zeitzeichen
Transcrição
zeitzeichen
zeitzeichen: Herr Professor Möller, vor vierhundert Jahren wurde Paul Gerhardt geboren, einer der bedeutendsten Liederdichter des deutschen Protestantismus. Was fasziniert Sie an seiner Person? Christian Möller: Die Mischung aus Trost und Trotz, die seine Lieder auszeichnet: „Befiehl du deine Wege…“einerseits; „Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich“ andererseits. Paul Gerhardt weiß, dass Trost ohne Trotz weinerlich, Trotz ohne Trost verbittert wird. zeitzeichen: Im Stammteil des Evangelischen Gesangbuches stehen 26 Lieder von Paul Gerhardt und im katholischen Gesangbuch „Gotteslob“ sind es immerhin zwölf. Wie ist das zu erklären, dass Paul Gerhardt immer noch so beliebt ist, sogar über die Grenzen der evangelischen Kirche hinaus? Christian Möller: Ihm sind sprachliche Figuren gelungen, die klassisch geworden sind. Beispiel: „Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.“ Das Wirken des Schöpfers und mein Lebensweg werden hier so eng zusammengefügt, dass ein Mensch wieder Boden unter den Füssen und Zutrauen zum Leben gewinnt. zeitzeichen: Aber ist das Bild von einem Gott, „der Wolken, Luft und Winde“ dirigiert, nicht überholt? Christian Möller: Ähnlich spottete schon der alte Fritz in Sanssouci angesichts von Paul Gerhardts Abendlied „Nun ruhen alle Wälder, Vieh, Menschen, Städt und Felder, es schläft die ganze Welt“, dass ja bestensfalls nur die halbe Welt schlafe. Wer sich von poetischer Freiheit nicht inspirieren lässt, kann auch Gerhardts Lieder kaum verstehen. zeitzeichen: In seinem Choral „Sollt ich meinem Gott nicht singen?“ schreibt Gerhardt von Gott: „Seine Strafen, seine Schläge, ob sie mir gleich bitter seind, dennoch wenn ich´s recht erwäge, sind es Zeichen, dass mein Freund, der mich liebet, mein gedenke und mich von der schnöden Welt, die uns hart gefangen hält, durch das Kreuze zu ihm lenke.“ Hat Gerhardt damit Recht? Straft und schlägt Gott den Menschen? Christian Möller: Gerhardt sieht den gütigen und den zornigen Gott der Bibel zusammen. Unsere Gefahr ist heute, dass wir Gott auf einen harmlos lieben Gott reduzieren, mit dem wir Hoppe-Hoppe-Reiter spielen können. Dann singen wir nur noch: „Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer…“ zeitzeichen: Gerhardt sagt aber nicht nur, dass Schläge und Strafen von Gott kommen, sondern dass sie auch zeigen, dass Gott den Menschen liebt. Christian Möller: Das ist wie beim Propheten Amos: „Euch allein habe ich aus allen Geschlechtern auf Erden erkannt, darum will ich auch an euch heimsuchen all eure Sünden.“(3,2) Der Zorn ist die andere Seite von Gottes Liebe. zeitzeichen: Würden Sie sagen, dass auch eine Krebserkrankung ein Zeichen der Liebe Gottes ist? Christian Möller: Amos fragt an derselben Stelle weiter: „Ist etwa ein Unglück in der Stadt, das der HERR nicht tut?“( 3,6) Will in diesem Sinn nicht auch eine Krebserkrankung mit Gott zusammengebracht werden? Wird aber Gottes Liebe verharmlost, so werden gerade die im Stich gelassen, die Gottes dunkle Seite erfahren müssen. zeitzeichen: Um noch einmal auf besagte Strophe von Paul Gerhardt zurückzukommen: Ist das eine Strophe, die der eine Mensch singen kann, während der andere verstummt? Christian Möller: Ja, ich halte bei manchen Strophen Paul Gerhardts auch manchmal den Atem an und denke: Das kommt später dran. zeitzeichen: Gerhardt war elf als der Dreißigjährige Krieg begonnen hat. Und er war 41 Jahre alt, als der Dreißigjährige Krieg aufgehört hat. Er hat seine Frau und vier Kinder überlebt. Ist von daher der starke Bezug aufs Jenseits zu erklären, der in seinen Texten immer durchklingt. Selbst der Choral „Geh aus mein Herz und suche Freud“, der die Schönheit der sommerlichen Landschaft so anschaulich beschreibt, ist ja letztlich auf das Jenseits ausgerichtet. Christian Möller: Diesseits und Jenseits gehören bei Paul Gerhardt zu der einen Welt Gottes. In dieser weiten Welt kann sich ein Mensch abgründig in seine Ängste und seine Schwermut verschließen, wie es wohl auch Gerhardt angesichts von Pest, Krieg und Kindersterblichkeit zuweilen getan hat. Deshalb dichtet er auch für sich selbst und für alle Menschen, denen es ähnlich geht: „Warum sollt ich mich denn grämen?“ Fast immer fangen seine Lieder bei der verzagten Seele, dem schwermütigen Herzen oder dem beschädigten Gewissen an und gehen dann einen Weg, der immer weiter hinaus in Gottes Diesseits und Jenseits führt, um Lebensweite und Gottesnähe für den Menschen zu gewinnen: „Herr, mein Hirt, Brunn aller Freuden, du bist mein, ich bin dein, niemand kann uns scheiden.“ zeitzeichen: Paul Gerhardt erinnert also eine Dimension, die heute vielfach verloren gegangen, die aber wichtig ist? Christian Möller: Unbedingt. Seine Lieder wecken in uns eine Himmelssehnsucht, die uns hier auf Erden gelassener machen kann. Das ist ja letztlich der ganze Grund seines ganzen Singens. „Das was mich singen machet, ist was im Himmel ist.“ zeitzeichen: Es fällt auf, dass Paul Gerhardt aus Brandenburg und Sachsen nicht herausgekommen ist. Außerdem ist er ein deutscher Dichter, er wirkt, weil er ein schönes poetisches Deutsch geschaffen hat. Umso erstaunlicher ist, dass Gerhardt auch außerhalb des deutschen Sprachraums wirkt. Christian Möller: Kant ist ja nicht einmal aus Königsberg herausgekommen und hat dennoch weltweite Beachtung mit seiner Philosophie gefunden! Paul Gerhardt wirkte wohl deshalb weit über den deutschen Sprachraum hinaus, weil es ihm gelungen ist, tiefsten Glauben mit höchster Sprachkunst zusammenzureimen. Die schlichte, jedem verständliche Sprache und der tiefe, kaum auslotbare Gedanken fanden in seinen Liedern zusammen: „Nackend lag ich auf dem Boden, da ich kam, da ich nahm meinen ersten Odem; nackend werd ich auch hinziehen, wenn ich werd von der Erd als ein Schatten fliehen.“(EG 370,2) Da ist ein ganzes Leben von der Geburt bis zum Tod auf den Reim einer Strophe gebracht. zeitzeichen: Worin unterscheiden sich Paul Gerhardts Choräle eigentlich von anderen? Christian Möller: Martin Luthers Choräle sind lehrhafter. Sie haben dem Volk die reformatorische Lehre zum Singen in den Mund und so ans Herz gelegt. Die Lieder des Pietismus bleiben innerlich, während Paul Gerhardt die Innerlichkeit nach außen wendet. Die Lieder der Aufklärung sind aufs Nützliche und Sittliche gestimmt. Und die geistlichen Lieder von heute kreisen gefühlig und gut gelaunt um den Menschen: „Unser Leben sei ein Fest“. Da ist Paul Gerhardt realistischer, indem er daran erinnert, dass das Leben auch hart sein kann: „Schickt er mir ein Kreuz zu tragen, dringt herein Angst und Pein, sollt ich drum verzagen?“ zeitzeichen: Bei den Chorälen Luthers fällt ja auf, dass vorwiegend die Worte „wir“ und „uns“ vorkommen, während bei Paul Gerhardt von „ich“ und „mir“ die Rede ist. Es gibt Theologen, die diesen frommen Subjektivismus kritisiert haben. Christian Möller: Paul Gerhardt hat seine Lieder ja zuerst für die persönliche Andacht , für die Hausandacht, für das Singen bei der Arbeit geschrieben. Sie wurden dennoch Gemeindelieder, weil das Ich von exemplarischer Art ist: Jeder und jede kann in das „Ich“ einstimmen, und so bildet sich Gemeinde mit einem gefüllten „Wir“. zeitzeichen: Ist Paul Gerhardt einzigartig? Christian Möller: Kaum einer hat elementare Glaubenserfahrungen so einzigartig und zugleich so faßlich zur Sprache gebracht wie er. Freilich, er gehört in die Zeit der lutherischen Orthodoxie hinein, die deshalb so klar singen konnte, weil sie auf eine klare Glaubenslehre bedacht war. zeitzeichen: Diese Zeiten sind vorbei. Christian Möller: Was die klare Lehre betrifft, so wünschte ich, diese Zeiten kämen wieder, denn aus klarer Lehre gehen auch klares Leben und Singen hervor. zeitzeichen: Können Paul Gerhardts Lieder dazu helfen? Christian Möller: Vielleicht können Paul Gerhardts Lieder auch uns heute durch langsames Meditieren und intensives Singen dazu helfen, dass wir unseren Glauben elementarer leben und bezeugen können. zeitzeichen: Wodurch erzielen Paul Gerhardts Choräle eigentlich ihre Wirkung, durch ihre Worte oder durch ihre Musik? Christian Möller: Durch beides. Es ist die geglückte Arbeitsgemeinschaft eines Theologen und zweier Kirchenmusiker, die uns so wunderbare Lieder geschenkt hat. Paul Gerhardt auf der einen Seite, Johann Crüger und Johann Georg Ebeling, Kantoren an der Berliner Nikolaikirche, auf der anderen Seite. Sie haben durch eine geglückte Einheit von Singen und Sagen zusammengewirkt. Kirchenmusiker und Pfarrer, die sich oft schwer miteinander tun, haben hier in einer kreativen Einheit gewirkt, so dass Melodie und Text zusammengefunden haben. zeitzeichen: Wann glückt es, dass Text und Melodie übereinstimmen? Christian Möller: Paul Gerhardts Sprache hat ja in sich einen Klang. „Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen; und weil ich nun nichts weiter kann, bleib ich anbetend stehen…“Da steckt schon Musik drin. Wenn es nun dem Musiker gelingt, die der Sprache inhärente Musik auf den Ton zu bringen, so entsteht eine wunderbare Einheit von Sprache und Musik. zeitzeichen: Das heißt die Übereinstimmung von Wort und Musik gelingt, wenn der Klang des Wortes verstärkt wird? Christian Möller: Ja. Der Höhepunkt einer dem reformatorischen Anliegen entsprechenden wortgezeugten Musik ist Heinrich Schütz. Er hat den Psalmworten ihre indirekte Musik abgelauscht und sie in Noten gefasst. zeitzeichen: Hat Schütz Crüger und Ebeling, die Komponisten der Gerhardtlieder, beeinflusst? Christian Möller: Ja, Heinrich Schütz war in dieser Zeit das grosse Vorbild für alle Kantoren. zeitzeichen: Haben Sie einen Lieblingschoral von Paul Gerhardt? Christian Möller: Das kommt auf die Situation darauf an. Meine Mutter hat mit uns Kindern immer gesungen „Breit aus die Flügel beide, o Jesu meine Freude“. Das habe ich mit meinen Kindern auch gesungen. Und manchmal murmele ich diese Worte heute noch, wenn ich nicht schlafen kann. Einen Sommer kann ich mir kaum ohne „Geh aus mein Herz und suche Freud“ vorstellen; den Advent nicht ohne „Wie soll ich dich empfangen“ und Weihnachten nicht ohne „Ich steh an deiner Krippen hier“. Kürzlich habe ich einem Freund zum Tod seiner Frau Strophen aus „Warum soll ich mich denn grämen“ abgeschrieben, weil ich keinen besseren Trost weiß. Es hängt also von der Situation an, zu welchem Choral von Paul Gerhardt ich greife. zeitzeichen: Wenn Sie ins Evangelische Gesangbuch schauen, gibt es da Namen, die Paul Gerhardt ebenbürtig sind? Oder würden Sie sagen, zunächst kommt er - und dann kommt lange Zeit niemand? Christian Möller: Es gibt gerade in der Zeit des 17. Jahrhunderts, die so leidgeprüft war, eine Reihe von Liedermachern, die den Menschen geholfen haben, aus der Zisterne ihrer Schwermut herauszukommen: zB. Martin Schalling „Ach Herr, lass dein lieb Engelein am letzten Ende die Seele mein in Abrahams Schoß tragen“, oder mein schlesischer Landsmann Johann Heermann „O Gott, du frommer Gott“ und Martin Rinckhart „Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen“. zeitzeichen: Das 20. Jahrhundert war auch nicht gerade arm an Leid. Christian Möller: Der Paul Gerhardt des 20. Jahrhunderts ist für mich Jochen Klepper, der in der Nazizeit so Schweres durchmachen musste und wohl gerade deshalb der evangelischen Kirche so einzigartige, schöne und tiefe Lieder geschenkt hat wie z.B. „Die Nacht ist vorgedrungen“. . zeitzeichen: Zurück zu Paul Gerhardt. Eine Zeitschrift hat sein Werk als eine „Ballade vom guten Ausgang aller Dinge“ beschrieben. Würden Sie dem zustimmen? Christian Möller: Ich würde noch weiter gehen und von einer „Ballade vom guten Ausgang im Himmel“ sprechen. Denn darauf zielen alle Lieder Paul Gerhardts. Sie fangen beim schwermütigen Herzen und der verzagten Seele an und bilden eine Himmelsleiter, an der Menschen allmählich heraussteigen können aus ihrer Schwermut. Das Singen dieser Lieder gibt einen Vorgeschmack des Himmels. zeitzeichen: Und was bedeutet Himmel? Christian Möller: Himmel ist der Raum, wo Gott alles in allem ist und der Mensch von der Freude an Gott allein bestimmt ist. Gott sei Dank gibt es Gottesdienste und andere Ereignisse, die uns manchmal sogar den Himmel auf Erden schenken. zeitzeichen: Protestanten, die wie Sie im Schatten der Kirche groß geworden sind, lieben Paul Gerhardt. Aber Außenstehende haben doch oft Probleme, nicht nur mit Gerhardt, sondern generell mit den klassischen Chorälen. Ihre Sprache gilt als schwer verständlich, ihre Musik als langweilig. Sollte eine missionarische Kirche, eine Kirche, die neue Mitglieder gewinnen will, nicht auf die alten Choräle verzichten und sie allenfalls der Kerngemeinde zugestehen? Christian Möller: Um Gottes Willen nein. Ich kenne so viele kirchenferne Menschen, die bis zu Tränen gerührt sind, wenn in Johann Sebastian Bachs Matthäusoratorium der Chor plötzlich singt „Ich will hier bei dir stehen, verachte mich doch nicht“. Dann ist das Geschehen von Jesu Passion plötzlich für sie präsent und es geschieht so etwas wie Identifikation. zeitzeichen: Viele Gemeinden, die schnell wachsen, und das sind häufig evangelikale und charismatische, verzichten auf die klassischen Choräle und ersetzen sie durch zeitgenössische Lieder. Das legt doch nahe, dass die herkömmliche Kirchenmusik Außenstehende nicht mehr erreicht. Christian Möller: Auch im evangelikalen Bereich wird das Erbe Paul Gerhardts aufgegriffen, freilich durch neuartige Fassungen, zum Beispiel durch Rockvertonungen. Man kann auch im evangelikalen Raum nicht immer nur leicht eingängige neue Lieder singen. Auch hier braucht man zum Singen immer mal wieder Schwarzbrot, sonst werden die Zähne stumpf. Daher bin ich überzeugt, dass Paul Gerhardts Choräle auch hier in Zukunft von Bedeutung sein werden. zeitzeichen: Sie haben gesagt, dass Paul Gerhardt ein Kind des 17. Jahrhunderts sei und deswegen solch einen Tiefgang habe. Gleichzeitig haben Sie gesagt, seine Texte seien zeitlos. Wie geht das denn zusammen? Christian Möller: Die Menschen des 17. Jahrhunderts mussten tiefe Erfahrungen mit dem Leiden durchmachen, und sie wurden von Paul Gerhardt in seinen Liedern zugleich so elementar getröstet, dass dabei zeitlose, in jede Zeit hinein immer wieder neu treffende Worte entstanden sind. zeitzeichen: Könnte man das so sagen. Paul Gerhardt hat in seiner Zeit bestimmte Erfahrungen gemacht, aber das waren so grundlegende Erfahrungen, die zeitlos sind, weil sie allgemeine menschliche Erfahrungen verdichten? Christian Möller: Ja. Paul Gerhardt war ein Kind seiner Zeit. Aber er hat Erfahrungen sprachlich so verdichtet, dass sie Erfahrungen ansprechen, die Menschen zu allen Zeiten treffen. Seine Choräle helfen Menschen, ihren Ängsten auf den Grund zu kommen. Denn Paul Gerhardt hat eine Sprache für Ängste gefunden, für die viele Menschen gar keine Sprache mehr finden. zeitzeichen: Haben Sie einen Wunsch für das Paul-Gerhardt-jahr 2007? Christian Möller: Ich habe sogar drei Wünsche: 1. Daß in diesem Jahr möglichst viele solcher kreativen Arbeitsgemeinschaften zwischen Pfarrern und Kirchenmusikern entstehen mögen wie zu Paul Gerhardts und Johann Crügers Zeiten. 2. Daß diese Arbeitsgemeinschaften kreative Wege finden mögen, wie Paul Gerhardts Lieder wieder mit allen Strophen in einem Gottesdienst gesungen werden können, und die Verstümmelungen dieser Lieder endlich aufhören! 3. Daß die Evangelische Kirche durch Paul Gerhardts Poesie von ihrer Funktionärssprache mitsamt „Qualitätssicherung, Kompetenz und Mentalitätswandel“ befreit werde, und so schöne Reime in die EKD-verlautbarungen einziehen wie z.B. „Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit“. Das Gespräch führten Barbara Schneider und Jürgen Wandel am 30. November 2006 in Heidelberg.