Papierform

Transcrição

Papierform
20
Thema: Paul Gerhardt (1607–1676) – Spuren des Liederdichters
Papierform
Der Liederdichter Paul Gerhardt in
neuen Büchern
Paul Gerhardt allerorten. Sich mit seinem Leben, seinen Liedern, nicht zuletzt seiner andauernden, weltweiten Wirkung zu beschäftigen,
lohnt immer neu. Mit Bezug auf den 400. Geburtstag ist darum auch das Verlagswesen nicht
untätig geblieben und hat in letzter Zeit gut
zwanzig Titel auf den Markt gebracht. Ein kommentierter Überblick von Christian Finke.
Seit dem Erscheinen der grundlegenden
Biographie von Hermann Petrich: Paul
Gerhardt. Ein Beitrag zur Geschichte des
deutschen Geistes, Gütersloh 1914, konnten kaum neue Funde das Lebensbild erweitern. Zu spärlich sind die Dokumente
über Gerhardts Leben. Allerdings haben
sich die Perspektiven verschoben, so dass
durch neue Forschungen andere Zugänge
ermöglicht werden. Das betrifft die Theologie, die das Verhältnis von Orthodoxie
und Frömmigkeit in ein neues Licht stellt,
die Literaturwissenschaft, die Gerhardt
stärker vor dem Hintergrund des 17. Jahrhunderts reflektiert, sowie neue Arbeiten
über die brandenburgische Kirchenpolitik.
Das alles wird von der nun maßgeblichen
Biographie von Christian Bunners: Paul
Gerhardt. Weg – Werk – Wirkung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 320
S., € 29,90, berücksichtigt. Bereits 1993
(21994) war der Band im Buchverlag Union erschienen, doch schnell vergriffen. In
der jetzt leicht veränderten und erweiterten Ausgabe wurden neue Kapitel etwa zur
Schwester Anna, zur Ehefrau oder zu „Gerhardt bei Johann Sebastian Bach“ eingefügt. Eine aktuelle Bibliographie führt in
das kaum überschaubare Feld der Gerhardt-Literatur.
Neben dieser umfangreichen und weitsichtig geschriebenen Darstellung fallen
andere Biographien zum Teil deutlich ab,
z. B. Lotte Bormuth: Fröhlich soll mein
Herze springen. Aus dem Leben von Paul
Gerhardt, Marburg: Francke 2005, 100 S.,
€ 5,95. Die christliche Autorin aus Marburg hat zahlreiche Büchlein mit Lebensbildern geschrieben. Der Sprachstil ist erbaulich, an manchen Stellen banal, vieles
fehlerhaft recherchiert. Wohltuend geschrieben dagegen ist die Biographie der
Philologin und Germanistin Erika Geiger:
Der Liederdichter in neuen Büchern
Dem Herren musst du trauen. Paul Gerhardt 1607–1676. Prediger und Poet,
Holzgerlingen: Hänssler 2006, 154 S., €
12,95. Sie schreibt: „In dieser Zeit suchen
wir seine Spuren und versuchen uns ein
Bild zu machen von dem Menschen und
Dichter Paul Gerhardt.“ Ihre Liedinterpretationen runden das Ziel ab. Das populäre
Büchlein Paul Gerhardt, der Sänger fröhlichen Glaubens erschien 1936 und wurde
oft aufgelegt. Diesmal ist der originale Text
gestrafft und mit Erfahrungen jüngster Zeit
erweitert: Karl Hesselbacher: Paul Gerhardt. Sein Leben – seine Lieder, neu hrsg.
Siegfried
Heinzelmann,
NeukirchenVluyn: Aussaat 2006, 188 S., € 9,90.
Leider bleiben falsche biographische Details und das fragliche Verknüpfen von
Liedstrophen mit Lebensstationen unkorrigiert. Recht umfassend und journalistisch
gewandt geschrieben ist Gerhard Rödding:
Warum sollt ich mich denn grämen. Paul
Gerhardt – Leben und Dichten in dunkler
Zeit, Neukirchen-Vluyn: Aussaat 2006,
240 S., € 16,90. Ein profundes Buch, das
man wohl gerne zur Hand nehmen wird.
Im Wissen darum, dass Wahrnehmung
überwiegend visuell geschieht, finden sich
vermehrt Publikationen mit reichem Bildmaterial. Zu dieser Form des Lebensbildes
gehört Hans J. Beeskow: Paul Gerhardt.
1607–1676. Eine Text-Bild-Biographie,
Lübben: Heimat-Verlag 2006, 139 S., €
14,95. Ein Schwerpunkt ist seine ausführliche Darstellung des Berliner Kirchenstreits.
Beeskow hat dafür neu aufgefundene Dokumente zu den Berliner Religionsgesprächen ausgewertet. Zwar nicht ganz fehlerlos, ist es doch als Geschenkband mit seinen zahlreichen Bildern eine Empfehlung
wert. Weniger die Abbildung von Dokumenten und Bildnissen als vielmehr stimmungsvolle Aufnahmen der Gegenden, die
mit den Wirkungsstätten Gerhardts zu tun
haben, bietet der großformatige Band Gert
von Bassewitz / Christian Bunners: Auf den
Spuren von Paul Gerhardt, Hamburg: Ellert
und Richter, 5., aktualisierte Auflage 2006
[11997], 96 S., € 12,90. Die Landschaftsaufnahmen und brillanten Bilder des Hamburger Fotographen von Bassewitz bleiben
zeitlos. Bunners schrieb die einführenden
Texte. Zur Kategorie Geschenkbände zählen zwei weitere Hefte: Ulrich Grober: Der
Liederdichter Paul Gerhardt in Berlin, Mittenwalde und Lübben 1642–1676, Frankfurt a. d. Oder: Kleist-Museum 22005, 16
S., € 5,–. Die Hefte der Reihe Frankfurter
Buntbücher haben „das Verhältnis zwi-
schen Schriftsteller und Orten zum Gegenstand“. Auf wenigen Seiten wird ein prägnantes Bild entworfen, das die Person, hier
im Bezug auf Berlin, Mittenwalde und Lübben, darstellt. Nur dass die Nikolaikirche
„im alten Stadtteil Cölln“ lag, sollte bei
nächster Gelegenheit korrigiert werden.
Preiswert, dennoch ansprechend, informativ und mit Illustrationen versehen, ist Ekkehard Graf: Die güldne Sonne voll Freud
und Wonne. Paul Gerhardt und seine Lieder, Hamburg: Agentur des Rauhen Hauses, 2006, 24 S., € 1,85, eine günstige
Möglichkeit, Gruppen mit einer Jahresgabe
zu bedenken. Auch hier sollte aber verbessert werden, dass Gerhardt nicht 134 Lieder geschrieben hat und dass 18 Lieder
schon 1647 in der Ausgabe der Praxis Pietatis zu finden sind.
Einen neuen Zugang zu Liedern Gerhardts sucht Befiehl du deine Wege und
bleib nicht bei dir stehen. Lieder von Paul
Gerhardt und Gedichte von Werner May.
Mit Bildern von Cornelia Patschorke,
Schwarzenfeld: Neufeld, 2006, 80 S., €
14,90. Ein schönes, hochwertig gestaltetes
Buch. Ein „Geburtstagsgeschenk an Paul
Gerhardt“. Die 14 farbenfrohen Bilder der
freischaffenden Künstlerin sind sehr ansprechend. Die acht Gedichte des christlichen Psychologen, der „seit fünf Jahren
[versucht], in und mit Gedichten die Wirklichkeit Gottes und das Leben zu verstehen“, nicht. Bei der Lektüre frage ich mich,
ob Gerhardts Lieder überhaupt ohne Melodie, ohne Musik innerlich gehört werden
können? Dennoch, ein schöner Geschenk-
band. Mit Illustrationen arbeitet ebenfalls
die bibliophile Gesamtausgabe, die von einem Redakteur des evangelischen Magazins chrismon verantwortet wird: Paul Gerhardt: Geh aus, mein Herz. Sämtliche
deutsche Lieder, ill. von Egbert Herfurth,
hrsg. Reinhard Mawick, Leipzig: Faber &
Faber 2006, 271 S., € 35,– (Halbpergament € 90,–). Leider eine Enttäuschung!
Wahrscheinlich ein Schnellschuss auf dem
begehrten Gerhardt-Markt. Zu viele Fehler
trüben die schöne Aufmachung. Der fundierte Einführungsbeitrag stammt von der
Kirchenhistorikerin Inge Mager. Warum
wurde bei den Melodiebeigaben die Graphik des EKG gewählt, das mit seinen Tonarten bekanntermaßen recht hoch ansetzte? Und woher stammen eigentlich die
Texte? Eberhard von Cranach-Sichart veröffentlichte 1949 die damals bekannten
134 deutschen Lieder und Gedichte sowie
die lateinischen Gedichte Gerhardts im
Verlag Paul Müller, München. Auch publizierte er 1957 eine um einige Schriftstücke
Gerhardts vermehrte zweite Auflage. Im
Allgemeinen wird nach dieser vorsichtig
modernisierenden Ausgabe zitiert. Erneut
wurden diese Texte 1982 und 1991 im
Oncken Verlag gedruckt. Diese Ausgaben
21
22
Thema: Paul Gerhardt (1607–1676) – Spuren des Liederdichters
sind vergriffen. Schließlich hat der
R. Brockhaus Verlag Wuppertal einen um
die fünf deutschen Gedichte, die in jüngerer Zeit aufgefunden wurden, vermehrten
Neudruck vorgelegt: Paul Gerhardt: Wach
auf, mein Herz, und singe. Vollständige
Ausgabe seiner Lieder und Gedichte, hrsg.
von Eberhard von Cranach-Sichart, 2006,
€ 16,90. Wenn nun Mawick allein auf die
im Paul Müller Verlag erschienene Edition
verweist, umgeht er diesen Fortschritt bei
den Gesamtausgaben! Die „herzbewegenden, zuweilen augenzwinkernden“ Illustrationen von Herfurth sind auf den ersten
Blick ein ungewöhnlicher Versuch, eine
andere Sicht auf Gerhardt zu gewinnen.
Seine 100 farblichen Illustrationen wollen
„nicht so weit weg vom Erdenleben stehen“. Doch wirkt Gerhardt reduziert und
zu kindlich reflektiert.
Zum großen Thema Liedpredigt gibt es
Neugedrucktes von Ruthild Depke: Mein
Herze soll dir grünen. Liedpredigten. Paul
Gerhardt zum 400. Geburtstag, Waltrop:
Spenner 2006, 194 S., € 12,–. Die 25 Liedpredigten der Theologin sind allesamt
dürftig und sachlich verkehrt. (Gerhardt
wirkte nicht in „Mittenwald“, zum reformierten Glauben war nicht erst „der Große
Kurfürst übergetreten“, schließlich nervt
das durchgängig falsche Verständnis der
Jahreszahlen: Wir wissen von kaum einem
Lied, wann es wirklich „entstanden“ ist.)
Was ist das für eine Gemeinde, die das hören kann und soll? Die Grundfrage, was
Der Liederdichter in neuen Büchern
Predigten heute zu leisten haben, stellt
sich aber auch bei dem ergiebigeren Buch
von Reinhard Ellsel: Du kommst und
machst mich groß. Predigten zu Liedern
von Paul Gerhardt, Bielefeld: Luther 2005,
135 S., € 15,90. Einen Schritt weiter führt
Reinhard Deichgräber: Nichts nimmt mir
meinen Mut. Paul Gerhardt als Meister
christlicher Lebenskunst, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 160 S., €
14,90. Das Buch möchte Gerhardts Lieder
„für den persönlichen Gebrauch, das persönliche Singen und Meditieren erschließen“, „ihren Wert für unseren Alltag neu ...
entdecken“. Gut ist, dass Gerhardt mit
konkreter Gemeindearbeit verknüpft wird
(Diakonie, Seniorenarbeit). Das hehre Ziel
entbehrt allerdings nicht der Trugschlüsse:
Ob „der Dichter bei seinem Schaffen kaum
an die zum Gottesdienst versammelte Gemeinde“ dachte, wird heute doch anders
gesehen. Insgesamt werden 27 Gedichte
bedacht. Völlig daneben geraten ist Heinrich Silber: Geh aus mein Herz. Stundenentwürfe zu Paul Gerhardt, NeukirchenVluyn: Aussaat Verlag 2006, 126 S., €
12,90. Anspruch und Wirklichkeit der
Stundenentwürfe und Materialien für die
Seniorenarbeit klaffen weit auseinander.
Senioren soll man nicht unterschätzen!
Hinzu kommen die zahlreichen Fehler des
schlecht lektorierten Buchs („Gerhard“,
Gräfenhainichen ein „Dorf“, Johann Crü-
ger ein „Liederdichter“, Nachnamen stimmen nicht, „Die güldene Sonne“ stammt
von Philipp von Zesen und bei „Befiel du
deine Wege“ befällt mich weiterer Schrecken). Einige sehr gelungene Entwürfe für
die seelsorgliche Arbeit mit schönen Beispielen für Andachten, Trostbriefe, Spielszenen, Konfirmandenunterricht etc. lassen sich bei Felizitas Muntanjohl / Michael
Heymel: Auf, auf, mein Herz, mit Freuden.
Gottesdienste, Gemeindearbeit und Seelsorge mit Liedern von Paul Gerhardt, Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus 2006, 272
S., € 19,95, finden. Gerhardts Lieder wollen „ein Leben aus dem Glauben“ bezeugen, wollen „Glaubens- und Lebenshilfe“
sein. Heymel fragt, was die Lieder „für die
Seelsorge auszeichnet“. Sie böten Trost,
der verändert. Sie seien „Ausdruck einer
Frömmigkeit, die geübt sein will durch das
geistliche Singen“. Sie „üben im Voraus
das Lobsingen in der Ewigkeit“ und „weiten meinen Horizont“. Alle EG-Lieder
kommen vor. Auch in diesem Buch geraten
die Liedpredigten schwächer. Und an dieser Stelle soll angemerkt werden, dass ein
hymnologisches Wissen für Theologen
und Theologinnen unabdingbar ist! Wenn
diese Kompetenz vorhanden wäre, gäbe es
viele Ungenauigkeiten nicht. Vom Heymel
stammt auch das Kapitel „Der Trost alter
Kirchenlieder: Paul Gerhardt“ in Michael
Heymel: Wie man mit Musik für die Seele
sorgt, Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag 2006, 288 S., € 19,90. Es vertieft an
drei Gerhardt-Liedern seine Thesen.
Und wie können wir uns heute Paul
Gerhardt noch nähern? Punktuell mit
Frank Pauli: Im Himmel ist ein schönes
Haus. Skizzen zu Paul Gerhardt, Berlin:
Wichern 2006, 120 S., € 9,–. In zehn Kapiteln, die auf sorgfältig recherchierten Details aufbauen, nimmt der journalistisch
versierte Autor teils assoziativ, gar spekulativ den Kollegen Gerhardt in seinen Gedichten beim Wort. – Erbaulich mit Albrecht Goes: Ein Winter mit Paul Gerhardt,
Neukirchen-Vluyn: Aussaat 2006 (11976),
175 S., € 12,90. Auf fünfzig Seiten bietet
Goes einen sehr persönlichen, natürlicherweise nicht mehr aktuellen Zugang zu Gerhardt. Einen ebenfalls individuellen Zugang bieten Cornelia Haverkamp / Albrecht Gralle (Hrsgg.): Der Wolken, Luft und
Winden gibt Wege, Lauf und Bahn … Ein
Lesebuch zu Liedern von Paul Gerhardt,
Gießen: Brunnen, 2006, 192 S., € 9,95.
Kurzgeschichten, wie sie mir so einfallen,
wenn ich an einer Paul-Gerhardt-Straße
vorbei gehe. – Forschend mit Paul Gerhardt. Erinnerung und Gegenwart. Beiträge
zu Leben, Werk und Wirkung, hrsg. von
Winfried Böttler, Berlin: Frank und Timme
2006, 179 S., € 24,80. „Diese Sammlung
von Beiträgen ist das Ergebnis dreier Jahrestagungen der Paul-Gerhardt-Gesellschaft“ (s. www.paul-gerhardt-gesellschaft.
de). Spannende Aufsätze zur heutigen Erinnerungskultur, zur Frage der Nachahmung im 17. Jahrhundert, zum Lied „Geh
aus, mein Herz“.
Was fehlt? Oft wird Gerhardt als Ökumeniker gewürdigt. Doch scheinen die Publikationen zu Gerhardt eine rein protestantische Angelegenheit. Wo sind die anderen Konfessionen? Zweitens: Überwiegend doch gilt Gerhardt als großes christliches Vorbild. Gibt es gar keine Schwierigkeiten mit ihm, mit seiner Person, mit seinen Liedern? Drittens: Wie können wir
heute angemessen seiner gedenken. Christiane Holm meint, „Gerhardts Werk singend und hörend zu gedenken“, „Gedenkorte aus Liedern“ zu bauen, sei die angemessene Form einer Erinnerungskultur. Mit
Singen also!
23