, ↓→↓=↑;
die Konjunktion A&B ( A und B“) von A, B durch ↑ & ↑=↑, ↑ & ↓=↓, ↓ & ↑=↓,
”
↓ & ↓=↓;
die Disjunktion A ∨ B ( A oder B“) von A, B durch ↑ ∨ ↑=↑, ↑ ∨ ↓=↑, ↓ ∨ ↑=↑,
”
↓ ∨ ↓=↓;
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
246
die Äquivalenz A ∼ B ( A äquivalent B“) von A, B durch ↑∼↑=↑, ↑∼↓=↓, ↓∼↑=↓
”
, ↓∼↓=↑ .
Der Begriff der aussagenlogischen Formel setzt sich nun aus den eingeführten Variablen und den
Operationen zwischen ihnen zusammen.
L. Kalmár: Über die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls, Seite 224
Einen Ausdruck, der aus logischen Variablen mit Hilfe unserer Operationen entsteht,
wobei diese Operationen auch mehrmals, in beliebiger Reihenfolge, aber natürlich nur
endlich viele Malen angewendet werden können, nennen wir eine Formel. Der Aufbau
einer Formel wird üblicherweise durch Klammern angedeutet. Z.B. ist (A ∼ (B&C)) →
((B ∨ A) → C) eine Formel. Wir bezeichnen Formen durch große deutsche Buchstaben.
Bereits an dieser Stelle kommt Kalmár auf die Darstellung aussagenlogischer Formeln durch
spezielle Junktorenbasen zu sprechen, und zwar zunächst auf die Basis {¬, →}, dann auf die
beiden Basen {¬, ∧} bzw. {¬, ∨} :
L. Kalmár: Über die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls, Seite 224
Man bemerke, daß die obigen Operationen willkürlich aus der Menge aller möglichen
Operationen ausgezeichnet wurden . . . In der Tat kann man beweisen, daß sich alle
übrigen, beliebig vielgliedrigen Operationen des Aussagenkalküls durch jene fünf Operationen ausdrücken, also als Formeln darstellen lassen . . . In dieser Hinsicht ist aber
die Einführung aller fünf Operationen nicht begründet, da man auch mit Negation und
Implikation allein auskommt; in der Tat gilt für beliebige A, B
(1)
(2)
(3)
A&B = A → B,
A ∨ B = A → B,
A ∼ B = (A → B)&(B → A) = (A → B) → B → A
. . . Man beweist die Gleichungen (1)–(3) durch Berechnung der linken und rechten Seite
für alle (vier) möglichen Wertverteilungen von A und B mit Hilfe der Definitionen der
Operationen. Ähnlich beweist man die Gleichungen
(4)
(5)
A ∨ B = A&B,
A&B = A ∨ B
A → B = A&B = A ∨ B,
A ∼ B = A&B&B&A = A ∨ B ∨ B ∨ A
Abschnitt 2
Kalmár fährt wie folgt fort:
4.4. ANHÄNGE
247
L. Kalmár: Über die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls, Seite 225f.
Weitere wichtige Sätze des Aussagenkalküls werden durch die Gleichungen
(6)
(7)
(8)
(9)
(10)
(11)
(12)
(13)
(14)
A&B = B&A,
A ∨ B = B ∨ A,
A&(B&C) = (A&B)&C,
A ∨ (B ∨C) = (A ∨ B) ∨C,
(A&B) ∨C = (A ∨C)&(B ∨C),
(A ∨ B)&C = (A&C) ∨ (A&B),
A&B = A ∨ B,
A ∨ B = A&B,
A=A
(für beliebige Werte von A, B, C) ausgedrückt . . . Die Gleichungen (6)–(10) weisen
auf eine Analogie zwischen Aussagenkalkül und Algebra hin; sie besagen nämlich, daß
Konjunktion und Disjunktion kommutative und assoziative Operationen sind und die
letztere gegenüber der ersteren distributiv ist . . . allgemein kann man mit Konjunktion
und Disjunktion ebenso rechnen, wie mit Addition und Multiplikation in einem Ring.
Gleichung (12) zeigt, daß die Analogie auch im umgekehrten Sinne besteht, da auch die
Konjunktion gegenüber der Disjunktion distributiv ist . . .
Kalmár kommt nun auch auf die von uns benutzten Normalformen zu sprechen.
L. Kalmár: Über die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls, Seite 226
Vermöge (12)–(14) können diese Analogien dazu verwertet werden, jede Formel nach
belieben als Konjunktion von einfachen Disjunktionen oder als Disjunktion von einen
Konjunktionen zu schreiben; dabei heißt eine Konjunktion oder Disjunktion einfach,
falls ihre Glieder logische Variable oder Negationen von solchen sind . . . Endlich verwende man . . . das Distributivgesetz (10) oder (11), je nachdem die gegebene Formel
als Konjunktion von einfachen Disjunktionen (konjunktive Normalform) oder als Disjunktion von einfachen Konjunktionen (disjunktive Normalform) darzustellen ist.
Abschnitt 3
Der Vollständigkeitssatz der Aussagenlogik handelt um die Darstellbarkeit tautologischer Formeln:
L. Kalmár: Über die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls, Seite 226
Eine Formel, deren Werte für jede Einsetzung von logischen Werten für die Variablen ↑
ausfällt, nennen wir eine identisch wahre Formel, oder kürzer eine Identität.
Ob eine Formel tautologisch ist, lässt sich bekanntlich anhand einer Wahrheitstabelle überprüfen.
Andererseits griffen wir beim Beweis des Vollständigkeitssatzes auf die oben erwähnten Normalformen zurück. Kalmár bringt diese beiden Dinge zusammen:
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
248
L. Kalmár: Über die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls, Seite 224
Eine andere, meist bequemere Methode besteht darin, daß man [eine Formel] A als
konjunktive Normalform darstellt; in der Tat sieht man leicht ein, daß eine Konjunktion
dann und nur dann eine Identität ist, falls dies für jedes Glied derselben zutrifft; ferner,
daß eie einfache Disjunktion dann und nur dann eine Identität ist, falls mindestens eine
Variable darin sowohl negiert wie unnegiert als Disjunktionsglied auftritt; daher läßt sich
von einer konjunktiven Normalform sofort erkennen, ob sie eine Identität ist.
Um aus einer Identität eine neue Identität zu erzeugen, erläutert Kalmár nun die Schlussregeln
der Einsetzung (Substitution) und Abtrennung (modus ponens).
L. Kalmár: Über die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls, Seite 227
Ist A eine Identität und setzt man in A für eine Variable überall, wo sie in A vorkommt,
eine und dieselbe Formel B (Identität oder nicht) ein, so entsteht offenbar wieder eine
Identität . . .
Sind A und A → B zwei Identitäten, so ist auch B eine Identität . . . Die Operation, die
aus zwei Formeln A und A → B die Formel B erzeugt, nennt man Abtrennung . . .
Kalmár kommt nun auf das eigentliche Problem der Aussagenlogik zu sprechen.
L. Kalmár: Über die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls, Seite 227f.
Nun erhebt sich die Frage, ob es endlich viele Identitäten gibt, aus denen sich jede Identität durch endlich viele Einsetzungen und Abtrennungen gewinnen läßt. Die Antwort
ist bejahend; die durch dieselbe ausgedrückte Beschaffenheit der Identitäten ist unter
dem Namen Axiomatisierbarkeit bekannt. Ein System von endlich vielen Identitäten der
verlangten Art heißt ein Axiomensystem, jene Identitäten selbst Axiome des Aussagenkalküls . . .
Durch den Satz von der Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls wird das obige Desideratum erfüllt: um einen Satz für beliebige Identitäten zu beweisen, genügt es zu
zeigen, daß e für die Axiome . . . besteht und falls er für eine Formel A bzw. für zwei
Formeln A und A → B gültig ist, so gilt er auch für jede aus A durch Einsetzung entstehende Formel bzw. für die aus A → B durch Abtrennung von A entstehende Formel
B.
Abschnitt 5
Kalmár legt nun die der Syntax des Aussagenkalküls zugrunde liegenden Axiome fest.
L. Kalmár: Über die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls, Seite 230f.
Es seien zunächst die Axiome angegeben. Hilfsaxiome:
(I)
(II)
(A → (B → C)) → ((A → B) → (A → C)),
(A → B) → ((A → B) → B).
4.4. ANHÄNGE
249
Axiom der Negation:
(III)
A → A.
Axiome der Implikation:
(IV)
(V)
(VI)
B → (A → B),
A → (A → B),
A → (B → A → B),
(VII)
(VIII)
(IX)
A → (B → (A&B)),
A → A&B,
B → A&B.
Axiome der Konjunktion:
Axiome der Disjunktion:
(X)
(XI)
(XII)
Ato(A ∨ B),
B → (A ∨ B),
A → (B → A ∨ B).
Axiome der Äquivalenz:
(XIII)
(XIV)
(XV)
(XVI)
A → (B → (A ∼ B)),
A → (B → A ∼ B),
A → (B → A ∼ B),
A → (B → (A ∼ B)).
Für Kalmárs Zwecke ist es dabei unwesentlich, ob dieses Axiomensystem minimal ist, d.h. ob
gewisse Axiome Folgerungen anderer Axiome sind.
Der nachfolgende Beweisbegriff ist für das gesamte Kalkül fundamental. Wir geben nur einen
Ausschnitt, da der Student die Definition sicher selbst vervollständigen kann.
L. Kalmár: Über die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls, Seite 231f.
Ich nenne eine Formel A ableitbar, falls sie aus den Axiomen durch eine endliche Kette
von Einsetzungen und Abtrennungen entsteht, falls es also eine endliche Folge
A1 , A2 , . . . , An
von Formeln gibt, so daß jedes Glied Am der Folge entweder mit einem der Axiome
(I)–(XVI) identisch ist, oer aber aus einer Formel Ak mit k < m durch Einsetzung, oder
aus zwei Formeln Ak , Al mit k, l < m durch Abtrennung entsteht, endlich An mit A
identisch ist. Außer diesem Begriff benötigen wir auch den Hilfsbegriff der Ableitbarkeit
aus Prämissen. Es seien P1 , P2 , . . . , Pr beliebige Formeln; wir sagen, A sei aus den
Prämissen P1 , P2 , . . . , Pr ableitbar, falls es eine endliche Folge
A1 , A2 , . . . , An
von Formeln gibt, so daß jedes Glied Am . . .
250
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
Abschnitt 7
Der sechste Abschnitt der Kalm’arschen Arbeit verifiziert die Axiome als Identitäten, und deshalb sind auch alle aus diesen Axiomen ableitbaren Formeln Identitäten. Nun kommt es darauf
an, die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls nachzuweisen, d.h. zu zeigen, dass alle Identitäten auch ableitbar aus den Axiomen sind.
Kalmár beweist nun die folgenden drei Hilfssätze, von denen der erste die Aussage unseres
Deduktionstheorems der Aussagenlogik (DTA) beinhaltet.
L. Kalmár: Über die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls, Seite 233
H i l f s s a t z 1. Es seien P1 , P2 , . . . , Pr beliebige Formeln, die die (in den Axiomen figurierenden) Variablen A, B, C nicht enthalten. Es sei die Formel A aus den
Prämissen P1 , P2 , . . . , Pr ableitbar. Dann ist die Formel Pr → A aus den Prämissen
P1 , P2 , . . . , Pr−1 ableitbar. (Für r = 1 bedeutet dies: ableitbar schlechthin.)
Lässt sich zweitens eine Formel A aus einer Prämisse Pr und auch aus ihrer Negation Pr ableiten, so wird Pr für den Beweis tatsächlich nicht benötigt, A ist von Pr unabhängig.
L. Kalmár: Über die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls, Seite 235
H i l f s s a t z 2. Enthalten die Formeln P1 , P2 , . . . , Pr die Variable A, B, C nicht, und ist
eine Formel A sowohl aus den Prämissen P1 , P2 , . . . , Pr , wie auch aus den Prämissen
P1 , P2 , . . . , Pr ableitbar, so ist A auch aus den Prämissen P1 , P2 , . . . , Pr−1 allein
ableitbar.
Abschnitt 8
Die wesentliche Beweisidee, so schreibt Kalmár, steckt nun in dem folgenden dritten Hilfssatz.
L. Kalmár: Über die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls, Seite 235
H i l f s s a t z 3. Es seien D1 , D2 , . . . , Dr beliebie von A, B, C verschiedene Variable; es
sei A eine Formel, die keine andere Variablen enthält als (höchstens) jene; wir bezeichnen daher A auch durch A(D1 , D2 , . . . , Dr ). Es seien W1 , W2 , . . . , Wr beliebige gegebene
logische Werte; A(W − 1,W2 , . . . ,Wr ) bezeichne den logischen Wert, die aus A durch
Einsetzung von Q1 für D1 , W2 für D2 , . . . , Wr für Dr und Berechnung des Wertes des
so entstandenen Ausdruckes mit Hilfe der Definitionen der Operationen entsteht. Es bezeichne Ds für s = 1, 2, . . . , r die Formel Ds oder Ds , je nachdem Ws =↑ oder Ws =↓ .
Ist nun A(W1 ,W2 , . . . ,Wr ) =↑, so ist A, ist aber A(W1 ,W2 , . . . ,Wr ) =↓, so ist A aus den
Prämissen D1 , D2 , . . . , Dr ableitbar.
Abschnitt 9
Wir kommen nun zum Beweis des Satzes über die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls.
4.4. ANHÄNGE
251
L. Kalmár: Über die Axiomatisierbarkeit des Aussagenkalküls, Seite 237f.
Nun gehen wir zum Beweis des Satzes über, laut dessen jede Identität eine ableitbare
Formel ist. Es sei zunächst A = A(D1 , D2 , . . . , Dr ) eine Identität, die die Variablen A,
B, C nicht, sondern nur die Variablen D1 , D2 , . . . , Dr enthält. Da, für beliebige Werte W1 , W2 , . . . , Wr , A(W1 ,W2 , . . . ,Wr ) =↑ ausfällt, so ist A nach Hilfssatz 3 aus den
Prämissen D1 , D2 , . . . , Dr ableitbar, falls D1 beliebig D1 oder D1 , D2 beliebig D2 oder
D2 , . . . , Dr beliebig Dr oder Dr bedeuten kann. Wählt man also D1 , D2 , . . . , Dr−1
beliebig in diesem Sinne, so ist A sowohl aus D1 , D2 , . . . , Dr−1 , Dr , wie auch aus
D1 , D2 , . . . , Dr−1 , Dr , also, nach Hilfssatz 2, auch aus D1 , D2 , . . . , Dr−1 als Prämissen
ableitbar. Wählt man hier Dr−1 einmal Dr−1 , das anderemal Dr−1 , so folgt analogerweise, daß A auch aus den Prämissen D1 , D2 , . . . , Dr−2 allein ableitbar ist, u.s.w.: in
dieser Weise gelangt man endlich zur Ableitbarkeit von A ohne Prämissen.
Damit ist der Beweis des Satzes abgeschlossen.
4.4.8 Theoreme der Prädikatenlogik
In diesem Paragraphen wollen wir die Beweise der prädikatenlogischen Theorem T17 und T18
aus Satz 4.9 nachholen; T16 haben wir bereits gezeigt. Dabei halten wir uns an die Ausführungen
aus Hoffmann [81], S. 111.
Theoreme der Prädikatenlogik (verbleibende Beweise)
(T16) ∀ξ ∀ζ ϕ (ξ , ζ ) → ∀ζ ∀ξ ϕ (ξ , ζ )
(T17) ∀ξ (ϕ (ξ ) → ψ (ξ )) → (∀ξ ϕ (ξ ) → ∀ξ ψ (ξ ))
(T18) ∀ξ ∀ζ ϕ (ξ , ζ ) → ∀ξ ϕ (ξ , ξ )
Beweis von T17. Beweisschema:
1. {∀ξ (ϕ (ξ ) → ψ (ξ ))} ⊢ ∀ξ (ϕ (ξ ) → ψ (ξ ))
2. {∀ξ ϕ (ξ )} ⊢ ∀ξ ϕ (ξ )
3. ⊢ ∀ξ (ϕ (ξ ) → ψ (ξ )) → (ϕ (ξ ) → ψ (ξ ))
(BV)
(BV)
(A4)
4. {∀ξ (ϕ (ξ ) → ψ (ξ )) ⊢ (ϕ (ξ ) → ψ (ξ ))
(1, 3, MP)
6. {∀ξ ϕ (ξ )} ⊢ ϕ (ξ )
(2, 5, MP)
5. ⊢ ∀ξ ϕ (ξ ) → ϕ (ξ )
7. {∀ξ (ϕ (ξ ) → ψ (ξ )), ∀ξ ϕ (ξ )} ⊢ ψ (ξ )
8. {∀ξ (ϕ (ξ ) → ψ (ξ )), ∀ξ ϕ (ξ )} ⊢ ∀ξ ψ (ξ )
9. {∀ξ (ϕ (ξ ) → ψ (ξ ))} ⊢ ∀ξ ϕ → ∀ξ ψ (ξ )
10. ⊢ ∀ξ (ϕ (ξ ) → ψ (ξ )) → (∀ξ ϕ (ξ ) → ∀ξ ψ (ξ ))
Das war zu zeigen.
Beweis von T18. Beweisschema:
(A4)
(4, 6, MP)
(7, G)
(8, DTP)
(9, DTP)
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
252
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
{∀ξ ∀ζ ϕ (ξ , ζ )} ⊢ ∀ξ ∀ζ ϕ (ξ , ζ )
⊢ ∀ ξ ∀ ζ ϕ (ξ , ζ ) → ∀ ζ ϕ (ξ , ζ )
{∀ξ ∀ζ ϕ (ξ , ζ )} ⊢ ∀ζ ϕ (ξ , ζ )
⊢ ∀ ζ ϕ (ξ , ζ ) → ϕ (ξ , ξ )
{∀ξ ∀ζ ϕ (ξ , ζ )} ⊢ ϕ (ξ , ξ )
{∀ξ ∀ζ ϕ (ξ , ζ )} ⊢ ∀ϕ (ξ , ξ )
⊢ ∀ ξ ∀ ζ ϕ (ξ , ζ ) → ∀ ξ ϕ (ξ , ξ )
(BV)
(A4)
(1, 2, MP)
(A4)
(3, 4, MP)
(5, G)
(6, DTP)
Das war zu zeigen.
4.4.9 Schopenhauer über Kritik und Ursprung der Logik
A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (1819), Erstes Buch, §9
. . . Diesen Schematismus der Begriffe, der schon in mehreren Lehrbüchern ziemlich gut
ausgeführt ist, kann man der Lehre von den Urtheilen, wie auch der ganzen Syllogistik zum Grunde legen, wodurch der Vortrag beider sehr leicht und einfach wird. Denn
alle Regeln derselben lassen sich daraus ihrem Ursprung nach einsehen, ableiten und
erklären. Diese aber dem Gedächtniß aufzuladen, ist nicht nothwendig, da die Logik nie
von praktischem Nutzen, sondern nur von theoretischem Interesse für die Philosophie
seyn kann. Denn obwohl sich sagen ließe, daß die Logik zum vernünftigen Denken sich
verhält wie der Generalbaß zur Musik, und auch, wenn wir es weniger genau nehmen,
wie die Ethik zur Tugend, oder die Aesthetik zur Kunst; so ist dagegen zu bedenken, daß
noch kein Künstler es durch Studium der Aesthetik geworden ist, noch ein edler Charakter durch Studium der Ethik, daß lange vor Rameau richtig und schön komponiert wurde,
und auch, daß man nicht den Generalbaß inne zu haben braucht, um Disharmonien zu
bemerken: ebenso wenig braucht man Logik zu wissen, um sich durch Trugschlüsse
nicht täuschen zu lassen. Jedoch muss eingeräumt werden, daß, wenn auch nicht für die
Beurtheilung, dennoch für die Ausübung der musikalischen Komposition der Generalbaß von großem Nutzen ist: sogar auch mögen, wenn gleich in viel geringerem Grade,
Aesthetik und selbst Ethik für die Ausübung einigen, wiewohl hauptsächlich negativen
Nutzen haben, also auch ihnen nicht aller praktische Werth abzusprechen seyn: aber von
der Logik läßt sich nicht einmal so viel rühmen. Sie ist nämlich bloß Wissen in abstracto Dessen, was Jeder in concreto weiß. Daher, so wenig als man sie braucht, einem
falschen Räsonnement nicht beizustimmen, so wenig ruft man ihre Regeln zu Hülfe, um
ein richtiges zu machen, und selbst der gelehrteste Logiker setzt sie bei seinem wirklichen Denken ganz bei Seite.
A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (1819), Erstes Buch, §9
So wenig praktischen Nutzen die Logik haben kann, so ist dennoch wohl nicht zu leugnen, daß sie zum praktischen Behuf erfunden worden. Ihre Entstehung erkläre ich mir
auf folgende Weise. Als unter den Eleatikern, Megarikern und Sophisten die Lust am
Disputiren sich immer mehr entwickelt hatte und allmälig fast zur Sucht gesteigert war,
mußte die Verwirrung, in welche fast jede Disputation gerieth, ihnen bald die Nothwendigkeit eines methodischen Verfahrens fühlbar machen, als Anleitung u welchem eine
4.4. ANHÄNGE
253
wissenschaftliche Dialektik zu suchen war. Das Erste, was bemerkt werden mußte, war,
daß beide streitende Parteien allemal über irgend einen Satz einig seyn mußten, auf
welchen die strittigen Punkte zurückzuführen waren, im Disputiren. Der Anfang des
methodischen Verfahrens bestand darin, daß man diese gemeinschatlich anerkannten
Sätze förmlich als solche aussprach und an die Spitze der Untersuchung stellte. Diese Sätze aber betrafen Anfangs nur das Materiale der Untersuchung. Man wurde bald
inne, daß auch in der Art und Weise, wie man auf die gemeinschatlich anerkannte Wahrheit zurückging und seine Behauptungen aus ihr abzuleiten suchte, gewisse Formen und
Gesetze befolgt wurden, über welche man, obgleich ohne vorhergegangene Uebereinkunft, sich dennoch nie veruneinigte, woraus man sah, daß sie der eigenthümliche, in
ihrem Wesen liegende Gang der Vernunft selbst seyn mußten, das Formale der Untersuchung.Obgleich nun dieses nicht dem Zweifel und der Uneinigkeit ausgesetzt war, so
gerieth doch irgend ein bis zur Pedanterie systematischer Kopf auf den Gedanken, daß es
recht schön aussehen und die Vollendung der methodischen Dialektik seyn würde, wenn
auch dieses Formelle alles Disputirens, dieses immer gesetzmäßige Verfahren der Vernunft selbst, ebenfalls in abstrakten Sätzen ausgesprochen würde, welche man eben wie
jene das Materiale der Untersuchung betreffenden gemeinschaftlich anerkannten Sätze,
an die Spitze der Untersuchung stellte, als den festen Kanon des Disputirens selbst,
auf welchen man stets zurücksehen und sich darauf zu berufen hätte. Indem man auf
diese Weise Das, was man bisher wie durch stillschweigende Uebereinkunft befolgt,
oder wie instinktmäßig ausgeübt hatte, nunmehr mit Bewußtseyn als Gesetz anerkennen
und förmlich aussprechen wollte, fand man allmälig mehr oder minder vollkommene
Ausdrücke für logische Grundsätze, wie den Satz vom Widerspruch, vom zureichenden
Grunde, vom ausgeschlossenen Dritten, das dictum de omni et nullo, sodann die speciellern Regeln der Syllogistik, wie z.B. ex meris particularibus aut negativis sequitur, a
rationato ad rationem non valet consequentia u.s.w.
4.4.10 Fraenkel über eine Vorlesung zur Logik
A.A. Fraenkel: Lebenskreise (1967), S. 90 f.
Ich hörte im Münchener Wintersemester [1909/1910] auch eine Vorlesung über Logik
bei einem katholischen Philosophen, da ich Philosophie ja als Nebenfach bei der Doktorprüfung vorgesehen hatte. Doch hatte ich keinerlei Nutzen von dieser in veralteter
scholastischer Form gegebenen Vorlesung – außer dem, daß ich Verständnis für Kants
historische Fehleinschätzung fand, nach der die formale Logik ein absterbender und
keiner weiteren Entwicklung mehr fähiger Zweig am Stamm der Philosophie sein sollte.
Seit Mitte des 19. und vor allem im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich dagegen gezeigt,
daß die Entwicklung der formalen und symbolischen Logik und die in ihr enthaltenen
Potentialitäten bei weitem alles übertreffen, was die übrigen Zweige der Philosophie
enthalten und versprechen. Kants Fehldiagnose ist um so erstaunlicher, als die spätere
Entwicklung im Grunde schon von leibniz vorausgesehen worden war. Heute ist die –
symbolische“ oder mathematische“ – Logik eine der fruchtbarsten und auch anwen”
”
dungsreichsten Wissenschaften geworden.
254
KAPITEL 4. MATHEMATISCHE LOGIK
KAPITEL
5
Arithmetik, Mengenlehre, Unvollständigkeit
5.1 Peanosche Arithmetik
5.1.1 Was ist eine mathematische Theorie?
Eine mathematische Theorie ist auf zwei Säulen aufgebaut:
◦ auf den Logikaxiomen (inklusive den üblichen Schlussregeln)
◦ und den Theorieaxiomen.
Darunter verstehen wir genauer folgendes:
◦ Logikaxiome
Die Logikaxiome vereinen diejenigen, im vorigen Kapitel diskutierten Axiome, die einer mathematischen Theorie als logisches System zugrunde liegen. Handelt es sich beispielsweise um die Axiome der Prädikatenlogik erster Stufe, so sprechen wir von einer
mathematischen Theorie erster Stufe.
◦ Theorieaxiome
Die Theorieaxiome geben der mathematischen Theorie ihren eigentlichen Inhalt. Sie vereinen insbesondere alle die Grundregeln, die uns für den Umgang mit den mathematischen Objekten, wie z.B. den Zahlen innerhalb der Peanoschen Axiomatik, oder den
Mengen innerhalb der Zermelo-Fraenkelschen Axiomatik usw., zur Verfügung stehen.
In diesem Kapitel wollen wir mit der Peanoarithmetik und der Zermelo-Fraenkelschen Mengenlehre zwei der wichtigsten mathematischen Theorien kennenlernen, die auf dem logischen
Fundament der Prädikatenlogik erster Stufe aufbauen. Dabei richten wir uns erneut nach dem
Lehrbuch Hoffmann [81], Kapitel 3.
255
256
KAPITEL 5. ARITHMETIK, MENGENLEHRE, UNVOLLSTÄNDIGKEIT
5.1.2 Die Peanoarithmetik
Syntax der Peanoarithmetik
Wie auch in der Prädikatenlogik, beginnen wir auch hier, die Begriffe Terme und Formeln festzulegen. Für den Termbegriff stehen uns 0, x1 , x2 usw. als Konstanten- und s, + und × als
Funktionssymbole zur Verfügung.
Definition (Terme der Peanoarithmetik)
Die Menge der Terme der Peanoarithmetik definieren wir wie folgt rekursiv:
◦ 0, x1 , x2 , x3 usw. sind Terme der Peanoarithmetik.
◦ Sind σ und τ Terme der Peanoarithmetik, so auch
s(σ ),
(σ + τ ),
(σ × τ ).
Beispiel. Terme der Peanoarithmetik sind
0,
x1 ,
(x1 + x2 ),
(x1 × x2 ),
s(0),
s(x3 ),
(s(x1 × s(s(x25 ))))
usw.
Wir erinnern an unsere Setzungen aus dem vorigen Kapitel
0 = 0,
1 = s(0),
2 = s(s(0))
usw.
Diese werden wir natürlich als die bekannten natürlichen Zahlen interpretieren.
In die folgende Definition einer arithmetischen Formel gehen neben arithmetischen Termen auch
die Symbole der Prädikatenlogik erster Stufe ein.
Definition (Formeln der Peanoarithmetik)
Die Menge der Formeln der Peanoarithmetik definieren wir wie folgt rekursiv:
◦ Sind σ und τ arithmetische Terme, so ist
(σ = τ )
eine arithmetische Formel.
◦ Sind ϕ und ψ arithmetische Formeln, so auch
(¬ϕ ),
(ϕ ∧ ψ ),
(ϕ ∨ ψ ),
(ϕ → ψ ),
(ϕ ↔ ψ ),
(ϕ 6↔ ψ ).
◦ Ist ϕ eine arithmetische Formel, so auch
∀ξ ϕ ,
∃ξ ϕ
mit ξ ∈ {x1 , x2 , . . .}.
Beispiel. Arithmetische Formeln sind
s(x1 ) = 0,
s(x1 ) = x2 ,
1=5
oder auch (unter Vernachlässigung verschiedener Klammerpaare)
∃x1 2 × x1 = 8, ∀x1 1 × x1 = x2 + 0,
∀x1 ∃x2 (∃x3 (x2 = x3 + s(0) + s(s(0))) ∧ ¬(x3 = x1 + x2 ) → (3 = s(0) ∨ 1 = 2)).
5.1. PEANOSCHE ARITHMETIK
257
Beispiel. In Hoffmann [81], S. 138, finden wir die folgende Formalisierung des Euklidischen
Satzes Es existieren unendlich viele Primzahlen:
∀x1 ∃x2 (∃x5 (x2 = x1 + x5 + s(0)) ∧ ¬(x2 = s(0)) ∧ ∀x3 (∃x4 (x3 × x4 = x2 )
→ (x3 = s(0) ∨ x3 = x2 ))).
Semantik der Peanoarithmetik
Innerhalb der Peanoarithmetik interpretieren wir Terme σ über eine Interpretationsabbildung I
als die gewöhnlichen natürlichen Zahlen, d.h. jeder Term σ steht für eine natürliche Zahl I(σ ).
Ferner bedeuten s die Nachfolgefunktion, + die Addition und × die Multiplikation.
Zur Auswertung der Interpretationsabbildung I verlangen wir
I(0) := 0, I(s(σ )) := I(σ ) + 1,
I(σ1 × σ2 ) := I(σ1 ) · I(σ2 ).
I(σ1 + σ2 ) := I(σ1 ) + I(σ2 ),
Für alle variablenfreien arithmetischen Ausdrücke lassen sich mit diesen Regeln die entsprechenden natürlichen Zahlen ermitteln, z.B.
I(s(s(0))) = I(s(0)) + 1 = I(0) + 1 + 1 = 0 + 1 + 1 = 2.
Die bereits im vorigen Kapitel angesprochene Standardinterpretation wird als Interpretation der
Peanoarithmetik zugrunde gelegt, d.h. |= ϕ bedeutet jetzt nicht mehr, dass die arithmetische
Formel ϕ wahr ist unter allen möglichen Interpretationen (allgemeingültig), sondern dass sie
wahr ist unter der Standartinterpretation, die wir kurz mit (N, {s, +, ×}) bezeichnen:
|= ϕ
bedeutet innerhalb der Peanoarithmetik:
(N, {s, +, ×) ist ein Modell für ϕ .
Den genauen Inhalt des arithmetischen Modelloperators |= legt nun folgende Definition fest.
Definition (Semantik der Peanoarithmetik)
Es seien ϕ und ψ geschlossene Formeln. Dann erklären wir eine arithmetische Modellrelation |= wie folgt rekursiv
|= (σ1 = σ2 )
genau dann, wenn
I(σ1 ) = I(σ2 ),
desweiteren
|= (¬ϕ )
|= (ϕ ∧ ψ
|= (ϕ ∨ ψ )
|= (ϕ → ψ )
|= (ϕ ↔ ψ )
|= (ϕ 6↔ ψ )
genau dann, wenn
genau dann, wenn
genau dann, wenn
genau dann, wenn
genau dann, wenn
genau dann, wenn
6|= ϕ ,
|= ϕ und |= ψ ,
|= ϕ oder |= ψ ,
6|= ϕ oder |= ψ ,
|= ϕ → ψ und |= ψ → ϕ ,
6|= (ϕ ↔ ψ )
KAPITEL 5. ARITHMETIK, MENGENLEHRE, UNVOLLSTÄNDIGKEIT
258
und schließlich
|= ∀ξ ϕ
|= ∃ξ ϕ
genau dann, wenn für alle n ∈ N gilt |= ϕ [ξ ← n]
genau dann, wenn für ein n ∈ N gilt |= ϕ [ξ ← n].
Das Kalkül der Peanoarithmetik
Das Kalkül der Peanoschen Arithmetik setzt sich, wie wir eingangs schon angedeutet haben,
zusammen aus
◦ den Theorieaxiomen,
◦ den Logikaxiomen,
◦ und zusätzlichen Schlussregeln.
Den Theorieaxiomen liegen dabei die berühmten fünf Peanoaxiome der Arithmetik zugrunde
(hier in der Formulierung von Hoffmann [81], S. 140):
(P1)
(P2)
(P3)
(P4)
(P5)
0 ist eine natürliche Zahl.
Jede Zahl x hat einen eindeutigen Nachfolger s(x).
0 ist nicht der Nachfolger irgendeiner Zahl.
Verschiedene Zahlen haben verschiedene Nachfolger.
Hat die Zahl 0 die Eigenschaft ϕ , und folgt aus ϕ (x) stets ϕ (s(x)), so haben alle natürlichen Zahlen die Eigenschaft ϕ .
Mit dem Axiom (P5) handelt es sich um das sogenannte Induktionsaxiom, welches hier in Termen der Prädikatenlogik zweiter Stufe formuliert ist, da es nämlich eine Aussage über beliebige
Eigenschaften ϕ macht!
In den gleich folgenden Theorieaxiomen wird daher das Induktionsaxiom als Axiomschema eingeführt: ϕ fungiert als Platzhalter für beliebige Formeln erster Stufe, so dass in der Konsequenz
nicht nur ein Induktionsaxiom in den Theorieaxiomen aufgenommen wird, sondern unendlich
viele.
Es ist dabei aber zu beachten, dass lediglich abzählbar viele solcher Formeln gibt, so dass unser
Induktionsaxiomschema sicherlich nicht alle möglichen Eigenschaften ϕ erfasst. Eine hierzu
notwendige Diskussion wollen wir an dieser Stelle abbrechen und verweisen auf die detaillierten
Ausführungen in Hoffmann [81], Kapitel 7.
Wir beginnen jetzt also mit der
Definition (Theorieaxiome der Peanoarithmetik)
(S1) σ = τ → (σ = ρ → τ = ρ
(S2) σ = τ → s(σ ) = s(τ )
(S3) ¬(0 = s(σ ))
(S4) s(σ ) = s(τ ) → σ = τ
(S5) σ + 0 = σ
5.1. PEANOSCHE ARITHMETIK
259
(S6) σ + s(τ ) = s(σ + τ )
(S7) σ × 0 = 0
(S8) σ × s(τ ) = (σ × τ ) + σ
(S9) ϕ (0) → (∀x(ϕ (x) → ϕ (s(x))) → ∀xϕ (x))
Das Peanoaxiom (P3) finden wir in (S3) wieder, (P4) in (S4) und (P5) in (S9). Die Axiome (S1)
und (S2) dienen zur Charakterisierung des Gleichheitsoperators, (S5) bis (S8) legen Eigenschaften der Addition“ + und Multiplikation“ × fest.
”
”
Die Logikaxiome entsprechen den uns bekannten Axiomen der Prädikatenlogik erster Stufe.
Definition (Logikaxiome der Peanoarithmetik)
(A1) ϕ (ψ → ϕ )
(A2) (ϕ → (ψ → χ )) → ((ϕ → ψ ) → (ϕ → χ ))
(A3) (¬ϕ → ¬ψ ) → (ψ → ϕ )
(A4) ∀ξ ϕ → ϕ [ξ ← σ ] für jede kollisionsfreie Substitution
(A5) ∀ξ (ϕ → ψ ) → (ϕ → ∀ξ ψ ) für alle ϕ , für welche ξ nicht frei in ϕ
Als Schlussregeln fügen wir noch den modus ponens sowie die Generalisierungsregel hinzu.
Definition (Schlussregeln der Peanoarithmetik)
ϕ, ϕ → ψ
ψ
ϕ
(G)
∀ξ ϕ
(MP)
→ Diese drei Definitionen bilden den Kalkül der Peanoarithmetik.
Mit Hoffmann [81], S. 142 ff., wollen wir nun einige innerhalb dieses Kalküls ableitbare Theoreme vorstellen.
Satz 4.9 (Theoreme der Peanoarithmetik)
(PA1) σ = σ
(PA2) σ = τ → τ = σ
(PA3) σ = τ → (τ = ρ → σ = ρ )
(PA4) σ = τ → (ρ = τ → σ = ρ )
(PA5) ∀x(σ = τ → σ + x = τ + x)
(PA6) ∀x(x = 0 + x)
260
KAPITEL 5. ARITHMETIK, MENGENLEHRE, UNVOLLSTÄNDIGKEIT
(PA7) σ + 1 = s(σ )
(PA8) σ × 1 = σ
Bemerkung. Wir setzen σ = 1 und erhalten aus Theorem PA7
1 + 1 = s(1) = 2
und aus Theorem PA8
1 × 1 = 1.
→ In unserer gewohnten Sprache der Arithmetik der der natürlichen Zahlen bedeutet diese
Formeln nichts anderes als 1 + 1 = 2 und 1 · 1 = 1.
Machen Sie sich an dieser Stelle klar, dass diese scheinbar völlig trivialen“ Aussagen tatsächlich
”
eines Beweises bedürfen!
Wir werden uns jetzt auf den Beweis des ersten Theorems PA1 beschränken und verschieben alle
fehlenden Beweise in den Paragraphen 5.4.2 des Anhangs.
Beweis von PA1. Wir gehen nach Hoffmann [81], S. 143, vor.
1.
2.
3.
4.
⊢ σ +0 = σ
⊢ σ + 0 = σ → (σ + 0 = σ → σ = σ )
⊢ σ +0 = σ → σ = σ
⊢σ =σ
(S5)
(S1)
(1, 2, MP)
(1, 3, MP)
Damit ist das Theorem PA1 bewiesen.
Der Dedekindsche Isomorphiesatz
Es verbleibt zu diskutieren, ob die oben angeschriebenen Peanoschen Axiome das System der
natürlichen Zahlen, welches wir in den Vorlesungen des Grundstudiums kennengelernt haben,
eindeutig charakterisieren.
Tatsächlich gilt der folgende, auf Dedekind [29], S. 35, zurückgehende
Satz 4.10 (Dedekindscher Isomorphiesatz)
Die natürlichen Zahlen N sind durch die Peanoschen Axiome (P1) bis (P5) bis auf Isomorphie eindeutig festgelegt.
Bis auf Isomorphie bedeutet hier anschaulich einfach Umbenennen“der auftretenden Symbole.
”
Wir wollen auf einen Beweis dieses Satzes verzichten und verweisen auf Dedekind [29] oder auf
die detaillierten Ausführungen in Hoffmann [80], Abschnitt 2.2.3.
5.2. ZERMELO-FRAENKELSCHE MENGENLEHRE
261
5.2 Zermelo-Fraenkelsche Mengenlehre
5.2.1 Naive Mengenlehre
Einleitung
Die axiomatische Mengenlehre, heute die Grundlage aller mathematischen Teildisziplinen, baut
auf dem unvergleichlichen Werk Georg Cantors auf. Da wir in unserer Vorlesung nur einen kleinen Ausschnitt der klassischen und modernen Mengenlehre diskutieren können, möchten wir an
dieser Stelle auf weiterführende bzw. vertiefende Literatur hinweisen:
Uneingeschränkt empfehlen wir die Lehrbücher Deiser [30], Fraenkel [36], [38], Halmos [61],
Hausdorff [63], Hoffmann [81], [80], Meschkowski [102], [103] oder Wolf [168], von denen wir
im Folgenden immer wieder profitieren werden.
Besonders lohnenswert ist das Studium der gesammelten Briefe Cantors in Cavailles und Noether
[22] bzw. Meschkowski und Nilson [104], und schließlich möchten wir auf Cantors Biographie
von Purkerts und Ilgauds [122] hinweisen, welche heute als Standardwerk in der Cantorforschung gilt.
Cantors Theorie endlicher und unendlicher Mengen war lange Zeit nicht unumstritten. Fraenkel
belegt dies in seiner Autobiographie [39], S. 119, am Beispiel eines von Schwarz geleiteten
Seminars an der Universität Berlin, welchem er als Student beigewohnt hat. Er schreibt:
Am bequemsten machte es sich Schwarz. Er ließ den Studenten, die dazu Lust
hatten, völlige Freiheit, in den Seminarstunden über beliebige Themen vorzutragen. Ich wählte mir, künftige Entwicklungen unbewußt antizipierend, als Thema
die Elemente der in Berlin fast unbekannten Mengenlehre und erregte mit meinem zweistündigen Vortrag bei den Studenten lebhaftes Interesse. Der Professor
verkündete indes in seinem Nachwort: Auch er habe von diesen bedenklichen
Theorien Georg Cantors gehört, müsse aber die studierende Jugend ernstlich vor
ihnen warnen. Damit trat er in die Fußstapfen Kroneckers und nicht in die seines
hauptsächlichen Lehrers Weierstraß.
Und daran schließen wir unmittelbar Hilberts berühmtes und erst vor diesem Hintergrund verständliches Zitat aus seinem Münsteraner Vortrag [75] vom 4. Juni 1925 zur Ehrung des Andenkens an Weierstraß an:
Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen hat, soll uns niemand vertreiben
können.
Was ist eine Menge?
Cantor beginnt seinen Artikel Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre [21] aus
dem Jahre 1895 mit den folgenden Worten:
Unter einer ≪Menge≫ verstehen wir jede Zusammenfassung M von bestimmten
wohlunterschiedenen Objekten m unsrer Anschauung oder unseres Denkens (welche die ≪Elemente≫ von M genannt werden) zu einem Ganzen.
Diese berühmte Cantorsche Definition“ des Begriffs einer Menge, wie sie verschiedene Autoren
”
noch lange Zeit übernahmen, taucht in der modernen Literatur nicht mehr auf. Denn auf den ersten Blick lässt sie auch solche Konstruktionen zu wie die Menge aller abstrakten Begriffe“ oder
”
262
KAPITEL 5. ARITHMETIK, MENGENLEHRE, UNVOLLSTÄNDIGKEIT
die Menge aller Mengen“ oder die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Teilmengen
”
”
enthalten“ usw.
Ein Studium der brieflichen Korrespondenz zwischen Cantor und Dedekind belegt allerdings,
dass sich Cantor über die Inkonsistenz solcher Konstruktionen, wie wir sie noch besprechen
werden, durchaus bewusst war, siehe Paragraph 5.4.5 des Anhangs. Aus dieser Blickrichtung
muss Cantors Definition gelesen und verstanden werden. Aber wie sollte das genau geschehen?
Mit unserem Wissen der modernen Axiomatik der Euklidischen Geometrie können wir bereits
an dieser Stelle erahnen: Die Mengenlehre nach Cantor wird auf einen Versuch, eine explizite
Definition des Mengenbegriffs anzugeben, verzichten und diesen Begriff implizit vermöge eines
geeigneten Axiomensystems einführen.
Erste Beispiele von endlichen und unendlichen Mengen
Wir stellen zunächst sechs einfache Beispiele endlicher bzw. unendlicher Mengen vor, die wir
sämtlich dem klassischen und durchweg zu empfehlenden Lehrbuch Fraenkel [38], S. 4ff., entnehmen. Die erste, im Jahre 1919 erschienene Ausgabe dieser, wie sich Fraenkel ausdrückt,
gemeinverständlichen Einführung“ beweist, dass populärwissenschaftliche Mathematik keine
”
Erfindung der Moderne ist.
Die Mengen in den ersten beiden Beispielen sind, sieht man von der Natur“ ihrer Elemente ab,
”
tatsächlich in Nichts unterscheidbar.
Beispiel. Der vor uns stehende Obstteller enthalte 5 Äpfel, 2 Birnen und 1 Aprikose. Der Inbegriff dieser 8 Dinge stellt eine Menge dar. Ihre Elemente sind die einzelnen Früchte.
Beispiel. Die Zusammenfassung {1, 2, . . . , 8} der natürlichen Zahlen 1, 2 usw. bis 8 stellt eine
Menge dar. Ihre Elemente sind die natürlichen Zahlen 1 bis 8.
Fraenkels drittes Beispiel verdeutlicht den möglicherweise unvorstellbaren Umfang einer endlichen Menge.
Beispiel. Man denke sich ein System von 100 Zeichen, bestehend aus allen möglichen Konsonanten- und Vokallauten, Ziffern, Interpunktionszeichen usw. als auch dem Lehrzeichen (Spatium), welche uns für den Druck von Büchern mit – vereinbarungsgemäß – maximal 1000000
(eine Million) solcher Zeichen zur Verfügung stehen.
Wir fassen nun die Menge aller denkbaren Bücher ins Auge. Da jedes Buch irgendeine Verteilung von 100 Zeichen auf 1000000 Plätze darstellt und offenbar
nur endlichviele verschiedene solche Verteilungen oder Kombinationen möglich
sind (wie eine einfache Überlegung lehrt, gibt es deren 1001000000 ), so enthält unsere Menge nur endlichviele verschiedene Bücher; darunter kommen indes z.B.
alle religiösen und philosophischen Schriften der Vergangenheit und Zukunft, alle Dramen und Gedichte, alle entdeckten oder künftig zu entdeckenden wie auch
die ewig unbekannt bleibenden Wissensschätze vor, ebenso alle denkbaren Kataloge, Logarithmentafeln, Matrikelbücher, Zeitungsartikel, Heiratsannoncen usw.,
natürlich auch jede unsinnige Zusammenstellung. Kurz: wir erhalten eine Universalbibliothek im vollsten Sinne des Wortes. Bei noch so kleinem Druck und noch
so dünnem Papier würde der Weltenraum bis zu den fernsten uns sichtbaren Gestirnen nur einen verschwindend winzigen Teil unserer Büchermenge zu fassen
vermögen.
5.2. ZERMELO-FRAENKELSCHE MENGENLEHRE
263
Fraenkel diskutiert nun Beispiele unendlicher Mengen und beginnt mit dem
Beispiel. In Verallgemeinerung des zweiten Beispiels stellt die Menge aller natürlichen Zahlen
1, 2, 3 usw. eine unendliche Menge dar. Von der Anzahl ihrer Elemente können wir im gewöhnlichen Sinne nicht mehr sprechen. Allerdings müssen wir von der aktualen Unendlichkeit dieser
Menge a priori ausgehen.
Beispiel. Das aus der griechischen Antike bekannte Zenosche Paradoxon des Wettlaufs zwischen Achilles und der Schildkröte ist Fraenkels nächstes Beispiels:
Man denke sich diesem Wettlauf die [nachstehende Abbildung] . . . derart zugrunde gelegt, daß Achilles vom rechten Endpunkt aus, die Schildkröte vom Punkt P1
aus (also mit gehörigem Vorsprung) den Lauf in der Richtung nach links beginnt
und Achilles stets doppelt so rasch läuft wie die Schildkröte. Bis Achilles den
Ausgangspunkt P1 der Schildkröte erreicht hat, ist diese bei P2 angelangt; sobald
Achilles bei P2 eintrifft, steht die Schildkröte bei P3 , usw.; bedeutet n eine beliebige natürliche Zahl, so wird, wenn Achilles den Punkt Pn erreicht, die Schildkröte schon bei Pn+1 sein, also immer noch einen Vorsprung haben. Die Gesamtheit all der Strecken, die Achilles so durcheilt, um den jeweiligen Vorsprung der
Schildkröte einzuholen, stellt eine Menge von unendlichvielen Strecken dar, die
beständig abnehmen und sämtlich in der Strecke [der nachstehenden Abbildung]
. . . enthalten sind.
P5 P4
P3
P2
P1
Der Begriff dieser unendlichen Menge ist also bis zu einem gewissen Grad sogar
anschaulich, jedenfalls durchaus faßbar und logisch einwandfrei.
Fraenkel geht an dieser Stelle nicht auf das eigentliche Paradoxon und dessen Auflösung ein.
Können Sie diese erläutern?
Das letzte Beispiel Fraenkels geben wir in eigenen Worten wieder:
Beispiel. Schließlich kennen Sie sicherlich das Phänomen der sich unendlich wiederholten Spiegelung einer Kerze zwischen zwei parallel zueinander aufgestellten Spiegeln. Die Gesamtheit der
in einem Spiegel sichtbaren Kerzen, wenn wir vom Verblassen der Spiegelbilder aufgrund des
Lichtverlusts absehen, bildet ebenfalls eine unendliche Menge.
5.2.2 Paradoxien der naiven Mengenlehre
... siehe später und siehe Vortrag ...
Stichwörter:
◦
◦
◦
◦
Cantors Briefe an Dedekind (siehe auch Anhang)
Burali-Forti-Paradoxon
Russell-Antinomie
weiteres aus der Literatur ...
5.2.3 Axiomatisierung der ZF/ZFC-Mengenlehre
Die Mengenlehre, hier in der Form der Zermelo-Fraenkelschen Axiomatik vorgetragen, bildet
die eigentliche Grundlage der modernen Mathematik. In ihr wird die Peanosche Arithmetik, wie
264
KAPITEL 5. ARITHMETIK, MENGENLEHRE, UNVOLLSTÄNDIGKEIT
wir sie im vorigen Abschnitt kennengelernt haben, z.B. anhand der Zermeloschen oder der von
Neumannschen Zahlenreihe auf natürliche Art und Weise eingebettet.
Die Mengenlehre als eigenständige mathematische Disziplin geht auf das außerordentlich bedeutsame Werk Cantors zurück. Für ein tieferes Studium empfehlen wir die bereits genannten
Lehrbücher von Deiser, Fraenkel, Halmos oder Meschkowski sowie Pukerts und Ilgauds CantorBiographie.
Wir werden in diesem Abschnitt die Syntax der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre kennenlernen,
d.h. zunächst mit einer Definition den zulässigen Symbolvorrat festlegen, um anschließend die
zehn Axiome dieser Theorie zu diskutieren. Dabei richten wir uns erneut an Hoffmanns Lehrbuch
[81], Abschnitt 3.2.
Beachten Sie, dass wir es vermeiden, diese Mengenlehre semantisch zu formulieren. Der Grund
hierfür liegt in einem einfachen, aber tiefliegendem (Russellschen) Problem, für welches wir
endlich einmal Hoffmann [81], S. 147, selbst zitieren wollen:
Die Darstellung der axiomatischen Mengenlehre unterscheidet sich von jener der
Peano-Arithmetik in einem wichtigen Punkt. Anders als in Abschnitt 3.1 werden
wir im Fall der Mengenlehre davon absehen, eine Standardinterpretation zu definieren. Dass wir unsere gewohnte Linie verlassen, hat einen trifftigen Grund:
War es in der Peano-Arithmetik vergleichsweise gefahrlos möglich, unsere intuitive Vorstellung von den natürlichen Zahlen in die Definition der Modellrelation |= umzusetzen, so ist dies in der Mengenlehre ungleich schwieriger. Um eine
Standardinterpretation zu definieren, müssten wir uns zunächst auf einen bestimmten Individuenbereich festlegen. Für die Peano-Arithmetik war dies kein Problem:
Dort entspricht der Individuenbereich schlicht der Menge der natürlichen Zahlen.
Und in der Mengenlehre? Der Individuenbereich wäre, wir wagen es kaum auszusprechen, die Menge aller Mengen. Würden wir eine Standardinterpretation also
tatsächlich auf diese naive Weise bilden, so hätten wir der Russell’schen Antinomie
erneut Tür und Tor geöffnet. Sie sehen, wie vorsichtig wir im Falle der Mengenlehre tatsächlich agieren müssen, um Widersprüche zu vermeiden.
Nun zum Kalkül: Zunächst legen wir fest, welche Formeln wir innerhalb der Zermelo-Fraenkelschen Mengenlehre als zulässig definieren wollen. Zu diesem Zweck greifen wir auf die bekannten aussagenlogischen Operatoren zurück sowie auf die aus der Prädikatenlogik bekannten
Quantoren ∀ sowie ∃ und erweitern dieses Kalkül durch zwei zweistellige Prädikatssymbole =
und ∈ mit den Bedeutungen
x1 = x2
x1 ∈ x2
bedeutet Gleichheit der Mengen x1 und x2
bedeutet, dass x1 Element von x2 ist.
Definition (Formeln der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre)
Die Menge der Formeln der Zermelo-Fraenkelschen Mengenlehre über dem Variablenvorrat {x1 , x2 , x3 , . . .} ist wie folgt rekursiv definiert:
◦ Sind ξ und ν zwei Variable aus dem Variablenvorrat, so sind
(ξ = ν )
und
(ξ ∈ ν )
5.2. ZERMELO-FRAENKELSCHE MENGENLEHRE
265
Formeln.
◦ Sind ϕ und ψ zwei mengentheoretische Formeln, so auch
(¬ϕ ),
(ϕ ∧ ψ ),
(ϕ ∨ ψ ),
(ϕ → ψ ),
(ϕ ↔ ψ ),
(ϕ 6↔ ψ ).
◦ Ist ϕ eine mengentheoretische Formel, so auch
∀ξ ϕ ,
∃ξ ϕ
für alle ξ ∈ {x1 , x2 , x3 , . . .} .
Hiermit lassen sich u.a. folgende bekannte Relationen schreiben:
x 6= y
x 6∈ y
x⊆y
x⊂y
∀(x ∈ y)ϕ
∃(x ∈ y)
bedeutet ¬(x = y),
bedeutet ¬(x ∈ y),
bedeutet ∀z(z ∈ x → z ∈ y),
bedeutet x ⊆ y ∧ x =
6 y,
bedeutet ∀x(x ∈ y → ϕ ),
bedeutet ∃x(x ∈ y ∧ ϕ ).
Wir kommen nun zur Diskussion der zehn Axiom der Zermelo-Fraenkelschen Mengenlehre.
Axiom ZF1 (Axiom der Bestimmtheit, Extensionalitätsaxiom)
∀x∀y (x = y ↔ ∀z(z ∈ x ↔ z ∈ y))
Zermelos Formulierung [171], S. 263:
Ist jedes Element einer Menge M gleichzeitig Element von N und umgekehrt, ist
also gleichzeitig M ⊆ N und N ⊆ M, so ist immer M = N. Oder kürzer: jede Menge
ist durch ihre Elemente bestimmt.
Zwei Mengen x und y sind demnach genau dann gleich, wenn sie dieselben Elemente besitzen.
Dieses Axiom lesen wir bereits 1888 bei Dedekind [29], Abschnitt 1.2:
Das System S ist daher dasselbe wie das System T, in Zeichen S = T, wenn jedes
Element von S auch Element von T, und jedes Element von T auch Element von S
ist.
Unter Verwendung obiger Abkürzungen können wir auch schreiben
∀x∀y(x = y ↔ x ⊆ y ∧ y ⊆ x).
Axiom ZF2 (Axiom der leeren Menge)
∃x∀y y 6∈ x
Zermelos Formulierung [171], S. 263:
Es gibt eine (uneigentliche) Menge, die Nullmenge“ O, welche gar keine Elemen”
te enthält.
266
KAPITEL 5. ARITHMETIK, MENGENLEHRE, UNVOLLSTÄNDIGKEIT
Dieses Axiom postuliert die Existenz einer Menge, die keine Elemente besitzt, und die durch
das Axiom der Bestimmtheit sogar eindeutig festgelegt wird. Zur Kennzeichnung für diese leere
Menge benutzen wir, wie in der Mathematik üblich, das Symbol 0.
/
Axiom ZF3 (Axiom der Paarung)
∀x∀y∃z∀u (u ∈ z ↔ u = x ∨ u = y)
Zermelos Formulierung [171], S. 263:
. . . sind a, b irgend zwei Dinge des Bereiches, so existiert immer eine Menge {a, b},
welche sowohl a als b, aber kein von beiden verschiedenes Ding x als Element
enthält.
Zu zwei gegebenen Mengen x und y postuliert dieses Axiom, wie wir aus den Mathematikvorlesungen gewohnt sind, die Existenz der Menge {x, y}; im Fall x = y schreiben wir kurz {x}.
Ausgehend von der leeren Menge 0/ lassen sich so beispielsweise die folgenden Mengen konstruieren
0,
/
{0},
/
{0,
/ {0}},
/
{0,
/ {0,
/ {0}}}
/
usw.
Hierin steht y = {x} für
x ∈ y ∧ ∀(z ∈ y) z = x.
ZF4 (Axiom der Vereinigung)
∀x∃y∀z (z ∈ y ↔ ∃(w ∈ x)z ∈ w)
Zermelos Formulierung [171], S. 265:
Jeder Menge T entspricht eine Menge ST (die Vereinigungsmenge“ von T ), wel”
che alle Elemente der Elemente von T und nur solche als Elemente enthält.
In unserer mathematischen Sprechweise existiert demnach mit einer Menge x auch die Menge
[
x :=
[
w.
w∈x
So zieht beispielsweise (siehe Hoffmann [81], S. 152)
x = {0,
/ {0,
/ {0}},
/ {{0}}}
/
die Existenz der Menge
y = 0/ ∪ {0,
/ {0}}
/ ∪ {{0}}
/ = {0,
/ {0}}
/
nach sich.
5.2. ZERMELO-FRAENKELSCHE MENGENLEHRE
267
ZF5 (Axiom der Aussonderung)
∀x∃y∀z (z ∈ y ↔ z ∈ x ∧ ϕ (z))
Zermelos Formulierung [171], S. 263:
Ist die Klassenaussage F(x) definit für alle Elemente einer Menge M, so besitzt M
immer eine Untermenge MF , welche alle diejenigen Elemente x von M, für welche
F(x) wahr ist, und nur solche als Elemente enthält.
Hieran schließt Zermelo unmittelbar mit folgenden, die tatsächliche Bedeutung dieses Axioms
aufdeckenden Bemerkungen an:
Indem das vorstehende Axiom III [Axiom der Aussonderung] in weitem Umfange
die Definition neuer Mengen gestattet, bildet es einen gewissen Ersatz für die in
der Einleitung angeführte und als unhaltbar aufgegebene allgemeine Mengendefinition, von der es sich durch die folgenden Einschränkungen unterscheidet: Erstens
dürfen mit Hilfe dieses Axiomes niemals Mengen independent definiert, sondern
immer nur als Untermengen aus bereits gegebenen ausgesondert werden, wodurch
widerspruchsvolle Gebilde wie die Menge aller Mengen“ oder die Menge aller
”
”
Ordinalzahlen“ und damit nach dem Ausdruck des Herrn G. Hessenberg ( Grund”
begriffe der Mengenlehre“ XXIV) die ultrafiniten Paradoxieen“ ausgeschlossen
”
sind. Zugleich muß zweitens das bestimmende Kriterium F(x) im Sinne unserer
Erklärung Nr. 4 immer definit“ d.h. für jedes einzelne Element x von M durch
”
die Grundbeziehungen des Bereiches“ entschieden sein, und hiermit kommen al”
le solchen Kriterien wie durch eine endliche Anzahl von Worten definierbar“ und
”
damit die Antinomie Richard“ oder die Paradoxie der endlichen Bezeichnun”
”
gen“ (Hessenberg a. a. O. XXIII, vergl. dagegen J. König, Math. Ann. Bd. 61,
p. 156) für unseren Standpunkt in Wegfall. Hieraus folgt aber auch, daß, streng
genommen, vor jeder Anwendung unseres Axioms III immer erst das betreffende
Kriterium F(x) als definit“ nachgewiesen werden muß . . .
”
Wir wollen aufzeigen, wie mittels des Aussonderungsaxioms insbesondere die Existenz einer
Allmenge zu einem Widerspruch geführt werden kann. Zu diesem Zweck sei x eine beliebige
Menge, und es sei ϕ (z) = (z 6∈ z). Unter Verwendung des Aussonderungsaxioms bilden wir die
Menge (wieder in der uns gewohnten Schreibweise)
y = {z ∈ x : z 6∈ z}
und beachten zunächst:
(i) es gilt w ∈ y genau dann, wenn w ∈ x und w 6∈ w;
(ii) es gilt stets die Alternative y ∈ y oder y 6∈ y; in Zermelos Worten: für jedes y ist es definit,
ob y ∈ y oder y 6∈ y.
Wir wollen nun untersuchen, ob y ∈ x richtig und x damit möglicherweise, wie wir anschließend
begründen wollen, eine Allmenge sein kann. Angenommen, es gilt y ∈ x. Wir unterscheiden
gemäß (ii) die beiden folgenden Fälle:
◦ Falls y ∈ y, d.h. y ∈ x und y ∈ y, so ist, wenn wir (i) von links nach rechts lesen, y 6∈ y.
Das ist ein Widerspruch.
◦ Falls y 6∈ y, d.h. y ∈ x und y 6∈ y, so ist, wenn wir (i) von rechts nach links lesen, y ∈ y.
Das ist aber auch ein Widerspruch.
268
KAPITEL 5. ARITHMETIK, MENGENLEHRE, UNVOLLSTÄNDIGKEIT
Es kann also y ∈ x nicht richtig sein.
→ Es existiert keine Allmenge, d.h. es existiert keine Menge, die alle Mengen umfasst.
Denn mit einer solchen Menge aller Mengen“– wir wollen sie mit m bezeichnen – müsste auch
”
die Menge
y = {z ∈ m : z 6∈ z}
existieren, und m müsste als Menge aller Mengen y enthalten: y ∈ m. Das führt aber, wie wir
gerade eingesehen haben, zu einem Widerspruch.
Mit Zermelo [171], S. 264, können wir gleichwertig unsere Überlegung auch so ausdrücken:
→ Jede Menge x besitzt mindestens eine Teilmenge, welche nicht Element von x ist.
Wir setzen nämlich als Teilmenge y von x die Menge
y = {z ∈ x : z 6∈ z}
und wissen nach vorigen Überlegungen y 6∈ x. Zermelo fasst dies wie folgt zusammen:
Aus dem Theorem folgt, daß nicht alle Dinge x des Bereiches B Elemente einer
und derselben Menge sein können; d.h. der Bereich B ist selbst keine Menge, –
womit die Russellsche Antinomie“ für unseren Standpunkt beseitigt ist.
”
ZF6 (Axiom des Unendlichen)
∃x (0/ ∈ x ∧ ∀(y ∈ x){y} ∈ x)
Zermelos Formulierung [171], S. 266f.
Der Bereich enthält mindestens eine Menge Z, welche die Nullmenge als Element
enthält und so beschaffen ist, daß jedem ihrer Elemente a ein weiteres Element der
Form {a} entspricht, oder welche mit jedem ihrer Elemente a auch die entsprechende Menge {a} als Element enthält.
Dieses Axiom postuliert also die Existenz einer Menge x,
◦ welche einmal die leere Menge als Element enthält, d.h. es gilt 0/ ∈ x;
◦ aber auch mit jedem Element y ∈ x auch die Menge {y}.
Wir entnehmen so unmittelbar, dass diese Menge die Elemente
0,
/
{0},
/
{{0}},
/
{{{0}}}
/
usw.
enthält und damit insbesondere unendlich viele Elemente besitzt. In Zermelo [171], S. 267, lesen
wir genauer:
Die Menge Z0 enthält die Elemente 0, {0}, {{0}} usw. und möge als Zahlen”
reihe“ bezeichnet werden, weil ihre Elemente die Stelle der Zahlzeichen vertreten
können. Sie bildet das einfachste Beispiel einer abzählbar unendlichen Menge
”
. . .“
5.2. ZERMELO-FRAENKELSCHE MENGENLEHRE
269
Diese Bemerkung Zermelos bedeutet nichts weniger als eine Einbettung der natürlichen Zahlen
in die axiomatische Mengenlehre in der Form
0/
{0}
/
{{0}}
/
{{{0}}}
/
entspricht der Zahl
entspricht der Zahl
entspricht der Zahl
entspricht der Zahl
0,
1,
2,
3 usw.
Wir wollen an dieser Stelle hinzufügen, dass mit
∃x (0/ ∈ x ∧ ∀(y ∈ x)y ∪ {y} ∈ x)
in der späteren Literatur eine alternative Variante des Unendlichkeitsaxioms eingeführt wurde.
Dieses Axiom postuliert also die Existenz einer Menge b
x,
◦ welche einmal die leere Menge als Element enthält, d.h. es gilt 0/ ∈ b
x;
◦ aber auch mit jedem Element y ∈ b
x auch die Menge y ∪ {y}.
Die Menge b
x enthält nun insbesondere die Elemente
{0},
/
0,
/
{0,
/ {0}},
/
{0,
/ {0},
/ {0,
/ {0}}}
/
usw.,
was uns zur von Neumannschen Einbettung der natürlichen Zahlen in die axiomatische Mengenlehre führt. Lesen wir aber in von Neumann [113], S. 199, hinein:
Wir eigentlich den Satz: Jede Ordnungszahl ist der Typus der Menge aller ihr
”
vorangehenden Ordnungszahlen“ zur Grundlage unserer Überlegungen machen.
Damit aber der vage Begriff Typus“ vermieden werde, in dieser Form: Jede Ord”
”
nungszahl ist die Menge der ihr vorangehenden Ordnungszahlen.“ Dies ist kein
bewiesener Satz über Ordnungszahlen, es wäre vielmehr, wenn die transfinite Induktion schon begründet wäre, eine Definition derselben. Nach ihr wird (O ist die
leere Menge, (a, b, c, . . .) die Menge mit den Elementen a, b, c . . . )
0
1
2
3
·
ω
ω +1
·
=
=
=
=
O,
(O),
(O, (O)),
(O, (O), (O, (O))),
·
·
·
·
= (O, (O), (O, (O)), (O, (O), (O, (O))), . . .),
= (O, (O), (O, (O)), . . . ., (O, (O), (O, (O)) . . . .)),
·
·
·
·
Wir setzen aber natürlich die transfinite Induktion nicht als begründet voraus, wir
nehmen vielmehr nur die Begriffe der wohlgeordneten Menge“ und der Ähnlich”
”
keit“ als vorhanden an . . .
Zusammenfassend wollen wir die Zermelosche und die von Neumannsche Zahlenreihe rekursiv
wie folgt darstellen (siehe wieder Hoffmann [81], S. 172 f.)
Zermelosche Zahlenreihe
von Neumannsche Zahlenreihe
0 := 0,
/
0 := 0,
/
n + 1 := {n}
n + 1 := n ∪ {n} .
Beide Darstellungen stellen natürliche Zahlen als Mengen dar. Die von Neumannsche Reihe
besitzt aber gegenüber der Zermeloschen Reihe wichtige Vorteile (Hoffmann [81], S. 173):
270
KAPITEL 5. ARITHMETIK, MENGENLEHRE, UNVOLLSTÄNDIGKEIT
◦ Im Falle m < n ist die Mengendarstellung der natürlichen Zahl m als Teilmenge in der
Darstellung der natürlichen Zahl n echt enthalten.
◦ Die Mengendarstellung einer natürlichen Zahl n enthält auch genau n Elemente, d.h. ihre
Mächtigkeit entspricht genau der darzustellenden Zahl.
Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, wie sich die vorgestellte Peanoarithmetik in die Zermelo-Fraenkelsche Mengenlehre einbettet. Die Mengenlehre bildet das eigentliche Fundament
der Mathematik.
ZF7 (Axiom der Potenzmenge)
∀x∃y∀z (z ∈ y ↔ z ⊆ x)
Zermelos Formulierung [171], 265:
Jeder Menge T entspricht eine zweite Menge UT (die Potenzmenge“ von T ), wel”
che alle Untermengen von T und nur solche als Elemente enthält.
Dieses Axiom postuliert die Existenz der zu einer gegebenen Menge x gehörigen Potenzmenge,
in unserer gewohnten mathematischen Sprache
P(x) = {y : y ⊆ x} .
Im Falle der leeren Menge bzw. einer ein-, zwei- oder dreielementigen Menge sind z.B.
P(0)
/ = 0,
/
P({1}) = {0,
/ {1}},
P({1, 2}) = {0,
/ {1}, {2}, {1, 2}},
P({1, 2, 3}) = {0,
/ {1}, {2}, {3}, {1, 2}, {1, 3}, {2, 3}, {1, 2, 3}}
usw. Bezeichnen wir mit |x| die Anzahl der Elemente einer endlichen Menge x, so gilt die folgende Aussage (die sich natürlich sofort an diesen Beispielen verifizieren lässt):
→ |P(x)| = 2|x| für endliche Mengen x.
Aus diesem Grund schreibt z.B. Cantor – und zwar generell, für endliche wie für unendliche
Mengen – 2x für die Potenzmenge statt P(x).
An dieser Stelle fügt sich nun unmittelbar der Begriff der Kardinalzahl einer Menge an.
Zu diesem Zweck wollen wir zunächst sagen: Zwei Mengen x und y sind untereinander äquivalent, in Zeichen x ∼ y, falls es möglich ist, die Elemente von x eineindeutig auf die Elemente von
y abzubilden. Die leere Menge sei vereinbarungsgemäß nur sich selbst äquivalent.
Die hiermit eingeführte Relation ∼ ist tatsächlich eine Äquivalenzrelation, d.h. ∼ ist reflexiv,
symmetrisch und transitiv. Sie gibt uns die Möglichkeit in die Hand, Mengen bez. ihrer Mächtig”
keit“ zu klassifizieren. Beispielsweise gelten
{1, 2, 3} ∼ {a, b, c},
aber auch
N ∼ Q.
Die Richtigkeit der zweiten Äquivalenz in diesem Beispiel, die in den Vorlesungen zur Analysis
bewiesen wird, wurde erstmals von Cantor bewiesen.
→ Unter der Kardinalzahl bzw. Mächtigkeit m = card(x) einer Menge x verstehen wir einen
beliebigen Repräsentanten aus der Klasse aller zu x äquivalenten Mengen.
5.2. ZERMELO-FRAENKELSCHE MENGENLEHRE
271
Trotz der scheinbar abstrakten Allgemeinheit dieser Definition trifft sie doch wenigstens für
endliche Mengen genau das, was wir unter dem Begriff Kardinalzahl“ verstehen: Die Anzahl
”
der Elemente einer vierelementigen Menge, d.h. die natürliche Zahl 4, wird doch eigentlich durch
Zählen festgestellt: 1, 2, 3 und 4, d.h. die Zahl 4 ist durch die Menge {1, 2, 3, 4} repräsentiert.
In Cantor [21] lesen wir es noch etwas vage:
Mächtigkeit“ oder Kardinalzahl“ von M nennen wir den Allgemeinbegriff, wel”
”
cher mit Hilfe unseres aktiven Denkvermögens dadurch aus der Menge M hervorgeht, daß von der Beschaffenheit ihrer verschiedenen Elemente m und von der
Ordnung ihres Gegebenseins abstrahiert wird.
Die kleinste unendliche Kardinalzahl ist
ℵ0 = ω
mit ω := {0,
/ {0},
/ {0,
/ 0}},
/ {0,
/ {0},
/ {0,
/ {0}}},
/
. . .}.
oder, wie wir bereits wissen,
ω = {0, 1, 2, 3, . . .} .
Die (Ordinal-)Zahl ω , die erste transfinite unendliche Zahl bzw. die kleinste Zahl, die unendlich
viele Elemente enthält, ist nicht Nachfolger irgendeiner anderen Zahl, d.h. es gibt keine Zahl α
mit s(α ) = ω . Man sagt, ω ist eine Grenzzahl.
Die folgenden Aussagen sind nun richtig (wir benutzen an dieser Stelle die in der Mathematik
üblichen Bezeichnungen m, n usw. für Kardinalzahlen, nicht die Mengenschreibweise unserer
Axiomatik):
◦ Ist n irgendeine transfinite Kardinalzahl, d.h. die Kardinalzahl irgendeiner unendlichen
Menge, und ist m die Kardinalzahl irgendeiner endlichen Menge, so gilt
n > m.
◦ Für jede transfinite Kardinalzahl m gilt
m ≥ ℵ0 .
◦ Es gilt
ℵ0 < card(R).
Die Frage, ob zwischen ℵ0 und card() weitere Kardinalzahlen existieren, bildet den Inhalt
der von Cantor aufgestellten und innerhalb der hier vorgestellten axiomatischen Mengenlehre nach Zermelo und Fraenkel nicht entscheidbaren Kontinuumshypothese. Insbesondere gehen die folgenden berühmten Aussagen
◦ Die Kontinuumshypothese lässt sich innerhalb der Zermelo-Fraenkelschen-Mengenlehre
ohne Auswahlaxiom (ZF) nicht widerlegen.
◦ Die Kontinuumshypothese lässt sich innerhalb der Zermelo-Fraenkelschen-Mengenlehre
ohne Auswahlaxiom (ZF) nicht beweisen.
einmal auf Gödel [56] und schließlich auf Cohen [23], [24] zurück.
◦ Bedeutet f die Kardinalzahl der Menge aller auf [0, 1] reellwertigen Funktionen, so gilt
ℵ0 < card (R) < f .
272
KAPITEL 5. ARITHMETIK, MENGENLEHRE, UNVOLLSTÄNDIGKEIT
ZF8 (Axiom der Ersetzung)
(∀(a ∈ x)∃1 b ϕ (a, b)) → (∃y∀b(b ∈ y ↔ ∃(a ∈ x) ϕ (a, b)))
Dieses Axiom geht nun auf Fraenkel [37] zurück. Nereits auf der ersten Seite lesen wir:
Die sieben Zermeloschen Axiome reichen nicht aus zur Begründung der Mengenlehre. Zum Nachweis dieser Behauptung diene etwa das folgende einfache Beispiel: Es sei Z0 die Z., S. 267, definierte und als existierend nachgewiesene Menge
(Zahlenreihe); die Potenzmenge UZ0 (Menge aller Untermengen von Z0 ) werde
mit Z1 , UZ1 mit Z2 bezeichnet usw. Dann gestatten die Axiome, wie deren Durchmusterung leicht zeigt, nicht die Bildung der Menge {Z0 , Z1 , . . .}, also auch nicht
die Bildung der Vereinigungsmenge. Es läßt sich daher, wenn man etwa dem Kontinuum eine Mächtigkeit ℵω zuschreibt, auf Grund der Axiome z.B. die Existenz
von Mengen mit Mächtigkeiten ≥ ℵω nicht beweisen.
Zur Schließung dieser Lücke ersetzt Fraenkel [37], S. 231, das Zermelosche Aussonderungsaxiom durch folgendes Ersetzungsaxiom:
Ist M eine Menge und wird jedes Element von M durch ein Ding des Bereiches
”
B“ (vgl. Z., S. 262) ersetzt, so geht M wiederum in eine Menge über.
In unserer Formulierung nach Hoffmann [81], S. 155, stellt Fraenkels Ersetzungsaxiom ein Axiomenschema dar, in welchem ϕ durch eine beliebige Formel in Abhängigkeit zweier Variablen a
und b substituiert werden darf.
Es ist jetzt natürlich legitim, die Zermelo-Fraenkelsche Mengenlehre ohne dem Aussonderungsaxiom aufzubauen; dieses könnte aus dem Ersetzungsaxiom abgeleitet werden. Aus Gründen der
Vollständigkeit führt Hoffmann [81] aber beide Axiome an.
ZF9 (Axiom der Fundierung)
∀x (x 6= 0/ → ∃(y ∈ x)x ∩ y = 0)
/
(Für eine Darstellung der Operationen ∪ und ∩ innerhalb der Syntax der Zermelo-Fraenkelschen
Mengenlehre verweisen wir auf Hoffmann [81], S. 152 f.).
Dieses Axiom, welches wohl auf von Neumann [114], [115] zurückgeht und später von Zermelo
[172] in seine Formulierung einer axiomatischen Mengenlehre aufgenommen wurde, schließt
insbesondere sich selbst enthaltene Mengen aus und geht damit über das Aussonderungsaxiom
weit hinaus.
Sei nämlich, um mit Hoffmann [81], S. 156, zu argumentieren, x1 eine nichtleere Menge mit der
Eigenschaft x1 ∈ x1 . Wir betrachten dann die Menge x = {x1 } und ermitteln wegen x1 ∈ x1
x ∩ x1 = {x1 } =
6 0,
/
d.h. die Menge x verstößt gegen das Fundierungsaxiom.
Ähnlich führt die Konstruktion einer sogenannten aufsteigenden zyklischen Kette (später auch
sogenannter absteigender Ketten)
x1 ∈ x2 ∈ x3 ∈ . . . ∈ xn ∈ x1
5.2. ZERMELO-FRAENKELSCHE MENGENLEHRE
273
zu einem Widerspruch vermittels der Menge x = {x1 , x2 , . . . , xn }, die dem Fundierungsaxiom
entgegensteht.
Zermelos Formulierung [172], S. 31:
Jede (rückschreitende) Kette von Elementen, in welcher jedes Glied Element des
vorangehenden ist, bricht mit endlichem Index ab bei einem Urelement. Oder, was
gleichbedeutend ist: Jeder Teilbereich T enthält wenigstens ein Element t0 , das
kein Element t in T hat.
Das nun folgende Auswahlaxiom, das sicherlich meist diskutierteste Axiom der Zermelo-Fraenkelschen Mengenlehre, bildet den Abschluss dieser Axiomatik.
ZF10 (Axiom der Auswahl)
(∀(u, v ∈ x)(u 6= v → u ∩ v = 0)
/ ∧ ∀(u ∈ x)u 6= 0)
/ → ∃y∀(z ∈ x)∃1 (w ∈ z)w ∈ y
Zermelos Formulierung [171], S. 266:
Ist T eine Menge, deren sämtliche Elemente von 0 verschiedene Mengen und untereinander elementfremd sind, so enthält ihre Vereinigung ST mindestens eine
Untermenge S1 , welche mit jedem Elemente von T ein und nur ein Element gemein hat.
Dieses Axiom besagt, dass man aus jeder Menge z ∈ x, wobei
◦ die Elemente von x paarweise disjunkt sind
◦ und keines der Elemente von x der leeren Menge entspricht,
ein Element auswählen und die so gewählten Elemente zu einer neuen Menge (Auswahlmenge)
zusammenfassen können.
Eine hervorragende Quelle über das Auswahlaxiom, seine äquivalenten Formulierungen und seine erwünschten“ wie unerwünschten“ Konsequenzen finden wir mit Jech [85], woran wir uns
”
”
im Folgenden richten.
Drei sehr bekannte Beispiel unerwünschter“ Konsequenzen des Auswahlaxioms sind
”
◦ die Existenz nicht Lebesguemessbarer Mengen auf der reellen Zahlenachse,
◦ ein Zerlegungssatz für Sphären,
◦ ein Zerlegungssätz für Kugeln.
Das erste Beispiel findet sich, neben Jech [85], Abchnitt 1.2, gewöhnlich in den Lehrbüchern zur
Maßtheorie, z.B. Elstrodt [34]. Das zweite Beispiel lautet ausführlich wie folgt (siehe Jech [85],
Theorem 1.1, ebenso für die verwendeten Notationen):
→ Eine Sphäre S lässt sich zerlegen in disjunkte Mengen
S = A ∪ B ∪C ∪ Q,
so dass gelten
◦ die Mengen A, B und C sind zueinander kongruent,
◦ die Menge B ∪C ist kongruent jeweils zu A, B und C,
◦ Q ist abzählbar.
274
KAPITEL 5. ARITHMETIK, MENGENLEHRE, UNVOLLSTÄNDIGKEIT
Das dritte Beispiel steht genauer für (siehe Jech [85], Theorem 1.2):
→ Eine abgeschlossene Kugel U lässt sich zerlegen in zwei disjunkte Mengen
U = X ∪Y,
so dass U ≈ X und U ≈ Y.
Dabei bedeutet X ≈ Y, dass es endliche Zerlegungen
X = X1 ∪ . . . ∪ Xm
und Y = Y1 ∪ . . . ∪Ym
derart gibt, dass Xi kongruent zu Yi für alle i = 1, . . . , m ist. Hieran schließt sich sofort folgende
Formulierung des sogenannten Banach-Tarski-Paradox an:
→ Eine Kugel lässt sich in eine endliche Anzahl von Teilen zerlegen, so dass sich diese Teile
nach geeigneter Umsortierung zu zwei Kugeln jeweils der Größe der ursprünglich einen
Kugel zusammenfügen lassen.
Das Auswahlaxiom ist äquivalent zu dem Satz von Zermelo, nach dem jede Menge wohlgeordnet
werden kann, und dem Lemma von Zorn über die Existenz eines maximalen Elements (vgl. die
entsprechenen Wikipedia-Seiten):
◦ Jede Menge kann wohlgeordnet werden. Dabei verstehen wir unter einer Wohlordnung
einer Ausgangsmenge x eine totale Ordnung, bei der jede nichtleere Teilmenge y ein
kleinstes Element bez. dieser Ordnung besitzt.
◦ Jede halbgeordnete Menge, in welche jede Kette eine obere Schranke hat, besitzt mindestens ein maximales Element. Unter einer Halbordnung auf einer Menge x verstehen wir
dabei eine Relation ≤, die transitiv, reflexiv und antisymmetrisch ist.
Mit Jech [85], S. 11 ff., wollen wir daraus wichtige Folgerungen vorstellen:
◦ Produktsatz von Tychonoff: Das Produkt einer Familie kompakter Räume ist kompakt in
der Produkttopologie.
◦ Jeder Vektorraum besitzt eine Basis.
◦ Satz von Hahn-Banach: Es sei p ein sublineares Funktional auf einem reellen Vektorraum
E, und es sei ϕ ein lineares Funktion auf einem Unterraum V von E, so dass ϕ (x) ≤ p(x)
auf V. Dann existiert eine Erweiterung ψ von ϕ , d.h. ein lineares Funktional ψ auf E mit
ψ (x) = ϕ (x) auf V und ψ (x) ≤ p(x) auf E.
Jech [85], Kapitel 10, gibt darüberhinaus weitere, für die Grundlagen der Analysis wichtige
Beispiele von Sätzen ohne Verwendung des Auswahlaxioms (ZF bedeutet Zermelo-Fraenkelsche
Mengenlehre ohne Auswahlaxiom). Vergleichen Sie bitte diese mit den Sätzen, die Sie in Ihren
Vorlesungen gelernt haben!
◦ Theorem: There is a model of ZF which has an infinite set of real numbers without a
countable subset.
→ Corollary: There is a set S of real numbers and a real number a 6∈ S such that a
is in the closure of S but there is no sequence {xn }∞
n=0 of elements of S such that
a = limn→∞ xn .
→ Corollary: There is a function f from the reals into the reals and a real number
a such that f is not continuous at a, but whenever {xn }∞
n=0 is a sequence with
limn→∞ xn = a, then limn→∞ f (x0 ) = f (a).
→ Corollary: There is a set T of real numbers which is neither closed nor bounded but
every sequence of points in T has a convergenz subsequence.
5.3. GÖDELS UNVOLLSTÄNDIGKEITSSÄTZE
275
→ Corollary: There is a subspace of the real line which is not separable.
◦ Theorem: There is a model of ZF in which the set of all real numbers is a union of
countably many countable sets.
◦ Theorem: There is a model of ZF which satisfies the Principle of Dependent Choice and
in which every set of real numbers is Lebesgue measurable.
Damit wollen wir unsere Einführung in die Axiomatik der Zermelo-Fraenkelschen Mengenlehre
abschließen.
5.3 Gödels Unvollständigkeitssätze
5.3.1 Gödels Sätze
In diesem Abschnitt wollen wir die Frage der Vollständigkeit und der Widerspruchsfreiheit der
Peanoarithmetik als eines auf der Prädikatenlogik basierenden formalen System diskutieren. Zu
diesem Zweck halten wir uns erneut an die Ausführungen aus Hoffmann [81], Kapitel 4.
Zur Erinnerung: Die vorgestellten Kalküle der Aussagenlogik wie der Prädikatenlogik erster Stufe sind vollständig und widerspruchsfrei. Fügen wir diesen aber weitere, mathematische Theorieaxiome hinzu, so muss die Frage nach solchen Kalküleigenschaften neu diskutiert werden.
Zu diesem Zweck erinnern wir an die in Abschnitt 4.1 eingeführten Kalküleigenschaften
◦ widerspruchsfrei, falls aus ⊢ ϕ stets 6⊢ ϕ folgt,
◦ negationsvollständig, falls aus 6⊢ ¬ϕ stets ⊢ ϕ folgt,
◦ korrekt, falls aus ⊢ ϕ stets |= ϕ folgt,
◦ vollständig, falls aus |= ϕ stets ⊢ ϕ folgt.
Im Zentrum unserer Betrachtungen stehen nun die folgenden Gödelschen Unvollständigkeitssätze,
hier in Hoffmanns Formulierung:
Erster Unvollständigkeitssatz (semantisch)
Jedes korrekte formale System, das stark genug ist, um die Peanoarithmetik zu formalisieren, ist unvollständig.
Diese Version des ersten Gödelschen Unvollständigkeitssatzes macht eine Aussage über formale
Systeme, innerhalb derer a priori nur wahre Aussagen beweisbar sind: aus ⊢ ϕ folgt stets |= ϕ .
Das begründet die Umschreibung semantische Variante“. Wir werden vor allem diese Variante
”
untersuchen.
Die semantische Variante des ersten Gödelschen Unvollständigkeitssatzes ist eine Folgerung seiner syntaktischen Variante“, welche keinen Gebrauch macht von semantischen Begriffen und
”
sich ausschließlich auf die syntaktischen Eigenschaften eines formalen Systems stützt (Warum?).
276
KAPITEL 5. ARITHMETIK, MENGENLEHRE, UNVOLLSTÄNDIGKEIT
Erster Unvollständigkeitssatz (syntaktisch)
Jedes widerspruchsfreie formale System, das stark genug ist, um die Peanoarithmetik zu
formalisieren, ist negationsunvollständig.
Zum Beweis werden wir mit Gödel einen Satz konstruieren, von dem bewiesen wird, dass er im
Peanoschen Kalkül unbeweisbar ist. Nicht nur die Aussage des ersten Unvollständigkeitssatzes
wirkte zu Gödels Zeit – und wirkt auch noch heute – sehr erstaunlich, sondern viel beeindruckender ist die Art und Weise des Gödelschen Beweises, die in Hoffmann [81], noch mehr aber
in Hoffmann [80] äußerst detailliert beschrieben und nachvollzogen wird. Hiervon, und wir wollen uns im Folgenden nach diesen Lehrbüchern richten, können wir nur einen ersten Eindruck
vermitteln, beginnen aber mit folgendem Zitat aus Hoffmann [81], S. 203:
Wie um alles in der Welt konnte Gödel es schaffen, einen Satz zu konstruieren, der
seine eigene Unbeweisbarkeit postuliert? . . . Tatsächlich hatte Gödel eine Hintertür
entdeckt, durch die Sätze ihr eigenes formales System in gewissem Sinne verlassen
können. Die Kernidee seines Ansatzes besteht in der Konstruktion arithmetischer
Aussagen, die zur gleichen Zeit zwei inhaltlich verschiedene Bedeutungen in sich
tragen . . .
• Zuallererst besitzen diese Sätze eine arithmetische Bedeutung. Innerhalb des
Kalküls betrachtet sind sie gewöhnliche Sätze der Peano-Arithmetik, und als
solche machen sie Aussagen über die natürlichen Zahlen.
• Von außen betrachtet besitzen die Sätze eine zweite, metatheoretische Bedeutung. Sie kommt durch einen verdeckten Isomorphismus zu Stande, dessen Entdeckung zu den Sternstunden der mathematischen Logik zählt. Gödel
konnte zeigen, dass die Regeln und Axiome eines formalen Systems arithmetisch repräsentiert werden können und sich die symbolischen Manipulationen von Zeichenketten, wie sie bei der Durchführung formaler Beweise
verwendet werden, auf die arithmetische Ebene übertragen lassen. Auf diese
Weise gelang es ihm, metatheoretische Aussagen, wie z.B. die Frage nach
der Existenz eines Beweises, in arithmetische Formeln hineinzucodieren.
Und nun geht es los!
5.3.2 Schritt 1: Arithmetisierung der Syntax: Die Gödelisierung∗
Zunächt ordnen wir jedem Grundsymbol der Theorie eine natürliche Zahl zu nach folgender
Grundregel:
¬
1
∧
3
∨
5
0
21
s
23
→
7
+
25
↔
9
×
27
∀
11
x
2
∃
13
y
4
=
15
z
6
(
17
)
19
usw.
Formeln ϕ gödelisieren wir zu einer natürlichen Zahl Göd(ϕ ), indem wir den Zahlenwert des
i-ten Formelzeichens als Exponent der i-ten Primzahl verwenden und alle so entstehenden Ausdrücke zu einem gemeinsamen Produkt zusammenführen.
5.3. GÖDELS UNVOLLSTÄNDIGKEITSSÄTZE
277
Beispiel. Die Formel ϕ = (0 + 0 = 0) ist zu gödelisieren:
Göd (0 + 0 = 0) = 221 · 325 · 521 · 715 · 1121
= 29767910860507778862541422587054735259615100 . . .
. . . 39000000000000000000000
Ungeachtet der enormen Größe solcher Gödelzahlen verlangen wir von einer solchen Gödelisierung folgende drei Eigenschaften:
◦ Die Codierung muss die Menge aller Formeln injektiv in die Menge N abbilden.
◦ Die Gödelnummer einer jeden Formel muss durch ein (konstruktives) Verfahren berechenbar sein.
◦ Für jede natürliche Zahl muss entscheidbar sein, ob sie Gödelnummer einer Formel ist.
Wir übergehen die bez. diesen Punkten zu diskutierenden Details und fassen zusammen:
→ Wir können jeder Formel ϕ durch einen konstruktiven Prozess eine natürlich Zahl, nämlich
ihre Gödelnummer Göd(ϕ ) zuordnen und damit die Manipulation von rein formaler Zeichenketten auf die arithmetische Ebene übertragen.
5.3.3 Schritt 2: Primitiv-rekursive Funktionen: Definition∗
In seinem Beweis schränkt sich Gödel auf die in nachstehender Definition eingeführte Menge
von Funktionen ein:
Definition (Primitiv-rekursive Funktionen)
Folgende Funktionen sind primitiv-rekursiv:
◦ die Nullfunktion z(n) := 0,
◦ die Nachfolgerfunktion s(n) := n + 1,
◦ die Projektion pni (x1 , . . . , xn ) := xi .
Sind zweitens g : Nk → N und h1 , . . . , hk : Nn → N primitiv-rekursive Funktionen, so
auch die Funktion f : Nn → N mit
f (x1 , . . . , xn ) = g(h1 (x1 , . . . , xn ), . . . , hk (x1 , . . . , xn )).
Sind drittens g : Nn → N und h : Nn+2 → N primitiv-rekursive Funktionen, so auch die
Funktion f : Nn+1 → N mit
f (0, x1 , . . . , xn ) = g(x1 , . . . , xn ),
f (m + 1, x1 , . . . , xn ) = h( f (m, x1 , . . . , xn ), m, x1 , . . . , xn ).
Mit Hilfe primitiv-rekursiver Funktionen lassen sich alle wichtigen“ arithmetischen Operatio”
nen dargestellen.
Beispiel. Bezeichnet add(m, n) die Addition zweier natürlicher Zahlen m und n, so können wir
auch schreiben
(
n
im Falle m = 0
.
add(m, n) =
s(add(m − 1, n)) im Falle m > 0
278
KAPITEL 5. ARITHMETIK, MENGENLEHRE, UNVOLLSTÄNDIGKEIT
Für die Multiplikation mult(m, n) würden wir dann folgern
(
0
im Falle m = 0
mult(m, n) =
.
add(mult(m − 1, n), n) im Falle m > 0
Weitere, darauf aufbauende Beispiele finden sich in Hoffmann [81].
Hilbert vermutete, dass sich tatsächlich alle berechenbaren“ Funktionen primitiv-rekursiv er”
zeugen lassen, was durch ein auf Ackermann zurückgehendes Gegenbeispiel widerlegt wurde
(Stichwort: Ackermannfunktion in Hoffmann [81]).
Wir fassen zusammen:
→ Viele mathematische Funktionen lassen sich primitiv-rekursiv darstellen.
5.3.4 Schritt 3: Arithmetische Repräsentierbarkeit∗
Was kann nun über die Darstellbarkeit primitiv-rekursiver Funktionen und Relationen innerhalb
der Peanoarithmetik ausgesagt werden?
Wir sprechen von einer primitiv-rekursiven Relation R(x1 , . . . , xn ), falls eine primitiv-rekursive
Funktion f existiert mit der Eigenschaft
R(x1 , . . . , xn )
genau dann, wenn
f (x1 , . . . , xn ) = 0.
Satz (Repräsentierbarkeit primitiv-rekursiver Relationen)
Jede primitiv-rekursive Relation R(x1 , . . . , xn ) ist innerhalb der Peanoarithmetik
◦ semantisch repräsentierbar, d.h. es gibt eine Formel ϕ mit n freien Variablen, so
dass gilt
(x1 , . . . , xn ) ∈ R, so auch |= ϕ (x1 , . . . , xn ),
(x1 , . . . , xn ) 6∈ R, so auch |= ¬ϕ (x1 , . . . , xn )
◦ wie syntaktisch repräsentierbar, d.h. es gilt mit vorigen Notationen
(x1 , . . . , xn ) ∈ R,
(x1 , . . . , xn ) 6∈ R,
so auch
so auch
⊢ ϕ (x1 , . . . , xn ),
⊢ ¬ϕ (x1 , . . . , xn )
Jede Funktion f der Stelligkeit n lässt sich durch eine Relation der Stelligkeit n + 1 darstellen.
Es gilt in diesem Sinne auch der
Satz (Repräsentierbarkeit primitiv-rekursiver Funktionen)
Jede primitiv-rekursive Funktion f (x1 , . . . , xn ) ist innerhalb der Peanoarithmetik syntaktisch repräsentierbar.
Ausführliche Diskussionen zu diesen Darstellungssätzen, die wichtige Anwendungen in der Informatik besitzen (z.B. funktionale Programmierung mit Lisp?), finden sich in den genannten
Lehrbüchern von Hoffmann.
Wir fassen zusammen:
5.3. GÖDELS UNVOLLSTÄNDIGKEITSSÄTZE
279
→ Primitiv-rekursive Relationen und Funktionen lassen sich innerhalb der Peanoarithmetik
syntaktisch repräsentieren.
5.3.5 Schritt 4: Gödels Diagonalisierungsargument: Der Beweis∗
Bevor wir den Gödelschen Beweis skizzieren, möchten wir noch einmal aus Hoffmann [81], S.
219, zitieren:
Betrachten wir die gewonnenen Ergebnisse isoliert voneinander, so wirken sie wie
gewöhnliche mathematische Aussagen. Jede Einzelne beleuchtet einen interessanten Aspekt der mathematischen Logik, aber keine von ihnen scheint das Potential zu besitzen, die Mathematik in ihren Grundfesten zu gefährden. Eine wahrhaft
zerstörerische Wirkung entfalten sie jedoch dann, wenn wir sie in geeigneter Weise
miteinander kombinieren. Wie die einzelnen Puzzle-Stücke zusammenpassen, hat
Gödel in akribischer Präzision ausgearbeitet, und so liest sich seine Arbeit aus dem
Jahre 1931 stellenweise wie der Bauplan eines mathematischen Sprengsatzes. Die
explosive Wirkung seiner Arbeit ist bekannt. Mit dem Beweis der Unvollständigkeitssätze hat Gödel die lange gehegte Hoffnung auf die vollständige Formalisierung der Mathematik mit einem Handstreich in Schutt und Asche gelegt.
Mit Gödel betrachten wir Formeln ϕ (ξ ) mit einer freien Variable; Gödel bezeichnete solche Formeln als Klassenzeichen. Hoffmann ordnet nun alle diese Klassenzeichen in eine solche Tabelle:
0
1
2
3
4
5
6
ϕ1 (ξ )
6⊢
⊢
6⊢
⊢
6⊢
⊢
6⊢
ϕ4 (ξ )
ϕ5 (ξ )
6⊢
⊢
6⊢
6
⊢
⊢
⊢
⊢
6
⊢
6⊢
⊢
⊢
6
⊢
6⊢
⊢
ϕ7 (ξ )
⊢
6⊢
6⊢
⊢
⊢
⊢
6⊢
···
···
···
···
···
···
···
···
···
g
⊢
6⊢
6
⊢
⊢
Diese Tabelle ist wie folgt aufgebaut:
◦ In der i-ten Zeile steht die Formel ϕi (ξ ) mit der Gödelnummer i.
◦ Der Index einer freien Zeile ist nicht Gödelnummer einer Formel.
◦ Die Spalten sind nach den Zahlen 0, 1, 2 usw. abgezählt; ist ϕi (n) innerhalb der Peanoarithmetik beweisbar, so findet sich in der i-ten Zeile und n-ten Spalte ein ⊢, sonst ist ein
6⊢ eingetragen.
Tabelliert sind also für jeden Index i = 0, 1, 2, . . . und jedes n = 0, 1, 2, . . . die Alternative ⊢ ϕi (n)
oder 6⊢ ϕi (n).
Wir erahnen bereits, was nun kommen muss: Ganz im Geiste Cantors wird sich irgendwo auf
der Hauptdiagonalen eine Formel finden, die innerhalb der Peanoarithmetik nicht entscheidbar
ist. Ganz konkret ist zu zeigen, dass es einen Index g ∈ N gibt mit der Eigenschaft:
Weder
ϕg (g) noch ¬ϕg (g) sind innerhalb der Peanoarithmetik beweisbar.
KAPITEL 5. ARITHMETIK, MENGENLEHRE, UNVOLLSTÄNDIGKEIT
280
Zu diesem Zweck betrachtet Gödel eine einstellige Funktion diag(y) und eine zweistellige Relation B(x, y) gemäß den folgenden Festsetzungen
(
Göd ϕy (y) im Falle y = Göd ϕy (ξ )
diag(y) :=
0
sonst
bzw.
B(x, y)
bedeutet: x codiert einen Beweis für die Formel mit der Gödelnummer y.
Die Formel ϕy (y) ist das y-te Diagonalelement in obiger Tabelle; vermittels diag(y) wird die
Gödelnummer der Formel ϕy (ξ ) auf die Gödelnummer dieser Diagonalformel abgebildet. Im
Falle, dass y keine Gödelnummer einer Formel ist, wird diag(y) willkürlich auf 0 gesetzt.
Wichtig sind nun folgenden, wichtige und sehr erstaunliche Eigenschaften dieser Relationen:
→ Die Funktion diag(y) und die Relation B(x, y) sind primitiv-rekursiv und lassen sich daher
durch Formeln Diag(y, z) (als Relation!) bzw. B(x, y) syntaktisch repräsentieren.
Mit anderen Worten:
diag(y) = z bedeutet
⊢ ∀z(Diag(y, z) ↔ z = z)
bzw.
(x, y) ∈ B,
(x, y) 6∈ B,
so auch
so auch
Im nächsten Schritt wird folgende Funktion eingeführt
⊢ B(x, y),
6⊢ B(x, y).
ψGöd (x, y) := ∃z(Diag(y, z) ∧ B(x, z))
als die syntaktische Repräsentation der Relation
Göd(x, y)
bedeutet
x ist die Gödelnummer eines Beweises von ϕy (y)
und setzen
ϕg (y) := ∀x¬ψGöd (x, y).
Damit sind wir am Ziel der Suche nach der Gödelschen Formel: Weder ϕg (g) noch ¬ϕg (g) lassen
sich innerhalb der Peanoarithmetik beweisen!
Den zu erwartenden Widerspruch unter Voraussetzung der Korrektheit der Peanoarithmetik macht
uns Hoffmann [81], S.223, wie folgt deutlich:
◦ 1. Fall: Angenommen, es gilt ⊢ ϕg (g). Dann existiert eine Gödelnummer m, die den
Beweis dieser Formel kodiert, und somit gilt auch Göd(m, g). Da aber ψGöd die Relation
Göd(x, y) syntaktisch repräsentiert, folgt
⊢ ψGöd (m, g).
Andererseits bedeutet ⊢ ϕg (g) nichts anderes als ⊢ ∀x¬ψGöd (x, g) bzw. x mit m instanziiert
⊢ ¬ψGöd (m, g).
Damit haben wir einen Widerspruch: ϕg (g) kann nur beweisbar sein, wenn die Peanoarithmetik widersprüchlich ist.
5.3. GÖDELS UNVOLLSTÄNDIGKEITSSÄTZE
281
◦ 2. Fall: Angenommen, es gilt ⊢ ¬ϕg (g) bzw. ⊢ ¬∀x¬ψGöd (x, g), also
⊢ ∃ψGöd (x, g).
Ist andererseits die Peanoarithmetik widerspruchsfrei, so gibt es keine natürliche Zahl,
die Gödelnummer eines Beweises für ϕg (g) sein kann, d.h. es gelten
(0, g) 6∈ Göd,
(1, g) 6∈ Göd,
(2, g) 6∈ Göd usw.
Da aber ψGöd die Relation Göd(x, y) syntaktisch repräsentiert, folgen ebenso
⊢ ¬ψGöd (0, g),
⊢ ¬ψGöd (1, g),
⊢ ¬ψGöd (2, g)
usw.
Das ist aber ein Widerspruch.
Für Details verweisen wir auf die genannten Lehrbücher von Hoffmann.
5.3.6 Wie ist Gödels erster Unvollständigkeitssatz zu lesen?
Vollständigkeit und Unvollständigkeit
Bitte unterscheiden Sie genau die Inhalte des Gödelschen Satzes über die Vollständigkeit der
Prädikatenlogik erster Stufe (Vollständigkeitssatz) und des Gödelschen Satzes über die Unvollständigkeit der Peanoschen Arithmetik – hier formuliert innerhalb der PL1 (Unvollständigkeitssatz).
Im Kontext des Vollständigkeitssatzes haben wir den semantischen Implikationsoperator |= als
allgemeingültig verstanden, d.h. eine Formel ϕ mit |= ϕ ist unter jeder Interpretation wahr. Im
Kontext des Vollständigkeitssatzes bezieht sich |= lediglich auf die Peanoarithmetik, hier liegt
also eine ganz bestimmte Interpretation zu Grunde.
Genau genommen macht der Gödelsche Unvollständigkeitssatz eine Aussage über formale Systeme, die stark genug sind, um die Peanoarithmetik zu formalisieren. Aus diesem Grund ist er
auch anwendbar auf formale Systeme zweiter, dritter, . . . Ordnung, die die Peanoarithmetik beinhalten. Hingegen bezieht sich der Gödelsche Vollständigkeitssatz allein auf die Prädikatenlogik
erster Stufe, er ist falsch für die Prädikatenlogik zweiter Stufe.
Vervollständigung unvollständiger Systeme
Formale Systeme, die stark genug sind, um die Peanoarithmetik zu formalisieren, lassen sich
nicht vervollständigen. Das Hinzufügen einer unentscheidbaren Formel zur Axiomengruppe eines solchen Systems bringt kein neues, vollständiges System mit sich, was eine erneute Anwendung der Gödelschen Beweiskonstruktion auf dieses neue System lehrt.
Allerdings ist hier darauf zu achten, dass die unentscheidbare Formel in Gödels Beweis der Unvollständigkeits des erweiterten Systems“ von der in Frage stehenden Formel des Ausgangs”
”
systems“ durchaus unterscheiden kann und auch wird. Denn einmal ändern sich alle Gödelnummern und damit auch die Gödelschen Diagonalelemente.
Einen zweiten zu bedenkenden Punkt wollen wir mit dem nächsten Paragraphen ansprechen.
282
KAPITEL 5. ARITHMETIK, MENGENLEHRE, UNVOLLSTÄNDIGKEIT
Gentzens Beweis der Widerspruchsfreiheit der reinen Zahlentheorie
In unserer Beweisskizze des Gödelschen Unvollständigkeitssatzes sind wir von einem korrekten
formalen System (der Peanoarithmetik) ausgegangen. Die syntaktische Variante dieses Satzes
macht hingegen eine Aussage über widerspruchsfreie formale Systeme.
Hieran schließt zunächt der zweite Gödelsche Unvollständigkeitssatz an (hier in Gentzens Formulierung aus [51]):
→ Es ist nicht möglich, die Widerspruchsfreiheit einer formal gegebenen (abgegrenzten)
Theorie, welche die reine Zahlentheorie in sich enthält (und bereits dieser selbst), mit
den gesamten Hilfsmitteln der betreffenden Theorie selbst nachzuweisen (vorausgesetzt,
dass diese Theorie wirklich widerspruchsfrei ist).
Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit einer formalen Theorie stehen in engem Zusammenhang. Der erste Gödelsche Satz besagt, dass ein widerspruchsfreies System, welches starkt genug
ist, die Peanoarithmetik zu formalisieren, nicht vollständig sein kann. Der zweite Gödelsche Satz
besagt, dass ein solches System seine eigene Widerspruchsfreiheit gar nicht beweisen kann.
Der wesentliche Punkt aber, auf den Gentzen aufmerksam macht, ist: Eventuell kann aber ein
umfangreicheres System den Widerspruchsfreiheitsbeweis ersetzen. Er schreibt nämlich weiter:
Daraus folgt also, daß man, um die Widerspruchsfreiheit etwa der reinen Zahlentheorie zu beweisen, für diesen Beweis keineswegs mit einem Teil der in der reinen
Zahlentheorie verwendbaren Beweismittel auskommt, ja nicht einmal mit allen
diesen Beweismitteln. Ist dann aber überhaupt noch eine wirkliche Zurückführung
möglich?
Nun, es bleibt ja durchaus denkbar, daß man die Widerspruchsfreiheit der reinen
Zahlentheorie nachweisen kann mit Hilfsmitteln, die zum Teil nicht mehr der reinen Zahlentheorie angehören, aber trotzdem als sicherer gelten können als die bedenklichen Bestandteile der reinen Zahlentheorie selbst.
Und genau diese Idee führt Gentzen [51], [52] am Beispiel der reinen Zahlentheorie“, d.h. am
”
Beispiel der
. . . Theorie der natürlichen Zahlen ohne Verwendung von Hilfsmitteln aus der Analysis, wie z. B. von irrationalen Zahlen oder unendlichen Reihen.
Gentzens Reine Zahlentheorie“ baut sich aus den Konzepte der Aussagen- und Prädikatenlogik
”
erster Stufe auf nach Hinzunahme einer Gleichheitsrelation, sein Widerspruchsfreiheitsbeweis
basiert auf einem zusätzlich hinzugenommenen Axiom der transfiniten Induktion, welches aus
dem Rahmen der reinen Zahlentheorie herausführt.
Der zweite Unvollständigkeitssatz
5.4 Anhänge
5.4.1 Peanos Axiome der Arithmetik
Subtraktion
Die Axiome der Subtraktion beginnen mit den folgenden Erklärungen:
5.4. ANHÄNGE
283
◦ Das Zeichen − wird als minus gelesen.
◦ Das Zeichen < wird als kleiner als gelesen.
◦ Das Zeichen > wird als größer als gelesen.
Peanos Definitionen zur Subtraktion
1.
2.
3.
Multiplikation
Peanos Definitionen zur Multiplikation
1.
2.
Exponentiation
Peanos Definitionen zur Exponentiation
1. a ∈ N ⇒ a1 = a
2. a, b ∈ N ⇒ ab+1 = ab a
Axiom der Division
Peanos Definitionen zur Division
1. a ∈ N ⇒ a1 = a
2. a, b ∈ N ⇒ ab+1 = ab a
5.4.2 Theoreme der Peanoarithmetik
5.4.3 Cantors Entdeckung der Überabzählbarkeit von R
Cantors Entdeckung der Überabzählbarkeit der reellen Zahlen können wir anhand seiner Korrespondenz mit Dedekind detailliert nachvollziehen. Wir wollen im folgenden ausgewählte dieser
Briefe aus Cavaillés und Noether [22] sowie Meschkowski und Nilson [104] vortragen. Die erstgenannte Quelle enthält den vollständigen Briefwechsel, die zweite hingegen ausgewählte Briefe
Cantors, dann aber in kommentierter Form.
284
KAPITEL 5. ARITHMETIK, MENGENLEHRE, UNVOLLSTÄNDIGKEIT
Brief G. Cantors an R. Dedekind (29.11.1873)
Gestatten Sie mir, Ihnen eine Frage vorzulegen, die für mich ein gewisses theoretisches
Interesse hat, die ich mir aber nicht beantworten kann; vielleicht können Sie es, und sind
so gut, mir darüber zu schreiben, es handelt sich um folgendes.
Man nehme den Inbegriff aller positiven ganzzahligen Individuen n und bezeichne ihn
mit (n); ferner denke man sich etwa den Inbegriff aller positiven reellen Zahlgrössen x
und bezeichne ihn mit (x); so ist die Frage einfach die, ob sich (n) dem (x) so zuordnen lasse, dass zu jedem Individuum des einen Inbegriffes ein und nur eines des andern
gehört? Auf den ersten Anblick sagt man sich, nein es ist nicht möglich, denn (n) besteht aus discreten Theilen, (x) aber bildet ein Continuum; nur ist mit diesem Einwande
nichts gewonnen und so sehr ich mich auch zu der Ansicht neige, dass (n) und (x) keine
eindeutige Zuordnung gestatten, so kann ich doch den Grund nicht finden und den ist es
mir zu thun, vielleicht ist er ein sehr einfacher. –
Wäre man nicht auch auf den ersten Anblick geneigt zu behaupten, dass sich (n) nicht
eindeutig zuordnen lasse dem Inbegriffe qp aller positiven rationalen Zahlen qp ? und
dennoch ist es nicht schwer zu zeigen, dass sich (n) nicht nur diesem Inbegriffe, sondern
noch dem allgemeineren
(an1 ,n2 ,...,nν )
eindeutig zuordnen läßt, wo n1 , n2 , . . . , nν unbeschränkte positive ganzzahlige Indices
in beliebiger Zahl ν sind.
Dedekind fertigt von Cantors Briefen persönliche Aufzeichnungen an:
Aufzeichnung R. Dedekinds (29.11.1873)
Herr G. Cantor (Halle) legt mir die Frage vor, ob der Inbegriff (n) aller positiven ganzzahligen Individuen n (natürlichen Zahlen) sich dem Inbegriffe (x) aller positiven reellen
Zahlen x so zuordnen lasse, dass zu jedem Individuum des einen Inbegriffs ein und nur
eines des andern gehört? – Er schliesst mit den Worten: Wäre man nicht auch auf den
”
ersten Anblick geneigt zu behaupten, dass sich (n) nicht eindeutig zuordnen lasse dem
Inbegriffe ba aller positiven rationalen Zahlen ab ? und dennoch ist es nicht schwer zu
zeigen, dass sich (n) nicht nur diesem Inbegriffe, sondern auch dem allgemeineren
(an1 ,n2 ,...,nν )
eindeutig zuordnen lässt, wo n1 , n2 , . . . , nν unbeschränkte positive ganzzahlige Indices
in beliebiger Zahl ν sind“.
Am 2. Dezember 1873 äußert Cantor erste Zweifel an der mathematischen Bedeutung seines
Problems, welche er Dedekind gegenüber scheinbar herunterspielt.
Brief G. Cantors an R. Dedekind (2.12.1873)
Ganz ausnehmend freute es mich, heute Ihre Antwort auf mein letztes Schreiben zu
erhalten. Meine Frage habe ich Ihnen aus dem Grunde vorgelegt, weil ich sie als solche
mir bereits vor mehreren Jahren gestellt und mich stets im Zweifel darüber befunden
habe, ob die Schwierigkeiten, welche sie mir bot, eine subjective sei oder ob sie an der
5.4. ANHÄNGE
285
Sache hafte. Da Sie mir schreiben, dass auch Sie ausser Stande seien, sie zu beantworten,
so darf ich das letztere annehmen. – Uebrigens möchte ich hinzufügen, dass ich mich
nie ernstlich mit ihr beschäftigt habe, weil sie kein besonderes practisches Interesse für
mich hat und ich trete Ihnen ganz bei, wenn Sie sagen, dass sie aus diesem Grunde nicht
zu viel Mühe verdient. Es wäre nur schön, wenn sie beantwortet werden könnte; z.B.
vorausgesetzt dass sie mit nein beantwortet würde, wäre damit ein neuer Beweis des
Liouvilleschen Sates geliefert, dass es transcendente Zahlen giebt . . .
Tatsächlich können wir jedoch vermuten, dass sich Cantor intensiv mit dieser Zuordnungsfrage“
”
beschäftig. Der neue Beweis des Liouvilleschen Satzes“ mag als vorgeschobener Grund dienen.
”
Bereits am 7. Dezember 1873 setzt er nun Dedekind brieflich von seiner Lösung in Kenntnis und
präsentiert den ersten Beweis der Nichtabzählbarkeit der reellen Zahlen.
Brief G. Cantors an R. Dedekind (7.12.1873)
In den letzten Tagen habe ich die Zeit gehabt, etwas nachhaltiger meine Ihnen gegenüber
ausgesprochene Vermutung zu verfolgen; erst heut glaibe ich mit der Sache fertig geworden zu sein; sollte ich mich jedoch täuschen, so finde ich gewiss keinen nachsichtigeren
Beurtheiler, als Sie. Ich nehme mir also die Freiheit, Ihrem Urtheile zu unterbreiten, was
soeben in der Unvollkommenheit des ersten Conceptes zu Papier gebracht ist.
Man nehme an, es könnten alle positiven Zahlen ω < 1 in die Reihe gebracht werden:
(I)
ω1 , ω2 , ω3 , . . . , ωn , . . .
Auf ω1 folgend sei ωα da nächst grössere Glied, auf dieses folgend ωβ das nächst
grössere, u.s.f. Man setze: ω1 = ω11 , ωα = ω12 , ωβ = ω13 u.s.f. und hebe aus (I) die
unendliche Reihe aus:
ω11 , ω12 , ω13 , . . . , ω1n , . . .
In der übrig bleibenden Reihe werde das erste Glied mit ω21 , das nächst folgende grössere mit ω22 bezeichnet, u.s.f. so hebe man die zweite Reihe aus:
ω21 , ω22 , ω23 , . . . , ω2n , . . .
Wird diee Betrachtung fortgesetzt, so erkennt man dass die Reihe (I) sich in die unendlich vielen zerlegen läßt:
(1)
ω11 , ω12 , ω13 , . . . , ω1n , . . .
(2)
ω21 , ω22 , ω23 , . . . , ω2n , . . .
(3)
ω31 , ω32 , ω33 , . . . , ω3n , . . .
...
.........
in jeder von ihnen wachsen aber die Glieder fortwährend von links nach rechts zu; es
ist:
ωkλ < ωkλ +1 .
Man nehme nun ein Intervall (p . . . q) so an, dass kein Glied der Reihe (1) in ihm liegt;
also etwa innerhalb (ω11 . . . ω12 ); nun könnten auch etwa sämtliche Glieder der zweiten
Reihe, oder der dritten ausserhalb (p . . . q) liegen; es muss jedoch einmal eine Reihe
286
KAPITEL 5. ARITHMETIK, MENGENLEHRE, UNVOLLSTÄNDIGKEIT
kommen, ich will sagen die kte , bei welcher nicht alle Glieder ausserhalb (p . . . q) liegen; (denn sonst würden die innerhalb (p . . . q) liegenden Zahlen nicht in (I) enthalten
sein, gegen die Voraussetzung); dann kann man ein Intervall (p′ . . . q′ ) innerhalb (p . . . q)
fixieren, so dass die Glieder der kten Reihe alle außerhalb desselben liegen; von selbst
verhält sich dann (p′ . . . q′ ) in gleicher Weise in Bezug auf die vorhergehenden Reihen;
im weiteren Verlaufe muss jedoch eine k′te Reihe erscheinen, deren Glieder nicht sämmtlich ausserhalb (p′ . . . q′ ) liegen und man nehme dann innerhalb (p′ . . . q′ ) ein drittes
Intervall (p′′ . . . q′′ ) an, so dass alle Glieder der k′ten Reihe ausserhalb derselben liegen.
So sieht man, dass es unmöglich ist eine unendliche Reihe von Intervallen zu bilden:
(p . . . q), (p′ . . . q′ ), (p′′ . . . q′′ ), . . .
von denen jedes die folgenden einschliesst und die zu unsern Reihen (1), (2), (3), . . . sich
wie folgt verhalten:
Die Glieder der 1ten , 2ten , . . . , k − 1ten Reihe liegen ausserhalb (p . . . q)
Die Glieder der kten , . . . , k′ − 1ten Reihe liegen ausserhalb (p′ . . . q′ )
Die Glieder der k′ten , . . . , k′′ − 1ten Reihe liegen ausserhalb (p′′ . . . q′′ )
Es läßt sich nun stets wenigstens eine Zahl, ich will sie η nennen, denken, welche im
Innern eines jeden dieser Intervalle liegt; von dieser Zahl η , welche offenbar >0
<1 , sieht
man rasch, daß sie in keiner unserer Reihen (1), (2), . . . , (n) enthalten sein kann. So
würde man, von der Voraussetzung ausgehend, daß alle Zahlen >0
<1 in (I) enthalten seien,
zu dem entgegengesetzten Resultate gelangt sein, daß eine bestimmte Zahl η >0
<1 nicht
unter (I) zu finden sei; folglich ist die Voraussetzung eine unrichtige gewesen.
So glaube ich schließlich zum Grund gekommen zu sein, weshalb sich der in meinen
früheren Briefen mit (x) bezeichnete Inbegriff nicht dem mit (n) bezeichneten eindeutig
zuordnen lässt.
Meschkowski [102], S. 17, kommentiert den Inhalt dieses Schreibens wie folgt:
Wir haben Anlaß, diesen Tag [den 7. Dezember 1873] als den Geburtstag der Mengenlehre zu bezeichnen, weil ja durch diesen Beweisgang klargestellt wurde, daß
eben nicht in der Nacht alle Katzen grau“ sind, wie wir zunächst befürchteten
”
. . . Es gibt (nach C ANTOR) tatsächlich eine Möglichkeit, im Unendlichen zu dif”
ferenzieren“.
Dedekind gelingt es offenbar, den wesentlichen Kern der Cantorschen Idee dem noch recht
”
komplizierten Beweis“ herauszuschälen, um so die Überabzählbarkeit der reellen Zahlen auf
einfachere Art und Weise zu demonstrieren.
Aufzeichnung R. Dedekinds (7.12.1873 ?)
C. theilt mir einen strengen, an demselben Tage gefundenen Beweis des Satzes mit, dass
der Inbegriff aller positiven Zahlen ω < 1 dem Inbegriff (n) nicht eindeutig zugeordnet
werden kann.
Diesen, am 8. December erhaltenen Brief beantworte ich an demselben Tage mit einem
Glückwunsch zu dem schönen Erfolg, indem ich zugleich den Kern des Beweises (der
noch recht compliziert war) in grosser Vereinfachung ≪wiederspiegele≫; diese Darstellung ist ebenfalls fast wörtlich in Cantor’s Abhandlung (Crelle Bd. 77) übergegangen;
5.4. ANHÄNGE
287
freilich ist die von mir gebrauchte Wendung ≪nach dem Princip der Stetigkeit≫ an der
betreffenden Stelle (S. 261, Z. 10-14) vermieden!
Aus den folgenden Aufzeichnungen ist nicht zu entnehmen, ob Cantor von Dedekinds Ideen
Gebrauch machte, oder ob, wie Dedekind sich äußert, Cantor den Dedekindschen Brief zu spät
erhielt und einen vergleichbaren neuen Beweis selbst erdachte.
Brief G. Cantors an R. Dedekind (9.12.1873)
Für den letzthin bewiesenen Satz habe ich bereits einen vereinfachten Beweis gefunden,
wonach die Zerlegung der Reihe (I) in (1), (2), (3), . . . nicht mehr nöthig ist.
Ich zeige direct, dass, wenn ich von einer Reihe ausgehe,
ω1 , ω2 , . . . , ωn ,
ich in jedem vorgegebenen Intervalle (α . . . β ) eine Zahl η bestimmen kann, die nicht
in (I) enthalten ist. Daraus folgt ohne Weiteres, dass der Inb. (x) dem Inbegriffe (n)
nicht eindeutig zugeordnet werden kann und ich schliesse daraus, dass es unter den
Inbegriffen und Werthmengen Wesensverschiedenheiten giebt, die ich bis vor Kurzem
nicht ergründen konnte.
Aufzeichnung R. Dedekinds (9.12.1873)
C. schreibt mir eilig, er habe einen vereinfachten Beweis des Satzes gefunden. Da er
meinen Brief nicht erwähnt, so muss letzterer wohl später angekommen sein.
Brief G. Cantors an R. Dedekind (10.12.1873)
Den Empfang Ihrer freundlichen Zeilen vom 8ten dss. bestätigend, bitte ich Sie, mit
Bestimmtheit anzunehmen, dass mich nichts mehr erfreuen kann, als das Interesse, welches ich so glücklich gewesen, bei Ihnen für gewisse Fragen der Analysis zu erregen;
gestatten Sie mir hinzuzufügen dass mich auch nichts mehr, als dieses, zu ferneren Bestrebungen anregen kann und ich darf wohl bitten, mir auch zukünftig Ihre Bemerkungen
zukommen zu lassen. Sollte sich nicht manches Gutes für Ihre Theorie der algebraischen
Zahlen aus der Uebersicht ω1 , ω2 , . . . , ων , . . . ergeben?
Aufzeichnung R. Dedekinds (10.12.1873)
C. bestätigt den Empfang meines Briefes vom 8. December, ohne die darin enthaltene
vereinfachte Darstellung des Beweises zu erwähnen, dankt für mein Interesse an der
Sache.
Nach einer persönlichen Begegnung empfiehlt Weierstraß Cantor, seine Ideen zur Nichtabzählbarkeit der reellen Zahlen zu publizieren, allerdings mit dem Ziel, die Abzählbarkeit der algebraischen und damit die Nichtabzählbarkeit der transzendenten Zahlen nachzuweisen.
288
KAPITEL 5. ARITHMETIK, MENGENLEHRE, UNVOLLSTÄNDIGKEIT
Brief G. Cantors an R. Dedekind (25.12.1873)
Obgleich ich den Gegenstand, welchen ich vor Kurzem mit Ihnen zum ersten Male besprochen habe, fürs erste nicht publicieren wollte, bin ich doch unvermuteth dazu veranlasst worden. Ich theilte nämlich meine Resultate Herrn Weierstrass am 22ten mit; es
war jedoch eben keine Zeit vorhanden, genauer darauf einzugehen; bereits am 23ten hatte ich die grosse Freude, einen Besuch von ihm zu erhalten wobei ich ihm die Beweise
mittheilen konnte; er meinte, ich müsste die Sache, soweit sie sich auf die algebraischen
Zahlen bezieht, veröffentlichen. In Folge dessen schrie ich einen kleinen Aufsaz unter
dem Titel: Ueber eine Eigenschaft des Inbegriffs aller reellen algebraischen Zahlen, und
überschickte ihn Herrn Professor Bochardt zur Ansicht für das Journal f. Math.
Dabei kamen mir, wie Sie später finden werden, Ihre, mir so werthen, Bemerkungen und
Ihre Ausdrucksweise sehr zu statten. Dies wollte ich mir erlauben, Ihnen mitzutheilen.
In diesem von Cantor erwähnten Artikel [20] wird Dedekind nicht erwähnt.
5.4.4 Korrespondenz zwischen Russells und Frege
Brief B. Russells an G. Frege (16.02.1902)
Sehr geehrter Herr College!
Seit anderthalb Jahren kenne ich Ihre ≪Grundgesetze der Arithmetik≫, aber jetzt erst ist
es mir möglich geworden die Zeit zu finden für das gründliche Studium das ich Ihren
Schriften zu widmen beabsichtige. Ich finde mich in allen Hauptsachen mit Ihnen in vollem Einklang, besonders in der Verwerfung jedes psychologischen Moments von der Logik, und in der Schätzung einer Begriffsschrift für die Grundlagen der Mathematik und
der formalen Logik, welche übrigens kaum zu unterscheiden sind. In vielen einzelnen
Fragen finde ich bei Ihnen Discussionen, Unterscheidungen, und Definitionen, die man
vergebens bei anderen Logikern sucht. Besonders über die Funktion (9 Ihrer Begriffsschrift) bin ich bis ins Einzelne selbständig zu denselben Ansichten geführt worden. Nur
in einem Punkte ist mir eine Schwierigkeit begegnet. Sie behaupten (S. 17) es könne
auch die Funktion das unbestimmte Element bilden. Dies habe ich früher geglaubt, jedoch jetzt scheint mir diese Ansicht zweifelhaft, wegen des folgenden Widerspruchs:
Sei w das Prädicat, ein Prädicat zu sein welches von sich selbst nicht prädicirt werden
kann. Kann man w von sich selbst prädiciren? Aus jeder Antwort folgt das Gegentheil.
Deshalb muss man schlieen dass w kein Prädicat ist. Ebenso giebt es keine Klasse (als
Ganzes) derjenigen Klassen die als Ganze sich selber nicht angehören. Daraus schliesse
ich dass unter gewissen Umständen eine definierbare Menge kein Ganzes bildet.
Ich bin im Begriff ein Buch ber die Prinzipien der Mathematik zu vollenden, und ich
möchte darin Ihr Werk sehr ausführlich besprechen. Ihre Bücher habe ich schon, oder
ich kaufe sie bald; aber ich wäre Ihnen sehr dankbar wenn Sie mir Sonderabdrücke Ihrer
Artikel in verschiedenen Zeitschriften schicken könnten. Falls dies aber unmöglich sein
sollte, so schaffe ich sie mir aus einer Bibliothek.
Die exacte Behandlung der Logik, in den Fundamentalfragen, wo die Symbolen versagen, ist sehr zurückgeblieben; bei Ihnen finde ich das Beste, was ich aus unserer Zeit
kenne, und deshalb habe ich mir erlaubt, Ihnen mein tiefes Respekt auszudrücken. Es ist
sehr zu bedauern, dass Sie nicht dazu gelangt sind, den zweiten Band Ihrer Grundgeset-
5.4. ANHÄNGE
289
ze zu veröffentlichen; hoffentlich wird das doch noch geschehen.
Mit hochachtungsvollem Grusse,
Ihr ergebenster
Bertrand Russell.
Obiger Widerspruch drückt sich in Peano’s Begriffsschrift wie folgt aus:
w = cls ∩ x (x ∼ ε x). ⊃: wε w. = .w ∼ ε w .
ε
Ich habe darüber an Peano geschrieben, aber er bleibt mir eine Antwort schuldig.
Brief G. Freges an B. Russell (22.06.1902)
Sehr geehrter Herr College!
Besten Dank für Ihren interessanten Brief vom 16. Juni! Ich freue mich dass Sie in Vielem mit mir einverstanden sind, und dass Sie die Absicht haben, mein Werk ausführlich
zu besprechen. Auf Ihren Wunsch sende ich Ihnen die folgenden Drucksachen
1. Kritische Beleuchtung etc.
2. Ueber die Begriffschrift des Herrn Peano etc.
3. Ueber Begriff und Gegenstand,
4. Ueber Sinn und Bedeutung,
5. Ueber formale Theorien der Arithmetik.
Ich habe einen leeren Umschlag erhalten, dessen Aufschrift von Ihrer Hand zu sein
scheint. Ich vermuthe, dass Sie die Absicht gehabt haben, mir etwas zu schicken, was
durch einen Zufall verloren gegangen ist. Ist dies der Fall, so danke ich Ihnen fr die
liebenswürdige Absicht. Die Vorderseite des Umschlags lege ich bei.
Wenn ich meine Begriffsschrift jetzt wieder lese, finde ich, dass ich in manchen Punkten
anderer Ansicht geworden bin, wie Sie aus einer Vergleichung mit meinen Grundgesetzen d. A. ersehen werden. Den mit ≪Nicht minder erkennt man≫ beginnenden Absatz
auf S. 7 meiner Begriffsschrift bitte ich zu streichen, da er fehlerhaft ist, was übrigens
ohne nachtheilige Folgen für den übrigen Inhalt des Büchleins geblieben ist.
Ihre Entdeckung des Widerspruchs hat mich auf’s Höchste überrascht und, fast möchte
ich sagen, bestürzt, weil dadurch der Grund, auf dem ich die Arithmetik sich aufzubauen
dachte, in’s Wanken geräth. Es scheint danach, dass die Umwandlung der Allgemeinheit
einer Gleichheit in eine Werthverlaufsgleichheit ( 9 meiner Grundgesetze) nicht immer
erlaubt ist, dass mein Gesetz V ( 20. S. 36) falsch ist und dass meine Ausführungen
im 31 nicht genügen, in allen Fällen meinen Zeichenverbindungen eine Bedeutung zu
sichern. Ich muss noch weiter über die Sache nachdenken. Sie ist um so ernster, als mit
dem Wegfall meines Gesetzes V nicht nur die Grundlage meiner Arithmetik, sondern
die einzig mögliche Grundlage der Arithmetik überhaupt zu versinken scheint. Und
doch, sollte ich denken, muss es möglich sein, solche Bedingungen für die Umwandlung der Allgemeinheit einer Gleichheit in eine Werthverlaufsgleichheit aufzustellen,
dass das Wesentliche meiner Beweise erhalten bleibt. Jedenfalls ist Ihre Entdeckung
sehr merkwürdig und wird vielleicht einen grossen Fortschritt in der Logik zur Folge
haben, so unerwünscht sie auf den ersten Blick auch scheint.
Uebrigens scheint mir der Ausdruck ≪Ein Praedicat wird von sich selbst praedicirt≫ nicht genau zu sein. Ein Praedicat ist in der Regel eine Function erster Stufe, die
als Argument einen Gegenstand verlangt und also nicht sich selbst als Argument (Subject) haben kann. Ich möchte also lieber sagen: ≪Ein Begriff wird von seinem eigenen
290
KAPITEL 5. ARITHMETIK, MENGENLEHRE, UNVOLLSTÄNDIGKEIT
Umfange praedicirt≫. Wenn die Function Φ(ξ ), ein Begriff ist, so bezeichne ich dessen
hierzu ist mir
Umfang (oder die zugehörige Klasse) durch, ≪ε Φ(ε )≫ (die Berechtigung
,
,
nun freilich zweifelhaft geworden). In ≪Φ(ε Φ(ε ))≫ oder ≪ε Φ(ε ) ∩ ε Φ(ε )≫ haben wir
dann die Praedicirung des Begriffes Φ(ξ ) von seinem eigenen Umfange.
Der zweite Band meiner Grundgesetze soll demnächst erscheinen. Ich werde ihm wohl
einen Anhang geben müssen, in dem Ihre Entdeckung gewürdigt wird. Wenn ich nur
erst den richtigen Gesichtspunkt dafür hätte!
Mit hochachtungsvollem Grusse
Ihr ergebenster
G. Frege.
5.4.5 Cantor über den Mengenbegriff und inkonsistente Systeme
Eine zu Inkonsistenzen führende allzu bedenkenlose Verwendung des Mengenbegriffs der Cantorschen naiver Mengenlehre ist keine Entdeckung Burali-Fortis, Russells oder Zermelos, sondern war bereits Cantor selbst bewusst, wie wir aus an Hilbert und Dedekind gerichteten Briefen
entnehmen, die wir im Folgenden zum Zweck eines Quellenstudiums wiedergeben wollen.
Meschkowski und Nilson [104], S. ...
Brief G. Cantors an D. Hilbert (26.09.1897)
Meschkowski [103] S. 129 oder Meschkowski und Nilson [104], S. ...
Brief G. Cantors an R. Dedekind (28.08.1899)
Man muß die Frage aufwerfen, woher ich denn wisse, daß die wohlgeordneten Vielheiten oder Folgen, denen ich die Kardinalzahlen
ℵ0 , ℵ1 , . . . , ℵω0 , . . . , ℵω1 , . . .
zuschreibe, auch wirklich ≪Mengen≫ in dem erklärten Sinne des Wortes, d.h. ≫konsistente Vielheiten≫ seien. Wäre es nicht denkbar, daß schon diese Vielheiten ≫inkonsistent≫ seien, und daß der Widerspruch der Annahme eines ≫Zusammenseins≫ aller ihrer
Elemente sich nur noch nicht bemerkbar gemacht hätte? Meine Antwort hierauf ist,
daß diese Frage auf endliche Vielheiten ebenfalls auszudehnen ist und daß eine genaue
Erwägung zu dem Resultate führt: Sogar für endliche Vielheiten ist ein ≪Beweis≫ für
ihre ≪Konsistenz≫ nicht zu führen. Mit anderen Worten: Die Tatsache der ≪Konsistenz≫ endlicher Vielheiten ist eine einfache, unbeweisbare Wahrheit, es ist ≪das Axiom
der Arithmetik≫ (im alten Sinne des Wortes). Und ebenso ist die ≪Konsistenz≫ der Vielheiten, denen ich die Alefs als Kardinalzahlen zuspreche ≪das Axiom der erweiterten
transfiniten Arithmetik≫.
Meschkowski [103], S. 129f. oder Meschkowski und Nilson [104], S. ...
5.4. ANHÄNGE
291
Brief G. Cantors an R. Dedekind (31.08.1899)
Äquivalente ≪Mengen≫ wollen wir einer und derselben Mächtigkeitsklasse zuweisen,
nichtäquivalente Mengen verschiedenen Klassen, und wir betrachten das System
S aller denkbaren Klassen.
Unter a verstehe ich gleichzeitig die Kardinalzahl oder Mächtigkeit der Mengen der
betreffenden Klasse, welche ja für alle diese Mengen eine und dieselbe ist.
Ma sei irgendeine bestimmte Menge der Klasse a.
Ich behaupte, daß das völlig bestimmte wohldefinierte System S keine ≪Menge≫ ist.
Beweis. Wäre S eine Menge, so würde auch
T = ∑ Ma ,
diese Summe ausgeführt über alle Klassen a, eine Menge sein; es würde also T zu einer
bestimmten Klasse, wir wollen sagen zu der Klasse a0 gehören.
Nun besteht aber folgender Satz:
≪Ist M irgendeine Menge von der Kardinalzahl a, so läßt sich aus ihr stets eine andere
Menge M ′ ableiten, deren Kardinalzahl a′ größer ist als a.≫
Ich habe diesen Satz für die uns am nächsten liegenden Fälle, daß a gleich ℵ0 (Abzählbarkeit im gewöhnlichen Sinne des Wortes) und gleich c ist, wo c die Mächtigkeit des
arithmetischen Kontinuums bedeutet, durch ein gleichmäßiges Verfahren in dem ersten
Bande der Berichte der Deutschen Mathematikervereinigung bewiesen. Dieses Verfahren läßt sich ohne jegliche Schwierigkeit auf ein beliebiges a übertragen. Die Bedeutung
dieser Methode läßt sich einfach durch die Formel
2a > a
aussprechen.
Sei daher a′0 irgendeine Kardinalzahl, die größer ist als a0 . Es enthält alsdann T mit
der Mächtigkeit a0 als Teil die Menge Ma′0 von der größeren Mächtigkeit a′0 , was ein
Widerspruch ist.
Das System T, mithin auch das System S sind daher keine Mengen. Es gibt also bestimmte Vielheiten, die nicht zugleich Einheiten sind, d.h. solche Vielheiten, bei denen
ein reales ≪Zusammensein aller ihrer Elemene≫ unmöglich ist. Diese sind es, welche ich
≪inkonsistente Systeme≫, die anderen aber ≪Mengen≫ nenne.
292
KAPITEL 5. ARITHMETIK, MENGENLEHRE, UNVOLLSTÄNDIGKEIT
KAPITEL
6
Posthilbertsche Geometrien
6.1 Posthilbertsche Axiomatik
6.2 Anhänge
293
294
KAPITEL 6. POSTHILBERTSCHE GEOMETRIEN
6.2. ANHÄNGE
295
Noch einzuarbeiten
Kapitel 1
◦ die Beweise der Proposition 1.3, 1.4, 1.6, 1.7, 1.8, 1.10, 1.12, 1.14, 1.15,
1.16, 1.18, 1.19, 1.20, 1.21, 1.23, 1.24, 1.25, 1.27, 1.29, 1.30, 1.31, 1.33,
1.34, 1.36, 1.38, 1.39, 1.40, 1.42, 1.43, 1.44, 1.45, 1.46, 1.48 einarbeiten
◦ mehr Beweisskizzen, um einzelne Konstruktionsschritte zu verdeutlichen
◦ die Kommentare aus M. Simon [143] durcharbeiten und einarbeiten
◦ die Geschichte des Pythagoräischen Lehrsatzes einarbeiten, z.B. bei Neugebauer [112] beginnen
◦ den Weg der Elemente über den Orient einarbeiten, z.B. bei Busard [19]
beginnen
◦ Namensverzeichnis anlegen
◦ Sachverzeichnis anlegen
Kapitel 2
◦ weitere Modelle der nichteuklidischen Geometrie einbauen
◦ Namensverzeichnis anlegen
◦ Sachverzeichnis anlegen
Kapitel 3
◦ Sätze von Desargue, Pappos usw. und Beziehungen zur ebenen/räumlichen
Axiomatik
◦ Hilberts Streckenrechnung einbauen
◦ Vorwort aus Hilberts Vorlesung zur Projektiven Geometrie (1891) einbauen
◦ Hilberts elementargeometrische Konstruktionen aus ... einbauen
◦ Namensverzeichnis anlegen
◦ Sachverzeichnis anlegen
Kapitel 4
◦ das Symbol |= kommt von ...
◦ das Symbol ⊢ kommt von ...
◦ Tautologie ... Wittgenstein
◦ Namensverzeichnis vervollständigen
◦ Sachverzeichnis vervollständigen
Kapitel 5
Kapitel 6
KAPITEL 6. POSTHILBERTSCHE GEOMETRIEN
296
Allgemein
◦ Indexverzeichnis erstellen
◦ Namensverzeichnis erstellen
◦ Front pages sortieren
◦ Ein Kapitel über projektive Geometrie einbauen (von Staudt, Klein, Hilbert, Pasch)
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Arneth, A., 62, 66
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Dedekind, R., 90–93, 264
Deiser, O., 255
Desargue, G., 105, 145
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Dronke, A., 67
Bär, C., 103
Baltzer, R., 57, 63
Beck, M., 62
Becker, J.K., 58, 63, 68
Beckmann, J.M., 64
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Benzenberg, J.F., 60
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Brewer, J.F., 56
Burali-Forti, C., 264
Burk, F.E., 54
Ebensperger, J.L., 67
Efimov, N.W., 178
Enriques, F., 173
Eudemos von Rhodos, 41
Euklid, 7, 8, 11, 27, 30, 38, 41, 43, 44,
48, 49, 52, 74, 107, 127, 132,
134, 144, 150, 158–162, 170,
171, 174–178, 230
Fabian, O., 68
Fraenkel, A.A., 196, 255
Francoeur, L.B., 57, 61
Franz, C., 66
Frege, G., 173, 174, 242
Freudenthal, H., 113, 120, 132, 169, 171,
172, 174
C.F. Gauß, C.F., 49
Calvius, C., 171
Cantor, G., 87, 179, 255, 264
Carnot, N.L.S., 20
Gödel, K., 225
Garfield, J.A., 53
Gauß, C.F., 14, 20, 49–51, 78, 95, 99,
102, 111
307
308
Geminus, 20
Gerling, C.L., 49
Glaeser, G., 121
Graf, U., 103
Grassmann, H., 24, 151, 177
Grunert, J.A., 57, 67
Hallet, M., 124
Hallett, M., 106
Halmos, P.R., 255
Hartshorne, R., 89
Hausdorff, F., 255
Heath, T.L., 8–14, 16–21, 23, 25, 48,
51, 71, 79, 83, 94, 150, 176
Heger, R., 58
Heiberg, J.L., 8, 9
Heinz, C., 64
Helmes, J., 58, 63
Helmholtz, H. von, 62, 68
Henkin, L., 225
Henrici, J., 64
Herbrand, J., 226
Herbrandt, J., 214
Heron, 177
Hilbert, D., 11, 24, 51, 102, 105–109,
111, 114, 115, 120, 121, 124–
128, 130–132, 134, 136, 137,
139–142, 144–147, 149–154,
157, 162, 165, 166, 169–175,
177, 178, 181–183, 187, 189,
194
Hilbert, H., 264
Hildebrandt, S., 89, 181, 183
Hoch, J., 59, 65
Hoffmann, D.W., 188, 190–192, 197,
199, 206, 211, 212, 214, 226,
231, 236, 255
Hoffmann, J.C.V., 58
Hoppe, R., 151
Hoschek, J., 103
Hurwitz, A., 174
Ilgauds, H.J., 255
Kästner, A.G., 51, 55, 60
Kaiser, L., 64
NAMENSVERZEICHNIS
Kalmár, L., 243–250
Kant, I., 173
Klebe, S., 53
Kleene, S.C., 188, 194, 211, 214, 225,
230
Klein, F., 50, 171, 173
Kober, J., 63
Koecher, M., 147
Kommerell, F., 58
Kommerell, K., 151
Krieg, A., 147
Kries, F.C., 56, 60
Kruse, F., 68
Kunze, L., 66
Kupffer, K., 151
Laplace, P.S., 20
Latham, M.L., 89
Legendre, A.M., 20, 62, 71, 76, 132,
170, 171
Leibniz, G.W., 14, 27
Lindemann, F., 174
Lobatschewski, N.I., 95, 102
Lorenz, J.F., 20
Müller, E., 62, 67
Majer, U., 106, 124
Menger, J., 69
Meschkowski, H., 114, 115, 133, 255
Minding, F., 102
Mink, W., 64
Minkowski, H., 165
Mitschka, A., 71, 83, 84, 87, 89, 94,
137
Moufang,R., 175
Nilson, W., 255
Noether, E., 255
Padoa, A., 173
Pambuccian, V., 164
Pappos von Alexandria, 48, 105, 145
Pascal, B., 145, 150
Pasch, M., 11, 51, 91, 105, 108, 114,
155–159, 162, 169, 173, 174,
189
NAMENSVERZEICHNIS
Paucker, M.G. von, 56, 151
Peano, G., 11, 51, 105, 108, 162, 164,
169
Peletier, J., 177, 178
Pfleiderer, C.F., 56, 61, 65, 177
Pickert, G., 161
Pieri, M., 173
Playfair, 44
Playfair, J., 20, 26, 76
Poincaré, H., 71, 87, 175
Polthier, K., 121
Pontrjagin, L., 172
Posidonius, 20
Prestel, A., 164
Proklus, 25, 48, 177
Ptolemäus, 23, 40
Purkert, W., 255
Pythagoras, 26, 48, 52
Rüdenberg, L., 165
Rausenberger, O., 59, 69
Rautenberg, W., 225
Recknagel, G., 59, 65
Reger, R., 64
Reichardt, H., 95, 100
Reidt, F., 59
Reye, T., 105
Riemann, B., 173
Robbins, H., 121
Rosenthal, A., 109
Russel, B., 240
Russell, B., 173, 175, 177
Russell, R.B., 264
Saccheri, G., 51
Schlegel, V., 63, 68
Schopenhauer, A., 24, 54, 127, 251
Schotten, H., 55, 59
Schur, F., 147, 151
Schwabhäuser, W., 164
Schwarz, H.A., 97
Seidenberg, A., 14, 25
Simo, M., 17
Simon, M., 8–14, 16, 20, 21, 24, 25,
30, 38, 41, 54, 177
Simson, R., 13, 49, 111
309
Smith, D.E., 89
Spinoza, B., 174
Stäckel, P, 20
Stäckel, P., 51
Steck, M., 25, 48
Steiner, J., 61
Stillwell, J., 52
Strubecker, K., 103
Struik, D.J., 52
Swinden, J.H. van, 66
Szczerba, L.W., 164
Szczerbar, L.W., 164
Szmielew, W., 164
Tamari, D., 161
Tarski, A., 164, 172, 214
Tellkampf, A., 62
Thaer, C., 8, 9, 18, 19, 25, 71, 150, 177
Thales von Milet, 13, 29, 38
Thibaut, B.F., 66
Toepell, M., 106, 109, 121, 157, 174
Treutlein, P., 64
Ulrich, G.C.J., 57, 61, 66
Unger, E.S., 8–14, 16, 17, 21, 25
Vahlen, T., 170
van der Waerden, B.L., 121
Veblen, O., 164
Veronese, G., 173, 177
Vojtech, J., 151
von Danzig, D., 172
von Helmholtz, H., 173
von Schaper, H., 124
von Schaper, Hans, 187
Wagner, H., 63
Wallis, J., 20
Weierstraß, K., 87
Wernicke, A., 69
Weyl, H., 105
Whitehead, A.N., 108, 162
Wiener, H., 105, 174
Wolf, R.S., 188, 225, 255
Wolff, F., 57, 61, 65
Wußing, H, 7
310
Wußing, H., 29, 38, 102
Zassenhaus, H., 165
Zermelo, E.F.F., 264
Zeuthen, H.G., 38
Zoglauer, T., 188, 203, 204, 207, 208,
211, 239–241
Zormbala, K., 51
NAMENSVERZEICHNIS
Stichwortverzeichnis
modus barbara, 197
311