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J
Serie IV
mit Prof. Thomas Christaller
Aikido
jo
urnal N
¦ Warum sind Aikido-Techniken
effizient?
In der Daito-ryu geht es martialischer
zu. Damit meine ich, dass der Effekt
einer Technik viel deutlicher sichtbar
wird als in den entsprechenden Techniken des modernen Aikido. Es ist für
mein Gefühl so, dass in der Daito-ryu
das Aggressive und Zerstörerische einer Technik ganz offen zu Tage liegt,
während dies im Aikido „verpackt“ ist
ein den typischen „runden“, kreis- und
spiralförmigen Bewegungen. Es ist,
als ob in der Daito-ryu das tödliche
Schwert deutlich zu sehen ist, während es im Aikido ein- oder verhüllt ist.
Es blitzt nur auf, wenn es keine andere
Möglichkeit gibt, als wirklich zu schneiden.
Immer wieder wird in verschiedenen
Foren auf dem Web diskutiert, ob Aikido eine „wirkliche“ Kampfkunst ist.
Ein Aspekt davon ist die Frage, sind
Aikido-Techniken effizient? In diesem
Beitrag gehe ich auf beide Fragen ein
und entwickle dann ein paar Ideen,
warum Aikido-Techniken effizient sind.
Der Begründer des modernen Aikido,
Ueshiba Morihei, war zu seiner Zeit ein
berühmter Kampfkünstler, weil er sehr
überzeugend, eindrücklich, effizient
und elegant mit Angriffen umgehen
konnte. Schaut man sich Filmdokumente von seinen Demonstrationen
an, dann besteht kein Zweifel, dass sei- Daito-ryu wird üblicherweise als tradine Kunst und seine Meisterschaft für tionelle Kampfkunst angesehen, ähnden echten Kampf gedacht waren. Die lich z.B. zu Katori Shinto ryu, und insovielen Berichte von seinen direkten fern wird gar nicht in Zweifel gezogen,
Schülern, wie sie z.B. in Interviews von dass die dort gelehrten und tradierten
Stanley Pranin festgehalten wurden, Techniken effizient sind. Jeder erfahzeugen ebenfalls davon, dass O-Sensei rene Kampfkünstler kann unmittelbar
ein begnadeter Meister in den Kampf- sehen, dass diese Techniken, wenn es
künsten war. Wer ihn angriff, musste gelingt sie ein zu setzen, sehr effizient
sind. Die Biomechanik zusammen mit
mit Allem rechnen.
der Dynamik der jeweiligen Technik,
Nach eigenem Zeugnis und belegt wie z.B. Ikkyo (ich verwende die Bedurch die historischen Arbeiten von zeichnungen aus dem Aikido und
Stanley Pranin wissen wir, dass die nicht aus der Daito-ryu), führen zwinmeisten Techniken des modernen gend zur Projektion des Anderen (Uke)
Aikido aus der Daito-ryu Aiki-Jujutsu bäuchlings auf den Boden. Kein andekommen, welche ebenfalls bis heute in rer Ausgang ist denkbar. Aber wie sieht
ungebrochener Tradition gelehrt wird. das im Aikido aus?
Schaut man sich Filme von Demonstrationen von Kondo Sensei an, dann Mein Eindruck ist, dass Ikkyo im Aikiwird das ganz offensichtlich. Aber es do lässiger, entspannter wirkt. Schaut
werden auch Unterschiede deutlich. man sich Videos von entsprechen-
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den Demonstration von Endo sensei,
Shimamoto sensei oder Watanabe
sensei an, dann sieht die Bewegung
gerade zu leicht, irgendwie schwebend aus. Dem Angriff wird das Zerstörerische dadurch genommen, dass
dem gerade das „Nicht-Zerstörerische“
zugefügt wird. Alle von uns, die bei
den genannten oder vergleichbaren
anderen Meistern, die immer noch
sehr häufig Schüler von Osensei gewesen sind, Uke gewesen sind, berichten übereinstimmend folgendes: Je
stärker der Angriff desto nachdrücklicher aber auch weicher wirkte die angewandte Technik auf sie.
Das scheint ein Widerspruch zu sein,
denn üblicherweise denkt man und
sieht man auch in vielen Kampfkünsten und auch bei nicht wenigen, die
Aikido praktizieren, je härter und
schneller der Angriff, desto härter und
schneller die Antwort. Das sehen und
(immer noch) erleben können, ist gegensätzlich: Je härter und effizienter
der Angriff, desto weicher und scheinbar schwächer ist die Antwort. Das
verwirrt erfahrene Kampfkünstler (und
insbesondere Kampfsportler), weil es
so ganz gegen die eigene Erfahrung
und Praxis spricht. Umso mehr noch
beim allgemeinen Publikum, die mit
Kampfszenen oft künstlich dramatisierte Bewegungsabläufe verbinden.
Es ist bekannt, dass der Iaido-Meister
Sagano vom berühmten Regisseur
Kurosawa immer wieder darauf hinwies, dass derartige dramatisierte
Bewegungen nicht effizient sind son-
Gesprächsreihe
Effizienz
dern „nur“ für die Show da sind. Und
wer erinnert sich nicht an die Szene in
„Die sieben Samurai“ in der der Schauspieler Mifune in einem provozierten
Duell mit Bokken dem Anderen sagt,
dieser habe verloren, woraufhin der
das wütend anzweifelt und das Duell
mit scharfer Klinge verlangt und durch
genau dieselbe scheinbar harmlos
wirkende Bewegung getötet wird?
kann David gegen Goliath gewinnen,
Hannibal jahrelang in Italien die Feldschlachten gewinnen, abgeschnitten
von jedem Nachschub, Alexander das
Perserreich besiegen, Dschingis Khan
das größte je existierende Reich mit
Nomadenreitern errichten. Wer sich
an die Spielregeln hält, alle Techniken gut beherrscht, zum definierten
Wettkampfzeitpunkt topfit ist, ist ein
guter Kämpfer aber nicht zwingend
ein guter Krieger und umgekehrt. Nur
der Vollständigkeit halber weise ich
auf ein drittes Konzept hin: den Soldaten. Hier besteht der Unterschied zum
Krieger darin, dass Soldaten bereit sein
müssen, auf Befehl zu töten und selber
zu sterben. Der Krieger (in seiner idealisierten Form) bestimmt das (wenigstens teilweise) selber.
Also könnte es sein, dass unsere Vorurteile und Erwartungen über das, was
einen „richtigen“ Kampf charakterisiert
und was eine effiziente Technik ist, nur
bedingt zutrifft und uns durchaus in
die Irre gehen lassen kann. Nicht alles,
was wir für eine super gute Technik
halten, ist es auch. Und umgekehrt,
manches, was wir für harmlos oder
ineffizient halten, ist super effizient.
Das trifft erst einmal für alle Kampf- Die Aikido-Techniken sind prinzipiell
systeme zu. Ein Grund für unsere nur genau so effizient wie die der Daitoteilweise zutreffenden Vorurteile mag ryu, weil sie von der Biomechanik und
in dem unbewusst unverstandenen teilweise auch in der Dynamik einfach
Unterschied zwischen Wettkampf und identisch sind. Wer also die Daito-ryu
Kampf liegen. Schon in der Antike ha- Techniken für effizient hält und geeigben die Spartaner die eigene Teilnah- net für einen „richtigen“ Kampf, der
me an den Olympischen Spielen mit kann getrost auch die vergleichbader Begründung abgelehnt, was nütz- ren Aikido-Techniken so sehen. Aber
lich ist, um den Lorbeer in Olympia Aikido-Techniken sind eben doch
zu gewinnen, unbrauchbar auf dem nicht vollständig identisch, wie oben
Schlachtfeld sei. Im Wettkampf ist das beschrieben. Deshalb stellt sich doch
Techniksystem, die Regeln, Ort und die spezifische Frage für Aikido: WarZeit, der Gegner vorherbestimmt. Und um sind die Techniken effizient? Bevor
es gibt einen Schiedsrichter, der auf die ich diese Frage beantworte, mache
Einhaltung der Regeln achtet und dass ich einen kleinen Umweg und erläutre,
keine ernsthafte Gefahr für die Kämp- warum ich das Bewusstsein von Verfenden besteht. In einer Kampfsitua- wundbarkeit für die Ausführung von
tion trifft dies aber alles nicht zu. Da Aikido-Techniken zentral halte.
In ihrem Buch „Daring Greatly“ gibt
Brené Brown folgende Definition von
Verwundbarkeit (engl. vulnerability):
Verwundbarkeit bedeutet nichts über
Sieg oder Niederlage zu wissen, es ist
das Verstehen der Notwendigkeit von
Beidem; es heißt sich einzubringen. Es
ist vollständig mitten drin sein.
Verwundbarkeit ist nicht Schwäche
und die Ungewissheit. Das Risiko und
die emotionale Blöße, der wir täglich begegnen, wählen wir nicht aus.
Unsere Bereitschaft, unser Wille, Verwundbarkeit zu besitzen und uns mit
ihr zu verbinden, bestimmt das Ausmaß unseres Mutes und die Klarheit
unserer Ziele; das Ausmaß, in dem wir
uns davor schützen, verwundbar zu
sein ist ein Maß für unsere Angst und
Unverbundenheit.
Wenn wir unser Leben so lange damit
zubringen, bis wir perfekt oder kugelsicher sind, bevor wir in die Arena
steigen, dann beschädigen wir unsere
Beziehungen und Möglichkeiten, die
sich vielleicht nicht wieder herstellen
lassen, wir verschwenden unsere kostbare Zeit und wir drehen unseren besonderen Fähigkeiten den Rücken zu
diesen einmaligen Beiträgen, die nur
wir leisten können.
Der Untertitel dieses Buches lautet
übrigens: „Wie der Mut, verwundbar
zu sein, unsere Art zu Leben, Lieben,
Eltern zu sein und zu Führen verändert“. ((Ist das korrekt zitiert?)) Sie hat
das Buch nicht für Kampfkünstler geschrieben, sondern sie hat den modernen Menschen hier und heute im Blick,
Bestellung: http://www.aikidojournal.eu/Online-Shop/Deutsche_Ausgabe/2013/
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