Beitrag von Bundesumweltminister Peter Altmaier: Die

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Beitrag von Bundesumweltminister Peter Altmaier: Die
politische bildung
Beiträge zur
wissenschaftlichen
Grundlegung und zur
Unterrichtspraxis
Energiewende
Mit Beiträgen von
Peter Altmaier
Christoph Gnau
Nils aus dem Moore
Dörte Ohlhorst
Christoph M. Schmidt
Sibyl D. Steuwer
Kerstin Tews
Frank Umbach
Forum:
Karola Braun-Wanke
Federführend
herausgegeben von
Johannes Varwick
1
Impressum
politische bildung
Beiträge zur wissenschaftlichen Grundlegung
und zur Unterrichtspraxis
Erscheint im 46. Jahrgang
Begründet von Walter Gagel
Herausgeber
Prof. Dr. Hans-Jürgen Bieling
Melanchthonstr. 36
72074 Tübingen
Prof. Dr. Peter Massing
Katteweg 25 a
14129 Berlin
Prof. Dr. Stefan Schieren
Steghäuser 3
85072 Eichstätt
Prof. Dr. Johannes Varwick
Fechnerstr. 18
10717 Berlin
Federführende Herausgeber für dieses Heft
Prof. Dr. Kerstin Pohl
Richardplatz 8
12055 Berlin
Johannes Varwick
Die fachwissenschaftlichen Beiträge durchlaufen ein board-review-Verfahren. Sie
werden von den Herausgebern angefragt und begutachtet. Für die Beiträge zur
„Unterrichtspraxis“ und das „Forum“ besteht ein fortdauernder „call for papers“. Die Beiträge werden in
einem double blind peer review-Verfahren von einem review-board begutachtet. Mitglieder dieses review­
boards sind Praktiker und Wissenschaftler: Antje Breit, Prof. Dr. Joachim Detjen, Philipp Elsen, Hans-Jürgen
Friedrichs, Prof. Dr. Thilo Harth, Prof. Dr. Ingo Juchler, Michael Kittler, Angela Kirsch, Prof. Dr. Hans-Werner
Kuhn, Dr. Michael May, Prof. Dr. Dagmar Richter, Jessica Schattschneider, Christoph Wagner, Prof. Dr. Georg
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Inhalt | pb 2/2013
INHALT
Energiewende
Johannes Varwick: Einleitung ............................................................................. 5
Peter Altmaier: Die Energiewende ist die größte umwelt- und wirtschafts­
politische Herausforderung zu Beginn des 21. Jahrhunderts ............................ 7
1. Die große Transformation
2. Die Dimension(en) der Energiewende
3. Wie wir das Generationenprojekt Energiewende zum Erfolg führen
4. Die Vision für die nächsten Jahrzehnte
Dörte Ohlhorst/Kerstin Tews: Deutschland als Laboratorium: Das Experiment Energiewende ........................................................................ 26
1. Einleitung
2. Herausforderungen der Umstellung des Energieversorgungssystems
auf erneuerbare Energien
3. Koordinationsbedarf im Mehrebenensystem
4. Gesellschaftliche Akzeptanz
5. Schlussfolgerungen
Sibyl D. Steuwer: Instrumente der Energiewende ............................................ 46
1. Einleitung
2. Instrumente zur Förderung erneuerbarer Energien
3. Das Europäische Emissionshandelssystem: CO2-Preis mit Signalwirkung?
4. Steuerung der Nachfrageseite: Instrumente für Energieeffizienz
5. Diskussion und Ausblick
Nils aus dem Moore/Christoph M. Schmidt:
Die Energiewende finanzierbar gestalten. Konsistente Ziele formulieren,
Entdeckungsprozesse ermöglichen, besonnene Umsetzung verfolgen ......... 72
1. Energiewende: Die Herausforderung
2. Politische Ziele und technische Herausforderungen
3. Elemente einer nationalen „Energiewendepolitik“
4. Einbettung der Energiewende in die EU-Energiepolitik
5. Fazit und wichtigste Handlungsempfehlungen
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politische bildung 2 | 2013
Frank Umbach: Die deutsche Energiewende in internationaler Perspektive ... 98
1. Einführung
2. Energiepolitik und Energiesicherheit als Querschnittsthema – Ist
Deutschland institutionell ausreichend für das Querschnittsthema
Energiesicherheit aufgestellt und vorbereitet?
3. Die globalen Dimensionen – Strategische Implikationen für die deutsche
Energiewende
4. Architekturfehler der Energiewende: Die fehlende europäische Dimension
und die Auswirkungen auf Deutschlands Nachbarn und die gemeinsame
Energiepolitik der EU
5. Zusammenfassung und Perspektiven
Unterrichtspraxis
Christoph Gnau: „Vorsicht Hochspannung!“ Die Energiewende als
Unterrichtsgegenstand in der Sekundarstufe II ............................................. 128
Buchbesprechungen
Sammelrezension zum Thema Energiewende
Peter Hennicke/ Manfred Fischedick: Erneuerbare Energien • Peter Hennicke/ Paul J.J. Welfens: Energiewende nach Fukushima. Deutscher Sonderweg oder weltweites Vorbild? • Thomas Kästner/ Andreas Kießling: Energie in 60 Minuten. Ein Reiseführer durch die Stromwirtschaft • Wolfgang Ströbele/Wolfgang Pfaffenberger/ Michael Heuterkes: Energiewirtschaft. Einführung in Theorie und Politik • Johannes Winterhagen: Abgeschaltet. Was mit der Energiewende auf uns zukommt (von Jana Windwehr) ................................................ 154
Fachwissenschaft
Kai Vogelsang: Geschichte Chinas (von Katharina Massing) ...........................................................
162
Fachdidaktik
Joachim Detjen/Peter Massing/Dagmar Richter/ Johannes Georg Weißeno: Politikkompetenz – ein Modell (von Andreas Brunold) ......................................................................
164
Forum
Karola Braun-Wanke: Lernen, die Welt neu zu denken. Nachhaltigkeit + Klimaschutz lernen an der Freien Universität Berlin ........... 170 Das aktuelle Thema
Gotthard Breit: Arm und Reich im Ungleichgewicht?! Zur Vorbereitung auf ein Thema im Bundestagswahlkampf 2013 ................. 186
Abstracts
..................................................................................................... 206 Autorinnen und Autoren ................................................................................. 209 4
Energiewende | Altmaier
Peter Altmaier, Jurist, ist seit 22. Mai 2012 Bundesminister
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Peter Altmaier
Die Energiewende ist die größte umwelt- und
wirtschaftspolitische Herausforderung zu Beginn
des 21. Jahrhunderts
Seit der Jahrtausendwende erleben wir den dramatisch beschleunigten Übergang von
der immer noch stark national geprägten Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts
in die globalisierte Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Unser Leben ver­
ändert sich immer schneller immer tiefgreifender – nicht zuletzt durch eine historisch
beispiellose Revolution unserer Kommunikationsformen im „digitalen Zeitalter“.
Paradoxerweise müssen wir zugleich erkennen: Gerade heute kommt es auf eine
Politik an, die nicht nur die nächsten Jahre, sondern die nächsten Jahrzehnte in den
Blick nimmt. Der Klimawandel, der demografische Wandel, die Umstellung unserer
Energiesysteme, die Eindämmung der dramatischen Verschuldung der öffentlichen
Haushalte, die politische Union des immer noch sehr heterogenen Kontinents Euro­
pa – das sind die großen Herausforderungen, die wir heute angehen müssen in dem
Bewusstsein, damit häufig irreversible Konsequenzen nicht für die nächsten Jahre,
sondern für die nächsten Jahrzehnte zu schaffen. Es kommt also gerade in unserer
extrem beschleunigten Zeit darauf an, das Prinzip der Nachhaltigkeit als politisches
Gestaltungsprinzip erstmals in seiner ganzen Tragweite zu erkennen und schrittweise
umzusetzen. Dazu gehören eine nachhaltige Staatsfinanzierung und nachhaltige
Organisation der Sozialversicherung ebenso wie eine nachhaltige Ressourcennutzung
und vor allem eine nachhaltige Energieversorgung.
1. Die große Transformation
Insbesondere an der Frage der Energieversorgung entscheidet sich, wie nachhaltig
wir insgesamt leben wollen, leben werden. Denn die Energiefrage war immer die
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politische bildung 2 | 2013
Kernfrage wirtschaftlicher Entwicklung. Das gilt heute ebenso wie zu der Zeit, als
vor gut zweihundert Jahren die Dampfmaschine erfunden und entwickelt wurde.
Wir müssen uns eingestehen: Die Weise, wie wir gegenwärtig Energie erzeugen und
nutzen, ist immer noch alles andere als nachhaltig. Immer noch folgen wir zu sehr
dem Wachstumsprinzip des 19. und 20. Jahrhunderts. Dieses Wachstum der Vergan­
genheit beruhte seit dem Beginn der Industrialisierung auf dem massiven Verbrauch
von Energie, von natürlichen und endlichen Ressourcen. Die einfache Logik lautete:
Je mehr verbraucht wurde, umso mehr Wohlstand gab es. Sie hat am Ende des 20.
Jahrhunderts noch einmal eine dramatische Dynamik erfahren. Die Weltwirtschaft
ist zügig gewachsen, der Welthandel hat sich seit der deutschen Wiedervereinigung
vervielfacht. Die letzten Jahrzehnte sind reich an faszinierenden Erfolgsgeschichten.
Doch die Kosten sind unübersehbar: Seit 1990 ist der weltweite Energieverbrauch um
fast die Hälfte gestiegen. Jahr für Jahr werden mehr Öl, Gas und Kohle verbrannt,
beschleunigt sich das Artensterben, versauern die Ozeane schneller. Der Klimawandel
ist schon heute spürbare Realität geworden, und wir müssen davon ausgehen, dass er
bald zu einem konkreten Risiko für die wirtschaftliche Entwicklung vieler Regionen
dieser Welt werden wird. Die ökologische Belastbarkeit unseres Planeten ist erreicht.
Wir wissen längst, dass wir mehr verbrauchen, als der Planet regenerieren kann. Das
liegt vor allem am weltweiten Bevölkerungswachstum. Heute haben wir schon eine
Weltbevölkerung von sieben Milliarden Menschen, bis 2050 werden es neun Milliarden
sein – Menschen, die alle den Anspruch auf Wohlstand, Bildung und Gesundheit
wie in den hochentwickelten Gesellschaften haben. Mit einem „Weiter so“ des alten,
auf kurzfristige Profite hin orientierten Wachstumspfads steuern wir angesichts dieser
Dynamik auf die Vernichtung unserer Lebensgrundlagen zu.
Allerdings: Verzicht auf Wachstum ist nicht die Lösung der Probleme des (post-)
industriellen Zeitalters. Auf allen Kontinenten ist eine Mittelschicht entstanden, die
den Wohlstand der hochindustrialisierten Länder auch für sich erreichen will. Wer will
es den jungen Menschen in China, in Brasilien, in Indien oder anderswo auf der Welt
versagen, ebenso ein Auto fahren, zu Hause eine Waschmaschine, einen Geschirrspüler,
einen Computer, einen Fernseher haben und Urlaub in anderen Ländern machen
zu wollen? Wir können uns dieser Wachstumslogik der globalisierten Märkte nicht
einfach entziehen. Das würde erhebliche Verluste sowohl an Wohlstand als auch an
politischer Gestaltungsfähigkeit nach sich ziehen.
Die entscheidende Aufgabe ist: Die Wirtschaft der Zukunft muss – und sie wird
– weitaus intelligenter und effizienter mit Rohstoffen und Ressourcen umgehen, als
wir das in der Vergangenheit getan haben. Die Energiewende im Zusammenspiel mit
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Energiewende | Altmaier
der digitalen Revolution steht für den Aufbruch in das Zeitalter einer „intelligenten“
Wirtschaft, die in der Lage sein wird, Wachstum zu schaffen, ohne die eigenen öko­
logischen Grundlagen zu zerstören. Es geht um eine Wirtschaft, die Wachstum vom
Verbrauch fossiler Rohstoffe und natürlicher Ressourcen entkoppelt. Wir werden dafür
„grüne“ Technologien entwickeln, die wir uns heute noch kaum vorstellen können –
so wie es vor 20 Jahren mit den Handys war. Ich erinnere mich noch gut: Groß wie
ein Brikett war das erste Mobiltelefon, das ich als junger Kommissionsbeamter vor
rund zwanzig Jahren in den Händen hielt und welches eine einzige Funktion hatte:
telefonieren – 20 Minuten lang, dann war der Akku erschöpft! Computer, globale
Vernetzung durch Internet und Mobiltelefonie – all das steckte Anfang der 90er
Jahre noch in den Kinderschuhen. Kaum jemand konnte sich damals vorstellen, dass
Mobiltelefone in so kurzer Zeit zu Hochleistungscomputern im Westentaschenfor­
mat werden würden, mit denen man sich in Sekundenschnelle das Wissen der Welt
erschließen kann, ganz gleich von wo!
Ohne Zweifel stehen wir bei dieser Entwicklung erst am Anfang. Noch immer
werden viel zu viele für das Klima schädliche Treibhausgase emittiert, noch sind die
Schäden an der Umwelt gravierend, ja verheerend. Noch gibt es zu viele Entschei­
der, die in Nachhaltigkeit und Umweltschutz einen Gegensatz zu Wachstum und
wirtschaftlicher Entwicklung sehen. Aber die geradezu exponentielle Dynamik der
technologischen Entwicklung gerade bei den Umwelt- und Energietechnologien ist
überaus verheißungsvoll. Sie ist vor allem deshalb verheißungsvoll, weil ein Mentali­
tätswandel erkennbar ist, der sie antreibt. Ich bin überzeugt, dass gerade die Erfahrung
der schärfsten Wirtschafts- und Finanzkrise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs
weltweit immer mehr Menschen die Augen dafür öffnet, dass eine nicht nachhaltige
Wirtschaftsweise keine Zukunft mehr hat. Immer mehr Menschen wollen diese
Transformation unserer Wirtschaft und erkennen, dass sie kein Verlust, sondern ein
Gewinn ist für mehr Wohlstand und Lebensqualität, für ein besseres Leben – mit
sauberer Energie, weniger Lärm, besserer Luft, gesünderer Ernährung, mit weniger
Flächenverbrauch, mit mehr Natur und Wasserflächen in unseren Städten, kurzum:
in einer intakten Umwelt. Gerade in einer Gesellschaft im demografischen Wandel
besinnen sich die Menschen immer mehr auf einen Wandel des Lebensstils: Weg vom
Prinzip des „Immer mehr“, „Immer schneller“, „Immer weiter“, „Immer individueller“
hin zu einem Leitbild der Balance und des Ausgleichs: Zwischen Arbeit und Freizeit,
zwischen Produktion und Konsum, zwischen individueller Selbstverwirklichung und
gemeinwohlorientiertem Engagement. Das zeigt sich auch politisch: Es ist ein Indiz
für diesen Wandel und auch ein großer Fortschritt, dass Umweltpolitik heute im
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politische bildung 2 | 2013
Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit hierzulande ein politisches Kernthema ist,
das Wahlen mitentscheiden kann.
Die Industrialisierung des 19. und 20. Jahrhunderts war geprägt durch den Gegensatz
von Technik und Umwelt. Die industrielle Moderne bedeutete in den meisten Fällen
die Zerstörung der gewachsenen Umwelt und Natur, die Vernichtung traditioneller
Lebensräume. Unter den Folgen haben wir lange gelitten und tun es teilweise noch
heute. Aber wir haben in den letzten Jahrzehnten gerade in Deutschland schon viel
für den Umweltschutz erreicht. Unsere Luft und unsere Gewässer sind viel sauberer
als noch in den 70er oder 80er Jahren. Umweltgifte wie Fluorkohlenwasserstoffe
oder verbleites Benzin sind verboten worden. Der Naturschutz hat große Fortschritte
gemacht. Heute haben wir die Chance, noch einen Schritt weiter zu gehen und nicht
nur die Folgen der technischen Eingriffe in unsere Umwelt zu „reparieren“, sondern
einen echten Paradigmenwechsel einzuleiten. Es geht darum, Technik und Umwelt
zu versöhnen und damit ein neues Kapitel der „Moderne“ aufzuschlagen – nicht mit
postmoderner Beliebigkeit, sondern mit dem klaren Ziel, das 21. Jahrhundert zum
Jahrhundert der Versöhnung von Ökonomie und Ökologie, von Technologie und
Umweltschutz, von technologischem Fortschritt und der Bewahrung der Schöpfung
zu machen. Die Energiewende ist das Leitprojekt dieser großen Transformation.
2. Die Dimension(en) der Energiewende
Deutschland hat sich 2010 entschlossen, seine Energieversorgung grundlegend umzu­
bauen. Denn sie ist der Kern einer Politik der Nachhaltigkeit. Mit der Energiewende
soll unser Land zum weltweiten Vorreiter einer Energienutzung ohne Öl und Kohle
werden. 2022 wird das letzte Kernkraftwerk vom Netz gehen. Damit geht das Zeitalter
der Kernenergie in Deutschland definitiv zu Ende. 2020 soll die Stromerzeugung
zu mindestens 35 Prozent, 2050 sogar zu 80-95 Prozent aus erneuerbaren Energien
stammen, also aus Wind, Sonne, Biomasse, Wasser und Erdwärme. Ferner wollen
wir den Primärenergieverbrauch bis zum Jahr 2050 um 50 Prozent gegenüber 2008
senken und den Anteil erneuerbarer Energien am Bruttoendenergieverbrauch bis
2050 auf 60 Prozent steigern. Hinter diesen Zielmarken verbirgt sich nichts weniger
als die größte wirtschaftspolitische Herausforderung seit dem Wiederaufbau und die
größte umweltpolitische Herausforderung überhaupt. Wenn die Energiewende gelingt,
wird Deutschland seine starke wirtschaftliche Stellung in der Welt für die nächsten
Jahrzehnte festigen und ausbauen und zugleich einen herausragenden Beitrag im
Kampf gegen den weltweiten Klimawandel leisten.
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Energiewende | Altmaier
DIE ÖKOLOGISCHE DIMENSION
Die wichtigste ökologische Dimension der Energiewende besteht im Kampf gegen
den Klimawandel. Der Klimaschutz ist nicht nur für das ökologische Gleichgewicht
auf unserem Planeten von elementarer Bedeutung, sondern ebenso für eine stabile
Weltordnung. Wir dürfen deshalb das Ziel, die Zwei-Grad-Obergrenze für einen
wirksamen Klimaschutz einzuhalten, nicht aufgeben. Wenn die Erderwärmung unge­
bremst fortschreitet und auf vier, fünf oder sechs Grad steigt, dann wird das Leben auf
der Erde, wie wir es heute kennen, nicht mehr möglich sein. Die Zerstörung unserer
Lebensräume wäre die Folge – und damit eine Welt großer Konflikte und Kriege
um immer knappere Ressourcen, d.h. eine Welt voller Instabilität, Unordnung und
Leid. Deutschland muss sich daher auch weiterhin mit allen diplomatischen Mitteln
einsetzen, zusammen mit seinen europäischen Partnern. Auf der Agenda steht noch
immer ein verbindliches Rechtsabkommen zur Begrenzung der Treibhausgasemissionen
im Rahmen des UN-Klimaschutzprozesses. Entscheidend ist: Es muss für alle Staaten
verbindlich sein und spätestens beim UN-Klimagipfel in Paris 2015 beschlossen
werden, denn wir brauchen ein stabiles System des fairen Interessenausgleichs für
globalen Klimaschutz.
So wichtig ein Rechtsabkommen ist: Erfolgreich wird Klimaschutz nur sein, wenn
wir bei den neuen Umwelt- und Energietechnologien vorankommen. Die Chancen
sind da: 2050 könnten die erneuerbaren Energien nach Berechnungen des Weltkli­
marats fast 80 Prozent des globalen Energiebedarfs abdecken, technisch gesehen sogar
ein Vielfaches. Das wäre ein immenser Fortschritt auf dem Weg für eine nachhaltige
Energieversorgung weltweit und damit auch für den Klimaschutz. Und die Signale sind
ermutigend. Immerhin ist der Ausbau der erneuerbaren Energien längst ein globaler
Megatrend. Etwa 120 Staaten haben sich bis heute nationale Ausbauziele für erneuerbare
Energien gegeben – mit Folgen: Erstmals wurden 2011 weltweit mehr Wind- und
Solarparks, Wasserkraftwerke und Biogasanlagen errichtet als Kohlekraftwerke. Wer
hätte das noch vor fünf oder zehn Jahren für möglich gehalten? Wer hätte gedacht,
dass heute, nimmt man alle Länder zusammen, über 3,5 Millionen Menschen in der
Branche der erneuerbaren Energien Arbeit finden würden?
Aber diese Entwicklung ist kein Selbstläufer. Es muss Vorreiter geben, an denen sich
andere orientieren. Deutschland muss hier seine Rolle als industrielles Hightechland
erfüllen. Um Deutschlands Vorreiterrolle gerecht zu werden, hat sich die Bundesre­
gierung in ihrem Energiekonzept das Ziel gesetzt, die Treibhausgasemissionen um
bis zu 95 Prozent bis 2050 zu senken. Das ist keine Utopie. Wir haben jetzt schon
einiges erreicht: Das deutsche Bruttoinlandsprodukt steigt seit Jahren – bei sinken­
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politische bildung 2 | 2013
den Treibhausgasemissionen und weniger Energieverbrauch: So ist es gelungen, die
Energieproduktivität der deutschen Wirtschaft seit der Wiedervereinigung um fast
40 Prozent zu steigern; bei der Rohstoffproduktivität waren es sogar rund 47 Pro­
zent – und gleichzeitig haben wir unsere Treibhausgasemissionen um 26,5 Prozent
senken können, mehr als das Kyoto-Protokoll vorgegeben hat!
Zur Vorreiterrolle Deutschlands gehört auch, gerade die Schwellen- und Entwick­
lungsländer beim Ausbau der erneuerbaren Energien noch stärker zu unterstützen,
denn immer noch sind 1,4 Milliarden Menschen in den Entwicklungsländern
an keinerlei Energieversorgung angeschlossen. Ihnen fehlt damit der elementare
Zugang zu wirtschaftlicher Entwicklung und mehr Lebensqualität. Hier können
die erneuerbaren Energien einen ganz zentralen Beitrag für mehr Gerechtigkeit in der
Einen Welt leisten – zumal gerade der globale Ausbau der erneuerbaren Energien zu
einer bedeutsamen Reduktion der Kosten für die technischen Anlagen führt. Wenn
es Deutschland gelingt, in den nächsten 30 Jahren sein System der Energie- und
Stromversorgung im Wesentlichen auf erneuerbare Energien umzustellen und dabei
wettbewerbsfähig zu bleiben und seine Position noch auszubauen, dann wird dieses
Modell von vielen Ländern weltweit übernommen und kopiert werden. Und es gibt
viele Gegenden in der Welt, wo der Wind noch heftiger weht und die Sonne noch
intensiver scheint als in Deutschland. Wir haben eine Verantwortung dafür, dass wir
dazu beitragen, dass diese umweltverträglichen Technologien weltweit eine Chance
haben. Ich bin überzeugt: Ein solcher technologischer Fortschritt wird auch nicht ohne
Folgen für die zukünftigen Verhandlungen um ein neues Weltklimaabkommen bleiben.
DIE ÖKONOMISCHE DIMENSION
Wenn wir uns die globale Dimension vor Augen halten, dann wird zugleich die
ökonomische Dimension der Energiewende greifbar. Der engen Verbindung von
Ökonomie und Ökologie gehört die Zukunft. Die Energiewende als Kern dieser
Transformation bietet die Chance, den alten und falschen Gegensatz von Umwelt und
Wirtschaft zu überwinden. Eine große und moderne Volkswirtschaft wie die deutsche
kann auf Dauer nur florieren, wenn sie umwelt- und ressourcenschonend arbeitet.
Umgekehrt kann ambitionierter Umweltschutz nur gelingen, wenn auch Wirtschaft und
Unternehmen dafür gewonnen werden und wenn der Standort Deutschland dadurch
im Ergebnis gestärkt und nicht geschwächt wird. Gerade weil unsere umwelt- und
energiepolitischen Ziele zu Recht ehrgeizig und anspruchsvoll sind, bedürfen sie einer
besonders sorgfältigen Prüfung im Hinblick auf ihre möglichen Auswirkungen auf
Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze. Der künftige Erfolg des Industriestandorts
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Energiewende | Altmaier
Deutschland wird am Erfolg der Energiewende gemessen werden. Würde sie miss­
lingen, hätte dies erhebliche Folgen für Wohlstand, Wachstum und Beschäftigung.
Die Herausforderungen sind groß, aber ebenso die Chancen: Wir machen uns
damit erstens unabhängiger von Energieimporten. Das ist besonders wichtig, weil die
deutsche Wirtschaft gerade im internationalen Vergleich in ihrer Produktion über­
durchschnittlich abhängig von Energieimporten und damit besonders verwundbar
bei steigenden Öl- und Gaspreisen ist. Allein durch den Ausbau der erneuerbaren
Energien können wir schon heute unsere Abhängigkeit von fossilen Energieimporten
deutlich mindern. Allein 2011 haben wir dadurch rund sechs Mrd. Euro gespart und
hatten stattdessen Wertschöpfung im eigenen Land.
Gleichzeitig erreichen wir mit der Energiewende zweitens einen viel höheren Grad
an Energie- und Ressourceneffizienz. Und die wird für die Wettbewerbsfähigkeit unserer
Unternehmen immer wichtiger. Im produzierenden Gewerbe machen die Energie- und
Rohstoffkosten fast die Hälfte der gesamten Produktionskosten aus, die Arbeitskos­
ten belaufen sich dagegen nur auf knapp 20 Prozent. Die Nachfrage danach wird
angesichts der wachsenden Weltwirtschaft weiter dramatisch zunehmen. Der Anstieg
der Preise ist unverkennbar: 2010 sind bei uns die Rohstoffpreise in Deutschland um
40 Prozent gestiegen. 2011 war das teuerste Öljahr in der Geschichte. Aber es geht
nicht nur um Preise, es geht vor allem um Verfügbarkeit. Wir wollen Industrieland
bleiben. Wir brauchen dringend Mengenmetalle wie Eisen, Stahl, Aluminium oder
Kupfer. High-Tech-Produkte erfordern Technologie- und Edelmetalle wie seltene
Erden, Indium, Lithium, Tantal oder Gold. Aber wir erleben Versorgungsengpässe,
auch durch Exportbeschränkungen, etwa bei seltenen Erden. Deutschland ist als
rohstoffarmes Land durch seine Importabhängigkeit verwundbar. Ein intelligenter
Umgang mit dem Rohstoffbedarf in der Produktion und ein intelligenter Einsatz von
Rohstoffen aus dem Recycling werden damit zu einer Kernfrage für wirtschaftliche
Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit. Die Rohstoffquelle unseres Landes ist unser
Technologievorsprung
Die Energiewende bietet damit drittens die Chance, unseren Wohlstand durch
Innovationsfähigkeit nachhaltig zu behaupten bzw. zu steigern. Das ist von großer
Bedeutung, denn wir stehen vor einer neuen Welle der industriellen Innovation. Wir
müssen uns eingestehen, dass wir Europäer die vergangenen beiden großen Innova­
tionswellen – die Unterhaltungselektronik in den sechziger und siebziger Jahren und
die digitale Revolution seit den neunziger Jahren – nicht so erfolgreich genutzt haben
wie Japan bzw. die USA. Umso mehr kommt es darauf an, dass Europa jetzt die neue
Innovationswelle der Energie- und Umwelttechnologien anführt. Und wenn man die
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politische bildung 2 | 2013
Medien aufmerksam verfolgt, wird schnell klar, dass hier die Zukunftsvisionen des
21. Jahrhunderts liegen: „Fliegende Kraftwerke sollen Windenergie ernten“, „Fenster
verwandeln sich in Kraftwerke“, „Dehnbare Solarzellen schaffen eine neue Super­
haut“, „Erster Solar-Wäschetrockner der Welt“, „Bakterien produzieren Kunststoff“,
„Enzyme verwandeln Abfall in Rohstoffe“, „Strom auf dem Balkon selbst erzeugen“,
„Hochhäuser werden zu Gewächshäusern“ – das sind nur einige Überschriften von
Nachrichten aus der Zukunft, die ich mir bei meiner täglichen Zeitungslektüre notiert
habe. Sie wirken wie Science Fiction, doch sie werden heute schon erforscht oder sogar
in neue Verfahren und Produkte umgesetzt. Wer sich mit solchen Innovationen näher
befasst, bekommt eine Ahnung von den großen und zugleich faszinierenden Innovati­
onsmöglichkeiten, etwa durch die Entwicklung energieeffizienter Antriebstechniken,
durch Technologien für energieeffiziente Gebäude, durch die Weiterentwicklung der
Entsorgungswirtschaft hin zu einer echten Kreislaufwirtschaft. Gebündelt findet sich
das in neuen Stadtkonzepten wie der visionären Öko-Stadt Masdar City im Emirat
Abu Dhabi, konzipiert von Sir Norman Foster. Diese Stadt der Zukunft soll ohne
Autos auskommen, keine Treibhausgase emittieren, keine Müllhalden benötigen, ihren
eigenen Strom produzieren und ganz auf fossile Brennstoffe verzichten können. Das
ist eine kühne Vision. Wann und wie sie umgesetzt werden kann, wird sich zeigen.
Aber wir brauchen solche Visionen. Sie weisen den Weg in ein neues Zeitalter.
Das 21. Jahrhundert wird im Zeichen dieser Green Economy stehen – einer
Wirtschaft, die aus ökonomischen wie ökologischen Gründen Emissionen reduziert,
Stoffkreisläufe schließt und konsequent auf Effizienz und erneuerbare Energien setzt.
Kein Wunder, dass sich das Weltmarktvolumen auf diesen Zukunftsmärkten allein in
den nächsten zehn Jahren verdoppeln wird, mit Wachstumsraten zwischen fünf und
sechs Prozent pro Jahr! Und deutsche Unternehmen sind auf diesem Gebiet führend.
Sie haben heute schon mit rund 16 Prozent den relativ größten Weltmarktanteil.
Hier entstehen die Arbeitsplätze von morgen – derzeit sind in Deutschland schon
fast zwei Millionen Erwerbstätige in „Green Jobs“ beschäftigt. Allein im Bereich
der erneuerbaren Energien sind bis 2011 rund 380 000 Arbeitsplätze entstanden.
Ich wünsche mir, dass gerade die jungen Menschen in unserem Land die Chancen
erkennen, die hier für ihre berufliche Zukunft liegen. Die Politik unterstützt das mit
Nachdruck, indem sie verstärkt in Wissenschaft, Forschung und neue Studiengänge
investiert. Deshalb hat die Bundesregierung u.a. gerade das 6. Energieforschungspro­
gramm mit 3,4 Milliarden Euro für die Zeit bis 2014 um rund 75 Prozent gegenüber
der vergangenen Förderperiode aufgestockt. Aber auch die Wirtschaft ist gefordert,
noch mehr in die Forschung zu investieren und noch enger mit Hochschulen und
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Energiewende | Altmaier
Forschungsinstituten zusammenzuarbeiten. Von dieser Kooperation wird der Erfolg
der Energiewende ganz wesentlich abhängen.
DIE TECHNOLOGISCHE DIMENSION
Die Energiewende ist eine strategische Entscheidung für Technologieführerschaft
und für Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes im globalen Wettbewerb. Sie hat
damit eine zentrale technologische Dimension. Man kann sich das ein bisschen wie
eine Bergwanderung vorstellen. Ohne gute Ausrüstung und Vorbereitung wird der
Gipfelsturm nicht gelingen. Und die Aufgabe ist durchaus mit einem Gipfelsturm zu
vergleichen. Denn es geht darum, dass sich der Charakter der Erneuerbaren grund­
legend ändert – von einem Nischenprodukt zum Hauptträger der Energie in einem
Hochindustrieland. Das geht nicht mit Schnellschüssen. Das braucht auch Zeit,
Geduld, gute Vorbereitung und vor allem viel Kreativität. Und man muss offen sein
für alles Neue und Unvorhergesehene.
Die gute Nachricht ist: Wir sind schon weiter als das Basislager. Schon heute stammt
rund ein Viertel unseres Stroms aus Wind, Sonne, Biomasse oder Wasser. Das ist ein
Anstieg von 17 auf fast 25 Prozent allein seit 2010. Heute schon kann Deutschland
an sonnigen und windreichen Tagen seinen Strombedarf zu großen Teilen aus erneu­
erbaren Energien decken, selbst zu Zeiten der Spitzenlast um die Mittagszeit. Und
nur durch den Zubau bei Photovoltaik- und Windkraftanlagen war Deutschland
selbst im letzten Winter Nettostromexporteur – trotz Abschaltung der Hälfte der
Kernkraftwerke. Damit sind die Erneuerbaren zur zweitwichtigsten Stromquelle nach
der Braunkohle geworden. Bleibt es bei diesem Tempo, könnten wir bereits in drei
Jahren unseren Strombedarf zu einem guten Drittel aus erneuerbaren Energien decken.
Das zeigt, welche Dynamik in der Entwicklung der erneuerbaren Energien steckt.
Auch wenn wir schon einiges geschafft haben: Es liegen noch große technologische
Herausforderungen vor uns, zum Beispiel bei den Technologien. Ein gutes Beispiel
ist die Offshore-Windkraft. Hier müssen größte technologische Herausforderungen
gemeistert werden, denn die neuesten Windräder sind nicht nur teilweise so hoch wie
der Kölner Dom, sondern müssen bei einem Gewicht von 1000 Tonnen pro Anlage
auch noch auf den Zentimeter genau in den Meeresboden gerammt werden – was
für eine technische Leistung!
Außerdem wird der Übergang zu den erneuerbaren Energien nur gelingen, wenn
die Infrastruktur der Energieversorgung massiv ausgebaut wird. Wir brauchen neue
Hochspannungsleitungen von Nord nach Süd, „intelligente Netze“ und neue Spei­
chertechnologien. Nur dann schaffen wir die notwendige Versorgungssicherheit. Eine
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politische bildung 2 | 2013
verlässliche Stromversorgung ist das A und O in einem hochindustrialisierten Land wie
Deutschland. Man muss sich vor Augen halten: Würde der Strom in Deutschland nur
für eine Stunde ausfallen, würde das nach wissenschaftlichen Berechnungen Kosten
in Höhe bis zu 750 Millionen Euro verursachen. Gerade unsere besonders wichtigen
Branchen wie der Fahrzeug- und Maschinenbau oder die Chemieindustrie wären
davon überdurchschnittlich stark betroffen. Versorgungssicherheit zu bezahlbaren
Kosten muss deshalb oberste Priorität haben. Die Entscheidung der Bundesregie­
rung, 2011 nach dem Reaktorunfall von Fukushima acht von 17 Kernkraftwerken
vorzeitig abzuschalten, stellt ohne Zweifel das Stromversorgungssystem auf die Probe,
insbesondere im Süden unseres Landes, weil hier die Abhängigkeit von der Kernkraft
höher war und ist als im Norden. Wir müssen daher unseren Spitzenplatz in punkto
Versorgungssicherheit mit höherem technologischem Aufwand sichern als bisher.
Darum müssen wir jetzt mit höchster Priorität dafür für die Übertragung des Stroms
aus fluktuierenden Quellen in die Verbrauchszentren sorgen, d.h. wir brauchen ei­
nen beschleunigten Bau von Leitungen, die mit einer neuen Netztechnologie große
Mengen Windstrom verlustarm vom Norden Deutschlands in die Wirtschaftszentren
im Westen und Süden transportieren. Das erfordert auch, innovative Technologien
(wie z.B. Hochspannungsgleichstromübertragung oder Erdkabel) zu nutzen. Mit dem
Bundesnetzentwicklungsplan 2012 hat die Bundesregierung jetzt Prioritäten für den
Ausbau des 35 000 Kilometer langen Übertragungsnetzes gesetzt.
Dabei geht es nicht um Quantität, sondern vor allem um Qualität. Nicht nur die
Stromerzeugung war früher zentral und linear, auch die Netze waren es: Von großen
Blöcken ging es über die verschiedenen Spannungsebenen hin zum Verbraucher. Dabei
kann und soll es nicht bleiben: Flexibilität ist die große Anforderung an das Netz
der Zukunft sowohl bei der Einspeisung als auch beim Verbrauch. Dazu müssen wir
Intelligenz ins Netz bringen! Was früher bei der Unterhaltungselektronik geschehen
ist, muss jetzt bei den Netzen geschehen: IT wird unsere Stromnetze in eine andere
„Bewusstseinsebene“ katapultieren. „Schlaue Netze“ werden die Nervenstränge des
Energiesystems 2.0 sein. Der schwarze Stromzähler im Keller wird der Vergangenheit
angehören. An seine Stelle müssen computergesteuerte Endgeräte treten, die die Last
dann abrufen, wenn die Preise am günstigsten sind. Dazu brauchen wir dezentrale
Stromspeicher und hochflexible Kraftwerke, die es ermöglichen, den Strom zu ver­
brauchen, wenn er produziert wird – und die Schwankungen durch die erneuerbaren
Energien schnell und intelligent ausgleichen können.
Große technologische Herausforderungen, aber auch Chancen für weltweite
Technologieführerschaft liegen aber nicht nur auf dem Gebiet der Energieerzeugung,
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Energiewende | Altmaier
sondern besonders auch der Energienutzung. Mehr Energieeffizienz ist das zweite
Standbein der Energiewende. Das Ziel muss sein, Deutschland zu einer der effizientesten
Volkswirtschaften der Welt zu machen. Das bedeutet, den Stromverbrauch deutlich
zu reduzieren und den Wärmebedarf in Gebäuden erheblich zu senken. Ein ganz
entscheidender Schlüssel für die Energiewende ist deshalb die Gebäudesanierung und
der Einsatz effizienter Haustechnik. Denn der Gebäudebereich repräsentiert rund 40
Prozent des Endenergieverbrauchs und erzeugt mehr als ein Drittel der CO2-Emissionen
in Deutschland. Gerade hier wird noch immer viel zu viel Energie verschwendet.
Deshalb fördert die Bundesregierung die Gebäudesanierung mit Nachdruck, zumal sie
auch ein echtes Konjunkturprogramm für die deutsche Wirtschaft und insbesondere
das mittelständische Handwerk ist. Oder nehmen wir die Industrie: In Deutschland
könnten mehr als 100 Mrd. Kilowattstunden pro Jahr eingespart werden – 70 Mrd.
davon allein durch energieeffiziente Produkte bei Antrieben, Beleuchtung, bei Kühlund Gefriergeräten. Auch hier müssen wir besser werden. Mehr Energieeffizienz heißt
aber auch, den Endenergieverbrauch des Verkehrs erheblich zu senken. Dafür muss
die Effizienz der konventionellen Fahrzeuge deutlich erhöht, aber vor allem der Schritt
hin zu alternativen Antriebstechnologien getan werden. Die Elektromobilität bietet
dabei gleich drei Chancen: Erstens macht der Betrieb von Fahrzeugen mit erneuerbaren
Energien diese zu Nullemissionsfahrzeugen. Zweitens reduzieren Elektrofahrzeuge
unsere Abhängigkeit von Ölimporten. Und drittens können die Fahrzeuge langfristig
als Stromspeicher und zur Systemstabilität und damit zur Integration der erneuerbaren
Energien genutzt werden.
DIE POLITISCHE DIMENSION
Wenn die Energiewende in ihrer ganzen Komplexität ein Erfolg werden soll, liegt es
auf der Hand, dass ihre Organisation und Durchführung eine gesamtstaatliche und
gesamtgesellschaftliche Aufgabe erster Ordnung ist, die auf der politischen Agenda
nach der Staatsschuldenkrise zu Recht den nächstwichtigen Platz beansprucht. Sie
eröffnet damit aber auch die Chance, den Primat des Politischen gerade in Zeiten der
Wirtschafts- und Finanzkrise zurückzugewinnen – in Zeiten, in denen Politik vielfach
nur noch als von globalen Märkten „getrieben“ erscheint und damit zunehmend unter
Legitimationsdruck steht. Mit der Energiewende kann so politische Gestaltungsmacht
zurückgewonnen werden. Dabei muss der Grundsatz zur Geltung kommen, dass das
Gemeinwohl wichtiger ist als Partikularinteressen. Und dass die Politik in der Lage
ist, ihre Entscheidungen langfristig auszurichten.
Das gilt insbesondere für die Frage der Endlagerung hochradioaktiver Abfälle. Wir
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politische bildung 2 | 2013
dürfen die damit zusammenhängenden Probleme nicht den kommenden Generati­
onen aufbürden, sondern die Generation, die diese Probleme verursacht hat, muss
jetzt auch ihrer Verantwortung gerecht werden. Es ist ein großer Fortschritt, dass sich
jetzt Bund und Länder über Parteigrenzen hinweg darauf verständigt haben, die Suche
nach einem Endlager im gesamtgesellschaftlichen Konsens zu lösen. Damit bietet sich
die historische Chance, den seit Jahrzehnten bestehenden Konflikt um ein atomares
Endlager zu beenden. Mit dem Standortauswahlgesetz wird es erstmals ein gesetzlich
geregeltes, von einer pluralistisch besetzten Kommission vorbereitetes Verfahren geben,
um den nach wissenschaftlichen Kriterien sichersten Ort für ein atomares Endlager
in Deutschland zu erkunden.
Die politische Dimension der Energiewende wird in Zukunft aber nicht nur
auf nationaler, sondern in einem immer stärker integrierten Europa vor allem auf
europäischer Ebene liegen. Hier müssen wir unsere Gestaltungsmacht weiter stärken
und entfalten. Gerade auf dem Gebiet der Energiepolitik brauchen wir mehr Euro­
pa, nicht weniger. Eine engere europäische Kooperation in ganz Europa bietet die
Chance, neben einem wirksamen Klimaschutz auch mehr Versorgungssicherheit bei
zugleich geringeren Kosten zu erreichen. Dafür muss Strom frei in Europa gehandelt
werden können, um Angebot und Nachfrage optimal aufeinander abstimmen zu
können. Voraussetzung dafür ist, den Energiebinnenmarkt weiter zu entwickeln
und vor allem den Netzausbau europaweit voranzubringen. Denn wir haben noch
nicht die Infrastruktur, um größere Mengen Strom aus erneuerbaren Energiequellen
innerhalb Europas reibungslos transportieren zu können. Diese Infrastruktur müssen
wir Europäer gemeinsam so zügig wie möglich ausbauen.
Darüber hinaus müssen wir den europäischen Emissionshandel wieder stärken, denn
er ist das wichtigste Instrument für Fortschritte beim Klimaschutz: es gibt Treibhaus­
gasemissionen einen Preis, indem die Unternehmen Zertifikate für die Emission von
Treibhausgasen erwerben müssen. Wer weniger ausstößt, kann an andere verkaufen
und macht Gewinn. Das EU-Emissionshandelssystem war lange sehr erfolgreich und
hat mit dazu beigetragen, dass wir unsere Treibhausgasemissionen nicht nur seit 1990
um über ein Viertel reduziert haben, sondern zugleich Technologieführerschaft gesi­
chert haben, indem wir Innovationen für mehr Energieeffizienz in den Unternehmen
vorangebracht haben. Dieser Erfolg war auch der Grund, warum das System weltweit
mit großem Interesse verfolgt und vielerorts bereits kopiert worden ist. Gegenwär­
tig ist das System aber weitgehend wirkungslos geworden, weil die Preise drastisch
gesunken sind. Wir brauchen aber wieder höhere Preise, damit das System wieder
funktioniert. Hier muss die Politik mutig eingreifen und die Menge der Zertifikate
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Energiewende | Altmaier
nachhaltig reduzieren, damit die Preise wieder steigen und sich Klimaschutz wieder
für die Unternehmen lohnt.
DIE GESELLSCHAFTLICHE DIMENSION
Mit der politischen Dimension der Energiewende ist eine wichtige gesellschaftliche
Dimension verbunden. Jahrzehntelang hat gerade die Energiepolitik die Gesellschaft
wie kaum ein anderes Thema politisch gespalten. Sie wurde wie kein anderes Politikfeld
zum Symbol eines Fortschrittsverständnisses, das in den 70er Jahren immer mehr in
die Krise geriet. Ein quantitativer Fortschrittsbegriff war an sein Ende gekommen.
Immer mehr Menschen spürten, dass dessen Kosten und Risiken immer sichtbarer
wurden: verpestete Luft, verseuchte Gewässer, chemisch belastete Nahrungsmittel,
immer hektischere und lautere Städte, zerstörte Wälder und dramatische Umweltkata­
strophen, für die die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986 zum Symbol geworden
ist. Aus der Wohlstandsgesellschaft war die „Risikogesellschaft“ geworden, aus dem
Versprechen von Sicherheit das Gefühl, die Zukunft des Planeten zu verspielen. Es
entwickelte sich eine Sehnsucht nach neuen Lebensweisen im Einklang mit der Natur,
nach „post-materialistischen“ Lebensformen statt Verschwendung, nach dem Ende
einer Wachstumslogik, die Lebensqualität nicht mehr steigerte, sondern eher in Frage
stellte. Die Kontroverse um die Nutzung der Kernenergie wurde in ihrer Heftigkeit zum
Symbol für diese Spaltung, die die deutsche Gesellschaft über Jahrzehnte geprägt hat.
Der Riss ging tief. Aber wir haben heute die Chance, diese Spaltung der Gesellschaft
dauerhaft zu überwinden. Dass Bundestag und Bundesrat die Energiewende 2011
fast einstimmig beschlossen haben, ist dafür ein ganz wichtiges Signal ebenso wie die
Tatsache, dass die ganz große Mehrheit der Bevölkerung hinter der Energiewende
steht und ihre Ziele fast uneingeschränkt befürwortet.
Mit diesem neuen nationalen Konsens verbindet sich auch eine echte Chance für
mehr Demokratie und Bürgerbeteiligung. Wenn die Energiewende ein Erfolg werden
soll, muss deshalb auch insbesondere die Planung großer Infrastrukturprojekte in
Zukunft stärker zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern erfolgen, nicht gegen
sie. Es muss um echte Mitwirkungsrechte und ein Klima gegenseitiger Gleichberech­
tigung gehen. Und Bürgerbeteiligung muss so früh einsetzen wie möglich, damit gar
nicht erst verhärtete Fronten entstehen, damit gleich alle Alternativen auf den Tisch
kommen. Dass das neue Netzausbaubeschleunigungsgesetz die Bürgerinnen und
Bürger schon bei der Planung im Vorfeld einbindet, ist ein wichtiges Signal in diese
Richtung. Bürgerbeteiligung muss auch – gleich, ob formalisiert oder informell –
immer transparent sein. Hier verspreche ich mir viel von den neuen Social Media.
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politische bildung 2 | 2013
Weil das Generationenprojekt Energiewende alle betrifft, ist es aber auch so
wichtig, dass alle die Chance bekommen, sich daran zu beteiligen – und das nicht
nur politisch, sondern auch ökonomisch. Die Kosten der Energiewende sind über die
Strompreise sehr gleichmäßig auf die Stromverbraucher verteilt. Die Möglichkeiten
zur Wertschöpfung sind aber bislang nur wenigen vorbehalten. Das müssen wir än­
dern, zum Beispiel, indem wir das genossenschaftliche Prinzip stärken. Dieses Prinzip
der solidarischen Selbsthilfe und demokratischen Mitbestimmung aller Mitglieder
hat seit seiner Erfindung in der Mitte des 19. Jahrhunderts ganz neue Chancen der
Teilhabe geschaffen. Es hat damit viel zum Zusammenhalt der Gesellschaft beigetra­
gen – und entsprang übrigens schon damals dem Leitprinzip der Nachhaltigkeit: Die
steigenden Anforderungen an eine Landwirtschaft für immer mehr Menschen waren
nur dadurch zu lösen, dass Landwirte durch „Volksbanken“ und genossenschaftliche
Zusammenschlüsse günstige Kredite für Investitionen in eine ertragreichere und zu­
gleich nachhaltigere Bewirtschaftung erhielten. Auch im 21. Jahrhundert hat dieses
Prinzip nichts von seiner Aktualität und Attraktivität verloren. Bürgerwindparks und
Energiegenossenschaften machen vor, wie erfolgreich das bei der Energiewende funk­
tioniert, zumal die Nachfrage danach groß ist: Die Zahl der Energiegenossenschaften
hat sich allein im letzten Jahr auf 600 verdoppelt! Und warum soll das Prinzip der
Bürgerbeteiligung nur bei der Erzeugung von Energie funktionieren? Warum nicht
auch bei der Speicherung und vor allem beim Transport von Energie? Der Netzaus­
bau ist gegenwärtig die größte Herausforderung der Energiewende, aber auch eine
erhebliche Chance zur Wertschöpfung, gerade auf lokaler und regionaler Ebene. Wir
können den Erfolg der Bürgerwindparks und Energiegenossenschaften auf die Netze
ausweiten, zum Beispiel durch eine „Bürgerdividende“, mit der die Bürgerinnen
und Bürger durch eine Kapitalbeteiligung an den Investitionen in neue Netze direkt
profitieren können – mit einem attraktiven festen Zinssatz über eine lange Laufzeit.
Mehr Beteiligung heißt aber auch: Die Energiewende braucht das Engagement
jeder einzelnen Bürgerin, jedes einzelnen Bürgers. Es kommt auf jeden Einzelnen an,
wenn die Energiewende ein Erfolg werden soll. Das gilt insbesondere in Fragen der
Energieeffizienz, etwa beim Stromsparen jeden Tag im eigenen Haushalt oder bei der
energetischen Sanierung der eigenen Wohnung oder im Verkehr: Lieber einmal mehr
das Fahrrad oder die S-Bahn als das Auto zu nehmen, macht schon sehr viel aus, wenn
80 Millionen Menschen das Gleiche tun. Ich muss dabei immer daran denken, wie das
früher mit dem Abfall war. Lange wurde alles gedankenlos in eine Tonne geworfen.
Dann kam die Mülltrennung. Am Anfang brauchte das noch einige Zeit. Aber dann
wurden wir im Ausland geradezu berühmt für unsere Mülltrennung. Heute haben
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Energiewende | Altmaier
wir es geschafft, dass schon rund 65 Prozent aller Siedlungsabfälle recycelt werden.
Deshalb bin ich auch in punkto Energiewende sehr optimistisch. Wo ich auch hin­
komme, sehe ich: Es sind gerade die Bürgerinnen und Bürger, es sind die Kommunen,
es sind Genossenschaften und kleine und mittelständische Unternehmen, die in die
Energiewende investieren und sich hier engagieren.
Die Energiewende ist eine „Bewegung von unten“, eine Art „Graswurzelbewe­
gung“. Sie führt dazu, dass unsere Energieversorgung der Zukunft viel dezentraler
wird als bisher. Schon heute gibt es über 1,3 Millionen Stromerzeuger, d.h. allein
1,3 Mio. PV- und 23 000 Windkraftanlagen. Die Energieversorgung wird zugleich
mittelständischer strukturiert sein. Wir werden als großes Industrieland weiterhin
das Engagement großer Energieversorgungsunternehmen brauchen, aber es werden
sich auch viel mehr Mittelständler dort engagieren – vom Stadtwerk bis zum lokalen
Handwerker, der die erneuerbaren Energien vor Ort installiert und wartet. Und vor
allem: Die Energieversorgung der Zukunft wird sehr viel stärker durch die Verbraucher
gesteuert, weil sie nicht mehr nur passive Abnehmer sein werden. Der Verbraucher
wird in Zukunft mit intelligenten Zählern und intelligenten Leitungen selber bestim­
men, wann er welchen Strom zu welchem Preis beziehen will. Die Autonomie des
Verbrauchers wird so erheblich gestärkt. Auch dies bedeutet mehr gesellschaftlichen
Einfluss der Bürgerinnen und Bürger auf die Gestaltung von Politik und Wirtschaft
in unserem Land.
3. Wie wir das Generationenprojekt Energiewende
zum Erfolg führen
Wie bei jeder großen Herausforderung müssen wir die Energiewende mit großer Um­
sicht angehen. Das heißt: Die Umsetzung der Energiewende muss in jedem Augenblick
volkswirtschaftlich verantwortbar und damit bezahlbar sein, da sie sonst ihre eigene
Basis untergraben und zerstören würde. Dazu gehört auch, dass die Energiepreise in
Deutschland sich nicht von denen unserer hauptsächlichen Wettbewerber in anderen
Ländern gravierend und dauerhaft entkoppeln dürfen.
Ich habe zu Beginn das Bild der Bergwanderung benutzt. Um im Bild zu bleiben:
Ganz besonders wichtig ist mir, dass dabei keiner zurückbleibt. Das heißt: Energie darf
nicht zum Luxusgut für wenige werden, sondern muss für alle bezahlbar bleiben. Ich
will den Erfolg der Energiewende, aber nicht um jeden Preis. Und hier müssen wir
handeln, denn es lässt sich eine problematische Tendenz beobachten: Während die
Börsenstrompreise, die gerade für große Unternehmen so wichtig sind, in den letzten
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politische bildung 2 | 2013
Jahren konstant geblieben, zuletzt sogar gesunken sind, sind die Verbraucherstrom­
preise stark gestiegen. Grund für den Preisanstieg waren steigende Rohstoffpreise, aber
auch der Anstieg der Umlage aus dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Nach
diesem Gesetz hat, wer erneuerbare Energien anbietet, Vorrang bei der Einspeisung
und bekommt einen festen Preis. Die Kosten dafür werden über eine Umlage auf alle
Verbraucher umgelegt, wobei es für die energieintensive Industrie Begünstigungen
gibt, um ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht zu gefährden. Die Frage, wie die Kosten
sinnvoll verteilt werden sollen und welche Entlastungen für bestimmte Gruppen auch
in Zukunft notwendig sind, muss deshalb dringend angegangen werden. Denn allein
im letzten Jahr hat sich die EEG-Umlage wegen dramatisch fallender Börsenstrom­
preise um etwa 50 Prozent erhöht. Hier darf man nicht länger tatenlos zusehen. Die
Verbraucher, aber auch die vielen kleineren und mittleren Unternehmen müssen vor
unerwarteten Preissteigerungen geschützt werden. Und es kann auch nicht sein, dass
nur die Verbraucher und die kleineren und mittleren Unternehmen die steigenden
Stromkosten tragen.
Unbestritten ist, dass das EEG den Ausbau der erneuerbaren Energien höchst er­
folgreich vorangetrieben hat! Kein Wunder, dass dieses Gesetz in über 50 Ländern als
Blaupause für vergleichbare Regelungen dient. Aber wie das mit dem Erfolg manchmal
so ist: Ohne Anpassungen an den Wandel droht er in sein Gegenteil umzuschlagen.
In einer Situation, in der erneuerbare Energien keine zarten Pflänzchen mehr sind,
sondern einen Beitrag zum Strommix leisten, der weit größer ist als der der Kernkraft,
ist die Ausgangslage eine andere. Es geht einfach nicht mehr nur darum, den Ausbau
von erneuerbaren Energien anzutreiben, es geht um ungleich komplexere Aufgaben.
Ihnen wird das geltende EEG nicht gerecht, denn es ist allein auf den quantitativen
Ausbau der erneuerbaren Energien ausgerichtet und hat keinen Einfluss auf deren
qualitative Zusammensetzung, zeitliche Erzeugung, räumliche Verteilung oder ihr
Zusammenspiel mit den konventionellen Energien und dem Ausbau der Netze.
Wenn wir aus den Geburtsfehlern des EEG lernen, haben wir die große Chance,
eine wirklich zukunftsweisende Förderung der erneuerbaren Energien auf den Weg zu
bringen. Wenn wir auf Kostensenkung, Marktintegration und Innovationen setzen,
wird dies der Energiewende und der deutschen Industrie einen enormen Schub ge­
ben. Vor allem brauchen Bund und Länder eine gemeinsame Ausbaustrategie. Dabei
müssen die besten Standorte erschlossen werden, weil hier die Stromproduktion am
günstigsten ist. Außerdem kann es nicht länger sein, dass die Betreiber der ErneuerbareEnergien-Anlagen den größten Teil der Einspeisevergütung unabhängig davon erhalten,
ob das System ihren Strom aufnehmen kann oder nicht – zumal eine Unter- oder
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Energiewende | Altmaier
Übereinspeisung des naturgemäß fluktuierenden Stroms aus erneuerbaren Energien
die Stabilität des Stromnetzes und damit die notwendige Energieversorgungssicherheit
belastet. Schon heute müssen die Netzbetreiber weitaus häufiger steuernd eingreifen
als noch vor zwei oder drei Jahren. Die Stromversorgung in Deutschland ist stabil
und sicher wie in kaum einem anderen Land, aber wir müssen jetzt etwas dafür tun,
damit es auch in Zukunft so bleibt!
Ein „EEG 2.0“ muss aber vor allem darauf ausgerichtet sein, möglichst rasch die
Markt- und Wettbewerbsfähigkeit der erneuerbaren Energien herzustellen. Die Förde­
rung der erneuerbaren Energien darf nicht zur Dauersubvention werden. Der Erfolg
des EEG ist deshalb nicht daran zu messen, dass die Subventionen möglichst hoch und
möglichst lange bezahlt werden, sondern der Erfolg des EEG ist gegeben, wenn es sich
in Zukunft selbst abschafft – durch eine volle Integration der erneuerbaren Energien
in den Markt. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist, nicht mehr nur Prämien
und Vergütungssätze für die Produktion zu bezahlen, sondern auch einen Anreiz zu
geben, sich nach der Nachfrage zu richten. Wenn zum Beispiel Aluminiumhütten
oder Kühlhäuser dann intensiv produzieren, wenn der Strom von den Anbietern
preiswerter bereitgestellt wird, wird es möglich sein, die Energiepreise zu senken,
weil Angebot und Nachfrage flexibler aufeinander abgestimmt werden können. Mit
dem neuen EEG müssen zeitlich gestaffelte und quantifizierte Ausbauziele definiert
und gesetzlich festgeschrieben werden. Das schafft Verbindlichkeit, das führt zu In­
vestitions- und Planungssicherheit. Und wir sollten uns Zeit nehmen. Der Weg um
Umbau bis 2050 sollte in möglichst gleichmäßigen Schritten erfolgen, weil wir nur
so die Kosten des Umbaus unseres Energiesystems gleichmäßig über die Jahrzehnte
verteilen und nur so offen bleiben für Technologien, die es heute noch nicht gibt und
von deren Leistungsfähigkeit wir heute noch keine Vorstellung haben.
4. Die Vision für die nächsten Jahrzehnte
Mit der Energiewende wird sich unser Land auf faszinierende Weise verändern. Die
Häuser, in den wir leben und arbeiten, werden nicht nur sehr viel weniger Energie
benötigen. Sie werden von Energieverbrauchern zu Energieerzeugern werden – und
das miteinander verbunden in einem dezentralen und zugleich länderübergreifenden
„Energie-Internet“, gespeist aus vielen dezentralen Betreibern vom Einfamilienhaus
bis zum Stadtwerk. Wir werden mit Energie viel intelligenter umgehen können und
sie nur dann abrufen, wenn wir sie wirklich benötigen. Hohe Energiekosten werden
dann kein gesellschaftliches und wirtschaftliches Problem mehr sein. Und die Le­
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politische bildung 2 | 2013
bensqualität wird deutlich zugenommen haben. Auf unseren Straßen rollen dann z.B.
Elektrofahrzeuge, die keine Abgase mehr ausstoßen und vor allem leise sind. Man
wird wieder an Hauptstraßen wohnen können, ohne vom Massenverkehr gequält zu
werden. Das ist nur ein Ausschnitt aus einer Lebenswirklichkeit, für die das Zusam­
menspiel von Ökologie und Ökonomie längst selbstverständlich geworden sein wird.
Deutschland wird mit der Energiewende 2050 im Zeitalter der „Green Economy“
angekommen und zu einer der effizientesten Volkswirtschaften der Welt geworden
sein. Es hat sich zum international beachteten Vorbild für die Entwicklung erneu­
erbarer Energien, hoch effizienter Kraftwerke, intelligenter Netze, einer modernen
Gebäudetechnik und energieeffizienter Produkte entwickelt und gezeigt, wie man
auch klassische industrielle Wirtschaftszweige durch Umweltinnovationen im wahrsten
Sinne des Wortes nachhaltig transformieren kann. Das Prinzip der Nachhaltigkeit
zum Leitprinzip politischen und wirtschaftlichen Handelns zu machen, wird das 21.
Jahrhundert entscheidend prägen. Mit der Energiewende kann Deutschland diese
historische Transformation beispielhaft gestalten. Ich bin überzeugt: Nie war die
Zukunft spannender!
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