matthew laborteaux
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matthew laborteaux
Programm Michael Haneke 1. bis 20.10.2010 Metro Kino MO 11.10., 19:00 Werkstattgespräch mit Michael Haneke Michael Haneke im Gespräch mit profil-Kulturressort leiter und Filmkritiker Stefan Grissemann. »Das Maß des künstlerischen Werts ist die Genauigkeit, und darin liegt pure Lust. Es ist die Verteidigung der Ordnung gegen das Chaos. Darum lohnt es sich zu arbeiten, und daraus entsteht Enthusiasmus. Damit muß ich niemanden beglücken wollen. Ich glaube, daß Genauigkeit per se beglückt. Jeder, der für künstlerische Äußerungen empfänglich ist, wird beglückt sein, sofern etwas »gut gemacht« ist. Aber nicht, weil der Künstler damit ein inhaltliches Ziel verfolgt. Ich glaube nicht an Ziele. Ich glaube an Genauigkeit.« (Michael Haneke) 32 Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO SO 17.10., 17:00 Carte Blanche Michael Haneke THE GOLD RUSH US 1925 REGIE, BUCH, SCHNITT Charles Chaplin KAMERA Roland H. Totheroh MUSIK Charles Chaplin (1942) MIT Charles Chaplin, Georgia Hale, Mack Swain, Tom Murray, Henry Bergman PRODUKTION Charles Chaplin Productions LÄNGE 72 Minuten Originalfassung mit deutschen Untertiteln Für die englische Filmzeitschrift Sight and Sound erstellte Michael Haneke 2002 eine Top-Ten-Liste der für ihn persönlich wichtigsten Filme, darunter auch jene fünf Filme, die hier in der Carte Blanche zu sehen sind, somit auch GOLD RUSH, Charlie Chaplins Glückssucher-Komödie aus dem Jahre 1925, in der er die condition humaine mit berührendstem, hintergründigstem Slapstick ausleuchtet. Chaplin, der seinen Schuh kocht und wie einen Knochen abnagt, das ist wohl jene Szene, die seine Figur des Tramp zu einer der strahlendsten, reichsten Ikonen des Kinos erhob. Siegfried Kracauer formuliert es folgendermaßen: »Charlie Chaplin, der den GOLDRAUSCH gedichtet hat, geht durch seine Dichtung als eine Darstellung des Menschlichen, die aus fast verschütteten Quellen geschöpft ist. So ist das Menschliche in den Märchen gemeint, in dem dummen Hans und anderen Märchenhelden, die keine Helden sind, so meint es vielleicht der Spruch Laotses, dass das Ohnmächtigste die Welt bewege.« (lm) MO 4.10., 19:00 SA 2.10., 19:00 Carte Blanche Michael Haneke AU HASARD BALTHAZAR F/Schweden 1966 DREI WEGE ZUM SEE A/BRD 1976 REGIE, BUCH Robert Bresson KAMERA Ghislain Cloquet SCHNITT Raymond Lamy MUSIK Jean Wiener, Franz Schubert MIT Anne Wiazemsky, Walter Green, François Lafarge, JeanClaude Guilbert, Philippe Asselin PRODUKTION Mag Bodard / Athos / Parc / AB Svensk / Svenska Filminstitutet LÄNGE 95 Minuten FORMAT 35 mm, Farbe Originalfassung mit englischen Untertiteln Ein Kristall der Filmgeschichte: Robert Bressons nüchtern-präzise und gleichsam tief-empfindsame Passionsgeschichte des Esels Balthazar, der von den beiden Kindern Marie und Jacques zunächst liebevoll getauft und umsorgt, von seinen späteren Besitzern aber als Lasttier, Zirkusattraktion und Schmugglergerät geknechtet und gequält wird. Eine wehrlose Kreatur, die stumm und geduldig die Grausamkeit der Welt erträgt. Der Esel als Opfer und Märtyrer. Selten war der Tod im Kino so gnadenvoll wie beiläufig. AU HASARD BALTHAZAR ist ein Schlüsselwerk für Michael Hanekes filmisches Denken: »Kein Film hat mir je Hirn und Herz so umgedreht wie dieser … Man spürt in BALTHAZAR wie in allen Filmen Bressons eine fast körperliche Aversion ihres Autors gegen jegliche Form der Lüge, insbesondere gegen jede Form des ästhetischen Betrugs. Diese ingrimmige Abneigung scheint die Antriebskraft seiner gesamten Arbeit zu sein, und sie führt zu einer Reinheit der erzählerischen Mittel, die in der Filmgeschichte ihresgleichen sucht.« (lm) Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO REGIE Michael Haneke BUCH Michael Haneke, Ingeborg Bachmann KAMERA Igor Luther SCHNITT Helga Scharf KOSTÜME Barbar Langbein MIT Ursula Schult, Guido Wieland, Walter Schmidinger, Udo Vioff, Bernhard Wicki, Yves Beneyton, Rainer von Artenfels, Jane Tilden PRODUKTION Südwestfunk (SWF); ORF LÄNGE 97 Minuten FORMAT Beta-SP Kann man unbeschwert nach Hause zurückkehren? Als die zur Starfotografin avancierte Elisabeth Matrei anlässlich eines Besuchs bei ihrem Vater wieder in ihre Heimatstadt Klagenfurt fährt, löst eine Wanderung durch die Schauplätze ihrer Kindheit eine Reihe von Selbstreflexionen aus. Insbesondere eine unglückliche Liebesgeschichte, die ihrem Lebensentwurf einen erst nachträglich erfahrbaren Knick verpasst hat, kommt beim Gang zum Wörthersee wieder an die Oberfläche. Spielte schon die Literaturvorlage Ingeborg Bachmanns mit den Optionen von Medialisierung und zu ergehendem System aus Verweisen, findet sich dieser Zugang in Hanekes wunderbarer Verfilmung in gesteigerter Form wieder: Die weitere Sequenzierung der Handlung unterstreicht noch die Fragmentiertheit der narrativen Strukturangebote, die Kameraarbeit erinnert auf subtile Weise an die wechselnden Erzählperspektiven der literarischen Vorlage. Die Welt ist aus den Fugen, ganz still. (tb) 33 DO 14.10., 19:00 MO 18.10., 18:00 … UND WAS KOMMT DANACH? (AFTER LIVERPOOL) BRD 1974 Carte Blanche Michael Haneke A WOMAN UNDER THE INFLUENCE US 1974 REGIE Michael Haneke BUCH Michael Haneke nach einem Theaterstück und Hörspiel von James Saunders, Deutsch von Hilde Spiel KAMERA Gerd Schäfer, Jochen Hubrich, Günter Lemnitz SCHNITT Christa Kleinheisterkampf TON Wilhelm Dusil MIT Hildegard Schmahl, Dieter Kirchlechner PRODUKTION Südwestfunk (SWR) LÄNGE 89 Minuten FORMAT Beta-SP, Farbe 34 … UND WAS KOMMT DANACH? (AFTER LIVERPOOL): Michael Hanekes kunstfertiges Fernsehfilmdebüt nach einem Theaterstück/Hörspiel von James Saunders. Ein strenges und schmerzhaftes Kammerspiel über die Unmöglichkeiten der Kommunikation. Ein Mann und eine Frau haben sich alles und nichts zu sagen. »Die Beziehungskrise als Sprachkrise«, hat es Alexander Horwath auf den Punkt gebracht. (Selbst-)Reflexion auf allen Ebenen. In das szenische Dialog-Ping-Pong immer wieder eingeschoben: Bild- (The Beatles), Ton- (I Can’t Get No Satisfaction) und Text-Zitate (Adorno, Rimbaud, Warhol, McLuhan …). Zu Beginn die Worte von Godard: »Der Philosoph und der Cineast haben eine bestimmte Lebensweise gemeinsam, die einer Generation eigentümliche Sicht auf die Welt«. Ein Fernsehspiel mit spürbarer Nähe zum Essayfilm. Hanekes Weg ins Kino ist vorgezeichnet. (lm) Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO REGIE, BUCH John Cassavetes KAMERA Mitch Breit, John Cassavetes (ucr.), Al Ruban (ucr.) SCHNITT David Armstrong, Sheila Viseltear MUSIK Bo Harwood MIT Gena Rowlands, Peter Falk, Fred Draper, Lady Rowlands, Katherine Cassavetes, Matthew Laborteaux PRODUKTION Faces Internationakl Films, Inc. LÄNGE 146 Minuten FORMAT 35 mm, Farbe Originalfassung mit deutschen Untertiteln Ein Zentralwerk des american independent cinema, wie die meisten von Cassavetes’ Filmen ein Liebesfilm oder vielmehr ein Film über die Liebe und ihre existenziellen Erschütterungen. Die Geschichte einer Frau (Gena Rowlands), die mit ihrem Mann (Peter Falk) und ihren Kindern nach außen hin ein normal suburbian life führt, in ihrem Innenleben aber von Angst und Einsamkeit regiert wird – ein Zustand, der sich zusehends in nackter Hysterie entlädt. Ein unerbittliches Beziehungsdrama, das seine Wirkung aus der radikalen Fokussierung auf seine Schauspieler bezieht: »Ihr Naturalismus«, so Martin Schaub, »überfällt den Regisseur und seine technische Equipe, die sich zu wehren wissen. Das ist das Umwerfende, das Unwahrscheinliche dieses Films: dass das reflexartige Zusammenspiel, die Unberechenbarkeit, beispielsweise das Durcheinander einer gestörten Frühstücksparty, ohne Rest in eine Kamera und in ein Mikrofon gehen. Die Filme von Cassavetes kann man nur von den Figuren her erleben (also nicht von der Kamera, nicht von den hinteren Fauteuils aus). Das ist ihre Begrenzung und vitale Stärke.« (lm) SA 16.10., 18:45 FR 8.10., 23:00 Carte Blanche Michael Haneke ZERKALO (DER SPIEGEL) SU 1975 Carte Blanche Michael Haneke SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA I/F 1975 REGIE Andrei Tarkovsky BUCH Andrei Tarkovsky, Aleksandr Misharin KAMERA Georgi Rerberg SCHNITT Ljudmila Fejginowa MUSIK Giovanni, Battista Pergolesi, J.S. Bach, Eduard Artemjew, Henry Purcell MIT Margarita Terechova, Ignat Danilzew, Oleg Jankowski, Filipp Jankovski, Anatoli Solonizyn, Alla Demidowa PRODUKTION Mosfilm LÄNGE 108 Minuten FORMAT 35 mm Tarkovsky verbindet in ZERKALO die individuelle Geschichte der Hauptfigur Aleksei mit der Gesellschaftshistorie der Sowjetunion. Unter Nutzung unterschiedlichster Bildquellen erzeugt er ein facettenreiches Porträt, die Reflexion eines Sterbenden. Im Rückblick dieses stark autobiografisch geprägten Films, der wie SOLARIS unter Mitwirkung von Aleksandr Misharin entstand, verfügen sich die private Erfahrungen des Protagonisten, seine stories, mit der allgemeinen history. In der Folge beginnen sich die Bilder wechselweise zu bedingen, zu kommentieren und zu ergänzen. Poetische Frakturen und verwobene Erzählstrukturen treten, getragen von Gedichten seines Vaters Arseni Tarkovsky, an die Stelle von Geradlinigkeit – ein Umstand, der Tarkovsky in seiner Heimat nicht nur Lob einbrachte. Alekseis Suche nach seiner (verlorenen) Lebenszeit ist ein starker filmischer Ausdruck subjektiven Erlebens und Empfindens, ein forderndes Bekenntnis zum Einzelnen (tb). »Nur eine Irritation bewirkt wirklich etwas. Man will ja aus dem Kino nicht so rauskommen, wie man reingegangen ist – das wäre verlorene Zeit.« (M. Haneke) Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO REGIE Pier Paolo Pasolini BUCH Pier Paolo Pasolini, Sergio Citti KAMERA Tonino Delli Colli SCHNITT Nina Baragli KOSTÜME Danilo Donati MUSIK Ennio Morriconi MIT Paolo Bonacelli, Giorgio Cataldi, Umberto Paolo Quintavalle PRODUKTION Produzioni Europee Associati; Les Productions Artistes Associés LÄNGE 116 Minuten FORMAT 35 mm, Farbe Originalfassung mit deutschen Untertiteln Im letzten Reich des faschistischen Italiens, der Republik Salò, inszenieren Großbürger angesichts des nahenden Endes des Mussolini-Regimes ihre Macht in Form grausamer Rituale: Ganz der literarischen Vorlage de Sades verpflichtet, werden eine Reihe junger Menschen erniedrigt, gequält und schließlich ermordet. Abseits aller Gewaltästhetisierung werden in diesem Film, der gleichermaßen Wissenschaft und Gerichte beschäftigte, menschlicher Machtrausch und Vernichtungslust nüchtern inszeniert: »Der Film, der mich in meinem Leben am meisten weiter gebracht hat, war seinerzeit SALÒ ODER DIE 120 TAGE VON SODOM von Pasolini. Der zeigte Gewalt als das, was sie wirklich ist: Leiden der Opfer. Das fand ich unerträglich. Das ist bis heute der Film, der mich am meisten aus der Bahn geworfen hat. Damals habe ich mich ununterbrochen gefragt: Halte ich das noch aus? Muss ich jetzt kotzen? Aber der hat mich wirklich über sehr sehr viel nachdenken lassen. In einer Gesellschaft wie der unserigen kann man Kino oder dramatische Kunst im weitesten Sinn nur so machen. Man kann sie nicht konsensuell machen. Dann ist man dumm. Oder feig, oder zynisch.« (M. Haneke) 35 SO 3.10., 21:00 DO 7.10., 21:00 LEMMINGE (ARKADIEN) A/BRD 1979 LEMMINGE (VERLETZUNGEN) A/BRD 1979 REGIE, BUCH Michael Haneke KAMERA Jerzy Lipman, Walter Kindler SCHNITT Marie Homolkova MUSIK Franz Schubert, Ludwig van Beethoven, Alexander Steinbrecher MIT Regina Sattler, Christian Ingomar, Eva Linder, Paulus Manker, Bernhard Wicki, Elisabeth Orth, Hilde Berger, Kurt Sowinetz, Greta Zimmer, Ingrid Burkhardt, Kurt Nachmann, Rudolf Wessely PRODUKTION SchönbrunnFilm; ORF; SFB (Sender Freies Berlin) LÄNGE 113 Minuten FORMAT Beta-SP, Farbe 36 Mit dem zweiteiligen, semi-autobiografischen Generationendrama LEMMINGE präsentiert sich Michael Haneke dem Fernsehpublikum erstmals als Regisseur und Autor in Personalunion. Und breitet damit in aller inszenatorischen Dringlichkeit sein Weltbild aus. Die (moderne) Zivilisation ist – verkürzt formuliert – ein Gefängnis und die Konvention dessen Wärter. Im ersten Teil ARKADIEN porträtiert er die Jugendjahre seiner Protagonisten: Evi, Christian, Fritz und das großbürgerliche Geschwisterpaar Sigrid und Sigurd, fünf Gymnasiasten im Wr. Neustadt der späten fünfziger Jahre – aufgerieben zwischen den Versprechen der Popkultur, (schwieriger) Sexualität und der rigiden, überkommenen Werteordnung ihrer Väter, aus deren Klammern sie sich mit allen Mitteln zu befreien versuchen. Doch Haneke gibt ihnen keine Chance, lässt sie verzweifelt in den Tod stürzen (Sigurd) oder in Resignation erstarren. Nur Sigrid schafft es aus der Kleinstadt nach Wien – zwischenzeitlich. (lm) Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO REGIE, BUCH Michael Haneke KAMERA Jerzy Lipman SCHNITT Marie Homolkova MIT Monika Bleibtreu, Elfriede Irrall, Rüdiger Hacker, Wolfgang Hübsch, David Haneke, Norbert Kappen, Guido Wieland, Vera Borek, Wolfgang Gasser, Julia Gschnitzer MUSIK J. S. Bach PRODUKTION SchönbrunnFilm; ORF; SFB (Sender Freies Berlin) LÄNGE 107 Minuten FORMAT Beta-SP, Farbe LEMMINGE, zweiter Teil. Aus den verzweifelten Jugendlichen sind verzweifelte Erwachsene geworden. Sigrid kehrt anlässlich des Todes ihres Vaters von Wien nach Wr. Neustadt zurück. Doch sie findet nichts als Leere vor. Und zwar nicht nur in den (Erinnerungs-)Räumen der elterlichen Villa, sondern auch in den Gesichtern ihrer Jugendfreunde. Christian, heute Oberleutnant, stellt bei einem gemeinsamen Essen zynisch fest: »… die Form hält etwas zusammen, was längst auseinandergefallen ist«. Eine Einsicht, aus der er aber letztlich die falschen Konsequenzen zieht … In finsterer Atmosphäre und mit nüchterner Bildsymbolik inszeniert, weitet Haneke in VERLETZUNGEN seine Gesellschaftsdiagnose auf die Verhältnisse der siebziger Jahre aus, zeichnet eine Welt, die sich wie ein undurchdringbares Netz aus Schuld, Angst, Entfremdung und Gleichgültigkeit darstellt. »Was gilt da noch?«, bricht es am Ende aus Christian heraus. Eine Frage, auf die selbst der Pfarrer keine Antwort mehr weiß. LEMMINGE: Ein Fernseh(-film-)Epos von tiefer, existenzialistischer Traurigkeit. (lm) FR 8.10., 18:15 FR 15.10., 19:00 VARIATION BRD 1983 WER WAR EDGAR ALLAN? A/BRD 1984 REGIE, BUCH Michael Haneke KAMERA Walter Kindler MUSIK Egberto Gismonti, Jan Garbarek, Charlie Haden MIT Elfriede Irrall, Suzanne Geyer, Hilmar Thate, Monica Bleibtreu, Eva Linder, Udo Samel, Ilse Trautschold, Kurt Hübner PRODUKTION SFB LÄNGE 98 Minuten FORMAT Beta-SP, Farbe Variationen über die Liebe und ihre Schmerzen. Der Lehrer Georg und die Journalistin Anna lernen einander kennen und lieben. Doch ihre Zuneigung kann sich nicht frei entfalten. Georg ist, scheinbar glücklich, mit Eva verheiratet und Anna lebt in Beziehung mit der Schauspielerin Kitty. Eine naturgemäß vertrackte Situation, die für Kitty Hysterie und für Eva stille Verlorenheit bedeutet. Georgs Schwester Sigrid wiederum erleidet eine Art emotionalen Kollatoralschaden, schneidet sich in der Badewanne die Pulsadern auf. Bei alledem ist VARIATION aber keine >grausame< Tragödie, viel eher ein nachdenklicher Liebesfilm, in dessen schmuckloser, aber nicht weniger avancierter Mise-en-scène ebenso viel kühle Distanz wie zärtliche Nähe zum Ausdruck kommt. »Haneke hat VARIATION einmal seinen ›JohnCassavetes-Film‹ genannt, weil bei all den Verletzungen, die jeder dem anderen zufügt, die Utopie der Liebe erhalten bleibt« (Horwath). Tatsächlich zählt der Schluss zu den versöhnlichsten in Hanekes Werk, ein Happy End ist es freilich nicht. (lm) Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO REGIE Michael Haneke BUCH Hans Broczyner, Michael Haneke, Peter Rosei KAMERA Frank Brühne SCHNITT Lotte Klimitschek MUSIK Ennio Morricone MIT Paulus Manker, Rolf Hoppe, Guido Wieland, Renzo Martini, Walter Garadi PRODUKTION Neue Studio Film, ZDF, ORF LÄNGE 83 Minuten FORMAT Beta-SP Mit »Wer war Edgar Allan?« versuchte sich Peter Rosei 1977 erfolgreich im »Erzählen einer literarischen Halluzination« (K. E. Thorpe): In stark fragmentierter Form schildert er darin die Identitätskrise eines Kunststudenten. Diverse Rauschmittel zerrütten sein Selbstbild als Dandy, die Begegnung mit einem mysteriösen US-Amerikaner, dem titelspendenden Edgar Allan, und die Verwicklung in mysteriöse Verbrechen führen zur Verschlimmerung der Krise. Textlich offen gehalten, mit Elementen einer möglichen Biografie Poes durchsetzt, bot Roseis Vorlage die ideale Startbasis für ein offenes filmisches Erzählen. Wie der heimliche Klassiker der österreichischen postmodernen Literatur, bleibt auch die Adaption eine einfache Lösung schuldig. Vielmehr dominieren das Labyrinthische und Verzweigte, treten gewinnbringend an die Stelle einfacher (Krimi-)Linearität. Dass Rosei in seiner Poetik den Leitlinien eines außermoralischen Charakters der Grausamkeit und der existenziellen Ausweglosigkeit des Lebens verpflichtet ist, trägt noch zum Reiz dieser Arbeit Hanekes bei. (tb) 37 FR 15.10., 21:00 FR 1.10., 19:30 | MO 4.10., 21:00 FRAULEIN BRD 1985 DER SIEBENTE KONTINENT A 1989 REGIE, BUCH Michael Haneke KAMERA Walter Kindler, Klaus Hohenberger SCHNITT Monika Sozbacher, Monika Schreiner MIT Angelica Domröse, Peter Franke, Lou Castel, HeinzWerner Kraehkamp, Cordula Gerburg , Chris Howland, Lisa Helwig, Paulus Manker PRODUKTION Telefilm Saar Gmbh; SR (Saarländischer Rundfunk) LÄNGE 108 Minuten FORMAT Beta-SP, s/w 38 Eine Mentalitätsstudie der deutschen Nachkriegszeit, ein bitter-sarkastisches Melodram, von Haneke einmal als seine Antwort auf Fassbinders DIE EHE DER MARIA BRAUN bezeichnet. Eine Frau hat es sich in ihrem kleinstädtischen Leben »gut« eingerichtet – mit ihren beiden Kindern und ihrem Liebhaber, einem französischen Besatzungssoldaten und Amateur-Catcher. Bis ihr für tot erklärter Ehemann aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückkehrt. Die Autonomie ist schlagartig dahin, und ihr Alltag fortan von Entfremdung, Isolation und Psycho-Terror bestimmt: Der Mann leidet nicht nur am Trauma des Krieges, sondern auch am Trauma der Heimkehr. Hanekes bildästhetisch vielleicht ausladendster Fernsehfilm, nicht nur das Porträt einer Frau, die ihr »Glück« einfordert, sondern auch das Porträt einer deutschen Kleinstadt im Taumel des Wirtschaftswunders. Das Kino als Ort, in Hanekes Filmen nur selten präsent, ist dabei eine zentrale Drehscheibe – und gerät am Ende – ganz im metaphorischen Sinn – zum Fluchtraum schlechthin. (lm) Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO REGIE, BUCH Michael Haneke KAMERA Toni Peschke SCHNITT Marie Homolkova MUSIK Alban Berg MIT Birgit Doll, Dieter Berner, Leni Tanzer, Udo Samel, Robert Dietl, Georg Friedrich PRODUKTION Veit Heiduschka; Wega-Film LÄNGE 104 Minuten FORMAT 35 mm, Farbe Das Kinodebüt von Michael Haneke, 1989 in Cannes uraufgeführt und Auftakt zu seiner viel diskutierten Trilogie der emotionalen Vergletscherung. Ein Film von stilistischer Präzision, wie man sie im österreichischen (Erzähl-)Kino bis dahin noch nicht gesehen hat. Über einen Zeitraum von drei Jahren zeichnet Haneke den Alltag einer Linzer Mittelstandsfamilie nach: Aufstehen, Zähneputzen, Frühstücken, Arbeiten, nach Hause kommen, Lichtabdrehen. Vater, Mutter, Kind eingespannt in die Mechanik der kapitalistischen Lebensordnung. Dann, eines Tages, die Wende. Das Ehepaar beschließt, gemeinsam mit der Tochter, in den Tod zu gehen – und vollzieht ihre Tat auf brachiale Weise. Ein Familienporträt als Traktat über das »Grauen der Wirklichkeit«, unmissverständlich formuliert in einer Grammatik der Ausweglosigkeit: Schwarzblenden, strenge Bildkadrage, kalte Farben, wie versteinert agierende Figuren. Haneke erklärt nichts, vertraut stattdessen ganz auf die Wirkungskraft der Zeichen. Ein zutiefst verstörender Film, der in der Klarheit seiner Form aber nachhaltig zu transzendentaler Schönheit findet. (lm) DI 19.10., 18:45 DI 12.10., 20:30 NACHRUF FÜR EINEN MÖRDER A 1991 BENNY’S VIDEO A/CH 1992 GESTALTUNG Michael Haneke SCHNITT Brigitte Pevny REDAKTION Wolfgang Ainberger, Evelyn Itkin PRODUKTION ORF (»Kunststücke«) LÄNGE 110 Minuten FORMAT Beta-SP, Farbe »Am 8. September 1990 schoß der 21jährige Felix Zehetner aus Wien Florisdorf auf seine schlafenden Eltern, richtete auf der Party benachbarter Freunde ein Blutbad an, streckte zwei Polizisten nieder und tötete sich anschließend selbst. Fazit des Amoklaufs: 6 Tote, 4 lebensgefährlich Verletzte. Drei Tage später fand im 2. Programm des österreichischen Fernsehens aus diesem Anlass ein CLUB 2 mit dem Thema ›Töten statt reden – Über den jugendlichen Gewaltrausch‹ statt. Sämtliche Fernsehsendungen dieses einen Tages (FS1 und FS2) bilden das alleinige Material der folgenden TV-Collage. Länge, Position und Häufigkeit der Sendungsteile in der Collage entsprechen proportional exakt der Länge, Position und Häufigkeit ihres Vorkommens im Tagesprogramm«: So liest sich die instruktive Texttafel im Vorspann von NACHRUF FÜR EINEN MÖRDER, Hanekes nüchtern-zynische Reflexion über die mediale Auseinandersetzung mit diesem Fall, die er nicht zuletzt überformt sieht durch den Bilderkreislauf des Entertainment. Fernsehkritik im Fernsehen, in ihren Mitteln so einfach wie komplex. (lm) Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO REGIE, BUCH Michael Haneke KAMERA Christian Berger SCHNITT Marie Homolkova TON Karl Schlifelner MIT Arno Frisch, Angela Winkler, Ulrich Mühe PRODUKTION Wega Film; Bernard Lang LÄNGE 105 Mintuten FORMAT 35 mm Die Spektakelgesellschaft und ihre Vertreter stehen im Zentrum von BENNY’S VIDEO: Der Film beginnt mit dem statischen Rauschen der Bildschirme, dem kalten Technikgeräusch der Tötung eines Schweins mittels Bolzenschussgerät. Benny, der wohlstandverwahrloste Sohn aus gutem Hause, thront in seinem Zimmerreich aus Bildschirmen, Gerätschaften und Abspielgeräten. Verschanzt in seinem Reich der Wirklichkeitsmanipulation und vermeintlicher Allmacht, ediert er seine eigenen Erfahrungen, kehrt er immer wieder zur bewahrten Szenerie einer Schlachtung zurück. Die Begegnung mit einem namenlosen Mädchen, die er in einer Videothek trifft, führt nicht, wie es die filmischen Konventionen anbieten würden, zu einer sexuellen Erfahrung, sondern zu einem kühlen Mord abseits des Sichtbaren. Das Fragen nach moralischen Rahmenbedingungen und Medienehtik bestimmen diesen gleichermaßen zugänglichen wie sachlich anmutenden Film. Dass die elterliche Generation in ihrer Verantwortungsverweigerung dabei kein gutes Bild abgibt, ist ebenso konsequent wie klar. Das Prothesengedächtnis Video erweist sich hier als bandlanger Stoff aus dem Alpträume und generationsübergreifende Fesseln gewoben sind. (tb) 39 SA 9.10., 18:30 | MO 18.10., 21:00 MO 11.10., 21:00 DIE REBELLION A 1993 71 FRAGMENTE EINER CHRONOLOGIE DES ZUFALLS A/D 1994 REGIE, BUCH Michael Haneke KAMERA Jirí Stibr SCHNITT Marie Homolkova TON Karl Schlifelner MIT Branko Samarovski, Judith Pogány, Thierry Van Werveke, Deborah Wisniewski, Ulrich Reinthaller, Katharina Grabherr, August Schmölzer, Johannes Silberschneider, Christian Spatzek, Karl Ferdinand Kratzl, Götz Kauffmann, Georg Trenkwitz, Udo Samel PRODUKTION Wega-Film; ORF LÄNGE 105 Minuten FORMAT Beta-SP, Farbe, s/w 40 Michael Hanekes Verfilmung des gleichnamigen Romans von Joseph Roth, gedreht als Auftragsarbeit für das österreichische Fernsehen. Aber auf das Kino vergisst Haneke dabei wieder einmal nicht: DIE REBELLION lässt sich in seinem Expressionismus auch als Verbeugung vor den Sozialdramen des Weimarer Kinos lesen. Es ist ein stiller, überaus lyrischer Film, in seinen Farbtexturen feinsinnig gewoben, mit einem glänzenden Schauspieler-Ensemble besetzt und von Udo Samels unprätentiöser Erzählstimme durchdrungen. Andreas Plum (Samarovski) wird im Krieg ein Bein amputiert und – zurück in Wien – mit einer Drehorgellizenz »belohnt«. In seiner Staatsgläubigkeit stets unerschüttert, gerät er allerdings jäh in Konflikt mit der Justiz. Plum verliert seine Lizenz, seine Frau und, nicht zuletzt, auch seine Fassung. Er wird ins Gefängnis gesteckt und nach seiner Enthaftung zum Toilettenaufseher im Café Halali gemacht, wo er – in einer Schlusssequenz von klarstem Surrealismus – zu einer letzten Erkenntnis gelangt. Die Geschichte vom Untergang der Donaumonarchie als Geschichte einer Wahrnehmungsverschiebung. Eine Großtat. (lm) Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO REGIE, BUCH Michael Haneke KAMERA Christian Berger SCHNITT Marie Homolkova TON Hannes Eder MIT Gabriel Cosmin Urdes, Lukas Miko, Otto Grünmandl, Anne Bennent, Udo Samel, Branko Samarovski, Claudia Martini, Georg Friedrich, Alexander Pschill PRODUKTION Veit Heiduschka; Wega-Film; ZDF; arte LÄNGE 95 Minuten FORMAT 35 mm, Farbe Letzter Teil von Michael Hanekes Trilogie der emotionalen Vergletscherung. Ein GesellschaftsPanorama im besten Sinne. Haneke gibt Einblicke in die Lebensentwürfe verschiedener Menschen in Wien – ein rumänischer Straßenjunge, zwei Ehepaare, ein alter Mann oder ein Student. Sie stehen in keinerlei Verbindung zueinander, bis sie der Zufall am Ende zusammen führt: Kurz vor Weihnachten läuft der Student Amok, eröffnet in einer Bank das Feuer und richtet sich im Anschluss selbst. In seiner Chronik der Ereignisse verweigert sich Haneke, so will es seine rigorose Kino-Moral, jeglicher psychologischen Deutung des Falls, sucht vielmehr nach dem größeren, soziokulturellen Zusammenhang und erstellt mit klinischer Genauigkeit ein Protokoll der existenziellen Überforderung. Gegliedert ist dieses dabei in 71 Alltags-Szenen, die durch Schwarzfilm markant voneinander getrennt sind: Die mediale Wirklichkeit ist ein komplexes, manipulatives Konstrukt. Das gibt uns Haneke hier in aller Dringlichkeit zu verstehen. Großes Kino der Beunruhigung, so klar wie rätselhaft. (lm) MI 20.10., 19:00 SO 17.10., 18:30 LUMIÈRE ET COMPAGNIE F/DK/ESP/Schweden 1995 DAS SCHLOSS A 1997 REGIE Theo Angelopoulos, Peter Greenaway, Abbas Kiarostami, Spike Lee, David Lynch, Michael Haneke, Jacques Rivette u. a. IDEE Philippe Poulet MIT Jeffe Alperi, Romane Bohringer, Bruno Ganz, Neil Jordan, Satchel Lee PRODUKTION Cinétévé; La Sept Arte; Igeldo Komunikazioa; Søren Stærmose AB; Canal+; Arte LÄNGE 88 Minuten FORMAT 35 mm, s/w, Farbe Originalfassung mit deutschen Untertiteln Glückwunschfilme an das Kino. 1995 feierte es seinen 100. Geburtstag – begleitet von zahlreichen, internationalen Projekten. Unter anderem von diesem: Für LUMIÈRE ET COMPAGNIE wurden an die 150 Filmemacher eingeladen, mit einem der ersten Zauberkästen des Kinos zu hantieren, nämlich mit einer Original-Kamera der Gebrüder Lumière. Die Spielregeln waren dabei für alle gleich: Die Filme müssen in der Kamera geschnitten werden, dürfen nicht länger als 54 Sekunden lang sein, über kein künstliches Licht und keinen zusätzlichen Ton verfügen und in nicht mehr als drei takes gedreht werden. 40 Regisseure erklärten sich bereit, nach diesen Regeln zu spielen. Unter ihnen Virtuosen wie Peter Greenaway, David Lynch, Abbas Kiarostami oder eben auch Michael Haneke. In seinem Beitrag sieht Haneke mit der Kamera fern, verdichtet eine Nachrichtensendung auf die vorgegebene Zeit: Moderation, Politik, Chronik, Sport und das Wetter. Die Aufzeichnungs-Prinzipien der geduldigen Weltbetrachter Lumière, auf denen die Regeln aufbauen, angewandt auf eine Wirklichkeit des medialen Bildüberschusses. Typisch Haneke also. (lm) Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO REGIE, BUCH Michael Haneke KAMERA Jirí Stibr SCHNITT Andreas Prochaska TON Hannes Eder MIT Ulrich Mühe, Susanne Lothar, Frank Giering. Felix Eitner, Nikolaus Paryla, André Eisermann, Dörte Lyssewski, Branko Samarovski, Ortrud Beginnen, Otto Grünmandl, Johannes Silberschneider PRODUKTION arte; BR; ORF; Wega Film LÄNGE 123 Minuten FORMAT 35 mm Michael Hanekes geradlinige, bis zur Sachlichkeit klare Umsetzung von Kafkas Literaturvorlage macht deutlich, anders als vergleichbare Verfilmungen des Romanfragments, wie wenig Raum ein positiver Entwurf hier haben kann: Landvermesser K. – selbst in seinem Beruf mehr ein von Autoritäten Berufener denn Ausübender – kann nicht ins Schloss, das über seinem Aufenthaltsort, dem entlegenen Dorf, liegt, gelangen. Je mehr er sich bemüht, desto weiter rückt sein Ziel in die Ferne. Aufgabe und Existenz erliegen dem bürokratischen Dickicht und den undurchsichtigen Entscheidungen wenig greifbarer Instanzen. K. bleibt ein Ausgelieferter ohne Hoffnung oder Utopie, doch mit einer möglichen Botschaft: »Wenn es eine Utopie geben sollte, die man ernstnehmen kann, dann kann das nur eine negative Utopie sein. Und die wiederum kann es nur geben, wenn man genau analysiert, meinetwegen auch übertreibt, wenn man eine präzise Bestandsaufnahme des Gegebenen bietet. Wenn ich das, was ist, wirklich radikal zu Ende formuliere, dann kann aus den Einsichten, die der Zuschauer gewinnt, eine Form von Hoffnung, Utopie, von Kampfwillen entstehen.« (M. Haneke) (tb) 41 DO 14.10., 21:00 SA 16.10., 21:00 FUNNY GAMES A 1997 CODE INCONNU: RÉCIT INCOMPLET DE DIVERS VOYAGES F/D/R 2000 REGIE, BUCH Michael Haneke KAMERA Jürgen Jürges SCHNITT Andreas Prochaska TON Wolfgang Amann MIT Arno Frisch, Frank Giering, Susanne Lothar, Ulrich Mühe, Stafan Clapczynski, Doris Kunstmann, Christoph Bantzer, Wolfgang Glück, Susanne Meneghel, Monika Zallinger PRODUKTION Wega Film; ORF LÄNGE 108 Minuten FORMAT 35 mm, Farbe 42 Mit FUNNY GAMES, einem seiner bis heute umstrittensten Filme, entfaltet Haneke eine negative Idylle: Die Tage am See führen für eine bürgerliche Familie nicht zur gewünschten Erholung, sondern geradewegs in den Tod. Medienreflexiv gezeichnet, treten zwei junge Männer, deutlich referenzbeladene Erinnyen, in das kleine Glück, führen als stille Rasende nicht nur die Verletzbarkeit der Opfer, sondern auch des Publikums vor. Schritt für Schritt wird die Kinosituation mitgemeint, macht der Schrecken der angespielten Genres vor dem extradiegetischen Raum nicht mehr Halt. Die scheinbar motivlosen, psychischen wie auch physischen Gewaltdemonstrationen der Täter entfalten sich dabei im horriblen Paradox von ausgesuchter Höflichkeit und gnadenloser Exekution. Mit dem Einbruch der beiden werden aber nicht nur die beklemmenden Folgen einer unhinterfragten Medialisierung von Wirklichkeit vorgeführt, sondern auf zweiter und wohl auch gewichtigerer Ebene die vielfältigen Verknüpfungen von Macht und Legitimation aufgerufen. (tb) Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO REGIE, BUCH Michael Haneke KAMERA Jürgen Jürgens SCHNITT Andreas Prochaska, Karin Hartusch, Nadine Muse MUSIK Giba Goncalves MIT Juliette Binoche, Thierry Neuvic, Alexandre Hamidi, Josef Bierbichler, Paulus Manker PRODUKTION MK2 Productions; France 2 Cinéma; Canal+; Les Films Alain Sarde; Arte France Cinéma; Bavaria Film; ZDF; Filmex Romania LÄNGE 118 Minuten FORMAT 35 mm, Farbe Originalfassung mit deutschen Untertiteln Michael Hanekes erster internationaler Film, vornehmlich produziert und gedreht in Frankreich und mit einem Weltstar (Juliette Binoche) in der Hauptrolle besetzt. Haneke erzählt von Fremdheit, Entfremdung und dem Mangel an Kommunikation in der modernen, von Multikulturalität geprägten Gesellschaft, rückt Menschen in den Mittelpunkt – u. a. eine Schauspielerin, eine rumänische Bettlerin, einen schwarzen Musiklehrer, einen Kriegsfotografen –, die in ihren privaten oder öffentlichen Begegnungen keinen Zugang zueinander finden. Wie der Titel bereits sagt: Code Unbekannt. In seiner ästhetischen Strategie präsentiert sich Haneke dabei einmal mehr als brillanter, auf filmische Selbstreflexion fokussierter Konstruktivist. Er weist seine Alltagsbeobachtungen explizit als Fragmente aus und formt diese nahezu ausschließlich zu Plansequenzen, welche in ihren vielschichtigen (sozialen) Bewegungen ebenso die Konzentration des Zuschauers fordern wie sie eine geradezu offene Empathie für die handelnden Personen in sich tragen – nicht zuletzt deshalb wohl Hanekes bis dato zugänglichster Kinofilm. (lm) FR 8.10., 20:15 SO 17.10., 21:00 LA PIANISTE/DIE KLAVIERSPIELERIN F/BRD/PL/A 2001 LE TEMPS DU LOUP / WOLFZEIT F/A/D 2003 REGIE Michael Haneke BUCH Michael Haneke, nach dem gleichnamigen Roman von Elfriede Jelinek KAMERA Christian Berger SCHNITT Nadine Muse, Monika Willi MUSIK Francis Haines MIT Isabelle Huppert, Annie Girardot, Benoît Magimel, Michael Schottenberg, Susanne Lothar, Udo Samel, Cornelia Köndgen, Georg Friedrich PRODUKTION Wega Film, Wien; MK2 Productions; Les Films Alain Sadre; Arte France Cinéma; Bayrischer Rundfunk; P.P. Film Polski LÄNGE 131 Minuten FORMAT 35 mm, Farbe Originalfassung mit deutschen Untertiteln Erika ist Mutters ganzer Stolz. Sie hat es weit gebracht. »Frau Professor« wird sie am Konservatorium genannt. Die gesellschaftliche Anerkennung und das sichere Einkommen sollen sie für ihre entgangene Weltkarriere als Pianistin entschädigen. Kommt Erika am Abend zu spät nach Hause, gibt es Streit und Vorwürfe, die oft erst in der Intimität des gemeinsamen Doppelbettes, in dem Mutter und Tochter schlafen, besänftigt werden. Eines Tages beginnt ein junger Student, sich um Erika zu bemühen. Fluchtbewegungen sind es vor allem, die Haneke in gewohnt kühlen und distanzierten Bildern von seiner Klavierspielerin zeichnet. Fluchtversuche aus einem Leben ohne Liebe, Wärme und wirklich gelebte Sexualität – gnadenlos inszeniert und von Isabelle Huppert erschreckend intensiv dargestellt. »Wie sich Menschen abarbeiten an der Kunst und den Körpern, davon erzählt dieser Film, unbeirrt, zwei Stunden lang … Kunstfertiger war Europas Kino jedenfalls lange nicht.« (Stefan Grissemann) Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO REGIE, BUCH Michael Haneke KAMERA Jürgen Jürges SCHNITT Nadine Muse, Monika Will TON Jean-Pierre Laforce, Guillaume Sciama MIT Isabelle Huppert, Béatrice Dalle, Patrice Chéreau, Brigitte Roüan, Olivier Gourmet PRODUKTION Wegafilm; Bavaria Film; Canal+; CNC; Eurimages; France 3 Cinéma; Les films du Losange; arte France Cinéma LÄNGE 113 Minuten FORMAT 35 mm, Farbe Originalfassung mit deutschen Untertiteln Michael Hanekes WOLFZEIT geht das Spiel mit dem Apokalyptischen – genauer: mit dem Postapokalyptischen – ein. Zu Beginn der Handlung ist die Katastrophe schon geschehen, das alles verändernde Ereignis ist atmosphärisch spürbar, bleibt aber ungenannt. So wie sein Film CODE INCONNU (2000) die Frage danach stellt, wie lange es mit der westlichen Gesellschaft noch so weitergehen kann, werden hier anhand einer gewaltvoll zertrümmerten Kleinfamilie Fragen nach dem Weiterleben nach der Katastrophe gestellt. Lösen große HollywoodProduktionen diese Komplexe meist zugunsten der wiederhergestellten familiären Einheit oder Schicksalsgemeinschaft auf, trägt bei Haneke immer der Einzelne die Verpflichtung, Bürde und Last der Situation. Unter Rückgriff auf mythologische Elemente wird ein Ausweg geöffnet – und erst dann darf die Sonne wieder in voller Pracht Licht und (trügerische?) Hoffnung spenden. (tb) 43 DI 12.10., 19:00 SA 2.10., 21:00 24 WIRKLICHKEITEN IN DER SEKUNDE. Michael Haneke im Film A 2004 CACHÉ F/A/D/I/US 2005 REGIE, BUCH, KAMERA Nina Kusturica, Eva Testor SCHNITT Niki Mossböck, Nina Kusturica TON Marco Antoniazzi PRODUKTION Mobilefilm LÄNGE 58 Minuten FORMAT Digi-Beta, Farbe 44 24 WIRKLICHKEITEN IN DER SEKUNDE heißt dieser Film. Sein Titel könnte aber auch lauten: Szenen aus dem Alltag eines Kino-Getriebenen. Denn Nina Kusturicas und Eva Testors Doku ist nicht so sehr ein Film über das Kino von Michael Haneke, sondern vielmehr ein Film über Haneke bei der Arbeit an diesem und für dieses Kino. Über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren haben sie ihn in seinem beruflichen Alltag begleitet, ihn beobachtet in Diskussion mit seinem Team bei der Motivsuche für WOLFZEIT im Burgenland oder im Gespräch mit seinem Publikum in Frankreich, im Studio beim Schnitt von CACHÉ oder bei Interviews in gediegenen Hotelzimmern. Haneke, so scheint’s, ist ein Rastloser, immer am Sprung. Dazu passt denn auch, dass die Gespräche zwischen Kusturica/Testor und Haneke vor allem im Zug, im Auto oder im Flugzeug stattfinden. Ein Arbeitsporträt als road movie über einen Filmemacher, der sich für Antworten zu sich und seinem Kino nie zu schade ist – außer aber es betrifft Fragen, deren Antworten er schon in seinen Filmen rigoros verweigert hat. (lm) Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO REGIE, BUCH Michael Haneke KAMERA Christian Berger SCHNITT Michael Hudecek, Nadine Muse TON Jean-Paul Mugel MIT Daniel Auteuil, Juliette Binoche, Maurice Bénichou, Annie Girardot, Bernard Le Coq, Nathalie Richard, Daniel Duval PRODUKTION Les Films du Losange; Wega Film; ORF; Bavaria Film; WDR; BIM Distribuzione; France 3 Cinéma; Arte France Cinéma; Canal+; StudioCanal; Uphill Pictures LÄNGE 117 Minuten FORMAT 35 mm Originalfassung mit deutschen Untertiteln Mit dem in Cannes ausgezeichneten CACHÉ spürt Haneke erneut der Natur der Schuld nach: Wie auch in David Lynchs LOST HIGHWAY wird eine brüchige, doch immer noch intakte Familie ins Visier genommen. Wer hier den eröffnenden bedrohlichen Blick auf die schicke Pariser Wohnung wirft, bleibt aber unklar. Deutlich wird hingegen, dass die Zuschauer und die allmächtig scheinende Position einen ansonsten unverstellten Blick auf das nach und nach freigelegte Leben der Familie Laurent werfen können (tb): »Das großbürgerliche Intellektuellenpaar erhält anonyme Botschaften: Videobänder, die zeigen, dass sie von irgendwem überwacht werden; Bilder, die wie Kinderzeichnungen aussehen, und gewalttätige Inhalte haben. Ganz sachte lässt Haneke die Hysterie der Familie, die Spannungen zwischen ihren Mitgliedern wachsen und registriert mit seismografischer Konsequenz dieses Zerrinnen des Sicherheitsgefühls – bis die Nerven blank liegen. Es ist klar: auch für diese wohlsituierten, in jeder Hinsicht etablierten Bourgois kommt erst die Sicherheit, dann die Freiheit.« (R. Suchsland) DI 19.10., 21:00 SA 9.10., 20:45 | MI 20.10., 20:45 FUNNY GAMES U.S. US/UK/F/A 2008 DAS WEISSE BAND A/D/F/I/Kanada 2009 REGIE, BUCH Michael Haneke KAMERA Darius Khondji SCHNITT Monika Willi MUSIK Georg Friedrich Händel, Pietro Mascagni, Wolfgang Amadeus Mozart, John Zorn MIT Naomi Watts, Tim Roth, Michael Pitt, Brady Corbet, Devon Gearhart PRODUKTION Belladonna Productions; Halcyon Pictures; Tartan Films; X Film International; Kinematograf LÄNGE 111 Minuten FORMAT 35 mm, Farbe Originalfassung mit deutschen Untertiteln Das US-Remake von FUNNY GAMES – in seiner Shot-by-Shot-Bauweise am ehesten vergleichbar mit Gus van Sants PSYCHO-Experiment. Mit einem gewichtigen Unterschied: Die Re-Inszenierung dieser unerhörten Urlaubsgeschichte, in der zwei Wohlstandsbengel in Komplizenschaft mit dem Zuschauer eine Kleinfamilie in ein absolut tödliches Spiel zwingen, besorgte der Regisseur des Originals gleich selbst. FUNNY GAMES, entstanden als zynische Reaktion auf die Gewaltverliebtheit der Konsumindustrie (also auch jener Hollywoods), war laut Haneke immer auch für ein amerikanisches Publikum gedacht. Und mit der Amerikanisierung seines Films konnte er dieses nun direkter, quasi in dessen vertrauten Codes adressieren: der eigenen Sprache, der eigenen Lebenswelt, der eigenen Kino-Kultur (mit den Stars Naomi Watts und Tim Roth). Dies sind denn auch die feinen Akzentverschiebungen, die FUNNY GAMES U.S., bei aller strukturellen Übereinstimmung mit seinem Vor-Bild, eine etwas andere Dynamik verleihen – freilich ohne dabei an Schock-Wirkung einzubüßen. Dafür ist Hanekes Spannungs-Dramaturgie zu virtuos. Experiment geglückt. (lm) Michael Haneke | PROGRAMM | 1. BIS 20. OKTOBER 2010 | METRO KINO REGIE, BUCH Michael Haneke KAMERA Christian Berger SCHNITT Monika Willi TON Guillaume Sciama MIT Christian Friedel, Burghart Klaußner, Ulrich Tukur, Josef Bierbichler, Susanne Lothar, Branko Samarovski, Birgit Minichmayr, Ernst Jacobi, Ursina Lardi PRODUKTION X Filme Creative Pool; Wega-Film; Les Films du Losange; Canal +; Lucky Red; [Mini-Traité Franco-Canadien] LÄNGE 145 Minuten FORMAT 35 mm, s/w Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges. In einem protestantischen Dorf gehen seltsame Dinge vor sich: Der Arzt stürzt mit seinem Pferd über ein heimlich gespanntes Seil, ein Kind wird entführt und gefoltert, eine Scheune in Brand gesteckt. Die Vorfälle, für die kein Täter in Sicht ist, sind aber nur die »äußere« Gewalt in dieser mystery tale. Gewalt findet auch im Innersten des Dorfes, in den Familien statt. Frauen werden gedemütigt und misshandelt, Kinder mit höflicher Strenge gezüchtigt. Der Pastor bindet zweien seiner Söhne und Töchter für ihre »Vergehen« ein weißen Band um, ein Zeichen der moralischen Reinheit und Unschuld, die aber längst verloren sind. Michael Hanekes Opus Magnum, in seiner visuellen Wucht oftmals verglichen mit dem Kino eines Carl Theodor Dreyer oder Ingmar Bergman. Ein vielschichtiges, beinahe schon klassizistisches Sittengemälde, in dem Haneke den Wurzeln von Totalitarismus und Terrorismus, ergo auch Faschismus nachspürt – in Szene gesetzt mit einem fulminanten Schauspieler-Ensemble und getaucht in ein Schwarzweiß von geradezu unheimlicher Klarheit. Ein teuflisches Werk. (lm) 45