Leseprobe 200409

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Leseprobe 200409
Interview
Dieter Hildebrandt, Jahrgang 1927, ist Mitbegründer der
legendären Münchner Lach- und Schießgesellschaft. Nach
Auflösung des Ensembles 1972 wurde er vor allem durch seine
Fernsehsendung Notizen aus der Provinz, später dann mit
Scheibenwischer bekannt. Nach seinem Rückzug aus dem
Fernsehen im Oktober 2003 kann man ihn heute bei Lesungen
seiner Bücher oder auf dem Konzertpodium bei der Moderation
des Programms „Vorsicht, Klassik!“ erleben. In diesem
„satirischen Sinfoniekonzert“ für Orchester und Sprecher
werden die gediegenen Rituale des traditionellen Konzertwesens geistreich-humorvoll auf die Schippe genommen.
Zwischen den Texten von Hildebrandt sind beispielsweise die
„Nacht des Schicksals“, eine Oper in keinem Akt und vier
Abzügen oder die „Kurzfassung des Neujahrskonzerts der
Wiener Philharmoniker“ in dreieinhalb Minuten zu hören.
Ohne Musik ist ein Leben
nicht auszuhalten
Gerald Mertens im Gespräch mit Dieter Hildebrandt
Herr Hildebrandt, dem breiten Publikum sind Sie als Kabarettist
auf der Bühne und aus dem Fernsehen u. a. mit „Notizen aus der
Provinz“ und „Scheibenwischer“ bekannt. Da fällt Ihr Auftritt
mit einem Sinfonieorchester eher aus dem Rahmen. Was hat Sie
zur Zusammenarbeit, z. B. mit den Münchner Symphonikern,
und zum Programm „Vorsicht, Klassik!“ bewogen?
Das war der Erfolg der Zusammenarbeit mit dem Komponisten
und Musiker Werner Thomas-Mifune in den Jahren 1976/77.
Mifune spielte damals bereits in jenem Sextett, mit dem er auch
heute noch auftritt, und in der gemeinsamen Arbeit stellten wir
fest, dass unsere Gedanken über Musik und über die Wirkung
der Musik ähnlich sind. Er bedauerte immer, dass diese Musik
so ungeheuer feierlich ist und so gravitätisch.
Das Orchester 9/04
Die klassische Musik…
Die klassische Musik, ja. Und ich habe dann meine Eindrücke
geäußert und ihm vorgespielt, wie ein Mensch im Konzertsaal
sitzt, mit wie wenig Freude er dort sitzt. Da hat er sehr darüber
gelacht. So kamen wir zusammen und haben bei der Gelegenheit auch gleich einen Plan entworfen, wie ein gemeinsames
Programm aussehen könnte. Also eine Mischung aus meiner
Art von Kabarett und seiner Art von, sagen wir mal, Zerstörung
der Feierlichkeit. Und das haben wir dann bei Philip Rosenthal,
dem Chef der Porzellan-Manufaktur Rosenthal, also im sehr erfolgreichen Kulturzentrum seines Werks im oberfränkischen
Selb, ausprobiert. Und siehe da, es funktionierte.
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Interview
Und für die musikalische Unterstützung sorgte das Sextett.
Genau. Wir haben dieses Programm viele Jahre gemacht und
sind auch fast jedes Jahr mit ihm auf Tournee gewesen, bis wir
dann ein neues zusammengestellt haben, ein Programm, das
auch tagesaktuelle Bezüge enthielt. Meine Texte bezogen sich
immer auf die aktuellen Dinge. Dann gab es noch Texte, die
Musik und Theater zum Gegenstand hatten, und schließlich
noch ein bisschen Politik. Das war also eine dreiteilige Mischung. Aber irgendwann haben wir die Verbindung untereinander verloren und zwei, drei Jahre gar nichts mehr gemacht.
Eines Tages aber muss jemand die Idee gehabt haben, so eine
Art Neujahrskonzert zu entwickeln wie es die Österreicher haben, nur vielleicht ein bisschen lustiger. Da sind wir wieder zusammengekommen und haben uns überlegt, dass man eigentlich auch mit einem Orchester zusammenarbeiten könnte. Ausprobiert haben wir es schließlich beim Neujahrskonzert in
Wiesbaden, im dortigen Kursaal mit dem Radio-SinfonieOrchester Frankfurt des Hessischen Rundfunks.
Wann war das ungefähr?
Das muss vor vier Jahren gewesen sein. Es war ein sehr großer
Erfolg, auch wenn da unten zum Teil ein Publikum saß, das sich
darüber beschwerte, dass dies nicht „sein“ Neujahrskonzert sei,
worauf ich antwortete: „Nein, das ist unseres.“ Unsere besondere Konzertgestaltung sprach sich rum, und wir haben seit diesem Auftritt das Programm mit ungefähr sechs verschiedenen
Orchestern aufgeführt. Unter anderem mit dem Staatsorchester
in Halle unter der Leitung des ehemaligen GMD von Jena, Andrey Boreyko, der jetzt, glaube ich, in Hamburg ist …
Es war ein sehr großer Erfolg, auch wenn
da unten zum Teil ein Publikum saß, das
sich darüber beschwerte, dass dies nicht
„sein“ Neujahrskonzert sei, worauf ich
antwortete: „Nein, das ist unseres.“
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Werner Thomas-Mifune
hen ist, vorgetragen. Da habe ich auch die Reaktionen der Musiker mitbekommen, die in der Mehrheit angenehm, sogar richtig
gut waren und mit Lachen einhergingen. Ein anderer Teil, ein
kleinerer Teil dagegen zeigte sich etwas beleidigt angesichts des
Unfugs, der hier mit der „heiligen Musik“ angestellt wurde. Das
waren die „heiligen Musiker“. Diese Minderheit hat sich dann
aber bald noch weiter verringert, bis schließlich nur noch zwei
oder drei mürrische Menschen übrig blieben. Das ist nun mal
so. Das ist dann irgendein vereinsamter Bläser oder jemand aus
dem Orchester, der grundsätzlich widerspricht, wenn irgendetwas ist oder weil wir einen für ihn falschen Dirigenten mitgebracht haben.
… Er ist bei den Hamburger Symphonikern, ja …
… und wir haben es gemacht mit den Münchner Symphonikern, die jetzt unser Stammorchester sind.
Haben Sie den Dirigenten mitgebracht, weil er in diesem Programm zu Hause war?
Ja. Später haben wir dann aber gemerkt, dass es auch mit im
Programm unerfahrenen Dirigenten geht. Hier in Berlin haben
wir unser Programm mit dem Deutschen Symphonie-Orchester
gemacht und es war kein einziger Musiker dagegen. Also, eigentlich haben wir immer sehr gute Erfolge bei den Orchestern
gehabt. Ich bin in meinen Texten natürlich auch immer auf die
speziellen Verhältnisse und Strukturen im Kulturleben der jeweiligen Stadt eingegangen.
Wie ist die Reaktion bei den Orchestermusikern? Ablehnung?
Zustimmung? Heiterkeit?
Das war eine interessante Erfahrung. Als ich das erste Mal vor
das Orchester trat, hatte ich mir so einen Schuss Resolutheit
mitgebracht und habe die Musiker in einer, sagen wir mal, etwas launigen Ansprache begrüßt und habe ihnen dann vor allen
Dingen den ganzen Text, der ja im Konzert nach vorne gesprochen wird und deshalb für das Orchester nicht so gut zu verste-
Musste Musik zwingend dafür bearbeitet und arrangiert werden?
Ja, natürlich. Da sind Vorschläge, z. B. Sparvorschläge… Musik
ist ja teuer geworden, einige Orchester mussten auch gehen.
Weniger die Beamten, die das entscheiden, sondern die Orchester. Wenn es eines zu viel zu geben scheint, ist das ganz furchtbar. Obwohl es mitunter das Orchester ist, das die eigentliche
Arbeit leistet, nämlich eine Menge für die klassische Musik zu
tun und sie zur Jugend zu bringen.
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Interview
Wie die Münchner Symphoniker oder die Berliner Symphoniker…
… die nicht so teuer sind, wo die Dirigenten mal eben 3 000
Euro für ein Dirigat bekommen und nicht 30 000 oder 40 000
und zusätzlich zwei Millionen festes Gehalt im Jahr, wie es anderswo der Fall ist. Es ist ein Skandal, wie hier gedacht wird:
„Natürlich wollen wir nicht von der Weltspitze verdrängt werden, weswegen wir die ganz teuren Dirigenten brauchen und die
anderen Orchester schließen müssen.“ Das alles ist auch die Thematik im Programm am Abend, die schleift sich auch an den
Kulturgewohnheiten der Stadt scharf und versucht zu provozieren. Musikalisch ist es der Abend von Werner Thomas-Mifune.
Seine Bearbeitungen sind von hoher Qualität, von „high spirit“,
wie man heute sagen würde. Er hat eine dreiminütige Fassung
der fünften Sinfonie von Beethoven erstellt, er hat das Neujahrskonzert auf zwei Minuten und achtundzwanzig Sekunden gerafft, er hat Chopin bearbeitet und spielt mit seiner Gruppe
auch Jazz.
Eine bunte Mischung…
Eine wunderbare Mischung. Und er schreckt auch nicht vor zirzensischen Darbietungen zurück, z. B. ein Stück für Cello, ge-
spielt von zwei hintereinander sitzenden Cellisten, was ein unglaublicher Effekt ist. Gegenwärtig arbeiten wir an einem neuen
Programm, einem speziellen Weihnachtsprogramm, das zwei
Titel hat. Der Haupttitel lautet „O du fröhliche“ und der Untertitel „Pfefferkuchen für die Ohren“. Wir versuchen hierin, das
Weihnachtsfest und die Musik zu diesem Anlass ein wenig zu
entgeistern und zu entkitschen. Dabei ist es durchaus möglich,
dass man ein wunderbares Stück wie „Ave Maria“ einmal so
spielt, dass der Raum sich verändert. Ich möchte in meinen Texten und in der Art, wie ich sie vortrage, nicht unbedingt religiös
werden, aber ich möchte schon gerne wissen, ob die Menschen
noch eine Ahnung davon haben, welche Feste wir überhaupt
feiern. Und das ist etwas, was meiner Freude an Geschichten
nahe kommt, denn die Weihnachtsgeschichte ist ja eine wunderbare Geschichte und sie erinnert an Duldsamkeit, Toleranz
und den Versuch der Nächstenliebe. Und das möchte ich hervorrufen.
… mehr erfahren Sie
in Heft 2004/09
Foto: Michael Kretzer
Neujahrskonzert 1999 mit Dieter Hildebrandt und dem
Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt im Wiesbadener Kursaal
Das Orchester 9/04
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