KUNSTALSNEGATIVE AUFKLÄRUNG– FRANCISCO GOYAS
Transcrição
KUNSTALSNEGATIVE AUFKLÄRUNG– FRANCISCO GOYAS
KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG NOVIEMBRE 2013 KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG – FRANCISCO GOYAS DIALEKTIK VON CAPRICHO UND INVENCIÓN Susanne Dittberner* PROLOG: GOYAS CAPRICHIÖSES ENGAGEMENT Die Epoche, in der Francisco Goya die Zeitgenossen verstörte, aufwühlte, abstieß oder zum Nachdenken zwang, liegt 200 Jahre zurück. Doch auch wenn seine Werke mittlerweile musealisiert und kommerzialisiert wurden und werden, bis dahin, dass man den Namen des Künstlers zum Markenzeichen, zum logo, einer „eventlocation“ 1 namens „Goya“ machte, bewahren die Werke des spanischen Malers für den, der genau hinschaut, eine schwer zu definierende Befremdlichkeit. Etwas von dem Schock, mit dem der Hofmaler des Königs von Spanien einst das Gewohnte – den gewohnten Blick auf die Welt um ihn herum, auf das höfische wie das alltägliche Leben in der Stadt, in der er lebte – und damit die eingeschliffenen Sehweisen seiner Zeitgenossen revolutionierte, übermittelt sich auch noch uns, den heutigen Betrachtern. Mögen Goyas Gemälde, Radierungen, Lithographien und Zeichnungen auch in unseren modernen musealen Kunstkonsumtempeln in KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG dekorativer Gefälligkeit arrangiert sein, so entziehen sie sich doch beim Nähertreten dem geschmacksästhetischen Urteil. Sie lassen den Betrachter verstört, irritiert, emotional aufgewühlt zurück. Damit ist schon das Entscheidende über die Wirkung der Kunst Francisco Goyas gesagt. Im Folgenden möchte ich zeigen, auf welche Weise Goya eine solche Wirkung erzielt und dass der Künstler seine Werke als negative Mimikry an die zentralen Konflikte seines Zeitalters entwickelt hat – als einen ästhetischen Gegenentwurf zu den philosophischen und administrativen Antworten, mit denen die Aufklärung (ilustración) auf die drängenden politischen, sozialen (und kulturellen 2 ) Konflikte des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts reagierte. Dabei fällt auf, dass Goya bereits mit den Caprichos eine gültige ästhetische Ausdrucksform gefunden hat, eine Form, an die er später immer wieder anknüpfen kann. Die Caprichos – das sind jene berühmten Radierungen, die sich in pointierter Polemik von der pathetischen Metaphorik des Lichts distanzieren, die die Epoche der Aufklärung (ilustración) erfüllte und beseelte. Goyas Grafiken konfrontieren den Betrachter statt dessen mit einer Welt voller Schatten und dunkler Grautöne, vor denen sich, schimärisch aufleuchtend, merkwürdige Gestalten abheben, jene Figuren, die dieses Universum zum goyesken machen und von da an bevölkern werden. Goya wird den Fragen, die er in und mit den Caprichos gestellt hat, in seinen weiteren Werken treu bleiben, auch wenn sich seine Sujets ändern. Dieser Artist wird nie (wieder) der unkomplizierte Hofmaler und Dekorateur sein, der er eigentlich werden wollte. Die Caprichos – und jene gemalten „caprichos“, die ihnen vorausgehen – stellen die Weichen. Sie machen Francisco Goya zum modernen Künstler. Mit ihnen verlässt er die Welt des Gefälligen und begibt sich auf einen Weg, der in seinen grandiosen späten Serien, den Desastres, Disparates und Pinturas Negras kulminieren wird. Und so wie sich die Caprichos am Scheitern der Aufklärung, der ilustración, entzündeten, so entzünden sich Goyas spätere Werke an den Widersprüchen der Revolutionen, der Gegenrevolutionen und Restaurationen. Die politischen und sozialen Konflikte ändern sich; Goya aber tritt mit den Caprichos in eine ästhetische Auseinandersetzung mit ihnen, eine Auseinandersetzung, hinter die kein engagierter Künstler mehr zurückfallen kann. Deshalb, und weil die Caprichos KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG auch zeitlich das Ende der Epoche markieren, die das Wort Aufklärung (ilustración) so emphatisch im Mund führte, stehen diese Graphiken im Zentrum und ist ihr Titel zugleich Leitfaden meines Essays. 1 DIALEKTIK DER PRAGMATISCHEN AUFKLÄRUNG: RAISON UND REFORM 1.1. DIE BOURBONISCHE ILUSTRACIÓN – AUFKLÄRUNG IM ZEICHEN DER OBRIGKEIT Wie die meisten Künstler seiner Zeit beginnt Francisco Goya seine Karriere als Auftragnehmer der Mächtigen, der etablierten Stände des Ancién Regimes. Er malt für die Kirche, den König, für einige aristokratische Familien. Die Sujets, für die man ihn engagiert, sind gleichfalls etabliert, konventionell: repräsentative Herrscher- und Familienbilder, Heiligendarstellungen, biblische und mythologische Szenen, Jagdsujets und bukolische Idyllen eines höfisch gefärbten Arkadien. Vor allem letztere stehen im Zentrum von Goyas Arbeit für die Madrider Gobelinmanufaktur, dem hauptstädtischen Prestigeprojekt eines aufgeklärt absolutistischen Colbertismus, den die spanischen Bourbonen, mit den königlichen Verwandten in Frankreich durch pactos de familia verbunden, aus ihrem Herkunftsland jenseits der Pyrenäen nach Spanien importiert hatten. Denn durch diese am französischen Vorbild orientierte Variante des Merkantilismus – der noch für das 18. Jahrhundert typischen ökonomischen und institutionellen Modernisierung von oben – wollte die neue Herrscherdynastie die durch Habsburgischen Imperialismus und Expansionismus und vierzehn Jahre Krieg 3 ruinierte spanische Wirtschaft wieder beleben und sie einem europäischen Imperativ unterwerfen. Die Bourbonische Administration begann daher mit Hilfe französischer, aber auch italienischer Fachkräfte, die Verwaltung und Gesetzgebung ihres iberischen Territoriums zu vereinheitlichen, einen Zensus einzuführen, das Steuersystem zu reformieren, innere Zollschranken zu beseitigen und den Binnenhandel zu liberalisieren – vor allem aber die Basis der damaligen Wirtschaft, die Agrikultur, durch „Einhegung“, desamortización, neu zu organisieren. Praktisch bedeutete das, gemeinschaftliches oder klösterliches KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Eigentum durch kapitalisierte Pacht- und Kreditverhältnisse zu ersetzen, zuvor gemeinsam benutztes Land an private Investoren zu versteigern. Angetrieben vom Stachel des Gewinns sollten diese ihren landwirtschaftlichen Ertrag durch neue Anbaumethoden, die Kultivierung neuer und besserer Pflanzen und Saaten steigern. Außerdem sollte brachliegendes Land produktiv genutzt werden, weshalb man in karstigen Regionen wie in der Sierra Morena ausländische Agrarpioniere ansiedelte. Der Staat hoffte, durch Steuern einen Teil des neu erwirtschaften Reichtums abzuschöpfen und in die Infrastruktur reinvestieren zu können: in neue Straßen und Kanäle, in ein verbessertes Ausbildungssystem und Akademien nach französischem Vorbild, in Werkstätten und in Projekte der „conspicious consumption“ wie die Gobelinmanufaktur. Doch der Verkauf und die Versteigerung des Bodens bewirkten tiefgreifende soziale Verschiebungen. Ackerflächen konzentrierten sich in den Händen größerer Eigentümer – speziell im Süden der Halbinsel, wo die señores ihren ohnehin riesigen Latifundien weiteres Land hinzufügten. Für einfache Bauern, die bei der Versteigerung des Landes zumeist leer ausgingen, war diese kalte Enteignung ihrer einst kollektiv genutzten Wälder und Brachen deshalb so schmerzhaft, weil sie ohne ihr terreno común auch ihre frühere Subsistenzökonomie nicht aufrecht erhalten konnten. Ein Schicksal, das die ebenfalls von den desamortizaciones ihrer Güter bedrohten religiösen Orden mit ihnen teilten. Viele auf diese Weise enteignete Bauern waren zur Migration in die Städte gezwungen, wo sie nicht zuletzt die Altstadt von Madrid bevölkerten. Doch nicht nur (agrar)ökonomisch, auch politisch und kulturell war die bourbonische Modernisierung janusköpfig: dem Fortschrittsoptimismus entsprach eine Unduldsamkeit gegen alles, was sich zu entziehen versuchte. Nicht zufällig wurde der aufgeklärte Absolutismus, der absolutismo ilustrado, auch als aufgeklärter Despotismus, als despotismo ilustrado, bezeichnet. Dementsprechend rief die neue Politik Zustimmung oder Widerstand hervor – je nachdem ob man an den Reformen partizipierte oder gar von ihnen profitierte, oder ob man durch sie etwas zu verlieren hatte und zu ihrem Opfer wurde. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG 1.2. PARTEIGÄNGER UND GEGNER DER ILUSTRACIÓN Die verlässlichste Stütze der Reformen waren die bedingungslos loyalen „Freunde der Aufklärung“ (amigos de la ilustración) die sich ausdrücklich dem Fortschritt auf der iberischen Halbinsel, der Wohlfahrt des Landes, dem „Wealth of the Nation“, verschrieben hatten. Es waren pragmatische Idealisten, bereit für einen ökonomischen Wandel, neugierig auf technische Erfindungen und Experimente, offen gegenüber neuen pädagogischen Konzepten. Sie diskutierten Texte der philosophes, der Enzyklopädisten und jansenistischen Kirchenreformer – der immer noch machtvollen inquisitorischen Zensur zum Trotz. Es waren viele darunter, die, oft aus dem niederen Adel stammend, wenig zu verlieren hatten, umgekehrt aber in einer neuen Administration und einem reformierten Erziehungswesen zu reüssieren hofften. Der obrigkeitlichen Modernisierung feindlich gesonnen waren all jene, die ihr im Wege standen oder die durch sie etwas zu verlieren hatten. Zu den ersten und wehrlosesten Opfern gehörten die gitanos, deren unstete Lebensweise dem aufgeklärten Imperativ der instrumentellen Rationalität und Arbeitsdisziplin existentiell widersprach und die zugleich in ein Reservoir von Arbeitskräften für die neuen landwirtschaftlichen und manufakturellen Produktionsmethoden verwandelt werden sollten. Sie bekamen 1749 die gewaltsame Seite der Aufklärung unmittelbar zu spüren, als der Superminister der bourbonischen Modernisierung, Ensenada, alle auf spanischem Boden lebenden Vertreter dieses Volkes unabhängig von Alter und Geschlecht inhaftieren und in Ketten Zwangsarbeit verrichten ließ – eine Anordnung, die erst 1763 aufgehoben wurde. Die obrigkeitsstaatliche Aufklärung war ein im Negativen egalisierendes Projekt, das alle Untertanen des Königs in ihrer Rechtlosigkeit wie ihren Chancen einander angleichen wollte. Und so fanden sich unter denen, die ihre Privilegien bedroht sahen, auch Angehörige des Adels, die sich einst jene lukrativen Staatsämter gekauft hatten, die nun von ilustrados besetzt wurden. Auch der Ordensklerus und die zünftigen Handwerker und nicht zuletzt die bislang von den Monarchen geschützten und ihnen gegenüber loyalen städtischen Armen standen auf der Seite der Modernisierungsverlierer. Die beiden letzten Gruppen, Handwerker und pobres, hatten seit Jahrhunderten in KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG der Residenzstadt gewohnt und einen urbanen Stolz ausgebildet und vermischten sich nun in den barrios des alten Madrid mit den durch die desamortizaciones entwurzelten Neuankömmlingen aus der Provinz. Und all diese städtischen Armen oder von Armut oder Prestigeverlust bedrohten gesellschaftlichen Stände fühlten sich – ganz ähnlich wie die gitanos – von Maßnahmen bedroht, die ihr traditionelles „Leben und Leben lassen“ durch Disziplin ersetzen wollten: durch das neue Arbeitsethos, das die universelle Geltung des Leistungsprinzips proklamierte, aber vor allem sie, die Unterschichten, treffen würde. 1.3. PLEBEJISMO ALS ALTERNATIVER LEBENSSTIL Während sich daher die ilustrados in Salons und Diskussions-Zirkeln wie den Amigos del País organisierten, deren Name zugleich Programm sein sollte: die Verbesserung des Landes, so artikulierte sich der Widerstand gegen ihr administrativ-ökonomisches Aufklärungsprogramm im Lebensstil des von Ortega y Gasset so getauften „plebejismo“. Diese in Madrid durch ihre Protagonisten, die Manolos oder Majos und Majas, verkörperte Bewegung kleidete ihren Anspruch auf Souveränität in subkulturelle Ausdrucksformen, in einen besonderen Lebensstil, der von einer Mode voll erotischer Finesse, einer großspurigen Gestensprache und der Demonstration körperlicher und verbaler Präsenz und Männlichkeit bis hin zu den populären Theaterspielen der sainetes reichte. Die vielleicht nachhaltigste Schöpfung dieser urbanen plebs, die moderne corrida de toros mit ihren ganz eigenen Worten und Wertbegriffen, übernimmt zugleich viele Elemente der gitano-Kultur, und die gitanos bringen ihr Elend darüber hinaus in einer anderen ihrer kulturellen Schöpfungen, dem Klagegesang des cante jondo, zum Klingen. Anstelle von tricornio und capa corta, Dreispitz und kurzem Rock, der bei Verwaltungsbeamten, ilustrados und petimetres beliebten Garderobe (als pejorative Verkürzung der „petites maitres“, spielt „petimetre“ auf jene „kleinen“ Möchte-gern-Herren an, die sich an der französischen Mode orientieren und den wirklich Großen, den Granden, nicht das Wasser reichen können), bevorzugten die Majos chambergos, große Hüte, und hüllten sich in die üppige Draperie ihrer capas largas, ihrer langen Mäntel, unter denen die Behörden Schmuggelwaren oder Messer KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG vermuteten. Nicht zu Unrecht, schmälerte doch der Schmuggel die Einnahmen des Staates und signalisierten die Messer als potentielle Waffen, dass diese Männer, denen Goya einige seiner schönsten Tappiserieentwürfe widmen und die er auf Capricho 11 (Muchachos al avío) vertraulich als muchachos bezeichnen wird, bereit sind, ihre Souveränität zu verteidigen und das Gewaltmonopol des Staates herauszufordern. Capricho 11: Muchachos al avío. (Jungs, an die Arbeit.) – 1797-1798. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Der plebejismo trotzte mit andern Worten in all seiner Pracht und grandeza der ökonomisch-verkürzten Aufklärung, indem er das Alltagleben zum Fest veredelte: „Carpe diem!“ Aber dieses Schwelgen im Groben und Grandiosen, dieses Spiel mit dem Gesetzesbruch und der Gewalttätigkeit, ergriff nicht nur die Armen und die Unterschichten, nicht nur die traditionelle Plebs. Sondern, darauf verweist das Suffix „ismo“, zum großen Ärger der Administration imitierten gerade die Edelsten der Aristokraten den stilbewussten Widerstand der barrios, anstatt den Armen Zurückhaltung und Selbstbeherrschung vorzuleben und damit die Werte jener Führungselite zu verkörpern, in deren Hände Ortega y Gasset, ganz im Sinne Platons, die gesellschaftliche Verantwortung legen wollte. Denn auch die einstigen Herren des Landes hatten, wie wir sahen, durch Reformen, Modernisierung und Aufklärung viel zu verlieren. 1.4. SERMONES UND AUFRUHR – DER MOTÍN DE ESQUILACHE Zum ersten spektakulären Zusammenstoß zwischen der aufgeklärten Administration und der Madrider Stadtbevölkerung kam es, als Carlos III. seinem Vertrauten, dem Marchese di Squillace gestattete, seine Reformideen zu verwirklichen. Der König, unter dem der aufgeklärte Reformismus auf der iberischen Halbinsel seinen Höhepunkt erreichte, hatte diesen kühlen und kühnen Planer in seiner Zeit als König von Neapel schätzen gelernt, aus Italien mit nach Spanien gebracht, zum Guardián del tesoro, zum Berater und Hüter der Finanzen gemacht und mit weiteren administrativen Aufgaben betraut. Esquilache, wie ihn die Spanier nannten, hob auch sogleich die Getreidesteuer auf, liberalisierte den Getreidehandel und nahm sich vor, Madrid zu modernisieren. Klärgruben – fosos sépticos – gepflasterte, beleuchtete und regelmäßig gesäuberte Straßen und Paseos sollten die Residenz im hellen Licht der Aufklärung erstrahlen lassen, und die Madrileños sollten – bei Androhung hoher Geldstrafen – ihre capas largas und chambergos ablegen, damit endlich capa corta und tricornio, die kosmopolitische Uniform der aufgeklärten Zivilisation, auch das Bild der spanischen Hauptstadt prägen würde. Welch strahlende Vision! KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Doch die Planer hatten bei ihren leuchtenden Plänen vergessen, die Bevölkerung mitzunehmen. Als die Kleidervorschrift trotz der Strafen missachtet wurde und alguaciles, mit der Schere bewaffnet, einige der capas largas auf offener Straße kürzten, erhoben sich die Madrileños am Domingo de Ramos, am Palmsonntag 1766, gegen den verantwortlichen Minister. Sie stürmten ein Waffenlager und das Haus Esquilaches und belagerten schließlich den Königspalast, wo sie Carlos III. eine Petition überreichten, in der sie die Verbannung des ungeliebten Italieners, die Absetzung aller anderen ausländischen Minister sowie die Aufhebung des Kleiderverbots und die Senkung des Kornpreises verlangten. Der bedrängte König versprach, die Forderungen zu erfüllen, Esquilache verließ Spanien, und die Lage beruhigte sich. Der Motín de Esquilache brach während der meses mayores aus, jenen für die agrarisch geprägten Gesellschaften des Ancien Regime typischen Hungermonaten vor einer neuen Ernte, in denen die Getreidevorräte zur Neige gingen. Insofern zeigt er die Züge eines klassischen motín del pan oder Brotaufstands. Da es in jenem Jahr außerdem mehrere Missernten gegeben hatte und der von den Reformern liberalisierte Getreidehandel eine spekulative Verknappung des Korns anheizte, wurde der Getreidepreis jedoch mehr als gewöhnlich in die Höhe getrieben, und mussten die Armen mehr als gewöhnlich leiden. Ein ähnlicher Hungerprotest sollte 23 Jahre später in Frankreich jene revolutionäre Kette der Ereignisse in Gang setzen, die schließlich – gelenkt von einer selbstbewussten bürgerlichen „Avantgarde“ – in den institutionellen Umwälzungen von 1789 explodierte. Die Madrider Rebellen dagegen suchten die Kooperation mit der alten Macht und wandten sich explizit an ihren König. Sie argwöhnten, dass dieser, als er dem Fremden, Squillace, gestattete, seine aufgeklärten Projekte umzusetzen, seine traditionelle Rolle als Schutzpatron der Stadt verraten hatte. Und die bestand in einer Politik von „panem et circenses“, wie sie typisch war für die economía moral,4 in den Residenzstädten der Ancien Regimes. Diese Politik band Volk und König zusammen und verpflichtete letzteren, die Grundversorgung (los bienes de comer, beber y arder) der städtischen Armen zu garantieren. Carlos III. löste den Konflikt auf typisch paternalistische Weise, KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG indem er versprach, die Petition seiner rebellierenden Untertanen zu erfüllen und das Bündnis zwischen Thron und Plebs erneut zu befestigen. Es blieb dem diplomatischen Geschick des Conde de Aranda, des Nachfolgers Esquilaches und Freund der französischen philosophes, vorbehalten, durch eine Politik von „Zuckerbrot und Peitsche“ die obrigkeitsstaatlichen Reformen wieder aufzunehmen, ohne die Armen erneut zu verprellen. So wurde zum einen die Getreideversorgung der Stadt garantiert und mit ihr die Loyalität der urbanen Plebs zurückgewonnen. Andererseits nahm die Administration Aranda einige der Zugeständnisse zurück, die Carlos dem Volk gemacht hatte und verbannte vor allem die papsttreue Societas Jesú als vermeintlichen Drahtzieher des Volksaufstands aus Spanien. Die Vertreibung der Jesuiten bot eine Chance, die Kirche im Namen der Aufklärung (ilustración) aus der Abhängigkeit von Rom zu lösen und den Klerus, besonders auf dem Terrain der Erziehung, staatlich zu kontrollieren. Überdies löste dieser regalistische Zugriff eine weitere Welle von desamortizaciónes, von Einhegungen der Klöster, Kollegien, Krankenhäuser und kirchlichen Ländereien aus. Zweifelsohne beeinflusste der Klerus mit seinem Monopol der Predigt die noch wenig alphabetisierte Bevölkerung unverhältnismäßig stark. Es lag daher im Interesse der bourbonischen Administration, diesen Einfluss zu brechen. Außerdem wandte sich der unter den spanischen ilustrados reüssierende Jansenismus im Namen einer spirituellen Erneuerung gegen die institutionelle Verkrustung der Kirche und die rigorose Rombindung der Jesuiten. Und schließlich ist der Einfluss des antiklerikalen französischen Denkens aus dem Umfeld der Encyclopédistes auf Aranda nicht zu unterschätzen. Auf der anderen Seite aber weisen die gegen die Jesuiten gerichteten Vorwürfe die typischen Züge einer xenophoben Verschwörungslogik auf, derzufolge die papsttreue Societas Jesú als internationaler Verräter agiere. Einer ähnlich xenophoben Logik war letztlich auch Esquilache zum Opfer gefallen, wenn dessen Reformen aus kulturellen Gründen abgelehnt wurden, als ausländische Mode oder fixe Idee eines Italieners, der kein Verständnis für KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG die spanische Seele haben konnte. Das heißt, die Modernisierung begegnete einer protonationalistischen Aversion, in der sich eine Tradition der Ablehnung des Fremden manifestiert, die bis auf die Reyes Católicos und die Habsburger zurückgeht: Sie beschwört durch die Konstruktion eines als Sündenbock dienenden feindlich gesonnenen Anderen rituell das alte Bündnis zwischen König, Volk und Altar – und zwar gerade in solchen Augenblicken, in denen es realiter bedroht wird. Die spanische Aufklärung entschied sich daher, die dem Motín de Esquilache zugrundeliegende soziale Sprengkraft durch ideologische Exklusion zu entschärfen, während sich jenseits der Grenzen, in Frankreich, nach 1789 nicht nur Volk und Bürgertum, sondern auch fortschrittliche Aristokraten zu Fürsprechern einer politischen Bewegung machen sollten, die sich die Inklusion auf ihre Fahnen schrieb: „Wir alle sind potentiell Brüder und Schwestern“. Und dabei wird ironischerweise der chambergo, einst Kopfbedeckung in Spanien kämpfender ausländischer Söldner, zum Symbol eines gegen den Kosmopolitismus des tricornio mobilisierten castizismo. Der Esquilache-Aufstand – 1767-1770. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Auch Goya kann sich der antijesuitischen Verschwörungslogik nicht ganz entziehen, wie seine zwei relativ kleinen und bereits sehr früh, um 1770, entstandenen Ölgemälde demonstrieren, die sich mit dem Thema des Esquilache-Aufstandes befassen. Das eine zeigt einen Priester, ein Kreuz schwingend und der zu seinen Füßen versammelten Menge predigend, das andere die Vertreibung der Jesuiten durch Carlos III. Gleichwohl setzt besonders das erste dieser Bilder eine über die Priestertrugtheorie hinausgehende Dynamik in Szene. Goya visualisiert die Komplizenschaft von Redner und Zuhörern: Die Menschen, die dem Demagogen bereitwillig lauschen, verklumpen bereits zu jener für das spätere Werk des Künstlers so charakteristischen, mit groben Strichen hingeworfenen Menge, die jede Individualität in der zugleich flirrenden und opaken Trägheit einer devoten Masse untergehen lässt. Die Entfaltung von Individualität aber wäre das Ziel einer emphatisch verstandenen Aufklärung, eines esclarecimiento, und damit zugleich die Voraussetzung autonomen Denken und Urteilens. Capricho 53: ¡Que pico de oro! (Was für ein goldener Schnabel!) – 1797-1798. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Die von Goya veranschaulichte Verbundenheit von Priester und Menge, auf die er auch mit seinen Caprichos wieder zurückkommen wird (z.B. mit Capricho 53), verweist auf das tief verwurzelte kulturelle Bündnis zwischen Altar und Plebs, das, ebenso wie der castizismo, in der spanischen Geschichte eine ebenso heroische wie schäbige – eine letztlich tragische Rolle spielen sollte. 1.5. DAS ENDE DER UNSCHULD – KUNST ALS DIGRESIÓN ODER ABWEICHUNG In Goyas Brust wohnten zu dieser Zeit tatsächlich zwei Seelen. Einerseits war der junge Maler, der in diesen Jahren nach seiner Gesellenzeit als Kirchendekorateur aus Aragon in die Residenz gezogen war, durchaus von den Plänen und Projekten der ilustrados beeindruckt. Zum anderen faszinierte ihn das kulturelle Leben der Madrider Plebs. Diese Faszination spiegelt sich in den Skizzen und Kartons, die er für die Madrider Gobelinmanufaktur entwirft. Denn er, von dem man ländliche Sujets im Rokokostil erwartet, haucht den höfischen Szenen seiner Kartons einen neuen, plebejistischen Geist ein. Er wählt statt der Pastelltöne satte Farben, ergänzt oder ersetzt bukolische Liebesszenen durch derbe majistische Erotik. Auf seinen Teppichkartons mischen sich Manolos und Majas mit frischen, frechen, manchmal groben oder verschlagenen Gesichtern unter die feine Gesellschaft; oder sie nehmen deren Stelle ein und amüsieren sich auf ihre Weise: tanzen, flirten und promenieren, trinken oder prügeln sich, unter ihnen, als stierkämpfender Majo, der junge Goya. Manche Kartons, wie „Das Kartenspiel“ (Los naipes), haben eine burleske Note. Doch trotz dieses plebejistischen Neuanstrichs sprengen die meisten dieser Entwürfe nicht den Rahmen des überlieferten Genres: Als Synthese von pastoralem Idyll und volkstümlicher Pittoreske zeigen sie eine ländliche Idealwelt, in der Volk und Adel in trauter Harmonie ihre Zeit vertändeln. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG La gallina ciega (Die Blindekuh) – 1788. Doch in einige von Goyas späteren Kartons – El albanil herido, La gallina ciega, El pelele, La boda – schleicht sich eine Nuance, die diese Harmonie zerstört. Die Gestalten wirken hölzern, leblos, wie prächtig gekleidete Puppen. Ihre Gesten sind gezwungen, die Unbeschwertheit des bukolisch plebejistischen Ambientes weicht einer schwülen, drückenden Atmosphäre. Negative Gefühle brechen sich Bahn, die Gesichter erscheinen ausdruckslos, ins Hämische und Hässliche verzerrt oder ins Boshafte gesteigert; der mit verbundenen Augen im Kreis seiner Mitspieler herumtappende Darsteller der Blindekuh wirkt fast paradigmatisch, und jenes gleichgültige Grinsen der Majas, die den pelele, den armen Hampelmann, malträtieren, lässt einem das Blut gefrieren. Es ist der Sarkasmus der Caprichos, der hier in die Rokokoidylle der Tapisseriemotive einbricht. Hatte Goya in den beiden Esquilache-Bilder die Verbindung von Kirche und Plebs thematisiert, so be- und erleuchtet er nun das eigentümliche Bündnis, das Volk und Adel im plebejismo eingegangen waren. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG El pelele (Der Hampelmann oder die Strohpuppe) – 1791-1792. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Die philosophische Anthropologie im Zeitalter der Aufklärung folgt gegensätzlichen Ideen: Der Mensch, so die Mehrheitsposition, die ihre Vollendung in Rousseau finden und mit ihm zugleich auch den Übergang zur Bürgerlichkeit vorbereiten wird, ist wesenhaft gut; er findet seine Erfüllung nur in und mit dem Anderen, Empathie ist dem Menschen eingeschrieben. Nein, so kontert der Marquis de Sade, der Mensch ist eine egomanische Bestie, getrieben von einem Willen zur Lust und zur Macht und von einer Selbstbehauptung, die ihre Daseins-Erfüllung nur in der systematischen Erniedrigung, in der Negation des Anderen, finden kann. Goya entzieht sich diesem Entweder-Oder. Zwar könnten die Konstellationen auf seinen unheimlichen späten Kartons den Romanen de Sades entsprungen sein. Doch sie bebildern keine anthropologische Hypothese. Vielmehr verankert Goya das Verhalten seiner Protagonisten in einem genau bestimmbaren sozialhistorischen Kontext. Was auf diesen Bildern durchbricht und den Betrachter abstößt, sind die ungebändigten Aggressionen des Mob. Dessen wirkliche oder vermeintliche Triebhaftigkeit soll gezähmt werden, diesen unsublimierten Gefühlen Fesseln anzulegen, ist das Ziel der administrativen Besserungskonzepte. 5 Die pädagogischen Ideen der bourbonischen Reformer zielen auf die Köpfe, ihre Maßnahmen auf die Körper. Goyas Bilder dagegen lassen, ex negativo, den Schluss zu, dass der erzieherische Appell an den Kopf und die Disziplinierung des Körpers ohne die Beteiligung des Herzens scheitern müssen. Wie eine solche Beteiligung gesellschaftspolitisch realisiert werden kann, sagen uns die Bilder nicht – kann Kunst, ohne sich selbst zu verraten, auch gar nicht sagen. Kunst, das weiß Goya intuitiv, da ist er Künstler durch und durch, kann lediglich einer falsch verstandenen Aufklärung einen ästhetischen Spiegel entgegenhalten und die Herzen und Seelen der Betrachter aufwühlen. Das ist nicht wenig. In der Sphäre des Sozialen aber, diesseits der Kunst und jenseits der Pyrenäen, starten die Franzosen ihr großes realpolitisches Experiment. Sie wenden sich neuerlich an die Köpfe, um sie zu läutern, um auf einen Schlag Tabula rasa zu machen, um jahrhundertealte Lasten von sich zu werfen, um Konventionen, Traditionen, Privilegien aus ihren dunklen Ecken zu zerren und KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG im grellen Licht dieses großen Aufklärungsprojekts, der Revolution, zu Staub zerfallen zu lassen, um die Enge der Alten Welt in der Alten Welt zu sprengen und um die Massen und die Menschheit zu verbessern. 2 DIE NEUDEFINITION DER AUFKLÄRUNG 2.1. DIE APORIEN DER REVOLUTION Die Franzosen erledigten sich mit anderen Worten, inspiriert durch die Ereignisse in Nordamerika, 1789 ihrer überlieferten Staatsform, der Absoluten Monarchie. 1791 stimmte Louis XVI. der Verwandlung seines Königsreiches in eine vom Volk legitimierte Herrschaftsform zu. Damit aber wurde Aufklärung neu definiert. Aufklärung, das bedeutete von nun an auch, dass politische Entscheidungen für alle durchsichtig sein und dass, so der Abbe de Sieyès, die zu Souveränen gewordenen Untertanen darüber bestimmten sollten, von wem sie wie und durch welche Gesetze regiert würden. Zukünftig sollten Politiker vom Volk eingesetzt und nicht mehr durch Gnade oder Begünstigung der Herrscher ernannt werden. Deren Macht sollte vielmehr, nach englischem Vorbild, konstitutionell begrenzt werden. Insofern war mit der Französischen Revolution auch auf dem europäischen Kontinent die Epoche des aufgeklärten Despotismus historisch überholt. Das alte, dem österreichischen Habsburger Josef II. zugeschriebene Motto: „alles für das Volk, aber nichts durch das Volk“6, hatte seine Geltung verloren, und Aufklärung wurde partizipativ. Die überkommenen sozialen Privilegien und Prärogative von Adel und Klerus wurden in Frage gestellt oder abgeschafft und mit revolutionärem Elan Klöster geschlossen und säkularisiert. Doch bekanntlich kulminierten die Ereignisse in Frankreich im blutigen Exzess des Königsmords: Die Avantgarde der Revolutionäre verdächtigte Louis XVI. der gegenrevolutionären Konspiration im In- und Ausland und verurteilte ihn Anfang 1793 zum Tod durch die Guillotine. Jene Woge adliger und klerikaler Flüchtlinge, die sich bereits seit Beginn der Umwälzungen über die Grenzen ergossen hatte, schwoll an. Die Einwohner der Gastländer – auch die Gastgeber südlich der Pyrenäen – hörten vom Pariser terreur, lauschten den Horrorgeschichten der Vertriebenen. Und die klagten Vergeltung und die KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Restauration ihrer alten Vor-Rechte ein. So sah sich die junge Französische Republik nach dem Mord am transzendental legitimierten Monarchen, diesem für das Ancien Regime ungeheuerlichen Sakrileg, von zwei Seiten bedroht: Durch die Rache der Königstreuen und der ihrer einstigen Privilegien beraubten Stände im eigenen Land und durch die europäischen Herrscher, die den monarchistischen Flüchtlingen Asyl boten und zugleich fürchteten, dass sich ihre Untertanen an den Franzosen ein Beispiel nehmen könnten. Hatte bereits der Königsmord die Unschuld der Revolution befleckt, so forderte nun die Furcht vor der Rache der Königstreuen einen neuerlichen Preis, der darin bestand, in Frankreich ein auf potentielle Monarchisten und bald auch auf „Abweichler“ aus den Reihen der Republikaner angesetztes Spitzelsystem zu etablieren, das die neugewonnene Freiheit und Solidarität der brüderlich und schwesterlich verschworenen Bürger durch Misstrauen zerrüttete. Wie ihre erbitterten Gegner in den Ancien Regimes stützten sich die Französischen Revolutionäre auf Institutionen und Methoden der Unterdrückung – Aufklärung schlug um in Gewalt und Verfolgung. „Die Revolution“, so drückte es einer ihrer Protagonisten, der Girondist Pierre Vergniaud, aus, „ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder“. Ein Satz, der sich in Goyas Gedächtnis tief eingraben und auf den der Künstler, wenngleich in ganz anderem Zusammenhang, zurückgreifen sollte.7 Zugleich rüstete sich, während Frankreich dabei war, die eigenen Ideale zu verraten, das alte Europa zu einer Koalition gegen die junge Republik, kontrollierten die absolutistischen Regime jede potentiell subversive Auffassung und Aktivität der Untertanen in den eigenen Grenzen. So bekam „Aufklärung“ als Bespitzelung, hier der Bürger, dort der Untertanen, europaweit eine ganz eigene Bedeutung.8 Die Gegenaufklärung der spanischen Monarchie hatte dabei einen besonderen Vorteil. Sie konnte auf jene altbewährte Institution zurückgreifen, die der Klerus bereitwillig zur Verfügung stellte: Das Heilige Offizium. 2.2. DIE APORIEN DES REFORMISMUS IM ZEITALTER DER REVOLUTION Die spanische Politik wurde zu dieser Zeit indes nicht nur von außen durch die Ereignisse in Frankreich affiziert, sie wurde auch intern durch den KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Tod des philosophischen Königs Carlos III. destabilisiert. Sein Sohn, Carlos IV., der ein Jahr vor der Französischen Revolution in Spanien das Zepter übernommen hatte, war offenbar wenig inspiriert und inspirierend und von den Ereignissen überfordert. Die Staatsgeschäfte lagen in den Händen des altgedienten Primer Secretario de Estado Floridablanca, der gleich nach Ausbruch der Revolution (1789) das Heilige Offizium mobilisierte, um Spanien durch einen cordon sanitaire gegen jeglichen intellektuellen Einfluss des Nachbarlandes abzuriegeln. Zugleich setzte er sich außenpolitisch für Louis XVI., den Vetter des spanischen Königs, ein. Doch seine diplomatischen Avancen trafen bei den Nachbarn auf taube Ohren, und deshalb sollte ein weiteres Mal Aranda einspringen, der einst zehn Jahre lang Botschafter in Paris gewesen war. Der weltgewandte Conde hatte sich dort mit vielen philosophes angefreundet, darunter Voltaire. Allerdings waren diese Vertreter der älteren französischen Aufklärung nicht die theoretischen Vorbereiter der Revolution, für die sie die Nachwelt oftmals in Haftung nimmt. Voltaire parlierte und tafelte gern mit den Mächtigen, auch wenn er ein dezidierter Gegner jener klerikalen Macht war, deren exekutiven Arm die spanische Monarchie nun gegen die Revolution in Anspruch nahm. Die Französische Revolution setzte auf Rousseau, nicht auf Voltaire, und daher verwundert es nicht, dass auch Arandas illustre Kontakte die Lage des französischen Königs nicht entschärfen konnten. Es war wohl das Scheitern dieser diplomatischen Mission, die das spanische Königspaar dazu veranlasste, 1792 einen jungen Offizier der königlichen Leibwache, der Guardia de Corps, an Stelle Arandas zum Secretario de Estado zu ernennen. Dieser, Manuel Godoy, war zwar nur Hidalgo, von niederem Adelsrang, hatte aber eine solide militärische Ausbildung genossen und liebäugelte seinerseits mit den Ideen der philosophes. Da er offenbar gescheit und wendig war, wurde er vom Königspaar protegiert, das ihn nach einem kurzen, steilen Aufstieg innerhalb der Leibwache ins höchste Staatsamt hob. Godoy war folglich seinen königlichen Wohltätern absolut verpflichtet und hatte gar keine andere Option, als sein Talent und seinen Charme der Verteidigung der Monarchie zur Verfügung zu stellen. Und um den jungen Mann nachhaltig an sich zu binden, überhäufte ihn das Königspaar überdies mit unzähligen Ehren, Titeln und Pfründen und verheiratete ihn mit der blaublütigen Enkelin des ersten Bourbonen.9 KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Trotzdem sollte es auch Godoy nicht gelingen, das Leben des französischen Königs zu retten, der zwei Monate nach dem Amtsamtritt des neuen spanischen Premierministers „hingerichtet“ wurde, womit der bourbonische pacto de la familia ein gewaltsames Ende fand. Innenpolitisch dagegen versuchte der frisch gekürte Superminister die aufgeklärtautoritären Reformen seiner Vorgänger fortzuführen und zu übertreffen. Er, der die typische Karriere eines ilustrado – aus bescheidenen Verhältnissen in die Staatsverwaltung – noch überboten hatte, ließ sich dabei von anderen ilustrados helfen, indem er sie in seiner Administration hielt oder dorthin holte. Doch gerade der atemberaubende Aufstieg und die „niedrige“ Abstammung des neuen Premiers waren für die „rechtmäßigen“ Karriereanwärter aus Adel und Klerus eine tägliche Provokation. Da nun Godoy für jene Reformen verantwortlich war, die bereits unter den früheren spanischen Bourbonen und ganz unabhängig von revolutionären Ideen à la francaise alte Rechte und Privilegien bedroht hatten, verband sich die Wut der Konservativen und des Ordensklerus mit der Kränkung der Rationalisten um Aranda sowie mit der Verachtung der Granden, die in der inflationären Vergabe ihrer Standessymbole und Titel an einen „Niemand“ einen ungebremsten, monarchischen „Willen zur Macht“ walten sahen, der sich hier einen biegsamen Büttel geschaffen hatte. Und so sah sich Godoy von Beginn seiner Amtszeit an mit Diffamierungen konfrontiert, die sich an seiner Herkunft festmachten und an dem Gerücht, er verdanke seine Karriere seinen Erfolgen im Bett der Königin10 und damit letztlich den Launen, den caprichos, einer Frau. Eine moralisierende Sexualisierung der Politik fokussierte sich auf den ungeliebten Emporkömmling. Sie wurde von einer durch den Klerus aufgeheizten städtischen Plebs bereitwillig aufgegriffen und machte Manuel Godoy zur meistgehassten Person des Königreichs: zur „Kreatur“ der Könige, zum Sinnbild des petimetre, Höflings und Frauenknechts – zum Anti-Majo par excellence. 3 KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG GOYAS (UN)HEIMLICHE SUBVERSION DER VERHÄLTNISSE 3.1. EINFACH NUR „LAUNEN“? – DER EINBRUCH DES CAPRICHIÖSEN ANDEREN Goya mit Dreispitz – 1785-1795 Ausgerechnet in dieser Zeit, in der die Legitimation der obrigkeitsstaatlichen Reformen durch die Ereignisse in Frankreich prinzipiell in Frage gestellt wird und zugleich innerhalb Spaniens durch eine launenhafte (caprichosa) Machtpolitik implodiert – eine Politik, die als „Konflikt der Kulturen“ ausgetragen wird – wendet sich Goya explizit der Aufklärung zu. Indem er sich mit dem tricornio malt – dem Franzosenhut, der, wäre es nach Esquilache gegangen, den chambergo hätte KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG ersetzen sollen – bekräftigt er seine neue Zugehörigkeit zur Community der ilustrados. Mit einigen von ihnen freundet er sich an, und eine lange Reihe in dieser Zeit entstandener, mit intimen Widmungen versehener Porträts befestigt diese Freundschaft und bezeugt Goyas Wertschätzung ihrer Ideen. In der Arbeit an diesen Bildern entwickelt Goya eine erstaunliche Sensibilität für die Individualität des jeweils Dargestellten, Qualitäten einer subtilen Charakterzeichnung, die er als Teppich-, Typen- und Genremaler unterdrücken musste. Porträt Gaspar Melchor de Jovellanos (Ausschnitt) – 1798. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Porträt Leandro Fernández de Moratín – 1799. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Modellen gegenübersitzend, denen er sich freundschaftlich verbunden fühlt, kann sich Goya positiv in die Tradition seiner großen Vorbilder Velazquez und Rembrandt einreihen, die es mit leichter Hand verstanden, die Individualität der Porträtierten herauszuarbeiten und ihr Gegenüber doch zugleich sublim zu überhöhen. Doch während die großen Meister des Barock diese künstlerische Apotheose an jeden verschwendeten, der dafür bezahlte, und auch ihren anderen Sujets zukommen ließen, reserviert Goya den subtilen Glorienschein ganz caprichiös nur für jene, für die er persönlich Sympathie empfindet. Selbstporträt – 1795-97 Der Einbruch des Anderen: Die Ähnlichkeit mit dem 1820 von Joseph Karl Stieler gemalten Porträt seines jüngeren Zeitgenossen, des gleichfalls ertaubenden Beethoven, ist verblüffend. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Goyas Option für die Aufklärung wurde durch seine 1793 plötzlich ausbrechende schwere Krankheit forciert, die ihn nahezu taub zurückließ. Leiden, sei es ein physisches Gebrechen oder eine seelische Kränkung, ist oft ein gewaltiger Beschleuniger der (Selbst-)Reflexion, weil es die Spontaneität des In-der-Welt-Seins affiziert und den Leidenden auf sich zurückwirft. Der vertraute Blick auf die Welt wird gebrochen. Das korrespondiert der Forderung der Aufklärung, stets bereit zu sein, die gewohnte Sicht der Dinge in Frage zu stellen. Darüber hinaus wurde Goya durch die Art seines Leidens, das ihn von den Worten und Geräuschen um ihn herum isolierte, zur genauen Beobachtung der Gesten und Mimik seiner Mitmenschen genötigt. Diese neuen Selbst- und Welterfahrungen animierten ihn nach eigener Aussage dazu, eine Zeitlang der Auftragsmalerei zu entfliehen und statt dessen „Laune und Erfindung“, „capricho y invención“, freien Lauf zu lassen: einer düsteren invención, die sich in einer Serie kleiner Gemälde auf Zink, den sogenannten Kabinettbildern, niederschlug und eine Welt der Vergnügen und Zerstreuungen (diversiones y distracciones) zeigt, die von Gewalt, Wahnsinn und Katastrophen heimgesucht wird. Goya verwendet hier, mit Blick auf sein Werk, erstmals selbst den Begriff „capricho“. Formal sind diese kleinen Zinkbilder sein Debüt in einem künstlerischen Reflexionsmedium, das ihm von nun an ermöglicht, ein Thema von verschiedenen Seiten anzugehen: der Serie. Beidem, capricho und Serie, bleibt er treu. Zunächst überträgt er diese „Erfindungen“ (invenciones) auf zwei Zeichenalben, ausgeführt mit Pinsel und Feder in chinesischer Tusche und Sepia. Der biografische Impuls für die beiden zwischen 1796 und 1797 entstandenen Alben war Goyas Leidenschaft für die Herzogin von Alba: Seine noch unerfüllte Hoffnung beseelt das eine; Kränkung, Enttäuschung und Zurückweisung sind der Unterton des anderen Albums. Das erste, auf dem Sommersitz der Herzogin in Sanlúcar entstandene Album, zeigt fast ausschließlich junge Frauen, anmutig, manche nackt, manche mit den Zügen der Alba. Es ist heiter erotisch, impressionistisch und subjektiv. Das zweite, in Madrid entworfene Album, überschreitet subjektive Impression und persönliche Kränkung. Es ist gleichfalls angefüllt mit begehrenswerten Frauen, doch diesmal in zweideutigen Situationen oder als Majas, die ihre Gunst verkaufen. Es zeigt eine Welt der verratenen Liebe, und es zeigt all die anderen KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Protagonisten, Masken und Fratzen einer sich der Aufklärung entziehenden und verweigernden Welt, einer Welt voller Misstrauen und versteckter Gewalt. Darin antizipiert es, thematisch, die Caprichos. Kabinettbild: Corral de locos (Hof der Wahnsinnigen) – 1794. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Madrider Zeichenalbum B, Blatt 26 – 1796-1797 Während sich das Mädchen im Spiegel betrachtet, wartet die Celestina im Hintergrund. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Madrider Zeichenalbum B, Blatt 4 – 1796-1797 Die Celestina leistet ihr beim Warten auf den Freier Gesellschaft. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Madrider Zeichenalbum B, Blatt 55: Mascaras crueles – 1796-1797 Eine unangenehme Kundschaft. Die Masken stehen für die tierische Geilheit, mit der sie sich über sie hermachen werden. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG 3.2. DAS PARADIGMA GOYESKER AUFKLÄRUNG: DIE CAPRICHOS Gleichwohl: Kabinettbilder und Zeichenalben bleiben eine intime Zwiesprache des Künstlers mit sich selbst. Dagegen wenden sich die eigentlichen Caprichos mit ihrer grafischen Reproduktionstechnik an ein größeres Publikum. Zugleich greifen sie das kritische Ausdrucksrepertoire nicht nur der bildenden Kunst, sondern auch der Literatur und des Theaters auf – wie die Burleske, die Fabel, das Traktat, die Moritat, das sainete – und übersetzen es in die ästhetische Formensprache von Radierung und Aquatinta, in ein aus Schwarz, Weiß und unterschiedlichsten Grautönen bestehendes Universum des Lichts, vor allem aber des Schattens. Capricho 27: ¿Quién más rendido? (Wer ist devoter?) – 1797-1798. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Capricho 36: Mala Noche. (Schlechte Nacht.) – 1797-1798. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG In diesem Universum begegnen uns auf insgesamt 80 Blättern eine janusköpfige comédie und tragédie humaine: Verratene und verräterische Mädchen, die notorischen Majos und Majas, Huren, ihre Celestinas und Zuhälter, adlige Galane und galante Damen, Petimetres, Freier und Schmuggler, korrupte Beamte, Richter und Denunzianten, Mönche, die keinem weltlichen Laster abgeneigt sind. Vor allem aber die Opfer und ihre Peiniger: Opfer demagogischer Prediger (Capricho 53) oder ärztlicher Pfuscherei, Opfer elterlicher Wut und Willkür (Capricho 3 und 25), Opfer des Aberglaubens (Capricho 12), Opfer von Häme, Gier und sozialer Gewalt, Opfer der eigenen Eitelkeit, Geilheit und Habgier, und immer wieder Opfer der Inquisition und der Lynchjustiz (Capricho 24). Und auch hier bereits: Opfer, die Täter werden (Capricho 35). Capricho 6: Nadie se conoce. (Keiner kennt den Anderen.) – 1797-98. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Capricho 35: Le descañona. (Sie rupft ihn.) – 1797-1798. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Dabei gestattet das Prinzip der Serie dem Künstler, ein Thema mehrfach und in unterschiedlicher Verkleidung wieder aufzunehmen, um so die Geltung der immer wieder gleichen obsoleten Denkweisen, Traditionen und Institutionen in den unterschiedlichsten sozialen Milieus zu demonstrieren. Das Serielle macht sichtbar, was diesen aufklärungsresistenten Kosmos zusammenhält: die Einfalt und Rohheit des populacho, der aristokratische, monarchische und klerikale Dünkel, die alle sozialen Klassen miteinander verbindende Korruption und Prostitution, die schadenfrohe Übervorteilung der Ehrlichen, die Demütigung der Schwachen – all diese Haltungen und Verhältnisse (actitudes y condiciones) greifen ineinander, stützen sich gegenseitig. Ganz im Sinn der französischen Enzyklopädisten beklagen die Caprichos Aberglauben und Ignoranz. Andere Blätter kritisieren à la Rousseau eine entmündigende, auf Angst, Gewalt und Auswendiglernen basierende schwarze Pädagogik. Deren Produkte sind Fatalismus und Quietismus (Capricho 59) oder Selbstverkennung (Capricho 6, 39), die sich an Stelle von kritischer Reflexion oder Selbstreflexion in die Seelen einschreiben. Wieder andere Drucke geißeln jansenistisch-protestantisch das „après nous le deluge“ ihrer Protagonisten, jene Triebhaftigkeit, der ein Klerus Absolution erteilt, um ihr dabei mit der gleichen Hemmungslosigkeit zu frönen (Capricho 79).11 So treten uns die Figuren der Caprichos als Reigen grotesker oder halbanimalischer, grinsender, herumlungernder und lauernder Gestalten vor Augen, die in animalischer Selbstzufriedenheit fragwürdigen Geschäften nachgehen. Sie sind die bildgewordene Antithese eines aufgeklärten Humanismus. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Capricho 3: Que viene el coco. (Da kommt der Buhmann.) – 1797-1798. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Capricho 25: Si quebró el cantaro. (Er hat ja den Krug kaputtgemacht.) – 1797-1798. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Capricho 59: ¡Y aún no se van! (Und noch immer gehen sie nicht weg!) – 1797-1798. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Capricho 79: Nadie nos ha visto. (Niemand hat uns gesehen) – 1797-1798. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Zerrissen und uneins mit sich und der Welt ist einzig der mittendrin von all diesen Albträumen heimgesuchte Künstler des Capricho 43. Er der an seinem Arbeitsplatz eingeschlafen ist, dirigiert doch beide: die im ersten Teil der Serie dominierende Gesellschaftssatire mit ihren sozialen Prototypen und der traditionellen Eselssatire – und die Welt voller Hexen und Spukgestalten, die den zweiten Teil der Serie beherrschen und die Themen des ersten Teils phantasmagorisch verdoppeln. Dieser träumende Goya, er ist das Pendant des kritischen Beobachters und Kommentars des Zeitgeschehens, als der sich der Künstler auf dem Deckblatt der Serie, Capricho 1, selbst dargestellt und als Urheber der Serie eingeführt hat. Er schaut dort im Halbprofil und mit klarem, skeptischem, fast missmutigem Blick unter seinem Zylinder hervor, jenem Hut, der als Kluft des aufgeklärten Bürgers den tricornio abgelöst hat, während ihn Capricho 43 zum Meister und Verbündeten einer ganz anderen Welt macht. Dieses Spannung von Ratio und Traum prägt die gesamte Serie der Caprichos. Capricho 1: Fran.co Goya y Lucientes, Pintor. (Francisco Goya y Lucientes, Maler.) – 1797-1798. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Capricho 43: El sueño de la razón produce monstruos. (Der Schlaf / Traum der Vernunft erzeugt Ungeheuer.) – 1797-1798. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG So sind diese Graphiken zwar ganz offenkundig vom aufgeklärten Reformismus affiziert, teilen sie inhaltlich dessen moralisierenden Blick auf Majas, Manolos, Mönche & Co., vollenden sie kunstgeschichtlich die aufgeklärte Tradition der europäischen Karikatur. Doch künstlerisch überschreiten sie beides durch ein meisterhaftes Spiel von Licht und Schatten. Goyas Licht ist weder das der reformistischen Aufklärung (ilustración), noch ähnelt es jenem kalten Licht, in dem die antikisierten Heroen des französischen Malers und Goya-Zeitgenossen Jacques Louis David scharf konturiert zur Apotheose der neuen revolutionären Epoche erstarren. Dem Licht, das in den Kosmos der Caprichos dringt, ist nichts Gewöhnliches und Gemeines am Menschen fremd. Es ist ein Licht, das der spanische Künstler seinen Vorbildern – Tizian und den großen barocken chiaroscuro-Meistern in der Nachfolge Caravaggios: Ribera, Velazquez und Rembrandt – entliehen hat. Nur bezeugte und inszenierte deren Licht die Göttlichkeit noch des Geringsten. Die von dem Licht der Caprichos erhaschten, nur flüchtig gestreiften Figuren dagegen verlieren sich im irisierenden Halbdunkel einer nietzscheanischen Gottferne. Die Caprichos, so sehr sie in ihrer technischen Virtuosität ästhetisch für sich selbst stehen, bieten Goya ein Medium, das ihm erlaubt, mit einem breiten Publikum zu kommunizieren. In ihrem Kern ist Aufklärung – ist esclarecimiento – anti-elitär. Sie wendet sich potentiell an alle, soll von allen verstanden werden. Nicht zuletzt in diesem Sinne begreift auch Goya seine Serie als „idioma universal“, universale Sprache. Und nicht zuletzt, um diesen kommunikativen Aspekt zu bekräftigen, erhält jedes Blatt der Caprichos eine Legende, die das Bildthema mit einer philosophischen „Weisheit“ oder mit einer volkstümlichen Sentenz und dem sprichwörtlichen Sprachwitz der Plebs kommentiert, ironisiert, profanisiert oder konterkariert. Goyas Legenden überbrücken die Trennung zwischen Bild und Sprache, Kunst und Literatur, Elite und Volk. Wie das Selbstporträt auf Capricho 43 setzen sie eine Zäsur, sind sie Aufklärung als kommentierende Distanzierung im Sinne Bertolt Brechts.12 KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Capricho 39: Asta su abuelo. (Bis zu seinem Urahn.) – 1797-1798. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Capricho 24: No hubo remedio. (Er erhielt keine Hilfe.) – 1797-1798. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG 1799 annoncierte Goya seine Caprichos in zwei Madrider Zeitungen, und wandte sich damit direkt an die lesekundige Öffentlichkeit. Der Verkauf der Drucke sollte seine invenciones finanzieren, aber auch sein Aufklärungsprojekt wirksam werden lassen. Leider bestätigte die sozialpolitische Realität neuerlich Goyas Diagnose einer anti-aufklärerisch caprichiösen Welt der Korruption und des Verrats, der Intrigen und Denunziation. Godoys ilustradoKabinett wurde aufgelöst, und die politischen Protektoren der Radierungsreihe, darunter Jovellanos, gerieten ins Fadenkreuz einer immer ungehemmter agierenden Inquisition. Goya zieht seine Caprichos vom Markt zurück. 1803 schließlich entledigt er sich der gefährlichen Serie auf eine bauernschlaue Weise – modo pícaro: Er verschenkt die Druckplatten und unverkauften Exemplare an seinen vornehmsten Brotgeber, den ihm wohlgesonnenen König. 3.3. DER SUBTILE UMSTURZ DER REPRÄSENTATION: DAS KÖNIGSBILD Goya setzt auch weiterhin, zeichnend und im Privaten, jenen Weg fort, den er öffentlich mit den Caprichos beschritten hat. Im Medium der Zeichnung sammelt er alltägliche und überraschende Beobachtungen, kuriose oder kritische Einfälle, Reflexionen – vielleicht für eine neue Serie von „Launen und Erfindungen“, „caprichos y invenciones“. Die Kartonmalerei, und mit ihr Dekoration und Kulissenzauber, hatte Goya bereits zu Beginn der 1790er Jahre ad acta gelegt. Seinem Broterwerb als Porträtist und Maler des Adels, der Kirche, der Beamten und der Intelligenz sowie einer kleinen besitzbürgerlichen Schicht geht er allerdings weiterhin nach, und er macht am Hof Karriere. Wie die gleichgesinnten Freunde wird auch der ilustrado Goya zum Günstling des königlichen Günstlings Godoy. Ja, er erklimmt die höchste Position, die ein Maler innerhalb des Ancién Regimes erreichen kann: Er wird Hofmaler, Pintor de camara. Und er befestigt seinen fulminanten Aufstieg mit dem Königlichen Familienbild von 1801. Nun kann man Goya nicht vorwerfen, die königliche Familie nicht korrekt dargestellt zu haben: Die Herrschaften stehen da im Zentrum des Bildes, frontal aufgereiht, als ob sie für die noch nicht erfundene Kamera posieren. Sie sind in ihre prächtigsten Gewänder gekleidet. Und doch wirkt KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG alles an ihnen falsch, schief, erzwungen, plakativ und aus dem Zentrum gerückt. Es scheint, als seien die Kleider zu groß für diese ungelenken Herrschaften, deren Gesichter nichts Hinterlistiges oder Verschlagenes an sich haben, sondern nur schrecklich gewöhnlich und belanglos ausschauen, so als hätten sich, wie es schon Lion Feuchtwanger treffend auf den Punkt brachte, Stallknechte und Küchenmägde verkleidet, um Könige zu spielen. Einzig der Maler Goya, der sich in seiner neuen Position im Hintergrund selbst porträtiert, hat einen nachdenklichen Gesichtsausdruck. Die Familie Carlos IV. – 1800-1801. Mit der absoluten Monarchie wurde in Frankreich deren Beglaubigung durch göttliche Gnade vom Thron gestoßen. Damit ist die transzendente Legitimität der Monarchen nicht nur für Frankreich, sondern ein für alle Mal in Frage gestellt. Und das enthüllt Goya ausgerechnet in dem Porträt, mit dem er sich als Hofmaler des neuen Königs Carlos IV. empfiehlt, des spanischen KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Vetters des gestürzten Bourbonen Louis XVI. Das ist Aufklärung, ist esclarecimiento vom Feinsten: lo más sutil. Goya braucht die Könige nicht zu dämonisieren, um sie künstlerisch zu entthronen. Er muss nur den Naturalismus radikal auf die repräsentative Malerei anwenden, um sein Porträt in ein Manifest antirepräsentativer Repräsentation zu verwandeln. Die Mitglieder der königlichen Familie haben diese Profanisierung nicht bemerkt. Sie delektierten sich (ganz weltlich) an ihrem realistischen Konterfei, und Goya stieg in der Gunst seiner königlichen Auftraggeber. Die Aura, die einst Herrscherbildnisse umgab, reserviert er den Porträts seiner Brüder im Geist, den ilustrados – Fraternité und Revolution à la Goya. 4 DIE ANDEREN „CAPRICHOS“ 4.1. DIE KATASTROPHE DER HUMANITÄT: DIE DESASTRES DE LA GUERRA Goyas Freunde, die ilustrados, sie werden vom Lauf der historischen Ereignisse bedrängt und überrollt, und auch Goya wird als engagierter Künstler durch diese Ereignisse herausgefordert. Wieder kommentiert er das, was er sieht und erfährt, mit seinen Mitteln, den Mitteln der Kunst. Die Französische Revolution, die in ihrer Reaktion auf die restaurativen Bestrebungen der europäischen Ancien Régimes ihre eigenen Kinder verschlungen hatte, kulminierte schließlich in einem mit den hehren Zielen der Aufklärung gerechtfertigten imperialistischen Machtstreben. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts fiel dann das, was im Zeichen der Aufklärung begonnen hatte, mit dem Kaisertum Bonapartes in Idolatrie, in Mythologie zurück. Als die Grande Armee schließlich über die Pyrenäen marschierte und in Spanien einfiel, um das Land zu „befreien“ und durch eine Reihe bürgerlicher Rechte zu beglücken, stieß sie auf den erbitterten Widerstand der Bevölkerung, der in einen sechs Jahre währenden, für Spanier und Franzosen gleichermaßen zermürbenden, Guerillakrieg mündete. Die ilustrados entzweiten sich, verwandelten sich in Kollaborateure oder Gegner Napoleons, in afrancesados oder liberales, und die spanische Bevölkerung, unzählige Zivilisten auf dem Land und in den Städten, zahlte mit KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG ihrer Unversehrtheit oder ihrem Leben für den Zusammenprall zwischen einer von der Arroganz der Macht korrumpierten Aufklärung und dem von einer fanatisierten und nicht minder korrumpierten Gegenaufklärung usurpierten Widerstand gegen eben jenen „Traum der Vernunft“, der dem Land gewaltsam oktroyiert werden sollte. Dieser kaum lösbare Konflikt macht... Desastre 15: Y no hai remedio. (Und niemand ist da, der hilft.) – 1810-1811. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Desastre 32: ¿Por que? Warum nur ?) – 1812-15. Desastre 36: Tampoco. (Hier auch nicht.) – 1812-15. Goya bezieht sich auf das vorangehende Desastre 35: „Man weiß nicht warum“. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Desastre 37: Esto es peor. (Das ist noch schlimmer.) – 1812-15. Desastre 3: Lo mismo. (Dasselbe.) – 1810-1815. Goya bezieht sich auf das vorangehende Desastre 2: „Mit Grund oder ohne“. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Desastre 28: Populacho. (Pöbel.) – 1814-1820. ...Goya zum Kriegsreporter, der mit unbestechlichem Blick und einer Reihe atemberaubender Graphiken den Blutzoll dokumentiert, den Spanien in den folgenden sechs Jahren dieses Bürgerkrieges entrichten wird. Die ersten 64 Blätter dieser Serie von Drucken, der Desastres de la Guerra, führen uns vor Augen, dass die imperialen Attitüden der Invasoren auf den Widerstand der Bevölkerung treffen und wie dieser „clash of cultures“ ein Land zerstört und Menschen entmenschlichen kann. Die Drucke verzeichnen die professionelle Kälte und Brutalität der französischen Soldateska, und sie schildern, mit tiefer Empathie, den heroischen Widerstand und das Leiden der spanischen Bevölkerung. Aber sie zeigen auch die Rohheit eines vom Klerus aufgehetzten, missbrauchten Pöbels (Desastres 15, 2, 36, 37 gegenüber Desastres 3 und 28). KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Durch das Weglassen erzählerischer Details13 entwickeln die Desastres eine Eindringlichkeit, durch die Goya das einzelne Geschehen ins allgemein Gültige überschreitet: Wir sehen eine gesichtslose Reihe Soldaten oder nur die Gewehrläufe oder die Spitzen der Bayonnette, auf hilflose Menschen zielend, deren verzweifelten Gesichtern eingeschrieben ist, dass sie sich längst ergeben haben und zugleich wissen, dass sie kein Erbarmen erwarten dürfen. Eine ganze Sequenz von Radierungen zeigt den Sadismus der französischen Soldateska, Vergewaltigungen und, immer wieder, die vielen namenlosen Toten und deren Ausplünderung durch die Überlebenden. Goya greift auf das Ausdrucksrepertoire des christlichen Martyriums zurück, und zwar nicht nur in den eigentlichen Kriegsszenen wie auf Desastre 26 oder Desastre 30, sondern auch auf jenen Blättern – den Desastres 48 bis 64 – , die einer anderen grausamen Folge des Krieges gewidmet sind: dem Hunger, der Madrid in den Jahren 1811 und 1812 heimsuchte und der den sozialen Konflikt innerhalb der spanischen Gesellschaft, den Konflikt zwischen arm und reich, hervortreten lässt – damit zu Beginn des 19. Jahrhunderts eines jener großen Themen antizipierend, das dieses Jahrhundert, wenigstens in Europa, bestimmen wird (Desastre 61). Doch Goya verfällt auch bei einem so eminent sozialen Thema keiner schlichten Sozialkritik. Auf seinen die Gesichter des Hungers spiegelnden Drucken treibt er die formale Reduktion zu existentialistischer Allgemeingültigkeit. Mindestens zwei der Blätter, Desastres 60 und 62, sind Bilder einer so nie zuvor dargestellten Verlassenheit: Was hier elendiglich verhungert, was hier stirbt, ist nicht nur eine Gruppe von Menschen, ist nicht nur ein Volk, es ist die Menschlichkeit als solche. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Desastre 27: Caridad. (Nächstenliebe.) – 1810. Desastre 61: Sí son de otro linage. (Sie sind anderer Herkunft.) – 1812-1815. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Desastre 60: No hay quien los socorra. (Es gibt niemanden, der ihnen hilft.) 1812-1815 4.2. SPIELE UND WAHNSINN ALS ANTIMYTHOS: TAUROMAQUIA UND DISPARATES Mit dem Sieg über Napoleon siegten Gegenaufklärung und politische Romantik in Europa. Die absolutistischen Institutionen und Traditionen wurden restauriert, gestützt von Kirche, Adel und Pöbel. In Spanien wurde jene Verfassung, die während des Krieges von den liberales in Erinnerung an vorhabsburgische und vorbonapartistische demokratische und revolutionäre Traditionen geschrieben worden war, abgeschafft, und das Ancien Regime rächte sich grausam, unter Zuhilfenahme der Inquisition, an ihren Autoren und Befürwortern – und nicht nur an ihnen. Unter dem Vorwurf der Kollaboration wurden Intellektuelle und Beamte der „Franzosenzeit“, gleich ob afrancesados oder liberales, verfolgt, inhaftiert, gefoltert. Auch Goya musste sich rechtfertigen, konnte aber seinen Kopf aus der Schlinge ziehen. Gleichwohl ist er, der im ersten Teil der Desastres de la Guerra so eindringlich das Umschlagen der Aufklärung in Gewalt gezeigt hatte, wieder ganz Aufklärer, KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG wenn er den letzten Teil dieser graphischen Serie, die Desastres 65 bis 80, der dritten verheerenden Folge des Krieges widmet: dem Triumph der Reaktion. Hier thematisiert der Künstler die politische Unterdrückung sowie deren Ursachen und Folgen – Dummheit und Aberglauben – auf allegorisch versteckte Weise. Zugleich weiß er, wie weit er sich damit vorgewagt hat, denn er wagt nicht, die Serie zu seinen Lebzeiten zu veröffentlichen. Erst lange nach seinem Tod, 1863, werden die Desastres von der Madrider Academia de San Fernando herausgebracht. Anstatt die Kriegsbilder zu publizieren, wählt Goya – modo pícaro – nach 1815 das innere Exil. Er nimmt mit der Radierungsserie der Tauromaquia eines seiner frühen Teppichmotive wieder auf: die vielleicht nachhaltigste Schöpfung des plebejismo, den Stierkampf, die moderne corrida de toros. Ganz Aufklärer, schildert, bebildert er fiesta und lidia und versucht sich in einer historischen – wenn auch nach heutiger Forschungslage widerlegten – Herleitung dieser Tradition, kulminierend in einem Werk von analytischer Präzision und formaler Brillanz. Tauromaquia 21: Desgracias acaecidas en el tendido de la plaza de Madrid, y muerte del alcalde de Torrejon. (Unglückliche Ereignisse in den Zuschauerreihen der Arena von Madrid und der Tod des Bürgermeisters von Torrejon.) – 1815-1816. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Die Tauromaquia ist ästhetische Aufklärung par excellence – eine rationale Bestandsaufnahme jener romantischen afición, zu der sich Goya zuerst auf jenem frühen, noch von einer unbeschwerten Stimmung erfüllten Teppichkarton bekennt, der ihn selbst als junger Majo und Novillero zeigt, und die ihn, auch wenn er ihre gewaltsame Seite nicht unterschlägt, Zeit seines Lebens in Bann gezogen hat. Sein Landsmann Picasso wird seine Faszination teilen. Als nach dem Aufstand Riegos im Jahr 1820 der kurze Traum, Aufklärung als politische Selbstbestimmung in einem liberalen Verfassungsstaat zu verwirklichen, durch die rachsüchtige, von den konservativen Klassen gestützte fernandistische Reaktion niedergeschlagen wird, gibt auch Goya die Hoffnung auf, dass Aufklärung in seinem Land und zu seinen Lebzeiten noch eine Chance hat, und wählt, als alter Mann, das Exil in Bordeaux.14 KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Zeichenalbum G, Blatt 54: Aún aprendo. (Immer noch lerne ich.) – 1824-1828. Seine künstlerische Kreativität indes ist ungebrochen: Sein Motto bleibt: „Aún aprendo“. Sein Vermächtnis aus dieser dunklen Zeit15 sind die Disparates. Sie sind, als Radierungen, die „öffentliche“ Variante jener privaten Pinturas Negras, mit denen er zeitgleich die Wände des eigenen Hauses verdüstert. Noch einmal greift der Künstler auf die Caprichos zurück, das heißt KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG auf die enthüllende Methode der Karikatur. Nun aber ist aus jener wimmelnden Welt skurriler, lächerlicher peleles ein metaphysisches Universum übermächtiger, erdrückender Schattengestalten geworden. Auch ganz frühe Motive, wie die Reigentänzer der bukolischen Teppichkartons, kehren wieder: nun in Gestalt monumentaler Tölpel mit abstoßend grinsenden Fratzen, die vor unendlichen, leeren Horizonten in unwirklichen Räumen „tanzen“, „spielen“, alles niedertrampeln, und doch zugleich eingefroren sind in sinnloser Bewegung. Das vielleicht erschütterndste Bild der Serie ist das Disparate Ridiculo: ein Ast, aus dem Nichts kommend, ins Nichts führend, auf dem ein Häuflein Menschen kauert – Sinnbild existentieller Heimatlosigkeit. Disparate de Miedo. (Lächerliche Angst.) – 1815-1824. 5 KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG JENSEITS DER ROMANTIK: GOYAS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Goyas Werk bleibt befremdlich, entzieht sich jedem gefälligen, geschmacksästhetischen Urteil, und gerade deshalb berührt es uns, seine heutigen Betrachter. Die merkwürdig unstimmigen Darstellungen von königlicher Würde und höfischer Repräsentation irritieren und verstören uns ebenso wie die fade Stimmung oder die Züge von Niedertracht in den Gesichtern mancher Figuren, die das majistische Arkadien der Teppichkartons bevölkern. Wir finden uns amüsiert und angewidert und zugleich seltsam ertappt und beschämt angesichts der rohen Lust am Betrug und der Gemeinheit, mit der sich die Protagonisten der Caprichos wechselseitig belauern, täuschen oder selbst betrügen. Die Gräuel des Bürgerkriegs, die schonungslose Eindringlichkeit der Desastres de la Guerra lassen uns mit unserem Entsetzen allein. Und schließlich – und hier geht Goya noch einen Schritt weiter – die Disparates und Pinturas Negras entziehen uns, sofern wir uns ihnen öffnen, buchstäblich den Boden unter den Füßen. Sie sind emblematische Verdichtungen der existentiellen Einsamkeit in einer aus den Fugen geratenen apokalyptischen Welt. Disparate Femenino. (Die Torheit der Frauen.) – 1815-1824. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Disparate Alegre. (Fröhliche Possen.) – 1815-1824. Ein Werk, das solche Emotionen hervorruft, kann nicht der Romantik oder der schwarzen Romantik zugerechnet werden. Wie Goya sucht die Romantik die Dunkelheit, die Nacht, mehr das Schwarz als das Weiß. Aber anders als der spanische Künstler findet sie im Dunklen und Ungefähren einen schrecklich-schönen Schauer, dem sie sich hingibt, in dem sie sich heimatlich einrichtet. In ein romantisches Gemälde, sei es von Claude Lorrain oder der holländischen Landschaftsmaler, in ein Bild von Goyas Zeitgenossen C.D. Friedrich, in diese grandiosen Naturkulissen können wir uns mit all unserer Sehnsucht und unserem Weltschmerz hineinträumen. Manchmal helfen uns dabei ein paar im Bild anwesende Menschen, oft sehr kleine Figuren, als stellvertretende Träumer oder Liebende, und meist symbolisiert die Ruine im Hintergrund den Triumph der Natur über eine vergangene, einst großartige Kultur. In dieser romantischen Welt sind der Mensch, seine Geschichte und seine Kultur gleichwohl aufgehoben – eingebettet in diese überwältigende Natur, trotz oder besser: gerade aufgrund ihrer erhabenen Größe. Die Erbin der Romantik, die schwarze Romantik, erhebt dann lediglich das Element des Erotischen ins Überdimensionale, wo es eine naturhafte, das Individuum KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG vernichtende Gewalt entwickelt. Für alle Romantik aber gilt, dass Schrecken und Taumel nur Übergang sind: Sie veredeln lediglich die Idylle, den großen mütterlichen Trost und Traum. Anders Goya. Vor seiner trostlosen Welt schreckt man zurück. In seine Bilder will sich der Betrachter nicht hineinträumen. Umgekehrt, diese von ihrer eigenen Nichtigkeit absorbierten Gestalten, dieses schadenfrohe Grinsen, diese heuchlerischen Gesten, diese Arrangements voller Häme und Hinterlist, sie verfolgen, sie bedrängen uns. Das sind keine Träume, die wir weiterträumen möchten, sondern Albträume, vor denen wir fliehen. Es sind auch keine Naturszenen, denn Goya malt selten Landschaften; er konzentriert sich auf das gesellschaftliche Leben der Menschen in all seinen Facetten. Dieses schildert er kleinteilig, ohne dabei dem biedermeierlichen Einverstandensein mit den kleinen Verhältnissen zu verfallen – mit der kleinen Anpassung, der kleinen Deformation. Wo dann doch Natur auftaucht in Goyas Werk, wirkt sie hölzern, wird sie zur „unechten Kulisse“ wie in den späten Teppichkartons, wird sie zur Bühne menschlicher Verwüstung und Verworfenheit, wie in den Desastres, oder erstarrt sie zur unheimlich-unwirklichen Leere der DisparatesWelt. Romantische Kunst zielt auf Verschmelzung mit dem Großen Ganzen, biedermeierliche auf ein Sich-heimisch-Fühlen im Kleinen. Beides will Distanz überbrücken. Doch die von Goyas unheimlichem Werk evozierten Emotionen der Verstörung, der Scham, des Erschreckens halten den Betrachter auf Distanz. Distanzierung aber, das wusste nicht zuletzt Bertolt Brecht, ist Aufklärung. Solange sie nicht in lähmendes Entsetzen und namenlose Angst umschlagen, bewirken Irritation, Scham, Erschrecken stets Aufklärung. Sie provozieren die aufklärerische Frage par excellence: Warum? Jene unabdingbare Frage, die uns alle umtreibt, wann und wo immer wir ähnliche caprichiöse, desaströse oder disparate gesellschaftliche Zustände zu beklagen haben wie der Künstler Goya. Denn jede aufklärerische ist engagierte Kunst, auch wenn sie sich, als genuine Kunst, jedes unmittelbaren moralischen Urteils enthält. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Disparate Ridiculo. (Sinnlos und lächerlich.) – 1815-1824. KLEINER PHILOSOPHISCHER EPILOG Das wohl wichtigste philosophische Werk, das sich im 20. Jahrhundert dem Begriff der Aufklärung widmete, ist Adorno & Horkheimers Dialektik der Aufklärung. Von Anbeginn ziele Aufklärung darauf, so die beiden Autoren, über das Nicht-Identische, das nicht Willfährige, zu verfügen, und sei es um den Preis seiner Auslöschung. Aufklärung kulminiere daher im Willen zur Macht. Ästhetisch durchexerziert haben das die bereits erwähnten Romane de Sades, und das psychologische Movens unbedingten Machtwillens ist der Machtwahn, die Paranoia.16 Historisch begegnete die aufgeklärte Unduldsamkeit gegenüber dem Nicht-Identischen in vielerlei Gestalt – und sie ist beileibe nicht ausgestorben. Goya und seine Zeitgenossen erlebten sie in der tabula-rasaMentalität des obrigkeitlichen Reformismus, im Terror der Guillotine und des Wohlfahrtsausschusses, in den Bajonetten und der kalten Arroganz der Grande Armee. KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Aufklärung, so Adorno & Horkheimer, entspringt dem Mythos, dem sie sich doch zugleich entwinden will. Das heißt, sie verkennt, dass der Mythos bereits Aufklärung ist, und deshalb schlägt sie in Mythologie zurück. So korrespondiert der negierenden Gewalt, die die Werke de Sades durchherrscht, ein positiver, zur gleichen Zeit inszenierter Kult der Vernunft: die Selbstmythologisierung der Französischen Revolution. So macht die bonapartistische Idolatrie Anleihen bei den römischen Cäsaren. Allerdings ignoriert der einseitige Blick auf die „Dialektik der Aufklärung“ nur allzu oft, dass sich Gegenaufklärung von Anfang an zur Dienerin der Idolatrie macht. Gegenaufklärung setzt ganz ungebrochen und ganz undialektisch auf den Willen zur Macht. Goya und seine Zeitgenossen erlebten das in den Reden der Prediger und im politischen Symbolismus der Reaktion und der Restaurationen. Gegenaufklärung setzt a priori auf Mythologie, Aufklärung verfällt dem Mythos a posteriori. Anders als viele der postmodernen Rezipienten ihrer berühmten Streitschrift und trotz des aufklärungspessimistischen Untertons des Buches, hielten Adorno & Horkheimer am Versprechen der Aufklärung fest, an jenem von Kant formulierten Versprechen, uns Menschen den Weg „aus unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu weisen. Um es einzulösen, so die beiden Autoren, muss Aufklärung allerdings reflexiv, „negativ“, werden, sich selbst stets wieder in Frage stellen. Nur dann entgeht sie der Falle der Remythologisierung, nur dann hat sie die Kraft, die scheinbar unverrückbaren Verhältnisse ihrer imperativen Autorität zu entkleiden und entgeht sie der Dialektik der Aufklärung. Goya hat – etwa in der Darstellung der Dialektik von Täter und Opfer oder im ästhetischen Prinzip der Serie, wo jedes Einzelbild Stellungnahme oder Widerspruch zum vorangehenden ist – Wege gefunden, eine solche negative Aufklärung ästhetisch zu realisieren. Seine caprichiöse Kunst mündet sein grandioses, phantastisches Spätwerk. Die „disparaten“, vernunftwidrigen, Visionen einer von opaken Imagines gelenkten Welt evozieren im Betrachter „Furcht und Zittern“, aber auch den Wunsch, sich der „realgewordenen Albträume“ zu entledigen und die KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG Fesseln der Ignoranz und „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ endlich abzuschütteln. So düster und tief pessimistisch die Pinturas Negras und Disparates auch sind, sie wirken kathartisch. Darin knüpfen sie nicht zuletzt an die große ästhetische Tradition der Aufklärung in der griechischen Tragödie an,17 und darin partizipieren noch diese dunkelsten aller dunklen Bilder am optimistischen Geist der Aufklärung. Sie halten fest an der Hoffnung, die Schimären vertreiben und den „Schlaf der Vernunft“ durchbrechen zu können. Das ist Goyas Methode der Desillusion, des desengaño: Er bannt den realen Albtraum der Gegenaufklärung in verzauberte Bilder, um ihn dadurch zu entzaubern. Los Ensacados. (In ihren Säcken gefesselt.) – 1815-1824. * Susanne Dittberner received her PhD at the Free University Berlin with a book on Francisco Goya. She was lecturer at the department of Historical Anthropology and at the department of Eastern European Studies of the Free University, now teaching Sociology at the HWR (Berlin School of Business and Adminstration). In 2009 she was Visiting Professor at the AGH University of Science & Technology in Cracow. She published about the formative influence of the preindustrial lower classes of Spain, the relation between Goya and Blanco White, about the Spanish transition to KUNST ALS NEGATIVE AUFKLÄRUNG democracy and the history of broadcasting. She is preparing a book about the reverence and rites surrounding the bull. 1 vgl. www.goya-berlin.com 2 Kulturelle Konflikte sind, sieht man sie sich etwas genauer an, immer soziale Konflikte. 3 Gemeint ist der von 1701-1714 ausgefochtene Krieg um die Nachfolge des verwaisten Throns der spanischen Habsburger, an dem sich nahezu alle wichtigen europäischen Mächte beteiligt hatten. Er ging zugunsten der Bourbonen aus. 4 Zur Bedeutung der Moralökonomie vgl. Eric Hobsbawm und E.P. Thompson. 5 Dass für den psychoanalytisch geschulten Blick die Bändigung der Massen mit der Bändigung der Triebimpulse überblendet / identifiziert wird, sei hier wenigstens am Rand erwähnt. 6 „Todo para el pueblo, pero sin el pueblo“, vgl. den Titel von Landskron, Ferdinand 1977: Alles für das Volk, nichts durch das Volk. Maria Theresia und Joseph der II. 1740-90. 7 Gemeint ist Goyas grandioser Saturn aus der Serie der Pinturas Negras, mit denen der alte Maler die Wände seines als Quinta del Sordo bekannten Landhauses „tapezierte“. 8 Aufklärung als Spionage, als Arbeit der Geheimdienste, ist eine in der deutschen Sprache durchaus geläufiger Euphemismus. Und zu der immer noch virulenten Bespitzelung der eigenen Bürger in den modernen Demokratien erübrigt sich seit den jüngsten Enthüllungen über die Aktivitäten der Geheimdienste in diesen unseren Staaten jeglicher Kommentar. 9 Von dieser jungen Frau, einem Opfer machtpolitischer Intrigen, hat uns Goya ein bezauberndes und von tiefer Empathie durchdrungenes Porträt hinterlassen. 10 Ob Godoy tatsächlich ein Liebesverhältnis mit María Luisa hatte, ist unter den Gelehrten umstritten. 11 Andernorts kritisiert Goya, als eine asketische Variante der Maßlosigkeit, die körperfixierte fanatische Körperfeindschaft der Büßer- und Geißler-Prozessionen. 12 Capricho 43 geht sogar noch einen Schritt weiter und integriert die Legende unmittelbar ins Bild, macht sie ästhetisch zu einem Element der Radierung, denn die berühmte Sentenz „El sueño de la razón produce monstruos” springt den Betrachter frontal an. Sie prangt auf dem blockartigen Tisch, auf dem der Künstler über seiner Arbeit eingeschlafen ist und nun von den Geschöpfen seiner Träume heimgesucht wird. 13 Goyas Reduktionstechnik wird hier – mehr noch als bei den Caprichos – im Vergleich mit den detailreichen Zeichenentwürfen für die Radierungen deutlich. 14 Obwohl seinerseits absolutistisch restauriert, bot Frankreich damals vielen tatsächlichen oder vermeintlichen afrancesados Exil. Ein Vorsprung an Liberalität, der der Tatsache geschuldet war, dass die Franzosen kein Heiliges Offizium hatten, und es der Französischen Revolution gelungen war, die Verquickung von Staat und Kirche zu schwächen – auch wenn Napoleon aus strategischen Erwägungen später wieder ein Konkordat mit Rom schloss. Liegt es daran oder war jene Schwächung nicht nachhaltig genug, wenn in Frankreich im Jahr 2013(!) religiös motivierte Demonstranten gegen Homosexuelle auf die Straße gehen? 15 ... zum Teil bereits aus der Zeit der ersten Repression nach 1814. 16 Wie die großen Diktatoren aller Jahrhunderte von Caligula bis Stalin und Hitler bewiesen haben. 17 Einer Tradition, der auch die Form dieses Essays bescheidene Reverenz erweisen will.