06-15 Rund und gesund
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06-15 Rund und gesund
GESELLSCHAFT Rund und gesund Rund, gesund un Rund und gesund GESELLSCHAFT d zufrieden Frühling ist die Zeit der Diäten. Doch die von der Modewelt diktierten Traumvorgaben 90-60-90 sind nicht nur von einer Mehrheit der Bevölkerung nicht erreichbar, ihre Anpeilung mit regelmässigen Monsterdiäten ist auch ungesund. Text: Thomas Vogel F rühling für Frühling präsentiert sich an der Modefront dasselbe Bild. Jede Illustrierte, die man aufschlägt, gibt ihrer Leserschaft – mehrheitlich sprechen sie dabei die Leserinnen an – tolle Tipps, um in wenigen Tagen die angebliche Traumfigur zu erreichen. Ob es sich nun um eine Atkins-, Bikini-, Wasser-, Salat-, Low-Carb-, Brigitte- oder sonstwie Diät handelt, immer ist das Ziel dasselbe 90-60-90. Und allen diesen im Frühjahr inflationär auftretenden «In-drei-Tagen-zur-Bikini-Figur»-Angeboten ist eines gemeinsam. Sie versprechen mehr, als sie halten, und sind in den meisten Fällen gar überflüssig. Genau aus diesem Grund wurde sie auch von der Dessousfirma «Ulla» entdeckt. Diese Firma ist spezialisiert auf Unterwäsche in Übergrössen. Das war vor sieben Jahren. Inzwischen tingelt die ehemalige Apothekerhelferin hauptberuflich als Mollig-Model über die Laufstege in Paris, Berlin, Lyon oder Den Haag. «Feste Frauen wollen die Kleider, die sie tragen sollen, nicht an diesen dürren Models sehen, sondern an Frauen wie mir», weiss Tanja Bartsch. Mutige Werbung gegen Frauen-Stereotyp Das weiss auch der Kosmetikkonzern Unilever. Deshalb startete die Firma 2004 für ihre Kosmetiklinie Dove eine aussergewöhnliche Werbekampagne. Von Plakatwänden und aus Inseraten strahlten den Betrachter nicht spindeldürre Supermodel sondern etwas fülligere Model, mit durchschnittlich hübschen Gesichtern an. Die jungen, lachenden Frauen mit Kleidergrössen jenseits der 40 repräsentieren nämlich die durchschnittliche Frau – deren Kleidergrösse liegt in der Schweiz zwischen 40 und 44. Das musste auch Tanja Bartsch aus Würzburg erfahren. Die 1,64 Meter grosse Deutsche hat mehrere Diäten hinter sich. Das typische Modelsyndrom, möchte man fast sagen, denn Tanja Bartsch geht für eine Dessousfirma über den Laufsteg. Dennoch besteht ihr Pausensnack normalerweise nicht aus einer mageren kleinen Karotte. Im Gegenteil: Sie langt deftig zu und es können durchaus mal zwei Leberwurstbrote sein. «Schliesslich muss ich ja auf meine Figur achten», lacht die 28-Jährige. Sie wiegt 75 Kilogramm und quetscht sich entgegen dem Modetrend nicht in die Konfektionsgrösse 36. Sie trägt stolz die Grösse 42 und bezeichnet sich selber als «etwas griffiger» – bei einem Body-Mass-Index von rund 28. Fotos: zVg Stolz auf den eigenen Körper Natürlich | 3-2006 7 GESELLSCHAFT Rund und gesund «Mit den verschiedenen Kampagnen tritt Dove bewusst gegen das stereotype Schönheitsideal an und möchte damit den Frauen Mut machen, ihre eigene, individuelle Schönheit wahrzunehmen», erläutert Susanne Eigenheer, MarkenManagerin Dove Schweiz, die Beweggründe zu dieser Werbestrategie. Hintergrund dieser Aussage bildete eine weltweite Studie, die Unilever zusammen mit der Harvard-Universität durchführte. Dazu befragten sie auch in der Schweiz 600 Frauen im Alter von 15 bis 70 Jahren. Schönheit ist Ansichtssache Die Ergebnisse entsprechen zwar sicher den Zielen von Unilever, ob sie jedoch die tägliche Realität reflektieren, ist ungewiss. Denn das Selbstbewusstsein vieler Frauen ist schwankend wie eine Wetterfahne, wenn es um die Begutachtung des eigenen Körpers geht. Die Meinungsumfragen dazu fallen wechselhaft aus wie der Wetterbericht. Die aktuelle «Dove-Beauty-Studie» kommt zwar zu dem Schluss, dass sich fast 95 Prozent der befragten Schweizer Frauen schöner oder so schön wie der Durchschnitt empfinden und mit sich zufrieden sind. Dasselbe gilt in fast demselben Ausmass auch für Deutschland. Nicht wirklich auf denselben Nenner kam eine Erhebung durch das Deutsche Institut für Ernährungsforschung. Sie ergab, dass in Deutschland rund zwei Drittel der Frauen gerne dünner wären. Im europäischen Durchschnitt wollen von den normalgewichtigen Frauen ganze 58 Prozent schlanker sein. Bei den normalgewichtigen Männern sind es nur 22 Prozent. Ganz schwer tun sich die Britinnen: Eine Erhebung des Internet-Providers AOL zeigte, dass 60 Prozent der britischen Frauen ihren eigenen Anblick im Spiegel nicht ertragen können. Die meisten hätten lieber einen kleineren Bauch, gefolgt vom Wunsch nach schlankeren Hüften und Oberschenkeln. Versteckte Kurven unter Schlabberklamotten Auch Tanja Bartsch trug ihre Rundungen nicht immer mit diesem Selbstverständnis zur Schau. Denn bis zu ihrem 19. Lebensjahr war sie schlank und wog gerade mal 50 Kilogramm. Sie betrieb Spitzensport Rund und gesund GESELLSCHAFT So dick ist nicht zu dick Endgültig vorbei sind die Zeiten, als das nierte Sportler haben eine höhere Muskel- Idealgewicht mit der rudimentärst-Formel masse und können daher einen höheren BMI Körpergrösse in Zentimeter minus 100 minus ausweisen. Doch Achtung: Wer einen BMI zehn Prozent bei Männern respektive 15 Pro- von über 30 hat, gilt gemäss Weltgesund- zent bei Frauen berechnet wurde. Das Mass heits-Organisation (WHO) als adipös oder zu der Dinge in der Ernährungsmedizin ist heute deutsch: krankhaft fettleibig. Eine nachge- der Body-Mass-Index (BMI). Er errechnet wiesene Gesundheitsgefahr besteht jedoch sich wie folgt: Körpergewicht in Kilogramm, erst ab BMI 40. Jedoch sind vor allem Kinder geteilt durch die Körpergrösse in Meter im oder Jugendliche mit einem BMI über 30 Quadrat. Beispiel: Sie sind 1,70 Meter gross gefährdet. Denn: das verniedlicht mit Baby- und wiegen 72 Kilogramm. Dann errechnet oder Pubertätsspeck bezeichnete Über- sich der BMI folgendermassen: gewicht retten die Jugendlichen meist ins 72 : (1,7 x 1,7) = 24,9. Erwachsenendasein (siehe auch «Natürlich» Gemeinhin gilt ein BMI bis 25 als o.k. Das er- 10-2004) – und werden es nicht mehr los. füllten etwa 40 Prozent der Schweizer Bevöl- Die Folge kann neben Herzproblemen und kerung. Ab BMI 25 gilt man als übergewich- jugendlicher Diabetes auch eine schnellere tig. Also gelten offiziell rund 60 Prozent der Abnützung der Gelenke sein. Bevölkerung als nicht o.k. oder anders aus- Alter in Jahren BMI-Normalgewicht gedrückt als zu dick. Doch dieser als Schall- 19–24 19–24 grenze zur Übergewichtigkeit angesehene 25–34 20–25 Wert gilt unter Fachleuten seit längerem als 35–44 21–26 zu starr. Einen grossen Einfluss auf das so 45–54 22–27 genannte Normalgewicht hat das Alter, aber 55–64 23–28 auch die sportliche Konstitution. Gut trai- 64 24–29 und war sowohl bayrische wie auch süddeutsche Meisterin im Kajakfahren. Wegen der Ausbildung zur Apothekenhelferin musste sie mit dem Leistungssport aufhören. «Mein Gewicht schnellte rapide hoch», sagt sie. Erst bei über 90 Kilogramm pendelte es sich ein. In der ersten Phase versteckte die Bayerin ihre Kurven unter weiten Schlabberkleidern und versuchte abzunehmen – ohne Erfolg. Der Wechsel in der Einstellung zu ihrem Körper kam mit dem Modeln. «Heute bin ich stolz auf meinen Busen und meine weiblichen Formen», sagt sie selbstbewusst. Dennoch nahm sie letztes Jahr rund 20 Kilogramm ab. «Aber nicht weil es irgendjemand wollte», wie sie betont haben will. «Ich wollte es.» Den Anschub gab ihr Rücken. Er hatte mit der üppigen Körbchengrösse 85G etwas zu schaffen. Und ihr Kommentar: «Ich bin absolut zufrieden mit meinem Körper.» thv zierliche. So gilt Marilyn Monroe hierzulande immer noch als Sexgöttin, trotz oder gerade wegen der üppigen Rundungen und Kleidergrösse 42. Auch Sophia Loren oder Gina Lollobrigida vermoch- ten sich nie in eine Hose der Grösse 36 zu zwängen (siehe Kasten Seite 10). 80 Prozent der Männer geht das Gejammer der Frauen um ihre Figur sowieso ziemlich auf den Keks, diese Erkenntnis stammt vom Meinungsforschungsinstitut Gewis und wird von Partnern von üppigen Frauen bestätigt. «Mein Mann mag es weich und kuschelig», schreibt zum Beispiel die Bochumerin Monja Korthaus. Sie wiegt 93 Kilogramm bei 1,57 Meter Körpergrösse. Aber erst mit dem richtigen Mann, der «mir das Gefühl gab, schön und begehrenswert zu sein», konnte die Rubensfrau auch zu ihren Rundungen stehen. «Davor machte ich 20 Jahre Dauerdiät – gebracht haben sie allesamt nichts», sagt sie. Seit die 38-jährige Monja Korthaus ihren «Diätenwahnsinn» hinter sich gebracht habe, sei sie gesünder, glücklicher und halte ihr Gewicht. Eine Feststellung, die auch von Fachleuten bestätigt wird. Viele Studien belegen inzwischen, dass sich der Diätenwahn negativ auf die Gesundheit auswirkt. Und: «Wir wissen schlicht nicht, ob eine Person, die zehn Kilo abspeckt, ebenso gesund ist wie eine Person, die schon immer zehn Kilo leich- Frauen setzen sich selber unter Druck Seltsamerweise fühlen sich Frauen eher durch die Schlankheitskonkurrenz anderer Frauen unter Druck gesetzt als durch die vermeintlichen Erwartungen der Männer, auch das zeigen Studien. Männer erzählen zumindest in Umfragen immer wieder, dass sie kurvigere Frauen hübscher finden als schmale und Natürlich | 3-2006 9 Infobox GESELLSCHAFT Rund und gesund Internet • www.rundnaund.ch • www.medizinfo.de/ernaehrung/ abnehmen/gesund2.htm • www.cdc.gov/nchs/nhanes.htm • www.diaeten-sind-doof.de/ ter war», schreiben die amerikanischen Ärzte Angell und Kassirer. Gesund, ungesund, na und Wer sich schon einer Diät unterzogen hat, machte wahrscheinlich Bekanntschaft mit dem so genannten Jo-Jo-Effekt. Die verlorenen Pfunde sind schnell wieder da oder noch schlimmer: Nach einer Abspeck-Kur ist man in der Regel noch dicker als vor der Kur. Die britische DiätVereinigung verkündete zum Beispiel, dass vier von zehn Teilnehmern einer Schlankheitskur rückfällig werden und nachher noch dicker sind als vor der Diät. Dieser Jo-Jo-Effekt könnte gefährlicher sein als das Übergewicht und es gibt Hinweise darauf, dass er das Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten erhöht. Eine Abspeck-Kur kann jemanden auch seelisch stressen. «Man ist während und nach einer Diät immer auch frustriert. So wenig Essen macht müde und nervös», schreibt dazu der Arzt Thomas Walser. Man habe während einer Diät auch immer zu wenig Antrieb. Das weiss inzwischen auch Daniela Hochuli aus Kölliken AG. Die 30-Jährige machte Diäten über Diäten. «Ich habe dazumal mit meiner Gesundheit gespielt und es ging mir sehr schlecht, sodass ich mich selber nicht mehr leiden konnte», schildert sie den Weg zur Erkenntnis. Heute ist sie mit sich selber zufrieden – trotz ihren Pfunden. Sie wiegt bei 1,57 Meter Grösse 88 Kilogramm und sagt selber: «Ich sehe das heute nicht mehr so eng und wenn es eben mal etwas mehr ist, dann ist es eben so.» Aber sie behält ihr Gewicht in etwa konstant. Sie tut vermutlich gut daran. Von Gallensteinen zu Gicht Amerikanische Forscher sagen nämlich: Mässig Dicksein ist in Ordnung. Sie fragen sich sogar, ob es sinnvoll ist abzunehmen? Es gibt tatsächlich einige Gründe, die gegen das Abspecken sprechen: Wie nämlich der Arzt Nicolai Worm in seinem Buch «Diätlos glücklich» schreibt, fördert eine Abmagerungskur die Bildung von Gallensteinen ebenso wie sie die Knochen entkalkt und damit Osteoporose Vorschub leistet. Dank dem dass eine drastische Gewichtsreduktion auch die Harnsäurewerte im Blut erhöht, kann einem genau in dem Zeitpunkt, wenn man dabei ist, so richtig schlank und gesund zu werden, ein Gichtanfall heimsuchen. Es wird noch drastischer: «Ein bisschen Leberfunktionsstörungen, eine kleine Literatur • Balters: «Nur Engel dürfen dick sein – Von Schönheitswahn und wahrer Schönheit», Verlag Gerth Medien GmbH 2005, ISBN: 3-86591-038-6, Fr. 16.90 • Beil: «Mein Kind ist zu dick – was tun!», Goldmann Verlag 2004, ISBN: 3-442-16671-3, Fr. 12.90 • Fehrmann: «Die Psyche isst mit – Wie sich Ernährung und Psyche beeinflussen», Foitzick Verlag 2002, ISBN: 3-929338-16-5, Fr. 29.40 • McKeith: «Du bist, was du isst», Goldmann Verlag 2005, ISBN: 3-442-16756-6, Fr. 16.50 • Worm / Harjes: «Diätlos glücklich – Abnehmen macht dick und krank», Systemed Verlag 2003, ISBN: 3-927372-25-0, Fr. 34.90 Krise im Wasser- und Elektrolythaushalt und das bisschen Verlust an Muskelmasse an Körper und Herz – das ist doch alles zu verkraften und wird schliesslich weit übertroffen von den gesundheitlichen Vorteilen, wenn man endlich von dem lästigen Übergewicht herunterkommt», schreibt Worm sarkastisch. Er ist beileibe nicht der Einzige, der vor dem rigorosen Abnehmen warnt, Genuss dafür umso intensiver empfiehlt. Foto: Irisblende.de Schönheit im Wandel der Zeit 10 Natürlich | 3-2006 Was gestern noch als schön angesehen das Korsett leistete, musste von da an am wurde, ist heute dick, was wir heute als schön Körper selber abgespeckt werden. Schlank ansehen, war vor 1000 Jahren kaum über- war angesagt. In den 1920er-Jahren schnitten lebensfähig. So ändern sich Schönheitsideale sich die Frauen die Haare ab, um damit auch in jeder Epoche. ihre in den Kriegsjahren gewonnene Selbst- In der Steinzeit werteten unsere Keulen ständigkeit zu unterstreichen. Eine schlanke, schwingenden Vorfahren Frauen mit grossen androgyne Figur herrschte vor. Brüsten, breiten Becken und üppigen Fett- Erst Mitte der 1960er-Jahre änderte sich das reserven als schön. Sie galten als Garant, Frauenbild radikal. Ein dürres Zweiglein (eng- dass die Brut erfolgreich das Erwachsenen- lisch: twig) mit Namen Lesley Hornby eroberte alter erreichte. unter dem Pseudonym Twiggy die Laufstege In der Renaissance bis zum Barock galten der Welt und wurde zum ersten Supermodel. üppige Formen als sinnlich und verlockend. Seither sind magersüchtige, langbeinige und Erst gegen Ende des Barock so um 1700 grossbusige Models nicht mehr von den rum zwängten sich Frauen in Korsetts. Eine Plakatwänden und Illustriertentiteln wegzu- Wespentaille war gefragt. denken. Sie versorgen die Fitnesszenter Grundlegend änderte sich das Schönheits- ebenso mit Kundschaft wie die plastischen ideal erst im 20. Jahrhundert. Was bis dahin Chirurgen oder Diätzentren. thv Rund und gesund GESELLSCHAFT Foto: Avenue Images Gefahr droht vom Bauchfett Das Taille-zu-Hüfte-Verhältnis (WHR = Waist to Hip Ratio) gibt Auskunft über die Verteilung des Fettes im Körper. Während bei etwa 85 Prozent der Frauen dieses Fett meist in der so genannten Birnenform auftritt – also im Bereich Gesäss, Hüften und Oberschenkel – schlägt es sich bei rund 80 Prozent der Männer in der Apfelform nieder – also in einem Bauchansatz. Männer mit einem WHR von mehr als 1,0 haben ein erhöhtes Risiko an einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall zu sterben. Bei Frauen liegt der kritische WHR oberhalb 0,85. Die gute Nachricht für Frauen: Das in Birnenform angesammelte Fett beeinträchtigt die Gesundheit nicht. Die schlechte Nachricht: Diesen Polstern ist fast nicht beizukommen. Bei Diäten schützt sie der Körper sogar speziell. Die gute Nachricht für Männer: Der Bauchspeck ist mit einer Umstellung der Ernährung und etwas Bewegung Die Allmacht des BMI Die Jagd nach dem richtigen Gewicht, gemessen mit dem BMI, bescherte uns der Belgier Adolphe Quetelet (siehe Kasten auf Seite 9). Auf der Suche nach dem Durchschnittsmenschen hat der Statistiker im 19. Jahrhundert den grössenunabhängigen Index erfunden. Inzwischen entwickelte sich der BMI mit Hilfe der WHO zu einem Mantra für Normversessene. Die Grenzen der so genannten Norm zog die WHO jedoch in den 1990er-Jahren willkürlich in einprägsamen Fünferschritten. Sie berücksichtigte dabei weder den Körperbau noch das Alter. «Die WHO hat die Grenzen viel zu eng gesetzt», kritisiert die Fachjournalistin Elke Achtner-Theiss in der Zeitschrift «Schrot&Korn». Auf diese Weise würden viele Millionen gesunder Menschen zu Kranken erklärt und unnötigerweise zu Diäten gedrängt, die dank des Jojo-Effekts Übergewicht langfristig eher fördern. Kritiker dieser Drei-Buchstaben-Formel werden immer lauter und zahlreicher und Fachleute zweifeln immer mehr an der gesundheitlichen Aussagekraft des relativ einfach loszuwerden. Denn was immer man abnimmt, etwa 30 Prozent stammen jeweils vom Bauch. Die schlechte Nachricht für Männer: Der Bauchansatz zeigt eine Neigung zur Stammfettsucht. Das ist problematisch, da diese Bauchfettzellen Adiponectin abgeben, einen hormonähnlichen Stoff. Das ist zwar ein guter Stoff: Er erhöht die Wirksamkeit des Insulins und beugt so Diabetes vor. Die Krux jedoch ist: Je mehr Bauchfett sich ansammelt, je mehr sinkt die Produktion des Adiponectin. Diese Fettzellen können auch nicht abgesaugt werden, da es sich dabei um innere Fettzellen handelt. Ein weiterer Stopper ist der eigentliche Bauchumfang. Bei Männern sollte der Bauchumfang nicht über 102 Zentimetern liegen; bei Frauen liegt die Grenze bereits bei 88 Zentimetern. Darüber drohen Folgeerkrankungen wie Herz-Kreislauf-Probleme oder Diabetes. So berechnet man den WHR: Taillenumfang : Hüftumfang = WHR. Beispiel: Sie haben einen Taillenumfang von 74 Zentimetern und einen Hüftumfang von 98 Zentimetern: 74 : 98 = 0,75. thv BMI. Neuste Forschungen belegen nämlich, dass vor allem das Verhältnis vom Bauch- zum Hüftumfang einen relevanten Einfluss auf die Gesundheit hat (siehe Kasten). So ist Fett um den Bauch schlimmer als Fett um das Gesäss oder um die Oberschenkel. Salim Yusuf von der McMasterUniversität im kanadischen Hamilton erhob gemäss einem Bericht in der Zeitschrift «Tabula» Daten von rund 27 000 Menschen in 52 Ländern. «Zusammengefasst», erklärt der Wissenschaftler, «zeigen unsere Resultate, dass die Bedeutung der Fettleibigkeit bei HerzKreislauf-Erkrankungen neu bewertet werden muss.» Konkret: Der BMI lag bei über 12 461 beobachteten Personen mit einem Herzinfarkt nur geringfügig höher als bei 14 637 Personen, die keinen Herzinfarkt hatten. Daraus schliesst Yusuf, dass der BMI kein taugliches Instrument ist, um die gesundheitlichen Risiken zu bewerten. Doch fand er heraus, dass das Verhältnis von Bauch zu Hüftumfang einen deutlichen Hinweis auf ein erhöhtes Herzinfarkt-Risiko gibt. Das gilt sowohl für Frauen wie auch für Männer. Länger leben mit Übergewicht Tatsächlich senkt leichtes Übergewicht sogar das Sterberisiko. Das schliessen Wissenschaftler aus den Daten des National Health and Nutrition Examination Surveys (NHANES). Danach besteht kein Unterschied, ob jemand einen BMI von 20 hat oder einen BMI von 29. Es liesse sich nur bei einem BMI unter 18,5 und über 30 eine erhöhte Sterblichkeit nachweisen. Der amerikanische Präventiv-Mediziner Ramon Durazo-Arvizu von der Universität in Illinois hat im April 2002 im «American Journal of Epidemiology» ähnliche Resultate bestätigt. Er fand heraus, dass sich innerhalb einer Spannbreite von neun BMI-Punkten die Sterbewahrscheinlichkeit nur geringfügig erhöht. Mit einbezogen in dieser Studie waren über 13 000 Personen. Weiter lassen die Resultate vermuten, dass der optimale BMI nicht am unteren Ende der Skala liegt, wie man dies bisher angenommen hat. Auch eine Studie des Londoner Professors Gerald Shaper im «British Medical Journal» kommt zum Schluss: Personen mit einem BMI zwischen 20 und 27 leben Natürlich | 3-2006 13 GESELLSCHAFT Rund und gesund gleich lang. Und: der gesündeste BMI, auch bezogen auf Herz-Krankheiten, Diabetes und Schlaganfall, ist schlicht unbekannt. Gemäss Professor Gerd Assmann aus Münster sind Dicke auch nicht anfälliger für einen Herzinfarkt: «Wer einen BMI von über 30 hat, aber sonst keine Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Krankheiten, wie Bluthochdruck, Typ-II-Diabetes, vermehrte Insulinproduktion oder Fettstoffwechsel-Störungen, hat kein erhöhtes Risiko für einen Herzinfarkt.» Aus der Sicht des Herzspezialisten ist es deshalb nicht angezeigt, jeden stark Übergewichtigen automatisch mal auf eine strenge Diät zu setzen. Ausschlaggebend sei vielmehr, wie das Fett im Körper verteilt ist (siehe Kasten Seite 13). Mehr Pfunde, mehr Stress Natürlich sagt die Sterblichkeit nichts aus über die Lebensqualität. Beschwerden an den Gelenken sind zum Beispiel bei stark übergewichtigen Menschen keine Seltenheit. «Meine Knie leiden unter meinem Gewicht und Ausdauer habe ich keine», sagt dazu die 25-jährige Susanne Köhl. Sie bringt bei 1,72 Meter Grösse 110 Kilogramm auf die Waage. Doch die meisten Dicken nehmen nicht nur der Gesundheit zuliebe ab. Zusätzlich kommt noch der psychische Stress. Dickere Menschen werden öfters angepöbelt und müssen sich mehr beweisen. Das schafft Frust, was vielfach wieder in einer Fressattacke endet. «Jedes Mal wenn ich in der Schule einen blöden Spruch zu hören bekam, ging ich zu Hause direkt an den Kühlschrank», so Köhl. Heute könne sie mit den spitzen Bemerkungen umgehen und sich den Gang zum Kühlschrank verkneifen. «Ich lasse den Alltagsfrust lieber an den Fitnessgeräten im Trainingszentrum aus.» So ähnlich erlebte auch die Köllikerin Daniela Hochuli ihre Kindheit. «In der Schule wurde ich von den anderen Kindern gehänselt und gar verprügelt», gesteht sie. «Zu Hause getraute ich mich jedoch nicht etwas zu sagen – ich schämte mich so dafür.» Als besonders frustrierend ist der Aargauerin der Turnunterricht in Erinnerung. «Da musst du dich noch mehr anstrengen als andere, um allen zu beweisen, dass man nicht faul ist und sich bewegen kann.» Denn mit diesem Vorurteil kämpfen viele Dicke. So auch Rund und gesund GESELLSCHAFT Monja Korthaus: «Vor Jahren jobbte ich in einem kleinen Lokal als Kellnerin. Als die Mutter des Wirts mich sah, fragte sie ihren Sohn entsetzt, wie er denn so eine einstellen könne.» Sie war der Meinung, Dicke könnten sich weder flink zwischen den Tischen hindurch bewegen noch hätten sie Ausdauer. «Dass dem nicht so war, musste sie am selben Abend noch einsehen», lacht Korthaus. Vorurteile en masse Zusätzlich zum Vorurteil der Behäbigkeit kämpfen Dicke auch gegen die vorgefasste Meinung, dass sie schneller schwitzen und immer schlecht riechen würden. Allgemein sagt man ihnen eine gewisse Schmuddligkeit nach. Dem begegnen im Zeitalter des Internets immer mehr wohlbeleibte Frauen und Männer, indem sie sich leicht bekleidet in erotischer Pose fotografieren lassen und diese Fotos zum Gegenbeweis ins Netz stellen. www.rundnaund.ch ist eine solche Seite, auf der sich Dicke in allen Lebenslagen tummeln und Gedanken austauschen. Wahrscheinlich liessen sich die meisten der Vorurteile widerlegen. Denn wie es Monja Korthaus so schön formuliert: «Wir Dicken sind nicht anders als Schlanke – nur eben etwas mehr.» ■ Alle Bilder zeigen das Mollig-Model Tanja Bartsch www.tanja77.de Natürlich | 3-2006 15