Leseprobe Kameraautoren
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Leseprobe Kameraautoren
Thomas Brandlmeier Kameraautoren Technik und Ästhetik Inhalt Dank 7 Geleitwort von Jost Vacano, bvk/ASC 9 Einleitung 11 Technik I. Die Geburt des Kinos aus dem Geist der Technik 24 Technik II. Ein kurzer historischer Überblick 30 Deutscher Kamerastil bis 1933 41 DER LETZTE MANN und die entfesselte Kamera 57 VARIETÉ und das moderne Sehen 72 Die britische Kameraschule 83 Europäische Emigranten und der visuelle Stil des film noir 97 Farbe im Kino 103 Kameraleute Henri Alekan Néstor Almendros John Alton Lucian Ballard Michael Ballhaus Billy Bitzer William H.Clothier Stanley Cortez Curt Courant Raoul Coutard Jordan Cronenweth William H. Daniels 117 125 135 144 150 160 167 173 181 187 196 201 6 Inhalt Henri Decaë Gianni Di Venanzo Hans Ertl Gabriel Figueroa Karl Freund Lee Garmes Conrad L. Hall Carl Hoffmann James Wong Howe Boris Kaufman Georg Krause William Lubtchansky Rudolph Maté Christian Matras Russell Metty Kazuo Miyagawa Bruno Mondi Sven Nykvist Günther Rittau Giuseppe Rotunno Eugen Schüfftan Guido Seeber Vittorio Storaro Eduard Tissé Gregg Toland Rollie Totheroh Jost Vacano Sacha Vierny Fritz Arno Wagner Haskell Wexler Gordon Willis Freddie Young Vilmos Zsigmond 208 213 221 229 237 250 257 263 270 280 287 293 299 304 310 318 324 331 338 345 353 362 370 380 391 398 407 416 425 434 443 449 457 Fachbegriffe (zusammengestellt von Rüdiger Laske, bvk) 468 Literaturauswahl 500 Personenregister 504 Geleitwort Ohne Bilder ist alles nur Hörspiel Kameraautoren – ein umstrittener Begriff, mit dem sich das vorliegende Buch befasst. Natürlich sind die Autoren der Bilder auch ihre Urheber, und bei dieser Frage nach der Autorenschaft von Kameraleuten geht es leider immer auch um Geld. Sparen ist erste Produzentenpflicht, also weg mit dem ‹Autor›, ‹Kameramann› muss reichen. Die Arbeit mit einer komplizierten Technik zeige ja sowieso, dass sie vorrangig Techniker seien. Außerdem wisse doch der Regisseur angeblich immer genau, was er wolle, gebe präzise Anweisungen und habe überhaupt immer das ‹letzte Wort›!? Die Produzenten behaupten das gerne, denn von Technikern braucht man keine Rechte zu erwerben. Kameraautoren – auch die Regisseure lieben dieses Alleinstellungsmerkmal ‹Ein Film von …› und zeigen sich bevorzugt dann hinter der Kamera, wenn die Presse auftaucht. Und in den Kritiken werden die ‹starken Bilder› und das ‹wundervolle Licht› dann natürlich dem Regisseur zugeschrieben. Ist es mangelndes Selbstbewusstsein, dass einige Kameraleute da willig Platz machen, oder gar erklären, dass sie nur die Visionen ihres Regisseurs verwirklichen? Die Einen stehen im Licht, die Anderen sieht man nicht – oder trauen sie sich nicht? Kameraautoren – in der Drehpraxis ist das völlig anders, da wären die Regisseure ohne ‹ihren› Bildgestalter verloren. Der Regisseur ist für die Szene vor der Kamera verantwortlich, für die Szenenauflösung meist beide gemeinsam und für die Bilder und das Licht, also für die gesamte Fotografie, der Kameramensch alleine. Außer ihm kann das sonst auch niemand. Aber was ist mit den angeblichen präzisen Anweisungen der Regie, dem ‹letzten Wort›? Falls es so etwas in der Praxis überhaupt jemals gäbe, wessen Handschrift würden die Bilder des Filmes dann zeigen? Vielleicht hilft hier ein Vergleich mit der Bildenden Kunst. Viele Werke der Kunstgeschichte waren Auftragswerke. Hier als modellhaftes Beispiel der Portraitauftrag eines Fürsten für seine Ahnengalerie: Zunächst wird der Fürst einen ihm stilistisch zusagenden Maler beauftragen, um damit die Ästhetik des Bildes schon etwas vorzubestimmen. Dieser Maler wird dann seine Arbeit beginnen, weisungsgebunden an die detaillierten Vorgaben des Fürsten. 10 Geleitwort Zuerst Genre und Inhalt des Bildes (Portrait der neuen Fürstin), dann Größe, Perspektive, Hintergrund, Lichteinfall, Farbgebung und Malstil (jeweils passend zu den bereits vorhandenen Bildern der Galerie). Der Fürst übt weiterhin Kontrolle über Fortgang und Qualität des Bildes aus, fordert Korrekturen (die Nase sei zu groß) und behält die letzte Entscheidung, ob dieses Bild, trotz möglicher handwerklicher Fehler (die Nase ist jetzt zu klein) überhaupt in die Ahnengalerie aufgenommen wird. In diesem Modellbeispiel einer Auftragsarbeit sind also in extremer Form alle nur denkbaren Weisungen, Vorgaben, Kontrollen, Korrekturen und sonstigen Einschränkungen der gestalterischen Freiheit des Malers gegeben, wie sie zum Beweis einer angeblichen Nichtexistenz von Rechten der Kameraleute oft angeführt werden. Trotzdem ist der Maler der Urheber dieses Bildes und nicht etwa der Fürst, niemand würde das in Frage stellen. Mit welcher Begründung aber sollte dies bei Filmwerken anders sein? Ist Oskar Niemeyer deswegen nur ein ‹Techniker›, weil er die Gesetze der Statik souverän anwendet, um seine berühmten Bauwerke zu schaffen? Oder ist Jean Tinguely deshalb ein Handwerker, nur weil das Schweißen die technische Grundlage seiner Metallplastiken ist? Besser kann man die zahlreichen Argumente zur Ablehnung eines Urheberrechts der Kameraleute wohl kaum ad absurdum führen. Dieses Buch leistet einen wichtigen Beitrag dazu. Jost Vacano, ASC / bvk Einleitung Das Licht sagt: Ich bin, und die Formen und Farben werden nur sein durch mich. Adolphe Appia In diesem Buch geht es um das Verhältnis von gestalterischen Konzeptionen in der Filmgeschichte und deren technischer Umsetzung. An der entscheidenden Schnittstelle befindet sich die Kamera. Der Kameramann, inzwischen auch die Kamerafrau, muss hier technische Mittel und ästhetische Anforderungen zusammenbringen. Dieser technikästhetische Aspekt der Filmgeschichte ist bislang noch wenig erforscht; hier sollen einige Lücken gefüllt werden. Es geht aber auch um den künstlerischen Anteil der Kameraarbeit am Film. Es steht außer Zweifel, dass die Filmregie die übergeordnete Funktion ist, wo alle Fäden zusammenlaufen. Kameraleute, auf ihr Verhältnis zur Regie befragt, erklären – von wenigen Ausnahmen abgesehen – eigentlich immer, dass sie sich in einer unterstützenden Rolle sehen; das Ziel sollte immer sein, der Regie und dem Stoff gerecht zu werden. Erst auf Nachfrage hin, räumen Kameraleute ein, dass sie auch so etwas wie einen wieder erkennbaren Stil haben. Und hier wird die Sache interessant. Die Autorentheorie besagt, dass es jenseits der industriellen Zwänge Regisseure gibt, die einen so eigenen Stil haben, dass man sie wie etwa die Autoren der Literaturgeschichte an einem definierten Corpus festmachen kann. Kurz gesagt, gibt es auch so etwas wie Kameraautoren? Ich habe diesen Begriff 1976 das erste Mal geprägt für eine Artikelserie, die 1977 im Film- und Ton-Magazin erschienen ist. Natürlich mit all den Einschränkungen, die sich aus der Position der Kameraarbeit in der Arbeitsteilung der Filmproduktion ergeben. Neben der Regie gibt es ja auch andere wichtige kreative Bereiche, deren Funktion als eigenständiger Beitrag gewürdigt werden kann. Das ist sicherlich der Drehbuchautor, aber auch der Filmschnitt, Bauten und Kostüme oder die Filmmusik. So zentral die Rolle der Regie ist, muss trotzdem festgehalten werden, dass das Gesamtkunstwerk Film eine kollektive Leistung darstellt. Aus guten Gründen legt der bvk (Bundesverband Kamera) Wert auf Begriffe wie Bildautor, wenn es um Fragen des Urheberrechts geht, und die präzisere Benennung der Tätigkeit mit Bildgestaltung statt dem etwas altfränkischen Wort Kameraarbeit. Was zunächst auffällt, ist der enge Zusammenhang vieler bedeutender Regisseure mit bestimmten Kameraleuten, die wesentliche Teile ihres Werks gestaltet haben. Ingmar Bergman und Sven Nykvist, Friedrich Wilhelm Murnau und Karl Freund/Carl Hoff- 12 Einleitung 1 Dreharbeiten in Berlin um 1900; Kamera nicht identifiziert 2 Stummfilm um 1920 im Film: LE SILENCE EST D’OR (René Clair, 1946); Kamera vermutlich ein Vorläufer der Debrie um 1900 3 Das Messter-Atelier in Berlin um 1907 Einleitung 13 4 Dreharbeiten zu FOUR FEATHERS (Ernest Schoedsack und Meriam Cooper, 1928) mit verschiedenen Mitchell-Kameras 5 Dreharbeiten zu GOLDRUSH (Charles Chaplin, 1925) mit Mitchell-Standard-Kameras 6 Dreharbeiten zu DER TOTENTANZ (Urban Gad, 1912) mit Guido Seeber an einer Messter-Kamera 7 Dreharbeiten zu DADDY-LONG-LEGS (Marshall Neilan, 1919) , rechts eine Pathé-Kamera, links eine Bell&Howell-Kamera 14 Einleitung mann, David Wark Griffith und Billy Bitzer, Charles Chaplin und Rollie Totheroh, Alfred Hitchcock und Cox/Knowles/Burks, Federico Fellini und Martelli/Di Venanzo/ Rotunno, David Lean und Freddie Young, Sergej Eisenstein und Eduard Tissé, G. W. Pabst und Fritz Arno Wagner, Jean-Luc Godard und Raoul Coutard, Greenaway/Resnais und Sacha Vierny, Bertolucci/Coppola/Saura und Vittorio Storaro, Eric Rohmer und Néstor Almendros, Martin Scorsese und Michael Ballhaus, Paul Verhoeven und Jost Vacano, Max Ophüls und Eugen Schüfftan, Coppola/Allen und Gordon Willis, Michelangelo Antonioni und Gianni Di Venanzo, Emilio Fernández und Gabriel Figueroa, Vigo/Kazan/Lumet und Boris Kaufman, Straub/Huillet/Iosseliani/Rivette und William Lubtchansky, Kenji Mizoguchi und Kazuo Miyagawa, Douglas Sirk und Weihmayr/ Metty/Schüfftan, Patrice Leconte und Eduardo Serra, Wolfgang Staudte und Friedl Behn-Grund, Alexander Mitta und Sergej Urusevskij, Zanussi/Kieslowski und Slawomir Idziak, Tom Tykwer und Frank Griebe, Claude Chabrol und Jean Rabier, Wong Kar-wai und Christopher Doyle, Rainer Fassbinder und Lohmann/Ballhaus, Bernard Tavernier und Pierre-William Glenn, Werner Herzog und Mauch/Schmidt-Reitwein, Jean Renoir und Claude Renoir, Frank Capra und Joseph Walker, Oliver Stone und Robert Richardson, Clint Eastwood und Jack Green. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Partnerschaft kann dabei bis zur Mittäterschaft gehen: Veit Harlan und Bruno Mondi. Auch dieser Aspekt soll in diesem Buch nicht verschwiegen werden. Gute Regisseure wissen, was sie an einem Kameramann haben, der zu ihnen passt. Umgekehrt ist es ein Desaster für beide Seiten. Sind Kameraleute deswegen verkappte Regisseure? Nein. Es kommt immer wieder vor, dass Kameraleute den Sprung zur Regie machen, genauso wie Drehbuchautoren, Schauspieler, Produzenten, Filmarchitekten und andere Filmleute. Das geht nicht immer gut. Aber es gibt auch überzeugende Fälle wie Maté, Fleming, Stevens, Cardiff, Freund, Roeg, Schilling, Troell, Wexler, Schwarzenberger, Menges oder Porter. Edwin S. Porter ist ein gutes Beispiel dafür, wie am Anfang der Filmgeschichte alles in einer Person vereinigt war. Life of an American Fireman (1903) ist zweifelsohne in der Geschichte der visuellen Sprache ein Meilenstein: Regie, Kamera, Drehbuch, Produktion sind von Porter. Bauten, Schnitt, Darsteller waren oft auch Funktionen der frühen Kameramänner. Die Arbeitsteilung musste erst noch erfunden werden. Trotzdem ist eine gute Kameraarbeit immer noch eine übergreifende Funktion. Es beginnt mit der visuellen Entwicklung des Drehbuchs, dem künstlerischen Konzept bevor noch die erste Klappe fällt; dazu kommt die Vorauswahl von Drehorten, von Technik und vielem mehr. Bei den Dreharbeiten muss der Kameramann fähig sein, auf Schauspieler und andere Unwägbarkeiten schnell und sensibel zu reagieren. Mit seiner visuellen Organisation des Materials (visual continuity) greift er dem Schnitt vor bzw. ermöglicht überhaupt erst ein gutes Editing. Er muss beim Drehen, genauso wie der Regisseur, den späteren Schnitt mitdenken. Und mit der letzten Klappe ist seine Arbeit Einleitung 15 nicht beendet. Die Nullkopie (answer print) muss im Labor mit seiner Hilfe bearbeitet werden: Lichtausgleich, Farbausgleich, Dichtigkeit, Spezialverfahren u. a. m. Die klassische Arbeitsteilung zwischen Regie und Kamera ist die von Schauspielerführung einerseits und Bild- und Lichtregie andererseits. Es gibt Regisseure, die sich nur um die Schauspieler kümmern und die Aufnahme ganz dem Kameramann überlassen. Und es gibt Regisseure, die beständig durch die Kamera schauen. Orson Welles hat am ersten Drehtag von Citizen Kane angefangen die Scheinwerfer aufzubauen und durch die Kamera zu schauen, bis ihm Gregg Toland sagte, dass das üblicherweise die Aufgabe des Kameramanns ist. Ein Kameramann erwartet von einer guten Partnerschaft in aller Regel, dass der Regisseur etwas von seiner Arbeit versteht, ihm visuelle Vorgaben gibt und ihn dann aber in Ruhe arbeiten lässt. Wenn es zwischen Regisseur und Kameramann knirscht, wird in aller Regel der Kameramann ausgetauscht. Aber auch wenn es sonst Probleme gibt, ist der Kameramann ein beliebter Sündenbock. Der Austausch des Kameramanns ist ein Akt von hoher symbolischer Bedeutung, ohne dass teurere Funktionen wie Regie oder executive producer beschädigt werden. Selbst die besten Kameraleute haben in ihrer Laufbahn diese Erfahrung gemacht. Im internationalen Vergleich ist der Grad der Arbeitsteilung und die Tätigkeit des Kameramanns sehr unterschiedlich. Bei kleinen Produktionen macht der Kameramann alles selbst, ein Kameraassistent ist da schon ein Luxus. Bei besseren Produktionen gilt als Standard, dass der Kameramann ein kleines Team hat. Bei Großproduktionen sitzt der Kameramann neben dem Regisseur. International heißt er director of photography, kurz DOP. Die Kamera wird von einem Operator bedient, der vom ersten und zweiten Assistent unterstützt wird; bevor es die technisch aufwändigeren Funktionen wie Videoausspielung, Monitoraufstellung etc. gab, hießen diese Funktionen auch focus puller und Kassettenwechsler. Eine ganze Truppe von Elektrikern und Beleuchtern baut das Licht nach Vorgabe des DOP auf, und eine Truppe von Technikern löst vor Ort die Bewegungsprobleme der Kamera. Meist sind es mehrere Kameras. Dies gilt vor allem für den Hollywood-Standard. Mancher europäische Kameramann hat damit sein Problem: Ein ‹Handwerker› soll plötzlich eine industrielle Produktion leiten. Das physische Empfinden, der körperliche Kontakt geht verloren. Sterilität ist die ästhetische Gefahr der Großproduktionen. Ein bescheidener Ersatz ist der video assist, der in den 1980er Jahren aufkam, eine Ausspielung des aktuellen Kamerabildes auf einen kleinen Videoschirm für Regisseur und DOP. Seit der pilzartigen Vermehrung dieser Videoschirme, ist das Verfahren sehr umstritten: Jeder, der am Set etwas zu sagen hat, schaut in seinen eigenen Videoschirm und mischt sich in die Arbeit des DOP ein. Es gibt auch sehr unterschiedliche Schwerpunkte in der Arbeit des Chefkameramanns. In England ist sie ganz stark auf die Lichtsetzung ausgerichtet, in Japan ganz stark auf die Arbeit an der Kamera; in England ist der lighting cameraman der Chefkameramann, in Japan ist dieser dem director of photography zugeordnet, der sich primär um die Kamera und das Kamerateam kümmert. 16 Einleitung 8 Tonfilm im Tonfilm: DER SCHUSS IM TONFILMATELIER (Alfred Zeisler, 1930) mit der Debrie Parvo L 9 Dreharbeiten zu MAD LOVE (Karl Freund, 1935) mit Gregg Toland neben der Mitchell BNCKamera Einleitung 10 links Dreharbeiten zu THE PARADINE CASE (Alfred Hitchcock, 1948) mit Mitchell BNCR-Kameras 11 rechts Dreharbeiten zu CITIZEN KANE (Orson Welles, 1941) mit Gregg Toland neben der Mitchell BNCR-Kamera 12 Dreharbeiten zu THIS IS THE ARMY (Michael Curtiz, 1943) 17 18 Einleitung Die Kameraleute, die hier vorgestellt werden, haben auf ganz unterschiedlichen Produktionsniveaus gearbeitet. Aber jeder von ihnen verdient den Namen Kameraautor im Sinne eines Coautors. Sie haben mit ihrem persönlichen visuellen Stil Filme bereichert und teilweise sogar geprägt. Sie haben aus den virtuell unendlichen Möglichkeiten von Licht und Schatten, von Schwarz-Weiß und Farbe, von Schärfe und Unschärfe, von Cadrage und Bewegung ihre persönliche Wahl getroffen. Sie waren dabei Hebammen nie gesehener Bilder und manchmal auch von Schauspielern und Regisseuren. Die meisten von ihnen sind in der Filmgeschichte unterschätzt oder vergessen. Es gibt nicht nur eine Filmgeschichte der Regisseure, sondern auch eine der Kameraleute. Graatkjär, Freund, Toland, Figueroa zum Beispiel. Das ist eine Reihe von Lehrern und Schülern, die von den skandinavischen Fjorden zu den mexikanischen Gebirgen, vom expressiven Bild zum film noir reicht. Natürlich kann man sich über die hier getroffene Auswahl von Personen trefflich streiten. Es gibt vieles, das mir selbst noch vorschwebt, und der Bedarf, einen zweiten Band zu schreiben, besteht sicherlich. An dieser Stelle sei auch beklagt, dass dieses Buch sehr vom westlichen Filmmarkt abhängt und z.B. kein Afrikaner oder Inder vorkommt; auch die osteuropäische Kameraschule kommt zu kurz. Und keine Kameraautorin. Seit Beginn der Filmgeschichte gibt es vereinzelt immer wieder Kamerafrauen, aber selbst heute ist der Anteil noch bescheiden. Immerhin gibt es bereits ein Buch über Kamerafrauen von Alexis Krasilovsky (Women Behind the Camera. London 1997). In den USA gab es z.B. zwischen 1913 und 1920 nachweislich drei Kamerafrauen: Dorothy Dunn, Grace Davison und Margaret Ordway. Am Anfang der Filmgeschichte war die Kamera ganz klar auch ein patriarchales Terrain. Die deutsche Filmgroteske Ein Hoch der Kinokunst (Fragment von ca. 1910) handelt davon, dass eine Kamerafrau von ihren männlichen Kollegen brutal aus dem Geschäft gedrängt wird. Kameraleute brauchen für ihre Arbeit technisches Gerät. Seit es Menschen gibt, folgt die Entwicklung von technischem Gerät dem System der Bedürfnisse. Daran hat sich bis heute nichts geändert, aber mit dem Aufkommen des kapitalistischen Markts ist es zu einer sekundären Überformung gekommen. Entwicklungslinien sind deshalb nur im Nachhinein linear. Die Erfindung des Kinos gehört in den Kontext der visuellen Revolution, die in der Renaissance ihren Ausgangspunkt nimmt. Der neue Herrschaftsblick des Renaissancemenschen richtet sich auf eine Welt, die schrittweise in die Immanenz eintritt. Der Sehsinn hat alle anderen überflügelt. Das Sehen wird wissenschaftlich und ökonomisch und somit auch ideologisch zum zentralen Sinn. Und genau in diesem Spannungsfeld liegt auch die Erfindung des Films. Wissenschaftler suchen nach genaurer Beobachtung, die Fotoindustrie sucht nach einem neuen Produkt. In einer Nische zwischen Markt und Jahrmarkt wächst innerhalb weniger Jahre eine neue Industrie, die von Sehsinn und Sehlust lebt. Wissenschaft und Massenbetrug sind die Pole zwischen denen sich das neue Medium bewegt. Einleitung 19 Wer war zuerst, die Henne oder das Ei? Diese absurde Diskussion soll hier nicht geführt werden. Wie bei der Erfindung des Kinos selbst beschleunigt der Markt die Entwicklung, indem er auch ohne Nachfrage beständig neue Produkte kreiiert, die wie Fragezeichen im Konsumraum auftauchen. Farbe und Ton haben sich nach vielfältig gewundenen Anläufen durchgesetzt, 3D und extreme Formate sind Ausnahmen geblieben. Was nicht heißt, dass sie keine digitale Zukunft haben. Anderseits haben sich fortschrittliche Kameramänner mit beschränktem Equipment herumgeschlagen und sind so oft selbst zu Erfindern geworden. Festzuhalten ist, dass es unter Marktbedingungen neben der klassischen Produktentwicklung nach einem aktuellen Bedürfnis immer auch die spekulative Produktentwicklung gibt. Als die ersten Kameramotoren aufkamen, waren sie eine technische Spielerei, mit der die Kameraleute wenig anfangen konnten. Ein guter Stummfilm-Kameramann beherrschte es, das Kurbeltempo den Szenen anzupassen. Ein Kameramotor war da fast so etwas wie eine Beleidigung. Actionszenen wurden z.B. langsamer gekurbelt, damit sie noch dynamischer wirken. Erst mit dem Letzten Mann von 1924 wird der Kameramotor der Stachovkamera zu einem unverzichtbaren Hilfsmittel. Mitunter kommt es auch vor, dass Neuerungen von Kameraleuten als Rückschritt betrachtet werden. Die Automatisierung von Kameras bedeutet, dass es weniger Möglichkeiten gibt, manuell einzugreifen; wenn sich z.B. eine Kamera nicht mehr zurückspulen lässt, kann man auch nicht mehr in der Kamera doppelt belichten. Dieses Buch behandelt häufig kameratechnische Fragen, aber ist kein kameratechnisches Lehrbuch. Kameratechnik ist hier nur im Zusammenhang mit Kamerastil interessant. Ein Kapitel befasst sich nur mit Kameratechnik, um eine Hilfestellung zum historischen Verständnis zu geben. In den Einzeltexten wird die historische Situation nicht immer wieder neu erläutert, allenfalls im Nebensatz erwähnt. Wenn ein Kameramann in den 1950er Jahren von einem ‹schnellen Film› redet, wäre dasselbe Material heute ein alter Hut – und um 1900 eine Weltsensation gewesen. Die Einzeltexte dienen aber durchaus dazu, wichtige Entwicklungen an Fallbeispielen zu zeigen. Selbstverständlich ist Technik nur künstlerisches Hilfsmittel; es gibt keinen kameratechnischen Königsweg des Films. Es gibt namhafte Kameraleute, die vermeiden Filter, wo es geht, andere, nicht minder namhafte, arbeiten mit Tausenden von Filtern, die einen hassen die Zoomoptik, andere finden beständig neue Varianten der Arbeit mit dem Zoom, die einen wollen alles mit der Kamera machen, andere arbeiten genauso viel im Labor wie mit der Kamera. Innerhalb dessen, was die Naturgesetze zulassen, gibt es handwerklich keine Grenzen. Dieses Buch ist eine Analyse kameratechnischer Ansätze, keine Anweisung für die Arbeit mit Kamera. Es ist ein Versuch, Essay, den kreativen Prozessen auf die Spur zu kommen; es finden sich deshalb auch keine Filmografien und Biografien, die in jedem Fachlexikon nachzulesen sind. Die Beschreibung technischer Sachverhalte war ein mühseliges Geschäft. Ich habe mich bemüht, oft sehr komplexe 20 Einleitung 13 Dreharbeiten zu MOONFLEET (Fritz Lang, 1955) mit VistavisionKameras 14 Mike Figgis mit der Aaton Einleitung 15 Dreharbeiten zu À BOUT DE SOUFFLE (Jean-Luc Godard, 1960) mit Raoul Coutard an der Cameflex 16 Filmteam im Film: ROMA (Federico Fellini, 1972), Foto: Deutsches Museum 21 22 Einleitung Zusammenhänge auf Allgemeinverständlichkeit herunter zu brechen, auch wenn die Gefahr besteht, dass der Fachmann manches als unzulässig vereinfacht betrachten mag. Dem Leser mag auffallen, dass in Zitaten ungewöhnlich oft gekürzt wird. Dies hängt damit zusammen, dass in der Filmliteratur kameratechnische Fragen oft falsch übertragen, übersetzt oder verstanden werden. Selbst den American Cinematographer muss man kritisch lesen. Durch Kürzungen, mitunter auch durch Ergänzungen in Klammern oder Anmerkungen, habe ich mich um Textreparatur bemüht. «Oh, che dolce cosa è questa prospettiva!» pflegte Uccello zu sagen, wenn ihn seine Frau zu später Stunde ermahnte, endlich ins Bett zu kommen. Die Entdeckung der Perspektive revolutionierte die Wahrnehmung, die Philosophie, die Mathematik. Der Triumph des Auges war die Droge des Quattrocento. Wir wissen, wie die Geschichte des Sehens nach dieser Umwälzung auf vielfältig gewundenen Pfaden auf das Kino zusteuerte: Camera obscura bzw. Laterna magica auf der technischen Seite, Dynamisierung der Malerei auf der ästhetischen Seite. Die ersten Gehversuche von Lumière sind einerseits noch ganz dem fotografischen Apparat verpflichtet – andererseits wird ein beschleunigter Bewegungsvektor durch den Focus gezogen (Arrivée d’un train en gare de la ciotat) oder der Focus selbst in Bewegung gesetzt, indem die Kamera, auf der Pariser Metro postiert, über Brücken fährt, durch die Stadt panoramiert. Méliès, indem er beim Stopptrick die ersten Schnitte macht, hat den Sprung im Kontinuum von Zeit und Raum entdeckt, auch wenn er dabei noch ganz den Metamorphosen des Jahrmarkts verpflichtet ist. Feuillade, der genial die Techniken von Lumière und Méliès zu einer protosurrealen Vision vereinigt, ist bereits unübersehbar an der Schwelle einer zweiten visuellen Revolution. Nachdem die Filmgeschichte so ihren Cimabue, Duccio und Giotto gehabt hat, wechselt sie den Schauplatz. Griffith entwickelt die Montage und Eisenstein den point of view, die filmische Perspektive. Die entscheidende Umwälzung findet aber im deutschen Kino der 1920er Jahre statt. Vor allem zwei Filme haben unsere Sehweise grundlegend verändert: Der letzte Mann (Murnau, 1924) und Varieté (Dupont, 1925). Der Kameramann war in beiden Fällen Karl Freund, der Mann mit der entfesselten Kamera. Eigene Kapitel sind deshalb den Filmen Der letzte Mann und Varieté gewidmet sowie der deutschen Kameraschule bis 1933; mit der Emigration vieler Spitzenkräfte, der Internationalisierung vieler Errungenschaften der deutschen Kameraschule und den Standardisierungstendenzen im Dritten Reich ist 1933 ein deutlicher Einschnitt. Dazu kommt um 1930 der Einschnitt des frühen Tonfilms, der exemplarisch im britischen Film an den deutschbritischen Kooperationen diskutiert wird. Ein Kapitel gilt dem film noir als dem Höhepunkt der Schwarz-Weiß-Fotografie, der sich einem einzigartigen Synkretismus aus expressivem Kino, poetischem Realismus und amerikanischem Gangsterfilm verdankt. Ein Beispiel für erfolgreichen Synkretismus stellt auch das britische Kino dar, das amerikanische Schule, deutsche Schule und britischen Einleitung 23 Dokumentarfilm verschmilzt. Andere Entwicklungen sind im Kontext der ausgewählten Personen dargestellt. Zum Beispiel: Eugen Schüfftan und der poetische Realismus. Hans Ertl und der Bergfilm. Gianni Di Venanzo und der Neorealismus. Coutard/ Almendros und die Nouvelle Vague. Willis/Zsigmond/Cronenweth und der Neonoir. Michael Ballhaus und der Neue Deutsche Film. William Lubtchansky und der jüngere französische Film. Vittorio Storaro und der Neue Italienische Film. Redaktionsschluss für die Texte dieses Buches war der Dezember 2006. Die Bildauswahl orientiert sich an dem Prinzip Schwarz-Weiß ist Schwarz-Weiß, Farbe ist Farbe, und stark zugeschnittene Bilder scheiden aus; die Cadrage sollte noch einigermaßen erkennbar sein. Es ist kein Buch mit Hochglanz-Starfotos, sondern Arbeitsfotos. Fast schon komisch ist ein Argumentationsstrang über Kamerakunst, den es unter Kameraleuten, aber auch über ihre Arbeit, seit Beginn der Filmgeschichte gibt: Die Realismus-Debatte. Es ist – neben psychologischen, symbolischen und anderen Ansätzen – das Hauptargument, das die Debatten bestimmt. Änderungen und Neuerungen werden so verfochten. Wenn man das ernst nehmen würde, hätte die Filmgeschichte bis heute sich zu einem immer größeren Realismus entwickeln müssen. Vor allem gegenüber Hollywood-Produzenten ist das ganz offensichtlich ein strategisches Argument, um künstlerische Ambitionen zu legitimieren. Natürlich gibt es in der Filmgeschichte unterschiedliche realistische Strömungen, die immer dem ‹Realismus› einer bestimmten Zeit entsprechen. Aber selbst beim Neorealismus oder bei den britischen Dokumentaristen sollte man genau hinschauen, wie dieser Realismus immer auch hergestellt wird. Dieses Buch blendet diese Scheindebatte aus guten Gründen aus. Von wenigen Ausnahmen abgesehen gibt es nichts Konstruierteres und Unnatürlicheres als das Kino. Die Affinität zur physischen Realität, von der Kracauer spricht, darf nicht als einfache Verdopplung missverstanden werden. Es ist immer eine zweite, anverwandelte Realität. Was Kameraleute über ihre Arbeit sagen, muss immer im Kontext verstanden werden. Die Rede von einem schönen Bild meint alles, nur kein schönes Bild; es kann ein logisches, einfaches, dramaturgisch richtiges, pointiertes, passendes, distanziertes, wesentliches Bild und vieles mehr sein.