ist kein Kinderfernsehen
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ist kein Kinderfernsehen
Was ist kein THEMA 70 Kinder fernsehen, Kinderfernsehen … ... war das Thema des diesjährigen Marler Forums Kinderfernsehen (siehe Kasten auf Seite 79). Gert K. Müntefering, Maus-Erfinder sowie langjähriger Leiter des Kinderfernsehens beim WDR, und Andreas Seitz, Leiter Kommunikation bei SuperRTL, nehmen aus ihrer Sicht zu dieser These Stellung. Gert K. Müntefering Seit gut einem Vierteljahrhundert teletappst er nun hinter mir her, der Ausspruch: „Kinderfernsehen ist, wenn Kinder fernsehen.“ Neulich las ich, dass er von Helmut Thoma stammen solle. Der aber hatte als Berufsangler bekanntlich von dem Köder gesprochen, der nur dem Fisch schmecken müsse. Da nun auch die Interpretation jedem im Fernsehen auf diesem Feld tätigen Medienmenschen vagabundierend frei zu sein scheint, soll an dieser Stelle die autorisierte Exegese vorgenommen sein. Dazu muss man sich in die Vergangenheit begeben, die, obwohl mono und nicht dual, so weit wiederum nicht von der Gegenwart entfernt ist. tv diskurs 11 THEMA 71 Im Jahre 1972 hatten sich die Kinderprogramme und darin die so genannten Vorschulprogramme formiert. Die ästhetischen und inhaltlichen Konturen waren bei der Sesamstraße, bei der Sendung mit der Maus und dem Feuerroten Spielmobil auf Seiten der ARD , bei der Rappelkiste und bei den Vorläuferprogrammen für Pusteblume und Löwenzahn sichtbar geworden. Freilich wurde über gesellschaftliche Positionen heftig gestritten. Der Zeitgeist schrieb seine Begleitpapiere. Das Curriculum sollte endlich aus dem passiven Fernsehen das aktive Leben vor dem Tod Die Ö RK s im Restaurant - „Ö RK “ steht für „öffentlich-rechtliches Kinderfernsehen“. durch Kartoffelchips machen. Vorangegangen – der Vollständigkeit halber und zum besseren Verständnis der damaligen medienpolitischen Situation sei es erwähnt – war die praktische Aufhebung des Fernsehverbots für Kinder unter sechs Jahren. Wenn nun ein Verbot einer vielleicht schlech- das Leben einen gewissen Einfluss auf das Fernsehverbot? Wie das? Was war das? Nun, ten, auf jeden Fall aber fragwürdigen Sache Fernsehen haben könnte – kurzum, dass All- praktisch war es das von den Intendanten der wie Fernsehen, Kinderfernsehen zumal, auf tagsumstände und Kinderinteressen nicht an ARD den Redaktionen auferlegte Verbot, für einmal nicht mehr gelten sollte, so mussten pädagogisch-politisch vordefinierten Grenzen diese Altersgruppe zu produzieren, Program- damit zwangsläufig Kontroll- und Nützlichkeit- Halt machen würden. Kinderfernsehen sei me anzubieten und Texte mit Inhalten zu ver- serwägungen einhergehen. Umgekehrt be- nicht nur, wenn man es mit sorgfältig präpa- breiten, die auf Sendungen für jüngere Kinder deutete das auch, dass die generell ableh- rierten Programmen und Altersangaben und hinwiesen. Es war die Übernahme des Kino- nende Kulturkritik ihre Dominanz verlor. langsamer Sprechweise der Ansagerinnen an- verbots in ein völlig anderes Medium, das Zwar beunruhigte in jenen Jahren diese ordnen würde, sondern wenn die Kinder die natürlich durch die Distribution von vornher- Entwicklung auf der großen medienpoliti- Nahbedienung nutzen oder bei den älteren ein obsolet erschien. schen Bühne niemanden nachhaltig; aber die Geschwistern oder bei den Eltern mitsehen Dennoch hatte dieser Beschluss erhebli- Zahl der Akademieveranstaltungen zu diesem würden. Freilich sei diese eigenmächtige che Folgen. Es gab keine Etats für Kinderpro- Thema nahm rapide zu. Das war in England Handlungsweise verwerflich und schädlich –, gramme, die sich an jüngere Altersgruppen übrigens anders. Die BBC bestand in großen aber zu verhindern sei sie wohl nicht. hätten wenden können. Die vom Gesetzge- Debatten auf ihrem nationalen „Play School“. ber gezogene Grenze war keine wirkliche psy- Noch 1997 widmete sich die Times auf der Also: Kinderfernsehen ist, wenn Kinder fern- chologische Barriere. Schließlich berücksich- ersten Seite der Kontroverse um die Tele- sehen. tigte er auch nicht die tatsächliche familiäre tubbies und um die richtige Sprache für kleine Situation und die auch für jüngere Kinder Kinder im Fernsehen. Aus dieser Feststellung waren dann natürlich wahrnehmbare Faszination des Fernseh- In Deutschland nun war die Anschauung einige Schlussfolgerungen abzuleiten: die des geräts, für lange Jahre oft als einziges Emp- weit verbreitet, dass mit Hilfe der Eltern, unter nachhaltigen pädagogischen Auftrags im We- fangsgerät im Koch-Wohnbereich ikonisiert. Anleitung pädagogischer Fachkräfte ein- sentlichen an die Eltern, Medienerziehung in Es wunderte dann natürlich nicht, dass schließlich der Küchenhilfe im Kindergarten den Schulen, Appell an verantwortungsbe- diese von den Gebührenzahlern überhaupt ein bewusst gesteuerter und begleiteter Fern- wusstes Handeln der Fernsehanstalten selbst nicht wahrgenommene Beschränkung prak- sehgebrauch für kleine Kinder möglich sei. in den Kindern zugänglichen, aber nicht für tisch auf der Rezipientenseite keine Rolle Damit sollten ihre sozialen und emotionalen spielte. Für die Redaktionen stellte sich die Fähigkeiten, zur Not auch ihre kognitive Kom- Sache freilich anders dar. Als die Sesamstraße, petenz entscheidend verbessert und Chan- übrigens mit finanzieller Unterstützung und cengleichheit angestrebt werden. Der vorge- folglich auch wissenschaftlich-redaktioneller sehenen Evaluation entzogen sich als erste Einflussnahme aus Bonn, sich inszenierte, da die Kindergärtnerinnen. standen für den Start sechs Millionen DM und Es waren jene Jahre, in denen man über 100 Sendeplätze bereit. Die gegen er- glaubte, aus dem „Big Brother“ eine fröhliche hebliche Widerstände durchgesetzte heimi- und bunte, freilich immer verantwortungs- sche Sendung mit der Maus verfügte über bewusste „Little Sister“ machen zu können. 180.000 DM und sechs halbe Stunden Fern- Damals glaubte ich in einem Medienseminar sehzeit. in Stuttgart darauf hinweisen zu müssen, dass Das feuerrote Spielmobil. tv diskurs 11 THEMA 72 sie gedachten Programmen, schließlich auch In gewisser Weise kulminierte diese Frage des Forderungen an die Programmplanung. In pragmatischen Handelns der Kinder beim dieser Zeit entstand auch die Tagesnutzungs- Fernsehen in der Überschrift einer Fachdis- studie, die – nicht überraschend – feststellte, kussion beim 5. Internationalen Kinder- und dass die bevorzugte Sehzeit der Kinder nicht Jugendfilmfest im November 1999 in Marl. mit der „Kinderstunde“ zusammenfiel, son- Dort hieß es: „Was Kinder fernsehen, ist kein dern wie heute noch zwischen 17.30 und Kinderfernsehen.“ Stimmt das? 20.00 Uhr liegt. Nein, es stimmt nicht. Es wird durch die Nun haben Sprüche und so genannte Fakten widerlegt und auch durch die Tat- Weisheiten ihr eigenes Schicksal. Was damals sache, dass es sehr wohl einen Inhaltsbegriff in einer ganz bestimmten Situation auf einen für Kinderfernsehen für die Gegenwart und si- offensichtlich übersehenen Sachverhalt ange- cher auch für das Jahrtausend geben wird, wandt wurde, das kann eben nicht historisierend dort festgezurrt werden. So wurde sehr schnell klar, dass allgemeine und andere Formen des Fernsehens auch zu Fernsehen für Kinder wurden. Der Ressortbegriff Kinderfernsehen ging eine Verbindung mit der Gattung Fernsehen ein. Immer dann, wenn Kinder fernsahen, so war es plötzlich Kinderfernsehen. Das wiederum konnte einfach nicht richtig sein. Kinder haben schon immer getan und gesehen, was sie nicht durften oder sollten. Die selbstverständliche Überschreitung dieser Grenzen gewissermaßen vor aller Augen war es dann wohl, die einen neuen sozialpsychologischen Sachverhalt schuf. Viele Lebensängste, unangenehme Erlebnisse, Vermutungen und Aggressionen suchten auch nach einer neuen Adresse. Das Fernsehen war dafür bestens geeignet, denn dort spiegelten sich einerseits die neuen Unsicherheiten, während andererseits Grenzüberschreitungen bei gewalttätigen oder anderen normverletzenden Darstellungen zu registrieren waren. Aktives Leben im passiven Fernseh-Curriculum: Die fröhlichen Monster der Sesamstrasse. tv diskurs 11 THEMA 73 das gerade beginnt. Freilich haben es hierbei die öffentlich-rechtlichen Anstalten ein wenig leichter als die privaten Vertreter für Kinderfernsehen. Jene können auf einen in fast drei Jahrzehnten entwickelten Begriffsapparat zurückgreifen, auf erfolgreiche, beim Publikum eingeführte Titel und nicht zuletzt auf den Kinderkanal. Die privaten Anbieter halten, was nicht verwundert, die Quote für den Schlüssel zum gesellschaftlichen Bewusstsein, was eben so nicht stimmt, und sind nur vereinzelt in des Wortes doppelter Bedeutung mit Etat und Plätzen für den Aufbau einer Programmlinie für Kinder ausgestattet. Nebenbei gesagt ist das eine fast tragisch zu nennende Fehleinschätzung. Nicht nur sportliche Dominanz und Exklusivität und aufgelockerte Formen der Information und des Amüsements sind in Deutschland für den Rang eines Fernsehens notwendig, sondern eben auch die in einem gesellschaftlichen Diskurs standfeste Entwicklung eines Kinderfernsehens. Dabei müssen keineswegs gewisse öffentlich-rechtliche Umständlich- und Schwerfälligkeiten nachgeahmt oder eingehalten werden –, aber es muss Titel geben, programm inzwischen niemand mehr spricht. die beim Kinderfernsehen eben sofort präsent Das wäre dann auch ein Angebot für die 11- sind und für einen Sender die akzeptierte bis 15-Jährigen. Dort werden übrigens vom Kinderkennung ermöglichen. Privatfernsehen bedeutend besser die Chan- Es ist festzuhalten, dass bisher nachhalti- Klassiker mit Zauberhut: Pan Tau. cen wahrgenommen als im Kinderfernsehen. ger Programm- und Markterfolg heute mehr Die verbleibende Kinderkohorte freilich mit eigenen Sendemarken von ARD und ZDF ist nach wie vor in vollem Umfang Kind. Sie ist zu tun haben als mit dem Privatfernsehen, das es selbst dann, wenn bei Ausflügen ins im Kinderfernsehen ein neues Programmge- Erwachsenenfernsehen die Elemente des schäft dimensionieren wollte. Das setzt eben Fernsehens in anderen Portionierungen ver- originale Wertschöpfung im Copyright und abreicht werden. Ausdauer auf Programmplätzen voraus. Kauf- Es war von entscheidender Bedeutung, produktionen, die als Koproduktionen getarnt für diese Kinder, die vor dem Titel „Kinder- ihr Börsendasein führen, sind dazu auf Dauer kanal“ eben nicht zurückschrecken, eine ver- ungeeignet. lässliche und immer auffindbare Adresse zu Die in diesen Tagen auf anderen Schau- schaffen. Freilich beschert das ARD und ZDF plätzen viel zitierten demographischen Daten in ihren jeweiligen Stammprogrammen Pro- können freilich Investoren zunächst zurück- bleme. Sie müssen gemäß ihrem Auftrag dem schrecken lassen. Es gibt in Deutschland etwa Kinderpublikum auch dort interessante und acht Millionen Kinder zwischen 3 und 13 Jah- dauerhafte Titel anbieten. Darin kann gewiss ren. Die Geburtenrate ist mit 1,4 pro Lebens- mehr vom Anspruch und von der Interessenla- gemeinschaft (1,7 bei ausländischen Familien) ge der Erwachsenen vertreten sein, ob er sich nicht nur für die Rentenkennziffer nicht gut. nun auf Unterhaltung richtet oder geschickt Nicht zuletzt hören Kinder heutzutage eher als auf Information. Bodenständige Originalitä- früher auf, Kinder zu sein. Etwa ab zehn Jah- ten wie Pumuckl haben dann ebenso ihren ren setzen durch Akzeleration und dynami- Platz wie die Maus, ein inzwischen generati- sche Umwelten deutliche Absetzbewegungen onsübergreifendes Fernsehmuster. Interes- von der Kindheit ein. Das hat Folgen auch für sant ist aber auch, dass die wöchentliche Kin- das Fernsehen, wo übrigens von Jugend- derfiction Schloss Einstein in einer Zielgruppe tv diskurs 11 THEMA 74 inhaltlichen und strukturellen Auseinandersetzung zwischen dem öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehen notwendig und richtig. Mit reinen Quotenverweisen, bei denen übrigens besonders der öffentlich-rechtliche Kinderkanal gut aussieht, ist es nicht getan. Das empfiehlt sich umso mehr, da – gleichgültig ob privat oder öffentlich-rechtlich – das Internet und die Playstation eine ganz neue Faszination darstellen, denen das herkömmliche Fernsehen sich erst einmal stellen muss. Da kann es durchaus passieren, dass ein neues Medium sehr alt aussieht, bevor es jung war. Kinderfernsehen könnte das werden, was Erklärt den Kleinen die Welt der Großen: Peter Lustig in Pusteblume und Löwenzahn. fündig wird, die man gemeinhin für das öf- Kinder aus medialen Bausteinen machen. fentlich-rechtliche Fernsehen als zu schwierig Spannung, Spaß und Verbotenes werden angesehen hat. Sie wanderte vom Kinder- dann neue Verbindungen eingehen. Fernseh- kanal mit Erfolg in die ARD . Das Fernsehspiel anstalten, die programmlich interessante, wäre im Übrigen gut beraten, wenn es den zeitgemäße Bauelemente anbieten, sind gut Spannungsbegriff Abenteuerfernsehen für beraten. das Familienpublikum neu entdecken könnte, In unseren modernen Zeiten, in denen auch wenn Robinson Crusoe inzwischen Satel- viele Anbieter weitaus mehr Geld als früher liten-Navigation hat. auch nur vorstellbar für kindliche Abenteuer- Die Erfolgsgeschichte des Kinderkanals, lust mit Gewinnerwartung, Zuneigung oder gewisser Sendetitel in ARD / ZDF und auch die Cash investieren, ist der geschäftliche Ehrgeiz Akzeptanzen der auf Kinder gerichteten nicht ehrenrührig. Er muss aber auch dort Ent- Angebote bei den privaten Sendern zeigen wicklungen betreiben, wo Phantasie und die jedenfalls, Kinderfernsehen Fähigkeiten zur Analyse gefordert sind. In sehen – und dass Kinderfernsehen nicht als wachen Kinderredaktionen, die mehr können randständige Formate eines modernen Er- müssen, als Synchronisationen zu überwachen wachsenenfernsehens zu werten sind. und Kataloge zu bebildern. dass Kinder Es ist nun wahrlich weder neu noch aufregend, dass Kinder Erwachsenenfernsehen Gert K. Müntefering war seit 1963 betrachten. Psychologen ziehen ohnehin ge- verantwortlich für das Kinderfernsehen und meinsames Fernsehen in der Familie bei flau- seit 1988 Leiter des Programmbereichs Kinder/ en Sendungen dem einsamen Kind vor, das Jugend/Familie/Schulfernsehen beim WDR. vor einer guten Sendung sitzt. Manchmal ist Seit Juli 1999 ist er pensioniert und als freier der Unterschied zum Kinderfernsehen kaum Berater für Bavaria München und zu bemerken. Die industriell hergestellten RTV Family Entertainment tätig. Muster der Spannung und des drastischen Humors sind auch auf die wache Abenteuerlust junger Zuschauer ausgerichtet. Dort stellt sich denn auch die eigentliche Herausforderung für die Produzenten und Redakteure. Anders aber als die Programmabteilungen der siebziger Jahre, die über jeden Programmschritt und Bilderschnitt Rechenschaft ablegen sollten, sind heutige Redaktionen von einer eher gleichgültigen Öffentlichkeit umgeben. Gewiss, pauschale Kritik bleibt nicht aus, ist aber für die Arbeit keine korrigierende oder gar weiterführende Grundlage. Vielleicht ist deshalb eine neue Form der tv diskurs 11