68 die nackte wahrheit
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68 die nackte wahrheit
Nr. 18 April 2008 Foto [M]: dreamstime.com Lust am Widerspruch 1968 sehr gern gelesen: die MAO-Bibel. Übrigens, links im Bild: Rudi Dutschke, rechts: Uschi Obermaier IM INTERVIEW EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN BARRIKADEN UND CAFÉS GRÜSSE AUS PARIS SDS - RiCHTIG GEIL 68 DIE NACKTE WAHRHEIT Grüße aus... EditoriAL GRÜSSE AUS Als die 68er am Hamburger Hafen gegen die telefonische Aushorchung des Privatlebens demonstrierten, suchten sie selbstverständlich den Schulterschluss mit den Werktätigen. Die Hamburger Hafenarbeiter fertigten sie mit einem schnöden »Ich hab nich mal’n Telefon.« reihenweise ab. Da waren die Revoluzzer aus gutem Hause ziemlich perplex. Den Glauben an die baldige Weltrevolution, den Schulterschluss zwischen Intelligenz und Hafenarbeiter, erschütterte das freilich nicht. Heute sieht das schon anders aus. Die Prekarisierung hat vor den Toren der Hörsäle nicht halt gemacht. Sicher: Die geballte Kritik an Uni-Stress und Zugangshürden klingt nach Jammern auf hohem Niveau, wenn aber unbezahlte Praktika angeprangert und bedarfsgerechtes Bafög angemahnt werden, dann doch immerhin aus eigener Erfahrung. PARIS Die Studentenrevolten in Paris im Mai `68: verdrängt, verklärt und unvergessen. von Susanne Götze Und das ist gut so, denn daran hakt es doch. Worum geht’s? Es geht darum, sich nicht auseinanderdividieren zu lassen – in Alte gegen Junge, Studierende gegen abhängig Beschäftigte, Ausländer gegen Deutsche. Diesbezüglich hat die schwarz-rote Koalition ganze Arbeit geleistet. Sie hat den goldenen Käfi g Universität aufgebrochen und den Studierenden klar gemacht, dass sie – wie alle anderen vom Sozialkahlschlag Gebeutelten – nicht unter Artenschutz stehen, dass die hässliche Fratze des Turbokapitalismus nun auch vor ihrer Tür steht. Blöd nur für die Sozialstaatsverweser, dass gerade diese neuen Gemeinsamkeiten die Chance für Alternativen bieten, für machtvolle Alternativen. Wenn es Anfang Mai in Berlin, auf dem 68er-Kongress des Studierendenverbandes DIE LINKE.SDS, heißt: »Studierende aller Bundesländer, vereinigt Euch!«, dann sei der fromme Wunsch erlaubt, dass – neben all dem revolutionären Getöse – genau dieser Schulterschluss gesucht wird mit all denjenigen, zu denen man sich in den letzten 20 Jahren ins gleiche Boot gesetzt hat. Und wenn dann der ein oder andere studentisch revolutionäre Funke auf den ein oder anderen Hafenarbeiter überspringt, ist das fast wie 1968 – nur noch viel besser. Thomas Feske S Foto[M]: [M]:photocase.de Ben Kaden Foto teht man heute am Saint-Germain de Près, ist das alles kaum vorstellbar. Fotos und Filmausschnitte in Schwarz-Weiß vom Mai 1968 zeigen ein Paris, das überquillt von schreienden Massen mit Plakaten von Mao, Marx und Lenin. Studenten verteilen Flugblätter, Demonstranten in Sitzblockaden spielen Gitarre, singen, dazu wild entschlossene Menschenketten, knüppelnde, überforderte Flics, wie die Polizisten in Frankreich genannt werden. Vor dem Café de Flore, dem berühmten Treffpunkt der Pariser Intellektuellenszene, wo auch Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir verkehrten, brennen die Barrikaden und wehen die Fahnen der Revolution. Ein Nicht-Pariser kann – trotz aller Bewunderung des französischen Temperaments – die stilvollen Boulevards und lauschigen Straßencafés im Herzen der Stadt kaum mit Bildern von Wasserwerfern, Marx-Plakaten und aufgetürmten Barrikaden vereinen. Die Revolte, die sich im Mai 1968 auf diesem nun mit Touristen überlaufenen Pfl aster um das Quartier Latin und den Saint-Germain ereignete, ist bis heute französischer Alptraum und zugleich gefeiertes Symbol für den Ausbruch aus dem kapitalistischen System. Doch gibt es sie eigentlich noch, die wahren Soixante-huit, die französischen 68er? Diejenigen, die heute noch an das glauben, wofür sie damals auf die Straße gingen. Die keine Rücklagen haben und Finanzberater sind, sondern: Aussteiger, Künstler, unabhängige Wissenschaftler und Journalisten, die damals wie heute nicht in der französischen Hamsterrad-Hierarchie mitmachen wollten. Ja, es gibt sie noch, und es sind Leute wie Guy Defeyes, die zeigen, dass die Barrikaden noch nicht kalt sind. Guy ist wie eine lebendig gewordene Erinnerung an eine Zeit, die heute höchstens noch in Filmen wie Bernardo Bertoluccis Die Träumer und Jean-Luc Godards La Chinoise nachfühlbar ist. Mit wild abstehenden grauen Haaren, dem ununterbrochen zwischen den Zähnen steckenden Zigarettenstummel und lebhaften, schlauen Augen sieht Guy aus wie ein verrückter, aber sehr liebenswerter Professor. Wenn er erzählt, wird die Geschichte zur Gegenwart. Kein Wunder: Guy ist Historiker und eine wandelnde Bibliothek. Im Mai 1968 war er 14 Jahre alt, zugleich aber schon überzeugter, ja leidenschaftlicher Trotzkist. Marx war für ihn eine Offenbarung, wie er heute sagt. Nur wenige Monate vor den Protesten trat er in die trotzkistische Gruppe Voix Ouvrière – später dann Lutte Ouvrière – ein, die es bis heute gibt, und blieb ihr 20 Jahre lang treu. Im Mai 1968 stand der Schüler Guy Defeyes in den Fluren der Sorbonne und verteilte Flugblätter. Heute erinnert kaum mehr etwas an die wilden Zeiten von Guys Jugend. Die Hallen der Sorbonne sind frei von revolutionärem 68er-Gedankengut. Am Eingang steht ein Wächter, der ausschließlich Studenten mit einem Ausweis hineinlässt. Nur ein kleines orangefarbenes Schild mit der Ankündigung des Seminars Die extreme Linke 1968 im Hörsaal Amphitheatre Turgot erinnert noch schwach daran, dass es hier andere Zeiten gegeben hat. »Die Sorbonne war und ist ein Hort der Bourgeoisie«, meint Guy. Und dabei sei ihr Ruf viel besser, als die eigentliche Qualität des Unterrichts. Er selbst hat hier später nach seinem Geschichtsstudium Politik und Internationale Beziehungen studiert und kann ein Lied vom Leid des französischen Universitätssystems singen. »Vor 1968 waren die Universitäten total verschult. Mit unseren Protesten haben wir erreicht, dass sich das System gelockert hat und auch Diskussionen möglich Inhalt S. 2 & 3 - Barrikaden und Cafés Unsere Autorin auf den Spuren der 68er-Revolten in den Straßen der französischen Hauptstadt. S. 4 & 5 - 1968 - die nackte Wahrheit Wenn Nacktheit zur Repression wird, dann ist die sexuelle Befreiung zugleich Einfallstor für Sex-Muffel und Druckmacher im heimischen Bett. S. 6 - Allerlei Weinerei Mal abgesehen von letzten Zuckungen müssen wir Joschka Fischer und Otto Schily kaum mehr im alltäglichen Fernsehprogramm ertragen. Sie weilen vermutlich in Norditalien. Wir sind den freundlichen Bewohnern der Toskana, mit ihren vorzüglichen Weinen und kulinarischen Kunststücken, die ihre Heimat zu einem so beliebten Reiseziel machen, überaus dankbar. Wir heben das Glas auf sie, bleiben aber in Berlin. S. 7 - Diskriminierung erkennen... …thematisieren und intervenieren. Das haben sich die Leute vom Antidiskriminierungsbüro Berlin auf die Fahnen geschrieben. S. 8 - Am Rand einer gewalttätigen Welt Zumindest war damals keine Super Nanny nötig: Die Erziehungsmethoden der 68er mögen heute oft belächelt werden und viele Klugscheißer haben auch gern mal das passende Pauschalurteil parat. Sacco und Vanzetti lässt die Erzieher und die Erzogenen selbst zu Wort kommen und erlebt: viel Liebe. Foto [M]: Ben Kaden S. 9 - Chavez und die Bringeschuld waren. Heute ist wieder alles wie vor 1968.« Der Unmut der Studenten über das Universitätssystem begann Anfang 1968 in Nanterre, einer dieser ziemlich hässlichen Trabantenstädte gut eine Viertelstunde vom Pariser Zentrum entfernt. Heute wie damals regiert hier die Trostlosigkeit. Nur kleine Spuren führen zu den damaligen Ereignissen. Eine Fährte fi ndet sich in dem an der Uni angesiedelten Institut BDIC (Bibliotheque de documentation international contemporaine), einem zeithistorischen Zentrum mit unzähligen Dokumenten. Wer sich auf der Suche nach der Vergangenheit hierher an den Rand der Stadt verirrt hat, begegnet mit Sicherheit Remi Guillot. Der Doktorand für Geschichte ist fast immer hier. Er schreibt über die französischen Maoisten in der Bewegung von 1968 und ist in der unabhängigen Studentengewerkschaft Sud aktiv. Warum er sich gerade mit 1968 und den Maoisten beschäftigt? »Als Historiker interessiert mich vor allem, warum und unter welchen sozialen Umständen sich die Leute damals politischen Ideologien wie dem Maoismus verschrieben haben. Der Maoismus ist dabei eine in der Forschung weitgehend vernachlässigte Strömung«, erklärt Remi. Der Doktorand engagiert sich heute für eine neue, starke Linke, die es so in Frankreich nicht mehr gibt. Zehn Jahre bevor Remi das Licht der Welt erblickte, war das jedoch ganz anders. Damals entzündete sich die Wut der Studenten hier in Nanterre im Februar 1968 an der Situation in den Wohnheimen. Diese waren nicht nur schlecht ausgerüstet, sondern Männer und Frauen wurden auch strikt getrennt. Nach der Besetzung der Wohnheime gründete sich dort auch die legendäre Bewegung des 22. März. An diesem Tag nämlich besetzten die Studenten das Verwaltungsgebäude der Uni. Dann breiteten sich die Proteste wie ein Lauffeuer aus, verlagerten sich in die Stadt- mitte, griffen auf Betriebe und die Arbeiterschaft über und erlangten seit den Ereignissen der Pariser Kommune von 1871 nicht gekannte Ausmaße. Kein Wunder, dass die herrschenden Pariser schon immer versuchten, den Mob aus der Innenstadt zu verdrängen. Schon nach der Niederschlagung der Pariser Kommune veränderte man das Stadtbild, in dem möglichst breite übersichtliche Straßen angelegt wurden, um einen guerillaähnlichen Kampf in den engen Gassen zwischen le peuple und den Flics unmöglich zu machen. In Folge der 68er Proteste wurde nun versucht, sämtliche Universitäten an den Rand der Stadt zu verlegen, mit dem Ergebnis, dass heute – die Sorbonne ausgenommen – fast alle Unis in meist ziemlich hässlichen Außenbezirken liegen. »1968 steht wie ein Atompilz zwischen dem Davor und Danach – es hat sich nur im Kleinen, aber nichts am Großen und Ganzen geändert«, meint der Alt-68er Guy und fügt selbstkritisch hinzu: »Letztendlich haben wir es eben nicht geschafft, das System zu stürzen, jetzt ist es an der neuen Generation«. Er lächelt verschmitzt und zündet sich seinen Zigarettenstummel an, der im Eifer des Gesprächs erloschen war. Auch wenn vor einer Fetischisierung der 68er gewarnt werden muss, wie der junge Doktorand Remi betont, heißt es doch passend bei Jacques Brel: »Wir werden mit einer Sache nicht erfolgreich sein, wenn wir nicht unsere Träume verwirklichen«. Brel sei übrigens auch mit Leib und Seele ein Soixante-huit gewesen, wie Guy betont. Auch dank Brels Liedern und Guys Engagement sind die Barrikaden von Saint-Germain de Près noch lange nicht kalt und angesichts neu auffl ammender Studentenproteste der letzten Jahre in Frankreich kann man wohl sagen: Fortsetzung folgt! Wenn wir über mehr Bildungsgerechtigkeit sprechen, reden wir natürlich auch von mehr Demokratie. Was in Venezuela im Universitätsbereich passiert, ist Ausdruck eines zutiefst demokratischen Anspruchs – und zugleich noch weit davon entfernt. S. 10 & 11 - Abgecheckt The Doors haben für ihr Leben gern georgelt, so wie The Magnificent Brotherhood of Eternal Love and The Happiness‘s Close Companions heute. Letztere heißen mittlerweile ganz merkfreundlich Magnificent Brotherhood und wurden von uns abgecheckt. S. 12 & 13 - Die Apokalypse ist im Gange Die Einstürzenden Neubauten im Gespräch mit Sacco und Vanzetti. Es geht um den Klau beim Bau, aufgeregte Grünen-Wähler und um nicht weniger als die Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit. S. 14 - Reden wir über... Sex! Blaupause: Vorort, Mittelklassewagen und in Medien machen. Auch Spießer gehen mit der Zeit. Nur leider macht ihnen die Globalisierung einen Strich durch die ausgeklügelte Rechnung. Wolf Hunger warnt: Zieht Euch warm an – die Arbeitslosenheere und die gelben Armeen des fernen Ostens sind auf dem Weg und wollen nicht nur ein Stück vom Kuchen, sondern die ganze Bäckerei. S. 15 - DIE LINKE.SDS Schon mal gehört? Der Abgleich mit der Realität kann dem ein oder anderen Polit-Aktivisten durchaus gut tun. DIE LINKE.SDS im Normalo-Check. S. 16 - Off Beim nächsten Mal: Festival 4 Im Fokus: Die lieben 68er... DIE NACKTE WAHRHEIT Peter Licht kennt sie vielleicht. Wir kennen sie ganz bestimmt. Die 68er-Vögelei hat unsere Großflächenplakate mit nackten Brüsten gepflastert... und sonst? Schulterzucken. Die 68er sind längst angekommen im gutbürgerlichen Alltag. NACKT IN STEGLITZ von Agata Waleczek Berlin. Gestern Mittag versammelten sich 100 nackte Bürger auf dem Steglitzer Damm zum Lauf gegen Vorratsdatenspeicherung. Das interessierte, bis auf die Polizei, niemanden – weder die Vorratsdatenspeicherung noch die nackten Realkörper der Demonstranten. Die Passanten nahmen den Steglitzer Aufmarsch gelassen. Ernst P., 59: »Ist doch schön. Hamwa früa auch gemacht.« Könnte sich diese rein fi ktive Szene in Wirklichkeit so abspielen? Für die 68er, die Urmütter nackter Protestbewegungen, wäre es heute defi nitiv schwieriger. Es wäre anders und schwieriger. Proteste als Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse gegen gesellschaftliche Verhältnisse heben sich bestenfalls schon durch ihre Form vom verhassten obwaltenden Rest ab. Die Gesellschaft der 60er war in der alten Bundesrepublik geprägt von Prüderie, Kleinbürgertum und dem privaten Streben nach Stabilität durch Anpassung. Man wollte Frieden und Ruhe. Die Protestgeneration der 68er sah sich regelrecht dazu gezwungen, genau das Gegenteil zu fordern: ein Recht auf Veränderung und Provokation. Dazu gehörte auch die Zurschaustellung von Schamhaar und Brustwarzen. Freiheit durch Nacktheit. Dies als Befreiung zu empfi nden, lag unter anderem daran, dass sich die Ablehnung von Nacktheit in der Öffentlichkeit nicht auf individuelle Merkmale bezog, sondern eine generelle, prinzipielle Ablehnung darstellte. Auch in den Medien der 60er Jahre war – vom heutigen Standpunkt gesehen – diese regelrechte Verklemmtheit spürbar. Ausgenommen in der Kunst war die großfl ächige Zurschaustellung nackter Haut verpönt. Im 21. Jahrhundert hingegen wissen wir nicht mehr so genau, was wir wollen. Es sind andere Faktoren als damals, die das allgemeine Verständnis von Provokation prägen. Man gesteht dem nackten Arsch ein öffentliches Existenzrecht zu, solange er nur glatt, knackig, gut gebräunt ist und im Fernsehen, einer Zeitschrift oder im Internet auftaucht. Erregung öffentlichen Ärgernisses nennt man es hingegen, wenn Herr B. aus A. seinen blassen Hintern im Park ohne Sichtschutz ausführt. Wenn die Nacktheit eines Fremden uns direkt und unerwartet gegenübersteht, scheint der Umgang damit schon noch problematisch zu sein. Somit könnte sie durchaus zum Protest taugen, die Nacktheit. Wieso aber tut sie das nicht mehr? Das Problem liegt darin, dass die Medienmacher unser Recht, mit Nacktheit Aufmerksamkeit zu erregen, gepachtet und an Supermodels, Pornostars und andere Kunstwesen verhehlt haben. Nacktheit hat sich schlicht abgenutzt. Die medialen Katalysatoren haben den Effekt entschärft und das Augenmerk auf das rein Optische verschoben. Das ist die nackte Wahrheit. Wo es früher um das Überhaupt ging, geht es heute um das Wie. Nicht jede Art von Nacktheit wird mehr als Anstoß empfunden. Unser Verständnis von dem, was zulässig ist und was nicht, balanciert auf einem schmalen Grat, geschmückt von Bushaltestellenplakaten mit übergroßen, mit Spitzenstoff bespannten, perfekten Brüsten. Nacktheit wird heute oft als Repression an sich verstanden, weil sie in den Medien, als verlogener Spiegel der eigentlich immer noch verklemmten Öffentlichkeit, irreale Ansprüche formuliert. Wir haben uns daran gewöhnt, an beliebigen Stellen unserer Stadt von kaum verhüllten Wesen angegiert zu werden. Wer hat da noch Lust, sich mit seiner Orangenhaut in den Rachen der medial übersättigten Öffentlichkeit zu werfen? Die würde sich ohnehin nur noch an etwaigen Makeln stören und einen Protestversuch gar nicht erst herausspüren. Wogegen und wie soll man sich also mit einer Nackt-Aktion noch auflehnen? Eine interessante Art, ihre unbekleideten Körper als Waffen einzusetzen, hat die Hedonistische Internationale gefunden. Die präsentiert sich nackt in Nazi-Bars. Mal was Neues. Peter Licht: Ihr lieben 68er Ihr lieben Ihr lieben Ihr lieben Danke für Achtundsechziger Achtundsechziger Achtundsechziger Alles - Ihr dürft gehn Ihr lieben Achtundsechziger Ihr lieben Achtundsechziger Jedes Böhnchen marschiert durch ein Institutiönchen Danke für Alles - Ihr dürft jetzt gehn Aber bitte ruft uns Aber bitte ruft uns Aber bitte ruft uns nicht an Und macht euch noch eine schöne Zeit Und erzählt euch untereinander wie das alles so war Ihr könnt auch einen Dia-Abend machen Einen Dia-Abend von der Revolution Und da sitzt ihr dann alle Und erzählt euch untereinander wie das alles so war Bildet Netzwerke für eure Dia-Abende! Aber bitte ruft uns Aber bitte ruft uns Aber bitte ruft uns nicht an Ihr könnt euch auch eure Poesie-Alben zeigen Aus den tollen Tagen Oder eure alten Hosen Ihr könnt machen was ihr wollt Ihr habt euch ja befreit Ja ihr habt euch befreit Aber bitte ruft uns Aber bitte ruft uns Aber bitte ruft uns nicht an Wir rufen an Vielleicht rufen wir an Wir rufen an Vielleicht rufen wir an Wir rufen an Vielleicht rufen wir an Wir rufen an Vielleicht rufen wir an Wir rufen an Vielleicht rufen wir an Vielleicht... Mit freundlicher Genehmigung von Peter Licht www.peterlicht.de 5 Im Fokus: Der 9. November FRUST STATT LUST? KOMMUNEN UND SEX 68 UND HEUTE von Anne Kirchberg Wenn Uschi Obermaier von den wilden Zeiten in der Kommune 1 erzählt, dann hängen viele gebannt an ihren Lippen und denken: »Früher war alles besser!« Allzu leicht schweifen die Fantasien beim Gedanken an die sexuelle Revolution der 68er ab und landen bei nächtelangen Orgien, heißen Sexspielen und Spaß ohne Tabus. Versorgung verantwortlich waren, kümmerte sich die Frau um den Haushalt. Ein Schwangerschaftsabbruch war damals strafbar, Frauen durften nur mit dem Einverständnis ihrer Männer den Führerschein machen und über all dem wachte die bürgerliche Moral. In der Kommune 1 sollte das bürgerliche Abhängigkeitsverhältnis nun gekippt werden. Man wollte die Ketten der Zweierbeziehungen sprengen, die Autoritäten bekämpfen, Sexualität enttabuisieren und Liebe ohne Besitzanspruch leben. Durch diese und weitere Änderungen sollte die Welt freier und lustvoller werden. Umgesetzt haben die Revoluzzer diese Theorie in eben jener Kommune 1, einer geräumigen Wohnung am Stuttgarter Platz in Berlin. Das Geld wurde geteilt, Toilettentüren entfernt und jeder konnte mit jedem Sex haben – aber konnte ist hierbei das entscheidende Wort. Denn die Praxis sah dann doch etwas anders aus: Meistens nutzten nur die Männer das Recht auf freie Partnerwahl, während die Frauen emotional sehr an dem Mann hingen, mit dem sie eingezogen waren. Aber auch diese merkten schnell, dass Liebe emotionale Abhängigkeit schaffen kann und frei sein und Liebe einen bittersüßen Widerspruch in sich trägt. Eifersüchteleien, fragwürdiger freier sexueller Umgang mit Kindern und unendlich lange politische Diskussionen machten das Leben in der Kommune für niemanden besonders schön. Mit dem berühmten Satz »Wer zweimal mit demselben pennt, gehört schon zum Establishment« fühlten sich die Frauen zudem unter Druck gesetzt. Denn wer nicht bereitwillig mit anderen schlief, wurde schnell als bürgerlich beschimpft. Daneben war es für Frauen fast schon ein Zwang, die Pille zu nehmen. Mit deren Einführung auf dem deutschen Markt am 1. Juni 1961 war es somit vollkommen in die Verantwortung der Frau übergegangen, nicht ungewollt schwanger zu werden. Aber eine Befreiung der Frauen wollten die Männer mit der Revolution der 68er ja sowieso niemals erreichen. Und trotzdem hat diese Zeit den Frauen geholfen, später in ihrer eigenen Bewegung für ihre Rechte zu kämpfen. Und: Mit der 68er-Bewegung wurde das Liebesleben der Deutschen offener und aufgeklärter – aber das bedeutet eben keinesfalls, dass es auch besser wurde oder etwa häufi ger stattfand! Zwar sind viele Tabus gebrochen, die heutigen Wohngemeinschaften entstanden, sexuelle Freiheiten wurden praktikabel und Sex ist mittlerweile sogar ein alltägliches Thema: Auf Plakaten, im Fernsehen, in Zeitschriften und überall in der Öffentlichkeit schallt er uns heutzutage entgegen. Die durchschnittliche Sexfrequenz nimmt jedoch trotzdem immer weiter ab. Und die Qualität? Illustration: Florian Bielefeldt Kein Wunder, dass viele so denken, und auch wenn man sich die nackten Fakten ansieht, scheint es in Sachen fleischlicher Liebe früher wirklich besser gewesen zu sein: Während deutsche Paare vor ungefähr 30 Jahren noch rund acht bis zwölf Mal Sex im Monat hatten, sollen es laut Studien heute nur noch drei bis sechs Mal sein. Und nicht nur die ältere Generation hat heute seltener Spaß im Bett, auch die Jungen werden zu Sex-Muffeln. Vor 30 Jahren hatten die 18- bis 29-Jährigen noch 18 bis 22 Mal Geschlechtsverkehr im Monat, heute sind es schlappe vier bis zehn Mal. Aber war tatsächlich alles so wunderbar damals? Im Jahr 1966 trafen sich am Kochelsee in Oberbayern sieben Männer, drei Frauen und zwei Kinder, die den Menschen des 21. Jahrhunderts quasi per Beischlaf erschaffen wollten. Dieser sollte fernab der bürgerlichen Familie in einer zärtlichen Kohorte wiedergeboren werden. »Ihr müsst euch entwurzeln! Raus aus euren Zweierbeziehungen! Sucht nicht eure Sicherheit und euren Besitzanspruch bei anderen! Seid eine offene Persönlichkeit«, forderte der damals 27-jährige Kommune-1-Mitbegründer Dieter Kunzelmann. Heute klingen seine Forderungen keinesfalls extrem oder revolutionär, aber während der 60er Jahre sah das Weltbild bekanntlich noch etwas anders aus. Monogamie und Treue waren damals genauso selbstverständlich wie das Abhängigkeitsverhältnis der Frau vom Mann. Beispiele? Während die Herren der Schöpfung für die fi nanzielle 6 friss oder stirb: Trinken ohne Durst ALLERLEI WEINEREI von Paul M. Den Revolutionär von heute verlangt es in seiner Einsamkeit gelegentlich nach Wein. Die Alt-68er zieht es hierfür in die Toskana, ich bleibe in Berlin. gibt es zwei Menüs mit drei Gängen, die auch untereinander kombinierbar sind. Es soll schmecken, und es soll auch Tage geben, an denen man auch für das Essen nach eigener Wertschätzung zahlen kann. Während ich die speisenden Menschen um mich herum beobachtete und feststellte, dass die Weinerei eher einem Restaurant ähnelt als einer linken Kneipe mit Weinkarte, leerte ich das zweite Glas. Obwohl nicht sonderlich schmackhaft, holte ich mir noch einen Italiener. Da ich ohne viel zu essen über den Tag gekommen war, stellte sich langsam der erhoffte Effekt ein. Mit dem Alkoholspiegel stieg meine Stimmung, wenigstens im Kopf die gesellschaftlichen Realitäten zu verändern. Der Kontakt war hergestellt: Hier bin ich, Gott – dann lass uns mal die Welt verändern! So müssen sich wohl auch einige Herren gefühlt haben, als sie auf einen Kneipenzettel ihr zukünftiges Kabinett notierten und kurz darauf am Zaun des Kanzleramtes rüttelten. Diese Herren schafften es tatsächlich, den Kneipenzettel in Staatsurkunden zu verwandeln. Also kann Wein doch das Unmögliche möglich machen und Steinewerfer in Staatsmänner und RAF-Anwälte in Innenminister verzaubern? Vielleicht sollte ich tatsächlich in die ein oder andere Flasche Brunello investieren. Dieser zarte Geschmack nach Vanille, Iris und Veilchen, der sich da nach 15-stündigem Atmen entfaltet hat – vielleicht liegt in ihm das Geheimnis des Erfolges dieser italienverrückten Clique, denke ich so bei mir auf dem Weg zum vierten Glas. »Aber will ich das?«, träumte sich ein Gedanke durch mein Hirn. Wie viel Dolce Vita verträgt eine Revolution? Und muss man zwangsläufi g dort enden, von wo man aufbrach und wo man eigentlich nicht mehr hinwollte - in der stilvoll eingerichteten Bürgerlichkeit mit Weinregal? Wäre ich andererseits nicht froh, mich nach meinem anstrengenden Gang durch die Institutionen auf eine marmoreske Terrasse in die Toskana zurückziehen zu können, um in den Sonnenuntergang zu schauen? Plötzlich fühlte ich mich Joschka viel näher und dem Otto und den anderen und ich konnte sie verstehen und der Brunello sollte es schon sein und ... tja, da stand der Verkäufer des Tagesspiegels an meinem Tisch und hielt mir die Schlagzeile vor das Gesicht, dass es im Irak mal wieder 35 Menschen erwischt hatte. Ich schüttelte erst den Kopf, um den Billiglohnarbeiter an den nächsten Tisch zu schicken und spuckte dann den letzten Schluck Wein zurück ins Glas. Dann sah ich mich noch einmal um, ob zufällig ein grüner oder roter Politiker anwesend war. Es war niemand da. So ging ich nach vorn, drückte zehn Euro in die Kasse, drehte mich um und rief mit erhobener Arbeiterfaust »Venceremos«. Oder wollte ich das nur tun und traute mich dann nicht? Prost! Foto[M]: photocase.de, picture-alliance/dpa/Wolf_Dietrich_Weiflbach Wein aktiviert unseren göttlichen Funken, so heißt es und so fühlt es sich auch an, gelegentlich. Als es mich an einem solchen Tag nach dem Göttertropfen verlangte, musste ich feststellen, dass meine studentischen Mitbewohner die letzte Flasche meiner eisernen Reserve gekillt hatten. Ich musste an die vor kurzem gelesene Umfrage denken, dass der Alkoholkonsum unter Studenten gestiegen ist. Über die Gründe war nichts zu lesen, aber die Gleichschaltung der Studenten im Bologna-Prozess wird wohl doch nicht ohne Konsequenzen geblieben sein. Wer weiß? Auf dem Weg zum Späti verging mir die Lust, einsam zu trinken, und so wählte ich den Gang in eine Weinerei, die billiger sein kann als ein Abend mit dem Rachenputzer aus dem Tetra Pak. Die Weinerei am Zionskirchplatz passierte ich, ohne sie eines Blickes zu würdigen, denn Platz bekommt man dort nur mit Vorbestellung, und das erscheint mir angesichts des dahinter stehenden Prinzips wie das Vorbestellen von Karten für ein Punkkonzert. In der Veteranenstraße hatte ich Glück. Ich entdeckte den letzten freien Tisch im Lokal und machte mich dort breit. Für einen Euro lieh ich mir bei der Bedienung ein kleines Glas und ging sofort zur Bar, um mir einen Wein aus dem Angebot zu wählen. Französisch, deutsch, chilenisch, italienisch. Italienisch. Den ersten trank ich gleich vorn und gab mit einem lauten »Ha!« der skeptisch dreinblickenden Bedienung zu verstehen, dass ich Weindurst hatte. Mit einem weiteren Glas des italienischen Irgendwas setzte ich mich.In dieser Weinerei kann man auch essen. Meist DISKRIMINIERUNG ERKENNEN, THEMATISIEREN UND INTERVENIEREN! Foto[M]: dpa/ Wolfgang_Kumm Wer wir sind: ADB Vorstellung der Arbeit des Anti-Diskriminierungsbüros Berlin Vorurteile, Ressentiments gegenüber vermeintlich Anderen, diskriminierendes Verhalten gegenüber Minderheiten, verdeckter und offener Ausschluss aus der Gesellschaft, bis hin zur direkten Gewalt: Auch im angeblich aufgeklärten 21. Jahrhundert stellt Diskriminierung anderer Menschen und Personengruppen eine alltägliche Tatsache und Erscheinung dar. Doch was ist genau unter Diskriminierung zu verstehen, wie kann sie erkannt, benannt und schließlich erfolgreich angegangen werden? Und vor allem, wie und was nehmen wir als Diskriminierung wahr? Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich das AntiDiskriminierungsbüro Berlin. Der eingetragene Verein wurde 1995 gegründet, um Betroffenen eine Anlauf- und Hilfestelle zu bieten. Seit dieser Zeit engagiert sich das ADB Berlin auf vielfältige Art und Weise gegen Diskriminierung in unserer Gesellschaft. Unter Diskriminierung verstehen wir die bewusste Benachteiligung einer Person bzw. einer Personengruppe aufgrund bestimmter (konstruierter und bewerteter) Merkmale, wie beispielsweise der ethnischen Herkunft, der äußeren Erscheinungsform, der sexuellen Orientierung, der Religion oder politischen Überzeugung, des Alters und, und, und... Diskriminierung äußert sich dabei sehr vielfältig und trifft zumeist die Schwachen der Gesellschaft. Dem wollen wir mit unserer Arbeit etwas entgegensetzen. Wir wollen Betroffenen zur Seite stehen und sie unterstützen. Wir setzten uns für eine Gesellschaft ein, in der alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Religion oder ihren individuellen Lebensvorstellungen respektiert werden, in der alle die gleichen Rechte und Chancen haben. HELFEN Jeden Dienstag und Donnerstag zwischen 17.00 und 19.00 Uhr bietet das ADB Berlin Beratungstermine an. Menschen, die Opfer von Diskriminierung oder einer diskriminierenden Behandlung geworden sind, können dort Unterstützung bekommen. Wir versuchen gemeinsam mit den Betroffenen, den Vorfall zu bewerten und Handlungsoptionen zu überdenken. Diese können im Einzelfall sehr vielfältig sein. Abhängig vom jeweiligen Vorfall und in Einverständnis mit dem/der Betroffenen wird ein rechtlicher Beistand organisiert, oder sich mit den zuständigen Stellen in Verbindung gesetzt, oder versucht öffentlich Druck aufzubauen, oder auf andere Weise geholfen. Häufi g kann so im Einzelfall unkompliziert und selbstverständlich kostenlos geholfen werden. DRUCK AUFBAUEN Darüber hinaus geht es uns aber auch darum, Druck auf die politisch Verantwortlichen aufzubauen, um so kon- krete Verbesserungen beispielsweise für Flüchtlinge oder für Menschen mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus zu erreichen. Aus diesem Grund arbeiten wir mit einer Vielzahl anderer Organisationen zusammen. Ein gutes Beispiel für diese Zusammenarbeit ist der Berliner Flüchtlingsrat. Hier kommen regelmäßig verschiedene Menschenrechtsgruppen, Flüchtlingsinitiativen und engagierte Einzelpersonen zusammen, um sich auszutauschen und gemeinsame Projekte zu planen. Gemeinsam lässt sich eben mehr erreichen, dies zeigt unter anderem auch die Debatte um die Einführung eines Antidiskriminierungsgesetzes in Deutschland. Erst nach jahrelangem Druck verschiedener Menschenrechtsgruppen wurde im Jahr 2006 das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verabschiedet. Dieses Gesetz verbietet Diskriminierung im Arbeitsbereich und in Teilen des Zivilrechtes. Auch wenn dieses Gesetz weit davon entfernt ist, perfekt zu sein, so stellt es doch einen wichtigen Anfang dar. Anzeige Texte 42 der Rosa-Luxemburg-Stiftung BILDEN Doch letztlich kann Toleranz nicht staatlich verordnet werden, sondern dazu bedarf es der Einsicht und Überzeugung der gesamten Bevölkerung. Ein ganz wichtiger Punkt ist also eine antidiskriminierende Bildungsarbeit. Teil dieser Bildungsarbeit waren mehrere Fahrten für Jugendliche in die Gedenkstätte Auschwitz. Auf den dreitägigen Fahrten setzten sich die jungen Teilnehmer intensiv mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoa auseinander. Die Eindrücke und Erlebnisse der Jugendlichen wurden von ihnen festgehalten und in mehreren Broschüren dokumentiert. So sollte eine Beschäftigung mit dem Thema auch über den Zeitraum des Besuches hinaus erreicht werden. Das ADB bietet auch Projektschultage an. Das heißt, wir kommen in die Schulen und arbeiten mit den Schülerinnen und Schülern zusammen zu Themen, die mit Diskriminierung zu tun haben. Dabei ist es uns sehr wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Erfahrungen und Interessen einbringen und artikulieren. Denn antidiskriminierende Bildungsarbeit kann nur selbstbestimmt funktionieren. Wenn Ihr Interesse bekommen haben solltet, Euch selbst zu engagieren oder mit uns zusammen in Eurer Schule etwas zu organisieren, dann schreibt uns, ruft an oder kommt direkt vorbei. Anti-Diskriminierungsbüro (ADB) Berlin e.V. Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin www.adb-berlin.org, [email protected] Tel: (030) 204 25 11 bzw. (030) 505 95 478 328 Seiten, Broschur dietz berlin 2008 19,90 Euro ISBN 978-3-320-02136-8 Ulrike Freikamp, Matthias Leanza, Janne Mende, Stefan Müller, Peter Ullrich, Heinz-Jürgen Voß (Hrsg.) Kritik mit Methode? Forschungsmethoden und Gesellschaftskritik Kritisches Forschen beginnt bei der Auswahl des Gegenstandes. Von der »unkritischen« Normalwissenschaft unterscheidet sich kritisches Forschen nicht zuletzt in der Auswahl der Kriterien. In ihren methodologischen Überlegungen berücksichtigt sie auch die Folgen der Forschung für die »Beforschten«. Kritische Wissenschaft will Macht und Herrschaft, Gewalt und Unterdrückung, Unfreiheit und Ausschließung aufdecken und bietet dafür ihre eigenen Zugänge und Methoden an. Mit kritischer Forschung wird versucht, zu zeigen, dass nicht alles so ist, wie es scheint, und dass nicht alles so bleiben muss, wie es ist. Bestellungen über: Buchhandel Karl Dietz Verlag Berlin E-Mail: [email protected] Rosa-Luxemburg-Stiftung Tel.: 030 44310-123 · Fax: 030 44310-122 E-Mail: [email protected] 7 Elternratgeber: Keep in touch with your children »ZIGEUNER AM RANDE EINER GEWALTTÄTIGEN WELT« »GEWALTTÄTIGEN Klischees und Vorurteile umgeben den Begriff der antiautoritären Erziehung. Doch obwohl er als Bezeichnung mittlerweile weitgehend aus pädagogischen Debatten verschwunden ist, ist er in der heutigen Erziehung lebendiger als wir glauben mögen. von Eva Flemming Vater und Sohn erzählen von ihren Erfahrungen mit einer anderen Erziehung. 20 Jahre später berichten sie über ihr Leben in einer Kommune der späten 60er. Helmut, geb. 1940: Konzept Gemeinschaftserziehung. Freie Erziehung. Der herrschenden Ausbeuterklasse nicht weitere Lakaien zuzuliefern. Der vielzitierten Daseinsverfehlung von Anfang an vorbeugen. Insgesamt muss man wohl zugeben: Wir haben zu viel auf einmal gewollt. Immer auf allen Bühnen gleichzeitig, der privaten, wie der öffentlichen, der pädagogischen, wie der politischen. Nicht zu vergessen unsere sexuelle Befreiung, auch die der Kinder, ganzheitlich gesehen, die sinnliche Seite des Lebens. Ich erinnere mich, dass ausgerechnet an diesem Punkt einige in der näheren Umgebung völlig ausrasteten, nur weil die Kinder an heißen Tagen nackt herumliefen, sich bei der Gelegenheit wohl auch etwas genauer beäugten oder sich gegenseitig mit schwarzem Schlammmatsch einschmierten, wobei selbstverständlich die vorhandenen Pimmel nicht vernachlässigt, sondern besonders liebevoll einbalsamiert wurden. Und wenn dann irgendwelche Nachbarn, Passanten zufällig oder auch nicht zufällig über den Gartenzaun spionierten, dann war der Teufel los. Aus den abendlichen Debatten – wir haben ja regelmäßig unerhört reflektiert und einander kritisiert – weiß ich, dass die Mütter da am meisten zu überwinden hatten, wenn die gemeinschaftliche Kinderbude mal wieder wie ein Saustall aussah, wenn da mit Lehm gemodelt, Pfl anzen umgetopft, mit Fingerfarben eben nicht nur Plakate verschönert wurden. Ein anderer heikler Punkt, der mehr die Männer betraf, war der häufi g erhobene Vorwurf: autoritärer Scheißer. Weil wir ja um Gottes willen die Sprösslinge nicht reglementieren sollten, schon gar nicht Repression ausüben. Und wenn dann ein genervter Vater beobachtete, wie ein kleiner Tollpatsch vergeblich einen Kasten zusammenzunageln versuchte, ihm dann helfen wollte: Guck mal, so macht man das. Oder ihm gar den Hammer aus der Hand nahm: Komm lass mich, ich mach das schon! Dann brach abends das heilige vereinte Donnerwetter über den Ärmsten herein, der sich da nicht hatte beherrschen können. Na, wie gesagt, es gab einigen Psychostress. Es gab aber auch unerhört viel Spaß, weil die Kinder in dieser aufgebrochenen Atmosphäre trotz der Schwierigkeiten wirklich ein verblüffendes Maß an schöpferischer Fantasie, Experimentierlust und Entdeckerfreude an den Tag legten. Als die ersten dann eingeschult wurden, waren sie – im Großen und Ganzen – den anderen Gleichaltrigen überlegen, jedenfalls waren sie aufgeweckter. Hanno, geb. 1962, Sozialarbeiter, Helmuts Sohn Meine Eltern gehören ja wohl zu den Pionieren. Und Pioniere haben es immer schwer, weil sie erst tastend ausprobieren müssen, was geht, was nicht geht. Und einiges ging eben partout nicht. Da kannst du so ziemlich alles fi nden, was dann in den Katalog der Antipädagogik, auch in den Katalog der Vorurteile eingegangen ist. Natürlich sollten wir, also die Sprösslinge der frühen Pioniere, die hoffnungsvoll beäugten Produkte der antiautoritären Experten, gleich zum Auftakt nicht unter die Fuchtel der Law-and-Order-Verfechter geraten. Also keine üblichen Kindergärten. Also nicht in den Bannkreis der gestrengen Großeltern geraten. Wir durften nicht nur, ich glaube, wir sollten auch die Freiheit verkörpern. Mir scheint, es hat alles Mögliche nebeneinander gegeben. Mir scheint, manche der tapferen Vorreiter haben sich überschätzt und einfach zu viel auf einmal gewollt. Ich kenne gar nicht mal wenige, die ziemlich bald wieder Rückzieher gemacht und sich selbst hinübergerettet haben in irgendwelche Kompromisse. Macht ja auch nichts, ist ja gar nichts dagegen zu sagen. Auf die äußere Form kommt es nicht an, sondern ausschließlich auf die Botschaft: Dass ich Kind, Mensch, nicht zum Ducken da bin, zum Strammstehen und Kuschen vor denen da oben. Wo diese Botschaft vermittelt wird, das ist ziemlich nebensächlich. Und unabhängig davon kann man in der Tat diesen frühen Vorreitern (also Leuten wie meinen Eltern) die Anerkennung nicht versagen. Sie haben etwas in Gang gesetzt, das weiterwirkt, sich weiterentwickelt hat. Auch deshalb, weil es Ende der 60er Jahre diesen furiosen Rummel gegeben hat, der aus einer längst gefassten Absicht und einer längst gelebten Praxis ein globales Thema machte, das dann auch andere anstieß und motivierte. Wir, die dabei zustande gekommenen Produkte, wir können als Eltern sehr viel kreatürlicher dem Kind begegnen und unsere Aufgabe begreifen. Ein spielerischer Umgang, easy going, viel Gelächter, Zigeuner am Rand einer unverändert gewalttätigen Welt. Gesprächsprotokolle aus: Leona Siebenschön: Wenn du die Freiheit hast… Die antiautoritäre Generation wird erwachsen. (c) 1986 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. Foto [M]: dreamstime.com 8 International: Unis für alle und Essen für lau 9 CHAVEZ UND DIE BRINGSCHULD von Alexander Schober Während in Deutschland der Zugang zu Bildung mit einer sozialen Hürde nach der anderen versehen wird, ticken die Uhren in Venezuela anders: Statt Förderung von neuen Eliten- oder Exzellenzschwerpunkten spricht man in Venezuela heute von einer Bringschuld des Staates im Bildungsbereich. Mit den bolivarianischen Universitäten wird seit 2003 ein neues Instrument geschaffen, das dazu beitragen soll, im venezolanischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts das Recht auf Bildung für alle zu gewährleisten. Wie sieht‘s in der Praxis aus? Die mit der bolivarianischen Revolution verbundenen Bildungsprogramme eröffneten vielen neue Bildungsmöglichkeiten und führten zu einem enormen Anstieg der Studierendenzahlen. Heute essen Studierende aller Altersgruppen in den Mensen der bolivarianischen Universität kostenlos. Das pädagogische Konzept der UBV ist stark praxisorientiert. Vom ersten Tag des Studiums an werden die Studierenden dazu angehalten, ihr Wissen im praktischen Austausch mit der Gesellschaft zu erweitern. Die Studierenden führen über mehrere Jahre Projekte in lokalen Gemeinschaften durch, häufi g in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld. Medizinstudierende begleiten Ärzte in die kommunalen Gesundheitszentren, Jurastudenten bieten Rechtsberatung an usw.. Fotos [M]: dreamstime.com Seit 2003 gibt es in Venezuela nun breit angelegte Bildungsprogramme, denen ein anderer Anspruch zu Grunde liegt. Sie sind in aufeinander aufbauenden sogenannten Misiónes gestaffelt, die mit der Alphabetisierung in der Misión Robinson anfi ngen und bis zur Hochschulreife und universitären Bildung in den bolivarianischen Universitäten führen. Diese neuen Universitäten waren auch eine Reaktion darauf, dass es 2003 für 470 000 Abiturienten keine Studienplätze an den öffentlichen Universitäten gab. Mit den neu entstandenen Universitäten werden mehrere Ziele verfolgt: Zunächst soll mit ihrer Hilfe der Zugang zu Bildung demokratisiert werden. Statt auf sozialem Ausschluss beruht die bolivarianische Universität (UBV) auf dem Prinzip der sozialen Integration: Die Universität steht möglichst allen an Bildung Interessierten offen. Neben der 2003 gegründeten UBV in Caracas gibt es mittlerweile acht Zweigstellen in den venezolanischen Bundesstaaten, die entsprechend dem verfolgten Dezentralisierungskonzept wiederum viele weitere regionale Ableger aufgebaut haben. Dabei wird eine enge Zusammenarbeit mit lokalen Initiativen, etwa im Gesundheits- oder Kulturbereich, und neu geschaffenen Institutionen des sozialen Lebens angestrebt. Zugleich liegt das Studienangebot der UBV vor allem in Bereichen, in denen es einen gesellschaftlichen Bedarf gibt. Dazu zählen unter anderem Studiengänge für die Lehrerausbildung, Medizin, öffentliche Gesundheit, Architektur, Informatik, Jura, soziale Verwaltung und Politologie, ebenso wie spezielle Studienangebote im Bereich der Erdölverarbeitung. Und schließlich sollen die bolivarianischen Universitäten eine wichtige Rolle im Aufbau der neuen sozialistischen Gesellschaft spielen. Die Wiedergewinnung der eigenen kulturellen Identität und das Erlernen einer neuen demokratischen Praxis sei – nach den Worten venezolanischer Bildungspolitiker – dabei besonders wichtig. Foto [M]: photocase.de Dabei ist es noch gar nicht lange her, da dominierte auch in Venezuela ein auf sozialem Ausschluss beruhendes Bildungssystem. Neoliberale Umstrukturierungsmaßnahmen hatten seit den 1980ern zu einem Ausschluss weiter Bevölkerungsteile aus dem Bildungssystem geführt. Bildung wurde zu einem Privileg derer, die es sich leisten konnten. In Zeugnisnoten zementierte soziale Ungerechtigkeiten führten dazu, dass immer weniger Menschen aus den ärmeren Bevölkerungsgruppen den Weg an die öffentlichen Universitäten fanden, deren Zugangsvoraussetzungen an entsprechende Schulabschlüsse gekoppelt waren. Die staatlichen Universitäten, wie die UCV (Universidad Central de Venezuela), wurden somit zu Orten, die sich von einem Großteil der Gesellschaft entfernten. Die venezolanische Opposition kritisiert die neue staatliche Universität unter anderem als ein Konkurrenzprojekt zur Privatuniversität. Nicht selten ist zu hören, dass die Abschlüsse der UBV nicht viel wert seien. Dabei sind es gerade die bisher Benachteiligten und von Bildung weitgehend Ausgeschlossenen, die die neuen Möglichkeiten durchaus wertschätzen. So ist, neben organisatorischen Startschwierigkeiten, das Hauptproblem der neuen Uni die hohe Zahl von Bewerbern, die die Zahl verfügbarer Studienplätze bei weitem übersteigt. Mit der Erweiterung des Angebots auf 500 000 Studienplätze im nächsten Jahr hat sich Hugo Chavez einiges vorgenommen. Nicht ohne Grund, sitzen doch immer noch 400 000 Abiturienten ohne Studienplatz da, was dem Anspruch, eine Uni für alle zu schaffen, klar entgegensteht. Und unter denen, die studieren, tun sich zum Teil große Unterschiede auf, was die Beherrschung grundlegender Voraussetzungen und Fähigkeiten für ein Studium anbelangt. Die Umbrüche im Bildungsbereich sind heute ein Teil des Wandels in Venezuela, der sich durch die Parallelität unterschiedlicher Strukturen auszeichnet. Neben den bestehenden, alten Institutionen werden neue aufgebaut, die die Grundlage einer neuen demokratischen Gesellschaft bilden sollen. Die bolivarianischen Universitäten sind ein wichtiger Baustein dafür. Eine weitere Spaltung der venezolanischen Gesellschaft, die manche ironischerweise in diesem neuen Nebeneinander von alten und neuen Institutionen, von Volks- und Elite-Unis sehen, gilt es dabei zu verhindern. Dies ist dann auch die große Herausforderung, vor der die Macher der bolivarianischen Revolution und die venezolanischen Sozialisten des 21. Jahrhunderts stehen. Alexander Schober war vom 23. Februar bis 16. März Teil einer Venezuela-Delegation des Studierendenverbandes DIE LINKE.SDS. 10 Culture Clash: Der SDS ist... PROVOZIEREN IST UNGLAUBLICH SCHWIERIG von Karsten Schmidt Alle reden über die 68er, ihre Beweggründe und Ideale. Aber wer ertastet den Seelenzustand junger Generationen im Hier und Jetzt? Zu den gelungensten Versuchen der jüngsten Zeit zählt die spanische Tragikomödie Dunkelblaufastschwarz. Ein Filmtipp. Jeder hat eine Vorstellung von seinem Leben, wie es sein sollte, und manchmal läuft das eigene Leben nur nebenher. Nicht mehr als Glas trennt Jorge von seinem vermeintlich richtigen Leben. Zwischen ihm und dem dunkelblauen, fast schwarzen Anzug im Schaufenster befi ndet sich nur eine Scheibe. Dieser Anzug, den er sich nicht leisten kann, symbolisiert für ihn den Eintritt in die erfolgreiche Karriere, in die ersehnte Selbstständigkeit. In das bessere Leben? Jorge ist Mitte 20, fast 30. Er hat gerade sein Studium beendet – als mühselige, jahrelange Nebentätigkeit. Die meiste Zeit kümmerte er sich daheim um seinen Vater, der seit einem Hirnschlag ein Pflegefall ist. Antonio, sein älterer Bruder, ist ein Kleinkrimineller und sitzt im Gefängnis. Die Mutter ist schon lange fort. So ist Jorge die übrig gebliebene Stütze dieser Familie. Sein Geld verdient er als Hausmeister im eigenen Wohnblock, mit Bewerbungen hat er keinen Erfolg, und die Liebe lässt auch auf sich warten. In seinen dunkelbraunen, fast schwarzen Augen sammelt sich die ganze Schwermut dieses Daseins: Jene tiefblaue Sehnsucht, die, weil sie keine Erfüllung fi ndet, sich wie ein schwarzes Loch in die Seele frisst. Aber der teure Anzug hinter der Schaufensterscheibe ist freilich nur eine Projektion für Jorges ersehnten Ausbruch aus seinem bisherigen Leben. Die Glasscheibe ist gleichsam in seinem Kopf. Durch sie schaut er wie ein Außenstehender auf sein Leben. Es bedarf erst eines äußeren Anstoßes, der Jorge aus seiner Lethargie erwachen lässt. Sein Bruder richtet eines Tages eine absurde Bitte an ihn. Antonio, der äußerlich und charakterlich das komplette Gegenstück zu Jorge ist, hat sich im Gefängnis in Paula verliebt. Paula hat nur ein Ziel: Sie muss schwanger werden, dann würde man sie in die Mutter-Kind-Station aufnehmen und frühzeitig entlassen. Nur kann Antonio ihr diesen Wunsch nicht erfüllen, da er zeugungsunfähig ist. Also bittet er Jorge darum, Paula zu schwängern… In Dunkelblaufastschwarz (2006) sind die Figuren allesamt Gefangene ihrer selbst. Das Erstlingswerk des Spaniers Daniel Sánchez Arévalo ist ein inhaltlich und formal erstaunlich dichtes Generationenporträt. Dessen Hauptschauplätze sind der triste Wohnblock, in dem Jorge mit seinem Vater lebt, und das Gefängnis, in dem Antonio und Paula sitzen; und permanent sind Glasscheiben im Bild. Menschen wie Fische im Aquarium. Es ist aber trotz dunkelblaufastschwarzer Melancholie und ausgeprägter Orientierungslosigkeit des Protagonisten und der Nebenfi guren kein hoffnungsloses Bild vom Erwachsenwerden, das Daniel Sánchez Arévalo hier entwirft. Vielmehr erinnert der groteske, fast schwarze Humor, mit dem er seine Geschichte aufmischt, an die alles in sich aufsaugende Lebenslust der Filme von Pedro Almodóvar. Ein selbstbestimmtes Leben, sagt der Film, bedeutet manchmal auch, sich von einigen Träumen lösen zu müssen, um voranzukommen. Jede Generation muss das für sich neu defi nieren. Verloren war noch keine. Neu auf DVD: Dunkelblaufastschwarz (Azuloscurocasinegro; Spanien 2006) Was bedeutet 1968 als politisches Ereignis für Euch? Jan: Für mich bedeutet 1968, dass junge Menschen weltweit gegen Missstände und Widersprüche innerhalb des Nachkriegskapitalismus auf die Straße gegangen sind. Sie forderten Demokratisierung und stellten gleichzeitig Normen und Traditionen in Frage. Sie spürten die erste ökonomische Krise und suchten nach Selbstverwirklichung. Katharina: Das Besondere an 1968 war, dass danach nichts mehr so war wie vorher. Viele Sachen wurden in Frage gestellt: der Kapitalismus, die Rolle des Staates, tradierte Erziehungskonzepte – dies musste zwangsläufig zu Veränderungen führen, auch wenn nicht alle Forderungen nachhaltig waren oder entsprechend umgesetzt worden sind. Welche Aktionsformen von damals fi ndet Ihr innovativ und wiedererweckenswert? J: Also die Art und Weise der Aktionen waren schon maßgeblich dafür, dass die Bewegung so stark werden konnte. Es wurde versucht im Alltag zu leben, was so theoretisch diskutiert wurde. Und das ist ja auch öffentlichkeitswirksam gelungen. Vieles was damals gemacht wurde – Sit-In, Teach-In, Streik an der Uni – sind eingeflossen in das Protestrepertoire von Studierenden der nächsten dreißig Jahre. Aber es gab auch damals so überspitzte Aktionen, die heute nicht mehr so gemacht werden sollten – zum Beispiel Seminare komplett zu sprengen und Debatten einfach zu blockieren. K: Vieles gibt’s ja noch heute. Man muss aber auch vieles neu entwickeln. Ich glaube nämlich, dass es uns heute gar nicht mehr so leicht fallen würde aufzufallen. Wo es nicht mehr so starke Normen in der Gesellschaft gibt, ist das Provozieren unglaublich schwierig, selbst wenn man beim Studentenstreik nackt durch die Stadt läuft. Ist der unartige Protest nicht eigentlich schon Folklore – ein gewohntes Ritual, das mittlerweile langweilig geworden ist? K: Ich glaube nicht, dass der Folklore ist. Gerade bei Demonstrationen gibt es ja immer wieder neue Anregungen, zum Beispiel so was wie die Demonstrationsclowns. Oder das auch sehr viel über Musik läuft. Solche originellen Protestformen sind ja wichtig, aber nicht die Hauptsache. J: Die hessischen Studierendenproteste haben ja gezeigt, dass es da zwei Seiten der Protest-Medaille gibt. Das eine ist eine gekonnte Form der Zuspitzung, wenn die Menschen Frust haben. Da kann eine Autobahn für kurze Zeit blockiert werden. Aber auf der anderen Seite gehören dazu auch eher konventionellere Formen wie große Demos gemeinsam mit Eltern, Schülerverbänden, Gewerkschaften. Im letzten Studentenstreik sind wir in Hessen beide Wege gegangen: Mit den Gewerkschaften wurde vor Gericht geklagt und demonstriert – und dann hatten wir noch eine gekonnte Radikalisierung wegen den Studiengebühren. Ganz wichtig ist es dabei zu verhindern, dass innovative Aktionsformen im Nachhinein kriminalisiert werden, weil konservative Richter sie angesichts der großen Wirkung ganz schnell wieder verbieten wollen. Inwiefern kann so ein Feeling wie 1968 wieder kommen? Muss erst wie 1967/68 jemand erschossen werden, dass es Aufmerksamkeit für ein politisches Anliegen gibt? J: Welche Ereignisse es braucht, das muss man schauen. Der Schuss, der Benno Ohnesorg 1967 getötet hat, kann ja auch nicht losgelöst von seinem Kontext gesehen werden. 1968 wurde Martin Luther King erschossen, dann noch ein Bruder von John F. Kennedy, Che Guevara war ein Jahr vorher ermordet worden, es gab den Krieg in Vietnam und in den USA Aufstände der Schwarzen. Also es lag schon so ein gewisses gewalttätiges Klima vor. K: So ein Klima kann nicht erzeugt werden. Aber man kann schon sagen, dass die Leute die Schnauze voll haben. Das sieht man ganz gut am Streik bei der Deutschen Bahn und im Öffentlichen Dienst, wo es schon Unterstützung innerhalb der Bevölkerung gibt. Und da muss man anknüpfen. Das Gespräch führte Alexander Koenitz. Foto [M]: photocase.de HEUTE? Die Proteste 1968 waren für ganze Generationen von aufmüpfigen Studierenden an bundesdeutschen Universitäten Vorbild. Oft kopiert, nie erreicht. Aber ist das Vorbild noch zeitgemäß? Ein Gespräch mit Jan Schalauske (27) und Katharina Volk (26), die mit dem Studierendenverband Linke.SDS den Kongress 1968 – Die letzte Schlacht gewinnen wir organisieren, der vom 2. bis 4. Mai 2008 in Berlin stattfindet. auch nicht mehr das, was er mal war. DAS GANZE NOCHMAL, BITTE! 11 ABGECHECKT! MIT KIRYK DREWINSKI sänger und gitarrist DER BAND THE MAGNIFICIENT BROTHERHOOD -------------------- von Alexander Koenitz Gibt es mehr Errungenschaften als Armreiben und Dia-Abende? Machen Sie es sich bequem und besuchen Sie die wilden Zeiten der 60er und 70er Jahre: Psychedelic, Rock, Orgelei, tanzen und ausflippen! Foto [M]: photocase.de Wo kommt eigentlich Euer Bandname her? Das ist ein altgriechischer Mädchenname. ... Nein, Quatsch: Sozusagen als Gegenreaktion auf den melancholischen Depri-Sound vieler neuer Bands nannten wir uns zunächst The Magnificent Brotherhood of Eternal Love and The Happiness‘s Close Companions. Da sich das aber niemand merken konnte, mussten wir unseren Bandnamen kürzen. Geschichte wird gemacht. Nicht nur damals auf der Straße zwischen Wasserwerfern, Gummiknüppel und Plakaten, sondern im Nachhinein. Denn die mittlerweile rüstigen Golden Agers schreiben gern von ihrer wilden Jugend. Kann man verstehen – schließlich war das der Moment, an dem der Untergang des christlich-konservativen Abendlands eingeläutet wurde. Oder der Grundstein für ein liberaleres Land gelegt wurde, je nach Standpunkt. Für ein Land, in dem lärmende Musik abseits von Militärmärschen, Sex vor der Ehe, jobbende Frauen, Kinder erziehende Männer und gleichgeschlechtliche Liebe kein Problem darstellten. Da war die antiautoritäre Bewegung doch ganz erfolgreich, auch wenn nach wie vor die heterosexuelle Partnerschaft mit zwei bis null Kindern im schick dekorierten Eigenheim, inklusive Mittelklassewagen, als Blaupause für viele Lebensentwürfe herhalten darf. Alles ein bisschen lockerer heutzutage. Und alles durchkommerzialisierter. Wo nämlich 1968 auch der Wille zum Umsturz des Menschen fressenden Kapitalismus Neugier und das Experimentieren mit Wort, Musik und bewusstseinserweiternden Substanzen anfeuert, da ist heute der Drang zur Selbstvervollkommnung im Wettbewerb und in der möglichst prompten Befriedigung konsumistischer Bedürfnisse. Dem Anti-Autoritären ist das Politische abhanden gekommen, stattdessen ist Rebellion zu einer Phase im Lebenslauf geworden, für die die Lifestyle-Industrie die passenden Produkte und Stile bereit hält. Irgendwie haben sich viele Protagonisten von 1968 ganz gut damit arrangiert: Denn einige gehören jetzt immerhin zum politischen und kulturellen Establishment eines Schweinesystems, das jene integriert hat, die der Revolution entwachsen sind, und jene in Nischen verbannte, die in ihrer Radikalität harmlos blieben. Im Nachhinein wurde und wird auch untereinander abgerechnet. Da war oft nicht viel Liebe in der antiautoritären Bewegung. Das zeigt schon, wie nach 1968 einer der Hauptakteure, der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), ganz schnell zerbröselte und sich in rivalisierende Gruppen aufteilte, von denen einige kein Wort mehr miteinander sprachen. Die besetzten Freiräume haben nicht automatisch für einen menschenfreundlicheren Umgang untereinander gesorgt: Im Kollektiv wurde einander ganz solidarisch in emotionalen Wunden gepult, es wurde gegenseitig gemobbt, inquisitorisch verdammt, mies beschimpft und übel mitgespielt. Die antiautoritäre Idee hat auf diesem Wege selbst wieder Autorität erzeugt – aber diesmal jene eines Lebensentwurfs. Davon wollte sich die Generation 1968 eigentlich befreien. Wo kann man Euren Musikstil einordnen? Da wollen wir uns überhaupt nicht festlegen. Manche sagen Garage-Rock, manche sagen 60s-Punk, aber am liebsten sind uns diejenigen, die mit diesen Begriffen überhaupt nichts anfangen können, nicht vorbelastet sind und offen für frische, tanzbare Musik. Was man aber mit Sicherheit sagen kann, ist, dass wir rocken! Wir benutzen Gitarre, Bass, Schlagzeug und eine elektrische Orgel. Wir liefern in jedem Fall einen Kontrast zu allem, was man heutzutage sonst so zu hören bekommt. Was verbindet Ihr mit den 68ern? Als Musiker verbinden wir mit dieser Zeit natürlich vor allem ihre Musik. Was uns an dieser Zeit fasziniert und beeinflusst, ist die Unberechenbarkeit ihres Sounds. In der sogenannten Psychedelia explodierte die Vielfalt der Musik und einfach alles war erlaubt. Der Mainstream war noch nicht so ausgeprägt, damit hatten auch interessante kleine Bands ihre Daseinsberechtigung; besser noch: Sie waren die, auf die es ankam. Ich denke, dass sich viele junge Menschen nach solch interessanten Zeiten sehnen. The Magnificent Brotherhood sind dafür ein sehr guter Beweis. Welche Musik läuft bei Euch im Tourbus? Der CD-Player ist immer noch kaputt und wir sind gezwungen, Radio zu hören, wobei das lustig sein kann... vorausgesetzt man begreift den Großteil der Radio-Musik als Trash oder als so etwas wie musikalische Komödie. Sollte der CD-Player irgendwann wieder repariert werden, kommen bestimmt alte, eher unbekanntere Bands zum Einsatz, wie The Music Machine, The Seeds (nicht Seeed!), The Sonics oder The Monks. Wo kann man Euch das nächste Mal live erleben? Das nächste Konzert spielen wir im Berliner White Trash am 10. Mai zusammen mit der fantastischen Band Baby Woodrose aus Dänemark. Das wird bestimmt ein sehr wilder Abend. Weitere Informationen und die neuste CD gibt es unter www.themagnificentbrotherhood.de Kiryk Drewinski wurde abgecheckt von Andreas Voland. S und V feat.: Einstürzende Neubauten DIE APOKALYPSE IST LÄNGST IN VOLLEM GANGE Sacco und Vanzetti sprach mit Alexander Hacke, Bandmitglied der Einstürzenden Neubauten, über Musik, politische Klanggebäude, die Privatisierung des öffentlichen Raumes und den Sound der 68er. Fotos[M]: dreamstime.com/Einstürzende Neubauten 12 Rubrik: Interview Die Musik von EN wurde und wird wechselhaft als apokalyptisch oder auch avantgardistisch bezeichnet. Zu welcher Ein-Wort-Umschreibung tendierst du? Wechselhaft. So oder so, Musik als Klanggebäude nimmt öffentlichen Raum ein. Mit welcher Aussage füllt Ihr den öffentlichen Raum? Wir arbeiten tatsächlich daran, den öffentlichen Raum mit unserer Musik zu füllen. Die Aussage variiert natürlich von Stück zu Stück. Sonst wäre es ja auch langweilig und wir könnten nicht mal mehr Konzerthallen füllen. Gut, es geht aber um eine grundlegende Aussage, eine Entscheidung – beispielsweise: Rückeroberung des Öffentlichen oder eher Privatisierung? Auch das ist ganz Dir selbst überlassen. Bemerkenswert ist lediglich, dass es meist Grünen-Wähler sind, die die Bullen rufen, wenn man morgens um Vier mal ’n bisschen Musik auf Anschlag hören will. Aber so mit Kopfhörer stört man ja keinen. Beim besten Willen nicht. Eure Klanggebäude verändern sich mit den Materialien, die Ihr erprobt. Welche Gegenstände oder Stoffe würdet Ihr heute benutzen, um bestimmte Klanggebäude, Atmosphären, Aussagen in diesen öffentlichen Raum zu geben? Unsere Materialien müssen in erster Linie leicht zu transportieren, widerstandsfähig, legal und am liebsten laut sein. Denn so sparen wir Strom für die Verstärkung und beteiligen uns aktiv am Umweltschutz… … und Ihr versöhnt Euch mit den Grünen-Wählern. Gilt dabei noch immer Euer früheres Motto: »Sei schlau, klau beim Bau!«? Da gibt es leider nicht mehr so viel zu holen. Ordnet Ihr den stofflichen Elementen, die Ihr verwendet, politische Botschaft zu? Stoffliche Elemente können höchstens Assoziationen auslösen oder Metaphern bedienen. Holz lebt, und auf diesem Felsen werde ich meine Kirche bauen. Dann versuchen wir es andersrum: Womit würdest Du, würdet Ihr, ‚68 ausdrücken? Ich war nicht wirklich dabei, ich war erst drei. Die anderen waren auch noch vorpubertär. Die Frage ist ja erstmal: Was wissen wir darüber und was gibt es daraus zu lernen? Ich kann mir das Jahr 1968 auch nur vorstellen. Zum Beispiel verbinde ich mit dem Begriff des 68ers jemanden, der verwaschene Wollpullover trägt und irgendwie auch Skandinavische Holzmöbel. Selbstverständlich müsste es eine Komposition im Sechs-Achtel-Rhythmus sein. Und weiter? Wie klingt ‚68? Das war doch auch die Zeit der antiautoritären Erziehung, oder? Dann gehört auf alle Fälle das Geschrei der Kinder dazu. Von den Demos, die ich später in den 70ern mitbekommen habe, ist mir besonders der Sprachduktus der politischen Agitatoren in Erinnerung geblieben, ein klagender Singsang. Deutscher Blues. Und was bedeutet ‚68 für die Einstürzenden Neubauten? Es war ohne Zweifel auf internationaler Ebene ein gutes Jahr für die Popkultur. Welche Bedeutung hatte ‚68 für Deutschland? Es wäre vermessen von mir, das beurteilen zu wollen, aber der Sommer 1969 soll auch sehr angenehm gewesen sein, und ich bin mir sicher, dass wir das im nächsten Jahr ausführlich diskutieren können. Fest steht, dass die Revolution nicht im Fernsehen übertragen wird, sollte sie denn dann tatsächlich irgendwann stattfi nden. Und 2008? Gibt es auch Menschen, die glaubwürdig sind. Mehr leider, die weniger glaubwürdig sind, und viel zu viele, die alles glauben, was ihnen vorgesetzt wird. Die Verteilung der Macht ist heute eine ganz andere als in den 60ern. Der Kalte Krieg ist vorbei und der Medienkrieg ist im vollen Gange. Klar, aber wohin? In welche Richtung bewegt sich die Gesellschaft? Mit der fortschreitenden Individualität der Bevölkerung steigt die Isolation des Einzelnen. Die Menschen vereinsamen und ihr Verhalten entwickelt Störungen. Sie verlernen, miteinander zu kommunizieren, sie vereinsamen faktisch und verschanzen sich hinter menschenfeindlichen Weltbildern. Das gibt den idealen Nährboden für Fanatismus und ermöglicht die Manipulation von Meinung. 13 Projekt ins Leben gerufen. Was ist das und vor allem: Was bedeutet es? Es bedeutet in erster Linie, direkt und ohne Mittelsmann für und mit den Menschen arbeiten zu können, denen unsere Arbeit auch wirklich etwas gibt: den Fans. Ließe sich ein solches – ich bezeichne es mal als basisdemokratisches Projekt – auch auf andere Kulturgüter übertragen? Na ja, mit Demokratie hat das eigentlich weniger was zu tun. Wir machen ja nach wie vor ausschließlich, was wir wollen. Solidarität ist ein Begriff, der hier eher einsetzbar wäre, und wenn viele unbekanntere Projekte sich zusammenschließen würden, könnten sie sicherlich eine ähnliche Struktur erfolgreich umsetzen. Nur solange wir alle gegeneinander und in Konkurrenz zueinander arbeiten, wird es so nicht weiter gehen. Könnte man damit, also gemeinsam, den ganzen Kommerzialisierungsscheiß stoppen? Wahrscheinlich nicht, aber vielleicht, installationstechnisch gesprochen, umleiten. Denkst du, dass durch Eigen- und Fremdfi nanzierung unterschiedliche Produkte mit unterschiedlichen Aussagen das Licht der Öffentlichkeit erblicken? Zum Beispiel verbinde ich mit dem Begriff des 68ers jemanden, der verwaschene Wollpullover trägt und irgendwie auch Skandinavische Holzmöbel. Frage an den Musiker Alexander Hacke: Was kann Kunst da tun? Vielen Dank der Nachfrage! Wir arbeiten hart daran, stets gegen den Strom zu schwimmen und dabei auch noch das Leben genießen zu können. Ich selbst habe soeben den mittelalterlichen Text Das Narrenschiff von Sebastian Brant mit der Künstlerin Danielle de Picciotto bearbeitet und als audiovisuelle Performance zur Aufführung gebracht. Eine CD/DVD mit dem Ergebnis unserer Arbeit erscheint noch in diesem Frühjahr unter dem Englischen Titel The Ship Of Fools auf dem Neubauten-eigenen Label Potomak. Und EN? Wohin bewegt Ihr Euch? Wir gehen vom 8. April bis 28. Mai auf Europatournee. So viel zur geografischen Marschrichtung. Und politisch gesellschaftlich? Begreift Ihr Euch als politische Künstler? Es ist unausweichlich, dass der künstlerische Output auch im politischen Zusammenhang gesehen wird, und so gerne ich mich auch bedeckt halte, komme ich oft nicht darum herum, zu bestimmten Dingen öffentlich Stellung zu beziehen. Auf jeden Fall habe ich weder Lust noch Zeit, irgendwelche Ideologien zu bewerben. Ich bin Marxist, aber nicht wie bei Karl, sondern im Sinne von Groucho, Chico und Harpo. Nächste Frage! Ok, die hier: Wofür oder wogegen musiziert ihr? Die Antwort der Bremer Stadtmusikanten lautet: »Etwas Besseres als den Tod fi nden wir überall.« Seit 2002 produziert Ihr Eure Platten unabhängig von Major-Labels und habt als Alternative das Supporters- Nein, wenn der Ausgangsgedanke wahr ist und in der Umsetzung keine Kompromisse gemacht werden, dann ist es (mit den offensichtlichen Einschränkungen) vollkommen gleichgültig, wo die Kohle herkommt. Natürlich kann es auch der einfallsloseste Opportunist bewerkstelligen, in Eigenregie Produkte auf den Markt zu bringen. Nur werden sie dadurch nicht besser. Was verbirgt sich hinter dem Musterhaus-Projekt? Es ist eine achtteilige Reihe mit dem vermeintlich experimentellen Output von Einstürzende Neubauten. Die Musterhäuser sind die Nebenspielstätten, das neue Album die Hauptbühne im großen Haus. Okay, erzähl uns etwas über Eure Hauptbühne, das neue Album. Es ist großartig! Es heißt: Alles wieder offen und ist seit Oktober im Handel erhältlich. Wird Musik nicht privatisiert, wenn sie nur gegen Vorauszahlung an fi nanziell potente Fans verkauft wird? Die Frage müsst Ihr Euch an dieser Stelle gefallen lassen. Sobald wir die erste Promo-CD verschicken, ist unsere Musik gratis im Netz erhältlich. Dagegen können und wollen wir auch gar nichts tun. Diese fi nanziell potenten Fans, wie Du sie nennst, helfen uns ja nur, die Musik erst einmal herzustellen. Dein Lieblingsgebäude und dein Lieblingstrack sind derzeit…? Das Guggenheim-Museum in Bilbao und Bettina von Fettes Brot. Das Interview führte Martin Schirdewan. 14 Poetry Slam: Berstende Biographien REDEN WIR üBER REVOLUTION REDEN WIR üBER über SEX von Wolf Hunger Illustration: Florian Bielefeldt Moment – das galt mal für Kuba und vielleicht noch für die Studenten von 1968. Heute verhüten selbst kritische Geister mit dem Kondom des Konsens. E s geschah irgendwann im Sonnenuntergang der 80er Jahre. Da legte sich die urdeutsche Firma Mercedes-Benz eine neue, freche Werbeagentur zu und pfl asterte den Blätterwald der Illustrierten mit einer Anzeige, die auf ihre Art schon ziemlich visionär war. Doppelseitig funkelte ein wunderbares, silbernes 68er Mercedes-Coupé, wie neu und sofort startbereit in den großen eskapistischen Traum. Darüber die Headline: »Was ist bloß aus den 68ern geworden?« Großer Erfolg, die Agentur bekam den Job für die nächsten 20 Jahre. Und wieder ein Sieg für den Kapitalismus. Warum? Weil der es mit seiner Kohle einfach drauf hat, die Köpfe der Kreativen einzukaufen. Oder was soll man davon halten, wenn der Intendant des Berliner Ensembles, Claus Peymann, sich bereit erklärt, für eine entsprechende Summe einen neuen Benz ins Foyer der ehrwürdigen Brecht-Bühne zu stellen? »Verrat« »Verrat« schreien, was sonst? Vorsicht! Nicht nur, dass Peymann mit der Kohle vom großen Autobruder die Inszenierung eines unbekannten Autors fi nanzieren möchte, die verdammt subversiv daherkommt, samt Kreuzigung eines hassenswerten Bank-Vorstands. Wir wollen obendrein nicht vergessen, dass genau dieser von uns allen verehrte Brecht in jungen Jahren einen schweren Autounfall hatte. 1929 war‘s, und er krachte frontal in einen Alleebaum mit seinem Steyr. Stieg nahezu unverletzt aus und ließ sich wenig später lässig an dem Wrack lehnend fotografieren. Verbunden mit dem Werbeslogan: »Ein Steyr ist so sicher, dass man damit sogar einen schweren Unfall überlebt.« Sein Lohn für die kleine Freundlichkeit gegenüber der Firma Steyr: ein neues Auto. Kostenlos vor die Tür des urlinken Aufklärers. In späteren Jahren ließ er sich übrigens nur noch chauffieren. So gesehen passt auch ein weiteres Zitat vom unangreifbaren Brecht ganz gut: »Sozialist zu sein, bedeutet nicht, Asket zu sein.« Und wer erinnert sich nicht an die Saga vom nützlichen Idioten, den man gern benutzt, um übergeordnete Ziele zu verwirklichen? Mal was Böses tun, um Gutes zu erreichen! Was das alles mit den 68ern und Studenten überhaupt zu tun hat? Denkt mal nach, um was sich der Brummkreisel der Diskussionen seit Jahren dreht. Tauchen Fragen und Statements auf, wie der Verkauf der Ideale, der Faschismus von links oder – noch bizarrer – Pamphlete wie Der große Selbstbetrug vom Chefredakteur der Bild-Zeitung. Darin verbreitet Kai Diekmann die These, dass die 68er für so ziemlich alles verantwortlich sind, was in der wiedervereinten, bundesrepublikanischen Gesellschaft schief läuft. Hat der ein Glück! Leben wir doch in einer lupenreinen Demokratie, die selbst die widerlichsten Kreaturen von Journalisten ungeschoren davonkommen lässt. Fällt euch was auf? Selbst nach 40 Jahren sind die 68er nach wie vor ein schlagzeilenträchtiges Thema in diesem Land. Die seriösen Fernsehsender überbieten sich in Sondersendungen und Dokumentationen. Immer wieder Benno Ohnesorg, Rudi Dutschke, nicht zu vergessen Rainer Langhans und Uschi Obermaier. Okay, meinetwegen auch noch Joschka Fischer. In jedem Fall könnte der Verdacht aufkommen, jede Bewegung bräuchte Köpfe genauso wie Märtyrer, Führer genauso wie Fußvolk. Die Megaphone der Geschichte bestätigen diesen Verdacht sofort mit hohen Dezibelzahlen. Wir sollten alle rufen: »Zu Recht, zu Recht!« Oder erinnert sich jemand von euch an die 73er, die 88er oder 95er? Ganz zu schweigen von den aktuellen Jahrgängen, die im Vergleich zu den 68ern wie eine wabernde, graue oder gar amorphe Masse daherkommen. Dabei gäbe es auch heute genügend Gelegenheiten, wütend auf die Straße zu gehen. Studiengebühren oder Elite-Gedanken seien hier mal als Beispiele an die Wand gesprüht. Was damals Vietnam war, könnte heute der Irak sein. Oder wie schaut’s aus mit dem Zynismus, der als parlamentarische Antwort in die Mikrofone gegreint wird, um der drängenden Frage der neuen Armut zu begegnen? Achtung, aufgepasst: Was passiert, liebe Leute? Außer ein paar zaghaften Häuflein von Aufrechten nichts, nothing, niente. Da kann ja selbst der gläubigste Optimist auf die altlinke Idee kommen, dass der moderne Student nur an sein kleines, kümmerliches Vorwärtskommen denkt. Besonders BWLer oder Medien- und Kommunikationswissenschaftler stehen im Ruf, sich schon heute als Elite von morgen zu sehen. Ob’s stimmt? In vorauseilendem Gehorsam eingeschüchtert vor den Toren von, sagen wir mal, Daimler-Benz, katzbuckeln sie bis zur KniescheibenOP. Oder vor der Deutschen Bank, Roland Berger und allen anderen Karriereschuppen. Mit einer frischen Angst-Impfung in den Venen versuchen sie wie die Karnickel, ihren eigenen Arsch zu retten, um ihn ein paar Jahre später in einem von der Deutschen Bank fi nanzierten Eigenheim zu wärmen. Keimfrei abgeschirmt von den Langzeitarbeitslosen, den Migranten-Gangs und der gelben Gefahr aus China. Oh, ich hab die Inder vergessen! Dumm nur, dass ebendiese kommen werden, nicht als kleine Grüppchen, sondern als Armeen. Und sie kommen genau vor die Tür der alarmgesicherten Kleinbürger-Festungen. Fenster und Biografien werden bersten. Es wird knallen, liebe Leute! Und nicht nur da, auch in den intellektuellen Freihandelszonen, in denen es sich alle kritischen Geister gemütlich gemacht haben. Warum das? Weil niemand von uns, niemand von den heute studierenden Stützen der Gesellschaft sich selbst reflektiert, keine nützlichen Idioten ausbeuten will (außer die eigenen Eltern vielleicht), keine Lust auf die Lust des Protestes oder seine Insignien hat: Sex durch Widerstand, Sex durch Veränderung, Sex durch Kampf. Nein, die neuen Studenten werden eines Tages Sex mit ihrem russischen Kindermädchen haben, überzeugte Anhänger von Schwarz-Grün sein und der Werbung eines deutschen Autobauers erliegen, der vom Führer über afrikanische Diktatoren bis zum Investmentbanker alle bewegt hat, die ungefähr so sexy sind wie Fußpilz. Moment, Moment, mein lieber Querkopf. Was ist denn – bitteschön – mit dem fetten 600er Mercedes von Fidel? Gottchen, könnt ihr euch doch selbst beantworten. Wenn das schwer fallen sollte, kommt hier ein fi naler Tipp: Geld wert, dennoch umsonst. Freiheit beginnt bekanntlich im Kopf. Gut, Philosophie für 50 Cent aus’m KaugummiAutomaten. Und Großmuttern hatte in ihrem Zimmer ein Holzschildchen hängen, auf dem stand: »Wenn du glaubst, es geht gar nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.« Sie wurde 101 Jahre alt und verbat sich seit ihrem Achtzigsten jeden Besuch vom Provinz-Bürgermeister. Die alte Dame hat nie eine Uni von innen gesehen, aber dem Leben und allen Vorschriften so was von Kontra gegeben, als wenn sie jahrzehntelang mit unzenschweren Boxhandschuhen gekämpft hätte. Hoffe, der Startschuss ist jetzt gefallen. Laufen, laufen, laufen, kämpfen, kämpfen, kämpfen. Mehr Sex geht nicht. 15 Die fünfzehn Fragezeichen: SDS intim! ZEHN DIE LINKE.SDS sagt, sie vertrete die Studierenden deutscher Unis. Wissen die das eigentlich? Kennt man sich? Und wenn ja, wie kommen die Maximalforderungen des Verbandes an? Der Normalo-Check zum Hochschulverband DIE LINKE.SDS. Für die politische Betätigung von Studenten gibt es diverse studentische Hochschulverbände, meist als Ableger der Parteien. Sagt Dir der Hochschulverband DIE LINKE.SDS eigentlich was? Ja. Nein. Hast Du an der Uni schon mal was vom Engagement irgendeiner Hochschulgruppe, welcher Art auch immer, mitbekommen? In der Regel über die Infolisten des AStA. Nö. Interessierst Du Dich überhaupt für Hochschulpolitik (Bologna-Prozess, Elite-Unis, Studiengebühren etc.) oder konzentrierst Du Dich einfach nur auf Dein Studium? Bologna-Prozess und so kenne ich, da ich Jura studiere. Da spielt die Beschäftigung mit Politik allgemein eine Rolle. Als Politikstudent habe ich immer mindestens ein Auge darauf. Hochschulpolitik bildet jedoch keinen meiner Interessenschwerpunkte. Könntest Du Dir vorstellen, Dich in einer politischen Studentenvereinigung oder in studentischen Gremien zu engagieren? Unter Umständen: Ja. Nein, eigentlich nicht. Wie auch immer – jetzt geht’s los mit ein paar Forderungen des neuen SDS: Bildung muss gebührenfrei sein; es darf keine Studiengebühren geben... Kommt darauf an. Bei manchen Studiengängen, da könnte es welche geben. Solange es genügend Fördermöglichkeiten für Studieninteressierte aus fi nanzschwachen Familien gibt, darf gute Bildung auch Geld kosten. Die Gebührenzahler sollten jedoch Einfluss auf die Gebührenverwendung nehmen können, beispielsweise durch eine Vetoposition zur Verhinderung unnötiger Ausgaben. Stattdessen sollte man ein Studienhonorar (Geld für Lebensunterhalt usw.) für Studierende einführen... Ich halte das Konzept des BAföG für besser. Wer studiert, tut das mit dem Ziel eines höheren Einkommens im späteren Berufsleben. Wenn jemand auf einen Fernseher spart, bekommt er den zur Seite gelegten Betrag nicht vom Staat geschenkt. Warum sollten Studenten anders behandelt werden? Die Hochschulen sind chronisch unterfi nanziert... Verglichen mit den fi nanziellen Möglichkeiten amerikanischer oder britischer Universitäten muss man dem wohl zustimmen. Mmmh, also es ist hier in Deutschland besser als in Frankreich. Dort ist ein Euro pro Student und Monat vorgesehen. Unis müssen generell mehr Mittel vom Staat bekommen... Der Staat sollte sich hauptsächlich auf die kostenfreie Grundausbildung bis zur 13. Klasse konzentrieren. Offensichtlich hat er damit schon mehr als genug zu tun. ... Eine vermehrte Finanzierung und Ausstattung der Hochschulen durch die Privatwirtschaft (sog. Drittmittel) ist dagegen nicht der richtige Weg, da so Lehre und Forschung in Abhängigkeit der Wirtschaft geraten würden... Ich würde differenziert urteilen. In einigen Bereichen, beispielsweise bei BWL oder Jura, wäre eine Kooperation mit Privaten schon sinnvoll. Vor allem die Wirtschaft profitiert tagesschlau Der SDS kümmert sich und keiner merkt`s? von gut ausgebildeten Fachkräften. Es ist also nur billig, wenn man ihr die Möglichkeit zur Förderung auch staatlicher Universitäten einräumt. Eine Frauenquote bei den Professorenstellen und in den Gremien ist notwendig... Nein, jede Form von Quotierung führt zur Benachteiligung der Geeigneteren beider Geschlechter, spätestens wenn die Quote erreicht ist und damit keine Frauen mehr eingestellt werden. Ich bin generell gegen jede Form von positiver Diskriminierung. Es braucht mehr Förderung in die Breite statt einer Exzellenzförderung (Exellenzinitivative, Elite-Unis) an den Hochschulen... Ja, mehr Förderung der Breite. Eine Uni braucht nicht Elite zu sein. Es braucht vor allem eine Förderung innovativer Konzepte, keiner unbedingten Förderung von allem. Wettbewerb wird so verhindert, Leistung spielt keine Rolle und bestehende Missstände werden somit zementiert. Studentische Praktika dürfen nicht unbezahlt sein, sondern müssen mit mindestens 300 Euro im Monat vergütet werden... Je nach Ausbildungsstand der Praktikanten ist eine angemessene Bezahlung durchaus angebracht, ein staatlich festgesetzter Mindestlohn ist jedoch der falsche Weg. Je nach Situation und Arbeit. In jüngeren Semestern beispielsweise wird man eher noch ausgebildet. In höheren Semestern ist das anders, da leistet man richtige Arbeit. Eine Bezahlung muss dann natürlich sein. Die neu eingeführten modularisierten Bachelor-Studiengänge erzeugen zu viel Druck und Stress und verhindern eine eigenständige Gestaltung des Studiums... Naja, das ist irgendwie normal. Das ist Studium. Vor allem letzteres: Ja. Der Bologna-Prozess eröffnet viele Gestaltungsmöglichkeiten, jedoch bleiben diese vielerorts ungenutzt. Man fi ndet häufi g die alten Lehrangebote unter neuem Namen. Die Wissenschaft und auch das Studium werden immer mehr von ökonomischen Kriterien bestimmt. Es braucht wieder mehr Kritik und Vielfalt in den Wissenschaften und an den Hochschulen, da diese dadurch immer mehr verloren gehen... Sehe ich nicht so. Meiner Meinung nach ist die Pluralität gewährleistet. Die Qualität der Wissenschaft dürfte ich als Zweitsemester kaum beurteilen können. Die Studenten brauchen mehr Rechte und Möglichkeiten, um ihre Interessen durchzusetzen... Eine einseitige Durchsetzung der Interessen einer Seite ist, denke ich, nicht erstrebenswert. Sinnvoller ist ein offener und auf Konsens ausgerichteter Dialog, in dem beide Seiten einander respektieren und ernst nehmen. Die Rechte gibt es schon. Die Studenten müssten sie aber selbst erstmal kennen. Rick Fischer, studiert Politik und Öffentliches Recht an der Universität Potsdam. Timothee Prouvost studiert gerade den Master Rechtswissenschaften an der Universität Potsdam. Den Normalo-Check führte durch: Maximilian Staude. Fotos[M]: dreamstime.com FÜNF WIR SIND ÜBERALL ZU HABEN FRISCHE LUFT, In D e r N a c h s t e n Ausgabe BITTE! UMSONST & DRAUSSEN IM SPREEWALD: PADDEL MIR EI NS! SHUT UP AND SING: DIE DIXIE CHICKS STÜRMISCHE ZEITEN: DAS HURRICANE-FESTIVAL Die nächste Ausgabe von Sacco und Vanzetti erscheint am 9. Mai 2008. Foto: Ruth Steinhof Foto [M]: photocase.de impressum Sacco und Vanzetti wird an fast allen Unis in den neuen Ländern verteilt. Internet: myspace.com/saccoundvanzetti „Alle Ärmchen in die Luft und mal richtig mitgeschwoft.“ So ruft uns die Open-Air-Saison 2008. Redaktion: Thomas Feske (V.i.S.d.P.), Martin Schirdewan. Autoren dieser Ausgabe: Susanne Götze, Anne Kirchberg, Agata Waleczek, Eva Flemming, Marc Schreiber, Alexander Schober, Alexander Koenitz, Karsten Schmidt, Andreas Voland, Wolf Hunger, Maximilian Staude. Unter Mitarbeit von: DIE LINKE.SDS, Antidiskriminierungsbüro Berlin, Alexander Hacke – Einstürzende Einbauten, Rick Fischer, Timothee Prouvost, PaCo., Florian Bielefeldt. Graphische Gestaltung: Stephan König, Martin Deffner, genausoundanders.com Herausgeber: Neues Deutschland Druckerei und Verlag GmbH Projektmanagement: Christoph Nitz Anzeigen: Dr. Friedrun Hardt (Leitung) (030) 2978-1841, Sabine Weigelt (030) 2978-1842, E-Mail: [email protected], Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 18 vom 1. Januar 2008. Täglich. Kritisch. Anders. Die linke Tageszeitung aus Berlin. Jetzt kostenlos testen. Foto: aurelius/PIXELIO Ja, ich teste »Neues Deutschland« 14 Tage lang kostenlos und unverbindlich. Vorname, Name Tel.-Nr. (für evtl. Rückfragen) Straße, Hausnummer Datum, Unterschrift Abonnent/in PLZ, Ort DM-FA-PO-SVPO Neues Deutschland, Aboservice Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin [email protected], www.neues-deutschland. Druck von Links.