Talbots OFFENE TÜR
Transcrição
Talbots OFFENE TÜR
4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr Seite 2 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr Seite 3 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr Seite 4 4610_photos_dt_rl:Künstler 18.01.2012 8:35 Uhr Seite 5 50 FOTOS DIE MAN KENNEN SOLLTE 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr Seite 6 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr Seite 7 50 FOTOS DIE MAN KENNEN SOLLTE Brad Finger Prestel München · London · New York 4610_photos_dt_rl:Künstler 18.01.2012 11:19 Uhr Seite 8 Umschlagvorderseite: Buzz Aldrin nach der erfolgreichen Landung auf dem Mond, 20. Juli 1969, vgl. S. 86 Frontispiz: Prinz William, Duke of Cambridge, und Catherine, Duchess of Cambridge, nach ihrer Vermählung in Westminster Abbey am 29. April 2011 in London Seite 10/11: Westberliner drängen sich vor der geöffneten Berliner Mauer am Morgen des 11. November 1989 © Prestel Verlag, München · London · New York, 2012 © für die abgebildeten Werke bei den Künstlern, ihren Erben oder Rechtsnachfolgern mit Ausnahme von: Ansel Adams bei © Ansel Adams Publishing Rights Trust/CORBIS; Cecil Beaton bei © Victoria and Albert Museum, London; Henri Cartier-Bresson bei Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos / Agentur Focus; Andreas Gursky bei © Courtesy: Monika Sprüth/Philomene Magers / VG Bild-Kunst, Bonn 2011; Dorothea Lange bei Dorothea Lange Collection, The Oakland Museum of California; Peter Leibing bei © Peter Leibing, Hamburg; Lee Miller bei © Lee Miller Archives, England 2011. All rights reserved; Edward Steichen bei PERMISSION OF THE ESTATE OF EDWARD STEICHEN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Prestel Verlag, München In der Verlagsgruppe Random House GmbH Neumarkter Straße 28 81673 München Tel. +49 (0)89 4136-0 Fax +49 (0)89 4136-2335 Prestel Publishing Ltd. 4 Bloomsbury Place London WC1A 2QA Tel. +44 (0)20 7323-5004 Fax +44 (0)20 7636-8004 www.prestel.de Projektmanagement: Claudia Stäuble, Franziska Stegmann Lektorat: Christiane Weidemann, Berlin Übersetzung aus dem Englischen: Carlos Westerkamp, Berlin Bildredaktion: Franziska Stegmann Umschlag und Gestaltungskonzept: LIQUID, Agentur für Gestaltung, Augsburg Layout: zwischenschritt, Rainald Schwarz, München Herstellung: Astrid Wedemeyer Lithografie: ReproLine Mediateam, München Druck und Bindung: Druckerei Uhl GmbH & Co. KG, Radolfzell Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier Hello Fat Matt von Condat liefert Deutsche Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-7913-4610-6 Prestel Publishing 900 Broadway, Suite 603 New York, NY 10003 Tel. +1 (212) 995-2720 Fax +1 (212) 995-2733 www.prestel.com 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr Seite 9 inhalt 12 16 18 20 24 28 30 32 36 40 42 46 50 52 54 58 60 62 64 66 68 70 72 74 78 82 86 Blick auf den Boulevard du Temple, Paris Talbots Offene Tür Porträt von Gioachino Rossini Der Kristallpalast Die Ruinen des Großen Redan Beatos Taj Mahal Der letzte Tasmanische Wolf Die Nähstube Frühe Flugversuche Machu Picchu Scotts Antarktisreise Schützengräben im Ersten Weltkrieg Die Russische Revolution: Demonstrationen in Moskau Steichens Greta Garbo Henri Cartier-Bresson in Madrid Die Olympischen Spiele 1936 in Berlin Der Herzog und die Herzogin von Windsor Lee Miller, Pablo Picasso Die Katastrophe der Hindenburg Die Farm in der Dust Bowl Der Canyon de Chelly Die Landung in der Normandie Der Kuss zum Kriegsende Das zerstörte Hiroshima Gandhi Tenzing Norgay auf dem Mount Everest Kalter Krieg im Weltall 90 92 94 96 100 104 106 108 110 114 116 120 122 124 126 130 132 136 138 140 142 146 150 Die Bürgerrechtsbewegung Fans der Rolling Stones Warhols Silver Factory Brasilien gegen die UDSSR Nelson Mandela auf Robben Island Hinrichtung in Saigon Die Kulturrevolution Die Iranische Revolution Tschernobyl Die Exxon Valdez Der Fall der Berliner Mauer Der Bosnienkrieg Blutgerinnsel Andreas Gursky und die digitale Fotokunst 11. September Die Marsoberfläche Der Hurrikan Katrina Der Drei-Schluchten-Damm Der verschwindende Aralsee Die letzten Tage von Osama bin Laden Das Tohoku-Erdbeben und der Tsunami Die ägyptische Revolution Königliche Hochzeiten 157 Bildnachweis Register 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr Seite 10 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr Seite 11 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr Seite 12 12 | 13 1762 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes 1773 Boston Tea Party 1750 1755 1760 1765 1770 Louis-Jacques-Mandé Daguerre, Blick auf den Boulevard du Temple, Paris, 1839 1775 1789–99 Französische Revolution 1780 1785 1790 1795 1800 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr Seite 13 1804 Napoleon Bonaparte krönt sich zum Kaiser 1848 Französische Revolution (Februarrevolution) 1821 Charles-Pierre Baudelaire wird geboren 1808 Goethe, Faust 1815 Napoleon wird vor Waterloo geschlagen 1805 1810 1815 1820 1825 1855 Courbets RealismusAusstellung 1830 Eugène Delacroix, Die Freiheit führt das Volk 1830 1835 1840 1845 1850 1855 BLICK AUF DEN Boulevard du Temple, Paris Louis Daguerre hat die Fotografie zwar nicht erfunden, aber seine Innovationen und sein PR-Talent machten sie zu einem weltweiten Phänomen. Erstmals wurden Fotos international verbreitet und boten dem Menschen eine neue Sichtweise auf die Welt. Louis-Jacques-Mandé Daguerre (1787–1851) arbeitete zunächst als Künstler, Schausteller und Bühnenbildmaler. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war er an der Entwicklung des Dioramas beteiligt. Diese transportablen, halbkreisförmigen Schaukästen funktionierten mit detaillierter Trompe-l’œil-Malerei auf Leinen und einer ausgeklügelten Beleuchtungstechnik, sodass die Illusion entstand, eine dreidimensionale Naturansicht zu betrachten. In den 1820er-Jahren begann Daguerre, mit Verfahrensweisen zu experimentieren, die die Natur schneller und effektiver »reproduzieren« konnten als die arbeitsaufwendigen Gemälde. Daguerre ging eine Partnerschaft mit Joseph Nicéphore Niépce ein, ein wohlhabender Erfinder, der die Technik der Heliografie oder »Sonnenzeichnung« entwickelt hatte. Dabei wurde eine Zinnplatte mit einer klebrigen Substanz namens Bitumen Judaicum beschichtet, um dann das Bild eines Gegenstandes oder einer Szenerie in einer Camera obscura auf die Platte zu projizieren. Die beschichtete Platte wurde mehrere Stunden lang belichtet und schließlich mit einer Mixtur abgewaschen, die Lavendelöl enthielt. Nach einer gewissen Zeit erschien das Bild, das die Camera obscura auf die Platte geworfen hatte, und blieb permanent erhalten, wenn auch etwas unscharf. Daguerre muss dies wie Zauberei erschienen sein. Die Camera obscura war schon seit Langem von Malern als Hilfsmittel eingesetzt worden. Doch von nun an konnte man mit ihr Bilder herstellen, die Natur und Zeit stillstehen ließen. Daguerre begann, Niépces Technik der Sonnenzeichnung zu verbessern. Er stellte bald fest, dass er mit anderen Materialien – etwa mit Silberjodid beschichteten Kupferplatten – Bilder von erstaunlichem Detailreichtum erzeugen konnte. Der Hersteller von Dioramen hatte eine neue »Leinwand« gefunden, auf der sich seine Bilder festhalten ließen. Daguerres frühe Versuche mit dieser Technik waren allerdings noch etwas zaghaft. Seine erste bekannte Fotografie, Stillleben (1837), hat die Anmutung eines herkömmlichen Gemäldes. Sie zeigt eine sorgfältig arrangierte Gruppe von Gipsabgüssen und anderen »künstlerischen« Objekten – eine Szenerie, die an die Stillleben des 17. Jahrhunderts erinnert. Bald erprobte Daguerre spontanere Aufnahmen. Zu Beginn des Jahres 1839 richtete er die Kamera aus dem Fenster seiner Pariser Wohnung am belebten Boulevard du Temple und ließ sie einfach aufnehmen, was sie »sah«. Das Ergebnis war eine Stadtansicht in bislang ungekanntem Detailreichtum, die allerdings auf unheimliche Weise menschenleer war. Die Platte musste mehrere Minuten lang belichtet werden und das machte es unmöglich, die sich bewegenden Passanten und Gegenstände einzufangen. Ein Mann verharrte jedoch während der gesamten Belichtungszeit beinahe bewegungslos: Er ließ sich seine Stiefel putzen. Seine unvollständige, schattenhafte Gestalt stellt eines der ersten fotografischen »Porträts« dar. Im selben Jahr, in dem Blick auf den Boulevard du Temple entstand, gewann Daguerre die Unterstützung von François Arago, um seine Erfindung publik zu machen. Arago war nicht nur Wissenschaftler, sondern auch ein geschickter Politiker und er half, bei der Académie des Sciences und der Regierung für das Daguerrotypie-Verfahren zu werben. Als Daguerres Bilder schließlich am 16. August 1839 der Öffentlichkeit vorgestellt wurden, galten sie sofort als Sensation. Beinahe über Nacht nahmen Daguerrotypisten in ganz Europa und Nordamerika ihre Geschäfte auf. Gerahmte Familienporträt-Daguerrotypien begannen die Werke von Malern zu verdrängen und zwangen die Künstler, den Sinn der Malerei an sich zu überdenken. Die »nichtrealistischen« Experimente der Impressionisten und späterer Bewegungen verdankten ihre Inspiration teilweise der Erfindung von Niépce und Daguerre. 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr 14 | 15 Louis-Jacques-Mandé Daguerre, Stillleben (Ecke in Daguerres Atelier), Paris, 1837 Seite 14 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr Seite 15 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr Seite 16 16 | 17 1826 Erste Fotografie von Joseph Nicéphore Nièpce 1805 Schlacht von Trafalgar und Schlacht bei Austerlitz 1790 1795 1800 William Henry Fox Talbot, Die offene Tür, April 1844 1805 1810 1815 1830 Julirevolution in Frankreich 1820 1825 1830 1835 1840 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr Seite 17 1893 Edvard Munch, Der Schrei 1853–70 Georges-Eugène Haussmanns Umgestaltung von Paris 1845 1850 1855 1860 1865 1887–89 Bau des Eiffelturms in Paris 1870 Beginn des Deutsch-Französischen Krieges 1861–65 Amerikanischer Bürgerkrieg 1870 1875 1880 1895 Erste Biennale in Venedig 1885 1890 1895 Talbots OFFENE TÜR Wenn sich William Henry Fox Talbot über Darstellungen wie Die offene Tür (1844) äußerte, sprach er über seine Versuche, mit dem Blick des Malers dort Schönheit zu finden, »wo gewöhnliche Menschen nichts Bemerkenswertes sehen«. Talbots stille, ruhig komponierte Szenen stehen oft im Gegensatz zu dem revolutionären Charakter seiner Erfindungen auf dem Gebiet der Fotografie. Im Januar 1839 widmete sich der englische Erfinder William Henry Fox Talbot (1800–1877) der Übersetzung eines Sitzungsberichts der französischen Académie des Sciences. Zu seinem Schrecken las er darin von einem neuen Verfahren seines Erfinderkollegen Louis Daguerre, bei dem mittels einer Camera obscura Abbilder der Natur dauerhaft festgehalten werden konnten. Talbot war erstaunt, weil er selbst bereits ein ähnliches Verfahren entwickelt hatte. In den folgenden Jahren arbeitete Talbot unermüdlich daran, für seine eigenen Beiträge zur Fotografie zu werben und sie zu verbessern. Henry Fox Talbot beschäftigte sich intensiv mit diversen wissenschaftlichen Disziplinen, darunter Mathematik und Physik. Anfang der 1830er-Jahre begann er, optische Versuche mit einer Camera obscura durchzuführen. Später sollte Talbot diese Experimente als Folge seiner unzulänglichen Versuche erklären, präzise wissenschaftliche Zeichnungen zu entwerfen. »Ich erfreute mich an den herrlichen Gestaden des Comer Sees in Italien und fertigte Zeichnungen an ... Ich sollte wohl vielmehr sagen, ich bemühte mich darum, dies zu tun, denn es geschah mit denkbar geringem Erfolg ... Ich dachte dann an das erneute Ausprobieren einer Methode, die ich bereits vor vielen Jahren entwickelt hatte. Diese Methode bestand darin, eine Camera obscura zu verwenden und sie den von ihr abgebildeten Gegenstand auf ein Blatt Papier werfen zu lassen – feenhafte Bilder, Werke des Augenblicks und dazu verurteilt, wieder zu verblassen. In diesem Zusammenhang kam mir die Idee, wie wunderbar es doch wäre, wenn man diese natürlichen Bilder dazu bringen könnte, dauerhaft erhalten und auf dem Papier fixiert zu bleiben.« Im Jahr 1834 fand Talbot solch eine »Fixier«Methode, indem er Papier in Natriumchlorid und Silbernitrat tränkte. Legte man dieses Papier in eine Camera obscura und setzte es dem Sonnenlicht aus, hielt es Talbots »natürliche Bilder« auf überraschende Weise fest. Die dunklen Bereiche des Bildes erschienen hell und die hellen Bereiche dunkel. Talbot wusch das Papier daraufhin in einer Salzlösung aus, die verhinderte, dass das Bild verschwand, wenn es weiterhin unter Lichteinfluss stand. Er fand außerdem heraus, dass diese »Zeichnung als Gegenstand einer zweiten Zeichnung dienen konnte, bei der Hell und Dunkel sich wieder umkehren«. Fox Talbot hatte das fotografische Negativ erfunden. Einige Jahre lang verfolgte er seine ursprünglichen Versuche mit »fotogenen« Verfahren nicht weiter. Doch die Nachricht von Daguerres Entdeckung 1839 zwang ihn, seine früheren Ergebnisse eilig der Londoner Royal Society vorzustellen. In den nächsten zwei Jahren verfeinerte er seine Methode und ließ sie 1841 unter dem Namen »Kalotypie« patentieren. Zwei Jahre zuvor hatte Daguerre in Großbritannien ein Patent auf seine eigene Erfindung angemeldet. Allerdings erreichten Talbots Kalotypien nie den beeindruckenden Kontrast von Hell und Dunkel, die visuelle Klarheit der Daguerrotypien. Oftmals zeigten die Bilder ein verblasstes, körniges Aussehen, insbesondere frühe Aufnahmen wie Die offene Tür. Durch diesen Nachteil ließ sich Talbots im Gegensatz zu Daguerres Verfahren von Anfang an weniger gut vermarkten. Im Lauf der Zeit trugen die technischen Neuerungen der Kalotypie – vor allem die Möglichkeit, von einem einzigen Negativ mehrere Kopien herzustellen – jedoch dazu bei, die Entwicklung der modernen Fotografie zu beflügeln. Aporopos: Der Begriff »Fotografie« wurde von dem englischen Wissenschaftler John Herschel geprägt, ein Freund und Mitarbeiter Talbots. 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr Seite 18 1848–49 Revolutionen in zahlreichen europäischen Ländern 18 | 19 1812 Napoleon marschiert in Russland ein 1837 Louis Daguerre erfindet die Daguerreotypie 1819 Théodore Géricault, Das Floß der Medusa 1815 1820 1825 1830 1835 1840 1845 1855 Courbets Realismus-Ausstellung 1850 1855 1860 links Félix Nadar, Porträt Gioachino Rossini, 1856 rechte Seite Félix Nadar, Luftaufnahme von Paris, 1858 1865 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr Seite 19 1904 Entente cordiale zwischen dem Vereinigten Königreich und Frankreich 1871 Zerschlagung der Pariser Commune 1870 1875 1880 1886 Die amerikanische Freiheitsstatue wird im Hafen von New York errichtet 1885 1890 1895 1917 Oktoberrevolution in Russland 1900 Erste Linie der französischen Métro wird eröffnet 1900 1905 1910 1915 1920 Porträt von Gioachino Rossini 1859 war der vitale Komponist Gioachino Rossini ein Gesellschaftslöwe in der Kulturszene von Paris. Er schrieb keine berühmten Opern mehr, sondern hatte sich zur Ruhe gesetzt und lebte ein ausschweifendes Leben. Er liebte Wein und gutes Essen und war mit zahlreichen Künstlern und Schriftstellern befreundet. Weiterentwicklungen in der Fotografie machten es Félix Nadar möglich, die Persönlichkeit Rossinis einzufangen, die Gelassenheit und Anziehungskraft ausstrahlte. Wie Louis Daguerre war auch Félix Nadar (1820–1910) ein guter Selbstdarsteller. Er kam als Gaspard-Félix Tournachon zur Welt, nahm aber ein Pseudonym an, das auf humorvolle Weise seine frühere Laufbahn als Karikaturist widerspiegelt. »Nadar« ist die verkürzte Form eines Ausdrucks und bezeichnet »jemanden, der sticht«. Nadar war eine überschwängliche Persönlichkeit und hatte viele Freunde unter den wichtigsten Kulturschaffenden Frankreichs, wie den Künstler Honoré Daumier und die Schauspielerin Sarah Bernhardt. Bald brachte er seine künstlerischen und sozialen Fähigkeiten mit seiner Begabung zur Fotografie in Einklang. Mitte der 1850er-Jahre war Nadars Atelier berühmt für seine fotografischen Porträts. Nadar profitierte davon, dass die Fotografie seit den Tagen von Daguerre und Fox Talbot große technische Fortschritte gemacht hatte. Seit 1851 verwendeten Fotografen Nassplatten aus Glas, die mit einer schnell trocknenden Substanz namens Kollodium beschichtet wurden. Dieses Verfahren verringerte die Belichtungszeit beträchtlich und produzierte qualitativ hochwertige Negative. Bei der Daguerrotypie mussten die Porträtierten mehrere Minuten lang bewegungslos verharren, was alles andere als natürliche Gesichtsausdrücke zur Folge hatte. Nun dauerte die Aufnahme nur noch wenige Sekunden und die Modelle konnten entspannter vor der Kamera posieren. Nadars Kunden kam außerdem zugute, dass sie es mit einem Künstler zu tun hatten, der ein großes Verständnis für Komposition und Beleuchtung an den Tag legte. Seine fotografischen Porträts weisen oft dieselbe Lebendigkeit und Ausdruckskraft auf, wie sie den besten gemalten Porträts zu eigen sind. Es liegt auf der Hand, dass viele von Nadars bekanntesten Bildern befreundete Künstler zeigen. In seinem Rossini-Porträt von 1856 beispielsweise ist es ihm besonders gut gelungen, den heiteren Charakter des italienischen Komponisten einzufangen. Wir sehen einen älteren Mann, der einen großen Teil seines Lebens damit zugebracht hat, die Früchte des frühen Erfolgs seiner Opern zu genießen. Wie bei vielen anderen Bildern von Nadar scheint der Porträtier- te mit dem Betrachter zu kommunizieren – eine starke emotionale Bindung entsteht. Aus solchen Darstellungen erwuchs die moderne Polit- und Promikultur. Nadar erforschte auch andere Wege, mit der Kamera das alltägliche Leben publik zu machen. 1858 erstellte er von einem Heißluftballon aus die weltweit ersten Luftaufnahmen von Paris. Diese Bilder zeigen ein Stadtzentrum, das von den großen Boulevards und öffentlichen Plätzen, die Baron Haussmann entworfen hatte, verändert wurde. Doch Nadar fotografierte seine Stadt auch von unten: Von ihm stammen bemerkenswerte Aufnahmen der Pariser Kanalisation. Mithilfe einer neuartigen Methode, die mit elektrischer Beleuchtung arbeitete, enthüllte Nadar eine unterirdische, höhlenartige Welt aus Gewölben und Tunneln – eine Welt, die das glitzernde kulturelle Leben von Rossinis Paris zwar erst möglich machte, aber auch in einem deutlichen Gegensatz dazu stand. 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr Seite 20 1833 Das Britische Parlament verabschiedet den Slavery Abolition Act 20 | 21 1837 Victoria I. wird Königin von Großbritannien 1809 Charles Darwin wird geboren 1800 1805 1810 1815 1820 1825 1830 1835 1840 1845 1850 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr 1873 Claude Monet, Impression, Sonnenaufgang 1851 Erste Weltausstellung in London 1857 Gustave Flaubert, Madame Bovary 1855 1860 Seite 21 1874 Erste Ausstellung der Impressionisten in Paris 1865 1870 1875 1880 1894 Eröffnung der Tower Bridge in London 1887–89 Bau des Eiffelturms in Paris 1885 1890 1900 Boxeraufstand in China 1895 1900 1905 der Kristallpalast Der Kristallpalast war ein perfekter Bildgegenstand für die frühe Fotografie. Den Fotografen gefiel es, die riesigen Wände aus Glas und Stahl aufzunehmen und das ausgedehnte, labyrinthartige Innere. Die entstandenen Bilder schienen den Geist des Industriezeitalters zu verkörpern und dienten den neuen Strömungen in der modernen Architektur als Anregung. Die Weltausstellung von 1851 war die erste internationale Schau der industriellen Revolution. Sie wurde offiziell als Great Exhibition of the Works of Industry of All Nations bezeichnet und fand im Hyde Park in London statt. Die Ausstellung zeigte all die Wunder der modernen Technik und die Früchte des britischen Kolonialismus. Für den Eintrittspreis von einem Shilling konnte man Mikroskope, Maschinen zur Stahlerzeugung, öffentliche Toiletten, die neuesten Küchengeräte und eine mechanische Erntemaschine bewundern. Sogar der größte Diamant der Welt, der Koh-i-Noor, wurde gezeigt. Er war erst ein Jahr zuvor Königin Victoria überreicht worden, als äußerst öffentlichkeitswirksame Trophäe aus dem Ersten Sikh-Krieg, der zu Englands Jahrzehnte dauernder Eroberung des indischen Kontinents im 19. Jahrhundert gehörte. Victorias Ehemann, Prinz Albert, war ein engagierter Unterstützer der Ausstellung. So war es nicht überraschend, dass man den Koh-i-Noor im Sommer 1851 im Hyde Park bestaunen konnte. All diese Wunderdinge begeisterten Millionen von Besuchern, die in die Ausstellung strömten. Doch der vielleicht bemerkenswerteste Aspekt der Schau war deren Hauptgebäude, der Kristallpalast. Das gigantische Bauwerk aus Glas und Stahl ging auf einen Entwurf von Joseph Paxton zurück und erinnerte an die Gewächshäuser, für die der Architekt berühmt war. Die Größe und Ausmaße des Gebäudes, die mäandernde Beschaffenheit seines Inneren und die technischen Neuheiten, die zu seiner Erbauung nötig waren, machten den Palast zu einem ersten, bahnbrechenden Werk der modernen Architektur. Dem amerikanischen Kunsthistoriker Vincent Scully zufolge bot der Palast etwas, das sich grundlegend von den geordneten, schutzspendenden Gebäuden der europäischen Städte unterschied: »Seine Skelettstruktur aus dünnen Eisenstreben«, schrieb Scully, »wurde von ... den Zeitgenossen als bezauberndes Labyrinth wahrgenommen. Es war ein Ort, an dem man spazieren konnte, endlos und kontinuierlich, mit Begrenzungen, die nur aus Glas bestanden und mit festen Bestandteilen, die in komplizierte Netze zerlegt worden waren.« Der Kristallpalast war auch eines der ersten Bauwerke, das ausgiebig fotografiert wurde. Das neue Bildmedium stellte die »endlose Kontinuität« des Gebäudeinneren perfekt dar. Nach dem Ende der Ausstellung wurde der Palast aus dem Hyde Park entfernt und in erweiterter Form in Sydenham im südlichen London neu errichtet. Die meisten erhalten gebliebenen Fotos zeigen diese Version des Gebäudes. Auf einigen ist sogar der Wiederaufbau zu sehen, der von 1852 bis 1854 dauerte. Aufnahmen des halb fertiggestellten Querschiffs besitzen eine ausdrucksstarke, beinahe musikalische Qualität: eine Symphonie aus Licht, Schatten und Stahl. Auf anderen Bildern des Wiederaufbaus sieht man Besucher, die wie gut gekleidete Spielzeugfiguren wirken, bei der Erforschung einer fremdartigen Welt aus riesigen Bögen und freiem Raum. Diese Aufnahmen beeinflussten die Architekten zahlreicher Weltausstellungen und hochtechnisierter Olympischer Dörfer. Auch nahmen sie die Landschaften aus Glas und Stahl vorweg, die die Städte des 20. und 21. Jahrhunderts prägen. Philip Henry Delamotte, Die Große Galerie des Kristallpalasts, Sydenham, 1856 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 22 | 23 Philip Henry Delamotte, Der Kristallpalast, London, 1853 18:20 Uhr Seite 22 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr Seite 23 4610_photos_dt:Künstler 17.01.2012 18:20 Uhr Seite 24 24 | 25 1848 Krimkrieg 1830 Pfad der Tränen 1805 1810 1815 1820 James Robertson, Ansicht des zerstörten Großen Redan, 1855/56 1825 1830 1835 1848–49 Beginn des Kalifornischen Goldrauschs 1840 1845 1850 1855